Europäischer Republikanismus: Ein kohärenter Erklärungsansatz für wirtschaftliche und politische Integration in Europa? 3031440900, 9783031440908, 9783031440915

In diesem Buch werden die aktuellen Theorien der europäischen Integration, wie Föderalismus, Neofunktionalismus und libe

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German Pages 375 Year 2023

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Table of contents :
Danksagungen
Über das Buch
Inhaltsverzeichnis
Über den Autor
Nomenklatur
Abbildungsverzeichnis
1: Einführung
1.1 Wirtschaftliche vs. politikwissenschaftliche Theorien europäischer Integration
1.1.1 Theorien der wirtschaftlichen Integration
1.1.2 Die Wirtschafts- und Marktsphäre als ineinandergreifende soziale Institutionen
1.1.3 Politische Theorien der europäischen Integration
1.1.3.1 Die Schwächen der politikwissenschaftlichen Theorien
1.1.3.2 Welche Art von Föderation braucht Europa?
1.1.4 Eine neue Synthese zwischen wirtschafts- und politikwissenschaftlichen Theorien?
1.2 Ein historischer Ansatz für eine europäische Identität
Literatur
Teil I: Defizite der gegenwärtigen Theorien der EI
2: Föderalismus, Souveränität und Modernität
2.1 Souveränität und Föderalismus
2.2 Republikanismus, Föderalismus und Rechtsstaatlichkeit
2.3 Die Heilige Allianz und die Ursprünge des intergouvernementalen Ansatzes
2.4 Nationalismus und Föderalismus für moderne Marktwirtschaften?
2.5 Idealismus und Föderalismus: Die Paneuropa-Bewegung
2.5.1 Ein idealistischer Ansatz für die europäische Integration
2.5.2 Die Paneuropa-Bewegung und das Briand-Memorandum
2.6 Faschismus und Föderalismus: Die Gefahren der wirtschaftlichen „Block“-Ideologien
2.7 Sozialismus und Föderalismus: Der Spinelli-Ansatz
2.8 Schlussfolgerung: Nationale Souveränität und Föderalismus: Zwei unvereinbare Konzepte?
Literatur
3: Die Obsoleszenz des Neofunktionalismus
3.1 Funktionalismus
3.1.1 Die Risiken einer föderalen Lösung
3.1.2 Funktionale Institutionen zur Bereitstellung bestimmter öffentlicher Güter
3.1.3 Der funktionale globale Rahmen der Nachkriegszeit
3.2 Neofunktionalismus
3.2.1 Von Dominierungsversuchen zur wirtschaftlichen Zusammenarbeit: Monnet und der „Föderale Funktionalismus“
3.2.2 Wie schafft man eine Europäische Gemeinschaft?
3.2.3 Inkrementelle Entscheidungsfindung und Externalisierung
3.2.4 Die Instrumentalisierung von Externalitäten: Spillover-Effekte
3.3 Schlussfolgerung: Neofunktionalismus als eine überholte Theorie?
Literatur
4: Liberalismus: Ist die Wirtschaft der Treiber von Integration?
4.1 Intergouvernementalismus, Realismus und die Furcht vor Herrschaft
4.2 Management von Interdependenzen als Alternative zum Neofunktionalismus
4.3 Kapitalmärkte und die Zwei-Ebenen-Perspektive
4.4 Die Obsoleszenz der komplexen Interdependenz?
4.5 Interdependenz der nationalen Marktsysteme
4.6 Externalitäten eines gemeinsamen europäischen Marktes?
4.7 Kritik des liberalen Ansatzes zur Lösung von Interdependenzen
Literatur
5: Wie lassen sich die Probleme der EI-Theorie lösen?
5.1 Multilevel-Governance
5.2 Neuer Institutionalismus
5.3 Sozialer Konstruktivismus und europäische Integration
5.4 Europäische öffentliche Güter
5.4.1 Die Diskussion über europäische öffentliche Güter seit der EEA
5.4.2 Europäischer Fiskalföderalismus
5.4.3 Der Sapir-Bericht 2003
5.4.4 Die öffentliche Konsultation zum EU-Haushalt und die „Suche“ nach europäischen öffentlichen Gütern
5.5 Schlussfolgerung: Erarbeitung einer neuen Grundlage für die EI-Theorie
Literatur
Teil II: Europäischer Republikanismus
6: Ansätze für eine europäische Republik
6.1 Europäische Integration und die Renaissance der republikanischen Theorie
6.1.1 Die republikanische Wiedergeburt
6.1.2 Maastricht und das „Demokratiedefizit“
6.1.3 Eine (republikanische) Verfassung zur Behebung des Demokratiedefizits?
6.1.4 Guérots und Menasses Konzept einer europäischen Republik
6.2 Kommunitaristischer Republikanismus
6.2.1 Eine Republik der Bürger oder der Staaten?
6.2.2 Eine Republik zur Umgehung der Probleme der Souveränität und des Föderalismus?
6.3 Collignons Res Publica der öffentlichen Güter
6.3.1 Der Ausgangspunkt: Epistemische Konstitutionen
6.3.2 Die Res Publica der Gemeingüter
6.3.3 Definition der europäischen öffentlichen Güter
6.3.4 Clubgüter vs. öffentliche Güter für alle
6.3.5 Entscheidungsfindung in Bezug auf europäische öffentliche Güter
6.4 Wie der europäische Republikanismus die Probleme der europäischen Integration bewältigen kann
6.4.1 Souveränität vs. soziale Institutionen zur Lösung von Externalitätsproblemen
6.4.2 Die wirtschaftliche Grundlage: Interdependenz vs. Externalitäten
6.4.3 Die Triebkraft der EI: Wirtschaftlicher Vorteil vs. Furcht vor wirtschaftlicher Dominierung
6.4.4 Offene Baustellen einer „Europäischen Republik“ Theorie
Literatur
7: Eine politische Philosophie öffentlicher Güter
7.1 Externe Effekte
7.1.1 Marshalls externe Volkswirtschaften
7.1.2 Das Pigou’sche Soziale Nettoprodukt
7.1.3 Externalitäten auf abstrakten Märkten
7.2 Das Dichotomie- und Definitionsproblem der Theorie der öffentlichen Güter
7.2.1 Heutige Definitionen von öffentlichen Gütern
7.2.2 Das Dichotomieproblem der Theorie der öffentlichen Güter
7.2.3 Aufbrechen der Dichotomie: Clubgüter
7.2.4 Die Tragödie der Allmendegüter
7.2.5 Die Verwaltung von gemeinsamen Ressourcen
7.2.6 Private oder öffentliche Güter, Märkte oder Staat – was kommt zuerst?
7.3 Ein Ansatz der politischen Philosophie
7.3.1 Öffentliche und private Güter: Eine soziale Konstruktion
7.3.2 Materielle Bestandteile als gemeinsame Ressourcengüter
7.3.3 Geistige Bestandteile eines Gutes als persönliche Clubgüter
7.3.4 Konstruierte Güter als Kombinationen von geistigen und materiellen Bestandteilen
7.3.5 Die Dichotomie zwischen gemeinsamen Ressourcen und „persönlichen“ Clubgütern
7.3.6 Verfassungsrechtliche Aspekte von Definitionen öffentlicher vs. privater Güter
7.4 Souveränität und die Hierarchie sozialer Institutionen
7.4.1 Sicherheit zur Überwindung des Naturzustandes
7.4.1.1 Die Überwindung der Welt der gemeinsamen Ressourcen
7.4.1.2 Souveränität und Verteidigung als öffentliche Güter
7.4.1.3 Der Nexus zwischen einer gemeinsamen Verteidigung und einem gemeinsamen Haushalt
7.4.2 Die Wirtschaftsverfassung
7.4.3 Wie geht man mit dem Außenhandel um?
7.4.4 Justiz
7.5 Schlussfolgerungen
Literatur
Teil III: Überwindung der Probleme der EI-Theorie
8: Souveränität und monetäre Integration
8.1 Entwicklung einer kohärenten Theorie der monetären Integration
8.2 Geld als Konstrukt aus ineinandergreifenden Funktionen
8.2.1 Wertmaßstab oder Rechnungseinheit
8.2.2 Tauschmittel
8.2.3 Wertaufbewahrung
8.2.4 Zahlungsmittel oder Standard für zeitversetzte Zahlungen
8.2.5 Eine Hierarchie von Funktionen?
8.3 Fiatgeld und die Notwendigkeit eines Souveräns
8.4 Zwei Schulen des Geldes
8.4.1 Die metallistische Schule des Geldes
8.4.2 Die chartalistische Schule des Geldes
8.4.3 Die republikanische Sicht auf die Chartalistische Geldtheorie
8.5 Monetäre Integration nach Funktionen
8.5.1 Tauschmittel und Rechnungseinheit
8.5.2 Die Integration der Funktion „Tauschmittel“
8.5.3 Integration der Funktion „Rechnungseinheit“
8.5.3.1 Optimale Währungsgebiete oder Optimale Rechnungseinheitengebiete?
8.5.3.2 Die politische Ökonomie flexibler Wechselkurse
8.5.3.3 Anpassungskosten bei festen Wechselkursen oder einer gemeinsamen Währung
8.5.4 Wertaufbewahrung und Standard der zeitversetzten Zahlung
8.5.5 Schwierigkeiten bei der Integration der Wertaufbewahrungsfunktion
8.5.6 Integration der Funktion „Mittel für zeitversetzte Zahlungen“
8.6 Die OCA-Theorie als Legitimation für monetäre Integration
Literatur
9: Externe Effekte eines gemeinsamen Faktormarktes
9.1 Institutioneller Aufbau eines europäischen Kapitalsektors
9.2 Kapitalversorgung: Banken vs. Kapitalmärkte
9.3 Die Umstellung auf ein Kapitalmarktsystem in Deutschland
9.4 Finanzmärkte vor der Krise in Irland, Spanien und Griechenland
9.5 Die externen Effekte eines europäischen Kapitalmarktes
9.6 Target2 und die Euro-Krise
9.6.1 Von Ziel zu Ziel2
9.6.2 Target2 und die Euro-Krise
9.6.3 Kritik an der Zielvorgabe2
9.6.4 Schaffung einer supranationalen Geldwirtschaft
9.7 Gemeinsame Arbeitsmärkte im Euroraum
9.7.1 Der Nexus zwischen Kapital- und Arbeitsmärkten
9.7.2 Eine zentralere Lohnverhandlung?
9.8 Was kann getan werden, um diese externen Effekte zu überwinden?
9.8.1 Fehlende Umverteilung auf europäischer Ebene
9.8.2 Versicherungssystem
9.8.3 Europäische Arbeitslosenversicherung
9.8.4 EU-weiter Anlageprodukte für Privatkunden und Euro-Anleihen
9.8.5 Eine europäische Tobin-Steuer zur Kontrolle europäischer Kapitalflüsse
9.8.6 Weiterentwicklung des Geldbegriffs
Literatur
10: Was treibt die europäische Integration an?
10.1 Europäische Integration: Eine verworrene Hierarchie?
10.1.1 Zuerst Schritt Drei: Ein internationales Währungssystem
10.1.2 Zweiter Schritt: Eine funktionale westliche Verteidigungsarchitektur
10.1.3 Dritter Schritt: Momentum und Scheitern einer europäischen Föderation
10.2 Geopolitische Beweggründe für den Euro
10.3 Die neue geopolitische Position Europas
10.3.1 Der Beginn eines Nord-Süd-Konflikts?
10.3.2 Den Stillstand der europäischen Integration durchbrechen
10.4 Die republikanische vs. die neoliberale Vision von Europa
Literatur
11: Schlussfolgerungen
Literatur
Stichwortverzeichnis
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Europäischer Republikanismus: Ein kohärenter Erklärungsansatz für wirtschaftliche und politische Integration in Europa?
 3031440900, 9783031440908, 9783031440915

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Thilo Zimmermann

Europäischer Republikanismus Ein kohärenter Erklärungsansatz für wirtschaftliche und politische Integration in Europa?

Europäischer Republikanismus „Dieses Buch bietet einen völlig neuen Ansatz in der Forschung zur europä­ ischen Integration, der die Natur der Europäischen Union mit den Ideen des Republikanismus zu verstehen versucht. Nach einer Kritik der ökonomischen Ansätze und einer Analyse der Ursprünge der politikwissenschaftlichen Theo­ rien zur europäischen Integration stellt der Autor eine überzeugende und rele­ vante Alternative vor, die Politik und Wirtschaft in einer einheitlichenden Inter­ pretation von Europa verbindet“. –Leila Simona Talani, Lehrstuhl für Internationale Politische Ökonomie, King’s College London, UK „Das Ziel dieses ehrgeizigen Buches ist es, historische, philosophische, wirtschaft­ liche und politikwissenschaftliche Argumente zu nutzen, um die europäische Einigung konzeptionell zu begründen. Das Projekt und die Verwirklichung der europäischen Einheit erweisen sich als ein entschlossenes, aber auch fragiles Unterfangen. Die Schwierigkeiten bei der Identifizierung der Konzepte ent­ sprechen den praktischen Schwierigkeiten bei der Bewältigung der jüngs­ ten Krise“. „Das Buch schlägt den Republikanismus als Konzept vor, um das europäische Projekt zu verstehen. All diejenigen, die sich für die einfache, aber enorm kom­ plexe Frage interessieren, was die Europäische Union ist, sollten es lesen“. –Francesco Papadia, Senior Fellow am Bruegel-Institut, Brüssel, Belgien „Ein bemerkenswertes Buch, das überzeugende theoretische Argumente dafür liefert, warum wir über die europäische Integration am besten im Sinne des Republikanismus nachdenken sollten und nicht im Sinne des Föderalismus oder einer der vielen anderen Theorien, die es gibt. Durch die Verbindung von wirtschaftlicher und politischer Theorie liefert das Buch höchst originelle Argu­ mente, die eine neue Sichtweise entwickeln, wie man aus der gegenwärtigen Sackgasse Europas herauskommen kann“. –Vivien Schmidt, Jean-Monnet-Professor für Europäische Integration, Pardee School of Global Studies, Boston University, USA

Thilo Zimmermann

Europäischer Republikanismus Ein kohärenter Erklärungsansatz für wirtschaftliche und politische Integration in Europa?

Thilo Zimmermann Universität zu Köln Köln, Deutschland

ISBN 978-3-031-44090-8    ISBN 978-3-031-44091-5 (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-031-44091-5 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://portal.dnb.de abrufbar. © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Nature Switzerland AG 2023 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht aus­ drücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Planung/Lektorat: Carina Reibold Springer Gabler ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Nature Switzerland AG und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Gewerbestrasse 11, 6330 Cham, Switzerland Das Papier dieses Produkts ist recyclebar.

Per gli Onnesi

Danksagungen

Das Verfassen dieses Buches war eine außergewöhnliche intellektuelle Reise und nicht immer eine leichte Aufgabe. Die Arbeit an einem relativ neuen Gebiet der europäischen Integrationstheorie ist eine interessantes, aber auch zeitintensive Projekt mit ungewissem Ausgang. Mein Dank gilt in erster Linie der Scuola Superiore Sant’Anna in Pisa (Italien), die ein ideales Umfeld für die Entfaltung intellektueller Ideen bot. Darüber hi­ naus möchte ich den Forschungseinrichtungen danken, die mich während der Arbeit an diesem Buch als Pre-Doc-Stipendiat beherbergt haben. Der Forschungsaufenthalt am Weatherhead Center for International Affairs an der Harvard University war eine einzigartige Gelegenheit, Ideen mit außergewöhnlichen Menschen auszutauschen und kontroverse, heraus­ fordernde und vor allem inspirierende Debatten zu führen. Mein Dank gilt außerdem der Ecoles Normales Superieures Cachan und Rue d’Ulm, die mich bei der Fertigstellung der Arbeit in Paris begleitet haben. Beide Institutionen bieten eine einzigartige Gelegenheit zum intellektuellen Austausch und zur akademischen Arbeit. Schließlich möchte ich Palgrave für die Veröffentlichung dieser Arbeit, die nun auch in einer deutschen Version erscheint, dafür danken, dass sie mich während des gesamten Publikationsprozesses unterstützt und begleitet haben.

VII

Über das Buch

Das Buch gibt einen Überblick über die aktuellen politikwissenschaft­ lichen Theorien der europäischen Integration, stellt ihre Ursprünge und Annahmen dar und erläutert ihre Stärken sowie ihre Schwächen, ins­ besondere hinsichtlich ihrer wirtschaftlichen Grundlagen. Es wird argu­ mentiert, dass die derzeitigen Theorien der europäischen Integration auf­ grund dreier theoretischer Schwächen Probleme haben, die europäische Integration zu erklären: Unstimmigkeiten zwischen den Konzepten der Souveränität und des Föderalismus, die Modellierung wirtschaftlicher Probleme als Interdependenzen (anstelle von externen Effekten und öf­ fentlichen Gütern) und die Annahme, dass wirtschaftliche Vorteile die Hauptantriebskraft der europäischen Integration sind (anstelle der Furcht vor wirtschaftlicher Dominierung). Im zweiten Teil wird der europäische Republikanismus als alternativer Ansatz zur Erklärung der europäischen Integration vorgestellt, der die Vorteile ökonomischer und politikwissenschaftlicher Theorien in kohä­ renterer Weise kombiniert und einen neuen Ansatzpunkt zur Erklärung und Legitimierung der europäischen Integration bietet. Ergänzt wird der Ansatz durch das Konzept einer Hierarchie von ineinandergreifenden so­ zialen Institutionen und öffentlichen Gütern, die ein Staat bereitstellt.

X 

Über das Buch

Im dritten Teil des Buches wird weiter ausgeführt, wie dieser Ansatz die drei größten Schwächen der derzeitigen Theorien überwinden kann. Der Zusammenhang zwischen Souveränität und Geld wird beschrieben und seine Auswirkungen auf die monetäre Integration veranschaulicht. Außerdem wird gezeigt, dass die Einführung eines europäischen Kapital­ marktes zu europaweiten Externalitäten führt, die einer europäischen Governance bedürfen. Darüber hinaus wird anhand des Konzepts einer Hierarchie ineinandergreifender sozialer Institutionen veranschaulicht, dass die Hauptantriebskraft der europäischen Integration nicht in wirtschaftlichen Vorteilen, sondern in der Furcht vor wirtschaftlicher Dominierung besteht.

Inhaltsverzeichnis

1 Einführung  1 Teil I  Defizite der gegenwärtigen Theorien der EI 2 Föderalismus, Souveränität und Modernität 29 3 Die Obsoleszenz des Neofunktionalismus 63 4 Liberalismus:  Ist die Wirtschaft der Treiber von Integration? 91 5 Wie lassen sich die Probleme der EI-Theorie lösen? 111 Teil II  Europäischer Republikanismus 6 Ansätze für eine europäische Republik139 7 Eine politische Philosophie öffentlicher Güter179 XI

XII Inhaltsverzeichnis

Teil III  Überwindung der Probleme der EI-Theorie 8 Souveränität und monetäre Integration229 9 Externe Effekte eines gemeinsamen Faktormarktes273 10 Was treibt die europäische Integration an?309 11 Schlussfolgerungen335 Literatur343 Stichwortverzeichnis 359

Über den Autor

Thilo  Zimmermann studierte Volkswirtschaftslehre an den Univer­ sitäten zu Köln und in Genua. Er arbeitete in der Wirtschaftsabteilung der deutschen Botschaft in Rom, wo er sich hauptsächlich mit der Situa­ tion Italiens in der Finanz- und Eurokrise befasste. Anschließend promo­ vierte er an der Scuola Superiore Sant’Anna in Pisa (Italien). Während seiner Promotion war er Pre-­Doctoral Fellow im Transatlantic Program des Weatherhead Center for International Affairs an der Harvard Uni­ versity. Außerdem forschte er in Paris an den Écoles Normales Supérieu­ res (Rue d’Ulm und Cachan).

XIII

Nomenklatur

abs Asset Backed Securities ACUE Amerikanisches Komitee für ein Vereinigtes Europa BVerfG Bundesverfassungsgericht CAP Gemeinsame Agrarpolitik cds Credit Default Swaps CFR Rat für Auswärtige Beziehungen CIA Zentrale Intelligenz Agentur CSU Christlich-Soziale Union EGKS Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl ECU Europäische Währungseinheit EDC Europäische Verteidigungsgemeinschaft EEC Europäische Wirtschaftsgemeinschaft EEA Einheitliche Europäische Akte EI-Theorie Theorie der europäischen Integration EMIR Europäische Marktinfrastruktur-Verordnung EMS Europäisches Währungssystem WWU Europäische Währungsunion ESF Exchange Stabilization Fund – 1934 in den USA gegründet EU Europäische Union FSAP Aktionsplan für Finanzdienstleistungen GATT Allgemeines Zoll- und Handelsabkommen BNE Bruttonationaleinkommen BSP Gros Nationales Produkt XV

XVI Nomenklatur

IRA Internationale Behörde für das Ruhrgebiet IWF Internationaler Währungsfonds LI Liberaler Intergouvernementalismus MiFID Richtlinie über Märkte für Finanzinstrumente MLG Multi-Level-Governance NATO Nordatlantikpakt-Organisation NBER National Bureau of Economic Research OCA-Theorie Theorie des optimalen Währungsraums OEEC Organisation für europäische wirtschaftliche Zusammenarbeit OSS Büro für strategische Dienste RTGS Echtzeit-Bruttoabrechnung SPD Sozialdemokratische Partei Deutschlands AEUV Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union TTIP Transatlantische Handels- und Investitionspartnerschaft ULC Lohnstückkosten UN Vereinte Nationen MwSt Mehrwertsteuer WTO Welthandelsorganisation WWII Zweiter Weltkrieg

Abbildungsverzeichnis

Abb. 3.1 Spillover-Effekt

85

Abb. 7.1 Kategorien öffentlicher Güter Abb. 7.2 Hierarchie der ineinandergreifenden sozialen Einrichtungen und öffentlichen Güter

214

Abb. 8.1 Geld als ineinandergreifende soziale Institution Abb. 8.2 Monetäre Integration durch Funktionen Abb. 8.3 Goldstandard-Mechanismus

237 253 262

Abb. 9.1 Zahlungen in einem Wechselkurssystem. NZB: Nationale Zentralbank, CR: Währungsreserven Abb. 9.2 Zahlungen im Währungsraum. CB: Zentralbank, RCBA: Regionale Zentralbank-Agentur

188

292 293

XVII

1 Einführung

Seit dem Beginn des europäischen Integrationsprozesses nach dem Zweiten Weltkrieg bauten führende europäische Staats- und Regierungschefs ihre europapolitischen Strategien auf der Annahme auf, dass wirtschaftliche Integration mehr oder weniger automatisch zu einer „immer engeren Union“ und schließlich zu einer Art politischer Union führen würde. Der wirtschaftliche Erfolg der europäischen Gemeinschaften in den ersten Jahrzehnten europäischer Integration machte es in der Tat leicht, den Erfolg der so genannten „Monnet-Methode“ der kleinen Integrationsschritte mit dem Schwerpunkt auf wirtschaftlicher Integration zu propagieren. Die Eurokrise und der Brexit haben diese Hypothese jedoch nachdrücklich in Frage gestellt. Was sind die Gründe für diese schwierige Situation? Welche Rolle spielen die Theorien europäischer Integration in diesem Prozess? Haben sie falsche Vorhersagen gemacht? Wurden sie auf falschen Annahmen aufgebaut? Müssen Theorien neu justiert werden, indem zum Beispiel die Faktoren, die die europäische Integration bestimmen, neu definieren werden müssen? Ist es möglich, den theoretischen Rahmen zur Erklärung europäischer Integration zu verbessern, um die Krise Europas zu überwinden? In diesem Buch werde ich versuchen, diese Fragen zu beantworten. © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Nature Switzerland AG 2023 T. Zimmermann, Europäischer Republikanismus, https://doi.org/10.1007/978-3-031-44091-5_1

1

2 

T. Zimmermann

1.1 Wirtschaftliche vs. politikwissenschaftliche Theorien europäischer Integration Die europäische Integration war schon immer ein komplexes Zusammenspiel von wirtschaftlichen und politischen Faktoren. Wirtschafts- und politikwissenschaftliche Theorien haben daher unterschiedliche Ansätze entwickelt, um europäische Integration zu erklären. Ökonomische Theorien analysieren die Rolle und die Dynamik des Freihandels und der Märkte im Integrationsprozess, während politikwissenschaftliche Theorien sich auf die Rolle der politischen Akteure und der gesellschaftlichen und politischen Institutionen konzentrieren. Die unterschiedlichen Ansätze der beiden Theoriefelder ergänzen sich teilweise, teilweise widersprechen sie sich. Schwierigkeiten bei der Erklärung der europäischen Integration ergeben sich häufig aus dem teils widersprüchlichen Verhältnis zwischen wirtschaftlichen und politischen Integrationstheorien. Vor allem im Vereinigten Königreich besteht die Tendenz, die Europäische Union (EU) als Freihandelszone und nicht als politische Union zu verstehen. Es lohnt sich daher, einen genaueren Blick auf beide Ansätze zu werfen, um zu verstehen, wie beide Faktoren den Integrationsprozess beeinflussen.

1.1.1 Theorien der wirtschaftlichen Integration Ökonomische Theorien der europäischen Integration gehen davon aus, dass die Hauptantriebskraft der europäischen Integration der wirtschaftliche Vorteil des Integrationsprozesses ist. Das Hauptargument ist hier, dass die Schaffung eines riesigen gemeinsamen Marktes mit 510  Mio. (für die EU im Jahr 2018) bzw. 320 Mio. (für die Eurozone) Verbrauchern Pareto-optimale Wohlfahrtsgewinne mit sich bringt. Das grundlegende Argument geht auf die Handelstheorie von David Ricardo zurück. Der moderne theoretische Rahmen der wirtschaftlichen Integration wurde von Viner (2014/1950) und Balassa (1962) entwickelt. Nach Balassa kann die wirtschaftliche Integration dabei durch zwei Strategien erreicht

1 Einführung 

3

werden: Eine „dirigistische“ (Dirigist) Integration wird von staatlichen Behörden geplant und durchgeführt, während der „liberalistische“ (liberalis) Ansatz auf Marktmechanismen beruht. Der dirigistische Ansatz folgt einem klaren institutionellen Muster, das durch eine politische Ideologie definiert ist und laut Balassa zum Beispiel von den Regimen der Sowjetunion oder Nazideutschlands angewandt wurde. Auch die europäische föderalistische Bewegung kann teilweise dem dirigistischem Ansatz zugeordnet werden, da politische Überzeugungen hier eine größere Role spielen. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurden laut Balassa letztlich jedoch nur wenige Versuche unternommen, durch „dirigistische“ Strategien Zollunionen oder andere Formen der Integration zu schaffen. Ein solcher Versuch war die so genannte „Großraumwirtschaft“ des nationalsozialistischen Deutschlands (siehe Abschn. 2.6), in der die Volkswirtschaften kleiner europäischer Satellitenstaaten in die deutsche Kriegswirtschaft integriert werden sollten (Balassa, 1962, S. 6–10). Der liberalistische Ansatz war vor und nach der Zeit der Weltkriege vorherrschend. Er schlägt die Abschaffung von Handels- und Zahlungshemmnissen vor und will durch die Nutzung von Marktmechanismen ein immer höheres Maß an Integration erreichen (Balassa, 1962, S. 6–10). Nach Balassa vollzieht sich eine liberalistische Wirtschaftsintegration in sieben Schritten: 1. Präferenzielle Handelszone 2. Freihandelszone 3. Zollunion 4. Gemeinsamer Markt 5. Wirtschaftsunion 6. Wirtschafts- und Währungsunion 7. Vollständige wirtschaftliche Integration Dieser schrittweise Ansatz zielt darauf ab, zunächst den Austausch von Waren, dann von Dienstleistungen, Kapital und schließlich von Arbeitkraft zu integrieren. Mit zunehmendem Integrationsgrad sollten auch die Geld- und Steuerpolitiken zunächst koordiniert und dann zusammengeführt werden (Balassa, 1962, S. 2–3).

4 

T. Zimmermann

Um den Intensitätsgrad wirtschaftlicher Integration zu erklären stützt sich Balassa explizit auf Alfred Marshalls Konzept der externen Ökonomien (Marshall, 1920/1890), das Marshall während der zweiten Welle der Industrialisierung Ende des neunzehnten Jahrhunderts entwickelt hat, um die damaligen wirtschaftlichen Entwicklungen zu beschreiben. Externe Ökonomien entstehen durch „die allgemeine Entwicklung der Industrie“ (Marshall, 1920/1890, S. 266, IV.IX), d. h. die Umgebungsbedingungen für Unternehmen, die die Produktionsmöglichkeiten aller Unternehmen beeinflussen, aber nicht direkt von ihnen beeinflusst werden. Interne Ökonomien sind dagegen solche, die innerhalb einer wirtschaftlichen Einheit (z.  B. innerhalb eines Unternehmens) durch eine bessere Organisation oder ein effizienteres Produktionsverfahren entstehen. Externe Ökonomien erklären das Entstehen von wirtschaftlichen Clustern in Industrieländern. Der Zweck der wirtschaftlichen Integration besteht darin, einen größeren Markt zu schaffen, der einen höheren Grad an Spezialisierung ermöglicht. Infolgedessen kann ein höheres Maß an externen Ökonomien erreicht werden, was den Wohlstand des gesamten Systems erhöht. Wirtschaftliche Integration kann zu mehr Wettbewerb und damit zu technologischen Innovationen führen, die sich positiv auf andere Branchen auswirken und so weitere externe Ökonomien schaffen können (Balassa, 1962, S. 159–162). Eine entscheidende Frage ist jedoch, welche Governance, das heißt welche Regulierung oder politischen Rahmenbedingungen nötig sind, um negative Effekte von externen Ökonomien abzufedern. Balassa definierte wirtschaftliche Integration als einen Prozess, der „Maßnahmen umfasst, die darauf abzielen, die Diskriminierung zwischen den Wirtschaftseinheiten verschiedener Nationalstaaten zu beseitigen“, oder als einen Zustand, der sich „durch das Fehlen verschiedener Formen der Diskriminierung zwischen den Volkswirtschaften“ auszeichnet (Balassa, 1962, S. 1). Dieser ökonomische Ansatz neigt jedoch dazu, die Rolle der politischen Institutionen zu vernachlässigen. In diesem Buch wird daher versucht, ein tieferes Verständnis der wirtschaftlichen Integration Europas zu entwickeln, das die Bedeutung politischer Institutionen im Erklärungsrahmen miteinschließt. Ich werde mich daher nicht nur auf wirtschaftliche Fragen und Bereiche konzentrieren, sondern versuchen, eine angemessene Synthese zwischen wirtschaftlicher und politischer Integration zu finden.

1 Einführung 

5

Auch Balassa war nicht von einer rein wirtschaftlichen Logik überzeugt, da er darauf hinwies, dass es verschiedene politische Möglichkeiten zur Förderung der wirtschaftlichen Integration gab. Die Hauptziele wirtschaftlicher Integration waren für Balassa, erstens, die Aufnahme eines deutsch-französischen Versöhnungsprozesses und, zweitens, die Wiederherstellung der Stellung Westeuropas als dritte Weltmacht nach dem Zweiten Weltkrieg (Balassa, 1962, S. 6). Balassa weist jedoch darauf hin, dass sich die Ökonomie des liberalistischen Ansatzes lediglich mit den wirtschaftlichen Auswirkungen und nicht mit der politischen Tragweite der Integration befasst. Dennoch kann die Wirtschaftstheorie laut Balassa dazu beitragen, wirtschaftliche Probleme zu definieren, die zu ihrer Lösung „politische Mittel und politische Prozesse“ benötigen (Balassa, 1962, S. 6–7). Veteter liberaler ökonomischer Theorien argumentieren jedoch, aufbauend auf diesem theoretischen Rahmen, dass die Europäische Union in erster Linie ein „loser Club“ sein sollte, um Handel und Kapitalliberalisierung zu organisieren. Diese Ansätze sagen die wirtscharftlichen Vorteile eines europäischen Marktes und einer währungspolitischen Koordinierung voraus, sehen aber nicht die Notwendigkeit einer Arbeitsmarktintegration, die mit einer währungs- und steuerpolitischen Integration einhergeht. Die Integration sollte daher irgendwo zwischen Stufe 3 und 4 der Balassa’schen Hierarchie enden. Diese Ansicht ist in der angloamerikanischen Welt vorherrschend, insbesondere Großbritannien versuchte, die Rolle der Europäischen Union auf einen wirtschaftlichen Akteur zu reduzieren. Die Europäische Kommission hat große Anstrengungen unternommen, um die Theorien wirtschaftlicher Integration weiterzuentwickeln und sie mit einer ökonomischen Begründung für die politische Integration Europas zu verbinden (für einen ausführlicheren Überblick siehe Abschn. 8.6). Nach dieser Auffassung muss die wirtschaftliche Integration mit der politischen Integration Hand in Hand gehen. Bereits 1969 wies der Werner-Bericht darauf hin, dass die Schaffung eines gemeinsamen Marktes die Schaffung einer gemeinsamen Währung voraussetzt. Andernfalls können die externen Probleme innerhalb des Marktes nicht effizient gelöst werden (European Commission, 1970). Dieses Argument wurde später durch den Padoa-Schioppa-Bericht (Padoa-­ Schioppa, 1987) und den Bericht „One Market, One Money“ der Euro-

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T. Zimmermann

päischen Kommission (1990) weiter entwickelt. Wissenschaftler, die sich auf den Rahmen der Optimum Currency Area Theory (OCA-Theorie) stützen, argumentieren jedoch, dass die Eurozone nicht die Kriterien (oder zumindest nicht alle Kriterien) für die Schaffung einer gemeinsamen Währung erfüllt. Aufgrund unzureichender Anpassungsmechanismen innerhalb des Euroraums werden in einer Währungsunion fiskalische Transfers und eine politische Union unvermeidlich sein. Dies wäre jedoch nur durch die Schaffung einer politischen Union möglich und würde die Bereitschaft der Bevölkerung zu Fiskaltransfers voraussetzen (bzw. die Kenntnis und Akzeptanz der Bevölkerung bezüglich der ökonomischen Dynamiken eines gemeinsamen Marktes). Wie wirken wirtschaftliche und politische Integration also zusammen? Was die Einführung einer gemeinsamen Währung betrifft, so wurden in den 1990er-Jahren zwei gegensätzliche Theorien diskutiert. Nach der „Krönungstheorie“ hätte die gemeinsame Währung der letzte Schritt in einem langen Prozess der wirtschaftlichen Konvergenz und der Harmonisierung der Wirtschaftspolitik sein sollen. Auf der Grundlage der OCA-Theorie argumentiert dieser Ansatz, dass die zu integrierenden Länder zunächst durch Handels- und Marktintegration konvergieren müssen, bevor die Bedingungen der OCA-Theorie erfüllt sind und die Währungsintegration fortgesetzt werden kann. Die Krönungstheorie wurde von vielen deutschen Ökonomen unterstützt, zum Beispiel vom wissenschaftlichen Direktor der Bundesbank (und später der EZB), Issing (1996). Die Befürworter der gegenteiligen „Lokomotivtheorie“ argumentieren, dass die Einführung des Euro als Lokomotive dienen kann, die die europäische Integration zu einer politischen Union führt. Eine gemeinsame Währung kann eingeführt werden, auch wenn die Volkswirtschaften des gemeinsamen Währungsraums noch nicht vollständig konvergiert haben. Die gemeinsame Währung, so die Befürworter dieser Theorie, wird eine Harmonisierung der Wirtschafts- und Finanzpolitik erzwingen. In Abschn. 8.6 werden wir sehen, dass beide Argumente wichtig sind, aber einige theoretische Schwächen aufweisen. Die Annahmen der OCA-­ Theorie sind, wie wir sehen werden, nicht ohne Weiteres auf die Währungsintegration in Europa anwendbar. Die Krönungstheorie ist daher ebenfalls nur teilweise auf Europa anwendbar. Die Lokomotiv-

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theorie hat durch die Eurokrise ihre Grenzen und Gefahren aufgezeigt bekommen. Die Euro-Krise hat demonstriert, dass es wichtig ist, die Bedingungen zu verstehen, unter denen die Einführung einer gemeinsamen Währung zu mehr Konvergenz und schließlich zu einer politischen Union führen kann. In der Tat warnte Nicholas Kaldor bereits 1971, dass „es ein gefährlicher Irrtum ist zu glauben, dass eine Währungs- und Wirtschaftsunion einer politischen Union vorausgehen kann“, denn wenn „die gemeinschaftliche Kontrolle über die nationalen Haushalte Druck erzeugt, der zu einem Zusammenbruch des gesamten Systems führt, wird sie die Entwicklung einer politischen Union verhindern, nicht fördern“ (Kaldor, 1978, S. 206–207). Es ist daher bemerkenswert, dass die Kommission ihre wirtschaftlichen Argumente auf der OCA-­Theorie aufbaut (siehe Abschn. 8.6), obwohl Ökonomen zustimmen würden, dass die EU in einigen wichtigen Aspekten deren Kriterien nicht erfüllt. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die ökonomischen Theorien der europäischen Integration einen kohärenten Rahmen entwickelt haben, der erfolgreich erklärt, wie ein gemeinsamer europäischer Markt geschaffen werden und welche wirtschaftlichen Vorteile er bringen kann. Wie wir im Folgenden sehen werden, haben die Wirtschaftstheorien jedoch noch Schwächen, wenn es darum geht zu erklären, von welchen politischen Institutionen dieser gemeinsame Markt umgeben sein muss. Ökonomische Theorien sagen voraus, dass zum Beispiel eine starke Institution zur Verhinderung von Kartellen sowie andere Formen der Marktregulierung notwendig sind; in Bezug auf eine gemeinsame europäische Regierung und einen gemeinsamen Haushalt sind die Theorien jedoch weniger präzise. Die Antworten hängen oft von der politischen Sichtweise des Betrachters ab. Außerdem befassen sich die Wirtschaftstheorien meist nicht mit Fragen der Souveränität oder Problemen demokratischer Entscheidungsprozesse. Dies hat zu vielen Missverständnissen geführt, zum Beispiel in der britischen Debatte über die EU und den Brexit. Aus Sicht der ökonomischen Integrationstheorie ist eine zwischenstaatliche Koordinierung der Politiken (wobei der Grad der Integration von den bereits erwähnten sieben Schritten von Balassa abhängt) ebenso möglich wie eine mehr oder weniger vollwertige politische Union, einschließlich Arbeitsmarktintegration und gemeinsamer Geld- und Steuerpolitik. Im ersten Fall würde die Souveränität im Prinzip auf der nationalen Ebene

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verbleiben, während im zweiten Fall die Souveränität weitgehend auf eine supranationale Ebene übertragen würde. Welche Option vorzuziehen ist, bleibt jedoch eine politische Frage, keine wirtschaftliche. Das Instrument zur Beschreibung des politischen Entscheidungsprozesses über eine europäische politische Union sollte daher durch politische Theorien zur europäischen Integration entwickelt werden. Um ökonomische und politikwissenschaftliche Theorien zur europäischen Inte­ gration zu verbinden, schlage ich in diesem Buch vor, die ökonomische Theorie der öffentlichen Güter, durch die eine gemeinsame Regierung ökonomisch legitimiert werden kann, mit der politischen Philosophie des Republikanismus zu verbinden.

1.1.2 Die Wirtschafts- und Marktsphäre als ineinandergreifende soziale Institutionen Die politische Sphäre und die Marktsphäre werden, v. a. in wirtschaftsliberalen Theorien, teilweise als zwei getrennte Bereiche dargestellt. Beide Sphären sind jedoch voneinander abhängig. Der moderne Markt, wie wir ihn heute kennen, ist ein komplexes soziales Gebilde, das aus zahlreichen sozialen Institutionen entstanden ist. Karl Polanyi argumentierte, dass unser modernes kapitalistisches System aus der „Großen Transformation“ (Polanyi, 1957/1944) der alten Feudalgesellschaft in moderne Nationalstaaten und Marktwirtschaften hervorgegangen ist. Während dieses Modernisierungsprozesses wurden die Herrschaftsverhältnisse (zwischen Herren und Leibeigenen) in „monetäre“ Beziehungen in einem komplexen Marktsystem umgewandelt (Simmel, 1900). Während der Großen Transformation wurden autarke Mikroökonomien (in denen vor allem Probleme gemeinsamer Resourcennutzung auf sehr lokaler ebene gelöst wurden) durch ein komplexes (nationales) Marktsystem für private Güter ersetzt. Polanyi argumentiert, dass soziale Institutionen, wie Gesetze und Verwaltung, von einem Nationalstaat geschaffen werden mussten, um unsere moderne Marktwirtschaft zu ermöglichen. Die Innovation der Marktwirtschaft bestand darin, dass die Wirtschafts- und Machtbeziehungen in einem komplexen Marktsystem „verinnerlicht“ wurden. Dieses System ermöglichte es jedem, seinen persön-

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lichen Gewinn oder „Nutzen“ zu maximieren und damit auch das Wohlergehen der Gesellschaft als Ganzes zu maximieren. Die liberale Wirtschaftstheorie sagt voraus, dass das Marktsystem, sobald es sich einmal etabliert hat, mehr oder weniger automatisch und ohne weitere Eingriffe zu optimalen Ergebnissen führen wird. Das große historische „Versprechen“ der Wirtschaftswissenschaft seit Adam Smith war, dass die Integration menschlicher Beziehungen in ein numerisches Marktsystem zu enormen Wohlfahrtsgewinnen für alle Beteiligten führen wird. Machtverhältnisse (wie z. B. der Zugang zu bestimmten Ressourcen) wurden daher in einem komplexen Rechts- und Geldsystem internalisiert, Formen persönlicher Herrschaft wurden abgeschafft und sogar verboten und durch Geldverhältnisse und Eigentumsrechte ersetzt. Der Erfolg des Systems hängt jedoch von der angemessenen Gestaltung der umgebenden Institutionen ab. Wenn die umgebenden Institutionen ineffizient gestaltet sind, kann es passieren, dass bestimmte Beziehungen nicht in den Maximierungsprozess einbezogen werden, der das Verhalten der Marktteilnehmer steuert. Wirtschaftswissenschaftler bezeichnen diese Beziehungen als „externe Effekte“, die die Marktergebnisse ernsthaft verzerren können. Externe Effekte können daher staatliche Eingriffe legitimieren (Samuelson, 1954). Auf der ökonomischen Seite ist es daher vor allem die Theorie der öffentlichen Güter, die als Brückenbauer zu den politikwissenschaftlichen Theorien dienen könnte. Ich werde mich daher in dieser Arbeit auf politikwissenschaftliche Theorien und die Theorie der öffentlichen Güter konzentrieren. Historiker und Ökonomen haben betont, dass die Existenz eines effizienten Marktes von der Existenz effizienter Institutionen abhängt. Polanyi argumentierte, dass diese Institutionen von einem starken, souveränen Staat bereitgestellt werden müssen. Das Konzept des Nationalstaats wurde daher entwickelt, um starke Institutionen zu schaffen, die die Entstehung von Märkten ermöglichen. Die Konzepte des Marktes und des souveränen Staates sollten daher nicht voneinander getrennt werden. Vielmehr sind beide Grundpfeiler dessen, was Polanyi eine „Marktgesellschaft“ nannte (Polanyi, 1957/1944). Auch Charles Tilly betonte die komplexe Wechselwirkung zwischen Staatsbildung und der Entstehung des modernen kapitalistischen Marktsystems. Ihm zufolge hatten technische Innovationen wie das Schieß-

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pulver und das Aufkommen stehender Heere die Kosten des Krieges erheblich erhöht. Die Staaten entwickelten moderne Marktsysteme, um die steigenden Kriegskosten zu finanzieren. Die Entstehung von Nationalstaaten und Marktwirtschaften ging daher auch Hand in Hand mit der Entstehung des Konzepts der Souveränität. Nur ein souveräner Staat war stark genug, um die notwendigen Institutionen zur Schaffung moderner Marktwirtschaften durchzusetzen. Marktsysteme wurden daher auf nationaler Ebene eingerichtet (Tilly, 1993). Die „Große Transformation“ ist ein in der Literatur häufig diskutiertes Thema. Bislang wurde Polanyis Argument jedoch hauptsächlich zur Erklärung der Entstehung nationaler Marktgesellschaften herangezogen. Das Marktsystem, das die menschlichen Beziehungen in einem Marktprozess verinnerlicht hat, entwickelte sich innerhalb eines Nationalstaats (und eines nationalen Marktes). Bisher wurden kaum Anstrengungen unternommen, die Konzepte von Polanyi und Simmel zur Erklärung der historischen und theoretischen Wurzeln der europäischen Integration zu nutzen. Polanyi und Simmel haben sich nicht im Detail mit den Beziehungen zwischen Individuen zweier verschiedener Länder oder Marktwirtschaften befasst. Diese bleiben Externalitäten, solange es keine internationalen Regime gibt. Theorien zur politischen und wirtschaftlichen Integration befassen sich mit der Frage, wie verschiedene nationale Wirtschaftssysteme zu einem neuen System verschmelzen können. Im Verlauf der Integration können jedoch externe Effekte zwischen den Nationalstaaten bestehen bleiben. Politische Theorien neigen dazu, diese „nicht internalisierten externen Effekte“ als „Interdependenzen“ zweier Wirtschaftssysteme zu beschreiben (siehe Abschn.  4.5). Dieses Konzept ist in der Tat aussagekräftig, solange zwei unterschiedliche Märkte und Nationalstaaten existieren. Die wirtschaftliche Integration befasst sich mit den Problemen der Externalitäten, die zwischen entwickelten nationalen Marktsystemen entstanden sind. In diesem Buch werde ich argumentieren, dass sie auf einer höheren Integrationsstufe, insbesondere nach der Einführung einer gemeinsamen Währung, wieder als „nicht internalisierte externe Effekte“ eines europäischen Marktes modelliert werden sollten, die von einem europäischen Souverän geregelt werden müssen, und nicht als Inter-

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dependenzen zweier unterschiedlicher Marktsysteme, die durch internationale Vereinbarungen geregelt werden können (siehe Kap. 4). Schauen wir uns nun genauer an, wie wirtschafts- und politikwissenschaftliche Theorien mit diesen Fragen umgehen.

1.1.3 Politische Theorien der europäischen Integration Die politikwissenschaftlichen Theorien zur „regionalen“ Integration zielen darauf ab zu erklären, wie politische Institutionen und Politiken auf internationaler (oder europäischer) Ebene vereinheitlicht werden und wie eine politische Gemeinschaft geschaffen werden kann. Die europä­ ische Integration ist dabei ein geographisches Unterfeld der Theroein regionaler Integration. In der Politikwissenschaft gibt es verschiedene Ansätze, um zu erklären, ob und wie eine europäische politische Union geschaffen werden kann. Im Folgenden werden die drei bekanntesten Theoriefamilien zur europäischen Integration vorgestellt: 1. Föderalismus 2. Neofunktionalismus 3. Liberaler Intergouvernementalismus (LI) Diese Theorien befassen sich mit der Frage, ob und wie die Souveränität auf europäischer Ebene neu verteilt werden sollte. Föderalisten argumentieren, dass die europäische Integration einfach eine Notwendigkeit ist und eine europäische Föderation sofort umgesetzt werden könnte (oder besser: sollte), ggf. sogar mit Gewalt (siehe Kap. 2). Der Neofunktionalismus argumentiert, dass die europäische Integration ein sich selbst erhaltender Prozess ist, in dem politische Eliten und Technokraten – oft unbeabsichtigte – „Spill-over-Effekte“ erzeugen und kultivieren, die den Prozess der europäischen Integration auf dem Weg zu einer europäischen Föderation halten (siehe Kap. 3). Liberale Intergouvernementalisten argumentieren, dass das Tempo der europäischen Integration von den nationalen Regierungen bestimmt wird. Sie werden das Integrationstempo entsprechend anpassen, wenn die wirtschaftlichen Interdependenzen dies

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erforderlich machen (siehe Kap. 4). Der Föderalismus ist aus historischer Sicht keine politikwissenschaftliche Theorie, sondern ein Ansatz, der von politischen Aktivisten über Jahrhunderte hinweg entwickelt wurde. Der historische Föderalismus legt keinen so großen Wert darauf zu erklären, wie eine Föderation geschaffen werden könnte, sondern behauptet vielmehr, dass sie eingerichtet werden sollte. Die beiden anderen Theorien lassen sich dagegen unter dem allgemeineren Begriff der „regionalen Integrationstheorien“ zusammenfassen. Ernst B. Haas definiert regionale Integration (wie z. B. die europäische Integration) in der Politikwissenschaft als einen Versuch, „die Tendenz zur freiwilligen Schaffung größerer politischer Einheiten zu erklären, von denen jede selbstbewusst die Anwendung von Gewalt in den Beziehungen zwischen den beteiligten Einheiten und Gruppen vermeidet“ (Haas, 1970, S.  607–608). Er grenzt den Bereich der regionalen Integration scharf von anderen historischen Beispielen der Integration ab, die auf mehr oder weniger bedeutenden Formen von Zwang beruhen. Napoleon Bonaparte und Simon Bolivar, aber auch Otto von Bismarck und Camillo Cavour waren laut Haas „Föderalisten“, die die Schaffung neuer, größerer politischer Souveränitäten gegen jede Art von Widerstand, notfalls auch mit Gewalt, durchzusetzen versuchten. Die regionale Integration hingegen versucht zu erklären, wie eine „freiwillige Schaffung größerer politischer Einheiten“ erreicht werden kann (Haas, 1970, S. 607–608). Haas betont, dass der Hauptbereich der regionalen Integration normativ bleibt: Er versucht zu erklären, wie eine neue, größere politische Einheit mit friedlichen Mitteln erreicht werden kann. Regionale Integrationstheorien sind daher ein Gegenkonzept zum Realismus, der von souveränen, unabhängigen Nationalstaaten und der Frage ausgeht, wie ein Machtgleichgewicht zwischen den Staaten erreicht werden kann (Haas, 1970, S. 608). Die regionale Integration zielt nicht darauf ab, mit Gewalt eine neue Souveränität zu schaffen, sondern versucht zu erklären, wie die verschiedenen nationalen Systeme sozial, politisch und vor allem wirtschaftlich miteinander verbunden werden können, um mehrere Souveränitäten zu verschmelzen und eine neue politische Gemeinschaft zu schaffen. Die meisten Theorien bauen auf den Konzepten der

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wirtschaftlichen Integration auf und versuchen zu erklären, durch welche politischen Institutionen die wirtschaftliche Integration begleitet werden muss. Die Frage, wie wirtschaftliche und politische Integration zusammenwirken, ist jedoch komplex. Es ist nicht leicht zu sagen, ob die politische Integration das Tempo der wirtschaftlichen Integration bestimmt oder ob es andersherum ist. Föderalisten betonen die Bedeutung politischer Entscheidungen, während liberale Intergouvernementalisten hervorheben, dass die Politik dazu neigt, wirtschaftlichen Notwendigkeiten zu folgen. Der Neofunktionalismus ist, wie wir später sehen werden, eine Mischung aus beidem. Es ist jedoch wichtig, die Art und Weise aufzuzeigen, in der politische und wirtschaftliche Integrationstheorien miteinander verknüpft sind, um einige Missverständnisse im Prozess der europäische Integration zu vermeiden. Generell lässt sich eine Tendenz zur Umsetzung wirtschaftlicher Überlegungen in Theorien zur regionalen Integration beobachten. Vor dem Zweiten Weltkrieg folgte der Föderalismus hauptsächlich politischen Überlegungen. Der Neofunktionalismus integrierte entscheidende wirtschaftliche Argumente in seine Theorie, wie wir später sehen werden. Der liberale Intergouvernementalismus basiert ausdrücklich auf einem politökonomischen Rahmen. Es scheint jedoch ein interessantes Paradoxon zu geben: Je mehr politikwissenschaftliche Theorien wirtschaftliche Argumente einbeziehen, desto weniger befürworten sie eine politische Union. Der Föderalismus schlug eine „unbedingte“ und „sofortige“ Schaffung einer europäischen Föderation vor, der Neofunktionalismus beschreibt nur einen „Weg“ zu einer möglichen Föderation, und der liberale Intergouvernementalismus sieht keine Notwendigkeit für eine politische Union, wenn die Mitgliedstaaten keine Notwendigkeit sehen, diese zu schaffen. Die Politikwissenschaft muss in angemessener Weise erklären, wie die wirtschaftliche Integration durch politische Institutionen begleitet werden kann, um die wirtschaftliche Integration nachhaltig zu gestalten und die von Nicholas Kaldor angesprochenen Gefahren der „Desintegration“ zu vermeiden. Es ist jedoch nicht klar, ob politikwissenschaftliche Theorien diese Aufgabe wirklich erfüllen, wie ich in diesem Buch zeigen werde. Es ist wichtig, die aktuellen Theorien der europäischen Integration genauer zu betrachten und ihre Grundannahmen zu verstehen.

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1.1.3.1 Die Schwächen der politikwissenschaftlichen Theorien Im ersten Teil dieses Buches werde ich die aktuellen Theorien der europäischen Integration vorstellen und einige Hauptprobleme ihrer Annahmen erklären. Ich werde erläutern, wie jede Theorie versucht hat, eine europäische politische Union zu schaffen, und aufzeigen welche Annahmen dies letztlich erschwert haben. Ich werde mich auf drei Hauptthemen konzentrieren: 1 . Die Rolle der Nationalstaaten: Souveränität versus Föderalismus 2. Modellierung wirtschaftlicher Probleme: wirtschaftliche Interdepen­ denz versus europaweite externe Effekte und öffentliche Güter 3. Haupttriebfeder der europäischen Integration: wirtschaftliche Vorteile versus „Furcht vor wirtschaftlicher Dominierung“ Die drei großen Theoriefamilien der europäischen Integration, der Föderalismus, der Neofunktionalismus und der liberale Intergouvernementalismus, leiden jeweils unter einem dieser drei Hauptprobleme. Im ersten Teil des Buches werde ich im Detail erklären, wie diese Fallen in den verschiedenen theoretischen Rahmen umgesetzt werden. Souveränität vs. Föderalismus In Kap. 2 werde ich die historische Verbindung zwischen den Konzepten der Souveränität und des Föderalismus aufzeigen. Historisch gesehen, waren sie Antipoden. Sie können jedoch auch als zwei Seiten derselben Medaille betrachtet werden. Wenn man die Hintergründe beider Konzepte versteht, kann man besser nachvollziehen, wie man eine Föderation schaffen kann. Ein genauerer Blick auf die Geschichte stellt jedoch die Konzepte der „Föderation“ als solche in Frage, da das Konzept eines Staatenbundes immer noch auf dem Konzept der „Staaten“ aufbaut. Wirtschaftliche Interdependenz vs. europaweite Externalitäten Die beiden anderen Theoriefamilien, der Neofunktionalismus und der liberale Intergouvernementalismus, setzen auf die eine oder andere Weise auf das Konzept der wirtschaftlichen Interdependenz. Der Neo-

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funktionalismus setzt eine eher wirtschaftliche Logik ein, um die Widersprüche zwischen Souveränität und Föderalismus zu umgehen. Dieser Ansatz versucht, die wirtschaftliche Interdependenz in „spill-­overs“ zu kanalisieren, um langfristig eine europäische Föderation zu schaffen. Diese Strategie beruhte jedoch auf der Annahme, dass die Interdependenzen aufgrund des internationalen institutionellen Rahmens der druch das Bretton-Woods-Abkommens geschaffen worden ist, begrenzt und überschaubar sind (siehe Abschn. 3.2). Die internationale monetäre Ordnung, die mit dem Bretton-Woods-Abkommen nach dem Zweiten Weltkrieg geschaffen worden ist, sollte es den nationalen Regierungen ermöglichen, externe Probleme innerhalb der Nationalstaaten durch wirtschaftliche Interventionen zu lösen. Sie begrenzte das Ausmaß der Interdependenzen zwischen den Staaten. Seit der Einführung des Euro kann jedoch das gesamte Konzept der „Interdependenz“ in Frage gestellt werden, da nun mehrere Systeme, die möglicherweise voneinander abhängig waren, zu einem System verschmolzen wurden, das nun versucht, alle Informationen in einem System zu internalisieren, wodurch auch europaweite externe Effekte entstehen. Wirtschaftlicher Vorteil order die „Furcht vor wirtschaftlicher Dominierung“ Der liberale Intergouvernementalismus versuchte, die Fehler des Neofunktionalismus zu heilen. Moravcsik interpretierte die europäische Integration als einen Prozess zur „Bewältigung der wirtschaftlichen Interdependenz“ (Moravcsik, 2003/1998). Er argumentiert, dass die europä­ ische Integration hauptsächlich einer wirtschaftlichen Logik folgt. Nationale Regierungen entscheiden sich für mehr Integration, wenn diese wirtschaftliche Vorteile verspricht. Eine europäische Föderation wird also nur dann zustande kommen, wenn sie im wirtschaftlichen Interesse der Nationalstaaten liegt. Moravcsiks Ansatz übersieht jedoch die politischen und geopolitischen Ursprünge der europäischen Integration. Ich werde in diesem Buch argumentieren, dass der Hauptantrieb für die nationalen Regierungen, einen Prozess der europäischen Integration einzuleiten, nicht der wirtschaftliche Vorteil ist (in diesem Fall wäre eine Freihandelszone in vielerlei Hinsicht tatsächlich vorteilhafter), sondern vielmehr die Furcht vor wirtschaftlicher Dominierung. Die politische

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Philosophie des Republikanismus versucht, Dominierung, dies bedeutet willkürliche Beherrschung, durch Rechtsstaatlichkeit zu entgegenzuwirken. Die Einbettung der Wirtschaftstheorie in einen republikanischen Theorierahmen könnte daher in der Lage sein, die Furcht vor wirtschaftlicher Dominanz als Erklärungsfaktor europäischer Integration zu stärken. Die europäische Integration zielt daher darauf ab, den Prozess der „Großen Transformation“ zu vollenden, der von Karl Polanyi (siehe oben und auch Abschn. 1.2) beschrieben wurde, der argumentierte, dass die Marktgesellschaft Formen direkter, feudaler Dominierung ersetzen würde.

1.1.3.2 Welche Art von Föderation braucht Europa? Während der Eurokrise haben WissenschaftlerInnen versucht, theoretische Ansätze zu finden, um die Schwächen des europäischen Integrationsprozesses zu beschreiben und Wege zu einer europäischen politischen Union aufzuzeigen. In dem Bericht „Completing the Euro“ der Tommaso Padoa-Schioppa-Gruppe (unter der Leitung von Henrik Enderlein und unter der Schirmherrschaft von Jacques Delors und Helmut Schmidt) betonen die Autoren, dass die „Grundursache“ der Eurokrise „im Widerspruch zwischen einer einheitlichen, supranationalen Währung und der Fortführung der nationalstaatlichen Wirtschaftspolitik“ liegt (Padoa-­ Schioppa Group, 2012, S. 13). Alle anderen Faktoren, die in den Medien breit diskutiert wurden, wie „Fehler bei der Lohnfestsetzung oder fiskalische Verantwortungslosigkeit, […] das Versagen der Banken oder der Bankenregulierung, […] Versagen bei der politischen Koordinierung oder der Anwendung von Sanktionen“, lassen sich nach Ansicht der Autoren auf diese Grundursache zurückführen. Die Autoren betonen jedoch, dass Europa nicht zwischen der Wiederherstellung der vollen nationalen Souveränität und der Schaffung eines europäischen Superstaates oder eines europäischen Nationalstaates wählen muss. Aufbauend auf einem Zitat von Tommaso Padoa-Schioppa argumentieren sie, dass Europa eine neue „post-westfälische Ordnung“ schaffen muss: „So verfeindet sie auch sind, die beiden Lager [Nationalstaat vs. europä­ ischer Superstaat] teilen denselben Hauptglaubensartikel: dass der Nationalstaat der absolute Souverän innerhalb seiner Grenzen ist und bleiben wird.

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Beide glauben, dass die internationalen Beziehungen weiterhin auf den beiden Postulaten der inneren Homogenität und äußeren Unabhängigkeit beruhen werden, einem Modell, das im Westfälischen Frieden von 1648 erfunden wurde. Für den einen ist die Befestigung der Zitadelle unmöglich, für den anderen ist sie unnötig. Beide verkennen, dass wir bereits in einer anderen Welt leben, einer Welt, in der die politische Macht nicht mehr von einem einzigen Inhaber monopolisiert werden kann. Stattdessen ist sie entlang einer vertikalen Skala verteilt, die von der kommunalen über die nationale bis hin zur kontinentalen und globalen Ebene reicht. Beide Lager scheinen zu ignorieren, dass Geschichte ein dynamischer, von Widersprüchen getriebener Prozess ist.“ (Padoa-Schioppa Group, 2012, S. 9–10)

Der Bericht kommt zu dem Schluss, dass die Eurokrise dadurch verursacht wurde, dass „die Marktteilnehmer nicht an die Robustheit des postwestfälischen Projekts glaubten“ (Padoa-Schioppa Group, 2012, S. 10). Der Bericht zielt nicht darauf ab, einen genauen institutionellen Rahmen für einen europäischen Superstaat zu skizzieren, sondern plädiert für die „Umsetzung einer effektiveren Aufteilung der Aktivitäten bei der Gestaltung der Wirtschaftspolitik“ (Padoa-Schioppa Group, 2012, S. 10). Der Bericht kommt zu folgendem Schluss „ist eine ganz besondere Art von Fiskalföderalismus erforderlich, der nicht unmittelbar auf den Aufbau einer Europäischen Föderation abzielt, sondern darauf, „so viel Fiskalföderalismus wie für das angemessene Funktionieren des Euro erforderlich, aber so wenig wie möglich“ zu erreichen. […] Es muss das Paradoxon gelöst werden, starke ­innenpolitische Kulturen zu bewahren und gleichzeitig einen stark integrierten wirtschaftlichen Rahmen zu schaffen und der europäischen Ebene zu erlauben, ein eigenständiger wirtschaftlicher Akteur zu werden. Es muss ein Konstrukt sui generis entstehen, das die wirtschaftlichen Herausforderungen lösen und gleichzeitig starke, demokratisch legitimierte Grundlagen bewahren kann.“ (Padoa-Schioppa Group, 2012, S. 21, Hervorhebung hinzugefügt)

In dem Bericht wird beschrieben, dass bei dieser besonderen Art von Föderalismus „so wenig Souveränität wie möglich übertragen werden sollte,

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aber eindeutig so viel wie nötig, damit die gemeinsame Währung funktioniert“ (Padoa-Schioppa Group, 2012, S. 35–36). Der Bericht schlägt die folgenden zwei Grundpfeiler eines fiskalischem Föderalismus vor: die Vollendung des gemeinsamen Marktes, um, z.  B. durch schnelle Lohn- und Preisanpassungen in verschiedenen europäischen Regionen, den realen Wechselkurskanal zu verstärken, und die Schaffung eines Versicherungsfonds für konjunkturelle Anpassungen, um zwischenzeitlichen zyklischen Ungleichgewichten zu begegnen. Der Bericht schlägt ein neues „Grundprinzip“ für die europäischen Institutionen vor, das besagt, dass „die Souveränität endet, wenn die Solvenz endet“ (Padoa-Schioppa Group, 2012, S. 7). Das Ziel der Padoa-Schioppa-Gruppe, die Schaffung einer „Föderation light“, wird in der Wissenschaftslanschaft zur europäischen Integration oftmals geteilt. Diese Strategie der europäischen Integrationstheorie ist jedoch teilweise irreführend, die Frage, wie eine „Föderation light“ geschaffen werden kann, damit „die gemeinsame Währung funktioniert“, nicht das eigentliche Problem löst, das die Padoa-Schioppa-Gruppe selbst definiert hatte. Der eigentliche Schwerpunkt der europäischen Integrationsdebatte sollte vielmehr auf dem zweiten Teil des Satzes liegen, und beschreiben wie „die gemeinsame Währung funktioniert“ und warum eine europäische Souveränität notwendig sein sollte, damit die gemeinsame Währung funktioniert. In einem ersten Schritt müssen die Theorien europäischer Integration daher in der Lage sein, auf kohärentere und eingängigere Weise zu erklären, warum Europa diese gemeinsame Währung überhaupt braucht. In einem zweiten Schritt muss die europä­ ische Integrationstheorie den historischen Zusammenhang zwischen der gemeinsamen Währung, der Entstehung des Konzepts der Souveränität und dem europäischen Friedensprojekt detaillierter aufzeigen. Europä­ ische Integrationstheorien können dann dazu beitragen, ein neues und schlüssiges Narrativ darüber zu entwickeln, wie eine gemeinsame Währung dazu beiträgt, (wirtschaftliche) Dominanz in Europa zu vermeiden. Wenn die europäischen Bürgerinnen und Bürger beginnen, diesen Zusammenhang besser zu verstehen, dann werden sie wahrscheinlich auch bereit sein, einen Preis dafür zu zahlen, sei es in Form von Steuertransfers oder in Form des Verlusts nationaler Souveränität.

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Ich unterstütze daher die Analyse des Padoa-Schioppa Berichts hinsichtlich der Herausforderungen der „post-westfälischen“ Ordnung und dass wir neue Ideen brauchen, um dieser Herausforderung zu begegnen. Ich werde jedoch einige Aspekte, die im Bericht nur angedeutet werden konnten, detaillierter ausarbeiten. Der Bericht der Padoa-Schioppa-­ Gruppe hat zum Beispiel das umstrittene Verhältnis zwischen Souveränität und Märkten nicht im Detail ausgearbeitet. Wenn die Souveränität „dort aufhört, wo die Zahlungsfähigkeit aufhört“, wie im Bericht vorgeschlagen, dann ist der eigentliche Souverän nicht das Volk, sondern der Markt. Dies kann keine überzeugende Lösung sein. Außerdem müssen nicht nur die Märkte vom europäischen Projekt überzeugt sein, sondern vor allem auch die europäischen BürgerInnen. Konkrete Vorschläge, die der Bericht unterbreitet (Vollendung des Gemeinsamen Marktes und eine Konjunkturausgleichsversicherung), ähneln „funktionalen“ Institutionen zur Bewältigung genau definierter wirtschaftlicher Probleme. Die Mischung aus föderalen und funktionalen Ideen („föderaler Funktionalismus“, auch Neofunktionalismus genannt) war in der Tat erfolgreich bei der Initiierung des europäischen Integrationsprozesses nach dem Zweiten Weltkrieg. Ein wichtiger Grund dafür, dass es Europa bisher nicht gelungen ist, eine echte Föderation zu schaffen, ist jedoch, dass es den Föderalismus zu sehr mit dem Funktionalismus vermischt hat. In Kap.  2 werde ich zeigen, dass die „post-westfälische“ Ordnung bereits nach dem Zweiten Weltkrieg geschaffen wurde, als die Alliierten einen „funktionalen“ Rahmen für die internationalen Beziehungen (im Westen) schufen. Das Projekt der (langfristigen) Schaffung einer europäischen Föderation wurde auf diesem funktionalen Rahmen aufgebaut (was zu dem Ausdruck „föderaler Funktionalismus“ führte). Diese Grundstruktur ist die Quelle der heutigen Verwirrung bezüglich einer europäische Föderation.

1.1.4 Eine neue Synthese zwischen wirtschafts- und politikwissenschaftlichen Theorien? Der europäische Republikanismus kann, wie ich in Teil II darlegen werde, einen neuen Rahmen bieten, um ökonomische und politikwissenschaft-

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liche Theorien der Integration zu verbinden und einige der Verwirrungen innerhalb der europäischen Integrationstheorie zu lösen. Das Konzept einer „res publica der öffentlichen Güter“ bettet ökonomische Überlegungen (Theorie der öffentlichen Güter) in einen Rahmen der politischen Philosophie (Republikanismus) ein und erlaubt es, die größten Schwächen der europäischen Integrationstheorie zu überwinden (Kap. 6). Allerdings leidet dieser neue Ansatz auch noch an einigen unvollendeten Baustellen. Um die Theorie der öffentlichen Güter besser in die politische Philosophie zu integrieren, werde ich die philosophischen Annahmen der Theorie der öffentlichen Güter überarbeiten und das Konzept einer Hierarchie von ineinandergreifenden Institutionen und öffentlichen Gütern entwickeln, das sich aus John Searles Ansatz des sozialen Konstruktivismus und Thomas Hobbes’ Konzept des „Naturzustands“ ableiten lässt (Kap. 7). In Teil III werde ich ausführlicher darlegen, wie der europäische Republikanismus und das Konzept einer Hierarchie ineinandergreifender sozialer Institutionen und öffentlicher Güter die drei größten Schwächen der europäischen Integrationstheorie überwinden kann. In Kap. 8 werde ich zeigen, wie dieser Ansatz mit Problemen der Souveränität und der wirtschaftlichen Integration besser umgehen kann. Anschließend werde ich zeigen, wie die Schaffung eines gemeinsamen Kapitalmarktes europaweite Externalitäten geschaffen hat, die nicht mehr als Interdependenzen modelliert werden können (Kap. 9). Abschließend argumentiere ich, dass nicht die wirtschaftliche Vernunft, sondern vielmehr die Furcht vor wirtschaftlicher Dominierung die europäische Integration vorantreibt (Kap. 10).

1.2 Ein historischer Ansatz für eine europäische Identität Neben allen akademischen Überlegungen werde ich auch versuchen, einige historische Perspektiven aufzuzeigen, die zur Schaffung einer Art europäischer Identität genutzt werden könnten. Es ist wichtig, den intellektuellen Ausgangspunkt der europäischen Integration neu zu über-

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denken. Diese Aufgabe geht über Wirtschafts- und Politikwissenschaften hinaus. Die Schaffung einer Identität betrifft alle Aspekte unserer Gesellschaft. Es ist daher wichtig, die Diskussion über die Krise Europas für ein breiteres Publikum zu öffnen. Große Problemstellungen wie die der Euro-Krise sollten nicht auf Fragen wie die der Rettung Griechenlands reduziert und einigen europäischen PolitikerInnen und ÖkonomInnen überlassen werden, die sich damit herumschlagen. Wenn das europäische Projekt an einigen, teils fundamentalen, intellektuellen Mängeln leidet, dann brauchen wir verschiedene Gruppen von Menschen, die daran arbeiten: Künstler, Schriftsteller, Philosophen, Aktivisten, Filmemacher und viele mehr. Eine europäische Gesellschaft kann nicht nur um eine wirtschaftliche Logik und einige politische Institutionen herum organisiert werden. Eine europäische Gesellschaft braucht einen kulturellen Hintergrund. Die Frage ist, wie dieser kulturelle Hintergrund für ein so komplexes Thema wie die Europäische Union aussehen könnte. Zwei Quellen könnten eine europäische Identität nähren. Die erste ist der Gründungsmythos der Europäischen Union als ein Friedensprojekt, das von der Generation nach dem Zweiten Weltkrieg ins Leben gerufen wurde. Die zweite Quelle für eine europäische Identität sind die Freiheiten und Möglichkeiten, die Europa bieten kann, um die eigenen Talente zu entwickeln und zu entfalten. Dies ist es, was die junge Generation heute prägt. Der Gründungsmythos sieht Europa vor allem als ein Friedensprojekt, das nach dem Zweiten Weltkrieg ins Leben gerufen wurde, um den jahrhundertelangen Krieg zwischen den europäischen Nationalstaaten endgültig zu überwinden. Seine Gründungsväter sind Männer wie Jean Monnet, Robert Schuman und auch Konrad Adenauer. Es war eine wichtige Triebfeder für Staatsmänner wie Helmut Schmidt und Valéry Giscardd’Estaing oder Helmut Kohl und François Mitterrand, Menschen, die den Zweiten Weltkrieg erlebt haben. Die zweite Quelle beeinflusst vor allem die junge europäische Generation. Das sind die jungen Männer und Frauen, die die Freiheit und die Möglichkeiten nutzen, die Europa ihnen bietet. Es ist das ERASMUS-Programm, die Niederlassungsfreiheit, der freie Personen- und Warenverkehr, die gemeinsame Währung und so weiter. Für die junge Generation wird Europa zur Normalität.

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Beide Quellen können eine europäische Identität nähren und machen dies in Ihrer jeweiligen Generation. Schwieriger ist dies jedoch in der Generation dazwischen, die zur Zeit der Euro-Krise an der Macht war. Sie hat den Zweiten Weltkrieg nicht erlebt, wurde aber auch noch nicht durch die Freizügigkeit in Europa geprägt, die für die junge Generation heute selbstverständlich ist. Die mittlere Generation ist im goldenen Zeitalter des Nationalstaates aufgewachsen, wo unter dem Schutz der USA (zumindest für Westeuropa; für Osteuropa war es der Warschauer Pakt) und dem stabilen wirtschaftlichen Rahmen des Bretton-Woods-­ Abkommens mehr oder weniger dicke Mauern zwischen den Nationalstaaten errichtet wurden und aufrechterhalten werden konnten. Zu dieser Zeit gab es selbst zwischen westlichen „Verbündeten“ Grenzkontrollen, und für jede Finanztransaktion zwischen zwei Staaten war zeitweise aufgrund von Kapitalverkehrskontrollen eine formale Genehmigung erforderlich. Die nationale Organisation der Wirtschaft ermöglichte es jedoch, einen wirtschaftlichen Aufschwung in Europa in Gang zu setzen und einen „sozialen Wohlfahrtskonsens“ zu finanzieren. Dieser historische Hintergrund mag einer der Hauptgründe dafür sein, dass die Generation, die während der Eurokrise an der Macht war, sich so schwer getan hat, angemessene Antworten auf die Krise der europäischen Integration zu finden. Das politische Denken könnte zu sehr in nationalen Denkkonzepten verhadert sein. Es ist notwendig, die besonderen Umstände hervorzuheben, unter denen diese Generation dank einer wohlwollenden amerikanischen Hegemonie aufwuchs. Die amerikanische Präsenz in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg hat dazu beigetragen, Europa vor dem Chaos und weiterer Gewalt zu bewahren und die europäische Wirtschaft wieder aufzubauen. Ich denke jedoch, dass die besonderen Umstände dieses Schutzes heute bis zu einem gewissen Grad zu einem verzerrten Bild des Wesens der europäischen Integration geführt haben. Da die Menschen Sicherheit als selbstverständlich ansehen, ist es schwierig, die Notwendigkeit der europäischen Integration zu erkennen. Ich denke, es ist an der Zeit, eine Brücke zwischen der alten und der jungen Generation zu schlagen. Es ist das historische Erbe von Schmidt, d’Estaing, Kohl und Mitterrand, dass sie einen europäischen Rahmen hinterlassen haben, der erstens eine Art Zwangsjacke für die heutigen

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politischen Führer zu sein scheint, die sie zwingt, trotz der Wiederbelebung des nationalen Denkens auf dem europäischen Weg zu bleiben. Zum anderen schafft er Rahmenbedingungen, die es ermöglichen, dass sich langsam eine junge europäische Generation herausbildet, die von den europäischen Freiheiten geprägt ist. Die junge Generation ist jedoch nicht nur von den europäischen Freiheiten geprägt, sondern auch von der Perspektivlosigkeit, die die Wirtschaftskrise (zumindest in Südeuropa) verursacht hat. Wenn sie an die Macht kommen, werden sie sich an beide Einflüsse erinnern, an die Freiheit und die wirtschaftliche Verzweiflung. Die wirtschaftliche Verzweiflung darf nicht zur dominierenden Triebkraft dieser Generation werden. Sie brauchen eine Vision von einem wohlhabenden und freien Europa voller Möglichkeiten, damit die europäische Integration voranschreiten kann. Um eine Brücke zwischen der alten und der neuen Generation zu schlagen, muss eine historisch tiefer verwurzelte europäische Identität geschaffen werden. Der Gründungsmythos der Europäischen Union besagt lediglich, dass die europäische Integration nach dem Zweiten Weltkrieg als Gegenreaktion auf die Gräueltaten des Krieges begann. Gemeinsame Institutionen und ein gemeinsamer Markt wurden geschaffen, um eine weitere Katastrophe zu vermeiden. Es wird oft im öffetnlichen Diskurs behauptet, dass das gemeinsame Marktprojekt der Europäischen Union der Eckpfeiler des europäischen Friedensprojekts ist. Bislang wurde jedoch wenig getan, um genauer zu erklären, warum und inwieweit ein gemeinsamer europäischer Markt als ein „Friedensprojekt“ verstanden werden kann. Eine erneute Betonung des Zusammenhangs zwischen Frieden und gemeinsamem Markt ist wichtig, um die europäischen Bürger von der Notwendigkeit institutioneller Reformen zu überzeugen. Der derzeitige „Gründungsmythos“ der Europäischen Union scheint viele Europäer nicht zu inspirieren, sich für eine stärkere Europäische Union einzusetzen. Das offensichtlichste Phänomen dieses Problems ist, dass die EuropäerInnen 50 Jahre nach dem Beginn der europäischen Integration immer noch nicht wissen, was die Europäische Union eigentlich ist und was sie in Zukunft werden soll. Es scheint, dass ein neuer Ansatz erforderlich ist, um die Wirtschaft mit der Politikwissenschaft zu verbinden und die europäische Integration kohärenter zu erklären, eine Theorie, die

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die Stärken politischer und wirtschaftlicher Ansätze kombiniert und einen neuen Rahmen bietet, um zu erklären, was in den letzten 50 Jahren in Europa (und davor) geschehen ist. Was wir brauchen, ist eine Idee von Europa, auf die sich alle (oder zumindest eine große Mehrheit) einigen können. Das Problem ist, dass die derzeitige Darstellung europäischer Inte­ gration in der öffetnlichen Debatte viele Aspekte vernachlässigt, die dem Prozess der europäischen Integration zugrunde liegen. Zum Beispiel war die Entstehung der europäischen Idee keineswegs ein plötzliches, überraschendes Ereignis nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Entwicklung der Idee der europäischen Integration – oder besser: der europäischen Einheit – ist sehr viel älter. Die Römer waren die ersten, die ein Konzept der politischen Einheit des europäischen Kontinents entwickelten. Das römische Recht und die römische Kultur waren überall im Römischen Reich präsent. Karl der Große versuchte, das Römische Reich wiederherzustellen und eine gemeinsame europäische Kultur zu schaffen, die heute als karolingische Renaissance bekannt ist. Später vereinigte das Papsttum (insbesondere unter Innozenz III.) Europa, indem es einen kohärenten religiösen Rahmen schuf, der in ganz Europa gültig war. Das kanonische Recht der Kirche, das vor allem in der aristotelisch-thomistischen Rechtsphilosophie ausgearbeitet wurde, wurde zu einem europaweiten Rechtssystem, das mit den lokalen Rechtsinstanzen konkurrierte. Zudem stärkten die Kreuzzüge das Gefühl einer (christlichen) europäischen Schicksals- und Gemeinschaftsgemeinschaft (was bereits auf eine mögliche Gefahr eines geeinten Europas für den Weltfrieden anspielt; s. Abschn. 3.1.1). All diese Beispiele der europäischen Integration waren jedoch Teil der antiken oder feudalen Gesellschaft. Sie folgten einer anderen Logik der europäischen Einigung. Obwohl sie für unsere europäische (kulturelle) Identität eine wichtige Rolle spielen, erklären sie nicht viel über die „treibenden Kräfte“ der europäischen Integration heute. Heute beruht die europäische Integration hauptsächlich auf wirtschaftlicher Freiheit. Aber auch diese Idee wurde nicht plötzlich nach dem Zweiten Weltkrieg erfunden. Europa als gemeinsamer Markt, in dem sich ArbeitnehmerInnen frei von einem Land zum anderen bewegen

1 Einführung 

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können, in dem bürokratische Zwänge sowie Grenzkontrollen nahezu unbekannt sind, in dem Studenten problemlos in anderen Ländern studieren können, in dem britische Münzen aufgrund des Goldstandards in Paris ebenso verwendet werden können wie russische Münzen in Berlin, diese „wirtschaftliche Utopie“ war keine Vision, die bei den Verhandlungen über die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft in den 1950er-Jahren aufkam. Sie war vielmehr die wirtschaftliche Realität in Europa von 1870 bis 1914, wie sie John M. Keynes in seinem Buch The Economic Consequences of the Peace (Keynes, 2014/1919) so treffend beschrieben hat. In diesem „goldenen Zeitalter des Liberalismus“, dem Höhepunkt der von Karl Polanyi beschriebenen großen Transformation, wurden die Handelsbeschränkungen innerhalb Europas fast vollständig abgeschafft. Eine echte Theorie (und Gründungsgeschichte) der europä­ ischen Integration muss daher auch in der Lage sein, die grundlegenden Konflikte zu erklären, die zum Nationalismus und zu den Gräueltaten der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts führten. Nur eine Theorie, die in der Lage ist, die beiden Weltkriege im Sinne eines „europäischen Bürgerkriegs“ zu erklären (viele Intellektuelle der damaligen Zeit nannten sie tatsächlich so), wird die Grundlage für eine europäische Identität bilden können. Die europäische Einigung kann in diesem Sinne als ein langfristiger Modernisierungs- und Transformationsprozess seit der industriellen Revolution und als Alternative zur alten, feudalen Ordnung in Europa gesehen werden. Der eigentliche Gegner der europäischen Integration ist nicht der Nationalstaat, sondern Feudalismus und Dominanz. Eine europäische Einigung wäre daher der Endpunkt der Aufklärung in Europa, der endgültige und unumkehrbare Übergang von der selbstverschuldeten Unmündigkeit zur autonomen Selbstbestimmung Europas, wie der slowenische Philosoph Slavoj Zizek festgestellt hat (Zizek, 2015). Aus dieser historischen Perspektive ist es sinnvoller, den Endpunkt der europäischen Integration nicht als Vereinigte Staaten von Europa oder als Europäische Föderation zu definieren, sondern als Europäische Republik, mit dem Ziel der Abwesenheit von Willkürherrschaft und der Vollendung der Aufklärung in Europa.

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Teil I Defizite der gegenwärtigen Theorien der EI

2 Föderalismus, Souveränität und Modernität

Der Föderalismus ist eines der ältesten theoretischen Konzepte um den europäische Einigungsporzess zu erklären. Die Idee einer europäischen Föderation ist eng mit dem komplexen und widersprüchlichen Weg Europas in die Moderne verbunden und ist, auch wenn es zunächst paradox klingen mag, so alt wie die Idee eines modernen, unabhängigen Nationalstaats selbst. Föderalismus und Nationalstaat (oder „Souveränität“) müssen daher keine Widersprüche sein. Beide sind zwei Seiten ein und derselben Medaille: der Modernisierung Europas. Zusammen bilden sie den institutionellen Rahmen, der die „Grat Transformation“ Europas von einer alten Feudalgesellschaft hin zur, wie Polanyi (1957/1944) es nannte, modernen „Marktgesellschaft“, wie wir sie heute kennen, begleitet. Dies wurde durch die Entwicklung der Institutionen der Marktwirtschaft und der Nationalstaaten erreicht. Persönliche Beziehungen, die zuvor auf Macht- und Herrschaftsverhältnissen beruhten (z. B. zwischen Herr und Sklave), wurden in diesem Modenrisierungsprozess durch Rechtsstaatlichkeit und Geldbeziehungen ersetzt. Die Idee einer europäischen Föderation ist daher intellektuell eng mit der Great Transformation verbunden. In der Tat kann die Great Trans-

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Nature Switzerland AG 2023 T. Zimmermann, Europäischer Republikanismus, https://doi.org/10.1007/978-3-031-44091-5_2

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formation als ein „unvollständiger“ Prozess betrachtet werden, solange keine solide europäische (oder langfristig globale) Einheit erreicht wird. Der Grund dafür ist, dass die Great Transformation normalerweise innerhalb eines Nationalstaats und eines nationalen Marktes stattfand. Ein europäischer (oder globaler) Rahmen ist jedoch nach wie vor erforderlich, um externe Probleme zwischen nationalen „Marktgesellschaften“ zu lösen (siehe Einleitung). Der Föderalismus wurde als ein Konzept entwickelt, um diese Aufgabe zu erfüllen. Wie hat sich die Idee einer europäischen Föderation während des europäischen Modernisierungsprozesses entwickelt? In diesem Kapitel werde ich zeigen, dass die Idee einer Föderation in den verschiedenen Epochen des europäischen Modernisierungsprozesses kontinuierlich bereichert (aber auch kontaminiert) wurde. Sie entwickelte sich in sechs Schritten. Sie kam im 16. Jahrhundert zusammen mit dem modernen Nationalstaat und dem Konzept der Souveränität auf. Während der Aufklärung wurde der Föderalismus mit den Ideen des Republikanismus kombiniert. Nach einem schweren Rückschlag, der durch die Niederlage Napoleons, den Wiener Kongress und die Heilige Allianz verursacht wurde, lebten die Ideen einer europäischen Föderation während der liberalen und nationalen Bewegungen des neunzehnten Jahrhunderts wieder auf. Nach dem Scheitern der liberalen Bewegungen und der Katastrophe des Ersten Weltkriegs wurde der Föderalismus mit dem Idealismus kombiniert, um zu erklären, wie eine europäische Föderation als Wille des Volkes geschaffen werden könnte. Schließlich nutzten sowohl Faschisten als auch Sozialisten das Konzept einer europäischen Föderation, um ihre Ideologien zu propagieren. Die intellektuelle Entwicklung der Idee erreichte ihren Höhepunkt während und kurz nach dem Zweiten Weltkrieg. Unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg gab es eine kleine Chance, eine echte europäische Föderation zu schaffen. Mehrere Gründe machten es jedoch schwierig, diese Gelegenheit zu nutzen. Seitdem hat sich die föderalistische Idee mit funktionalistischen Ideen vermischt, wie wir in Abschn.  3.2 sehen werden.

2  Föderalismus, Souveränität und Modernität 

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2.1 Souveränität und Föderalismus Die Idee des „Föderalismus“ ist eng mit der Idee der Souveränität verbunden. Sie entstand kurz nachdem Jean Bodin den Begriff der Souveränität definiert hatte, der zum Grundgedanken der modernen Nationalstaaten wurde. Dies scheint ein Paradox zu sein, da das Problem der Souveränität heute eines der größten Hindernisse für eine europäische Föderation darstellt. Es lohnt sich daher, den Zusammenhang zwischen Souveränität und Föderalismus näher zu beleuchten. In seinen „Six livres de la République“ (Bodin, 1629/1576) entwickelte Jean Bodin den Begriff der Souveränität, d.  h. der rechtlichen Selbstbestimmung, um den modernen, von äußeren Einflüssen unabhängigen Territorialstaat zu definieren. Im Mittelalter versuchte die katholische Kirche, ein allgemeingültiges Rechtssystem zu schaffen, das die christliche Welt zusammenhalten sollte. Im 13.  Jahrhundert wurde das Kirchenrecht von Thomas von Aquin reformiert und von der katholischen Kirche genutzt, um eine europaweit einheitliche Rechtsnorm auf der Grundlage christlicher Prinzipien zu schaffen. Das Rechtssystem der katholischen Kirche war jedoch nicht mit den wirtschaftlichen Notwendigkeiten des neu entstehenden kapitalistischen Systems vereinbar. Die neu entstehenden Staaten versuchten, ihre eigenen Rechtssysteme zu entwickeln. Die Konkurrenz mit anderen Rechtssystemen, wie dem Kirchenrecht, wurden schrittweise beseitigt (Kedar, 2006). Das Konzept der Souveränität wurde also genutzt, um den universellen Führungsanspruch der katholischen Kirche zu brechen. Bodin schrieb sein Buch während der Reformationskriege, die zu dieser Zeit in Europa tobten. Die protestantische Bewegung lehnte die Führung durch die katholische Kirche ab. Nach Davis bestand die einzige Möglichkeit, die Ordnung zu gewährleisten, darin, „erstens sicherzustellen, dass die Autorität des Staates zentralisiert, absolut und unteilbar ist“ und dass zweitens diese Souveränität „nur Gott und dem Naturrecht gegenüber verantwortlich ist“ (Davis, 1978, S. 43). Dies war nur durch die Einführung des Konzepts der Souveränität und der absoluten Macht möglich, wodurch die Rolle der Universalkirche untergraben wurde. Die neue Macht der regionalen Führer ermöglichte die Schaffung regionaler

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Institutionen zur Konfliktlösung an weltlichen Gerichten. Dies stärkte die Rolle des weltlichen Herrschers, der zum Vermittler zwischen dem Adel und dem neu entstehenden Bürgertum wurde. Die Machtstrukturen wurden in zentralisierten politischen Institutionen verinnerlicht, um eine effiziente Konfliktlösung zu gewährleisten. Die Entwicklung des Souveränitätsgedankens setzte sich fort, bis er im Westfälischen Frieden von 1648 allgemein anerkannt wurde (für einen Überblick siehe Kunisch, 1986). Die Hauptkritik an Bodins Werk besteht darin, dass es die Machtstrukturen nur innerhalb des Staates regelt. Bodins Konzept lässt wenig Möglichkeiten, die Beziehungen der Menschen zwischen zwei Staaten zu organisieren. Diese Beziehungen bleiben extern. Davis zufolge haben viele Zeitgenossen Bodin‘s Ideen kritisiert oder abgelehnt, da sie komplexe politische Strukturen wie das Deutsche Reich ernsthaft in Frage stellten. Sie erfanden neue Konzepte wie den Föderalismus, um diese politischen Strukturen zu legitimieren. Auf diese Weise wurde Bodins Werk zu einem Katalysator für die Entwicklung föderaler Ideen (Davis, 1978, S. 46). Auch Burgess weist darauf hin, dass die Idee des foedus „die erste ernsthafte Herausforderung für Jean Bodins klassisches Konzept des Staates und sein Konzept der Souveränität darstellte“ (Burgess, 2004). Dennoch wurde Bodins Souveränitätskonzept zum Maßstab für die Erklärung dessen, was eine „politische Einheit“ ist. Bodin betonte, dass ein „Austausch von Gütern, die Unverletzlichkeit von Verträgen, das Recht auf Eheschließung und gegenseitige Unterhaltung […] nicht ein und denselben Staat schafft“; ein Zusammenschluss von Staaten bestehe daher nur, wenn sie derselben Autorität unterstehen (Davis, 1978, S. 44). Collignon wies darauf hin, dass Althusius „der erste systematische Denker des Föderalismus“ (Collignon, 2003, S. 81) wurde, als er 1603 seine „Politica“ veröffentlichte. Collignon argumentiert, dass mit dem Beginn der Moderne zwei verschiedene Denkschulen aufkamen, die versuchten, ein neues „vereinigendes Prinzip zu finden, das es erlauben würde, die divergierenden Interessen, den Wettbewerb, die Konflikte und Kriege zu überwinden, die dem aufkommenden Individualismus ihrer Zeit zu folgen schienen“ (Collignon, 2003, S. 81). Auf der einen Seite entwickelten Bodin und Thomas Hobbes das Konzept der Souveränität und der Gesellschaftsverträge zwischen Individuen. Andererseits ver-

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suchte Althusius, die ganzheitlichen Ideologien der „traditionellen“ Gesellschaft beizubehalten. Er glaubte, wie Collignon feststellt, an eine organische Gesellschaft, die auf der philosophischen Grundlage von Aristoteles und dem „germanischen Kommunitarismus“ aufbaut (Collignon, 2003, S. 81). Die Idee einer europäischen Föderation entwickelte sich langsam und zunächst auch nur innerhalb der politischen Elite Europas. Zu Beginn des 17. Jahrhunderts war der Herzog von Sully, die rechte Hand des französischen Königs Heinrich IV., der erste, der einen kohärenten Vorschlag für eine europäische „christliche Republik“ aus 15 etwa gleichberechtigten Staaten entwickelte. Die Lösung von Konflikten und eine gemeinsame europäische Armee sollten von einem „sehr christlichen Rat von Europa“ verwaltet werden (Sully, 1939/1662). Sullys Werk wurde jedoch erst posthum 1662 in Paris veröffentlicht. Im Jahr 1693 veröffentlichte William Penn seinen Aufsatz: „Der gegenwärtige und zukünftige Frieden Europas“. Er schlug vor, „Gerechtigkeitsregeln für souveräne Fürsten aufzustellen, die sie untereinander einhalten sollten“ (Penn, 1944/1693). Die souveränen Fürsten sollten dabei in einer Art europäischem Parlament zusammenkommen, um ihre Streitigkeiten beizulegen. Collignon argumentiert weiter, dass der ganzheitliche Föderalismus von Althusius zum Vorläufer des Subsidiaritätsprinzips wurde. Collignon zufolge beeinflusste Althusius drei päpstliche Enzykliken zum Konzept der Subsidiarität, die seit dem Ende des 19. Jahrhunderts veröffentlicht wurden, nämlich die Enzykliken Rerum Novarum (1891); Quadragesimo Anno (1931) und Pacem in Terris (1963). Insbesondere die erste Enzyklika betonte die Bedeutung der Ganzheitlichkeit und der lokalen Gemeinschaften; sie stellte fest, dass „es ein Unrecht und zugleich ein schweres Übel und eine Störung der rechten Ordnung ist, der größeren und höheren Gemeinschaft Funktionen zu übertragen, die von geringeren und untergeordneten Einrichtungen wahrgenommen und erfüllt werden können“ (zitiert nach Collignon, 2003, S. 86). Die päpstlichen Enzykliken beeinflussten die Entstehung der sozialen Marktwirtschaft nach dem Zweiten Weltkrieg, so Collignon, da sie die „soziale Verantwortung“ der Märkte betonten. Zu Beginn des Modernisierungsprozesses mussten vor allem alten Macht und Machtbeziehungen des alten feudalen System neu verteilt

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und gestaltet werden; wirtschaftliche Machtbeziehungen spielten noch eine untergeordnete Rolle, da die einzelnen Individuen in der Regel noch unfreie Bauern waren und keine ökonomisch selbstständig handelnde Arbeiter. Dies änderte sich im Zuge der industriellen Revolution, als die Menschen ihre lokal organisierten Dörfer verließen und mit einem größeren Aktionsradius interagierten. Infolgedessen wurden Republikanismus und Rechtsstaatlichkeit zu einem wichtigeren Faktor.

2.2 Republikanismus, Föderalismus und Rechtsstaatlichkeit Bodins relativ neue Idee der Souveränität wurde bald durch weitere Einflüsse ergänzt und weiterentwickelt. Mit der antiken republikanischne Ideologie, die in den italienischen Stadtstaaten wiedergeboren wurde, verbreitete sich die Idee, dass das Staatsoberhaupt ein Vertreter des Volkes sein sollte und dass niemand einem Erbmonarchen unterstellt sein sollte. Seit der Glorreichen Revolution von 1688 in England wurden republikanische Ideen zur Legitimierung rechtlicher Beschränkungen der Macht des Königs verwendet. Der republikanische Gedanke wurde in der niederländischen Republik und im polnisch-litauischen Commonwealth weiterentwickelt (für einen Überblick siehe z. B. van Gelderen & Skinner, 2002a). Die Republikaner vertraten die Ansicht, dass Dominanz nur dann vermieden werden kann, wenn die Machtverhältnisse über andere Menschen durch ein Rechtssystem institutionalisiert werden. Der Republi­ kanismus zielt also darauf ab, Machtverhältnisse in Gesetzen zu „internalisieren“. Die republikanische Idee wurde vor allem von Ländern mit einem starken Handelssektor entwickelt, da ein Rechtssystem für die Entwicklung wirtschaftlicher Beziehungen benötigt wurde. Die republikanische Rechtsgrundlage wurde zu einer wichtigen sozialen Institution, um Märkte für den Austausch zu schaffen. Außerdem stärkte die repu­ blikanische Ordnung die politische Position der Kaufleute. Dies galt zumindest innerhalb eines souveränen Staates. Eine entscheidende Frage, gerade für international tätige Kaufleute, war daher, wie die Beziehungen

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zwischen Staaten oder die Beziehungen zwischen Individuen verschiedener Staaten geregelt werden sollten (für einen Überblick siehe van Gelderen & Skinner, 2002b, S. 177–310). Friedrich Schlegel unterschied zwischen einem partiellen Republikanismus, der nur innerhalb eines einzelnen Staates erreicht werden kann, und einem universellen Republikanismus, der nur von allen (republikanischen) Staaten gemeinsam erreicht werden kann (Schlegel, 1797). Die republikanischen Staaten sollten ein höheres Gebilde, zum Beispiel eine Föderation, schaffen, um die Prinzipien des universellen Republikanismus zu verwirklichen. Das Verhältnis zwischen Republikanismus und Föderalismus wurde auch von Immanuel Kant in seinem einflussreichen Werk „Ewiger Friede“ (Kant, 1993/1795) dargelegt. Kant argumentierte, dass der Friede „kein Naturstand (status naturalis)“ sei, er müsse „also gestiftet werden“ (Kant, 1993/1795, S. 10, II). Kant sieht eine republikanische Ordnung in allen Staaten als Voraussetzung für einen ewigen Frieden. Der Grund dafür ist, dass in einer Republik die Entscheidung über einen Krieg in einem rechtlichen Verfahren einvernehmlich getroffen werden muss. Die Entscheidungsträger in einer Republik sind im Gegensatz zu einer Monarchie unmittelbar von ihrer eigenen Entscheidung betroffen, „selbst zu fechten; die Kosten des Krieges aus ihrer eigenen Habe herzugeben; die Verwüstung, die er hinter sich läßt, kümmerlich zu verbessern; “ (Kant, 1993/1795, S. 12–13, II). Der Vorteil einer Republik besteht darin, dass sie menschliches Verhalten, insbesondere die Kosten des Krieges, in einen rechtlichen Entscheidungsprozess einbezieht. Die Individuen in diesem System sind stärker gezwungen, die Folgen ihres Handelns zu berücksichtigen. Eine republikanische Ordnung allein könne aber das Problem der Konflikte zwischen zwei Staaten nicht lösen. Jeder Staat kann und soll „um seiner Sicherheit willen, von dem andern fordern […], mit ihm in eine, der bürgerlichen ähnliche, Verfassung zu treten, wo jedem sein Recht gesichert werden kann“, um diese Probleme zu lösen (Kant, 1993/1795, S.  16, II). Die Idee eines modernen, republikanischen Nationalstaates war also von Anfang an in die Idee einer Föderation eingebettet, um äußere Konflikte zu internalisieren und einen dauerhaften Frieden zu ermöglichen. Kant räumte allerdings ein, dass diese Staaten

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ein gewisses Maß an Homogenität benötigen (alle müssen Republiken sein), um diesem Bund beitreten zu können (Duchhardt, 2005, S. 18). Staaten, die der Föderation beitreten wollen, müssen sich den republikanischen Prinzipien anpassen. Die Ideen des Republikanismus und des Föderalismus spielten eine wichtige Rolle in den intellektuellen Debatten während der Aufklärung. Mit der Amerikanischen und der Französischen Revolution am Ende des 18. Jahrhunderts fanden sie praktische Anwendung. Der amerikanische Unabhängigkeitskrieg richtete sich gegen die Herrschaft des britischen Empire und seiner Monarchie. Er wurde zu einem Sieg der neuen föderalistischen und republikanischen Ideen über die Ordnung des alten Kontinents. Zwischen 1776 und 1789 strebten die US-Kolonien jedoch zunächst die Gründung einer „Konföderation“ souveräner Staaten an. Die Idee einer echten Föderation wurde erst in den 85 „Federalist Papers“ der Gründerväter entwickelt, die Föderalismus mit republikanischen Ideen verbanden. Collignon argumentiert, dass es die Amerikanische Revolution war, die Republikanismus und Föderalismus zu dem kombinierte, was er als „republikanischen Föderalismus“ bezeichnet, bei dem die Individuen sowohl auf staatlicher als auch auf föderaler Ebene souverän sind, im Gegensatz zu den Vereinten Nationen und bis zu einem gewissen Grad auch zur Europäischen Union (Collignon, 2003, S. 84). Der republikanische Föderalismus ist daher in der Lage, die Grenzen und das Versagen des Nationalstaates zu überwinden (Collignon, 2003, S.  87). Was im Falle der EU jedoch noch fehlt, ist ein Deliberationsprozess auf föderaler Ebene, an dem sich die Bürger beteiligen können. Dieser Prozess und seine Institutionen müssen erst noch aufgebaut werden (Collignon, 2003, S. 65). Auch in Frankreich wurden die Ideen des Republikanismus und des europäischen Föderalismus kombiniert. Die Revolutionäre dachten daran, die feudale Ordnung durch einen Rechtsstaat zu ersetzen. Der Code Napoléon, der nach der Revolution 1804 vom französischen Kaiser erlassen wurde, zielte darauf ab, die Machtverhältnisse in einem Rechtsund Wirtschaftssystem zu verankern. Es war das erste moderne Rechtssystem, das einen klaren gesamteuropäischen Rahmen verfolgte. Sein Ziel war es, eine „Universalmonarchie“ zu schaffen, um die zivilisierte Welt zu regieren (Duchhardt, 2005, S. 18), ein Gedanke, der in Europa

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seit Kaiser Karl V. entwickelt worden war. Napoleon führte das Recht in den Ländern ein, die er während der napoleonischen Kriege eroberte, und hatte zumindest einige allgemeine Pläne für eine Art europäische Föderation. Während seiner Gefangennahme auf St. Helena erklärte Napoleon: „[Mein Sohn] muss überall neue Ideen fördern, die die letzten Spuren des Feudalismus vernichten, […] er muss Europa durch unauflösliche föderale Bande vereinen“ (Coudenhove-Kalergi, 1940, S. 79). Nach der Niederlage Napoleons in der Völkerschlacht bei Leipzig wurden jedoch die Pläne, Europa unter französischer Hegemonie zu vereinen, obsolet und die Prinzipien der Gleichheit der Nationen, der Freiwilligkeit und der vollen nationalen Souveränität dominierten den weiteren Verlauf der europäischen Geschichte (Duchhardt, 2005, S. 22).

2.3 Die Heilige Allianz und die Ursprünge des intergouvernementalen Ansatzes Nachdem Napoleon Bonaparte besiegt und Europa auf dem Wiener Kongress neu geordnet worden war, wurde die „Heilige Allianz“ zu einer großen Bedrohung für die Vision eines „Bundes der Republiken“ in Europa. Die Heilige Allianz wurde von Fürst Klemens von Metternich unter Europäischen Staaten ins Leben gerufen, um den revolutionären Ideen des Republikanismus, der Demokratie und des Laizismus in Europa zu begegnen. Sie versuchte, das Konzept wiederherzustellen, dass der Monarch von Gottes Gnaden der einzige Souverän auf Erden sei. Sie berief sich auf die Idee einer „christlichen Nation“, die alle europäischen Völker verband. Sie lehnte die neue Idee eines Rechtssystems ab, das die menschlichen Beziehungen in einer Rechtsordnung Ausdruck verleihen sollte. In seiner Rede „Europa“ (die später unter dem Titel „Christentum oder Europa“ veröffentlicht wurde) betonte der deutsche Schriftsteller Novalis, dass der ewige Frieden und die Einheit Europas nur durch den gemeinsamen christlichen Glauben hergestellt werden können (Novalis, 2013/1799). Die Heilige Allianz enthielt keine direkten obligatorischen Artikel. Sie zielte nicht darauf ab, starke internationale Institutionen zu schaffen, um

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Konflikte zwischen europäischen Staaten zu lösen. Die Mitglieder der Heiligen Allianz wollten sich „allein von den Geboten dieser heiligen Religion leiten lassen“ (Heilige Allianz, 2015/1815). Der einzige Grundsatz für eine „heilige“ europäische Ordnung war der Grundsatz, „einander einen gegenseitigen Dienst zu erweisen und durch unwandelbaren guten Willen die gegenseitige Zuneigung zu bezeugen, mit der sie beseelt sein sollten“, wie es im Vertrag der Heiligen Allianz heißt (Heilige Allianz, 2015/1815). Nach ihrem Inkrafttreten leitete die Heilige Allianz eine Ära der Restauration ein, in der die Monarchien wieder versuchten, den politischen Prozess in Europa zu lenken. In den folgenden Jahren traten alle europä­ ischen Monarchien der Heiligen Allianz bei, mit Ausnahme des Vatikans und des Vereinigten Königreichs. Sie schufen ein System der gegenseitigen Unterstützung, um liberale Bewegungen in den europäischen Staaten zu unterdrücken. Diese Interventionen wurden durch den Vertrag über die Heilige Allianz legitimiert. Einige Wissenschaftler sehen die Heilige Allianz jedoch als einen weiteren Schritt zur europäischen Inte­ gration. Sie war ein „Versuch, das europäische Chaos und die europäische Anarchie durch ein gemeinsames System zu ersetzen, das auf gemeinsamen Prinzipien und einer gemeinsamen Weltanschauung beruht“ (Coudenhove-Kalergi, 1940, S.  81). In diesem Sinne kann die Heilige Allianz auch als Vorläufer der internationalen Organisationen und der Konfliktlösung verstanden werden. Die Heilige Allianz kann jedoch auch durchaus als Ausgangspunkt eines zwischenstaatlichen Ansatzes für die europäische Integration angesehen werden. Die Heilige Allianz erkannte an, dass die internationalen Beziehungen von den internen politischen Entwicklungen in jedem Staat beeinflusst werden und macht Interventionen in anderen Staaten möglich, um die Stabilität im eigenen Land zu gewährleisten. Der Vertrag der Heiligen Allianz unterscheidet sich daher wesentlich vom Realismus und einer strengen Auslegung der Souveränität in einer westfälischen Ordnung. Dennoch betonte er, dass Monarchen und Staaten die entscheidenden Faktoren sein sollten, die mehr oder weniger unabhängig über die politischen Entwicklungen in Europa entscheiden. Die Heilige Allianz war daher in gewisser Weise vergleichbar mit dem britischen Commonwealth, das ebenfalls einen zwischenstaatlichen Ansatz von

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politisch mehr oder weniger unabhängigen Herrschaftsgebieten unter der gemeinsamen Herrschaft der Königin verfolgt. Bis zu ihrer Auflösung im Krimkrieg 1854 bewirkte die Heilige Allianz eine tiefgreifende Abkehr von republikanischen Ideen auf dem europä­ ischen Kontinent. Auf dem neuen Kontinent setzte sich jedoch die republikanische Idee durch. Die südamerikanischen Länder folgten dem Beispiel Nordamerikas und proklamierten zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts ihre Unabhängigkeit. Die Monroe-Doktrin, die 1823 von US-Präsident Monroe erlassen wurde, lehnte jegliche Einmischung der europäischen Monarchien gegenüber den neuen unabhängigen Republiken in Südamerika ab. Die republikanische Bewegung des neuen Kontinents wurde von Bestrebungen begleitet, eine panamerikanische Union zu schaffen, die die lateinamerikanischen und später auch die nordamerikanischen Staaten umfassen sollte. Bis zur Gründung der Europä­ ischen Gemeinschaft in den 1950er-Jahren galt die panamerikanische Bewegung als ein (wohl) viel fortschrittlicheres Beispiel für Integration und als mögliches Vorbild für Europa (Coudenhove-Kalergi, 1923, S. 70–80).

2.4 Nationalismus und Föderalismus für moderne Marktwirtschaften? Republikanische und föderalistische Ideen wurden durch den Aufstieg des Bürgertums im neunzehnten Jahrhundert wiederbelebt. Diesmal wurden die Konzepte des Republikanismus und der Souveränität mit dem Nationalismus vermischt, um eine kohärente Ideologie gegen die herrschenden Monarchen im Europa des neunzehnten Jahrhunderts zu schaffen. Die modernen Nationalstaaten waren wichtige Institutionen für die Schaffung moderner Marktwirtschaften: Sie zeichneten sich durch ein gemeinsames Rechtssystem, eine gemeinsame Währung und eine gemeinsame Verwaltung aus. Friedrich List entwickelte das Konzept der „Nationalökonomie“ (List, 2013/1841) und vertrat die Ansicht, dass ein Nationalstaat in der Lage sein sollte, seine Wirtschaft durch Zölle zu schützen, um den Übergang von einer Agrar- zu einer Industriewirtschaft zu vollziehen. Er behauptete, dass der Freihandel zu einer Vorherrschaft

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der fortgeschrittenen Wirtschaft über die weniger entwickelte Wirtschaft führen kann. List war jedoch auch ein Wegbereiter der Theorien zur wirtschaftlichen Integration. Er vertrat die Ansicht, dass der Freihandel zwischen entwickelten Ländern zu einer Universalrepublik führen kann, wenn eine große Zahl von Ländern den gleichen Grad an Industrie, Zivilisation und politischer Kultivierung erreicht (List, 2013/1841, S.  7–14). Eine universelle Republik muss daher schrittweise angestrebt werden. Sein wirtschaftliches Denken stützte sich auf die Wirtschaftspolitik Alexander Hamiltons aus der Anfangszeit der USA.  Hamilton schlug ebenfalls wirtschaftliche Interventionen vor, um die ehemaligen Kolonien von der britischen Wirtschaft unabhängig zu machen. Das Wirtschaftsprogramm Hamiltons zielte außerdem darauf ab, die Volkswirtschaften der Kolonien aktiv in ein nationales System zu integrieren. Hamiltons amerikanische Schule der Ökonomie war ein gegenentwurf zur britischen Freihandelsagenda von Adam Smith (Notz, 1926). Die Idee einer europäischen Föderation spielte in den Konzepten der liberalen Bewegungen im Europa des neunzehnten Jahrhunderts eine bedeutende Rolle. Einer der intellektuellen Wegbereiter des europäischen Föderalismus und des liberalen Internationalismus war der italienische Aktivist des Risorgimento, Giuseppe Mazzini. In seinen Schriften verbindet Mazzini die Konzepte der Demokratie, des Republikanismus und des Nationalismus. Seiner Meinung nach konnten nur Demokratie und Selbstbestimmung den Frieden auf Dauer garantieren. Den Nationalstaat sah er jedoch nur als „eine notwendige Zwischenstufe im fortschreitenden Zusammenschluss der Menschheit“, die sich eines Tages zusammenschließen und die „Vereinigten Staaten von Europa“ gründen könnte (Recchia & Urbinati, 2009, S. 2). Die Liberalen unterstützten auch die Unabhängigkeitsbewegungen in Griechenland und Polen, beides Länder mit einer starken Tradition in der republikanischen Geistesgeschichte (Duchhardt, 2005, S. 22). Die institutionelle Konzeption einer europäischen Föderation blieb in Mazzinis Schriften vage. Sein „unmittelbares Anliegen war der revolutionäre Übergang vom Despotismus zur Demokratie“ (Recchia & Urbinati, 2009, S.  20). Mazzini sah den demokratischen und republikanischen

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Nationalstaat als das entscheidende Mittel im „politischen Projekt gegen Unterdrückung und despotische Herrschaft“ (Recchia & Urbinati, 2009, S. 10). Allerdings lehnte er den Nationalismus als eine „Ideologie der nationalen Selbstbehauptung ohne das Bewusstsein universeller moralischer Pflichten“ ab, weil er den natürlichen Prozess der Kommunikation und sogar der Empathie zwischen den Völkern behindere (Recchia & Urbinati, 2009, S. 16). Die Hauptaufgaben der Föderation seien die Lösung von Konflikten, die Ermöglichung transparenter Verhandlungen zwischen den Staaten und die (militärische) Verteidigung der „gemeinsamen Werte“ und „politischen Errungenschaften“ gegen nicht-demokratische Kräfte außerhalb der Föderation (insbesondere der Heiligen Allianz) (Recchia & Urbinati, 2009, S. 18). Er entwickelte die Idee eines Europä­ ischen Schiedsgerichtshofs zur Beilegung internationaler Konflikte (Recchia & Urbinati, 2009, S. 20). Die Rolle der Föderation blieb begrenzt. Daher ebnete Mazzini auch den Weg für die spätere liberale und funktionale Theorie der internationalen Beziehungen (siehe Kap. 3 und 4). Er glaubte, dass Demokratien durch die Interaktion ihrer Völker „immer enger miteinander verbunden werden“ und dass sich ihre Innenpolitik „allmählich um einen gemeinsamen Glauben herum vereinigen wird“ (Recchia & Urbinati, 2009, S. 17). Der Höhepunkt der liberalen und nationalen Föderationsbewegung wurde in den Revolutionsjahren 1848–1849 erreicht (Duchhardt, 2005, S. 26). Der schottische Intellektuelle Charles Mackay war der erste, der im Mai 1848  in der gerade gegründeten Londoner Zeitung The Telegraph die „Vereinigten Staaten von Europa“ forderte (Mackay, 1877, S. 35). Auf dem Internationalen Friedenskongress in Paris 1849 träumte Victor Hugo davon, dass „der Tag kommen wird, an dem diese beiden riesigen Gruppen, die Vereinigten Staaten von Amerika und die Vereinigten Staaten von Europa, einander gegenüberstehen und sich über den Ozean hinweg die Hand der Freundschaft reichen und ihre Produkte, ihren Handel, ihre Industrie, ihre Künste und ihren Genius austauschen werden“ (Hugo, 1849). Mit dem Abflauen der Revolutionen in Europa kam jedoch auch die so genannte „Garibaldi-Lösung“ zu einem Ende. Garibaldi, ein Genosse Mazzinis, verkündete, dass der Übergang zu modernen, demokratischen,

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republikanischen Nationalstaaten nur von unten vollzogen werden kann. Der Prozess hin zu Nationalstaaten und einer europäischen Föderation müsse von den Menschen getragen werden. In den folgenden Jahrzehnten führte jedoch die „Cavour“-Lösung, eine gewaltsame Einigung von oben, die von dem rechtsgerichteten italienischen Ministerpräsidenten Camillo Cavour (1810–1861) vorgeschlagen wurde, schließlich zur Schaffung von Nationalstaaten in Italien und Deutschland. Dieser „pervertierte“ Einigungsprozess spielte eine wichtige Rolle bei der Abspaltung des Nationalismus vom Liberalismus (wie es in Deutschland unter Bismarck geschah) und ebnete den Weg für Nationalismus und Faschismus in Europa (Schwanitz, 2002). Es wird jedoch bisweilen übersehen, dass das Scheitern von 1848 auch eine Trennung der nationalstaatlichen Ideen von der Idee einer europäischen Föderation bewirkte. Mazzini kritisierte die von einer Elite erzwungenen Vereinigungen, da er befürchtete, dass nun ein chauvinistischer Nationalismus das Konzept der demokratischen nationalen Selbstbestimmung ablösen könnte (Recchia & Urbinati, 2009, S. 6). Constantin Frantz, einer der wichtigsten Ökonomen der Bismarck-Ära, kritisierte das übermächtige nationale Prinzip und entwickelte einen Plan zur Schaffung einer kleinen europäischen Föderation zwischen Deutschland und Österreich, die als Keimzelle für einen zukünftigen Bundesstaat dienen könnte (Duchhardt, 2005, S.  28). Bismarck ignorierte jedoch solche Vorschläge. Neue Ansätze, Europa wirtschaftlich zu vereinen, wie sie auf dem „Congresso della Federazione Europea“ in Rom 1909 und dem Europäischen Einigungsbund 1914 diskutiert wurden, wurden durch den Ausbruch des Ersten Weltkriegs abgewürgt (Duchhardt, 2005, S. 29). Die Revolutionen von 1848 spielten für viele nationale Identitäten in vielen Ländern Europas eine wichtige Rolle, da sie den Ruf der Bürger nach der Bildung einer eigenen Regierung repräsentierten. Dass das Scheitern der Revolutionen von 1848 aber auch einen gravierenden Rückschritt für die Ideen einer europäischen Föderation bedeutete, ist in der wissenschaftlichen Debatte bisher nicht ausreichend berücksichtigt worden. Die Bewusstwerdung der historischen Rolle von 1848 für eine liberale europäische Föderation könnte auch eine wichtige Rolle bei der Schaffung einer europäischen Identität gespielt haben.

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2.5 Idealismus und Föderalismus: Die Paneuropa-Bewegung Der Rest der Geschichte ist bekannt: Nach der Trennung der Ideen von „Nation“ und „Föderation“ übernahm der Nationalismus die Oberhand bis zur „großen Urkatastrophe“ des zwanzigsten Jahrhunderts (Kennan, 1981, S. 3). Der Erste Weltkrieg zeigte den europäischen Völkern, wie verheerend der Nationalismus sein kann, wenn er nicht in einen internationalen oder europäischen Rahmen eingebettet ist. Die Nachkriegsordnung hat diese Fehler nicht behoben. John M. Keynes, der als Beamter an den Versailler Verhandlungen teilnahm, wies darauf hin, dass der Versailler Vertrag keine neue Friedensordnung schuf, sondern ein Versuch war, Deutschland zu beherrschen und wirtschaftlich klein zu halten, um es zu kontrollieren (Keynes, 2014/1919). Der 1920 gegründete Völkerbund versuchte, einen internationalen Rahmen zu schaffen, der zur Erhaltung des Friedens notwendig war; er litt jedoch unter schwerwiegenden Schwächen, die seine Funktion als Friedensschlichter einschränkten. In der Zwischenkriegszeit entstand zum ersten Mal eine gesamteuropäische Bewegung, die von einem bedeutenden sozialen Segment der Gesellschaft und nicht von abstrakten Gedanken einzelner Intellektueller getragen wurde. Der Wegbereiter dieser neuen europäischen Bewegung war Graf Richard Nikolaus von Coudenhove-Kalergi (1894–1972). Er veröffentlichte mehrere Artikel, in denen er das Konzept einer gesamteuropäischen Bewegung entwickelte (CoudenhoveKalergi, 1923). Die Ideen der Paneuropa-Bewegung blieben für die damalige Zeit futuristisch, aber zum ersten Mal wurden Ideen der europäischen Integration auf einer breiteren Basis diskutiert, um einen weiteren Krieg zu vermeiden.

2.5.1 Ein idealistischer Ansatz für die europäische Integration Geprägt von den Gräueltaten des Ersten Weltkriegs, den er als europä­ ischen Bürgerkrieg verstand, entwickelte Coudenhove-Kalergi die Idee von „Paneuropa“. In seinem gleichnamigen Buch (1923), das der euro-

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päischen Jugend gewidmet ist, argumentiert er auf der Grundlage der politischen Philosophie Platons und Schoppenhauers, dass die Idee von Paneuropa nur durch den Willen der Europäer verwirklicht werden kann (Coudenhove-Kalergi, 1923, S. VII). Für Coudenhove-Kalergi beruhen Nationen nicht auf Rasse, gemeinsamem Blut oder anderen materiellen Fakten, sondern sind „Geistesgemeinschaften“, in denen alle gemeinsame Ideen und Prinzipien teilen (Coudenhove-Kalergi, 1923, S.  137). Er schlug eine „Europäische Kulturnation“ und eine Trennung von Nation und Staat vor, wobei die nationale Zugehörigkeit eine private Angelegenheit bleiben sollte (Coudenhove-Kalergi, 1923, S.  143–146). In Anlehnung an die sogenannte „Soziale Frage“ dieser Zeit stellte er die „Europäische Frage“, die er wie folgt definierte: „Kann Europa in seiner politischen und wirtschaftlichen Zersplitterung seinen Frieden und seine Unabhängigkeit gegenüber den aufsteigenden außereuropäischen Weltmächten bewahren – oder ist es gezwungen, sich in einer Föderation zu organisieren, um seine Existenz zu sichern?“ (Coudenhove-Kalergi, 1923, S. IX/eigene Übersetzung)

Er argumentierte, dass einerseits Europas Hegemonie über die Welt durch den Ersten Weltkrieg verloren gegangen sei. Andere Regionen seien bei der Schaffung von Völkerbünden wie Pan-Amerika, dem britischen Commonwealth oder dem Sowjetimperium viel weiter fortgeschritten als Europa. Europa (in den 1920er-Jahren) bleibt die Quelle der Instabilität in der Welt (Coudenhove-Kalergi, 1923, S. 20). Andererseits wies Coudenhove-Kalergi darauf hin, dass der Erste Weltkrieg den Kampf zwischen Metternichs und Mazzinis Ansatz zur europäischen Integration (zwischen einem Machtgleichgewicht der Monarchien und einer europäischen Föderation der Republiken) entschieden habe. Vor dem Ersten Weltkrieg gab es auf dem alten Kontinent nicht eine einzige Republik. Sechzehn republikanische Staaten wurden zwischen 1917 und 1923 gegründet.1 Mazzinis Idee einer republikanischen Föderation hatte  Nämlich Armenien, Österreich, Aserbaidschan, Weißrussland, Tschechische Republik, Estland, Finnland, Georgien, Deutschland, Lettland, Litauen, Polen, Russland, Slowakei, Türkei, Ukraine; außerdem auch Kasachstan, Kirgisistan, Tadschikistan, Turkmenistan, Usbekistan. 1

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sich also, so Coudenhove-Kalgeri, durchgesetzt (Coudenhove-Kalergi, 1923, S. 33).2 In der panamerikanischen Bewegung sieht er eine große Bedrohung – falls Europa zersplittert bleiben sollte – oder eine große Hoffnung – falls Europa in der Lage sein sollte, selbst eine Föderation zu schaffen. Coudenhove-Kalergi fordert eine europäische Monroe-Doktrin, die besagt, dass Europa den Europäern gehören sollte (Coudenhove-Kalergi, 1923, S. 76 und 85). Dennoch sah er die Hauptbedrohung für Europa im Osten, zum einen in der Gefahr einer bolschewistischen Revolution und zum anderen durch die ungelösten nationalen Konflikte in Osteuropa. Nach dem Ersten Weltkrieg und dem Sieg des „Mazzini-Ansatzes“ waren die osteuropäischen Völker jedoch nun in der Lage, souveräne Staaten zu schaffen und sich freiwillig einer Föderation anzuschließen (Coudenhove-Kalergi, 1923, S. 107–113). Darüber hinaus würde eine „idealistische“ europäische Föderation, die auf dem antiken „heidnischen“ Idealismus der Griechen aufbaut, nach Coudenhove-Kalergi auch in der Lage sein, sowohl die „materialistische“ Bedrohung einer kommunistischen Revolution in Europa einzudämmen als auch eine Alternative zum „christlichen Idealismus“ zu bieten, der Europa seit dem Fall des Römischen Reiches beherrscht hatte (Coudenhove-Kalergi, 1931, S. 18–19). In diesem Sinne wäre die Schaffung eines „Paneuropa“ der Endpunkt der „Renaissance“, der Wiederentdeckung der alten griechischen und römischen Identität Europas.

2.5.2 Die Paneuropa-Bewegung und das BriandMemorandum Coudenhove-Kalergi gründete eine Paneuropa-Bewegung und fand schnell wichtige Unterstützer: Der deutsche Reichsbankpräsident (1923–1930 und 1933–1939) und spätere Wirtschaftsminister Hitlers  Die Monarchie spielt jedoch auch heute noch eine wichtige Rolle in und für Europa. Es gibt 12 Monarchien in Europa; 14 Monarchien in der Welt erkennen Königin Elisabeth II. als ihr Staatsoberhaupt an; nur 18 „nicht-europäische“ Monarchien gibt es in der Welt. 2

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(1934–1937), Hjalmar Schacht, wurde „der Hauptredner bei der ersten Demonstration der Paneuropa-Union im Reichstag“ (Coudenhove-Kalergi, 1940, S. 57). Weitere wichtige Mitglieder waren Albert Einstein, Thomas Mann, Konrad Adenauer, Sigmund Freud und Georges Pompidou. Der französische Außenminister Aristide Briand wurde 1927 zum Präsidenten der Bewegung gewählt. 1930 veröffentlichte Briand ein Memorandum, das „in diplomatischer Form die allgemeinen Linien des Paneuropa-Programms“ zum Ausdruck brachte; es forderte eine „europäische Zusammenarbeit in den Bereichen Wirtschaft, öffentliche Arbeiten, Kommunikation, Kreditwesen, Währung, soziale Fragen, Hygiene, intellektuelle Zusammenarbeit und interparlamentarische Union sowie die Schaffung europäischer Sektionen in bestimmten internationalen Organisationen und Institutionen“. Außerdem heißt es in dem Memorandum, dass die europäische Einheit „nicht gegen einen anderen Kontinent gerichtet sein darf, dass die Politik Vorrang vor der Wirtschaft hat, dass die Souveränität der einzelnen Staaten respektiert wird und dass die Möglichkeit der Errichtung einer Hegemonie ausgeschlossen werden muss“ (Coudenhove-Kalergi, 1940, S. 60–61). Als Briand das Memorandum an 26 europäische Länder schickt, sind deren Antworten „im Prinzip alle positiv“, denn „alle sind sich einig in der Anerkennung der Notwendigkeit einer europäischen Annäherung“ (Coudenhove-Kalergi, 1940, S. 62–63). Nach dem plötzlichen Tod Gustav Stresemanns und der Gründung einer deutsch-österreichischen Zollunion, nach der Niederlage Briands bei den französischen Präsidentschaftswahlen und der „Machtergreifung“ der Nazis blieb das Briand-Memorandum jedoch ohne politische Ergebnisse (Coudenhove-Kalergi, 1940, S. 64). Die erste Regierungsinitiative zur Schaffung einer europäischen Einheit scheiterte, lange bevor Robert Schuman am 9. Mai 1950 seine berühmte Rede hielt. Dennoch war Briands Initiative zumindest in der Lage, die öffentliche Aufmerksamkeit auf die gesamteuropäische Idee zu lenken, und „die meisten Wirtschaftsführer hatten die Möglichkeiten für die deutsche Industrie, die in der Organisation eines gemeinsamen europäischen Marktes lagen, klar erkannt“ (Coudenhove-Kalergi, 1940, S. 66). Es war eine „erste Gelegenheit“, eine europäische Föderation zu schaffen (eine zweite sollte 1952–1954 folgen).

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In den 1930er-Jahren löste sich die Paneuropa-Bewegung von der Politik und konzentrierte sich auf wirtschaftliche Fragen. Sie befürwortet die Schaffung eines europäischen Marktes, um den sinkenden Einfluss Europas auf den Weltmärkten und in den Kolonien auszugleichen (Coudenhove-Kalergi, 1940, S. 69–70).

2.6 Faschismus und Föderalismus: Die Gefahren der wirtschaftlichen „Block“Ideologien Wie bereits in der Einleitung erwähnt, unterscheidet Balassa zwischen einem „liberalistischen“ Integrationsansatz, der auf wirtschaftlicher Zusammenarbeit und Freiwilligkeit beruht, und einem „dirigistischen“ Integrationsansatz, der einem institutionellen Muster folgt, aber oft von Ideologie, Zwang und Gewalt begleitet sein kann. Nach Balassa lässt sich die Expansion des nationalsozialistischen Deutschlands und der Sowjetunion der zweiten Gruppe der „Integration“ zuordnen (Balassa, 1962, S.  6–10). Auch Ernst B.  Haas unterscheidet zwischen der Integration ohne Zwang (z.  B. der europäischen Nachkriegsintegration) und der „Gewaltanwendung durch den Föderalisierer“, wie z.  B. einem „hegemoniestrebenden Staat“. Das nationalsozialistische Deutschland oder das japanische Kaiserreich könnten einer solchen Gruppe untergeordnet werden, die versucht, eine Region mit Gewalt zu integrieren (Haas, 1970, S. 607–608). David Mitrany argumentierte bereits 1930, dass eine vereinigte europäische Föderation eher eine Bedrohung für den Weltfrieden als ein Förderer des Friedens sein könnte (Mitrany, 1930). Die Entwicklungen bis 1945 bestätigten seine Befürchtungen (für einen ausführlicheren Überblick über Mitranys Argumente siehe Abschn. 3.1). Die Wirtschaftspolitik des nationalsozialistischen Deutschlands war, wie Hans Erich Volkmann feststellte, von dem Konzept der „Großraumwirtschaft“ und der wirtschaftlichen Autarkie geprägt. In den 1920er-Jahren, als die NSDAP noch ihre wirtschaftspolitische Position entwickelte, favorisierte sie eine „deutsche“ Autarkie, um die nationale Souveränität wiederzuerlangen (Volkmann, 2003, S.  47). Während der Weltwirt-

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schaftskrise mussten die NS-Ideologen jedoch ein kohärenteres wirtschaftspolitisches Programm entwickeln, um die Unterstützung der deutschen Industrie zu gewinnen. Sie erkannten bald, dass eine deutsche Autarkie unrealistisch war, und erweiterten das Konzept auf eine (kontinentale) europäische Autarkie unter deutscher Vorherrschaft (Volkmann, 2003, S. 52). Das Grundargument des Programms „Großraumwirtschaft“ lautete, dass die verlorene Nachfrage eines zusammenbrechenden Weltmarktes durch den Ausbau des deutschen Marktes zu einem gemeinsamen europäischen Markt ersetzt werden könne (Volkmann, 2003, S. 51–52 und S.  69). Dies würde dazu beitragen, die kontinentaleuropäische Wirtschaft von der Weltwirtschaft unabhängig zu machen. Auf globaler Ebene zielte das Konzept der autarken Großraumwirtschaft darauf ab, geografisch geteilte Wirtschaftsblöcke zu schaffen. Die wirtschaftliche Interdependenz zwischen diesen Blöcken sollte begrenzt werden. Die Nationalstaaten sollten ihre Souveränität zurückgewinnen, indem sie den Außenhandel planen und ordnen und ihn nicht unkontrollierten und „wilden“ Marktmechanismen überlassen (Volkmann, 2003, S. 48). Ein starker gemeinsamer Markt sollte die Position der Großraumwirtschaft gegenüber anderen regionalen Blöcken stärken (Volkmann, 2003, S. 51). Die autarke Großraumwirtschaft war ein entschiedenes Gegenkonzept zum globalen Freihandel und dem Prinzip der Meistbegünstigung. Anstelle multilateraler Handelsabkommen schlugen die Wirtschaftsplaner des nationalsozialistischen Deutschlands bilaterale Abkommen vor, insbesondere zwischen entwickelten Industrieländern und Ländern mit Agrarwirtschaft und natürlichen Ressourcen (Volkmann, 2003, S. 48). Das Prinzip der Meistbegünstigung sollte durch das Prinzip der Gegenseitigkeit ersetzt werden (Volkmann, 2003, S. 58). Ein Clearing-System sollte die Importe den Exporten gegenüberstellen und strukturelle Handelsungleichgewichte zwischen den Ländern vermeiden. Durch dieses System sollten unhaltbare Leistungsbilanzungleichgewichte (und damit Kapitalströme innerhalb Europas) vermieden werden. Die Bank für Internationalen Zahlungsausgleich in Basel (ursprünglich gegründet, um die deutschen Reparationen aus dem Versailler Vertrag abzuwickeln, und später, in den 1990er-Jahren, die Geburtshelferin der Europäischen Zentralbank) spielte in diesem System eine entscheidende Rolle.

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Mit diesem Konzept versuchte die NSDAP zu Beginn der 1930erJahre, ein alternatives Konzept zur Überwindung der Weltwirtschaftskrise zu entwickeln, das die deutsche Industrie zur Unterstützung ihrer Bewegung bewegen sollte. Anstatt sich auf den Export für den Weltmarkt zu konzentrieren, sollten deutsche Unternehmen ihren Export nach Südund Osteuropa verlagern (Volkmann, 2003, S. 59–60). Das Konzept der autarken Großraumwirtschaft ist nicht zu verwechseln mit den Nationalökonomien von Friedrich List, auch wenn viele NS-Ideologien die Erkenntnisse Lists für ihre Argumentation nutzten und missbrauchten. Lists Konzept strebte die Integration aller entwickelten Länder an, so dass die wirtschaftliche Entwicklung und Integration langfristig zu einer Weltrepublik führen sollte. Die NS-Ideologie hingegen strebte die Schaffung mehrerer Wirtschaftsblöcke an, die jeweils von einer lokalen Hegemonie wie Deutschland und Japan dominiert werden und dann in Konkurrenz zueinander stehen sollten. Darüber hinaus würde eine autarke europäische Wirtschaft die europäischen Regierungen in die Lage versetzen, ihre nationalen Volkswirtschaften zu steuern und politische Instrumente der Wirtschaftsplanung und -intervention anzuwenden. Dieser Ansatz folgte dem Ziel, die „wirtschaftliche Souveränität“ nach den Wirren der Weltwirtschaftskrise wiederzuerlangen (Volkmann, 2003, S. 47 und 65). Die NS-Propaganda präsentierte die Großraumwirtschaft als „Weg zur europäischen Einheit“ (Volkmann, 2003, S. 51). Es ist jedoch schwer zu sagen, wie die „neue Ordnung“ in Europa ausgesehen hätte, wenn Nazi-Deutschland den Krieg gewonnen hätte. In seinem unveröffentlichten zweiten Buch, das wahrscheinlich 1928 geschrieben wurde, lehnte Hitler die Idee der Paneuropäer ab und argumentierte, dass eine europäische Einheit auf der Grundlage wirtschaftlicher Prinzipien nicht in der Lage wäre, der Bedrohung durch die amerikanische Hegemonie über die Welt zu begegnen (Broszat, 1961). Stattdessen versuchte Hitler, die internationalen Verflechtungen des europäischen Kontinents zu reduzieren, um die deutsche Hegemonie innerhalb Europas zu stärken (Volkmann, 2003, S. 62). Bereits 1940 hielt Wirtschaftsminister Walter Funk eine Rede, in der er argumentierte, dass Deutschland nach dem Ende des Krieges die Macht haben würde, eine neue europäische Großraumwirtschaft mit Deutschland im Zentrum durchzusetzen. Andere Länder müssten sich den deut-

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schen Notwendigkeiten anpassen (Volkmann, 2003, S. 383–384). Ziel war es, eine Wirtschaftsordnung zu schaffen, die die deutsche Hegemonie aufrechterhalten und die anderen Länder in Europa dominieren würde. Mazower argumentiert, dass Hitler seinen Plan für Europa nur für einen sehr kurzen Moment enthüllte, als die deutsche Armee vor Moskau stand und Hitler dachte, er hätte den Krieg bereits gewonnen. Die NS-Regierung verkündete, dass Europa gegenüber dem Rest der Welt geschützt und Deutschland zu einem „europäischen Reichsgedanken“ geführt werden sollte, wobei jeglicher Widerstand kleinerer europäischer Länder unterdrückt werden sollte (Mazower, 2009, S.  14). Tatsächlich kontrollierte Deutschland bis 1942 ein Reich, das größer war als die USA, eine höhere Bevölkerungsdichte aufwies und produktiver war (Mazower, 2009, S. 17). Lothar Gruchmann hat gezeigt, dass Hitler die Monroe-Doktrin nutzte (und missbrauchte), um die deutsche Hegemonie in Europa gegenüber dem Einfluss der USA zu legitimieren (Gruchmann, 1962). Dennoch hat das nationalsozialistische Deutschland keine konkreten Entwürfe entwickelt oder Institutionen geschaffen, wie (West-) Europa nach dem Krieg aussehen sollte. Für Osteuropa war der Fall offensichtlicher: Das ökonomische Konzept einer autarken Großraumwirtschaft wurde seit den 1930er-Jahren mit Hitlers Lebensraumtheorie kombiniert, nach der Osteuropa rassisch neu geordnet und in seinem Territorium umgestaltet werden sollte, um neuen „Lebensraum“ für die arische Rasse zu gewinnen (Volkmann, 2003, S. 52). Die Folge war die Deportation und Ermordung von Millionen von Menschen in Osteuropa während des Zweiten Weltkriegs. Der Zweite Weltkrieg kann in vielerlei Hinsicht als der Höhepunkt der europäischen Einigungsbewegung angesehen werden. Der Krieg wurde dem alten Kontinent von Deutschland aufgezwungen, um eine „europäische Autarkie“ und eine deutsche Hegemonie und Vorherrschaft zu errichten. Das nationalsozialistische Deutschland versuchte, die nationale Souveränität in einem europäischen Kontext wiederherzustellen. Der exzessive Nationalismus der Faschisten führte jedoch nicht zu einer Wiedergeburt des Nationalstaates, sondern zur vollständigen Zerstörung des europäischen Staatensystems. Im Mai 1945 waren die meisten Staaten in Europa besetzt oder hörten aus anderen Gründen auf zu existieren.

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Paradoxerweise eröffnete das Verschwinden der Nationalstaaten im Jahr 1945 ein kleines Zeitfenster für die Schaffung einer echten europäischen Föderation, wie wir weiter unten sehen werden. Außerdem hatte der Erfolg der Blitzkriege Deutschlands in den ersten Jahren des Zweiten Weltkriegs allen gezeigt, dass sich kein europäischer Staat mehr ohne die Hilfe anderer verteidigen kann (Loth, 1990, S.  13–14). Die Lehre aus dem Zweiten Weltkrieg und dem autarken Konzept der Großraumwirtschaft ist, dass jede Form der europäischen Einigung immer auch ihre globalen Auswirkungen berücksichtigen muss. Sie muss in einen umfassenderen, globalen Prozess eingebettet sein und darf nicht im Gegensatz zur globalen Zusammenarbeit stehen. Das Endziel Europas sollte nicht die Schaffung eines unabhängigen europäischen Blocks sein, sondern ein erster Schritt zu einer zukünftigen Weltrepublik, wie Friedrich List es nannte.

2.7 Sozialismus und Föderalismus: Der Spinelli-Ansatz Der radikalste Vorschlag für eine europäische föderale Ordnung nach dem Zweiten Weltkrieg wurde von dem Aktivisten des italienischen Widerstands, Altiero Spinelli, unterbreitet. Während ihrer Gefangenschaft im Jahr 1941 verfassten Spinelli und Ernesto Rossi das „Manifesto di Ventotene“, eine politische Agenda des italienischen Widerstands und das Programm der 1943 gegründeten Movimento Federalista Europeo. In diesem Programm beschrieben Spinelli und Rossi die „Krise der modernen Zivilisation“: Der Nationalstaat, einst ein „mächtiger Stimulus für den Fortschritt“ und „die wirksamste Organisation des kollektiven Lebens im Rahmen der gesamten menschlichen Gesellschaft“, sei „zu einem göttlichen Gebilde“ geworden, zu einem totalitären Staat. Diese nationalistischen Staaten seien nur noch auf ihr eigenes Wohlergehen bedacht, „ohne die geringste Rücksicht auf den Schaden, den dies anderen zufügen könnte“; sie hätten das Gefühl verloren, eine Einheit innerhalb einer höheren, regionalen oder globalen Ordnung zu sein. Spinelli kommt zu dem Schluss, dass das Prinzip der absoluten Souveränität des Staates zu einem „Wunsch, andere Staaten zu beherrschen“, führt. Die Einbettung des Nationalstaates in eine Föderation ist daher der einzige Weg,

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um Herrschaft zu vermeiden. Jeder europäische Staat sollte sich dieser Föderation anschließen, da der Krieg gezeigt hat, „dass kein Land innerhalb Europas an der Seitenlinie bleiben kann, während die anderen kämpfen“ (Spinelli, 2014/1941). Außerdem sahen Spinelli und Rossi die europäische Föderation als Voraussetzung für eine sozialistische Revolution in Europa. Im Gegensatz zu ihren sozialistischen Mitstreitern sahen sie jedoch nicht die Abschaffung des Privateigentums als Leitprinzip einer sozialistischen Revolution an. Im Manifest schrieben sie: „Das eigentliche Grundprinzip des Sozialismus, bei dem die allgemeine Kollektivierung nur eine übereilte und falsche Schlussfolgerung war, ist das Prinzip, das besagt, dass die wirtschaftlichen Kräfte den Menschen nicht beherrschen dürfen, sondern – wie die Kräfte der Natur – dem Menschen unterworfen sein müssen, von ihm auf die vernünftigste Weise gelenkt und kontrolliert werden müssen, damit die breitesten Schichten der Bevölkerung nicht ihre Opfer werden.“ (Spinelli 2014/1941)

Dieses Prinzip ist der Grund, warum Spinelli auf die sofortige Einrichtung supranationaler demokratischer europäischer Institutionen drängte. Ziel seines „demokratischen Radikalismus“ war es, dass diese politischen Institutionen über die politische und wirtschaftliche Entwicklung der Regierung entscheiden und „rationale Lösungen“ ermöglichen sollten. Die europäische Integration dürfe nicht zum Spielball der wirtschaftlichen Kräfte werden. In ihrem Manifest beschreiben Spinelli und Rossi drei Hauptaufgaben, die eine europäische Föderation erfüllen sollte: 1 . Die Abschaffung aller Arten von Monopolen 2. Eine Umverteilung des Privateigentums, um der jungen Generation gleiche Startbedingungen zu garantieren3 3. Das Potenzial der Massenproduktion für billige Nahrung, Unterkunft und Kleidung für die Menschenwürde zu nutzen.  Spinellis Tochter heiratete später Amartya Sen, der für seine Arbeiten über den Capability Approach bekannt ist. 3

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Mit diesem Ansatz stand Spinelli in scharfem Widerspruch zu Jean Monnet, Ernst Haas und anderen „Neofunktionalisten“, die einen eher wirtschaftlichen Ansatz verfolgten. Auch Jean Monnet hatte bereits 19434 argumentiert, dass „Es wird keinen Frieden in Europa geben, wenn sich die Staaten auf der Grundlage der nationalen Souveränität neu konstituieren … Die Länder Europas sind zu klein, um ihren Völkern den notwendigen Wohlstand und die soziale Entwicklung zu garantieren. Die europäischen Staaten müssen sich zu einer Föderation zusammenschließen …“ (Europäische Kommission, 2014)

Monnet sah den Sinn einer europäischen Föderation in der Bereitstellung eines entscheidenden öffentlichen Gutes: wirtschaftliche und soziale Stabilität. Monnet, ein französischer Geschäftsmann, teilte nicht den sozialistischen Ansatz Spinellis. Sein Ansatz für eine Föderation folgte einer wirtschaftlichen Logik, wie wir in Abschn. 3.2 sehen werden. Spinelli vertrat jedoch die Ansicht, dass nur ein föderales Europa die Möglichkeit hätte, sein eigenes Schicksal zu bestimmen. Ein geteiltes Europa wird von wohl unkontrollierbaren wirtschaftlichen Kräften auf globaler Ebene beherrscht werden. Es wird zu einer endlosen „bagger-your-neigh­ bour“-Politik führen und negative externe Effekte innerhalb Europas verursachen. Spinelli hatte jedoch Recht, dass eine europäische Föderation unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg geschaffen werden musste, da sonst die Fliehkräfte der Nationalstaaten wieder zu stark werden würden; eine vollwertige europäische Föderation wurde seitdem nicht umgesetzt.

2.8 Schlussfolgerung: Nationale Souveränität und Föderalismus: Zwei unvereinbare Konzepte? Spinelli könnte mit seiner Annahme Recht gehabt haben, dass die Selbstzerstörung der Nationalstaaten in Europa während des Zweiten Weltkriegs eine einzigartige Gelegenheit bot, Europa in einer neuen Födera Monnet war seit 1941 Churchills Sondergesandter bei US-Präsident Roosevelt gewesen. Monnet war einer der Hauptvermittler des Land- und Pachtgesetzes, das dem Vereinigten Königreich und der Sowjetunion die notwendige Ausrüstung zur Bekämpfung der Nazi-Expansion lieferte. 4

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tion zu vereinen. Die fatale Situation des durch zwei Weltkriege zerstörten Europas angesichts der kommunistischen Bedrohung hätte ein starker Anreiz sein können, die Menschen von der Notwendigkeit einer europäischen Föderation und der Einschränkung der nationalen Souveränität zu überzeugen. Die Föderalisten forderten die sofortige Schaffung einer europäischen Föderation nach dem Krieg. Die Rufe der Föderalisten blieben jedoch ungehört. Es gab keine breite Bewegung, die die europäische Einheit forderte, und kein Bewusstsein in der europä­ ischen Bevölkerung, dass eine europäische Föderation die Lösung für die Probleme des Nachkriegseuropas sein würde. Wenn unter diesen Umständen nach dem Zweiten Weltkrieg die Chance für einen großen Schritt hin zu den Vereinigten Staaten von Europa genutzt werden sollte, dann bedurfte es zweier wichtiger Faktoren: erstens einer kohärenten Strategie, wie eine Föderation zu erreichen sei, und zweitens eines wohlwollenden Hegemons, der diese Strategie hätte durchsetzen können. Während und nach dem Zweiten Weltkrieg gab es kleine Anzeichen dafür, dass eine Strategie für eine europäische Föderation entwickelt werden könnte. Während des Zweiten Weltkriegs entwickelten viele Mitglieder der Widerstandsbewegungen (wie Spinelli) in ganz Europa Pläne für eine „Europäische Föderation“, um einen weiteren Krieg zu vermeiden. Winston Churchill schlug in einer Rede mit dem Titel „After the War“ (Nach dem Krieg), die er am 23. März 1943 in der BBC hielt, vor, einen Europarat zu gründen, wenn der Krieg vorbei ist (Churchill, 1965/1943). Im Mai 1946 forderte die deutsche sozialdemokratische Partei SPD die „Vereinigten Staaten von Europa“ (die konservative bayerische CSU folgte im Dezember und forderte eine „Konföderation“) und lehnte es ab, Deutschland vor der deutschen Wiedervereinigung für einen Block zu öffnen (Risse & Engelmann-Martin, 2002, S. 298–299). Winston Churchill wies jedoch in seiner berühmten „Rede an die akademische Jugend“ am 19. September 1946 in Zürich darauf hin, dass die Zeit für die Schaffung der „Vereinigten Staaten von Europa“ kurz sein könnte (Churchill, 1946); eine schnelle Entwicklung und Umsetzung wäre notwendig gewesen. Die Entwicklung einer klaren und kohärenten Strategie erwies sich jedoch aus mehreren Gründen als schwieriger. Churchill versuchte als Oppositionsführer, eine solche Strategie zu entwickeln. Das Ergebnis waren jedoch eher funktionale Institutionen als ein wirklich starker

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supranationaler Rahmen (siehe Abschn.  3.1.3). Die Funktionalisten (siehe Abschn. 3.1) kritisierten, dass die Föderalisten eigentlich keine Ahnung hatten, wie eine Föderation im Detail funktionieren würde oder wie die Verantwortlichkeiten zwischen der Föderation und ihren Mitgliedern aufgeteilt werden sollten. David Mitrany stellte fest, dass „die ‚europäischen‘ Föderalisten so sehr von einer bequemen Formel fasziniert waren, dass sie weder gefragt haben, wie sie dort funktioniert, wo sie existiert, noch, ob ihre Ursprünge irgendeinen Bezug zu dem Problem haben, eine Gruppe von Staaten im gegenwärtigen sozialen Umfeld zu vereinen“ (Mitrany, 1965, S. 129). Da die Situation 1945 noch katastrophaler und verwirrender war als 1919, „würde jeder im Voraus festgelegte Verfassungsrahmen völlig aus der Luft gegriffen sein“ (Mitrany, 1943, S. 21). Mitrany wendet sich gegen jeden Ansatz, der die konstitutionellen und ideologischen Fragen der internationalen Integration an den Anfang des Prozesses stellt. Er räumt ein, dass die Frage, was zuerst kommt, eine demokratische Gesellschaft oder ein Nationalstaat, für die republikanischen Aktivisten des 19. Jahrhunderts von Bedeutung gewesen sein mag, aber „wir befassen uns mit der Organisation der Welt, in ihren aktiven Arbeitsbeziehungen“, und nicht mit dem Aufbau eines Staates (Mitrany, 1943, S.  14–15). Darüber hinaus wäre „der Zweck eines jeden neuen internationalen Systems die Regelung der Politik des gemeinsamen Lebens, nicht der parochialen Politik seiner Mitglieder“ (Mitrany, 1943, S. 14–15). Mitrany behauptet auch, dass das Interesse der Republikaner an einer europäischen Föderation im neunzehnten Jahrhundert nicht von einer europäischen Inspiration, sondern von ideologischen Beweggründen in Bezug auf die Politik ihres Nationalstaates geleitet war (Mitrany, 1943, S.  14). Er wendet sich ferner gegen jeden regionalen Integrationsansatz, da die Monroe-Doktrin der Amerikaner von den Deutschen und Japanern zur Errichtung kontinentaler Hegemonien missbraucht worden sei (Mitrany, 1943, S. 11–12). Er sieht die Hauptaufgabe für die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg darin, die Welt „wieder in funktionierende Beziehungen zu bringen“ (Mitrany, 1965, S. 136). Außerdem gab es keinen mächtigen Akteur, keinen wohlwollenden Hegemon, der in der Lage gewesen wäre, die Logik der nationalen Souveränität zugunsten einer supranationalen europäischen Einigung zu durchbrechen. Kein europäisches Land war in der Lage, eine europäische Lö-

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sung zu erzwingen. Das deutsche Konzept einer europäischen (oder besser: deutschen) Großraumwirtschaft war zur größten menschlichen Katastrophe der Geschichte geworden. Deutschland war, wie viele Teile des alten Kontinents, zerstört und hatte jede moralische Führung diskreditiert. Das Vereinigte Königreich hatte den Krieg gewonnen, stand aber kurz vor dem Bankrott und schien nach der Abwahl Churchills 1945 keinen klaren Plan für eine europäische Föderation zu verfolgen (selbst Churchill sah das Vereinigte Königreich nicht als Teil dieser Föderation). Leider teilten nur wenige Politiker Churchills Vision, als Folge des Krieges die Vereinigten Staaten von Europa zu schaffen (Churchill, 1946). Auch Frankreich war im Krieg besiegt worden und war bis zur Schuman-Erklärung mehr auf Rache als auf Versöhnung bedacht (siehe Abschn. 3.2.1). Nur die Sowjetunion hatte eine klare Vorstellung davon, wie Europa aussehen sollte, wodurch die Gefahr einer kommunistischen Revolution und einer Ausweitung der kommunistischen Föderation in Europa noch größer wurde. Dennoch lag die entscheidende Rolle über die Zukunft des alten Kontinents auf der anderen Seite des Atlantiks. In der US-Regierung gab es zwei verschiedene Gruppen mit zwei unterschiedlichen politischen Programmen für die Nachkriegszeit. Die „New Dealers“ um Präsident Roosevelt und Schatzmeister Henry Morgenthau glaubten an das Prinzip der „einen Welt“ und lehnten jegliche regionalen Blöcke ab, während sie gleichzeitig eine Zusammenarbeit mit der Sowjetunion unterstützten. Sie befürworteten funktionierende globale Institutionen zur Lösung genau definierter Probleme. Das Abkommen von Bretton Woods wurde von diesem funktionalen Ansatz beherrscht (siehe Abschn. 3.1.3). Morgenthau war der Ansicht, dass die einzige Lösung für das Problem einer starken deutschen Industrie im Zentrum Deutschlands in der Zerstörung dieser Industrie bestand. Das Außenministerium war jedoch viel mehr um die expansionistischen Tendenzen der Sowjetunion besorgt als um eine starke deutsche Wirtschaft. Man unterstützte ein stärkeres Deutschland gegen die sowjetische Bedrohung. Man war offener für die Idee einer europäischen Föderation, um Europa vor der sowjetischen Vorherrschaft zu schützen. Nach dem Tod von Roosevelt gewann die zweite Gruppe unter der neuen Truman-Regierung an Einfluss. Die wichtigste Entscheidung, die die unmittelbare Schaffung einer europäischen Föderation nach dem Zweiten Weltkrieg unwahrscheinlich

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machte, war die Entschlossenheit der Truman-Regierung, sich langfristig auf dem europäischen Kontinent zu engagieren. Die USA wurden (und sind in vielerlei Hinsicht immer noch) der Garant für Frieden, Stabilität und Wohlstand in (West-)Europa. Historisch gesehen werden politische Einheiten wie Nationalstaaten durch eine gemeinsame Armee (d. h. ein gemeinsames Sicherheits- und Verteidigungssystem) und ein gemeinsames Geld, das zur Finanzierung dieser Armee benötigt wird, gegründet oder vereint (siehe auch Kap. 8 und 10). Für die Europäer bestand keine dringende Notwendigkeit, eine Föderation zu gründen, um sich gegen die kommunistische Bedrohung zu verteidigen (was es dem französischen Parlament ermöglichte, 1954 die Idee einer europäischen Armee abzulehnen, ohne Konsequenzen für die eigene Sicherheit befürchten zu müssen). Angesichts der verheerenden Lage Europas nach dem Krieg ist es jedoch schwer zu sagen, ob es Europa wirklich gelungen wäre, eine gemeinsame Armee und ein gemeinsames Verteidigungssystem zu schaffen, wenn die USA nicht in Europa geblieben wären (für eine ausführlichere Argumentation siehe Abschn. 10.1). Darüber hinaus folgte die Neuordnung der internationalen Ordnung von 1944 bis 1949 eher der Logik des funktionalen Paradigmas (durch die Schaffung von Institutionen wie dem Europarat), was die Schaffung einer europäischen Föderation zusätzlich erschwerte. Es war Haas (1968/1958) vorbehalten, später eine Synthese aus Funktionalismus und Föderalismus zu schaffen und einen Weg zu definieren, wie man aus einem eher funktionalen Rahmen eine Föderation schaffen kann (siehe Abschn.  3.2). Infolgedessen wurde die „souveräne“ Logik nun umgekehrt: Anstelle von Sicherheit und Verteidigung begann Europa seine Einigung mit wirtschaftlicher Integration (für eine ausführlichere Diskussion dieser Argumente siehe Abschn. 10.1). Zusammenfassend lässt sich sagen, dass das Scheitern der europä­ ischen Einigung unter einem föderalistischen Paradigma mit der Niederlage Napoleons und den gescheiterten Revolutionen in Deutschland und Italien im neunzehnten Jahrhundert begann. Mazzinis Vision, dass Nationalstaaten nur ein notwendiger Zwischenschritt auf dem Weg zu einer demokratischen Weltrepublik sein könnten, war unrealistisch. Die Einigung dieser Länder durch die „Cavour“-Lösung führte zu einem verzerrten Nationalismus und einer Trennung der Idee des Föderalismus von

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der Schaffung moderner Nationalstaaten. Dieser Prozess erreichte seinen zerstörerischen Höhepunkt während des Zweiten Weltkriegs. Die faschistische Vision einer autarken europäischen Großraumwirtschaft unter der Dominanz einer führenden Nation wurde unter den Trümmern zerstörter Städte und Millionen von Opfern begraben. Auch die sozialistische Vision einer europäischen Föderation als Vorbedingung für eine sozialistische Revolution kam nicht zustande. Infolgedessen ist die Idee von Nationalstaaten, nationaler Souveränität und Nationalismus bis heute vorherrschend und stellt ein Hindernis für den europäischen (und weltweiten) Einigungsprozess dar. Seit den 1950er-Jahren wurde der Föderalismus mit dem Funktionalismus vermengt, um ihn „verarbeitbarer“ zu machen, wie wir im nächsten Kapitel sehen werden. Dies mag in Anbetracht der schwierigen Umstände dieser Zeit notwendig gewesen sein. Es hat jedoch auch zu der „seltsamen“ hybriden Konstruktion der heutigen Europäischen Union geführt. Der Hauptfehler des Föderalismus besteht darin, dass er auf dem Konzept der souveränen Untereinheiten aufbaute. Er glaubte, dass diese Nationalstaaten, wenn sie nach einem republikanischen Paradigma organisiert sind, aus der Notwendigkeit heraus eine Föderation bilden würden. Kants Vision einer Föderation von Republiken hat sich jedoch nur zum Teil erfüllt. Es könnte daher notwendig sein, das Konzept neu zu überdenken. In diesem Buch werde ich argumentieren, dass anstelle einer Föderation von Republiken eine Europäische Republik erforderlich ist, um die europäische Integration voranzutreiben.

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3 Die Obsoleszenz des Neofunktionalismus

Der Zweite Weltkrieg hat die Grenzen des föderalistischen Ansatzes auf­ gezeigt. Die Vision einer europäischen Föderation von Republiken, ge­ schaffen von aufgeklärten souveränen Nationalstaaten, wie sie in den europäischen intellektuellen Debatten von Kant bis Mazzini entwickelt wurde, war 1945 an einem absoluten Nullpunkt angekommen. Zu­ dem hatte die autarke Großraumwirtschaft des nationalsozialistischen Deutschlands gezeigt, welche Gefahren von einer isolationistisch be­ triebenen europäischen Einigung ausgehen. In der Nachkriegszeit kam es zu einem bedeutenden Strategiewechsel bei der Schaffung einer europä­ ischen Einigung. Diese Strategie basierte auf einem breiteren globalen funktionalen Ansatz, der von den USA nach dem Zweiten Weltkrieg als globale Friedensordnung durchgesetzt wurde. Dieser breitere funktionale Ansatz bestimmte in vielerlei Hinsicht den Weg der europäischen Inte­ gration in den nächsten Jahrzehnten. Auf der Grundlage dieses neuen „funktionalen“ geopolitischen und wirtschaftlichen Rahmens der Nachkriegszeit entwickelten Wissen­ schaftler wie Ernst B. Haas die Theorie des „Neofunktionalismus“, um aufzuzeigen, wie unter diesen Umständen eine langfristige europäische

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Nature Switzerland AG 2023 T. Zimmermann, Europäischer Republikanismus, https://doi.org/10.1007/978-3-031-44091-5_3

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Föderation aufgebaut werden kann. Der Neofunktionalismus schuf auch einen theoretischen Rahmen zur Erklärung des Erfolgs der „Monnet-­ Methode“, eines praktischen Ansatzes, den Jean Monnet seit den frühen 1950er-Jahren verfolgte, um einen Prozess der europäischen Integration unter den neuen allgemeinen geopolitischen Rahmenbedingungen ein­ zuleiten. Der Neofunktionalismus erlangte nach dem Zweiten Weltkrieg großes Ansehen, da er einen vielversprechenden Weg zur Schaffung einer Föde­ ration aufzeigte. Seit den 1970er-Jahren ist der Neofunktionalismus je­ doch aus der Mode gekommen, da er nicht in der Lage war, angemessen auf die sich verändernden geopolitischen und wirtschaftlichen Rahmen­ bedingungen jener Zeit zu reagieren. Wie wir sehen werden, hatte der Neofunktionalismus insbesondere Probleme mit den neuen Phänome­ nen komplexer Interdependenzen, die durch die globalen Kapitalmärkte verursacht wurden. Um die Probleme des Neofunktionalismus (und seine Widersprüche) zu verstehen, müssen wir jedoch zunächst die Ur­ sprünge des „Funktionalismus“ selbst verstehen.

3.1 Funktionalismus Wie wir bereits in Abschn.  2.8 gesehen haben, formulierte Mitrany (1888–1975) bereits vor dem Zweiten Weltkrieg eine wichtige Kritik am föderalen Ansatz. Mitrany argumentierte, dass übertriebener Nationalis­ mus einer der Hauptgründe für Instabilität und Krieg sei. Er glaubte nicht, dass die Schaffung einer (europäischen) Föderation ein an­ gemessener Ansatz zur Überwindung dieses Problems sei. Der Funktionalismus selbst ist also keine Theorie der europäischen Integra­ tion, sondern steht dieser Idee eher kritisch gegenüber, da getrennte re­ gionale Blöcke die Folge sein könnten. Allerdings spielt der Funktionalis­ mus eine wichtige Rolle für die „neofunktionale“ Theorie der europä­ ischen Integration, die nach dem Zweiten Weltkrieg von Ernst B. Haas entwickelt wurde und Funktionalismus und Föderalismus miteinander verbindet.

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3.1.1 Die Risiken einer föderalen Lösung 1930 verfasste Mitrany einen Artikel mit dem Titel „Paneuropa – Hope or Danger?“ (Mitrany, 1930), in dem er argumentierte, dass die regionale Integration das Problem des Nationalismus nur auf eine höhere (europä­ ische) Ebene verlagern würde. Der Prozess der „ständig wachsenden in­ dustriellen und kommerziellen Konzentration“ würde Anreize zur Schaf­ fung eines immer größeren (europäischen) Marktes schaffen. Ein regio­ naler Integrationsansatz würde mehrere mehr oder weniger autonome Wirtschaftsblöcke schaffen, die „in direkter Linie von Lists ‚nationalem System‘ abstammen“, die Prinzipien des Freihandels untergraben und Wirtschaftsblöcke schaffen, die in Konkurrenz zueinander stehen (Mit­ rany, 1930, S. 460). Vorschläge wie die Paneuropa-Initiative von Briand und Stresemann könnten daher, so Mitrany, positive Auswirkungen auf die Wirtschaft, aber negative Auswirkungen auf den Weltfrieden haben. Das wirtschaftliche Hauptargument der Paneuropäer für die regionale Integration liegt in der „Rationalisierung der europäischen Produktion“ durch einen größeren Binnenmarkt (Mitrany, 1930, S.  462). Eine eu­ ropäische Wirtschaftsintegration könnte bestimmte „beggar-thy-­ neighbour“-Politiken abschaffen und die Region von der Weltwirtschaft unabhängig machen. Eine europäische Föderation würde bestimmte ex­ terne Effekte innerhalb Europas internalisieren und externe Effekte gegenüber anderen „Blöcken“ abschaffen, indem eine europäische Autar­ kie geschaffen würde. Dieses Argument wurde sowohl von Paneuropäern als auch von Befürwortern einer autarken Großraumwirtschaft vor­ gebracht. Mitrany weist darauf hin, dass die Schaffung eines europä­ ischen Wirtschaftsblocks die Schaffung anderer (panamerikanischer, angelsächsischer oder panasiatischer) Wirtschaftsblöcke als „Selbstver­ teidigung“ provozieren würde (Mitrany, 1930, S. 467–468) und somit die Weltfriedensordnung destabilisieren würde. Außerdem wäre ein Ver­ einigtes Europa (von 1930) immer noch von russischer Energie und Lebensmitteln abhängig. Die regionale Integration kann zwar einige Pro­ bleme des „beggar-thy-neighbour“-Prinzips lösen, insbesondere in der Währungspolitik, aber sie kann die „beggar-thy-neighbour“-Politik auf

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den Arbeitsmärkten verschlimmern (Mitrany, 1930, S. 462–463).1 Eine gesamteuropäische Bewegung (der 1930er-Jahre) würde daher, so Mit­ rany, den Weg für einen neuen europäischen Imperialismus und Kolonialismus ebnen (Mitrany, 1930, S 466). Er kommt zu dem Schluss, dass in der paneuropäischen Bewegung „das Gespenst der Heiligen Alli­ anz zur Verteidigung der göttlichen Rechte nicht der Könige, sondern der Bourgeoisie auftaucht“ (Mitrany, 1930, S. 471). In seinem berühmten Pamphlet „A Working Peace System“ (1943) schlägt Mitrany den Funktionalismus als Alternative zu den föderalen Ansätzen für die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg vor. Die Föderalisten der Paneuropa-Bewegungen sowie die italienischen Föderalisten um Spi­ nelli hatten argumentiert, dass eine Föderation die einzige Möglichkeit sei, eine „Union der Völker“ und nicht eine „Union der Staaten“ zu schaf­ fen (siehe Abschn. 2.7). Mitrany wandte ein, dass „wir nun, da wir einige Erfahrungen damit gemacht haben, was totalitäre Diktatoren mit der Volksmeinung anstellen können, […] nach einer Grundlage suchen müs­ sen, die nicht so leicht durch Propaganda verändert oder durch den Miss­ brauch durch eine bestimmte Gruppe oder Einheit erschüttert werden kann“ (Mitrany, 1943, S. 11). Mitrany strebt einen Ansatz an, der die Existenz souveräner Nationalstaaten nicht von vornherein in Frage stellt. Außerdem sieht er den Vorteil seines funktionalen Ansatzes darin, dass er sich nicht gegen eine andere Gruppe richtet, sei es eine panamerikanische oder panrussische Gegenbewegung oder ein ideologischer Gegner wie „Nicht-Republikaner“ oder „nicht-liberale Demokratien“. Es handelt sich um einen flexibleren Ansatz, der widersprüchliche Pole gemeinsam in einen Prozess hin zu einer internationalen Gesellschaft einbeziehen kann (Mitrany, 1943, S. 11–12).

 Dieses Argument spielte auch in der Eurokrise eine Rolle, als Deutschland vorgeworfen wurde, durch seine Arbeitsmarktreformen in den Jahren vor der Krise einseitig die Arbeitskosten gesenkt zu haben und damit eine „beggar-thy-neighbour“-Politik zu betreiben. Zudem hat die Ukraine-­ Krise von 2014 gezeigt, dass die Dynamik einer wirtschaftlich starken Europäischen Union zu Konflikten in der Peripherie führen kann. Damals wurde auch das TTIP-Abkommen (oder eine „Wirtschafts-NATO“, wie es zuerst genannt wurde) verhandelt, mit dem Ziel, einen Wirtschafts­ block zu schaffen, der in der Lage sein würde, internationale Standards zu setzen. 1

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3.1.2 Funktionale Institutionen zur Bereitstellung bestimmter öffentlicher Güter Die Blaupause für Mitranys Ideen zum Funktionalismus waren die (na­ tionalen) Wirtschaftsreformen der Roosevelt-Regierung in den Jahren 1932–1933 (der New Deal). Das Reformprogramm änderte den institu­ tionellen Rahmen der USA von einer losen Föderation zu einem National­ staat mit starken nationalen Institutionen, weil Präsident Roosevelt „so­ wohl die Notwendigkeit als auch die Gelegenheit für zentralisiertes prak­ tisches Handeln erkannte“. Obwohl es gleichzeitig eine Vielzahl von Problemen gab (z.  B. die Wirtschaftskrise, die Arbeitslosigkeit, die Bankenkrise usw.), wurde „jedes Problem als praktische Frage für sich an­ gegangen“ und „kein Versuch unternommen, es mit einer allgemeinen Theorie oder einem allgemeinen Regierungssystem zu verbinden“ (Mit­ rany, 1943, S. 21). Mit anderen Worten: Roosevelt schuf nationale Insti­ tutionen, die einzelne nationale öffentliche Güter bereitstellten, um die bestehenden Probleme zu lösen. Das Ergebnis war „eine große konstitu­ tionelle Umgestaltung […] ohne jegliche Änderung der Verfassung“ (Mitrany, 1943, S. 22). Die entscheidende Frage der internationalen Organisation nach dem Zweiten Weltkrieg war für Mitrany, „wie die gemeinsamen Interessen aller zusammengeschweißt werden können, ohne in die besonderen Wege eines jeden ungebührlich einzugreifen“ (Mitrany, 1943, S. 31). Auf na­ tionaler Ebene bedürfen auch die liberalen Demokratien einer Neu­ definition von öffentlichem und privatem Handeln, da „eine zentrali­ sierte Planung und Kontrolle […] nicht mehr zu vermeiden ist“ (Mit­ rany, 1943, S. 31). Auf beiden Ebenen geht es darum, „eine Alternative zum totalitären Muster zu finden“ (Mitrany, 1943, S. 31). Für Mitrany besteht die einzige Möglichkeit, die vielfältigen Probleme der Wirtschaft und der Sicherheit auf internationaler und nationaler Ebene zu lösen, darin, für jedes Problem separate funktionale Institutio­ nen zu schaffen. Um spezialisierte Institutionen zu schaffen, ist es wich­ tig, das wirtschaftliche Problem (und seine externen Effekte) sehr genau zu definieren. Eine entscheidende Frage ist, wer diese wirtschaftlichen Probleme analysieren und definieren soll. Mitrany argumentiert, dass

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„das einzig mögliche Prinzip demokratischer Bestätigung darin besteht, dass öffentliches Handeln nur dann und nur insoweit erfolgen sollte, als die Notwendigkeit gemeinsamen Handelns im Interesse des Gemein­ wohls offenkundig ist und akzeptiert wird“ (Mitrany, 1943, S. 32). Die Regierungen sollten daher nur dann internationale funktionale Institutio­ nen schaffen, wenn auf internationaler Ebene ein Konsens darüber be­ steht, dass das öffentliche Gut, das diese Institutionen liefern, benötigt und akzeptiert wird. Die nationalen Regierungen bleiben die Haupt­ akteure; es ist jedoch wichtig, dass ein Konsens über eine res publica eines gemeinsamen öffentlichen Gutes oder eines externen Problems besteht. Das Problem einer regionalen Föderation besteht darin, dass sie „ei­ nige Interessen bindet, die für die Gruppe nicht von gemeinsamem Inte­ resse sind, während sie unweigerlich einige Interessen, die für die Gruppe und diejenigen außerhalb der Gruppe von gemeinsamem Interesse sind, zerschneidet“ (Mitrany, 1943, S. 32). Das Problem besteht darin, dass die „festen“ Regeln einer europäischen Föderation möglicherweise nicht die Art des externen Problems berücksichtigen, das sie lösen will. Dieses Pro­ blem würde in der Nachkriegszeit besonders wichtig werden, wenn „die Nationen viel stärker gespalten sein werden als 1919“ und „jeder im Vo­ raus festgelegte Verfassungsrahmen völlig aus der Luft gegriffen wäre“ (Mitrany, 1943, S. 21). Die einzige Lösung besteht darin, „durch eine natürliche Auslese vor­ zugehen, die die gemeinsamen Interessen dort, wo sie gemeinsam sind, und in dem Ausmaß, in dem sie gemeinsam sind, miteinander verbindet“ (Mitrany, 1943, S. 32). Das einzige wichtige Prinzip ist, dass „die Tätig­ keiten spezifisch ausgewählt und getrennt organisiert werden, jede ent­ sprechend ihrer Natur, den Bedingungen, unter denen sie zu arbeiten hat, und den Bedürfnissen des Augenblicks“ (Mitrany, 1943, S. 33). Mit­ rany erklärt, dass Eisenbahnsysteme auf kontinentaler/regionaler Ebene koordiniert werden könnten, während Schifffahrtsfragen von inter­ nationalen Agenturen behandelt werden sollten. Mitrany beschreibt, dass diese „funktionale Auswahl“ vom Völker­ bund für verschiedene Bereiche wie Gesundheit und Arbeit (Inter­ nationale Arbeitsorganisation, ILO) durchgeführt wurde. In den Be­ reichen Finanzen, Handel und Produktion hätten sogar private Agentu­ ren funktionale Vereinbarungen und Institutionen geschaffen. Er stellt

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jedoch fest, dass mehr und mehr dieser Bereiche wieder unter staatliche Kontrolle gestellt wurden, insbesondere in totalitären Regimen (Mitrany, 1943, S. 32). Mitranys Ansatz zielt darauf ab, eine internationale Gesell­ schaft durch die Schaffung von immer mehr funktionalen Institutionen zu schaffen, die nach und nach miteinander verbunden werden, um eine umfassendere Koordination zu ermöglichen.

3.1.3 Der funktionale globale Rahmen der Nachkriegszeit Nach dem Zweiten Weltkrieg schufen die Alliierten einen neuen institu­ tionellen internationalen Rahmen, der den Ideen Mitranys eines „funk­ tionierenden Friedenssystems“ folgte und die internationalen Be­ ziehungen neu gestaltete. Der funktionale globale Rahmen stützte sich auf drei wichtige Säulen: wirtschaftliche, politische und militärische Zu­ sammenarbeit. Der Grundstein für die wirtschaftliche Zusammenarbeit wurde wäh­ rend des Krieges gelegt. Im Jahr 1944 handelten die Alliierten in der klei­ nen Stadt Bretton Woods in Neuengland (USA) einen neuen globalen Wirtschaftsrahmen aus. Das „Bretton-Woods-System“ sollte den inter­ nationalen Handel wiederbeleben und die Turbulenzen überwinden, unter denen die Weltwirtschaft in der Zwischenkriegszeit stark gelitten hatte. Es war ein Gegenkonzept zur autarken Großraumwirtschaft des nationalsozialistischen Deutschlands, das versuchte, die wirtschaftliche Verflechtung zwischen verschiedenen Weltregionen zu beseitigen. Bret­ ton Woods verfolgte eine doppelte Strategie: Einerseits versuchte man, den Welthandel zwischen Ländern und Weltregionen wieder in Gang zu bringen. Andererseits wurde ein System strenger Kapitalverkehrs­ kontrollen zwischen den Mitgliedsstaaten eingeführt. Auf diese Weise sollten die Länder die Kontrolle erhalten, um in ihre heimischen Volks­ wirtschaften einzugreifen. Das System zielte darauf ab, die durch Kapital­ ströme zwischen den Ländern verursachten Interdependenzen zu be­ seitigen. Das Bretton-Woods-System folgte einem strikt funktionalen Ansatz, der spezialisierte globale Institutionen für sehr genau definierte Probleme

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schuf (IWF, WTO und Weltbank; für eine ausführlichere Diskussion des Bretton-Woods-Abkommens siehe Abschn.  10.1.1). Darüber hinaus stellte der neue US-Außenminister George Marshall am 5. Juni 1947 an der Harvard-Universität die wirtschaftliche Säule vor: den Marshall-Plan und die Gründung der Organisation für europäische wirtschaftliche Zu­ sammenarbeit (OEEC) im April 1948. Die OEEC setzte sich für den Freihandel und die europäische Einigung ein und folgte dabei einem stark „funktionalen“ und zwischenstaatlichen Muster. Auch die politische Integration wurde vorangetrieben. Am 23. April 1948 wurde an der New Yorker Universität das „American Committee for a Uni­ ted Europe“ (ACUE) vom ehemaligen OSS-Geheimdienstdirektor William Joseph Donovan und CIA-Direktor Allen Welsh Dulles gegründet. Ziel des ACUE war es, insgeheim einen Prozess der europäischen politischen Integra­ tion einzuleiten, um der kommunistischen Bedrohung in Europa zu be­ gegnen. Bis in die 1960er-Jahre wurde die Union der Europäischen Födera­ listen vom ACUE finanziert (Evans-­Pritchard, 2000). Auch Winston Chur­ chill und Coudenhove-Kalgeri waren daran beteiligt. Der ACUE nahm Einfluss auf den Marshall-Plan und die Schuman-Erklärung (Aldrich, 1997). Unter der Schirmherrschaft von Churchill trat am 7. Mai 1948 der Haager Kongress zusammen, um Möglichkeiten der europäischen Integration zu er­ örtern und eine mögliche Verfassung für die „Vereinigten Staaten von Europa“ auszuarbeiten. Der Europarat, der einen intergouvernementalen Weg der europäischen Integration beschritt, wurde am 5. Mai 1949 ge­ gründet. Zu den Gründungsmitgliedern gehörten Belgien, Irland, die Niederlande, Dänemark, Italien, Norwegen, Frankreich, Luxemburg, Schwe­ den und das Vereinigte Königreich. Die Türkei und Griechenland folgten im Jahr 1949 und Deutschland im Jahr 1950. Darüber hinaus wurde eine militärische Integration vorgeschlagen. Unter britischer Schirmherrschaft wurde am 17. März 1948 der Vertrag von Brüssel zwischen Belgien, Frankreich, Luxemburg, den Niederlanden und dem Vereinigten Königreich unterzeichnet. Damit sollte zum ersten Mal in Europa ein System der kollektiven Sicherheit geschaffen werden. Am 4. April 1949 wurde die NATO unter Führung der USA gegründet. Beide Institutionen wollten der kommunistischen Bedrohung in Europa begegnen. Beide Organisationen verfolgten jedoch einen klaren inter­ gouvermentalen Weg.

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Der Rahmen der europäischen Integration, den die anglo-amerikani­ schen Verbündeten zwischen 1947 und 1949 aufbauten, folgte daher einem streng funktionalistischen und intergouvermentalen Muster. Das Ziel war die Schaffung eines losen Zusammenschlusses westlicher Ver­ bündeter, nicht einer unmittelbaren supranationalen Föderation. Dieser Ansatz wurde gewählt, um die internationalen Beziehungen nach dem Zweiten Weltkrieg wieder „funktionsfähig“ zu machen, und er war in der Tat erfolgreich. Die Bereitstellung eines funktionierenden amerikani­ schen Rahmens verhinderte jedoch auch, dass die Europäer nach dem Zweiten Weltkrieg gezwungen waren, eine eigene Architektur in Form einer gemeinsamen Armee (siehe Abschn. 10.1.2) und einer gemeinsamen Währung (siehe Abschn. 10.1) zu schaffen. Dies hatte langfristige Konse­ quenzen für die Schaffung einer europäischen Föderation, wie wir später sehen werden. Ursprünglich hatte der NATO-­Vertrag jedoch nur eine Gültigkeit von 20 Jahren. Die USA wollten nicht dauerhaft in Europa bleiben; sie wollten die Europäer mit einem Ultimatum von 20 Jahren zwingen, eine eigene europäische Armee zu schaffen. Erst in den 1970er-Jahren wurde der NATO-Vertrag in einen dauerhaften Vertrag umgewandelt.

3.2 Neofunktionalismus Der Neofunktionalismus ist der erste kohärente Ansatz zur Erklärung der europäischen Integration. Es ist die erste „Denkschule“, die von Akade­ mikern und nicht von Praktikern entwickelt wurde. Ihre Theorie blieb dennoch sehr praktisch, was sich insbesondere in der technischen Logik des Spillover-Effekts und in der Tatsache zeigt, dass sie auf den techno­ kratischen Strategien von Jean Monnet beruhte. Der Neofunktionalis­ mus wurde insbesondere als Gegentheorie zu dem in den 1950er-Jahren in den internationalen Beziehungen vorherrschenden realistischen An­ satz entwickelt. Während der Realismus auf dem Konzept einer starken Souveränität aufbaute und den Nationalstaat als Hauptakteur ansah, ver­ trat der Neofunktionalismus die Auffassung, dass Interessengruppen innerhalb des Nationalstaats die internationalen Beziehungen beein­

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flussen (Bache & George, 2011, S.  8). Darüber hinaus wurde er zum Brückenbauer zwischen dem dominierenden funktionalen Ansatz der unmittelbaren Nachkriegszeit und den Ideen einer europäischen Fö­ deration.

3.2.1 Von Dominierungsversuchen zur wirtschaftlichen Zusammenarbeit: Monnet und der „Föderale Funktionalismus“ Jean Monnet wird oft als der eigentliche Gründer der Europäischen Union angesehen. Er war es, der im Gegensatz zu Altiero Spinelli einen praktikablen technokratischen „Schritt-für-Schritt“-Ansatz für die euro­ päische Integration entwickelte. Monnet nutzte die von Mitrany ent­ wickelte funktionale Strategie, um „den Regierungen die Kontrolle über die strategisch wichtigen Industrien Kohle und Stahl zu entziehen und sie in die Hände einer eigenständigen Agentur zu legen“ (Bache & George, 2011, S. 7). Obwohl Monnet den „technokratischen“ Ansatz der europäischen In­ tegration erfunden hat, war er selbst weit davon entfernt, ein sturer Technokrat zu sein. In seinem früheren Leben leitete er eine französische Cognac-Firma. Während seiner Tätigkeit als Bankier in den USA und Polen baute er ein später für seine Aktivitäten sehr nützliches weltweites Netzwerk auf. Monnet war jedoch kein reiner Geschäftsmann, sondern eher ein Wirtschaftsplaner. Während des Ersten Weltkriegs half er, die französische Kriegswirtschaft zu organisieren. Während des Zweiten Weltkriegs wurde er Churchills Sondergesandter in Washington und war der Hauptvermittler des Land- und Pachtgesetzes, das die Lieferung von US-Waffen an das Vereinigte Königreich und die Sowjetunion ermög­ lichte. Nach dem Krieg wurde er Leiter des Planungskommisariats (Com­ missariat général du Plan), das die französische Wirtschaft wieder an­ kurbeln sollte. Seine zukünftige italienische Ehefrau wurde sowjetische Staatsbürgerin, um sich von ihrem ersten Ehemann scheiden lassen zu können (für einen Überblick siehe seine Memoiren Monnet, 1976).

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Als Leiter des Commissariat général du Plan (1946–1950) entwickelte Jean Monnet den „Monnet-Plan“, der vor allem darauf abzielte, die Stahlindustrie stärker als die deutsche zu machen, indem man sich Zu­ gang zu den Ressourcen im Ruhrgebiet und im Saarland verschaffte (und Hunderttausende deutscher Soldaten als Zwangsarbeiter in Frankreich hielt). Im April 1949 errichteten die Alliierten2 die Internationale Ruhr­ behörde (IRA), indem sie das so genannte „Ruhrstatut“ verabschiedeten, das sich mit der „Ruhrfrage“ befassen sollte, also mit der Frage, wie mit der wirtschaftlichen und militärischen Macht des Ruhrgebiets als Grund­ lage potentieller deutscher Dominanz umzugehen sei. Die Schuman-Erklärung, die zu einem großen Teil von Jean Monnet verfasst wurde, wird oft als Ausgangspunkt der europäischen Integration angesehen. Sie markierte einen Wendepunkt in der französischen Politik gegenüber Deutschland. Anstatt zu versuchen, eine mögliche deutsche Bedrohung durch eine Dominanz über Deutschland einzudämmen, schlug die Schuman-Erklärung, aufbauend auf dem funktionalen Ansatz von Mitrany, vor, die entscheidenden Sektoren der industriellen Wirt­ schaft, Kohle und Stahl, einer gemeinsamen Behörde zu unterstellen und damit einen Prozess der wirtschaftlichen Zusammenarbeit einzuleiten. Beide Länder erklärten sich daher bereit, die Souveränität über einen geopolitisch wichtigen Sektor ihrer Wirtschaft aufzugeben, um ge­ genseitige Dominierungsbestrebungen zu verhindern. Durch die Schuman-Erklärung löste die 1952 gegründete Europäische Gemein­ schaft für Kohle und Stahl (EGKS) die bisherige internatioanle Ruhr­ behörde ab, die EGKS wurde zum Vorläufer der 1958 gegründeten Euro­ päischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG). Monnet argumentierte, dass sich die Menschen nicht mehr sicher füh­ len würden, solange kriegsentscheidenen Ressourcen Kohle und Stahl nicht im gemeinsamen Besitz sind (Monnet, 1976, S. 347). Die deutsche wirtschaftliche Dominanz, die auf dem Besitz dieser Ressourcen beruhte, war für Monnet das Haupthindernis für die europäische Integration (Monnet, 1976, S. 346). Die Erklärung sah die sofortige Integration die­ ses „begrenzten, aber entscheidenden Punktes“ als „einen ersten Schritt zur Föderation Europas“ vor (Schuman, 2011/1950). Das Ziel dieser  Mit Ausnahme der Sowjetunion, die eine Deindustrialisierung befürwortete.

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Methode war nicht die Angleichung, sondern die Verschmelzung der In­ teressen der beiden Volkswirtschaften (Monnet, 1976, S. 371). Monnets Ziel war es also, mehr als nur internationale Institutionen zu schaffen, die zur Lösung einiger externer Probleme beitragen würden, wie es der Funktionalismus vorschlägt. Er wollte einen Prozess in Gang setzen, um die Externalitäten beider Länder in einem „endogenen“ Ausgleichssystem zusammenzuführen. Dieses System sollte jede Grundlage beseitigen, die zu einer wirtschaftlichen Dominanz zwischen den beiden Ländern füh­ ren könnte. Der Hauptanreiz war also nicht der wirtschaftliche Vorteil, sondern die Furcht vor wirtschaftlicher Dominanz (siehe Kap. 10). Zeit­ genössische Beobachter sahen im Schuman-Plan lediglich eine Fort­ setzung des „Monnet-Plans“ (Spiegel (Magazin), 1951). Monnet beschrieb den Hintergrund des Schuman-Plans in seinen „Memoiren“. Die Schuman-Erklärung bot Monnet zufolge die Möglich­ keit, einen europäischen wirtschaftlichen Integrationsprozess einzuleiten, der in die allgemeine funktionale geopolitische Architektur der USA für Westeuropa eingebettet war. Diese US-Architektur basierte auf dem Prin­ zip der Eindämmung und der Logik des Kalten Krieges, die von der Tru­ man-Regierung angewandt wurde. Sie zielte darauf ab, ein starkes Deutschland als Pufferstaat gegenüber der Sowjetunion zu schaffen. Die Monnet-Methode verband, wie Monnet selbst sagte, die Forderung der USA, Deutschland umzugestalten, mit dem französischen Wunsch, Deutschland zu kontrollieren (Monnet, 1976, S. 344–346). Die Möglich­ keiten, einen europäischen Integrationsprozess in Gang zu setzen, wur­ den also durch den breiteren funktionalen Rahmen der USA bestimmt. Dieser Rahmen ist bis heute ein wichtiger externer Bestimmungsfaktor für den europäischen Integrationsprozess. Veränderungen in diesem Rah­ men und in den amerikanisch-russischen Beziehungen (wie sie in den späten 1940er-Jahren, den frühen 1970er-­Jahren, den 1989–1990er-­ Jahren und vielleicht auch in den 2010er-­Jahren stattfanden) bestimmen den Raum, in dem die europäische Integration voranschreiten kann. Monnets Methode bildete die Grundlage für das, was Ernst B. Haas und andere später in ihren neofunktionalen Theorien beschrieben (siehe unten). Allerdings legten die Neofunktionalisten im Vergleich zu Mon­ nets ursprünglichem Ansatz viel mehr Gewicht auf die Interessen von Interessengruppen und deren Einfluss auf die Regierungen. Nichtsdesto­

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trotz war nach Monnet die grundlegende Triebkraft für die europäische Integration eher die Furcht vor wirtschaftlicher Dominanz, wie wir ge­ sehen haben. Eine Theorie der europäischen Integration muss sich daher eingehender mit der Frage befassen, woher diese Dominanz kommt und wie sie bewältigt werden kann. Es war Mitrany, der Monnets Politik als „föderalen Funktionalismus“ bezeichnete, obwohl einige Wissenschaftler bezweifeln, dass Monnet überhaupt als Föderalist bezeichnet werden kann (Bache & George, 2011, S.  7). Der Historiker John Gillingham sah in der Schuman-­ Erklärung keinen radikalen Wandel, sondern vielmehr die Fortsetzung der französischen „Ruhrpolitik“ (Gillingham, 1987) seit Versailles, auch wenn Frankreich nun versuchte, die gleichen Ziele mit anderen Mitteln zu erreichen. Monnets Ansatz war für Gillingham der Versuch, Deutsch­ land unter französischen Bedingungen in den Westen zu integrieren. Den Wandel der französischen Politik gegenüber dem „deutschen Pro­ blem“ führt er auf Georges Bidault zurück. Bidault war es, der 1948 die französische Besatzungspolitik änderte, um eine gemeinsame deutsch-­ französische Zukunft vorzubereiten (Gillingham, 1987, S.  12). Er war der erste französische Politiker, der erkannte, dass ein deindustrialisiertes Deutschland, wie es der amerikanische Finanzminister Henry Morgen­ thau vorschlug, auch den Wohlstand seiner Nachbarn untergraben würde und dass die deutschen Produktivkräfte in eine internationale Ordnung integriert werden müssten (Gillingham, 1987, S.  5–6). Er erkannte daher, dass auch ein deindustrialisiertes Deutschland negative externe Ef­ fekte auf seine Nachbarländer haben würde.

3.2.2 Wie schafft man eine Europäische Gemeinschaft? In seinem Werk „The Uniting of Europe“ (Haas, 1968/1958) entwickelte Ernst B. Haas3 aufbauend auf den Arbeiten von David Mitrany und Jean  Haas wurde 1924 in Frankfurt am Main, Deutschland, geboren. Seine Familie emigrierte 1938 nach Chicago. Von 1943 bis 1946 arbeitete er im militärischen Nachrichtendienst der US-Armee. Nach dem Krieg studierte er an der Columbia University, wo er auch seinen Doktortitel erwarb. Anschließend wurde er Professor an der University of California, Berkeley. 3

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Monnet, eine kohärente Theorie der europäischen Integration. Haas wollte mit Hilfe der von Mitrany definierten funktionalen Instrumente beschreiben, wie ein Prozess hin zu einer europäischen Föderation in Gang gesetzt werden könnte. Dabei ging es ihm insbesondere um die Frage, wie die wirtschaftliche Integration zur Schaffung einer politischen Gemeinschaft führen kann. Haas stellte fest, dass es im Allgemeinen schwierig ist zu definieren, „wer ein neues „nationales Bewusstsein“, das zur Schaffung eines neuen Nationalstaates oder einer föderalen Organisation führt, hervorbringt, propagiert, ausbreitet und akzeptiert“. Das Hauptaugenmerk seiner Arbeit lag daher darauf, zu erklären, „ob und wie“ die politische Integra­ tion zu einer neuen „politischen Gemeinschaft“ führt (Haas, 1968/1958, S. 3–4). Um zu erklären, wie eine europäische Föderation geschaffen wer­ den kann, wollte er darlegen, wie Integration und das Entstehen einer „politischen Gemeinschaft“ zusammenhängen. Er definierte eine politische Gemeinschaft als „ein Zustand, in dem bestimmte Gruppen und Individuen in einem be­ stimmten Zeitraum und einem abgrenzbaren geographischen Raum mehr Loyalität gegenüber ihren zentralen politischen Institutionen zeigen als gegenüber jeder anderen politischen Autorität.“ (Haas 1968/1958, S. 5)

Menschen gelten als loyal, wenn sie „gewohnheitsmäßig und vorher­ sehbar über lange Zeiträume den Anordnungen ihrer Autorität [ge­ horchen] und sich an sie wenden, um wichtige Erwartungen zu erfüllen“ (Haas, 1968/1958, S.  5). Gemeinschaften im Westen sind daher nach Haas gekennzeichnet durch Gruppenkonflikte innerhalb der Gemein­ schaft und ein akzeptiertes Glaubenssystem, nämlich den Glauben an die Rechtsstaatlichkeit, um diese Gruppenkonflikte zu lösen. Ein Konsens wird demnach erreicht, „wenn die Legislative durch Mehrheitsbeschluss Gesetze erlässt“ (Haas, 1968/1958, S. 6). Mit anderen Worten: Die Men­ schen gründen eine Gemeinschaft, um die bestehenden externen Effekte in eine gemeinsame Institution zu internalisieren, die in der Lage ist, diese externen Effekte zu bewältigen. Diese externen Effekte werden durch die Handlungen und Beziehungen zwischen den Menschen ver­ ursacht. Eine Gemeinschaft besteht, wenn die Regeln und Prinzipien der

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gemeinsamen Institution wichtiger sind als mögliche Nachteile einzelner Handlungen. Dementsprechend werden die Menschen an diesen Institu­ tionen festhalten, auch wenn sie nicht immer ihren ideologischen Präfe­ renzen entsprechen, weil sie davon überzeugt sind, dass diese Institutio­ nen notwendig sind, um die externen Effekte zu bewältigen. Dieses Prin­ zip wird auch vom Republikanismus geteilt. Haas identifizierte zwei wichtige Trends in der Welt nach dem Zweiten Weltkrieg: eine Vervielfachung der Souveränitäten (durch die Schaffung neuer Staaten) und die Institutionalisierung privater Gruppen und Indivi­ duen auf regionaler und universeller Ebene. In Europa sah er darüber hi­ naus eine „Einschränkung der souveränen Unabhängigkeit“, die zur Schaffung von Institutionen führte, die zu einer Art „neuem föderalen Organismus“ führen könnten (Haas, 1968/1958, S.  3). Die Verviel­ fachung der Souveränitäten und die Institutionalisierung privater Inte­ ressen führten zu einer Zunahme der Interdependenzen zwischen den Nationalstaaten auf globaler Ebene. Die Existenz eines Bundesstaates war für Haas keine Voraussetzung für eine politische Gemeinschaft. Um eine politische Gemeinschaft zu schaf­ fen, sei es vielmehr wichtig, die richtigen Sektoren auszuwählen, die inte­ griert werden sollten, um einen Prozess in Gang zu setzen, der zu einer politischen Gemeinschaft führt. Diese Sektoren sollten nach der Ein­ schätzung ausgewählt werden, welche Interessengruppen und politischen Parteien supranationale Lösungen bevorzugen würden und welche Grup­ pen dazu neigen, sich auch auf supranationaler Ebene zu organisieren (Haas, 1968/1958, S. 9–10). Haas kommt zu dem Schluss, dass politische Integration definiert wer­ den kann als „der Prozess, durch den politische Akteure in mehreren unterschiedlichen nationalen Kontexten dazu gebracht werden, ihre Loyalitäten, Erwartungen und politischen Aktivitäten auf ein neues Zentrum zu verlagern, dessen In­ stitutionen die Zuständigkeit für die zuvor bestehenden Nationalstaaten besitzen oder fordern“ (Haas, 1968/1958, S. 16).

Zu Beginn dieses Prozesses mag der Nationalismus noch „übermächtig“ sein. Dennoch setzt die Schaffung supranationaler Institutionen „ein

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komplexes Muster der Interaktion zwischen nationalen Ideologien einer­ seits und den Überzeugungen der Amtsträger in den zentralen Institutio­ nen andererseits“ in Gang (Haas, 1968/1958, S. 19). Doch selbst in die­ sem „wechselseitigen Prozess […]können nationale Gruppen gezwungen sein, ihre Bestrebungen durch föderale Institutionen zu lenken“ (Haas, 1968/1958, S. 19). Außerdem wies Haas darauf hin, dass eine gewisse „europäische Dok­ trin“ noch fehle. Verschiedene Interessengruppen hätten unterschied­ liche Interessen an Europa. Die einen versuchten, eine gemeinsame Dok­ trin in einem europäischen „Kulturerbe“ zu finden, die anderen in wirtschaftlichen Vorteilen. Die Neoliberalen sahen die Vorteile supra­ nationaler Institutionen darin, dass die Technokraten von den nationalen Wählern abgekoppelt wären und kaum Möglichkeiten hätten, in die Wirtschaft einzugreifen. Die Sozialdemokraten sahen die Möglichkeit, die Schwächen des Kapitalismus durch einen europaweiten wirtschaft­ lichen Planungsprozess zu überwinden, der eine demokratisch legiti­ mierte Vollföderation voraussetzen würde. Generell blieb die Idee Europa jedoch „leer“; sie hat, wie Haas Raymond Aron zitiert, „weder die Trans­ zendenz messianischer Ideologien noch die Immanenz konkreten Patriotismus“ (Haas, 1968/1958, S. 28–29). Europa blieb also ein Eli­ tenprojekt, dessen Hauptantriebskraft das Eigeninteresse einiger Funktionseliten in Politik und Wirtschaft war. Europa als „Elitenprojekt“ kann als eine Spätfolge des Wechsels von der „Garibaldi“- zur „Ca­ vour“-Lösung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gesehen werden (vgl. Haas (1968/1958, S. 17) und Abschn. 2.4).

3.2.3 Inkrementelle Entscheidungsfindung und Externalisierung Charles Lindblom hat argumentiert, dass in modernen, industrialisierten Demokratien die politische Entscheidungsfindung unter normalen Um­ ständen nicht der Logik eines „großen Sprungs nach vorn“ folgt, sondern eher einem Muster kleiner, praktischer, unzusammenhängender Schritte. Er nannte diese Art der politischen Entscheidungsfindung „Inkrementa­ lismus“. Eine inkrementelle politische Strategie folgt immer noch einem

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mehr oder weniger klar definierten Ziel; sie versucht jedoch nicht, einen „Masterplan“ dafür zu erstellen, wie dieses Ziel zu erreichen ist, und sie versucht auch nicht, das Ziel in allen Einzelheiten zu definieren. Es wird vielmehr eine Reihe ähnlicher, aber dennoch unterschiedlicher Ergeb­ nisse definiert, die erreicht werden könnten. Diese Strategie des „mudd­ ling through“ ist ein typisches Merkmal unserer modernen Politik (Lind­ blom, 1959, 1979). Haas glaubte nicht, dass eine europäische Föderation durch einen gro­ ßen Sprung nach vorn erreicht werden kann. Stattdessen glaubte er, ähn­ lich wie Jean Monnet, dass es wichtig sei, einen Prozess der kleinen Schritte zur europäischen Einheit einzuleiten. Die Akteure sollten lieber kleine Entscheidungen treffen, von Fall zu Fall, ohne dabei das allgemeine Ziel, die Schaffung einer Art europäischer Föderation, aus den Augen zu verlieren. Haas definierte Integration als einen Prozess, „der stattfindet, wenn [die Interessen- und Wertewahrnehmungen] in ein bestimmtes Muster fallen, und der nicht stattfindet, wenn sie es nicht tun“ (Haas, 1968/1958, S. 11). Für ihn war es daher wichtig, das Muster der schritt­ weisen Entscheidungsfindung zu definieren, das zu einer europäischen Föderation führen könnte. Haas glaubte, dass die wirtschaftliche Integration der vielver­ sprechendste Weg sei, um einen schrittweisen Prozess in Richtung Eini­ gung einzuleiten. Er sah jedoch ein Problem darin, dass „wirtschaftliche Integration ohne das Wachstum zentraler Institutionen und Politiken nicht notwendigerweise zu einer politischen Gemeinschaft führt, da kein Druck zur Neuformulierung von Erwartungen ausgeübt wird“ (Haas, 1968/1958, S.  12). Wirtschaftliche Integration kann zu zentraler Ent­ scheidungsfindung führen, wenn „[u]ngleiche Verteilung von wirtschaft­ lichem Nutzen zu politischer Opposition führen kann, wo vorher keine war“, da dies zu „Forderungen, Erwartungen und Loyalitäten der vom Prozess betroffenen politischen Akteure“ führen kann (Haas, 1968/1958, S. 13). Wirtschaftliche Integration führt also zu politischer Integration, wenn gemeinsame Institutionen benötigt werden, um die Gewinne der wirtschaftlichen Zusammenarbeit zu verteilen. Darüber hinaus sagt die neofunktionale Theorie die Externalisierung von Akteuren (insbesondere von anderen Ländern) voraus, die nicht Teil des ursprünglichen Wirtschaftsabkommens sind. Die Mitglieder des Ab­

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kommens werden sich für Lösungen entscheiden, die andere Mitglieder des Abkommens begünstigen, und werden sich gegen Optionen ent­ scheiden, die Außenstehende begünstigen. Die Folge ist eine „zu­ nehmende regionale Harmonisierung und Institutionalisierung“ gegen­ über der Außenwelt und dass „regionale Handlungsschwerpunkte auf irgendeine Weise den Vorrang vor konkurrierenden geografischen Schwerpunkten in den kollektiven Entscheidungsprozessen erhalten müssen“ (Haas, 1976, S. 176). Haas stellte fest, dass ein mögliches Ver­ ständnis der Externalisierung darin besteht, dass „die Furcht vor starken nicht-regionalen Akteuren die regionalen Akteure dazu bewegen sollte, ihre Politik intensiver zu koordinieren und zu harmonisieren“ (Haas, 1976, S. 176). Wenn regionale Akteure befürchten, dass nicht-­regionale Akteure ein bestehendes Abkommen untergraben könnten, werden sie sich bereit erklären, supranationale Organisationen zu stärken und zu er­ weitern, um die Vorteile ihrer regionalen Abkommen zu verteidigen. Frü­ here Theorien konzeptualisierten diesen Prozess daher als einen un­ zusammenhängenden Inkrementalismus der „[i]Institutionalisierung und der Zentralisierung der Politikgestaltung gegenüber der Außenwelt“ (Haas, 1976, S. 176). Wenn sich die Vereinbarung als erfolgreich erweist und Akteure be­ nachteiligt, die sich nicht daran beteiligt haben, sind Reaktionen dieser „Außenseiter“ wahrscheinlich. Der Außenseiter könnte versuchen, die Vereinbarung zu untergraben oder sich ihr anzuschließen.4 Selbst wenn der Außenseiter versuchen sollte, das Abkommen zu untergraben, könnte dies letztlich die Entwicklung supranationaler Institutionen fördern, da der Außenseiter „die im Entstehen begriffene regionale Organisation so behandeln muss, als wäre sie bereits eine lebensfähige, autoritative politi­ sche Einheit“ (Schmitter, 1969, S. 165).

 Ein gutes Beispiel für dieses Verhalten ist die Haltung des Vereinigten Königreichs gegenüber Europa. Es zögerte, dem gemeinsamen Markt und der gemeinsamen Währung beizutreten und ver­ suchte, die Schaffung starker supranationaler Organisationen zu untergraben. Später, als es den Er­ folg des gemeinsamen Marktes sah, trat es ihm bei. Ein weiteres Beispiel könnte Russland sein: Seit der Ukraine-Krise sieht sich Russland als „Außenseiter“ in Europa. Gerüchten zufolge unterstützt Russland euroskeptische politische Bewegungen wie den Front Nationale in Frankreich oder die AfD in Deutschland, die eine weitere europäische Integration untergraben könnten. Ein weiterer interessanter Fall könnte in Zukunft die Politik der Türkei gegenüber Europa werden. 4

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Die schrittweise Entscheidungsfindung und der Externalisierungs­ effekt haben in der Anfangsphase der europäischen Integration gut funk­ tioniert. Der gemeinsame europäische Markt ist das Ergebnis eines sol­ chen Prozesses. Im Gegensatz zur autarken Großraumwirtschaft, die das nationalsozialistische Deutschland mit Gewalt durchsetzen wollte, er­ laubte der langwierige Prozess der schrittweisen Entscheidungen, die ver­ schiedenen Probleme aller beteiligten Länder zu berücksichtigen. Das Er­ gebnis war eine freiwillige Zusammenarbeit zwischen den europäischen Staaten. Darüber hinaus entstand mit dem Beginn des wirtschaftlichen Integrationsprozesses 1958 ein Druck zur Externalisierung weiterer supranationaler Integration, denn „[i]n gemeinsamen Märkten und Frei­ handelszonen führt der Prozess der Handelsliberalisierung zwischen den Mitgliedern bald zu einem Druck auf eine gemeinsame Handelspolitik gegenüber Nichtmitgliedern, was wiederum Druck auf eine gemeinsame Währungspolitik erzeugt“ (Haas, 1973, S. 5). Dementsprechend wurde die Europäische Zollunion im Jahr 1968 vollendet. Zwei Jahre später wurde der Werner-Plan vorgelegt, der einen konkreten Plan zur Ein­ führung einer gemeinsamen europäischen Währung bis 1980 enthielt. Der Werner-Plan wurde jedoch nie in die Praxis umgesetzt. Statt des­ sen wurde der Werner-Plan zu einem Wendepunkt, der die Grenzen des neofunktionalen Ansatzes aufzeigte. Der Grund dafür ist, dass das Argu­ ment der Externalisierung bei einer Zollunion sehr gut funktioniert, bei einer Kapitalunion jedoch nicht (siehe auch Kap.  8 und  9). Die Mit­ glieder gründen eine Zollunion, um positive Terms of Trade gegenüber der Außenwelt zu schaffen. Wenn die Zollunion gut organisiert ist, kön­ nen die Gewinne die Verluste der Handelsumlenkung durch die Schaf­ fung positiver Terms of Trade überwiegen, die Verlierer der Zollunion können kompensiert werden und es können (für die Mitglieder inner­ halb der Zollunion) Pareto-effiziente Gewinne erzielt werden. Darüber hinaus ist eine Freihandelszone  – gemäß der klassischen Theorie von David Ricardo – eine Pareto-optimale Verbesserung. Jedes Land hat die Möglichkeit, sich auf Waren mit einem komparativen Vorteil zu speziali­ sieren. Verlierer in einem Land können theoretisch mit den Gewinnen der Handelsintegration kompensiert werden. Es ist daher möglich, poli­

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tische Mehrheiten für Zoll- und Handelsunionen innerhalb der Mit­ gliedsstaaten zu organisieren und die Externalisierung von Nicht­ mitgliedern zu fördern. Die Schaffung von Kapitalvereinigungen ist jedoch viel schwieriger, weil die Länder jetzt zusammenarbeiten, um mehr internationales Kapi­ tal anzuziehen. Kapital wird nicht wie Handelsgüter getauscht, sondern investiert. Es handelt sich also um einen einseitigen Prozess, während der Handel unter der Annahme einer ausgeglichenen Leistungsbilanz immer ein wechselseitiger Prozess ist.5 Außerdem haben Kapitalisten ein Inte­ resse daran, ihr Geld dort zu investieren, wo die Kapitalrenditen hoch sind. Sie werden daher immer den freien Kapitalverkehr bevorzugen und sehen nicht viele Vorteile in einer Externalisierung von Außenseitern einer Kapitalunion. Die neofunktionalen Theorien konnten die europäische Integration erklären, da der globale Rahmen des Bretton-Woods-Systems die Handelsintegration wiederbelebte und den Kapitalverkehr begrenzte. Die wirtschaftliche Integration konzentrierte sich daher auf Handels­ fragen. Mit dem Werner-Plan wurde versucht, eine Währungs- und Kapitalunion im Rahmen von Bretton Woods zu erreichen (was be­ deutet, dass die Kapitalströme außerhalb Europas begrenzt werden soll­ ten). Sein Ziel war es, auf der Grundlage des damaligen keynesianischen Konsenses Vollbeschäftigung und staatliche Interventionen auf europä­ ischer Ebene zu ermöglichen (Schulz-Forberg & Strath, 2014, S. 45). Mit dem Zusammenbruch des Bretton-Woods-Abkommens und dem Ende der Kapitalverkehrskontrollen geriet die neofunktionale Logik je­ doch ins Wanken. Aufgrund des freien Kapitalverkehrs und flexibler Wechselkurse konkurrierten die Regierungen nicht nur um die besten Handelsbedingungen, sondern auch darum, das Kapital im Land zu hal­ ten. Dieser neue Rahmen untergrub die Logik der inkrementellen Ent­ scheidungsfindung und der Externalisierung, da die europäischen Regie­ rungen nun von den globalen Kapitalbewegungen beeinflusst wurden. Die Währungsunion, die im Delors-Bericht und 20 Jahre später in Maas­ tricht entworfen wurde, folgte daher einer neoliberalen Agenda der mo­ netären Integration ohne politische Union, die die Übereinstimmung  Ein Leistungsbilanzungleichgewicht würde immer einen Kapitalfluss widerspiegeln.

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zwischen den nationalen Regierungen über Politiken und Reformen för­ dert, die die meisten Direktinvestitionen anziehen (Schulz-Forberg & Strath, 2014, S. 45). Dementsprechend argumentierte Haas, dass eine andere, eher um­ gekehrte Interpretation von Externalisierung auch bedeuten kann, dass „die Wahrnehmung der Interdependenz mit nicht-regionalen Akteuren wahrscheinlich die Bemühungen um eine zunehmende regionale Har­ monisierung und Institutionalisierung beeinträchtigt“ (Haas, 1976, S.  176). Irland könnte sich zum Beispiel weigern, einer Steuer­ harmonisierung zuzustimmen, weil es befürchtet, dass multinationale Unternehmen das Land verlassen und an profitablere Standorte wie die USA zurückkehren könnten.

3.2.4 Die Instrumentalisierung von Externalitäten: Spillover-Effekte Der wichtigste Beitrag der neofunktionalen Literatur war die Definition des so genannten „Spillover-Effekts“. Er besagt, dass die Integration be­ stimmter Sektoren die Integration anderer benachbarter Sektoren beein­ flussen kann. Dieser Prozess könne langfristig zu einer immer stärkeren Integration und schließlich zu einer Quasi-Föderation führen. Haas defi­ nierte den Spillover-Effekt wie folgt: „Forderungen und Erwartungen nach weiteren Integrationsmaßnahmen werden aufgrund der Leistungen in den bisher föderal organisierten Be­ reichen der staatlichen Tätigkeit geäußert. Die Leistung wird als un­ zureichend angesehen, weil die zentralen Behörden keine ausreichenden Befugnisse zugestanden haben oder eine zögerliche Politik betrieben haben; daher ist die Forderung nach neuen föderalen Befugnissen, um eine bessere Leistung zu erzielen, eine direkte Folge des früheren institutionellen Sys­ tems und der dadurch hervorgerufenen Neuausrichtung der Gruppen­ erwartungen. Für die genaue Beschreibung eines regionalen Prozesses der politischen Integration ist es von entscheidender Bedeutung, diese Neu­ ausrichtung festzustellen.“ (Haas, 1958, S. 451)

Philippe C. Schmitter, ein Doktorand von Haas, führte die Definition des „Spill-over“-Effekts weiter aus und beschrieb ihn als einen Prozess

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„bei dem die Mitglieder eines Integrationsprogramms, die sich aus ver­ schiedenen Gründen auf bestimmte kollektive Ziele geeinigt haben, aber mit der Erreichung dieser Ziele nicht zufrieden sind, versuchen, ihre Un­ zufriedenheit entweder durch die Zusammenarbeit in einem anderen, ver­ wandten Bereich (Ausweitung des Umfangs der gegenseitigen Ver­ pflichtung) oder durch die Intensivierung ihres Engagements in dem ur­ sprünglichen Bereich (Erhöhung des Niveaus der gegenseitigen Verpflichtung) oder durch beides zu beseitigen“ (Schmitter, 1969, S. 162)

Beide Definitionen beschreiben daher einen Weg zur Integration durch die Nutzung von Interessensgruppen. Sie argumentieren, dass, wenn ei­ nige Bereiche integriert sind, auch wenn die politischen Institutionen auf europäischer Ebene nicht vollendet sind, Interessensgruppen eine Dyna­ mik entwickeln werden, die eine weitere Integration fordern. Auf diese Weise kann ein dauerhafter Integrationsprozess Schritt für Schritt er­ reicht werden. Schmitter stellte fest, dass es zwei wichtige Faktoren gibt, die darüber entscheiden, ob ein Spillover wahrscheinlich eintritt. Der erste ist die „zugrundeliegende Interdependenz von Funktionsaufgaben und Problemfeldern“ (Schmitter, 1969, S. 162). Nur wenn sie existieren und „bei der ursprünglichen Konvergenz latent oder ignoriert werden“, und wenn es Interessengruppen gibt, die von diesen zugrundeliegenden externen Effekten betroffen sind, werden Spillover wahrscheinlich die Folge der Integration sein (Schmitter, 1969, S. 162). Ökonomisch lässt sich dieser Prozess wie folgt erklären: In den etablierten nationalen Syste­ men werden Interdependenzen durch Institutionen wie Märkte und staatliche Politiken gesteuert, die diese Interdependenzen „inter­ nalisieren“. Wenn ein Sektor der Wirtschaft aus dem System heraus­ gezogen wird, werden die internalisierten Interdependenzen zu „Externa­ litäten“, was Druck verursacht, auch andere Sektoren zu europäisieren, um ein Gleichgewicht wiederherzustellen (Abb. 3.1). Der zweite Faktor ist das Vorhandensein „kreativer“ Politiker und Technokraten, die bereit und in der Lage sind, zentrale Organisationsauf­ gaben neu zu definieren und zu erweitern6 (Schmitter, 1969, S. 162). Der  Die Euro-Krise ist ein gutes Beispiel, um diese Faktoren zu veranschaulichen. Die Interdependenz zwischen Finanz- und Geldpolitik war seit Beginn der gemeinsamen Währung offensichtlich. Die Bemühungen, eine politische Union zu schaffen, scheiterten jedoch in Maastricht. Die Finanz­ 6

3  Die Obsoleszenz des Neofunktionalismus 

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Europäische Ebene Externalitäten/ Spill Overs

Sektor 2

Sektor 3

Sektor 1

Externalitäten/ Spill Overs

Sektor 4

Sektor 5

Zugrundeliegende Interdependenzen

Nationale Ebene Abb. 3.1  Spillover-Effekt

Umfang und das Niveau des Arrangements sind zwei weitere Indikatoren, die zur Prognose der Wahrscheinlichkeit eines Spillover-Effekts heran­ gezogen werden können. Der Umfang bezieht sich auf die Zahl der be­ troffenen gesellschaftlichen Gruppen und die Bedeutung der Politik, das Niveau auf die anfängliche Verpflichtung. Wenn es ein politisches Ziel ist, Spillover-Effekte zu erzeugen, müssen sich Politiker und Techno­ kraten über die Mindestbedingungen im Klaren sein, um neue funktio­ nale Vereinbarungen bestimmter Sektoren „inhärent expansiv“ zu ma­ chen (Schmitter, 1969, S. 163). Tranholm-Mikkelsen definierte später einen „kultivierten Spillover“, der die Rolle der Europäischen Kommission im Spillover-Prozess be­ tont (Tranholm-Mikkelsen, 1991). Die Kommission „wurde in einer“ einzigartigen Position gesehen, um sowohl den nationalen als auch den internationalen Druck auf die nationalen Regierungen zu manipulie­ ren, um den Prozess der europäischen Integration voranzutreiben, selbst wenn die Regierungen zögerlich sein könnten“ (Bache & George, 2011, S. 9). märkte können als eine Druckgruppe betrachtet werden, die für eine kohärentere Fiskalpolitik mo­ bilisierte. Politiker und Technokraten mussten kreativ sein, um angemessene Lösungen für die Krise zu finden (es kann auch darüber diskutiert werden, ob sie kreativ genug – oder sogar zu krea­ tiv – waren).

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3.3 Schlussfolgerung: Neofunktionalismus als eine überholte Theorie? Philippe C. Schmitter schrieb, dass „keine Theorie der regionalen Inte­ gration so oft missverstanden, karikiert, an den Pranger gestellt, als falsch erwiesen und verworfen worden ist wie der Neofunktionalismus“ (Schmitter, 2004, S. 45). Das Urteil scheint gerechtfertigt, denn selbst der prominenteste Gelehrte des Neofunktionalismus, Ernst B.  Haas, hatte verkündet, dass „[d]ie Theorien der regionalen Integration überholt sind“ (Haas, 1976, S. 173). Er schrieb, dass neofunktionale Theorien „die Tendenz haben, entweder Ereignisse nicht sehr genau vorherzusagen oder nicht sehr überzeugend zu erklären, warum Ereignisse, die vorhergesagt wurden, tatsächlich eingetreten sind“ (Haas, 1976, S. 174). Er argumen­ tierte daher, dass es notwendig sei, den Rahmen der Theorie zu überdenken. Haas geht davon aus, dass die neofunktionale Theorie nicht mehr gül­ tig sei, da die drei Kernannahmen der Theorie überholt seien. Diese drei Annahmen sind (Haas, 1976, S. 173): 1. dass ein definierbares institutionelles Muster das Ergebnis des Integrationsprozesses kennzeichnen muss 2. dass Interessenkonflikte im Interesse der anderen Partner und nicht von Außenstehenden (Staaten außerhalb der Union) gelöst werden 3. dass die Entscheidungsrationalität der Logik des unzusammen­ hängenden Inkrementalismus folgt Die allgemeine Logik der Neofunktionalisten bestand darin, dass die Ak­ teure sich dafür entscheiden würden, Schritt für Schritt neue supra­ nationale funktionale Institutionen zu schaffen und dabei dem un­ zusammenhängenden inkrementellen Entscheidungsprozess zu folgen (Annahme 3), der zunehmend Außenseiter ausschließt (Annahme 2) und „[die] extern-internen Optionen einer umfassenden Formel unterordnet“ (Haas, 1976, S. 199). Dieser Prozess würde zu einer Art europäischer Fö­ deration führen (Annahme 1).

3  Die Obsoleszenz des Neofunktionalismus 

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Haas argumentierte, dass die neofunktionalen Theorien nicht in der Lage waren, die Probleme der neuen globalen Weltordnung, die in den 1960er- und 1970er-Jahren entstand, zu berücksichtigen. Diese neue Weltordnung sei durch die so genannten „turbulenten Felder“ gekenn­ zeichnet, in denen „jeder Akteur in ein Netz von Interdependenzen mit anderen Akteuren eingebunden ist, die ebenso verworren sind wie der erste“; die daraus resultierende „Verwirrung dominiert die Diskussion und Verhandlung“ (Haas, 1976, S.  179). In der Folge wird die Ent­ scheidungsrationalität des unzusammenhängenden Inkrementalismus durch eine „fragmentierte Themenverknüpfung“ ersetzt, die gesamte Logik der neofunktionalen Theorie, die letztlich zu einer europäischen Föderation führen sollte, wird untergraben (Haas, 1976, S.  183–185). Die Hauptaufgabe der Neofunktionalisten bestand laut Haas darin, das Verhältnis zwischen Integration und Interdependenz aufzudecken (Haas, 1976, S. 208–212). In diesem Buch argumentiere ich, dass es notwendig ist, diese Beziehungen neu zu interpretieren, indem das Konzept der Interdependenzen durch das Konzept der Externalitäten ersetzt wird. In seiner Selbstkritik identifizierte Haas die Veränderungen, die seine Theorie „obsolet“ werden ließen. Er betonte, dass „die Überholung der Theorie ein allmählicher Prozess sei, kein abrupter Bruch“, Theorien der regionalen Integration seien also (noch) nicht obsolet (Haas, 1976, S.  177–178). Er erklärte jedoch nicht, woher diese Veränderungen kamen. Wie kam es zur Entstehung von „turbulenten Feldern“ und „stei­ gender Interdependenz“? Ein wichtiger Faktor war, dass die „Spillover“und Externalisierungshypothese nur so lange gültig war, wie die nationa­ len Volkswirtschaften von einem stabilen Bretton-Woods-­Rahmen um­ geben waren, der die Kapitalströme begrenzte. Dieser (funktionale) Rahmen ermöglichte es, diejenigen Sektoren zu identifizieren, die ein in­ härentes Interesse an der Europäisierung hatten, und die sie umgebenden externen Effekte stärker auf Europa zu lenken. Seit dem Zusammen­ bruch von Bretton Woods funktionierte dieser Ansatz nicht mehr reibungslos; da die Politikfelder „unübersichtlicher“ wurden, mussten die Regierungen die Auswirkungen ihrer Maßnahmen auf die Kapitalmärkte berücksichtigen, was ihren Handlungsspielraum einschränkte. Infolge­ dessen wurde der unzusammenhängende Inkrementalismus durch „issue linkage“ ersetzt, um mit komplexeren Situationen fertig zu werden. Diese

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neuen Bedingungen könnten auch erklären, warum die EG nicht in der Lage war, „den Gemeinsamen Markt von globalen Turbulenzen zu isolie­ ren“ (Haas, 1976, S.  199), wie es die neofunktionale Theorie erwartet hätte. Die Annahmen der neofunktionalen Theorie basierten also (viel­ leicht unbewusst) auf Bedingungen, die die Bretton-Woods-Ordnung lieferte. Ein weiterer Kritikpunkt ist, dass Spillover-Effekte nur funktionieren, wenn es um „Clubgüter“ geht, da Außenstehende (andere Wirtschafts­ sektoren) einen Anreiz haben könnten, dem Club beizutreten. Eine Zoll­ union, die auf einem Bretton-Woods-Rahmen basiert, erfüllt, wie wir oben gesehen haben, viel mehr die Kriterien eines solchen „Clubguts“. Mit der Einführung eines globalen Kapitalmarktes wurde Kapital zu einer globalen gemeinsamen Ressource, die sehr viel schwieriger zu ver­ walten ist. Die Überwindung des Neofunktionalismus könnte also auch durch die Verlagerung von europäischen Clubgütern zu europäischen Gemeinschaftsgütern erklärt werden. Die Einführung des Euro könnte dann als ein Versuch verstanden werden, dieses Problem der gemeinsamen Ressourcen zu bewältigen (siehe Kap. 8). Nichtsdestotrotz bedarf die Go­ vernance von Gemeinschaftsgütern einer stärkeren demokratischen Legi­ timation, da es um den Zugang zu und die Umverteilung von knappen Ressourcen geht. Es ist fraglich, ob die Monnet-Methode in der Lage ist, diese demokratische Legitimation zu liefern. Tatsächlich sieht Kevin ­Featherstone in Monnets ursprünglicher Methode die Ursache für das „demokratische Defizit“ der Europäischen Union (Featherstone, 1994).

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3  Die Obsoleszenz des Neofunktionalismus 

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4 Liberalismus: Ist die Wirtschaft der Treiber von Integration?

Wir kommen nun zu den neueren Beiträgen zur europäischen Integra­ tion, die Philippe C. Schmitter als „keine Theorien, sondern nur mehr oder weniger ausgefeilte Beschreibungssprachen für das, was nach Mei­ nung des Autors in der jüngeren Vergangenheit stattgefunden hat, be­ zeichnet  – ohne jede diskrete und falsifizierbare Hypothese darüber, wohin sich der Prozess in Zukunft entwickeln könnte“ (vgl. Wiener & Diez, 2004, S. 45). Dies mag eine übertriebene Kritik sein; sie spielt je­ doch auf eine große Schwäche der neueren Theorien der europäischen Integration an: Sie versuchen nicht mehr zu erklären, wohin die europä­ ische Integration gehen soll. Das hat zum einen den Vorteil, dass diese Theorien nicht mehr „scheitern“ können, ihre Grundhypothese kann nicht mehr falsifiziert werden. Andererseits erschwert die Unbestimmt­ heit dieser Theorien über den europäischen Raum die Entwicklung von Strategien, wohin Europa führen soll. Der liberale Intergouvernementalismus (LI) ist eine Theorie, die hauptsächlich von Andrew Moravcsik in den 1990er-Jahren entwickelt wurde, um die Schwächen des Neofunktionalismus zu überwinden. Sie ist eine Kombination aus Intergouvernementalismus (der bereits in den

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Nature Switzerland AG 2023 T. Zimmermann, Europäischer Republikanismus, https://doi.org/10.1007/978-3-031-44091-5_4

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1960er-Jahren eine Rolle spielte) und liberaler Ideen. Ich werde zunächst den Intergouvernementalismus und dann den Ansatz von Moravcsik vorstellen.

4.1 Intergouvernementalismus, Realismus und die Furcht vor Herrschaft Der Neofunktionalismus versuchte einen Prozess zu beschreiben, wie durch wirtschaftliche Integration eine politische Gemeinschaft geschaffen werden kann. Eine große Schwäche der funktionalen Theorie war, dass sie den besonderen Charakter von Sicherheitsfragen im Integrations­ prozess völlig ignorierte (wie wir in Abschn.  3.2.1 gesehen haben, sah Monnet die geopolitische Architektur der USA als Voraussetzung für sei­ nen Ansatz der europäischen Wirtschaftsintegration an). Dies wurde zu einem Problem, als der ehemalige General Charles de Gaulle 1958 die politische Bühne betrat. Die neue 5. Republik, die nach dem verlorenen Algerienkrieg ins Leben gerufen wurde, um Frankreich neu zu definieren, veränderte das politische Spiel um die europäische Integration. De Gaulle dachte viel mehr in sicherheitspolitischen als in wirtschaftlichen Kategorien. Als die Sowjetunion interkontinentale nukleare Fähigkeiten entwickelte und in der Lage war, die USA direkt anzugreifen, waren viele europäische Be­ obachter besorgt, dass die USA Westeuropa nicht um jeden Preis ver­ teidigen würden. De Gaulle versuchte daher, die Ost-­West-­Konfrontation zu überwinden und Autonomie in der Selbstverteidigung zu erlangen. Er lehnte eine Kooperation mit den USA bei der nuklearen Abschreckung ab und schmiedete ein unabhängiges französisches Atomwaffenpro­ gramm. Er befürchtete, dass die militärische Integration in den Westen die US-Präsenz in Europa nur zu einem Dauerzustand machen sollte (Bozo & Emanuel, 2002, S.  90–94). Um „die volle Souveränität über sein Territorium wiederzuerlangen“, verließ Frankreich die NATO-­ Kommandostruktur und stellte damit die US-Strategie der Eindämmung in Frage. Infolgedessen verließen US-Soldaten Frankreich, das NATO-­ Hauptquartier wurde von Paris nach Brüssel verlegt und alle französi­

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schen Soldaten unter NATO-Kommando wurden von deutschem Boden abgezogen (Bozo & Emanuel, 2002, S. ix). De Gaulle lehnt auch jegliche supranationalen Institutionen in Europa ab, da diese Institutionen „vor dem französischen Aufschwung von 1958“ geschaffen wurden und „[d]iese embryonale Technokratie, die zum gro­ ßen Teil aus dem Ausland stammt und die französische Demokratie mit Füßen triit […], nicht zu [Frankreich] passt“ (Haas, 1967, S. 319). De Gaulle verfolgte daher einen streng intergouvernementalen Ansatz der europäischen Integration, ein „Europa der Vaterländer“ vom Atlantik bis zum Ural, das auch für den Ostblock offen sein sollte. Seine Vision einer intergouvernementalen politischen Union, formuliert im Fouchet-­Plan von 1961, scheiterte jedoch. Mit dem Élysée-Vertrag von 1963 versuchte de Gaulle erneut, Deutschland für seinen französischen Europagedanken zu gewinnen. Dies gelang ihm jedoch nur teilweise (Haftendorn, 2006, S. 48–49). Viele amerikanische Wissenschaftler, darunter Ernst B. Haas, sahen in de Gaulle lediglich einen altmodischen „echten Nationalisten des neun­ zehnten Jahrhunderts“ (Haas, 1967, S.  319), der versuchte, in Europa wieder ein „System der Machtbalance“ (Bozo & Emanuel, 2002, S. xiii) zu installieren. Der französische Wissenschaftler Frédéric Bozo vertrat je­ doch die Ansicht, dass das Leitprinzip von de Gaulles Politik die „Um­ gestaltung des internationalen Systems“ war (Bozo & Emanuel, 2002, S. xiii). Er wollte ein „europäisches Europa“ schaffen, das frei vom Ein­ fluss der USA und von der Ost-West-Konfrontation ist. Ernst B.  Haas fragte, ob de Gaulle „den Gemeinsamen Markt und damit die Idee eines vereinten Europas getötet hat?“ (Haas, 1967, S. 316). Es ist schwierig, diese Frage zu beantworten. Die „Lehre, die uns der Ge­ neral erteilt hat“ (Haas, 1967, S.  315), könnte jedoch darin bestehen, dass Fragen der Sicherheit und der militärischen Integration nach wie vor einer eher realistischen Rationalität folgen. Daraus folgt, dass „wirtschaft­ liche Integration nicht immer und automatisch zu politischer Einheit führt“ (Haas, 1967, S. 315).1  Eine Lektion, die heute angesichts der zunehmenden Spannungen zwischen Russland und der westlichen Welt im Hinblick auf mögliche Erweiterungen der NATO und der EU wieder in Be­ tracht gezogen werden sollte. 1

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Mit anderen Worten: Wenn es um die Sicherheit geht, ist die wirtschaft­ liche Integration zweitrangig. Stanley Hoffmann kommt zu dem Schluss, dass die Integration auf Feldern der „niedrigen Politik“ (wie der wirtschaft­ lichen Integration) voranschreitet, aber auf Feldern der „hohen Politik“, insbesondere bei Sicherheitsfragen, zum Stillstand kommt (Hoffmann, 1966). Letztere müssen mit einem wesentlich realistischeren Ansatz der internationalen Beziehungen analysiert werden. Hoffmanns Ansatz be­ tont erneut die Bedeutung der nationalen Akteure im Integrations­ prozess. Sein Hauptanliegen ist nicht die Schaffung einer neuen supra­ nationalen Einheit, sondern die Schaffung eines „Gleichgewichts der Kräfte“ zur Erhaltung des Friedens. Ein Konzept, das sich, wie wir ge­ sehen haben, historisch auf die Heilige Allianz des neunzehnten Jahr­ hunderts zurückführen lässt. Der Intergouvernementalismus unterscheidet sich jedoch vom Realis­ mus dadurch, dass er die Institutionalisierung der internationalen Be­ ziehungen anerkennt. Außerdem akzeptiert er, dass die Innenpolitik einen erheblichen Einfluss auf die Präferenzen der Regierungen hat.

4.2 Management von Interdependenzen als Alternative zum Neofunktionalismus Der liberale Intergouvernementalismus verbindet die von Stanley Hoff­ mann entwickelten Konzepte mit der Wirtschaftstheorie. Er wurde in den 1990er-Jahren von Andrew Moravcsik entwickelt und wurde zur schärfsten Kritik am funktional-föderalen Ansatz. Wie wir gesehen haben, hatten die Neofunktionalisten selbst in den 1970er-Jahren argu­ mentiert, dass die zunehmende wirtschaftliche Interdependenz die neo­ funktionale Theorie „obsolet“ gemacht habe. Moravcsik argumentierte, aufbauend auf der Selbstkritik der Neofunktionalisten, dass die EG nicht länger als historischer Einzelfall betrachtet werden sollte, der nur durch einen „Weg sui generis zu einem zukünftigen föderalistischen Endpunkt“ erklärt werden kann (Moravcsik, 1993, S. 478). Er wandte sich gegen die neofunktionale Sichtweise einer sich selbst tragenden europäischen Wirt­ schaftsintegration und von unternehmerischen supranationalen Akteu­

4  Liberalismus: Ist die Wirtschaft der Treiber von Integration? 

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ren, die die europäische Integration vorantreiben würden. Anstatt zu ver­ suchen, eine „europäische“ Theorie der regionalen Integration zu schaf­ fen, sollten Wissenschaftler versuchen, die europäische Integration in eine allgemeinere „Theorie der nationalen politischen Reaktionen auf die internationale Interdependenz“ einzubetten (Moravcsik, 1993, S. 478). Die EG könnte dann als eine „normale“ internationale Institution in den internationalen Beziehungen betrachtet werden. Moravcsik versuchte, die europäische Integration als eine Gegenstrategie der Mitgliedstaaten zur Überwindung der durch die wirtschaftliche Inter­ dependenz verursachten Probleme zu erklären. Richard N. Cooper defi­ nierte die wirtschaftliche Interdependenz als die „Empfindlichkeit der wirtschaftlichen Transaktionen zwischen zwei oder mehr Nationen gegenüber den wirtschaftlichen Entwicklungen innerhalb dieser Natio­ nen“ (Cooper, 1972, S. 159). Für Cooper ist also nicht der tatsächliche Betrag (in Dollar oder in absoluten Zahlen) des Austauschs zwischen zwei Ländern wichtig, sondern vielmehr der Grad („Sensibilität“) der wirtschaftlichen Anpassung, die die Veränderung in einem Land für die Wirtschaft eines anderen Landes bedeutet. So sind zwei Länder nach Cooper wirtschaftlich voneinander abhängig, wenn ihre Preis- und Ein­ kommensentwicklung auf den Wert des Handels zwischen ihnen reagiert. Cooper analysiert die Auswirkungen der zunehmenden wirtschaft­ lichen Interdependenz auf die Fähigkeit des Nationalstaates, innen­ politische Maßnahmen durchzuführen und Zahlungsbilanzanpassungen vorzunehmen (Cooper, 1972, S. 161). Interdependenz kann durch zu­ nehmenden Handel und Interaktionen zwischen den Menschen ver­ ursacht werden. Cooper sieht jedoch das Wachstum von Real- und Finanzinvestitionen als Haupttriebkraft für wirtschaftliche Inter­ dependenz (Cooper, 1972, S.  162). Neben dieser „strukturellen Inter­ dependenz“ gibt es auch eine „institutionelle Interdependenz“, die als „Reaktion“ auf die strukturelle Interdependenz angesehen werden kann. Institutionelle Interdependenz liegt vor, wenn zwei Staaten gezwungen sind, gemeinsame Entscheidungen zu treffen, um ein wirtschaftliches Problem zu lösen. In Anlehnung an die von Richard N. Cooper entwickelten liberalen Theorien der wirtschaftlichen Interdependenz argumentierte Moravcsik,

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dass „zunehmende grenzüberschreitende Waren-, Dienstleistungs-, Fak­ tor- oder Schadstoffströme ‚internationale politische Externalitäten‘ schaffen“ (Moravcsik, 1993, S. 485). Internationale politische Externali­ täten werden als Kosten und Nutzen definiert, die „politisch bedeutsame soziale Gruppen außerhalb [der] nationalen Gerichtsbarkeit“ betreffen. Die Regierungen kooperieren, um „Kontrolle über die Ergebnisse der na­ tionalen Politik“ (wieder) zu erlangen (Moravcsik, 1993, S. 485). Diese Zusammenarbeit kann nach der Theorie der internationalen politischen Ökonomie zwei verschiedene Ziele verfolgen. Erstens, „die Anpassung der wirtschaftlichen Interdependenz durch gegenseitige Marktliberalisierung“. Die Regierungen können zusammenarbeiten, um die Märkte für die jeweils andere Seite zu öffnen und so Gewinne zu erzielen. Der zweite Zweck ist die „Harmonisierung der Politik, um die kontinuier­ liche Bereitstellung öffentlicher Güter, für die der Staat im Inland ver­ antwortlich ist, zu gewährleisten“, da die wirtschaftliche Interdependenz die Bereitstellung nationaler öffentlicher Güter wie Wohlfahrtspolitik, Geldpolitik oder Produktregulierung untergräbt. Die Zusammenarbeit kann dazu beitragen, die Fähigkeit zur Bereitstellung dieser Güter wieder­ zuerlangen (Moravcsik, 1993, S. 486). Moravcsik versucht, den europäischen Integrationsprozess mit Hilfe von drei Hauptannahmen der Internationalen Politischen Ökonomie zu erklären (Moravcsik, 1993, S. 480): 1. Der Staat ist ein rationaler Akteur, der Kosten und Nutzen seiner Politik kalkuliert 2. Nationale Präferenzen bestimmen das Handeln des Staates (gemäß der liberalen Theorie des Verhältnisses von Staat und Gesellschaft) 3. Zwischenstaatliche Verhandlungen werden mit einem intergouverne­ mentalen Ansatz analysiert (Issue linkage) Die Entwicklung der EG kann dann als „eine Reihe rationaler Ent­ scheidungen der nationalen Führer“ (Moravcsik, 2003/1998, S. 18) ver­ standen werden, die EG selbst als „ein internationales Regime zur Förde­ rung der politischen Koordinierung“ (Moravcsik, 1993, S. 478).

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Moravcsik unterscheidet zwischen drei großen Politikbereichen, die unterschiedliche „charakteristische Verteilungen von Kosten und Nut­ zen“ aufweisen (Moravcsik, 1993, S. 488). Diese drei Bereiche sind: 1. Die Liberalisierung des Austauschs von privaten Waren und Dienstleistungen 2. Bereitstellung von sozioökonomischen Kollektivgütern 3. Bereitstellung von nichtwirtschaftlichen Kollektivgütern Der erste Bereich ist der Kernbereich der EG. Die Hauptprofiteure dieser Politik sind die Hersteller von handelbaren Gütern. Die Möglichkeit die­ ser Interessengruppe, den Entscheidungsprozess zu beeinflussen, und ihr starkes Interesse, dies zu tun, führt zu einer „systematischen politischen Voreingenommenheit zugunsten der Produzenten gegenüber denjenigen, die diffusere Interessen haben, wie die Steuerzahler und die einzelnen Verbraucher“ (Moravcsik, 1993, S. 488). Beispiele für sozioökonomische Kollektivgüter sind (nach Moravcsik) „makroökonomische Stabilität, soziale Sicherheit, Umweltschutz, öffent­ liche Gesundheit und Sicherheitsstandards sowie eine akzeptable Ein­ kommensverteilung“ (Moravcsik, 1993, S.  491). Die nationale Bereit­ stellung dieser öffentlichen Güter wird durch die zunehmende wirtschaft­ liche Verflechtung untergraben. Die Koordinierung kann den Regierungen helfen, die Möglichkeit zur Bereitstellung dieser öffentlichen Güter wiederzuerlangen. Wenn die Regierungen jedoch divergierende makro­ ökonomische, ökologische und soziale Ziele verfolgen, ist eine „Ko­ ordinierung wahrscheinlich kostspielig und schwierig“ (Moravcsik, 1993, S. 492). Die Regierungen müssen oft schwierige Entscheidungen treffen, um die Interessen der ersten beiden Politikbereiche auszugleichen. Gut orga­ nisierte Produzenten können steigende Ströme wirtschaftlicher Trans­ aktionen erzeugen, während Interessengruppen, die sich mit öffentlichen Gütern befassen, oft ein diffuseres Muster sozialer Interessen schaffen (Moravcsik, 1993, S. 492–493). Nicht-ökonomische Kollektivgüter wie geopolitische und sicherheitspolitische Externalitäten spielen nach Mo­ ravcsik nur eine untergeordnete Rolle. Er lehnt daher die realistische An­

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sicht ab, dass Sicherheitsbelange alle anderen Politikbereiche in den inter­ nationalen Beziehungen bestimmen. Stattdessen argumentiert er, dass nationale Interessen themenspezifisch sind und keine Hierarchie auf­ weisen. Moravcsik geht sogar so weit zu sagen, dass geopolitische Über­ legungen nur dann ins Spiel kommen, wenn die wirtschaftlichen Interes­ sen nicht stark sind. Er räumte jedoch ein, dass geopolitische Erwägungen die europäische Integration beeinflussten, da „nackte wirtschaftliche Prä­ ferenzen wahrscheinlich zu einer stark institutionalisierten paneuro­ päischen Freihandelszone mit flankierenden Maßnahmen zur regulatori­ schen Harmonisierung und Währungsstabilisierung geführt hätten“ (Moravcsik, 2003/1998, S. 5–7).

4.3 Kapitalmärkte und die Zwei-EbenenPerspektive Im vorangegangenen Abschnitt haben wir gesehen, dass das „Veralten“ der neofunktionalen Theorie durch die Entstehung der globalen und europäischen Kapitalmärkte verursacht wurde. Die Entstehung „europä­ ischer“ Kapitalmärkte begann mit der Abschaffung der Kapitalverkehrs­ kontrollen, die zwischen dem Zusammenbruch des Bretton-­ Woods-­ Systems im Jahr 1973 und der vollständigen Abschaffung aller Kapital­ verkehrskontrollen im Jahr 1990 stattfand. Aufgrund dieser Entwicklung beschränkten sich die wirtschaftlichen Interdependenzen nicht mehr nur auf Handelsfragen, sondern auch auf den Kapitalverkehr. Kapital wurde zu einer globalen „gemeinsamen Ressource“, und die nationalen Volks­ wirtschaften standen in Konkurrenz zueinander, um Zugang zu Direkt­ investitionen zu erhalten. Anders als der Handel ist der Kapitalverkehr immer einseitig und nicht immer pareto-optimal (siehe Kap. 9). Für die Regierungen besteht daher ein Anreiz, Reformen durchzu­ führen, die ihre Länder für ausländische Investitionen interessanter ma­ chen. Politische und wirtschaftliche Entwicklungen innerhalb eines Lan­ des beeinflussen die globalen Kapitalströme und umgekehrt. Dies führte zur Entstehung der so genannten „Zwei-Ebenen-Perspektive“, die zuerst von Robert D. Putnam entwickelt und von Andrew Moravcsiks Libera­

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lem Intergouvernementalismus auf die europäische Integration an­ gewendet wurde. Die Regierungen mussten eine „Zwei-­ Ebenen-­ Perspektive“ einnehmen, um im globalen Kapitalspiel zu den „Gewin­ nern“ zu gehören. Auf nationaler Ebene müssen sie Reformen aushandeln, auf internationaler Ebene müssen sie Abkommen aushandeln. Dies ver­ änderte den Rahmen, auf dem der Neofunktionalismus aufbaute.

4.4 Die Obsoleszenz der komplexen Interdependenz? In den 1970er-Jahren erklärte Ernst B. Haas die neofunktionale Theorie aufgrund des Aufkommens „turbulenter Felder“ für „obsolet“ und schlug vor, die Untersuchung der regionalen Integration dem Untersuchungs­ feld der Interdependenz unterzuordnen (Haas, 1976). Moravcsik ver­ suchte, die Schwächen der europäischen Integrationstheorie zu über­ winden, indem er die Europäische Gemeinschaft als ein „Regime zur Steuerung wirtschaftlicher Interdependenz“ definierte (Moravcsik, 2003/1998). Allerdings wird auch Moravcsiks Ansatz obsolet, wie ich im Folgenden zeigen werde, da die wirtschaftliche Untermauerung durch das Konzept der „komplexen Interdependenz“ obsolet wird. Das Konzept der komplexen Interdependenz selbst wurde von Keo­ hane und Nye in den 1970er-Jahren als Alternative zur vorherrschenden realistischen Theorie in den internationalen Beziehungen entwickelt, um die angebliche Dichotomie von „hoher“ und „niedriger“ Politik aufzu­ brechen (Riescher, 2004, S. 258–259). Aufbauend auf Richard N. Coo­ pers Arbeiten zur wirtschaftlichen Interdependenz argumentierten sie, dass komplexe Interdependenzen zwischen Gesellschaften und Staaten durch Folgendes gekennzeichnet sind (Keohane & Nye, 2001, S. 20–24): 1. Vielfältige Kanäle zwischen Gesellschaften: formelle und informelle Verbindungen zwischen Verwaltungen, Eliten und transnationalen Organisationen; 2. Keine Hierarchie zwischen den Themen: geopolitische Erwägungen sind nicht vorherrschend, viele Themen tauchen in verschiedenen

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Bereichen auf und sind miteinander verbunden. Unterschiedliche Koalitionen für unterschiedliche Themen; 3. Irrelevanz der militärischen Gewalt innerhalb einer Region (obwohl sie wichtig sein könnte, wenn es um die Zusammenarbeit mit einem anderen Block geht). Darüber hinaus betont Keohane, dass die Akteure, wenn sie auf inter­ nationaler Ebene verhandeln, im Prinzip unabhängig sind und es keine „weltweite Regierungshierarchie“ zwischen ihnen gibt. Außerdem gibt es keinen „verbindlichen Manger von Ressourcen“ und kein „umfassendes Regelwerk“ (Keohane, 1984). Keohanes Konzept der komplexen Inter­ dependenz beschreibt die Beziehungen zwischen Gesellschaften und Na­ tionen. Dieser Ansatz war – und ist immer noch – wichtig für die Be­ schreibung internationaler Beziehungen seit den 1970er-Jahren. Er er­ klärt, wie Zusammenarbeit in einem anarchischen internationalen System möglich ist (Keohane, 1984, S. 5–6). Ich werde jedoch argumen­ tieren, dass er innerhalb der Europäischen Union oder zumindest inner­ halb der Eurozone weitgehend nicht mehr gültig ist. Moravcsiks Ansatz, die Europäische Gemeinschaft als ein „Regime zur Bewältigung wirtschaftlicher Interdependenz“ zu erklären, ist obsolet geworden. Die Europäische Union hat so viele gemeinsame Institutionen ge­ schaffen, dass die Annahme einer Anarchie zwischen den Staaten nicht mehr zutrifft. In Europa gibt es zweifellos eine Vielzahl von Kanälen und Verbindungen, aber sie werden von einem gemeinsamen institutionellen Rahmen umgeben: der gemeinsame Markt, der von der Europäischen Kommission verwaltet wird, und eine gemeinsame Währungspolitik, die von der Europäischen Zentralbank durchgeführt wird. Die Kanäle und Verbindungen sind also nicht mehr transnational. Darüber hinaus legt der institutionelle Rahmen der Europäischen Union eine klare Hierar­ chie der politischen Themen fest und bestimmt den Entscheidungs­ prozess in Bezug auf diese Themen. Die Annahme einer losen Ver­ knüpfung von Themen innerhalb der Europäischen Union ist daher un­ zureichend. Die dritte Annahme, die Irrelevanz militärischer Gewalt, galt nur bis zum Einmarsch Russlands in der Ukraine im Februar 2022. Außerdem kann man sich fragen, ob es noch möglich ist, die europä­ ischen Staaten als unabhängige Akteure zu betrachten, da sie in einen

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komplexen institutionellen Rahmen eingebettet sind und bereits einen großen Teil ihrer Souveränität auf europäischer Ebene gebündelt haben. Darüber hinaus gibt es innerhalb Europas eine Art Regierungshierarchie (europäisches Recht ist verbindlich, Staaten können mit qualifizierter Mehrheit überstimmt werden usw.) sowie ein umfassendes Regelwerk. Der Gemeinsame Markt kann als „verbindlichen Manger von Ressour­ cen“ angesehen werden. Es ist zu betonen, dass das Konzept der komplexen Interdependenz auch heute noch gültig sein kann, um die internationale Zusammen­ arbeit zu erklären. Es trug dazu bei, die Theorien über internationale Be­ ziehungen in den 1970er-Jahren voranzubringen, als andere Theorien wie der Realismus und der Neofunktionalismus aus der Mode kamen. Das Konzept war nützlich, um zu erklären, warum und wie die europä­ ischen Staaten seit dem Zweiten Weltkrieg Schritt für Schritt europäische Institutionen geschaffen haben. Moravcsiks Argument, dass die Europä­ ische Gemeinschaft ein Regime ist, das die wirtschaftliche Interdependenz steuern soll, mag bis in die 1990er-Jahre Gültigkeit gehabt haben. Mit der Schaffung eines gemeinsamen Marktes und einer gemeinsamen Wäh­ rung ist jedoch auch Moravcsiks liberaler Intergouvernementalismus obsolet geworden. Neue Ansätze wie das Regieren auf mehreren Ebenen ver­ suchen, der neuen Situation gerecht zu werden, indem sie die geschaffenen europäischen Institutionen als gegebene Tatsache betrachten. Die Theo­ rien müssen jedoch detaillierter ausgearbeitet werden, und mein grund­ legendes Argument ist, dass der Ausgangspunkt für die Erklärung der europäischen Integration nicht die Interdependenz sein sollte, sondern ein umfassendes Verständnis der externen Effekte in einem gemeinsamen Markt- und Währungssystem. Die Konzepte der komplexen Interdependenz und der externen Effekte sind nicht notwendigerweise widersprüchlich. Das Gegenteil ist der Fall: Keohane hat versucht, die strikten Annahmen der realistischen Theorie durch die Integration von makroökonomischen Annahmen zu öffnen (siehe insbesondere seine Arbeit über „Macht und Interdependenz“ Keo­ hane & Nye, 2001). Staaten werden als rationale Akteure betrachtet, und die wirtschaftliche Integration verursacht einen großen Teil der vielfältigen Kanäle zwischen Gesellschaften. Der wichtige konzeptionelle Unterschied zwischen den beiden Konzepten liegt in dem Rahmen, in den sie ein­

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gebettet sind: Während die komplexe Interdependenz dazu beitragen kann, die Zusammenarbeit in einem anarchischen (internationalen) Um­ feld zu erklären, macht das Konzept der Externalität in seiner strengen wirtschaftlichen Bedeutung nur dann Sinn, wenn bereits ein gemeinsamer Markt für alle Teilnehmer besteht. Gemeinsame Institutionen sind not­ wendig, um mit den Problemen dieser Externalitäten umzugehen.

4.5 Interdependenz der nationalen Marktsysteme Die Theorie der (wirtschaftlichen) Interdependenz wurde angewandt, um die Beziehungen zwischen einzelnen Akteuren innerhalb eines natio­ nalen Wirtschaftssystems sowie die Beziehungen zwischen zwei (oder mehr) Wirtschaftssystemen als Ganzes zu beschreiben. Innerhalb eines nationalen Wirtschaftssystems bezeichnet die wirtschaftliche Inter­ dependenz „die Tatsache, dass Individuen bei der Arbeitsteilung von an­ deren abhängig sind, um alle oder die meisten der Güter zu produzieren, die sie für ihr Leben benötigen“ (Oxford Reference, 2016). Er bezieht sich auf die Tatsache, dass Individuen in einer modernen Marktgesell­ schaft radikal voneinander abhängig sind. Diese Phänomene wurden von Simmel (1900) und Polanyi (1957/1944) erklärt. Das von Nye und Keohane entwickelte Konzept der komplexen Inter­ dependenz oder das von Cooper entwickelte Konzept der wirtschaftlichen Interdependenz befasst sich mit den Beziehungen zwischen Nationen oder Gesellschaften als Ganzes. Volkswirtschaften werden im Allgemeinen als „geschlossene“ Volkswirtschaften betrachtet, die sich durch Handelsund Investitionsabkommen für andere Nationen öffnen können. Die da­ raus resultierenden Wirtschaftsbeziehungen können zu wirtschaftlicher Interdependenz führen. Cooper betont, dass der Grad der Interdependenz an der „Empfindlichkeit der wirtschaftlichen Transaktionen zwischen zwei oder mehr Nationen gegenüber den wirtschaftlichen Entwicklungen innerhalb dieser Nationen“ (Cooper, 1972, S.  159) gemessen werden sollte, wie wir in Abschn. 4.2 gesehen haben. Für Cooper ist daher nicht der tatsächliche Betrag (in Dollar oder in absoluten Zahlen) des Aus­ tauschs zwischen zwei Ländern wichtig, sondern vielmehr der Grad

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(„Sensibilität“) der wirtschaftlichen Anpassung, die die Veränderung in einem Land für die Wirtschaft eines anderen Landes bewirkt. Die Inter­ dependenz wirkt sich insbesondere auf die Fähigkeit der nationalen Re­ gierungen aus, nationale Politiken durchzuführen (Cooper, 1986, S. 292–293). Kenneth Waltz definierte Interdependenz als die Tatsache, dass eine positive Beziehung zwischen zwei Akteuren besteht und dass die Unterbrechung dieser Beziehung für beide Seiten Kosten verursacht. Außerdem argumentierte er, dass die Interdependenz hoch ist, wenn die betroffenen Einheiten ungleich und gleich leistungsfähig sind (Rosen­ crance & Stein, 1973, S. 3–4). Karl W. Deutsch definierte Interdependenz als „ineinandergreifende Beziehungen“, die durch ein hohes Maß an „Arbeitsteilung“ zwischen „hochspezialisierten“, aber politisch getrennten Einheiten verursacht werden (zitiert nach Baldwin, 1980, S. 485). Alle vier Definitionen der Interdependenz gehen davon aus, dass zwei unterschiedliche Systeme existieren, die sich gegenseitig beeinflussen. Der Einfluss von System A auf System B ist für System B „extern“; es kann die Entwicklungen in System A nicht direkt beeinflussen. Ent­ wicklungen in System A sind daher eine Externalität für System B. Ein wichtiges Merkmal der Interdependenz zwischen zwei getrennten Syste­ men ist, dass die Anpassung an einen externen Schock (eine von System A verursachte Veränderung mit Einfluss auf System B) innerhalb von Sys­ tem B stattfindet. Es sind also zwei verschiedene Anpassungssysteme mit zwei verschiedenen Marktmechanismen und Rechnungseinheiten am Werk. Die entscheidende Frage ist nun: Wann kann man noch von Inter­ dependenz zwischen zwei Wirtschaftssystemen sprechen und wann muss man von einem gemeinsamen System mit klassischen Externalitätspro­ blemen zwischen den Akteuren des Systems sprechen?

4.6 Externalitäten eines gemeinsamen europäischen Marktes? Ein wichtiges Indiz, um zu prüfen, ob ein gemeinsames System mit klas­ sischen Externalitätsproblemen besteht, könnte die Unterscheidung zwi­ schen technologischen und pekuniären Externalitäten sein. Bereits Bator

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hatte darauf hingewiesen, dass das Marshall-Pigou-­Externalitätskonzept nicht frei von Mehrdeutigkeiten ist. Es ist nicht ganz klar, wie die Aus­ weitung des Outputs der Industrie die Kostenkurven der einzelnen Kom­ ponenten nach unten verschiebt. Es besteht ein Dilemma: Während die externe Ökonomie das Wettbewerbsprinzip aufrechterhält (p  =  MC), untergräbt sie „die Wirksamkeit der ‚unsichtbaren Hand‘ zur Lenkung der Produktion“; Über- oder Unterproduktion sind die Folge, und ein staatliches Eingreifen wäre erforderlich (Bator, 1958, S. 356–358). Eine Lösung des Problems wurde von Jacob Viner vorgeschlagen, der zum ersten Mal zwischen pekuniären und technologischen Externalitäten unterschied (Viner, 1953/1931). Pigous Definition umfasste nur „physi­ sche Dinge oder objektive Dienstleistungen“, d. h. „reale“ Ressourcen, die von der Externalität betroffen sind. In seiner bahnbrechenden Arbeit definierte Viner technologische oder „reale“ Externalitäten als solche, die eine Verschiebung der Produktionsfunktion durch Änderung des techno­ logischen Koeffizienten verursachen und somit eine Fehlallokation von Ressourcen bewirken können. Pekuniäre Externalitäten sind Externalitä­ ten, die durch eine Änderung der Marktpreise für Inputfaktoren der Produktionsfunktion verursacht werden (Viner, 1953/1931, S.  213). Eine pekuniäre Externalität (oder pekuniäre Außenwirtschaft) könnte der Anstieg des Preises des Inputfaktors Soja oder Raps für die Lebens­ mittelindustrie sein, der durch die steigende Nachfrage nach Biokraft­ stoff verursacht wird. Finanzielle Externalitäten sind keine „echten“ Externalitäten, denn sie führen nicht zu einer Fehlallokation von realen Ressourcen. Sie folgen der Logik und den Prinzipien des Marktes (wenn vollständige und wett­ bewerbsfähige Märkte existieren). Pekuniäre Externalitäten erfordern kein Eingreifen des Staates, z. B. in Form einer Pigouv'schen Steuer. Der anfängliche „Schock“, der Anstieg der Nachfrage nach Biokraftstoff, könnte jedoch durch eine andere pekuniäre oder technologische/reale Externalität verursacht werden. Mishan kritisiert, dass, da pekuniäre Externalitäten bereits in der De­ finition eines Wirtschaftssystems (eines Marktes) selbst impliziert sind, Viners Differenzierung daher eher eine „verbale Extravaganz“ ist (Mis­ han, 1971, S. 6). Die Unterscheidung zwischen pekuniären und realen Externalitäten spielt jedoch beispielsweise in der Euro-Krise eine wich­

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tige Rolle. Durch die Schaffung europäischer Märkte (insbesondere Kapitalmärkte) können pekuniäre Externalitäten europaweit weiter­ gegeben werden. Dennoch sollte nicht vergessen werden, dass der ur­ sprüngliche externe Schock, der die pekuniären Externalitäten verursacht hat, tatsächlich eine reale Externalität war. Zum Beispiel könnten stei­ gende Risikoprämien auf Staatsanleihen eine pekuniäre Externalität sein. Die ursprüngliche Ursache, der Konkurs mehrerer Banken, könnte je­ doch immer noch eine reale Externalität sein. Pekuniäre Externalitäten können helfen, zwischen den Konzepten der wirtschaftlichen Interdependenz und den wirtschaftlichen Externalitäten eines Marktsystems zu unterscheiden. Wenn sich Veränderungen in der Region A nur durch pekuniäre Externalitäten auf die Region B aus­ wirken, dann müssen wir von einem gemeinsamen Wirtschaftssystem mit gemeinsamen Anpassungsmechanismen sprechen. Es kann immer noch externe Schocks von außerhalb der Regionen A und B geben, aber die Schocks innerhalb der beiden Regionen werden durch ein ge­ meinsames Marktsystem ausgeglichen. Anpassungsprobleme müssen als externe Effekte innerhalb des gemeinsamen Marktsystems betrach­ tet werden.

4.7 Kritik des liberalen Ansatzes zur Lösung von Interdependenzen Frank Schimmelfennig zufolge kann der liberale Intergouverne­ mentalismus als „parsimonische Theorie“ bezeichnet werden, die sich in einigen wenigen allgemeinen Sätzen zusammenfassen lässt, die den Kern der europäischen Integration erklären sollen. Eingängig, aber dennoch auf allgemeinen Theorien der europäischen Integration aufbauend, wurde der LI zu einer „Basistheorie, an der neue theoretische Vermutungen ge­ testet werden“ (Schimmelpfennig, 2004, S.  75). Wissenschaftler wie Ernst B.  Haas haben auch festgestellt, dass LI eigentlich keine neuen theoretischen Erkenntnisse enthält. Die Kernannahmen sind die gleichen wie im Neofunktionalismus (Schmitter, 2004, S. 72, N. 2). Fritz Scharpf stellt fest, dass Moravcsiks empirische Beispiele, die er zur Überprüfung

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seiner Theorie heranzieht, stark verzerrt sind: Es handelt sich durchweg um zwischenstaatliche Verhandlungen (von Messina bis Maastricht), die Einstimmigkeit erfordern und alle die wirtschaftliche Integration zum Gegenstand haben. Das Ergebnis (nationale wirtschaftliche Präferenzen und Verhandlungsmacht bestimmen die europäische Integration) ist daher nicht überraschend (Bache & George, 2011, S. 14). Dennoch kann der LI als eine Weiterentwicklung der europäischen Integrationstheorie nach den dramatischen weltwirtschaftlichen und politischen Veränderungen in den 1970er-Jahren gesehen werden. Haas und die Funktionalisten hatten bereits erkannt, dass die Grundannahmen des Neofunktionalismus durch die neuen Phänomene der wirtschaft­ lichen Interdependenz untergraben wurden. Moravcsik nutzte die von der internationalen politischen Ökonomie entwickelten Instrumente, um die europäische Integrationstheorie zu aktualisieren und eine neue Erklärung für die europäische Integration zu liefern. Sein methodischer Rahmen bringt jedoch mehrere Probleme mit sich. Moravcsik hat bereits selbst darauf hingewiesen, dass politische Öko­ nomie nicht dasselbe ist wie die Wirtschaftswissenschaften an sich (Mo­ ravcsik, 2003/1998, S. 3). Seine Argumentation geht davon aus, dass na­ tionale Akteure sich gemäß „ökonomischer Rationalität“ verhalten und versuchen, ihre nationalen Gewinne in einem zwischenstaatlichen Ver­ handlungsprozess zu maximieren, wobei sie feste wirtschaftliche Präfe­ renzen haben. Moravcsik erklärt also die ökonomische Rationalität der nationalen Akteure, aber er erklärt nicht immer die zugrundeliegenden wirtschaftlichen Probleme der europäischen Integration im Detail. So er­ klärt er beispielsweise nicht, woher die zunehmende wirtschaftliche Ver­ flechtung eigentlich kommt. Der eigentliche Wendepunkt für die euro­ päische Integration war das Ende des Bretton-Woods-Abkommens und der Kapitalverkehrskontrollen. Beide Institutionen waren ursprünglich eingeführt worden, um externe Probleme zu lösen, die durch Kapital­ bewegungen in der Zwischenkriegszeit entstanden waren. Mit dem Ende des Bretton-Woods-Abkommens musste Europa neue Lösungen für diese Probleme finden (siehe Kap. 8 und 9 über die monetäre Integration und den gemeinsamen Kapitalmarkt). Darüber hinaus scheint die Annahme zwischenstaatlicher Ver­ handlungen zwischen den Vertretern verschiedener Volkswirtschaften,

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die versuchen, Interdependenzprobleme zwischen diesen Staaten zu lösen, selbst obsolet geworden zu sein. Die Annahme voneinander ab­ hängiger Volkswirtschaften mag auf den ersten drei Stufen der Balas­ sa'schen Hierarchie der wirtschaftlichen Integration gültig sein (d. h. in einer Präferenzhandelszone, einer Freihandelszone und einer Zollunion), aber in einem gemeinsamen Markt, insbesondere in einer Kapitalmarkt­ union, ist sie nicht mehr sinnvoll. Interdependenz kann es nur zwischen zwei  – im Allgemeinen  – getrennten Systemen geben. Der Begriff der wirtschaftlichen Interdependenz setzt voraus, dass zwei unterschiedliche Preis- und Lohnsysteme – mit zwei unterschiedlichen Zinssätzen – exis­ tieren und sich gegenseitig beeinflussen. Nur wenn zwei Preis- und Lohn­ systeme als getrennt betrachtet werden, macht es Sinn, von „wirtschaft­ licher Interdependenz“ und „internationalen politischen Externalitäten“ zwischen diesen beiden Ländern zu sprechen. Mit der Einführung des Euro – der ein einheitliches Währungssystem bedeutet – macht es mehr Sinn, wirtschaftliche Probleme als europaweite Externalitätsprobleme zu definieren. Die Interdependenzen des Kapitalverkehrs wurden zu Externalitäten eines europäischen Kapitalmarktes, wie ich in Kap. 9 zeigen werde. Darüber hinaus muss Moravcsiks Ansicht, dass die europäische Inte­ gration hauptsächlich durch wirtschaftliche Interessen erklärt werden kann, kritisch hinterfragt werden. Wirtschaftliche Anreize spielen in der Tat eine wichtige Rolle bei der Erklärung des Verlaufs der europäischen Integration. Sie können jedoch nicht hinreichend erklären, warum die europäische Integration überhaupt begonnen hat. Wie wir in Abschn. 3.2.1 gesehen haben, sah Jean Monnet die (geopolitische) Archi­ tektur, die von den USA als „free lunch“ angeboten wurde, als Voraus­ setzung für seine Methode der wirtschaftlichen europäischen Integration. Die Hauptmotivation für die Schuman-Erklärung (auf die Moravcsik nicht näher eingeht) waren geopolitische und nicht wirtschaftliche Über­ legungen. Der Hauptanreiz für die Schaffung europäischer Institutionen war (und ist, wie ich darlegen werde, immer noch) die Vermeidung einer (deutschen) wirtschaftlichen Dominanz. Eine allgemeine Theorie der europäischen Integration muss daher auch die Rolle von Sicherheitsex­ ternalitäten und die Furcht vor Dominanz berücksichtigen. Die liberale Annahme, feste wirtschaftliche Präferenzen zu maximie­ ren, muss daher durch ein anderes Paradigma ersetzt werden, das die

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Furcht vor Dominanz berücksichtigt. In der politischen Philosophie wird das Gegenargument zum Liberalismus vom Republikanismus geliefert. Besson und Martì haben darauf hingewiesen, dass liberale Theorien (so­ wohl in der politischen Theorie als auch in der Ökonomie) davon aus­ gehen, dass die Präferenzen feststehen und ein Akteur (der homo oecono­ micus oder die nationale Regierung) diese Präferenzen lediglich maxi­ miert. Der Republikanismus hingegen geht davon aus, dass die Präferenzen durch die Interaktion zwischen den Bürgern verändert wer­ den können, beispielsweise durch öffentliche Debatten und einen offe­ nen, transparenten Entscheidungsfindungsprozess usw. (Besson & Marti, 2015). Durch diesen Prozess entwickeln die Bürgerinnen und Bürger Ge­ setze, die es ermöglichen, gemeinsame Probleme zu lösen und die Be­ herrschung durch andere Individuen zu vermeiden. Der republikanische Ansatz ist daher auch näher an Monnets Idee, die Externalitäten der europäischen Länder zu „verschmelzen“, anstatt sie durch Maximierung des Nutzens jedes einzelnen europäischen Landes zu lösen und von festen Präferenzen dieser Länder auszugehen.

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5 Wie lassen sich die Probleme der EI-Theorie lösen?

In den vorangegangenen Kapiteln habe ich drei große Theorien der europäischen Integration vorgestellt und ihre größten Schwächen beschrieben. In diesem Kapitel werde ich zunächst einige neuere Theorien vorstellen, die auf die eine oder andere Weise versucht haben, die Probleme der europäischen Integrationstheorie anzugehen. Anschließend werde ich einige Schlussfolgerungen ziehen. Im nächsten Teil dieses Buches werde ich den europäischen Republikanismus und insbesondere Collignons Ansatz einer res publica öffentlicher Güter vorstellen und erläutern, inwieweit dieser Ansatz in der Lage ist, die gegenwärtigen Unzulänglichkeiten der europäischen Integrationstheorie zu beheben.

5.1 Multilevel-Governance Multi-Level-Governance (MLG) ist ein recht junger Ansatz der europä­ ischen Integration. Die Gründer des MLG-Ansatzes sind Gary Marks und Lisbet Hooghe. MLG verfolgt zwei Hauptziele. Erstens versucht der Ansatz, den Gegensatz zwischen supranationalen (oder zumindest neofunktionalen) und intergouvernementalen (LI) Theorien zu überwinden. © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Nature Switzerland AG 2023 T. Zimmermann, Europäischer Republikanismus, https://doi.org/10.1007/978-3-031-44091-5_5

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Marks argumentiert, dass der Intergouvernementalismus zu sehr auf Vertragsverhandlungen fokussiert ist, was die Rolle der Mitgliedsstaaten überbetont. Die europäische Integration, insbesondere der Aufbau europäischer Institutionen, findet jedoch auch in alltäglichen Entscheidungsprozessen statt. Die Akteure beschließen allmählich, Entscheidungsprozesse zu bündeln oder an andere Regierungsebenen zu delegieren. Das MLG unterstreicht, dass die Verlagerung des Entscheidungsprozesses nicht nur von der nationalen auf eine supranationale Ebene, sondern auch von der nationalen auf die subnationale Ebene erfolgt (Marks, 1993). Marks argumentiert daher, dass es sinnvoller ist, die europäische Integration im Sinne der MLG zu analysieren als: „ein System ständiger Verhandlungen zwischen verzahnten Regierungen auf verschiedenen territorialen Ebenen – supranational, national, regional und lokal – als Ergebnis eines umfassenden Prozesses der Schaffung von Institutionen und der Umverteilung von Entscheidungen, der einige zuvor zentralisierte Funktionen des Staates auf die supranationale Ebene und einige auf die lokale/regionale Ebene verlagert hat“ (Marks, 1993, S. 391–392).

Marks und Hooghe stellen den von Robert D. Putnam und Andrew Moravcsik entwickelten Rahmen des „Zwei-Ebenen-Spiels“ in Frage. Sie argumentieren, dass insbesondere seit der Anpassung der Einheitlichen Europäischen Akte (EEA) und des Vertrags von Maastricht „die Entscheidungsbefugnisse von Akteuren auf verschiedenen Ebenen geteilt werden, anstatt von staatlichen Führungskräften monopolisiert zu werden“, dass diese „kollektive Entscheidungsfindung zwischen den Staaten einen erheblichen Kontrollverlust für einzelne staatliche Führungskräfte mit sich bringt“ und dass die politischen Arenen miteinander verbunden sind, so dass subnationale Akteure auch in nationalen und supranationalen Arenen agieren können (Marks, 1996, S. 346). Marks und Hooghe haben versucht, die Einflüsse der internationalen Beziehungen in der EI-Theorie zu eliminieren und die Europäische Union eher von innen heraus als eine gegebene Institution zur Lösung politischer Probleme zu sehen und nicht als eine internationale Organisation, die von souveränen Mitgliedsstaaten geschaffen wurde. Ihr Ansatz hilft daher, die Logik der Nationalstaaten in der europäischen Integrationstheorie zu

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überwinden. Dies ermöglicht es, die Interaktion zwischen europäischen Institutionen, Mitgliedstaaten, subnationalen Behörden und nichtstaatlichen Akteuren zu analysieren, ohne sich zu sehr mit Fragen der Souveränität zu befassen. Sie versuchen daher, die EU eher als eine nationale Institution denn als eine internationale Organisation zu analysieren. Gary Marks sieht sein MLG-Modell entsprechend als Gegenmodell zum Intergouvernementalismus: „Anstelle der von den Staatszentristen angenommenen Zwei-Ebenen-­ Spiele gehen die MLG-Theoretiker von einer Reihe übergreifender, mehrstufiger Politiknetzwerke aus. Die Annahme der Multi-Level-Governance ist, dass diese Akteure an verschiedenen politischen Netzwerken teilnehmen, und dies kann subnationale Akteure  – Interessengruppen und subnationale Regierungen – einschließen, die direkt mit supranationalen Akteuren verhandeln.“ (Marks et al., 1996, S. 167)

Die MLG bot in der Tat eine starke Alternative zu den zunehmenden zwischenstaatlichen Interpretationen der europäischen Integration. Sie erfreute sich daher zunehmender Beliebtheit unter den Wissenschaftlern. Es muss jedoch angemerkt werden, dass es schwierig ist, die MLG als Theorie der europäischen Integration zu bezeichnen. Sogar Marks selbst erklärte, er glaube, dass „wir Zeugen der Entstehung von Multi-Level-­ Governance in der Europäischen Gemeinschaft sind“ (Marks, 1993, S.  407, Hervorhebung hinzugefügt). Er stellt fest, dass dieser Prozess stattfindet, macht aber kaum Vorschläge, warum dies so ist. MLG argumentiert vielmehr, dass seit der Anpassung der EEA und des Vertrags von Maastricht die Entscheidungsprozesse auf mehrere Ebenen verteilt wurden und Mehrheitsentscheidungen in vielen Politikbereichen die einstimmige Beschlussfassung ersetzten. Aber warum haben sich die Regierungen dafür entschieden? Hooghe und Marks stellen hier einfach fest (in Übereinstimmung mit Moravcsik), dass es den Regierungen vor allem darum geht, die Kontrolle über die politischen Prozesse zurückzugewinnen (Hooghe & Marks, 2001, S. 5). Die MLG bietet daher ein interessantes Instrumentarium, um zu verstehen, wie die Europäische Union heute funktioniert. Sie hilft dabei, die Blockade zwischen europäischer Integration und Problemen der nationa-

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len Souveränität zu überwinden, da sie Fragen der Souveränität umgeht. Da es jedoch kein kohärentes wirtschaftliches Fundament und keine kohärente Vorstellung davon entwickelt, wohin Europa führen soll, hatte es zum Beispiel Schwierigkeiten, die Ursprünge der Eurokrise zu erklären und mögliche Lösungen zu beschreiben. Es könnte daher sinnvoll sein, die MLG um ein wirtschaftliches Fundament und ein klares Paradigma des europäischen Regierens zu erweitern.

5.2 Neuer Institutionalismus Der Institutionalismus selbst geht auf die Arbeiten von Max Weber zurück, der die Beziehungen zwischen Individuum, Gesellschaft und Institutionen beschrieb. In den 1970er-Jahren erlebte er ein Comeback und wurde als „neuer Institutionalismus“ bezeichnet. Hall und Taylor unterscheiden zwischen drei Zweigen des Institutionalismus, die seit den 1970er-Jahren entstanden sind: dem soziologischen Institutionalismus, dem Rational-Choice-Institutionalismus und dem historischen Institutionalismus (Hall & Taylor, 1996). Die beiden letztgenannten sind für die Theorie der europäischen Integration von besonderer Bedeutung. Der Rational-Choice-Institutionalismus versucht – aufbauend auf dem Prinzipal-Agent-Modell  – zu erklären, wie Mehrheitsentscheidungen durch den institutionellen Rahmen beeinflusst werden. Er wurde zuerst von Shepsle entwickelt, um die politischen Ergebnisse des US-­Kongresses zu erklären (Shepsle, 1979, 1986). Dieses Modell wurde dann von Pollack (1996), Garrett und Tsebelis (1996) und Fritz Scharpf und seiner „gemeinsamen Entscheidungsfalle“ (Scharpf, 1988) auf die europäische Integration angewendet. Auch Moravcsik (2003/1998) und Majone (2001) haben ihre Theorien auf den rationalistischen Annahmen des neuen institutionalistischen Ansatzes aufgebaut. Der Rational-Choice-Ansatz des neuen Institutionalismus lieferte leistungsfähige Instrumente, um zu erklären, wie die Entscheidungsfindung in einem komplexen institutionellen Rahmen wie der Europä­ ischen Union funktioniert. Diese Instrumente wurden jedoch ursprünglich entwickelt, um die politischen Ergebnisse einer bereits vollwertigen föderalen Institution zu erklären: dem US-Kongress. Die Ratio-

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nal-Choice-Theorie kann daher viel darüber aussagen, wie Institutionen handeln; sie sagt jedoch wenig darüber aus, wie Institutionen gestaltet werden sollten oder wie Europa eine politische Union entwickeln kann. Der historische Institutionalismus, der zweite Zweig dieser Theoriefamilie, wurde entwickelt, um die funktionalistische und RationalChoice-Annahme in Frage zu stellen, dass Institutionen bewusst von rationalen Akteuren gestaltet werden (Pollack, 2009, S. 127). Historische Institutionalisten, wie Pierson (1996), argumentieren, dass die Entscheidungsfindung durch historische Hinterlassenschaften beeinflusst werden kann. Daher können Akteure durch Entscheidungen, die in der Vergangenheit getroffen wurden, „eingesperrt“ werden. Da Institutionen „träge“ sind, können einmal festgelegte Rahmenbedingungen das zukünftige Verhalten von Politikern zu bestimmen. Politische Prozesse sind daher pfadabhängig (Pollack, 2009, S. 127). Beispielsweise machte es die Entscheidung zur Einführung des Euro den Politikern während der Eurokrise schwer, andere Währungssysteme überhaupt als Option in Betracht zu ziehen, da sie an die Institution Euro gebunden sind. Außerdem machte es die Entscheidung, die „No-Bail-out“-Klausel in den Maastrichter Vertrag aufzunehmen, den Politikern in der Eurokrise schwer, auf eine Fiskalunion hinzuarbeiten. Die Politiker sind also zwischen zwei Entscheidungen aus der Vergangenheit gefangen, die nun im Widerspruch zueinander stehen. Ein anderes, allgemeineres Beispiel: Die Einführung der Institutionen „Nationalstaat“ und Souveränität vor 200 Jahren macht es heute schwierig, eine europäische politische Union zu entwickeln, da die Entscheidungsträger heute an die nationalen politischen Institutionen „gebunden“ sind. Einer der vielversprechendsten Ansätze zur Erneuerung der EI-Theorie ist der „ökonomische Zweig“ des Institutionalismus, der seit den 1970er-­ Jahren entstanden ist, insbesondere nach Ronald Coases einflussreichem Artikel „The Problem of Social Costs“ (1960). Die so genannte „neue Institutionenökonomie“ erklärt, wie Institutionen zur Lösung von Externalitätsproblemen genutzt werden können. Coase argumentiert, dass Externalitätsprobleme durch die Einführung von Eigentumsrechten und die Umwandlung von Externalitäten in private Güter gelöst werden können, die dann einer Gewinn- oder Nutzenfunktion zugeordnet und durch Marktmechanismen gelöst werden können. Die Theorie von Coase er-

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klärt, wie externe Effekte und Konflikte in ein Marktsystem integriert werden können. Die Regierung sollte ihre Intervention bei der Durchsetzung dieser Eigentumsrechte begrenzen. Coase vertrat die Auffassung, dass es keine Rolle spielt, wer die Eigentumsrechte zu Beginn erhält. Die Marktkräfte werden in jedem Fall zu einer pareto-effizienten (wenn auch nicht unbedingt „gerechten“, je nachdem wie „gerecht“ definiert wird) Lösung kommen. Im Allgemeinen kann Coases Ansatz dazu beitragen, eine Brücke zwischen den wirtschafts- und politikwissenschaftlichen Theorien der europäischen Integration zu schlagen, indem er die Beziehung zwischen Wirtschaft und Institutionenaufbau erklärt. Bislang wurde die „neue Institutionenökonomie“ jedoch noch nicht umfassend auf die europäische Integration angewandt. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass der soziale Institutionalismus in Kombination mit dem sozialen Konstruktivismus einen wichtigen Einfluss auf die Theorie der europäischen Integration haben könnte, wie ich im nächsten Abschnitt zeigen werde.

5.3 Sozialer Konstruktivismus und europäische Integration Der soziale Konstruktivismus ist einer der jüngsten, aber auch vielversprechendsten Ansätze der europäischen Integrationstheorie. Ähnlich wie bei der Multi-Level-Governance handelt es sich nicht um eine eigenständige Integrationstheorie, oder zumindest hat bis heute niemand eine kohärente konstruktivistische Theorie der europäischen Integration entwickelt. Allerdings haben Konstruktivisten im letzten Jahrzehnt wichtige Beiträge formuliert, die dazu beitragen könnten, Schwächen und Blockaden aktueller Theorien der EI zu überwinden. Der soziale Konstruktivismus behauptet, dass es neben der materiellen, physischen Realität eine soziale Realität gibt, die auf sozialen Tatsachen beruht, die nur aufgrund menschlicher Übereinkunft Tatsachen sind. Mit anderen Worten: Diese Fakten „existieren nur, weil wir glauben, dass sie existieren“ (Searle, 1996, S. 1). Beispiele sind Geld, Ehen, Nationen – oder die Europäische Union. Das besondere Merkmal sozia-

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ler Tatsachen ist, dass diese Tatsachen zwar von unserem Geist sozial konstruiert werden, aber dennoch „objektive“ Tatsachen sind, auf die sich alle einigen können. John Searle formulierte die Frage, die der Kon­ struktivismus aufwirft, wie folgt: „Wie kann es eine objektive Welt des Geldes, des Eigentums, der Ehe, der Regierungen, der Wahlen, der Fußballspiele, der Cocktailpartys und der Gerichte in einer Welt geben, die ausschließlich aus physischen Teilchen in Kraftfeldern besteht, und in der einige dieser Teilchen in Systemen organisiert sind, die bewusste biologische Wesen sind, wie wir selbst?“ (Searle, 1996, S. xii)

Der Konstruktivismus analysiert, wie diese sozialen Ontologien als Normen, Institutionen oder Praktiken entstehen – und wie sie verändert werden können. Nach Searle gibt es drei Elemente, die für die Konstruktion der sozialen Realität erforderlich sind: die Zuweisung einer Funktion, kollektive Intentionalität und konstitutive Regeln. Nach Searle ist ein Stuhl eine „Sitzgelegenheit“, weil unser Geist dem Stuhl diese Funktion zugewiesen hat. Der (materielle) Stuhl selbst hat diese Funktion nicht von Natur aus (Searle, 1996, S. 13–14). Searle definiert kollektive Intentionalität als die „primitive“ Fähigkeit von Menschen (und vielen Tieren), „intentionale Zustände wie Überzeugungen, Wünsche und Absichten zu teilen“ (Searle, 1996, S. 23). Konstitutive Regeln sind Regeln, die das eigentliche Wesen einer Institution definieren. Die Regel, dass Fußball mit einem Ball gespielt werden sollte, ist eine solche Regel, denn wenn es sie nicht gäbe, wäre das Spiel kein Fußball. Der Konstruktivismus wurde von Wendt (1992) in die Theorie der internationalen Beziehungen eingeführt, um eine Alternative zu liberalen und realistischen Ansätzen zu bieten, die sich zu sehr auf materialistische und individualistische Motivationen konzentrierten, anstatt die Ursprünge von Normen und gemeinsamen Werten zu analysieren. Der soziale Konstruktivismus wurde von Christiansen et  al. (2001) zur Erklärung der europäischen Integration herangezogen. Sie argumentierten, dass der Konstruktivismus dazu beitragen kann, den engen theoretischen Rahmen des Intergouvernementalismus zu überwinden oder Phänomene

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wie die „Verschiebung von Loyalitäten“ zu erklären, die den Spillover-Effekt im Neofunktionalismus ausmachen (Risse, 2004, S. 162). Sie kann die europäische Integration erklären, ohne tief in die Probleme der Souveränität vorzudringen. Die Auffassung, dass unsere soziale Wirklichkeit im Wesentlichen durch menschliche Übereinkunft geschaffen wird, erlaubt es, auch die drastischsten Veränderungen der sozialen Wirklichkeit denkbar zu machen. Darüber hinaus bietet der Konstruktivismus einige leistungsfähige In­ strumente zur Erklärung (und vielleicht zur Lösung) des Identitätsproblems der europäischen Integration. Er ist in der Lage zu erklären, wie nationale Identitäten entstanden sind und wie sie durch eine europäische Identität überwunden oder ergänzt werden könnten. Diskursive Ansätze und die Sprachphilosophie spielen dabei eine wichtige Rolle. Der Sozialkonstruktivismus könnte daher helfen zu erklären, wie europäische soziale Institutionen wie der Euro, die Unionsbürgerschaft oder das Erasmus-Programm zur Schaffung einer europäischen Identität beitragen können. Der Konstruktivismus ist ein erfrischender Ansatz für die europäische Integration, da er ohne jegliche Annahmen über wirtschaftliche oder politische Rationalitäten auskommt. Allerdings haben die Sozialkonstruktivisten bisher kein kohärentes Modell dafür vorgelegt, wie die wirtschaftliche Integration (d. h. hier die zunehmende direkte wirtschaftliche Interaktion zwischen europäischen Individuen) zur Schaffung einer europäischen kollektiven Intentionalität, europäischer Institutionen und einer europäischen Identität beiträgt. In Abschn.  7.4 werde ich, aufbauend auf dem Sozialkonstruktivismus, eine Methode entwickeln, um europäische öffentliche Güter zu definieren und eine europäische Governance zu legitimieren.

5.4 Europäische öffentliche Güter Das Konzept der europäischen öffentlichen Güter wurde in den letzten 20 Jahren entwickelt. Die Diskussion entstand hauptsächlich im Zusammenhang mit der Debatte über den europäischen Haushalt, ins-

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besondere seit der Anpassung der Einheitlichen Europäischen Akte (EEA) in den 1980er-Jahren.

5.4.1 Die Diskussion über europäische öffentliche Güter seit der EEA Die Debatte über europäische öffentliche Güter kam mit den Verhandlungen über die Einheitliche Europäische Akte (EEA) auf, da diese einige wichtige Änderungen für die Struktur des europäischen Haushalts mit sich brachte. Vor der EEA bestand die Einnahmeseite des Haushalts eines Systems aus „Eigenmitteln“ für die EU (insbesondere Zölle, Agrarabschöpfungen und Mehrwertsteuerbeiträge), um „einen ‚föderalen Charakter‘ zu entwickeln, der darauf abzielt, das supranationale Element der Gemeinschaft zu stärken“ (Enderlein et al., 2005, S. 14). Die Ausgaben stiegen jedoch mit der Verabschiedung der EEA und sollten mit dem Vertrag von Maastricht noch weiter steigen. Infolgedessen wurde mit dem Delors-I-Paket eine neue „intergouvernementale“ Einnahme eingeführt, in Form eines Prozentsatzes des Bruttosozialprodukts (BSP), der heute die dominierende Einnahmequelle des EU-Haushalts ist (Enderlein et al., 2005, S. 14). Seit den 1980er-­Jahren wurde das System der Eigenmittel schrittweise durch direkte Transfers der Mitgliedstaaten ersetzt, wodurch sich der supranationale Charakter des EU-Haushalts in einen stärker intergouvernementalen verwandelte. Außerdem wurde mit dem Delors-I-Paket der mehrjährige Rahmen eingeführt, der den Mitgliedstaaten mehr Verhandlungsbefugnisse einräumte. Die Beiträge der Mitgliedstaaten wurden auf 1,24 % des nationalen BSP begrenzt (heute liegen sie bei etwa 1 %) und der EU-Haushalt musste jederzeit ausgeglichen sein (Enderlein et al., 2005, S. 14). Die EU darf also keine Schulden machen. Steigende Ausgaben müssen letztlich durch nationale Beiträge und damit durch nationale Schulden finanziert werden (wenn der Mitgliedsstaat keine Überschüsse erwirtschaftet). Der Mehrjahresrahmen sollte den zunehmenden Konflikt zwischen dem Rat und dem Europäischen Parlament beenden. Er verbindet die Einnahmen- und Ausgabenseite, um einen ausgeglichenen Haushalt zu

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gewährleisten, und kombiniert zwischenstaatliche und supranationale Elemente (Enderlein et al., 2005, S. 15–16).

5.4.2 Europäischer Fiskalföderalismus Seit dem Ende des Bretton-Woods-Systems in den 1970er-Jahren führten die wirtschaftlichen Kräfte der Globalisierung zu einer neuen Diskussion über die richtige Verteilung der Vorrechte auf die verschiedenen Regierungsebenen. Das Konzept des Fiskalföderalismus wurde von Oates (1972) entwickelt, um eine stärkere Dezentralisierung zu propagieren. Oates Dezentralisierung war in den 1990er-Jahren „en vogue“, vor allem in den USA, dem Vereinigten Königreich und Italien (wobei die Lega Nord die Abspaltung Norditaliens forderte). Oates sieht die Dezentralisierung als Gegenbewegung zum Zentralisierungstrend in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts. Die fiskalische Zentralisierung fand in den USA während der Großen Depression mit der Einführung von Sozialversicherungen auf Bundesebene und anderen Formen der makroökonomischen Stabilisierung statt. Der „Welfare Consensus“ nach dem Zweiten Weltkrieg forderte eine zentralisierte Bereitstellung der sozialen Sicherheit in vielen Nationalstaaten (Oates, 1999). Oates sieht jedoch einen doppelten Trend: einen zu mehr Dezentralisierung und einen zur Supranationalisierung, insbesondere im Fall der Europäischen Gemeinschaft. Er sieht eine „wachsende Komplexität und Spezialisierung in der vertikalen Struktur des öffentlichen Sektors“, die „die meisten von uns, die in diesem Bereich arbeiten, mehr als nur ein wenig unbehaglich fühlen lässt, wenn sie Ratschläge erteilen […]“ (Oates, 1999, S. 1145). Oates vermisst also eine klare Erklärung dafür, warum und auf welchen Feldern eine Zentralisierung oder Dezentralisierung früherer nationaler Kompetenzen stattfindet. Bereits 1994 schlug der italienische Außenminister Antonio Martino in der New York Times vor, den europäischen Haushalt stärker auf europäische öffentliche Güter zu konzentrieren, d. h. auf „Ziele, die nur auf europäischer Ebene verfolgt werden können“ (Martino, 1994). Martino nannte insbesondere den gemeinsamen Markt und die gemeinsame Währung als öffentliches Gut.

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Persson, Gerald und Tabellini waren die ersten, die die Frage „The Theory of Fiscal Federalism: What does it mean for Europe?“ stellten (1996). Sie argumentieren, dass der traditionelle Pigou’sche Ansatz der Maximierung der sozialen Wohlfahrt durch einen wohlwollenden Planer sowie der traditionelle Ansatz des Fiskalföderalismus von Oates (1972) und Musgrave (1959) erhebliche Mängel aufweisen, wenn sie auf die europäische Integration angewandt werden. Nach der traditionellen Fiskalföderalismus-Literatur sollten beispielsweise die Verteidigungs-, Umverteilungs- oder Arbeitsmarktpolitik zentralisiert werden. Da Europa jedoch keine echte Föderation ist und es ihm an legitimen Institutionen mangelt, ist eine Zentralisierung auf europäischer Ebene schwierig oder sogar unmöglich. Sie schlagen einen breiteren und flexibleren politökonomischen Ansatz vor, um die politischen Aufgaben auf der richtigen Ebene zuzuweisen. Es sollten verschiedene Stufen (oder Geschwindigkeiten) der Integration zugelassen werden, beispielsweise eine gemeinsame Basisstruktur und offene Partnerschaften (Persson et al., 1996). Alesina und Wacziarg (1999) gehörten zu den ersten Wissenschaftlern, die einen theoretischen Rahmen für öffentliche Güter in der europä­ ischen Wirtschaftsintegration entwickelten. Ihr Modell erlaubte es, die Beziehung zwischen der Währungsunion und der politischen Union zu analysieren. Die Autoren sehen vier Hauptgründe für die Schaffung größerer politischer Einheiten: geringere Kosten für die Bereitstellung öffentlicher Güter, bessere Fähigkeit, Schocks zu absorbieren, Sicherheitserwägungen und Beschränkungen im internationalen Handel. In ihrem Papier argumentieren sie, dass „in einer Welt des Freihandels die Länder […] klein und wohlhabend sein können“, da sie Zugang zu großen Märkten haben (Alesina & Wacziarg, 1999, S.  13). Ein Nationalstaat muss nicht wachsen, um einen größeren Markt zu schaffen. Alesina und Spolare hatten „Länder“ definiert als „eine Gruppe von Individuen, die räumlich und ideologisch ausgerichtet sind und sich auf eine Reihe von politischen Maßnahmen oder auf die Bereitstellung öffentlicher Güter einigen müssen“ (zitiert nach Alesina & Wacziarg, 1999, S. 15). Alesina und Wacziarg argumentieren, dass mit zunehmendem internationalen Handel die „optimale Größe“ der Länder schrumpft. Die europäische Freihandelszone senkt beispielsweise die „Kosten der Unabhängigkeit“ für Schottland, da „die Europäische Union kleinen Regionen oder Län-

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dern große Märkte und bestimmte öffentliche Güter zur Verfügung stellt“, die es ihren Einwohnern ermöglichen, Politiken und öffentliche Güter zu nutzen, die ihren regionalen, sprachlichen oder kulturellen Präferenzen besser entsprechen. Die wirtschaftliche Integration kann zu einer politischen Desintegration führen (Alesina & Wacziarg, 1999, S. 13–15). Die Autoren lehnen es ab, „Europa als einen potenziell föderalen Staat mit einem breiten Spektrum an zentralisierten Politiken zu betrachten“. Sie „erwarten keine ‚politische Union‘ auf europäischer Ebene“, sondern die Notwendigkeit, „supranationale ‚öffentliche Güter‘“ bereitzustellen, um das Funktionieren der globalen und europäischen Märkte zu gewährleisten. Die Frage ist also, auf welcher Ebene bestimmte öffentliche Güter bereitgestellt werden sollten (Alesina & Wacziarg, 1999, S. 15). In einem anderen Aufsatz definieren Alesina, Angeloni und Etro internationale Zusammenschlüsse wie die EU als Länder, die die Bereitstellung öffentlicher Güter zu zentralisieren (Alesina et al., 2003, S. 602). Die Größe der Union wird durch die Abwägung zwischen den Vorteilen der Koordinierung und dem Verlust an unabhängiger Politikgestaltung bestimmt. Sie stellen fest, dass die einheitliche Bereitstellung öffentlicher Güter zu Ineffizienzen führt, wie z. B. einer Tendenz zu einer kleinen Zusammenschüssen und einer Tendenz zum „Status quo“ bei der Aufnahme neuer Mitglieder. Flexiblere Regeln für die Bereitstellung öffentlicher Güter können die Wohlfahrt verbessern, sind aber aufgrund komplexer organisatorischer Vereinbarungen kostspieliger (Alesina et  al., 2003, S. 612). Alesina, Angeloni und Schuknecht stellten in einer empirischen Arbeit fest, dass die EU „in bestimmten Bereichen, in denen die Skalenerträge gering und die Heterogenität der Präferenzen groß zu sein scheinen, zu stark involviert ist, während sie in anderen Bereichen, die im Prinzip den gegenteiligen Charakter haben sollten, nicht genügend engagiert ist“ (Alesina et al., 2005, S. 312). Das von Alesina, Angeloni und Etro vorgeschlagene Modell ist eine gute Erklärung dafür, warum und wann sich Menschen dafür entscheiden, öffentliche Güter von einer supranationalen statt einer nationalen Ebene bereitstellen zu lassen. Allerdings mit dem Ansatz k ein klares Spektrum an öffentlichen Gütern definiert, die bereitgestellt werden müssen, um Freihandel und wirtschaftliche Integration zu gewährleisten.

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Die Autoren argumentieren, dass die Gründe für eine gemeinsame Währung Preistransparenz und aggregierte Preisstabilität seien (Alesina et al., 2003, S. 602). Wir werden in den nächsten Kapiteln sehen, dass dies nur teilweise zutrifft. Die Natur der europäischen öffentlichen Güter ist viel komplizierter und schwieriger zu verstehen. Die Hauptgründe für die Einführung der gemeinsamen Währung waren die Stärkung des Vertrauens zwischen den Marktteilnehmern und die Vermeidung der Dominanz kleinerer Mitgliedstaaten (und ihrer Bürger) durch die Geldpolitik der größeren Mitglieder des gemeinsamen Marktes. Tabellini (2002a) sieht keine Notwendigkeit, die Kompetenzen in den Bereichen des gemeinsamen Marktes und der makroökonomischen Stabilisierung auf den Politikebenen neu zu verteilen. Ersteres sollte auf der europäischen und Letzteres auf der nationalen Ebene verbleiben, da „die Finanzpolitik in einem Land der Union keine quantitativ relevanten Auswirkungen in anderen Mitgliedsstaaten hat“ (Tabellini, 2002a, S.  10). Diese Hypothese hat sich in der Eurokrise als falsch erwiesen, da die Finanzpolitik Griechenlands einen erheblichen Dominoeffekt auf andere Mitgliedsstaaten auslöste. Tabellini sieht die Notwendigkeit einer Neuverteilung im Bereich der Umverteilung. Die Kohäsions- und Strukturfonds sind in ihrem Ziel, ökonomische Divergenz in Europa zu überwinden, nicht effizient. Sie scheinen eher die Funktion einer Nebenleistung (side payment) zu erfüllen und sollten stärker zwischenstaatlich organisiert werden. Die Gemeinsame Agrarpolitik (GAP) wandelt sich von einem Preisfestsetzungs- zu einem Einkommensförderungsprogramm und sollte ebenfalls dezentralisiert werden (Tabellini, 2002a, S. 10–11). Nach einer Kosten-Nutzen-Analyse sieht Tabellini (2002b) „große Vorteile für eine zentralere Bereitstellung öffentlicher Güter in den Bereichen Verteidigung und Außenpolitik sowie für Aspekte der inneren Sicherheit, Grenzschutz und Einwanderungspolitik“. Tabellini unterstreicht, dass die Finanzierung dieser öffentlichen Güter durch die nationalen Haushalte höchst ineffizient ist, da starke Anreize zum Trittbrettfahren bestehen. Buti und Nava (2003) sehen drei Hauptmängel beim EU-Haushalt. Erstens, seine Zusammensetzung (mit dominierenden Ausgaben für die GAP und den Kohäsions-/Strukturfonds). Zweitens der komplizierte Entscheidungsfindungsprozess des EU-Haushalts, der Änderungen er-

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schwert, und drittens sein geringer Umfang im Vergleich zu den nationalen Haushalten. Sie schlagen ein „Europäisches Haushaltssystem“ vor, um diese Probleme zu überwinden. Der EU-Haushalt und die nationalen Haushalte sollten stärker aufeinander abgestimmt werden. In der Tat wurde mit den Reformen im Zuge der Eurokrise versucht, die nationalen und europäischen Haushalte stärker aneinander anzugleichen. Figueira (2008) stellt einen multidisziplinären Ansatz zur Reform des EU-­ Haushalts vor. Er berücksichtigt insbesondere politische Fragen der Entscheidungsprozesse. Mit dem europäischen Fiskalföderalismus wurde ein leistungsfähiger Rahmen für die Erörterung des strittigen Verhältnisses zwischen nationalen und europäischen Haushalten entwickelt, insbesondere im Hinblick auf die richtige Aufteilung der Vorrechte auf die verschiedenen Regierungsebenen. Es fehlt jedoch immer noch ein tieferes Verständnis der Probleme der Souveränität und eine klare Definition von öffentlichen und privaten Gütern, um Probleme der Legitimation des Regierens zu diskutieren.

5.4.3 Der Sapir-Bericht 2003 Das Konzept der europäischen öffentlichen Güter wurde durch den „Sapir-Bericht“ wiederbelebt, der vom ehemaligen Präsidenten der Europä­ ischen Kommission, Romano Prodi, initiiert und von dem Wirtschaftswissenschaftler André Sapir im Juli 2003 herausgegeben wurde. Der Bericht sollte die Wachstumsstrategie, insbesondere die Lissabon-Strategie, vor dem Hintergrund der bevorstehenden EU-Erweiterung bewerten. Sapir erklärte, dass dieser Bericht durch den Padoa-Schioppa-Bericht (1987) inspiriert wurde, der drei wichtige Säulen der europäischen Wirtschaftsintegration aufzeigte: „der Binnenmarkt, um die wirtschaftliche Effizienz zu verbessern; eine wirksame Währungsregelung, um Währungsstabilität zu gewährleisten; und ein erweiterter Gemeinschaftshaushalt, um den Zusammenhalt zu fördern“ (Sapir, 2003, S. i). Obwohl sich der Sapir-Bericht auf den Rahmen des Padoa-Schioppa-­ Berichts stützt, enthält er eine interessante Veränderung hinsichtlich der Bedeutung öffentlicher Güter auf europäischer Ebene. Padoa-Schioppa

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argumentierte in seiner Einleitung ausdrücklich, dass die Europäische Gemeinschaft (von 1987) keine öffentlichen Güter bereitstelle; daher spiele die Verteilung eine größere Rolle, und die Mitgliedstaaten seien stärker darauf ausgerichtet, „Kosten und Nutzen abzuwägen […] als [dies] in einem vollständigen politischen System“ der Fall sei (Padoa-­ Schioppa, 1987, S. v). Der Bericht stellte jedoch auch fest, dass die Regierungen nur solche öffentlichen Güter bereitstellen sollten, die „nicht wirksam von einer niedrigeren Regierungsebene bereitgestellt werden können“, und die Europäische Gemeinschaft sollte sich auf Politikbereiche konzentrieren, „in denen sie allein in der Lage ist, öffentliche Güter auf Gemeinschaftsebene bereitzustellen“ (Padoa-Schioppa, 1987, S. 76). Im Sapir-Bericht wird jedoch festgestellt, dass sich die Dinge geändert haben, da die EU seit den 1980er-Jahren eine immer aktivere Rolle spielt und im Alltag der europäischen Bürger präsent ist, insbesondere nach der Verabschiedung der Einheitlichen Europäischen Akte und des Vertrags von Maastricht. Sie hat in Fragen des Binnenmarktes bemerkenswerte Macht erlangt. Im Sapir-Bericht wird argumentiert, dass die öffentlichen Güter, die die Europäische Union bereitstellt, nicht ausreichend sichtbar sind. Wirtschaftlicher Wohlstand durch Steigerung der Markteffizienz wäre beispielsweise ein zu komplexes Konzept eines öffentlichen Gutes, als dass es von der europäischen Bevölkerung anerkannt würde. Sichtbare öffentliche Güter wie Sicherheit, öffentliche Ordnung, Gesundheit oder Bildung werden nach wie vor hauptsächlich von nationalen oder subnationalen Stellen produziert (Sapir, 2003, S. 82). Allerdings enthält der Sapir-Bericht auch keine klare Definition oder konkrete Beispiele dafür, was ein europäisches öffentliches Gut sein könnte oder sollte. Sapir unterstreicht sogar, dass wirtschaftlicher Wohlstand nur „möglicherweise“ ein öffentliches Gut ist (Sapir, 2003, S. 82). Der Bericht weist jedoch darauf hin, dass die Bereitstellung öffentlicher Güter in einem stärker integrierten Markt ein ernstes Dilemma darstellt. Die Möglichkeit der nationalen Regierungen, die Menschen zu besteuern, hängt von der Annahme ab, dass die Arbeitnehmer trotz Niederlassungsfreiheit und Freizügigkeit im Wesentlichen immobil bleiben, um Trittbrettfahrereffekte zu vermeiden (Sapir, 2003, S. 112). Die Finanzierung öffentlicher Güter wird in Bereichen, in denen die Mobilität der

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Menschen hoch ist, immer schwieriger. Dies wäre zum Beispiel im Bildungswesen der Fall, wo Studenten und Lehrkräfte in Europa zunehmend mobil sind und die besten Universitäten auswählen, um zu studieren oder zu forschen, oder um die Kosten zu minimieren oder die höchsten Löhne zu erzielen. Bildung wird daher wahrscheinlich eines Tages zu einem europäischen öffentlichen Gut werden (Sapir, 2003, S. 112). Darüber hinaus erkennt der Sapir-Bericht an, dass nationale Politiken in einem integrierten gemeinsamen Markt externe Effekte auf andere Mitgliedsstaaten haben können. National organisierte „Maßnahmen zur Verfolgung eines gemeinsamen Gutes“ bedürfen daher einer politischen Koordinierung auf europäischer Ebene. Sapir sieht die Natur dieses Dilemmas als ähnlich dem Problem des öffentlichen Gutes und der kollektiven Durchsetzung zwischen Individuen (Sapir, 2003, S. 9). Der Sapir-­ Bericht erklärt jedoch nicht, warum und in welchem Ausmaß externe Effekte zwischen den Mitgliedstaaten der EU oder des Euroraums auftreten und welche Art von Koordination oder europäischem Management öffentlicher Güter für diese externen Effekte erforderlich ist. Zur Finanzierung der europäischen öffentlichen Güter schlug der Sapir-Bericht eine neue direkte EU-Einnahme vor, beispielsweise eine Steuer auf eine EU-weite mobile Steuerbasis. Dies könnte eine Kapitalertragssteuer oder eine Börsenumsatzsteuer sein (Enderlein et al., 2005, S. 15). Dies würde auch Sinn machen, da diese betroffenen Steuerzahler diejenigen sind, die am meisten von der europäischen Integration profitieren, wie wir in den nächsten Kapiteln sehen werden.

5.4.4 Die öffentliche Konsultation zum EU-Haushalt und die „Suche“ nach europäischen öffentlichen Gütern Die akademische Diskussion über europäische öffentliche Güter wurde durch die öffentliche Konsultation „Reforming the Budget, Changing Europe“ (Den Haushalt reformieren, Europa verändern) intensiviert, die von der Europäischen Kommission im Jahr 2007 eingeleitet wurde, nachdem der Europäische Rat im Dezember 2005 eine Überprüfung ge-

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fordert hatte. Mehr als 300 Beiträge von Regierungs- und Forschungseinrichtungen wurden auf einer Abschlusskonferenz im November 2008 diskutiert und in einem Konsultationsbericht zusammengefasst (Europäische Kommission, 2008, S. 2). Mit der Konsultation wurde eine „Suche“ nach europäischen öffentlichen Gütern eingeleitet. In vielen Beiträgen wurde versucht, Definitionen für europäische öffentliche Güter zu geben, und es wurden verschiedene Kandidaten vorgestellt, die die Kriterien für öffentliche Güter (zu den Kriterien siehe Kap. 7) auf europäischer Ebene erfüllen könnten. Der Abschlussbericht gab einen Überblick über mehrere Themen, die häufig als europäische öffentliche Güter bezeichnet wurden: „Transnationale Infrastrukturinvestitionen, Umweltschutz, Erhaltung der Lebensmittelsicherheit, Förderung der europäischen Identität (z. B. durch Mobilitätsprogramme im Bildungsbereich), ausgewogene wirtschaftliche und soziale Entwicklung oder Schutz der Außengrenzen“ (Europäische Kommission, 2010, S. 4). Darüber hinaus nennt sie fünf Kernprinzipien für den EU-Haushalt (Europäische Kommission, 2010, S.  4–6). Erstens sollte sich der EU-Haushalt auf die politischen Kernprioritäten der EU konzentrieren, wie sie zum Beispiel im Vertrag von Lissabon oder in der Strategie Europa 2020 festgelegt sind. Zweitens sollten die EU-Ausgaben einen EU-­ Mehrwert schaffen, d. h. sie sollten sich auf die Bereiche konzentrieren, in denen sie „die Effizienz der Finanzen der Mitgliedstaaten […] maximieren können, indem sie gemeinsame Dienstleistungen und Ressourcen bündeln, um von Größenvorteilen zu profitieren. Folglich sollte der EU-Haushalt zur Finanzierung öffentlicher Güter der EU verwendet werden“ (Europäische Kommission, 2010, S. 5). Drittens: Der Haushalt sollte ergebnisorientiert sein. Viertens sollte der gegenseitige Nutzen durch Solidarität verteilt werden, was bedeutet, dass die Verlierer der Integration entschädigt werden sollten. Und schließlich sollte der EU-­ Haushalt, um die Grundsätze der Autonomie, Transparenz und Fairness zu verwirklichen, aus „Eigenmitteln“ finanziert werden, eine „Mischung aus Beiträgen aus den nationalen Haushalten, Korrekturen und Rabatten“ sollte vermieden werden (Europäische Kommission, 2010, S. 6). Sapir identifiziert „zwei Logiken der EU-Ausgaben“: erstens, Nebenzahlungen (side payments), um Geschäfte zu erleichtern und jeden an

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Bord der europäischen Integration zu halten; und zweitens, europäische öffentliche Güter. Sapir stellt fest, dass das grundlegende öffentliche Gut der europäischen Integration „der Binnenmarkt“ ist; er erklärt jedoch nicht im Detail, was den Binnenmarkt zu einem öffentlichen Gut nach den gängigen Definitionen öffentlicher Güter macht. Sapir nennt auch Energie und Umwelt sowie die Beseitigung der „Ungleichheiten“ in Europa als mögliche öffentliche Güter. Er schlägt vor, diese beiden Arten von Ausgaben im EU-Haushalt klar zu trennen. Allerdings räumt er ein, dass dies schwierig ist, da es keine Einigung darüber gibt, was ein öffentliches Gut in der EU ist oder was genau mit Umverteilung gemeint ist (Sapir, 2008, S.  17). Sapir stellte beispielsweise fest, dass die Strukturfonds als Umverteilungsausgaben betrachtet werden können, aber auch einige eindeutige Aspekte öffentlicher Güter aufweisen. Vértes und Losoncz sehen auch ein großes Problem darin, dass „es kein gemeinsames Verständnis des Begriffs der öffentlichen Güter gibt“. Sie schlagen einen „Bottom-to-Top“-Ansatz vor, bei dem „das Budget auf den Integrationsprozess selbst ausgerichtet ist“ (Vertes & Losoncz, 2009, S. 4). Sie sehen den europäischen Binnenmarkt, die Lissabon-Strategie, Energie, Umwelt, Erweiterung und transeuropäische Netze als öffentliche Güter an. Allerdings wird auch hier deutlich, dass eine klare Definition von öffentlichen Gütern die Ableitung von europäischen öffentlichen Gütern erschwert. Zuleeg analysierte die Beiträge der öffentlichen Konsultation der Europäischen Kommission (Zuleeg, 2009). Er fand heraus, dass viele nationale Regierungen in ihren Berichten auf das europäische Konzept der öffentlichen Güter Bezug nahmen. Italien schlug vor, den EU-Haushalt auf die „Bereitstellung öffentlicher Güter“ zu konzentrieren. Der finnische Bericht definiert sogar eine Reihe von europäischen öffentlichen Gütern wie innere und äußere Sicherheit oder den Schutz der Umwelt. Darüber hinaus sollte sich der EU-Haushalt auf Wettbewerbsfähigkeit oder Fachwissen und Innovation konzentrieren, da er in diesen Bereichen über mehr Mittel verfügt als die nationale Politik. Auch die schottische Regierung bezieht sich in der EU-Budgetdiskussion auf einen Public-­Goods-­ Ansatz (Zuleeg, 2009, S. 6).

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Zuleeg nennt in dem Bericht weitere Beispiele für die Definition öffentlicher Güter: „Beispiele für öffentliche Güter, die von den Regierungen in den Haushaltsüberprüfungen genannt werden, sind Sicherheit, Kontrolle der Außengrenzen, hohe Umweltstandards (Regierung von Zypern, 2008), Umwelt, Ökologie, Lebensmittelsicherheitsstandards, Tierschutz und ländliche Entwicklung (im Rahmen der Gemeinsamen Agrarpolitik, GAP) (Regierung von Dänemark, 2008), Maßnahmen zur Bereitstellung materieller und immaterieller Infrastrukturen und Maßnahmen zur Modernisierung von Dienstleistungen und Märkten, um die Fähigkeit einer Region zu stärken, Unternehmen und Arbeitsplätze anzuziehen und die Lebensqualität der Bürger zu verbessern (im Rahmen der Kohäsionspolitik) (italienische Regierung, 2008), Life+ und die Politik zur Entwicklung des ländlichen Raums (schwedische Regierung, 2008), Straßenbau, öffentlicher Verkehr, Wasseraufbereitung und Umwelt sowie von Landwirten produzierte öffentliche Güter (irische Regierung, 2008).“ (Zuleeg, 2009, S. 6)

Auch Zuleeg stellt einen Mangel an Definition fest, „was genau unter einem europäischen öffentlichen Gut zu verstehen ist“. Er kritisiert insbesondere, dass Regierungen „öffentliche Leistungen einfach mit öffentlichen Gütern gleichsetzen“. Die Regierungen würden das Konzept der öffentlichen Güter als „Sammelbegriff“ verwenden, der von der eigentlichen „Rolle und Bedeutung der öffentlichen Güter in der EU“ ablenke (Zuleeg, 2009, S. 7). Zuleeg stellt fest, dass der europäische Ansatz für öffentliche Güter auf einer strengeren wirtschaftlichen Begründung für europäische Maßnahmen beruhen sollte. Er definiert vier Bereiche, in denen Europa aufgrund einer rein ökonomischen Logik intervenieren sollte: Koordinationsversagen zwischen Regierungen, europäische öffentliche Güter, europäisches Marktversagen und Mehrwert von EU-Maßnahmen (Zuleeg, 2009, S. 11–14). Zuleeg definiert europäisches Marktversagen als Versagen in Bezug auf den gemeinsamen Markt. Ein Mehrwert des EU-Handelns entsteht, wenn die europäische Politik effizienter ist als die nationale (Zuleeg, 2009, S. 13–14). Allerdings bleibt auch diese Definition schwer zu fassen, da es schwierig sein wird, zu messen, wo die EU einen Mehrwert schafft. Die Schwächen der derzeitigen Definitionen der europäischen öffentlichen Güter werden noch deutlicher, wenn es um Koordinationsversagen geht. Zuleeg erklärt, dass Koordinationsversagen zu Doppelarbeit

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führen kann und daher ineffizient ist, da eine kohärente Politik der EU weniger kostspielig wäre als 27 einzelne Maßnahmen (Zuleeg, 2009, S. 11–12). Darüber hinaus stellt er fest, dass makroökonomische Stabilität einen Koordinationsansatz erfordert und daher ein Clubgut darstellen könnte. Auch ein höheres Maß an Sicherheit für Einzelpersonen und Unternehmen und das Umverteilungsspiel der Gewinne aus verstärkter Spezialisierung und Handel können zu einem Koordinationsversagen führen (Zuleeg, 2009, S.  11–12). Obwohl Zuleeg auf die richtigen Punkte hinweist, stellt er keine kohärente Theorie darüber auf, wie all diese „streitbaren öffentlichen Güter“ zusammenhängen. Er stellt fest, dass sicherheitspolitische Maßnahmen (Grenzkontrollen) „möglicherweise“ ein öffentliches Gut sein könnten (Zuleeg, 2009, S.  12). Der rechtliche Rahmen mit einem wirksamen Schutz der Eigentumsrechte, die europäische Demokratie und der Binnenmarkt „könnten“ demnach ebenfalls Beispiele für europäische öffentliche Güter sein (Zuleeg, 2009, S. 12). Zuleeg räumt jedoch ein, dass nicht alle diese Beispiele die strengen ökonomischen Kriterien der Nicht-Rivalität und Nicht-­ Ausschließbarkeit erfüllen. Diese Beispiele verdeutlichen, dass in der Literatur über europäische öffentliche Güter zu oft angegeben wird, was ein öffentliches Gut sein „könnte“, anstatt eine kohärente Theorie zu entwickeln, warum etwas ein öffentliches Gut ist. Der Schlüssel zum Verständnis des Charakters dieser Beispiele als öffentliche Güter liegt darin, zu verstehen, wie sie miteinander zusammenhängen und wie sie im Prozess der wirtschaftlichen Integration entstanden sind. Ich werde daher in Kap. 7 einen eigenen Ansatz zur Definition öffentlicher Güter entwickeln.

5.5 Schlussfolgerung: Erarbeitung einer neuen Grundlage für die EI-Theorie Im ersten Teil dieses Buches habe ich die aktuellen Theorien der europä­ ischen Integration untersucht und dabei drei wichtige Fragen analysiert: den Widerspruch zwischen Souveränität und Föderalismus, die problematische Auffassung wirtschaftlicher Probleme als „Interdependenz“ (anstelle von externen Effekten) und die Triebkraft von europäischer Inte­

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gration (wirtschaftlicher Vorteil vs. Furcht vor Dominanz). Wir haben gesehen, dass alle wichtigen Theorien der europäischen Integration bestimmte Mängel aufweisen, die es ihnen schwer machen, den heutigen europäischen Integrationsprozess zu erklären. Besondere Schwierigkeiten gab es bei der Schaffung eines kohärenten theoretischen Rahmens, der sowohl wirtschaftliche als auch politikwissenschaftliche Aspekte der europäischen Integration berücksichtigt. Die Föderalisten waren nicht in der Lage, die Widersprüche zwischen Souveränität und Föderalismus zu lösen. Die Hoffnung der Liberalisten des 19. Jahrhunderts, republikanische Nationalstaaten zu schaffen, die dann mehr oder weniger automatisch eine Art europäische (oder weltweite) Föderation bilden würden, hat sich nur teilweise erfüllt. Den Föderalisten gelang es vor allem nicht, eine kohärente Strategie zu entwickeln, wie eine Föderation nach dem Zweiten Weltkrieg geschaffen werden könnte. Außerdem haben sie – zumindest bis zum Zweiten Weltkrieg  – keine kohärente wirtschaftstheoretische Grundlage für den Föderalismus geschaffen, die erklärt hätte, wie eine Föderation in der Praxis hätte funktionieren können. Infolgedessen waren sie nicht in der Lage, eine Mehrheit der Menschen davon zu überzeugen, warum eine europäische Föderation notwendig sein sollte, insbesondere eine sofortige Schaffung einer europäischen Föderation als „großer Schritt nach vorn“ nach dem Zweiten Weltkrieg. Das eingängige Konzept des Nationalstaats bot überzeugendere Lösungen für die wirtschaftlichen und politischen Probleme der Nachkriegszeit. Der Neofunktionalismus hingegen entwickelte einen inkrementellen Ansatz für den schrittweisen Aufbau einer europäischen Gemeinschaft durch wirtschaftliche Integration. Dabei wurden jedoch geopolitische Überlegungen zur europäischen Integration außer Acht gelassen. Er geriet daher in Schwierigkeiten, als De Gaulle sein Amt antrat und einen wesentlich geopolitischeren Ansatz für die europäische Integration verfolgte. De Gaulles Hauptanliegen war nicht der wirtschaftliche Vorteil, sondern die Furcht vor einer wirtschaftlichen und militärischen Beherrschung durch äußere Kräfte. Darüber hinaus stützten sich viele Annahmen der neofunktionalen Theorie – vielleicht unbewusst – auf den allgemeinen Rahmen, den das Bretton-Woods-Abkommen bot. Daraus ergaben sich zwei Probleme: Erstens war Bretton Woods ein inter-

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nationaler, funktionaler Ansatz, der nicht darauf abzielte, eine europä­ ische Einheit zu schaffen, und dem es an einem europäischen Fokus mangelte. Der europäische Integrationsprozess, der auf dem Bretton-Woods-System beruhte, folgte daher nicht mehr einem streng föderalen Ansatz, sondern war mit Funktionalismus vermischt. Das endgültige Ziel der europäischen Integration, die Schaffung einer Art europäischer Föderation, wurde daher durch den funktional-föderalen Ansatz verwischt. Das zweite Problem war die Annahme des Neofunktionalismus, dass die Entscheidungsfindung auf einem „unzusammenhängenden Inkrementalismus“ (disjointed incrementalism) beruhte, der von Kapitalkontrollen abhängig war. Mit zunehmenden Kapitalströmen und den entstehenden „turbulenten Feldern“ dominieren Interdependenzen die Verhandlungen, und die unzusammenhängende inkrementelle Entscheidungsfindung wird durch eine „fragmentierte Themenverknüpfung“ ersetzt. Kurz gesagt, als Bretton Woods zusammenbrach, geriet auch der Neofunktionalismus ins Wanken. Der liberale Intergouvernementalismus versuchte, die Probleme zu lösen, die sich aus den Turbulenzen und Interdependenzen ergaben, die durch die entstehenden globalen und europäischen Kapitalmärkte verursacht wurden. Moravcsik vertrat die Auffassung, dass die europäischen Institutionen Regime zur Steuerung der wirtschaftlichen Interdependenz sind. Moravcsik stellte den Nationalstaat in den Mittelpunkt des europä­ ischen Integrationsprozesses und argumentierte, dass die europäische Integration einer strikten wirtschaftlichen Rationalität der nationalen Regierungen folgt. Weitere Schritte zur europäischen Integration finden daher immer dann statt, wenn die Regierungen einen wirtschaftlichen Vorteil darin sehen. Der LI erklärte zwar überzeugend die wirtschaftliche Vernunft der nationalen Regierungen, analysierte aber nicht immer die zugrunde liegenden wirtschaftlichen Probleme im Detail. Seine Definition von Interdependenz scheint seit der Einführung des Euro veraltet zu sein. Interdependenz kann nur zwischen zwei, im Allgemeinen getrennten, Volkswirtschaften bestehen. Mit der Einführung des Euro als gemeinsame Währung und des europäischen Zinssatzes als gemeinsamen Impulsgeber der europäischen Wirtschaft macht das Konzept der Interdependenz jedoch keinen Sinn mehr (mehr Details zu diesem Argument in

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Abschn. 9.5). Es ist daher sinnvoller, die zugrundeliegenden wirtschaftlichen Beziehungen in Form von ökonomischen Externalitäten zu modellieren, wie ich in Kap. 9 zeigen werde. Darüber hinaus hat die rein ökonomische Logik des LI jede europäische Vision eliminiert. Der Ansatz beinhaltet keine Zielvorstellung für die europäische Integration. Der LI sieht die Europäische Union daher als ein „normales“ internationales Regime in den internationalen Beziehungen, um hauptsächlich wirtschaftliche Probleme zu bewältigen. Sie ist daher auch nicht in der Lage, geopolitische Überlegungen in ihre Theorie einzubeziehen. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die europäische Integrationstheorie ihre Probleme damit hat die neuen wirtschaftlichen Probleme ihrer Zeit zu erklären. Dies betrifft vor allem das Aufkommen der globalen und europäischen Kapitalströme und deren Folgen. Neuere Theorien der europäischen Integration haben einige Instrumente entwickelt, um die aktuellen Probleme der europäischen Integration zu überwinden. Die MLG erklärt, wie die Bereitstellung öffentlicher Güter auf verschiedenen Ebenen in der Europäischen Union umverteilt wird. Der Neue Institutionalismus erklärt, wie Institutionen gestaltet werden müssen, um Pro­ bleme mit externen Faktoren zu lösen. Schließlich erklärt der soziale Kon­ struktivismus, wie soziale Institutionen geschaffen und verändert werden können. Was jedoch noch fehlt, ist ein neuer allgemeiner Rahmen, der die aktuellen Probleme der europäischen Integrationstheorie auf kohärente Weise angeht und dabei die von den neueren Theorien der europäischen Integration entwickelten Instrumente nutzt. Er muss überzeugende Antworten auf die drei Hauptfragen geben, die ich im ersten Teil dieses Buches analysiert habe (Souveränität vs. Föderalismus, Interdependenz vs. externe Effekte und wirtschaftlicher Vorteil vs. Furcht vor wirtschaftlicher Dominanz) und eine Brücke zwischen den wirtschafts- und politikwissenschaftlichen Theorien der europäischen Integration schlagen. Im nächsten Teil werde ich den Ansatz einer Europäischen Republik vorstellen und erörtern, ob dieses Konzept in der Lage ist, den gewünschten Rahmen zur Lösung der Probleme der europäischen Integrationstheorie zu liefern.

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Teil II Europäischer Republikanismus

6 Ansätze für eine europäische Republik

In den vorangegangenen Kapiteln habe ich die aktuellen Theorien der europäischen Integration vorgestellt und ihre wichtigesten Stärken und Schwächen erläutert. Nun werde ich den europäischen Republikanismus als einen alternativen Ansatz zur Erklärung der europäischen Integration vorstellen. Könnte der europäische Republikanismus ein neuer Ansatzpunkt zur Erklärung und Legitimierung der europäischen Integration sein? Die Idee einer Europäischen Republik als Ansatz zur Erklärung der europäischen Integration steht noch am Anfang. In diesem Kapitel werde ich den Republikanismus als politische Philosophie kurz vorstellen und einige verschiedene Ansätze aufzeigen, die entwickelt wurden, um die europäische Integration mit Hilfe republikanischer Argumente zu erklären. Ich werde erläutern, wie die republikanische Theorie mit wirtschaftlichen Überlegungen kombiniert werden kann.

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Nature Switzerland AG 2023 T. Zimmermann, Europäischer Republikanismus, https://doi.org/10.1007/978-3-031-44091-5_6

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6.1 Europäische Integration und die Renaissance der republikanischen Theorie Die republikanische Theorie hat in den letzten Jahrzehnten einen bemerkenswerten Aufschwung erlebt. Bislang wurden jedoch nur wenige Anstrengungen unternommen, um die Erkenntnisse aus dem republikanischen Diskurs auf den Fall der europäischen Integration anzuwenden. Argumente der republikanischen Staatstheorie spielten jedoch eine wichtige Rolle in der Debatte über ein Demokratiedefizit der EU nach dem Maastrichter Vertrag 1992. Ein erster Höhepunkt der Debatte wurde mit der Diskussion um eine europäische Verfassung 2004/05 erreicht. Der Schwung in der Debatte um einen europäischen Republikanismus geriet jedoch schnell ins Stocken, nachdem die Verfassung in den Referenden in Frankreich und den Niederlanden abgelehnt worden war. In den letzten Jahren wurde der republikanische Ansatz vor allem im deutschsprachigen Raum als Idee einer „Europäischen Republik“ wieder in die öffentliche Debatte eingebracht. Ich werde zunächst einen Überblick über das republikanische Revival geben, bevor ich einige Beispiele anführe, wie repu­ blikanische Ideen die Debatte über die europäische Integration beeinflusst haben.

6.1.1 Die republikanische Wiedergeburt Die republikanische Idee hat ihre Wurzeln in der antiken Philosophie Griechenlands und Roms und wurde von Philosophen wie Aristoteles, Platon oder Cicero entwickelt. Es ist schwierig, wenn nicht gar unmöglich, eine eindeutige Definition des Republikanismus zu geben. Der Republikanismus wird häufig mit Rechtsstaatlichkeit, Selbstverwaltung und der Bedeutung der „res publica“, der gemeinsamen Angelegenheiten oder des gemeinsamen Wohlstandes, in Verbindung gebracht. Die Rolle der republikanischen Philosophie hat sich im Laufe der Jahrhunderte verändert. Manchmal wurde sie als Alternative zur Monarchie gesehen, und manchmal, insbesondere in den letzten Jahrzehnten, als Alternative zum Liberalismus.

6  Ansätze für eine europäische Republik 

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Dagger betonte, dass sich die republikanischen Ideen der Antike erheblich von unserem heutigen Verständnis von Republikanismus unterscheiden. Die antiken Philosophen hätten die Bedeutung der res publica und der Selbstverwaltung herausgearbeitet, seien aber nicht unbedingt für eine repräsentative Demokratie eingetreten. Außerdem war der Republikanismus der Antike nicht unbedingt eine Gegenbewegung zur Monarchie. Dagger wies darauf hin, dass für die antiken Philosophen die Bürgertugend, d.  h. „die Bereitschaft des republikanischen Bürgers, persönliche Interessen für das Gemeinwohl zu opfern“, eine viel wichtigere Rolle spielte (Dagger, 2011, S. 701–703). Die republikanische Idee verschwand im Mittelalter weitgehend und wurde in der Renaissance in den italienischen Stadtstaaten, die die Unabhängigkeit vom Vatikanstaat anstrebten, wiederentdeckt. Die republikanischen Ideen beeinflussten die beiden Revolutionen in den USA (wo die Kolonien die Unabhängigkeit von der britischen Monarchie anstrebten) und in Frankreich (wo die Monarchie gestürzt wurde) am Ende des 18. In der Folge der Revolutionen vermischte sich der Republikanismus im 19. Jahrhundert mehr und mehr mit dem Nationalismus, da er sich nun nicht mehr auf kleine Stadtstaaten, sondern auf die sich indus­ trialisierenden Flächenstaaten bezog. Im Laufe des neunzehnten Jahrhunderts beeinflusste er weitere (teilweise gescheiterte) Revolutionen und die Schaffung von Verfassungen auf dem europäischen Kontinent. Dagger stellte jedoch fest, dass die Idee des Republikanismus im zwanzigsten Jahrhundert aus der Mode kam, da Theorien zu Demokratie, Liberalismus, Konservatismus und Sozialismus in den Mittelpunkt des Interesses rückten (Dagger, 2011, S. 708). Die Wiederbelebung der republikanischen Theorie als so genannter „Neo-Republikanismus“ hat ihre Wurzeln in den 1960er-Jahren in einer Debatte über die geistigen Wurzeln der US-Verfassung. Zehn Jahre zuvor hatte Hartz (1955) die Hypothese aufgestellt, dass die US-Verfassung vor allem durch die liberale Philosophie von John Locke (1632–1704) beeinflusst worden sei. Laut Dagger teilen auch „liberale“ Denker wie Locke oder Montesquieu (1689–1755) die Vorstellung von Selbstverwaltung und Rechtsstaatlichkeit und können daher als „liberale Republikaner“ bezeichnet werden. Allerdings betonen sie viel mehr die Bedeutung individueller Rechte und Freiheiten als „bürgerliche Pflichten oder tugend-

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hafte Hingabe an das öffentliche Wohl“ (Dagger, 2011, S.  703–704). Bailyn (1967) und Wood (1969) wollten mit der von Hartz aufgestellten Hypothese brechen, dass die US-Verfassung fast ausschließlich auf der liberalen Philosophie von John Locke beruhte, und betonten stattdessen die Bedeutung des republikanischen Einflusses (siehe auch Rosati, 2000, S. 83). In den 1970er-Jahren beschrieb Pocock den Einfluss von Aristoteles und der italienischen Renaissance auf die US-Verfassung (Pocock, 1975). In den 1980er-Jahren führten mehrere Autoren wie Sunstein (1988) und Michelman (1988) den republikanischen Einfluss auf die amerikanische Verfassung weiter aus. Eine wichtige Wende in der republikanischen Debatte wurde durch die Beiträge des britischen Historikers Skinner (1998) und des irischen Philosophen Pettit (1997) eingeleitet. Beide versuchten, den Republikanismus als eine Alternative zum Liberalismus und Kommunitarismus zu etablieren. Sie taten dies, indem sie einen dritten Freiheitsbegriff als Alternative zum Konzept der negativen Freiheit, wie es von den Liberalen entwickelt wurde, und der positiven Freiheit, wie sie von den Kommunitaristen vertreten wurde, etablierten (Hoelzing, 2014, S. 17–18). Skinner versuchte, ein republikanisches Verständnis von Freiheit als Unabhängigkeit von willkürlicher Macht zu entwickeln. Rosati stellte fest, dass Skinner die Idee der „Freiheit von Abhängigkeit“ in den Mittelpunkt seiner Philosophie stellte. Dies unterscheidet sich von den Ideen des „politischen Lebens als das beste Leben“ und der „positiven Freiheit“, wie sie in den Werken von Aristoteles und Hannah Arendt zu finden sind (Rosati, 2000, S. 84). Pettit beschreibt die republikanische Freiheit mit den Begriffen „Freiheit als Nicht-Dominierung“ (freedom as non-domination) anstelle der liberalen „Freiheit als Nichteinmischung“ (freedom as non-­interference) (Pettit, 1997). Diese Unterscheidung zwischen dem Konzept der Freiheit als Nichtbeherrschung und der Freiheit als Nichteinmischung ist vielleicht der wichtigste Beitrag des Neo-­Republikanismus zur wissenschaftlichen Debatte. Freiheit als Nichteinmischung bedeutet, dass jemand in der Lage ist, zu tun, was er will, ohne dass sich jemand in sein Handeln einmischt. Diese Definition bezieht sich also auf die Handlung selbst. Sie ist bei Liberalen beliebt, weil sie die Rechte des Einzelnen betont. Für Neoliberale stimmt dieses Freiheitsverständnis mit der Ideologie der

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freien Märkte und einer reduzierten Rolle des Staates überein. Frei von jeder Form staatlicher Einmischung kann der Einzelne seine Ziele verfolgen, und die Marktmechanismen werden den Prozess zu optimalen Ergebnissen führen. Ein Beispiel dafür ist nach Lovett und Pettit die Existenz von „Lohnsklaven“ in den frühen Jahren der US-Geschichte. Obwohl sie im rechtlichen Sinne frei waren, waren die Bedingungen für die Arbeiter in den frühkapitalistischen Manufakturen so schlecht, dass sie de facto Sklaven für die Eigentümer der Manufakturen waren (Lovett & Pettit, 2009, S. 20–21). Freiheit als Nicht-Dominierung bezieht sich jedoch viel mehr auf den Kontext oder die Beziehung, in die eine Handlung eingebettet ist. In dieser Definition ist eine Einmischung erlaubt, solange es keine „willkürliche oder unkontrollierte Kontrolle über die Entscheidungen eines anderen“ gibt (Lovett & Pettit, 2009, S. 14). Der Staat kann zum Beispiel mit Gesetzen in das Handeln der Bürger eingreifen, solange diese Gesetze nicht willkürlich sind und unter der Kontrolle des Souveräns, also der Bürger, stehen. Kritiker argumentieren, dass diese Definition von Freiheit eine stärkere Rolle des Staates begünstigen könnte; das republikanische Revival wird daher manchmal als ein Versuch von Sozialisten gesehen, unter einem anderen Etikett wieder in die akademische Arena einzutreten, um einen weiteren Angriff auf den Liberalismus zu starten (Brennan & Lomasky, 2006). Die Definition von Freiheit als Nicht-­ Dominierung geht in der Tat von der Annahme aus, dass menschliche Interaktionen von gemeinsamen sozialen Institutionen umgeben sein müssen, um diese Interaktionen zu organisieren. Nach dieser Definition können Handlungen, die frei von Einmischung sind, dennoch zu Formen der Beherrschung führen. Dieses Verständnis ist daher nicht so optimistisch wie der Liberalismus, der davon ausgeht, dass menschliche Interaktion automatisch zu Freiheit und optimalen Ergebnissen führt (oder andersherum: Republikaner scheinen nicht darauf zu vertrauen, dass ungeregelte menschliche Interaktion automatisch zu Freiheit führt). Freiheit als Nicht-Dominierung legt den Schwerpunkt auf die Frage, wie Institutionen organisiert sein müssen, um die Freiheit jedes Bürgers zu garantieren, wenn sie miteinander interagieren. Lovett und Pettit beschreiben ein „normatives und institutionelles Forschungsprogramm“ des Neo-Republikanismus, das darin besteht,

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„Fragen der Legitimität und der Demokratie, der Wohlfahrt und der Gerechtigkeit, der öffentlichen Politik und der institutionellen Gestaltung innerhalb des Rahmens neu zu überdenken, den diese grundlegenden Ideen bieten“; Sie definieren Neo-Republikanismus als „die Versuche aktueller Politikwissenschaftler, Philosophen, Historiker, Juristen und anderer, sich auf diese klassische republikanische Tradition zu stützen, ihre verschiedenen Ideen zu adaptieren und zu überarbeiten, um eine attraktive öffentliche Philosophie für zeitgenössische Zwecke zu entwickeln“ (Lovett & Pettit, 2009, S. 12). Sie betonen daher den normativen Aspekt des republikanischen Forschungsprogramms. Der Republikanismus kann also nicht leugnen, auch politische Ziele zu verfolgen. So beeinflusste der Republikanismus beispielsweise die politische Agenda der spanischen Regierung Zapatero, als diese 2004 ins Amt kam. Martì und Pettit beschreiben diesen Zusammenhang in ihrem Beitrag „A Political Philosophy in Public Life: Civic Republicanism in Zapatero’s Spain“, der auch ein Interview mit Zapatero enthält (Marti & Pettit, 2010). Für Lovett und Pettit hat der Neo-Republikanismus daher klare Präferenzen in Bezug auf ein öffentliches Politikprogramm, das „viel näher an den wahrscheinlichen Vorschlägen des Linksliberalismus“ liegt (Lovett & Pettit, 2009, S.  18). Sie definieren vier Politikbereiche für ein neorepublikanisches Forschungsprogramm: erstens eine florierende Zivilgesellschaft und Wirtschaftsordnung, zweitens die Befähigung der Bürger durch Bildung und soziale Sicherheit, drittens die Befähigung von Minderheiten und viertens die Gewährleistung der Rechtsstaatlichkeit (Lovett & Pettit, 2009, S. 20). Das politische Programm der republikanischen Agenda kann auch auf den Fall der europäischen Integration angewandt werden. „Europäischer Republikanismus“ kann dann als ein Versuch verstanden werden, den Diskurs über Freiheit und Republikanismus auf den europäischen Fall zu übertragen. Dazu gehört auch, eine politische Agenda für Europa zu entwickeln (siehe auch Abschn.  6.1.4). Thiel argumentiert, dass der Republikanismus einen wesentlichen Beitrag zum Diskurs über die Europäische Union in drei spezifischen Bereichen leisten kann. Erstens kann der Republikanismus beschreiben, wie politische Institutionen gestaltet sein müssen, um Freiheit zu garantieren (durch Gewaltenteilung, Verfassung und Repräsentation). Zweitens kann der Republikanismus Hin-

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weise auf die Bedeutung der Dezentralisierung geben, um politische Partizipation zu ermöglichen. Der Republikanismus kann die Frage, welche Politikfelder auf europäischer Ebene zentralisiert werden sollten, unter dem Gesichtspunkt neu bewerten, ob politische Partizipation möglich ist. Drittens betont der Republikanismus die Bedeutung, dass politische Entscheidungen in einem streitbaren Prozess getroffen werden müssen. Der Republikanismus könnte daher ein Instrumentarium bieten, um die Gründe und Folgen der Entpolitisierung des öffentlichen Raums zu analysieren (Thiel, 2012, S. 219–240). Thiel (2011) argumentiert, dass es für die Anwendung der republikanischen Debatte auf die europäische Integration erforderlich ist, die aktuellen republikanischen Debatten neu zu ordnen und zu aktualisieren. Er schlägt vor, die republikanischen Ansätze von Hannah Arendt, die sich auf die aktive Bürgerschaft und das bürgerliche Engagement konzentriert, mit dem neorömischen Ansatz der Cambridge School (namentlich Quentin Skinner und Philip Pettit) zu kombinieren, der mehr Gewicht auf Institutionen und ihre Schutzmechanismen legt. Thiel schlägt vor, beide Ansätze zu einem, wie er es nennt, „pluralistischen Republikanismus“ zu kombinieren, um die Stärken beider Ansätze zu vereinen. Der gemeinsame Vorteil beider Ansätze ist laut Thiel, dass sie sich auf die Begriffe „freedom“ und „liberty“ konzentrieren. Während Arendt eher die Freiheit des politischen Handelns betont, beschreibt Pettit Freiheit eher als Abwesenheit von Dominanz (Freiheit als Nicht-­Dominierung). Beide Ansätze bieten somit ein Instrumentarium zur Analyse der europäischen Integration im Hinblick auf die Frage, inwieweit die europäische Integration zu Freiheit oder zu Formen von Herrschaft führt (Thiel, 2011, S. 250–252). Was beide Ansätze für den Diskurs über die europäische Integration interessant macht, ist die Tatsache, dass sie Pluralität in der Gesellschaft voraussetzen, d. h. eine permanente Existenz von Unterschieden. Beide Ansätze akzeptieren Vielfalt und Unterschiede innerhalb eines Gemeinwesens als etwas Positives, solange Unterschiede nicht zu Dominanz führen. Die Institutionen eines Gemeinwesens müssen daher so organisiert sein, dass Unterschiede aufrechterhalten werden können, ohne den allgemeinen politischen Rahmen zu unterminieren. Asymmetrien, Herrschaftsmechanismen und dominante politische Subsysteme (z. B. durch

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eine Technokratie oder einen starken Mitgliedsstaat) müssen daher vermieden werden. Republikanische Ansätze betonen die Bedeutung aktiver Bürgerschaft und die Möglichkeit des Widerspruchs (Thiel, 2011, S. 252). Dieser republikanische Rahmen bietet daher ein leistungsfähiges In­ strumentarium, um das Motto der Europäischen Kommission, „Einheit in der Vielfalt“, in eine politische Philosophie zu übertragen. Er würde es ermöglichen, einen politischen Rahmen zu definieren, der beschreibt, wie man mit wirtschaftlich heterogenen Mitgliedsstaaten umgeht, die alle zusammen den homogenen wirtschaftlichen Kräften eines gemeinsamen Marktes unterworfen sind. Nach dem republikanischen Ansatz dürfen heterogene wirtschaftliche Unterschiede nicht zu Formen der Vorherrschaft führen. Es müssten geeignete Institutionen geschaffen werden, um eine solche Herrschaft zu vermeiden.

6.1.2 Maastricht und das „Demokratiedefizit“ Aspekte der republikanischen Theorie und ihre Annahmen spielten eine wichtige Rolle im Diskurs über ein „Demokratiedefizit“ der EU. Der Begriff des „Demokratiedefizits“ tauchte in den 1970er-Jahren im Vorfeld der ersten Direktwahlen des Europäischen Parlaments 1979 auf. In den Fokus einer öffentlichen und wissenschaftlichen Debatte rückte er mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) zum Maastricht-­ Vertrag im Jahr 1993. Die Verfassungsbeschwerden gegen den Maastricht-­ Vertrag wurden von zwei Gruppen vorangetrieben, einer Gruppe, die von den Rechtsanwälten Hans-Christian Ströbele und Ulrich K. Preuß, beide mit Verbindungen zu den Grünen in Deutschland, vertreten wurde, und einer weiteren Gruppe, die aus dem konservativen Rechtsanwalt Karl Albrecht Schachtschneider1 und dem konservativen Politiker und ehemaligen Funktionär der Europäischen Kommission, Manfred Brun Für Schachtschneider war es die erste in einer langen Reihe von Verfassungsbeschwerden. Gemeinsam mit anderen Mitstreitern reichte er weitere Beschwerden gegen die Einführung des Euro im Jahr 1998, gegen den Vertrag über eine Verfassung für Europa (2005), gegen den Vertrag von Lissabon (2008), gegen das Rettungsprogramm für Griechenland (2010) und gegen die Politik der Bundesregierung in der Flüchtlingskrise (2016) ein. 1

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ner, bestand. In den Verfassungsbeschwerden wurde argumentiert, dass die Bündelung hoheitlicher Befugnisse auf europäischer Ebene die demokratischen Prinzipien auf nationaler Ebene aushöhle und gegen Verfassungsrechte verstoße. Eine wichtige Frage war, ob das Demokratiedefizit der Europäischen Union „strukturell“ oder „institutionell“ ist. Die Position des „strukturellen Defizits“ besagt, dass es keinen europäischen Demos gäbe und es daher nicht möglich sei, eine europäische Demokratie zu schaffen. Die Position des „institutionellen Defizits“ besagt, dass das Demokratiedefizit nur durch die institutionellen Schwächen der EU verursacht wird. Das Demokratiedefizit könne daher geheilt werden, wenn die notwendigen Institutionen auf europäischer Ebene geschaffen würden (Grande, 1997, S. 20–22). Das Verfassungsgericht wies die Beschwerden generell zurück und argumentierte, dass der Maastrichter Vertrag mit dem deutschen Grundgesetz vereinbar sei. Es stellte aber auch fest, dass, solange es keinen „europäischen Demos“ gibt, die nationalen Parlamente und Institutionen in der Tat eine wichtige Rolle spielen müssen, um die europäischen Institutionen demokratisch zu legitimieren (Collignon, 2007, S. 19–22). Das Europäische Parlament hat für das BVerfG in der Tat nur eine „unterstützende Funktion“, die durch demokratische institutionelle Reformen gesteigert werden kann: „Im Staatenverbund der Europäischen Union erfolgt mithin demokratische Legitimation notwendig durch die Rückkoppelung des Handelns europä­ ischer Organe an die Parlamente der Mitgliedstaaten; hinzutritt – im Maße des Zusammenwachsens der europäischen Nationen zunehmend – innerhalb des institutionellen Gefüges der Europäischen Union die Vermittlung demokratischer Legitimation durch das von den Bürgern der Mitgliedstaaten gewählte Europäische Parlament. Bereits in der gegenwärtigen Phase der Entwicklung kommt der Legitimation durch das Europäische Parlament eine stützende Funktion zu, die sich verstärken ließe, wenn es nach einem in allen Mitgliedstaaten übereinstimmenden Wahlrecht gemäß Art. 138 Abs. 3 EGV gewählt würde und sein Einfluß auf die Politik und Rechtsetzung der Europäischen Gemeinschaften wüchse. Entscheidend ist, daß die demokratischen Grundlagen der Union schritthaltend mit der Integration ausgebaut werden und auch im Fortgang der Integration in den

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Mitgliedstaaten eine lebendige Demokratie erhalten bleibt. Ein Übergewicht von Aufgaben und Befugnissen in der Verantwortung des europä­ ischen Staatenverbundes würde die Demokratie auf staatlicher Ebene nachhaltig schwächen, so daß die mitgliedstaatlichen Parlamente die Legitimation der von der Union wahrgenommenen Hoheitsgewalt nicht mehr ausreichend vermitteln könnten.“ (BVerfG, 1994)

Das Verfassungsgericht hat daher das Europäische Parlament nicht als vollwertiges Parlament anerkannt, das in der Lage wäre, eine demokratische Legitimation zu stiften wie die Parlamente in einer nationalen Demokratie. Solange es kein Europäisches Parlament gibt, das in der Lage wäre, die europäischen Institutionen demokratisch zu legitimieren, betont das deutsche Verfassungsgericht die Rolle der nationalen Parlamente und der nationalen demokratischen Mechanismen. Das Bundesverfassungsgericht betonte aber auch, dass „die demokratischen Grundlagen der Union schritthaltend mit der Integration ausgebaut werden“ und wies daher die Vorstellung eines strukturellen Demokratiedefizits zurück. Im Hinblick auf die Debatte, ob die Europäische Union ein Bundesstaat oder ein Staatenbund sei, argumentierte das deutsche Verfassungsgericht, dass die EU ein Staatenverbund sei, in dem einige Hoheitsrechte auf einer supranationalen Ebene gebündelt würden. Der Vertrag von Maastricht und das Urteil des Verfassungsgerichts führten zu einer intensiven wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Problem des Demokratiedefizits in der EU. Weiler und andere fassten die Kommentare von Akademikern und Praktikern zum Demokratiedefizit in einer so genannten „Standardversion“ des Demokratiedefizits zusammen (Weiler et al., 1995). Follesdal und Hix aktualisierten diese Definition und nannten fünf Hauptargumente für ein Demokratiedefizit: erstens „eine Zunahme der Exekutivgewalt und eine Abnahme der nationalen parlamentarischen Kontrolle“; zweitens die Schwäche des Europäischen Parlaments; drittens die fehlende Bedeutung von Europawahlen; viertens die Entfernung der EU von ihren Wählern; und fünftens die Tatsache, dass die EU aufgrund ihrer institutionellen Schwächen nicht in der Lage sei, die Interessen der Bürger angemessen zu vertreten (Follesdal & Hix, 2006). Das Demokratiedefizit resultiert also aus der Bündelung von Souveränität auf europäischer Ebene, obwohl es auf euro-

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päischer Ebene keine adäquaten Institutionen gibt, um diese Entscheidungen zu legitimieren. Die Folge ist ein inkohärenter Entscheidungsprozess, der zu suboptimalen Ergebnissen führt. Die republikanische Theorie ist in der Lage, dieses Problem zu analysieren und institutionelle Entwürfe vorzuschlagen, die notwendig wären, um das Demokratiedefizit zu beheben. Die Debatte über das Demokratiedefizit führte zu dem Argument, dass Europa eine Verfassung braucht, um die Bündelung von Souveränität auf europäischer Ebene zu legitimieren, wie es mit dem Vertrag von Maastricht geschehen ist.

6.1.3 Eine (republikanische) Verfassung zur Behebung des Demokratiedefizits? Das Europäische Parlament legte 1993–1994 einen ersten Entwurf für eine europäische Verfassung vor, um einen Beitrag zur öffentlichen und wissenschaftlichen Debatte über eine europäische Verfassung zu leisten (European Parliament, 1994). Thomas Läufer argumentierte, dass es aufgrund des Maastrichter Vertrages und der (unvollendeten) politischen Einigung der Europäischen Union notwendig sei, eine breite Debatte über Verfassungsfragen der europäischen Integration zu eröffnen. Die noch offene Frage nach der Finalität der europäischen Integration müsse bis Ende der 90er-Jahre beantwortet werden, so Läufer (Laeufer, 1994, S. 204). Eine europäische Verfassung definiere den endgültigen Rahmen der europäischen Integration und sei ein wichtiger Pfeiler des Modernisierungsprozesses in Europa nach den dramatischen Veränderungen von 1989 (Laeufer, 1994, S. 204–206). Läufer betonte, dass die Debatten über Verfassungsfragen den nationalen Kontext erweitern müssen. Der Prozess zur Schaffung einer europäischen Verfassung muss die Heterogenität der verschiedenen nationalen Verfassungseinflüsse anerkennen (Laeufer, 1994). Einen wichtigen Beitrag zur Debatte über eine europäische Verfassung lieferte die sogenannte Grimm-Habermas-Debatte. Grimm, damals Richter am deutschen Bundesverfassungsgericht, argumentierte, dass das Demokratiedefizit der EU ein „strukturelles“ sei; daher sei es nicht möglich, eine europäische Demokratie durch die Stärkung der europäischen

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Institutionen zu schaffen. Schlimmer noch, die Stärkung der europä­ ischen Institutionen würde das Problem des Demokratiedefizits verschärfen, da stärkere undemokratische europäische Institutionen die Rolle der demokratisch legitimierten nationalen Institutionen minimieren würden (Grimm, 1995). Eine europäische Demokratie kann nicht etabliert werden, weil die für eine demokratische Entscheidungsfindung notwendigen Voraussetzungen wie europäische Parteien, Medien, Verbände und eine europäische Öffentlichkeit im Allgemeinen fehlen. Am wichtigsten ist für Grimm das Fehlen einer europäischen Sprache, die es allen Europäern ermöglichen würde, an den europäischen Debatten teilzunehmen (Grimm, 1995, S. 587–590). Habermas erklärt, dass er Grimms Analysen über den Ursprung des Demokratiedefizits zustimmen würde, der sich aus der besonderen Kon­ struktion der EU als einer supranationalen Organisation ergibt, die mit Souveränitätsrechten ihrer Mitgliedsstaaten ausgestattet ist, aber keine rechtliche Verfassung hat, die die Machtausübung auf einer konstitutionellen Ebene regelt (Habermas, 1996, S. 186). Ein „Einfrieren“ des Prozesses der Bündelung von Souveränität auf europäischer Ebene hält Habermas jedoch nicht für eine Lösung, da die eigentliche Triebkraft, die die nationale Souveränität untergräbt, in der Dynamik einer globalen Wirtschaft und der Finanzmärkte liegt. Nur ein europäischer Akteur könne diese Prozesse beeinflussen (Habermas, 1996, S. 188–189). Habermas ist der Meinung, dass eine europäische Verfassung in der Lage wäre, die notwendige Identität auf europäischer Ebene im Laufe der Zeit zu stiften (Habermas, 1996, S. 191). Unter Bezugnahme auf die Grimm-Habermas-Debatte stimmte Thiel mit Habermas darin überein, dass eine gemeinsame Identität nicht unbedingt vorausgesetzt werden muss, um den Prozess der Entwicklung einer demokratischen Verfassung einzuleiten. Er argumentiert, dass es in der historischen Entwicklung nationaler Verfassungen ein komplexes Wechselspiel zwischen der Entwicklung nationaler Identität und nationalen politischen Prozessen gab. Er betont, dass die nationale Identität in der Geschichte an Bedeutung verlor, je mehr sich politische Prozesse etabliert hatten. Kulturelle Identität ist also nicht unbedingt eine Voraussetzung für gemeinsames Handeln. Allerdings betont Thiel auch, dass genauer ausgearbeitet werden muss, wie die Induktion von Identität aus-

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sehen könnte, um Habermas’ Argumentation zu stützen (Thiel, 2008, S. 169). Wie Habermas lehnt auch Thiel das Argument Grimms ab, dass eine europäische Verfassung und eine europäische Demokratie scheitern müssten, weil es keine europäische Öffentlichkeit mit europäischen Parteien, Medien und Verbänden gäbe. Thiel erinnert auch daran, dass sich diese Institutionen bei der Entwicklung der nationalen Demokratien mit der Zeit herausgebildet haben (Thiel, 2008, S. 171). Das kommunitaristische Verständnis des Republikanismus ist laut Thiel nicht in der Lage, mit hybriden Zuständen der europäischen Integration umzugehen (Thiel, 2011, S. 247–248). Thiel weist auch Grimms Argument zurück, dass eine europäische Verfassung die nationalen Verfassungen ersetzen würde, während ein internationaler Vertrag über die Europäische Union die Rolle der nationalen Verfassungen beibehalten würde. Thiel betont vielmehr, dass eine Verfassung nicht als starres Konstrukt zu sehen ist, das von Anfang an reibungslos passen muss. Es gäbe kein Schwarz oder Weiß. Die Kräfte, die die europäische Integration vorantreiben, können ohnehin zu einer Machtkonzentration auf europäischer Ebene führen, und eine Verfassung könnte den Bürgern Rechte geben, diesen Prozess zu beeinflussen. Die Entwicklung der Verfassung könnte sich dann im Laufe der Zeit vollziehen, und für Thiel besteht eine realistische Chance, dass dieser Prozess erfolgreich sein wird (Thiel, 2008, S. 171–172). Grimms Argumentation lässt in der Tat die wirtschaftlichen Realitäten außer Acht, die die europäische Integration vorantreiben. Es ist die wirtschaftliche Interdependenz der Individuen (nicht der Mitgliedsstaaten), die am gemeinsamen Markt teilnehmen, die die Schaffung einer europäischen Verfassung erfordert, die den Bürgern die notwendigen Rechte gibt, diesen Prozess zu beeinflussen. Eine europäische Verfassung muss sich im Laufe der Zeit zusammen mit dem gemeinsamen Markt entwickeln. Allerdings räumt Thiel ein, dass die Strategie, eine Verfassung erst nach ihrer Umsetzung durch die Akzeptanz der Bevölkerung zu legitimieren, begründungsbedürftig ist. Der Ansatz von Habermas müsste noch genauer ausgearbeitet werden, um den Mechanismus besser zu verstehen, wie eine europäische Verfassung weitere Integration statt Desintegration entfalten könnte (Thiel, 2008, S. 173).

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Die Debatte über eine europäische Verfassung hat auch zu weiteren akademischen Arbeiten über die Idee einer europäischen Republik geführt. Der umfassendste Ansatz für eine Europäische Republik wurde von Collignon (2003, siehe Abschn. 6.3) vorgeschlagen, der argumentierte, dass die europäische wirtschaftliche Integration zur Schaffung europäischer öffentlicher Güter geführt hat, die von einer europäischen Regierung verwaltet werden müssen. Das Hauptproblem der Theorien, die das strukturelle Defizit der EU begründen, ist laut Collignon, dass sie von festen Präferenzen ausgehen (Collignon, 2011, S. 13). Diese Theorien gehen davon aus, dass, wenn es keine Präferenz für eine weitere politische Integration gibt, diese auch nicht stattfinden sollte. Wie Monnet jedoch sagte, besteht der Prozess der europäischen Integration „nicht in der Angleichung, sondern in der Verschmelzung der Interessen beider Volkswirtschaften“, was bedeutet, dass er darauf abzielt, die Präferenzen der europäischen Bürger zu vereinen und nicht einfach auszugleichen (siehe Abschn. 3.2.1). Collignon zeigte, dass unter republikanischen Annahmen die Präferenzen innerhalb eines Gemeinwesens tatsächlich konvergieren werden. Die republikanischen Annahmen besagen, dass die Präferenzen nicht feststehen, sondern in einer öffentlichen Debatte noch zu definieren sind, dass die Akteure über eine begrenzte Rationalität verfügen und dass dementsprechend transparente demokratische Entscheidungsprozesse die Bürger zwingen, ihre Präferenzen offenzulegen (Collignon, 2008a). Es ist jedoch wichtig, Institutionen zu schaffen, die diesen Prozess möglich machen. Bogdandy argumentierte, dass die europäische Verfassung, sollte sie in Kraft treten, de facto einen Übergang der Europäischen Union in eine so genannte „Europäische Republik“ bedeutet hätte (von Bogdandy, 2005, S. 21). Er betonte, dass der Begriff „Republik“ am ehesten geeignet sei, als „Leitidee“ für den weiteren Verlauf der europäischen Integration zu dienen (von Bogdandy, 2005, S.  23–24). Auch König argumentierte, dass die europäische Verfassung eher diesem normativen Ziel folgen würde, da sie am institutionellen Rahmen der Europäischen Union eigentlich nicht viel ändert (König, 2005, S. 361). Der Europäische Konvent erarbeitete einen Entwurf für einen Vertrag über eine Verfassung für Europa, der am 29. Oktober 2004 von den europäischen Staatsoberhäuptern unterzeichnet wurde. Die europäische

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Verfassung sollte einen neuen, tieferen politischen Rahmen schaffen, um mit den neuen wirtschaftlichen Realitäten nach der Einführung des Euro und der Erweiterung der Europäischen Union im Jahr 2004 umgehen zu können. Die Bedeutung des Scheiterns der Verabschiedung der Verfassung im Jahr 2005 für den Verlauf der Eurokrise einige Jahre später wird oft übersehen. Die Ablehnung der europäischen Verfassung war ein wesentlicher Faktor, der das Vertrauen in den politischen Zusammenhalt und die Solidarität der Europäischen Union untergraben hat. Nach dem Scheitern der Europäischen Verfassung erübrigte sich zudem auch die Debatte über eine Europäische Republik zunächst.

6.1.4 Guérots und Menasses Konzept einer europäischen Republik Die Idee einer Europäischen Republik wurde im Zuge der Eurokrise von der Publizistin Ulrike Guérot und dem Schriftsteller Robert Menasse wieder aufgegriffen. Sie veröffentlichten einen Aufruf für eine Europä­ ische Republik (Guerot & Menasse, 2013). Sie betonten, dass es an der Zeit sei, neue, kreative Ideen für die europäische Integration zu entwickeln und dass Wirtschaft, Währungspolitik und politischer-institutioneller Rahmen als eine Einheit verstanden werden sollten. Guérot argumentiert, dass die starke Position des Europäischen Rates und der Nationalstaaten im Integrationsprozess ein großes Hindernis für die europäische Integration sei, da der politische Wille, die Integration voranzutreiben, fehle (Guerot, 2018, S. 332). Sie entwickelt eine Methode, um den derzeitigen Stillstand der europäischen Integration zu überwinden, indem sie die Idee einer Europäischen Republik entwickelt. Sie argumentiert, dass politischer Wandel mit einer mentalen Idee, einer Utopie, beginnt, die dann durch menschliche Interaktion zu einer Realität in Form eines realen Staates wird (Guerot, 2017). Indem das Konzept des Republikanismus in den europäischen Diskurs eingebracht wird, können nationalistische Vorstellungen überwunden werden (Guerot, 2016, S. 82). Guérots Ansatz kann daher mit Bogdandys Argument verglichen werden, dass eine europäische Republik zu einer „Leitidee“ werden könnte, die die europäische Integration vorantreibt. In ihren Arbeiten

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zieht Guérot daher viele Assoziationen zur Geschichte der republikanischen Idee heran, um die Vision einer utopischen europäischen Republik und damit ein anderes „Narrativ“ für die europäische Integration zu entwickeln (Guerot, 2016). Ihr Ansatz ist daher normativ: Sie zeichnet das Bild einer utopischen europäischen Republik und erklärt, wo Europa die republikanischen Ideen nicht erfüllt. Auf diese Weise entwickelt sie einen Weg, wie eine Europäische Republik zu etablieren ist und entwickelt auch ein allgemeines institutionelles Design einer solchen Republik (Guerot, 2016, S. 119–146). Guérot und Menasse brachten das Thema einer europäischen Repu­ blik in die öffentliche Debatte in Deutschland ein. Der deutsche Bundespräsident Joachim Gauck hat in seiner Rede zur europäischen Integration am 22. Februar 2013 auf den Ausdruck „europäische res publica“ Bezug genommen. Im November 2018 wurde die Europäische Republik vom Balkon von über 300 Theatern in ganz Europa als künstlerischer Akt ausgerufen, um eine Debatte über die europäische Integration anzustoßen. Im Jahr 2018–2019 haben mehrere Parteien das Konzept auf ihren Mitgliederversammlungen diskutiert. Bündnis 90/Grüne haben die Idee einer europäischen Republik 2020  in ihr Grundsatzprogramm aufgenommen.

6.2 Kommunitaristischer Republikanismus Befürworter der Theorie des „strukturellen Defizits“ argumentieren, dass es nicht möglich sei, eine europäische Demokratie zu schaffen, weil ein europäischer Demos nicht existiere und auch nicht geschaffen werden könne. Kommunitäre Republikaner betonen daher die Bedeutung von Gemeinschaft und Zugehörigkeit. Nach Lovett und Pettit muss der Neo-­ Republikanismus von kommunitaristischen Ansätzen unterschieden werden. Der Neo-Republikanismus lässt sich durch drei Hauptgedanken charakterisieren: erstens die Idee einer freien Person als einer Person ohne Herrscher, zweitens das Konzept eines Staates, der Herrschaft verhindert, und drittens die Rolle einer guten Staatsbürgerschaft, um Herrschaft zu verhindern. Obwohl der kommunitaristische Republikanismus auch republikanische Tugenden und einige dieser Merkmale impliziert, setzt er

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viel stärker auf die Abhängigkeit des Einzelnen von der Gemeinschaft und könnte daher nicht als neo-republikanisch definiert werden (Lovett & Pettit, 2009, S. 12). Nichtsdestotrotz beeinflusste das kommunitaristisch-republikanische Verständnis den Diskurs über die europäische Integration durch das Urteil des deutschen Verfassungsgerichts zum Vertrag von Maastricht.

6.2.1 Eine Republik der Bürger oder der Staaten? Ein Beispiel für ein solches kommunitaristisches Verständnis von Republikanismus ist Karl Albrecht Schachtschneider, einem Juraprofessor, der die Verfassungsbeschwerde einreichte, die zum Maastricht-Urteil des Bundesverfassungsgerichts führte, und der damit – indirekt durch die Beschwerden, weniger durch seine eigentlichen Schriften – den öffentlichen Diskurs in Deutschland über einen europäischen Bundesstaat oder eine europäische Konföderation mitprägte. Schachtschneider entwickelte das Konzept einer „Republik der Völker Europas“. Für Schachtschneider ist die Republik die einzige Form, in der ein Volk zur Freiheit gelangen kann. Er definiert Freiheit als eine Kombination aus innerer und äußerer Freiheit. Die äußere Freiheit beschreibt die grundlegenden Rechte auf Abwehr äußerer Kontrolle und könnte mit dem Nichteinmischungskonzept des liberalen Freiheitsverständnisses verglichen werden. Für Schachtschneider gibt es aber auch den Aspekt einer „inneren Freiheit“, die er, aufbauend auf Kants Philosophie, als „Pflicht zur Sittlichkeit“ bezeichnet. Aus dieser Pflicht zur Sittlichkeit und dem christlichen Gebot der Nächstenliebe leitet Schachtschneider die Pflicht der Bürger zur Bildung einer Republik ab, die den gemeinsamen Willen der Menschen zum Leben in Freiheit zum Ausdruck bringt (Schachtschneider, 1997). Dieser republikanische Ansatz von Schachtschneider wurde von anderen Wissenschaftlern kritisiert. Anderheiden hat dargelegt, dass das christliche Gebot der Nächstenliebe den republikanischen Prinzipien einer entpersonalisierten und entpriva­ tisierten Ethik widerspricht. Schachtschneiders Republikverständnis würde zu einem totalitären Tugendstaat führen, der den Prinzipien des Grundgesetzes widerspricht (Anderheiden, 2006, S. 266–267). Schacht-

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schneider vermengt also Republikanismus mit Kommunitarismus. Darüber hinaus beruft sich Schachtschneiders „innere Freiheit“ auf die bürgerlichen Tugenden, wie sie in den Texten der antiken republikanischen Philosophen beschrieben werden; sie ignoriert jedoch die moderne Debatte über Freiheit und Republikanismus, wie sie von Skinner und Pettit geführt wird. Schachtschneider argumentiert, dass es aufgrund der Tatsache, dass „ein Volk unvermeidlich eine Schicksalsgemeinschaft ist“, notwendig sei, existenzielle Kompetenzen auf der nationalen Ebene zu belassen. Dies betreffe vor allem verfassungsrechtliche Aspekte, aber auch wesentliche Gesetzgebungs-, Verwaltungs- und Rechtsprechungskompetenzen. Schachtschneider argumentiert insbesondere, dass ökonomische und ökologische Probleme von existenzieller Bedeutung seien und daher auf nationaler Ebene belassen werden müssten. Die Mitgliedstaaten können eine begrenzte Souveränität in einer Europäischen Republik bündeln, um gemeinsame Angelegenheiten, wie den gemeinsamen Markt, zu regeln. Aus diesem Grund lehnt er die Wirtschafts- und Währungsunion der Europäischen Union (und die damit verbundene Sozialunion) ab (Schachtschneider, 1999, S. 122). In Schachtschneiders Vision einer „Republik der Völker Europas“ wird das Recht auf nationaler Ebene durch eine republikanische, vom Volk legitimierte Verfassung erlassen. Die Europäische Union wäre dann nur noch eine „Republik der Republiken“, deren Ziel es ist, die Vereinbarkeit der verschiedenen nationalen Gesetze mit dem Recht der anderen Völker der Gemeinschaft zu gewährleisten (Schachtschneider, 1999, S. 122–123). Er betont daher die Bedeutung intergouvernementaler Formen des Regierens in der EU und die Begrenzung der Bündelung von Souveränität auf europäischer Ebene (Schachtschneider, 1999, S. 124–128). Er argumentiert, dass die Wirtschafts- und Währungsunion ein Versuch gewesen wäre, die Schaffung eines europäischen Superstaates durchzusetzen, obwohl die europäische Bevölkerung niemals ihren Willen für einen solchen Staat geäußert hätte (Schachtschneider, 1999, S. 132). Schachtschneiders Thesen sind aus mehreren Gründen problematisch. Schachtschneider übersieht die radikale gegenseitige Abhängigkeit, in die die wirtschaftlichen Kräfte eines gemeinsamen Marktes die europäischen Bürger über die nationalen Grenzen hinweg bringen. In Schacht-

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schneiders Verständnis ist der einzelne europäische Bürger auf das Handeln der Regierung des Mitgliedsstaates angewiesen, um vor Formen der Beherrschung durch die europäische Integration geschützt zu sein. Die europäische Integration ist jedoch in einer Weise verlaufen, die die Mitgliedstaaten mit der Erfüllung dieser Aufgaben überfordert. Die europä­ ischen Bürger, die Teil des gemeinsamen Marktes sind, brauchen individuelle Rechte, um ihre Freiheit zu garantieren. Schachtschneider hat also insofern Recht, als die Schaffung einer Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion zumindest die Schaffung einer europäischen Staatlichkeit voraussetzt (deshalb lehnte er die Währungsunion ab). Es ist jedoch nicht klar, welche Alternative Schachtschneider vorschlägt. Wie Habermas betont hat (siehe weiter oben), kann das „Einfrieren“ des derzeitigen hybriden Zustands der europäischen Integration keine Lösung sein. Schachtschneider überbetont zudem die Rolle einer „proeuropäischen politischen Elite“, wenn er den Eindruck äußert, die Europäische Währungsunion (EWU) sei ein Versuch, einen europäischen Superstaat gegen den Willen der Bevölkerung durchzusetzen. Eigentlich sind es nicht die politischen Eliten, die die Schaffung eines europäischen Staates erzwingen, sondern die Kräfte der Globalisierung, die durch den technologischen Fortschritt angetrieben werden. Die WWU ist in der Tat ein Versuch, stärkere europäische Institutionen und vielleicht eines Tages auch einen europäischen Staat zu schaffen. Sie ist aber nicht der Versuch, gegen den Willen der Menschen einen europäischen Superstaat zu schaffen, sondern den Prozess der europäischen Integration zu beschleunigen und zu steuern, um die politische Handlungsfähigkeit wieder zu erlangen. Wird die Globalisierung als gegeben hingenommen, dann ist die politische Integration der einzige Weg, um politische Handlungsfähigkeit zurückzugewinnen (siehe auch die Argumentation von Habermas in Abschn.  6.1.3). Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass es zur Wiederherstellung bzw. Stärkung der nationalen Souveränität nicht ausreicht, dem europäischen Integrationsprozess einen Strich durch die Rechnung zu machen. Vielmehr wäre es notwendig, das Konzept der Globalisierung und seine Voraussetzungen zu dekonstruieren. Um den Prozess der Globalisierung zu stoppen oder zu verlangsamen, müsste man Kapitalverkehrskontrollen, Grenzkontrollen und Handelsbarrieren einführen und dementsprechend Grenzen und Mauern bauen, die massiv in die

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Freiheit der Menschen eingreifen. Es ist jedoch fraglich, ob solche Versuche den technologischen Fortschritt aufhalten können. Europa muss sich daher zwischen zwei Wegen entscheiden, die beide schwierig sind und im Moment unmöglich zu sein scheinen: Der erste Weg ist die Schaffung starker europäischer Institutionen und die Hoffnung, dass es möglich sein wird, angemessene europäische demokratische Strukturen für die europäischen Bürger zu schaffen. Die zweite Möglichkeit wäre, die Grenzen wiederherzustellen und zu hoffen, dass diese den Prozess der Globalisierung aufhalten können. In seinen Urteilen zum Vertrag von Maastricht (1993), zur Einführung des Euro (1998), zum Vertrag über eine Verfassung für Europa (2005), zum Vertrag von Lissabon (2008) und zum Rettungsprogramm für Griechenland (2010) wies das Bundesverfassungsgericht Schachtschneiders Auffassung zurück, dass die europäische Integration die demokratischen Prinzipien des Grundgesetzes aushöhlen würde. Allerdings sei bereits das Maastricht-Urteil, das die Rolle der Mitgliedstaaten im Integrationsprozess betonte, als Erfolg zu werten, da es dem Integrationskurs klare Grenzen setze, so Schachtschneider. Auch das Bundesverfassungsgericht hat im Lissabon-Urteil der Verfassungsbeschwerde teilweise zugestimmt und argumentiert, dass die Mitwirkungsrechte des Bundestages und des Bundesrates genauer definiert werden müssen, um mit dem Grundgesetz in Einklang zu stehen. Obwohl das Verfassungsgericht Schachtschneiders Argumente generell zurückwies, ist nicht zu leugnen, dass die Entscheidungen des Verfassungsgerichts den weiteren Prozess der europäischen Integration beeinflusst haben.

6.2.2 Eine Republik zur Umgehung der Probleme der Souveränität und des Föderalismus? Auch Collignon kritisierte die Logik im Maastricht-Urteil des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) und dessen kommunitaristische Implikationen. Probleme entstehen vor allem dann, wenn die Souveränität vom Staat und seinen Institutionen und seiner kulturellen Identität abgeleitet wird und nicht von den Menschen, die von den Entscheidungen des Staates betroffen sind. Collignon argumentiert, dass dieses konservative

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Verständnis der europäischen Integration das republikanische Prinzip untergräbt, dass der Wille des Volkes durch Debatten und Konsultationen der von der res publica betroffenen Menschen bestimmt wird. Das Urteil des BVerfG stellt ein Hindernis für die Schaffung einer europä­ ischen Demokratie dar. Laut Collignon besteht das Problem darin, dass das BVerfG die Souveränität immer noch von der einzelnen Nation und ihrem Volk als Ganzes ableitet und nicht von den einzelnen Bürgern, die von den Entscheidungen einer Institution betroffen sind. Aufgrund dieses methodischen Ansatzes kann die Demokratie in Europa nach Ansicht des BVerfG nur durch intergouvernementale Entscheidungsprozesse aufrechterhalten werden (Collignon, 2007, S. 19–20). Collignon vertrat die Auffassung, dass der politische Föderalismus auch keinen umfassenden Vorschlag für die Verteilung von Kompetenzen auf die verschiedenen Regierungsebenen liefert. Der politische Föderalismus schaffe „geografische“ Untereinheiten, die durch politische Identität und nicht durch wirtschaftliche Notwendigkeiten definiert seien. Der fiskalische Föderalismus gab eine differenziertere Antwort, da er diese unterschiedlichen politischen Identitäten als „heterogene Präferenzen“ modellierte; die Verteilung von Kompetenzen sollte dann die unterschiedlichen Präferenzen gegenüber der Skalenökonomie bei der Bereitstellung öffentlicher Güter berücksichtigen (Collignon, 2011, S. 12). Ein großer Vorteil des republikanischen Paradigmas der Republik der Bürger anstelle der Mitgliedsstaaten besteht für Collignon darin, dass es die dem Nationalismus innewohnenden Konzepte vermeiden lässt. Der Begriff der „Republik“ unterscheidet sich vom Begriff der „Nation“ oder des Nationalstaats. Ein Staat ist eine Gemeinschaft, der ein Individuum angehört (Collignon, 2017, S. 42–48). „Ein friedliches Europa“, schreibt Collignon, „kann nicht auf dem Stammesgefühl der Identität aufgebaut werden“ (Collignon, 2008b, S. 63). Eine Republik hingegen gehört dem Volk. Die Bürger sind die Eigentümer der öffentlichen Güter, die die Republik bereitstellt. Dieser Ansatz bringt mehrere Vorteile mit sich: Das antike republikanische Paradigma beruht auf gemeinsamen Interessen (während das konservativ-holistische Verständnis auf gemeinsamen Gefühlen beruht). Die Notwendigkeit, eine Republik zu errichten, lässt sich daher aus dem gemeinsamen Interesse an europäischen öffentlichen Gütern ableiten. Wenn es europaweite externe Probleme gibt, dann brau-

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chen wir auch europaweite Gesetze und Institutionen, um sie zu lösen, trotz kultureller Unterschiede. Die Idee einer Europäischen Republik könnte daher für Europa überzeugender sein, da sie nicht (wie der Föderalismus) die Vorstellung enthält, zu einem neuen europäischen Superstaat zu gehören (Collignon, 2017, S. 48–49).

6.3 Collignons Res Publica der öffentlichen Güter Stefan Collignon schlug das Konzept einer Europäischen Republik als „res publica der öffentlichen Güter“ vor, um die europäische Idee wiederzubeleben (siehe Collignon, 2003, 2017). Er argumentiert, dass die europäische Integration bestimmte Arten von europäischen öffentlichen Gütern geschaffen hat, die nach dem republikanischen Paradigma eine europäische Governance benötigen.

6.3.1 Der Ausgangspunkt: Epistemische Konstitutionen Collignon beginnt seinen Ansatz mit der Definition von epistemischen Wahlkreisen. Er definiert ein „Gemeinwesen als eine epistemische Wählerschaft, die sich auf eine Verfassung für verfahrenstechnische Regeln der Politikgestaltung einigt“, was bedeutet, dass eine epistemische Wählerschaft eine Einheit ist, in der sich Individuen auf gemeinsame Regeln einigen. Die Europäische Union kann nach Collignon als eine solche Wählerschaft betrachtet werden, da sich die Bürger (oder vielmehr die Regierungen) auf bestimmte Regeln geeinigt haben. Die epistemische Wählerschaft gemeinsamer Regeln lässt sich jedoch in mehrere kleinere „unterschiedliche epistemische Wählerschaften zur Bewertung substanzieller und distributiver Fragen“ unterteilen (Collignon, 2003, S.  28). Während die Europäische Union durch gemeinsame Regeln charakterisiert ist, könnten Verteilungsfragen also immer noch auf einer niedrigeren Ebene der Wählerschaft gelöst werden, zum Beispiel auf der Ebene des Nationalstaats.

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Collignon betont, dass es für die Europäische Union von größter Bedeutung ist, die epistemischen Grundlagen der Union kohärent und vollständig zu definieren. Europa muss die richtigen Institutionen schaffen, um einen Prozess der rationalen Entscheidungsfindung zu ermöglichen, bei dem rationale Entscheidungen das logische Ergebnis der politischen Entscheidungsfindung sind. Die Europäer müssen einen „epistemischen Konsens“ über die Regeln erreichen, denn „Das gemeinsame Wissen um diese Normen hält die Menschen zusammen und ist daher eine der elementarsten Grundlagen der Gesellschaft. Wenn Europa geeint werden soll, muss es Institutionen schaffen, die das Entstehen eines solchen europäischen Konsenses ermöglichen.“ (Collignon, 2003, S. 26)

Nur durch die Schaffung der richtigen Institutionen kann gewährleistet werden, dass Informationsasymmetrien, Agency-Probleme und externe Effekte den Entscheidungsprozess nicht stören. Mängel in dieser grundlegenden Konstruktion der Europäischen Union sind schwerwiegend, weil „epistemische Meinungsverschiedenheiten einen grundlegenderen Konflikt verursachen können als Verteilungsfragen“, und weil sie „zum Zusammenbruch der rationalen Wahl führen können“ (Collignon, 2003, S. 26). Wenn Mitgliedstaaten oder Einzelpersonen sich über die grundlegenden Regeln für das Funktionieren Europas nicht einig sind, kann dies zu weitaus größeren Problemen für die europäische Integration führen. Dies ist der Grund, warum anti-europäische populistische Bewegungen eine so große Gefahr für die europäische Integration darstellen können.

6.3.2 Die Res Publica der Gemeingüter Eine wichtige Frage ist jedoch, wie ein solcher „epistemischer Konsens“ hergestellt werden kann. Collignon schlägt ein republikanisches Paradigma vor, um zu erklären, wie ein institutioneller Rahmen für die Europäische Union geschaffen werden kann. In der Republik geht es um die „res publica“, die „öffentliche Angelegenheit“. In der republikanischen

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Tradition ist das Volk gemeinsamer Eigentümer des öffentlichen Eigentums. Außerdem konzentriert sich die Republik auf das Gemeinwohl und versucht, den Wohlstand aller Mitglieder im Allgemeinen zu steigern (Collignon, 2013, S. 4). Die Regierung ist für die Republikaner nur ein Agent, der für die Verwaltung dieser „öffentlichen Angelegenheiten“ und insbesondere des öffentlichen Eigentums verantwortlich ist (Collignon, 2013, S. 4). Für Republikaner müssen das Gemeinwohl und die gemeinsamen Güter durch das Gesetz verwaltet werden. Im Republikanismus bedeutet Freiheit, dass die Individuen keinem König oder Despoten unterworfen sind, sondern dass die Regierung tatsächlich dem Volk und der Rechtsstaatlichkeit unterworfen ist (Collignon, 2013, S. 4). Darüber hinaus „ergibt sich die Rechtsgemeinschaft der republikanischen Bürger aus ihrem Status als Gemeineigentümer“ (Collignon, 2017, S. 53). Die Republik, so Collignon, ist „als Rechtsgemeinschaft konzipiert, d. h. als Rechte und Pflichten von Individuen, die das gemeinsame Wohlergehen anstreben“ (Collignon, 2017, S.  49). Ein gemeinsames Merkmal des republikanischen Paradigmas ist daher, dass gemeinsame Probleme durch gemeinsame Gesetze gelöst werden. In einer Republik haben die Nutzer öffentlicher Güter daher ein „Recht auf die Festlegung kollektiver Präferenzen“ (Collignon, 2017, S. 42) in Bezug auf gemeinsame Angelegenheiten (und auf die Verwaltung von Gemeingütern). Die antike Idee der Republik ähnelt daher der Idee des „Gemeinwesens“. Sie drückt auf sehr elegante Weise die Idee aus, dass sich eine Gruppe von Bürgern zusammenschließt, um ein gemeinsames oder öffentliches Gut zu schaffen (Collignon, 2008b, S. 63). Diese Idee ist auch Ciceros Definition eines Gemeinwesens: „A commonwealth is a constitution of the entire people. – The people, however, is not every association of men, however congregated, but the association of the entire number, bound together by the compact of justice, and the communication of utility.“ (Cicero, 1842, S. 172, Book I)

Ein Gemeinwesen wird also durch zwei Faktoren definiert: ein gemeinsames Gerechtigkeitsempfinden, das durch gemeinsame Gesetze zum Ausdruck kommt, und der Nutzen des Gemeinwesens selbst. Diese

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Definition eines Gemeinwesens ist auch wichtig, um die optimale Größe eines (nationalen oder europäischen) Gemeinwesens zu bestimmen, da gewährleistet sein muss, dass die teilnehmenden Bürger in der Lage sind, über gemeinsame Gesetze zu entscheiden. Dennoch kann Ciceros „res publica res populi“ laut Collignon eher mit „öffentliche Güter sind die Güter des Volkes“ übersetzt werden als mit dem üblichen „ein Gemeinwesen ist das Eigentum eines Volkes“ (Collignon, 2017, S. 48–49). Collignon kommt zu dem Schluss, dass die europäische (wirtschaftliche) Integration europäische öffentliche Güter geschaffen hat, die nach dem republikanischen Paradigma dem europäischen Volk gehören. Die Verwaltung dieser europäischen öffentlichen Güter erfordert daher europaweite Gesetze, die vom europäischen Volk legitimiert sind, und eine europäische Verwaltung, die dem europäischen Volk gegenüber rechenschaftspflichtig ist. Schauen wir uns nun genauer an, wie diese europäischen öffentlichen Güter definiert werden könnten.

6.3.3 Definition der europäischen öffentlichen Güter In Abschn. 5.4 haben wir gesehen, dass in den letzten 20 Jahren eine zunehmende Debatte über europäische öffentliche Güter entstanden ist. Allerdings wurde die Debatte über öffentliche Güter bisher hauptsächlich von der allgemeinen Debatte über den europäischen Haushalt beeinflusst. Darüber hinaus scheint es immer noch schwierig zu sein, eine klare Definition dessen zu geben, was ein europäisches öffentliches Gut eigentlich ist. Wann ist ein öffentliches Gut europäisch und nicht mehr national? Was wäre die richtige Methode, um europäische öffentliche Güter zu definieren? Es ist nicht einfach, eindeutige Beispiele für ein europäisches öffentliches Gut zu nennen. Auf lokaler oder nationaler Ebene sind Beispiele für öffentliche Güter intuitiv plausibler: Lokale Schwimmbäder, Straßen und Schulen sind offensichtlich lokale öffentliche Güter, während nationale Verteidigung, Universitäten und Autobahnen normalerweise als nationale öffentliche Güter angesehen werden. Mögliche Beispiele für Güter auf europäischer Ebene sind der gemeinsame Markt, ein europä­ isches Einwanderungssystem (insbesondere seit der Flüchtlingskrise) oder

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eine effiziente (und humanitäre) europäische Grenzkontrolle. Die Eurokrise hat deutlich gemacht, dass eine Bankenunion und ein Europäischer Stabilitätsmechanismus europäische öffentliche Güter sind. Die Pro­ bleme, die diese Institutionen lösen, sind jedoch viel komplexer als die offensichtlichen Beispiele für lokale oder nationale öffentliche Güter. Ein Ansatz, um „europäische“ von nationalen, regionalen oder globalen öffentlichen Gütern zu unterscheiden, besteht darin, einfach zu ermitteln, welche europäischen Institutionen bereits bestimmte europä­ ische öffentliche Güter bereitstellen, wie es Coeuré und Pisani-­Ferry (2007) getan haben. Das Erasmus-Programm wäre zum Beispiel ein europäisches öffentliches Gut, einfach weil es auf europäischer Ebene finanziert wird. Collignon weist jedoch darauf hin, dass dieser Ansatz nicht den oben erläuterten republikanischen Anforderungen entspricht (Collignon, 2011, S.  44–46). Die Existenz europäischer öffentlicher Güter wird hier durch die gemeinsame Entscheidung der Mitgliedsstaaten erklärt. Diese Ansätze erklären jedoch nicht umfassend, warum die Mitgliedstaaten überhaupt beschlossen haben, Kompetenzen auf europä­ ischer Ebene zu delegieren oder zu bündeln. Sie gehen (ähnlich wie der Ansatz von Moravcsik) davon aus, dass gemeinsame Politiken auf europäischer Ebene eingeführt wurden, weil sich die Mitgliedstaaten darauf geeinigt haben. Daher sind diese Ansätze nicht in der Lage, die entscheidenden Probleme der aktuellen europäischen Integrationstheorie zu lösen, die ich in Teil I dieses Buches beschrieben habe. Darüber hinaus wies Collignon zu Recht darauf hin, dass Ansätze wie der von Coeuré und Pisani-Ferry nicht die externen Probleme berücksichtigen, die die Bürger betreffen und die die Regierungen veranlassen, auf diese externen Probleme zu reagieren. Selbst wenn man die Existenz der zugrundeliegenden externen Probleme akzeptiert, kann es sein, dass die nationalen Regierungen nicht immer der beste Akteur sind, um diese externen Probleme zu lösen. Die Ableitung der Existenz europäischer öffentlicher Güter aus bestehenden europäischen Politiken kann daher keine angemessene Methode sein. Ein vielversprechenderer Ansatz könnte darin bestehen, die zugrunde liegenden externen Probleme genauer zu analysieren, um zu erklären, warum diese Probleme nur durch eine stärkere europäische Governance gelöst werden können (Collignon, 2011, S. 45–50).

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Collignon argumentierte, dass eine Externalität „europäisch“ ist, wenn sie alle Europäer betrifft. Es ist daher sehr wichtig, das zugrunde liegende Externalitätsproblem zu verstehen. Öffentliche Güter sind dann die In­ stitutionen, die geschaffen werden, um diese externen Probleme zu lösen. Um europäische öffentliche Güter definieren zu können, ist es daher notwendig, die zugrunde liegenden externen Probleme zu definieren. Es muss klar sein, welche externen Effekte existieren, wen sie betreffen und welche Institution sie regelt (oder regeln sollte) (Collignon, 2011, S. 44–46). Die Einstufung dessen, was ein öffentliches Gut ist, ist nicht von außen gegeben, sondern eine sozial konstruierte Tatsache (siehe Kaul & Mendoza, 2003 und Kap. 7), die von den Menschen geschaffen wird, die von den externen Effekten betroffen sind. Collignon argumentiert, dass es die Aufgabe eines europäischen demokratischen Entscheidungsprozesses ist, zu entscheiden, was ein öffentliches Gut in der Europä­ ischen Union ist (Collignon, 2011, S.  44–46). Dieser Entscheidungsprozess erfordert jedoch ein umfassendes Verständnis der zugrunde liegenden Externalitätsproblematik. In Kap.  7 werde ich eine Methodik entwickeln, wie Institutionen definiert werden können, die bestimmte externe Effekte verwalten.

6.3.4 Clubgüter vs. öffentliche Güter für alle Collignon argumentiert, dass der aktuelle Weg der europäischen Integration, die sogenannte „Monnet-Methode“, zur Schaffung einer breiten Palette von „europäischen öffentlichen Gütern“ geführt hat: die Europä­ ische Gemeinschaft für Kohle und Stahl, der Gemeinsame Markt, die gemeinsame Währung und die Gemeinsame Agrarpolitik sind nur einige Beispiele (Collignon, 2017, S. 40). Die Art dieser Güter hat sich jedoch im Laufe der Zeit verändert. Zu Beginn der europäischen Integration ging es in Europa hauptsächlich um Clubgüter, wie die Europäische Zollunion. Später jedoch entstanden im Zuge der europäischen Integration mehr und mehr gemeinsame Ressourcengüter. Collignon wies darauf hin, dass es besonders wichtig ist, zwischen diesen beiden Kategorien von Gütern und dem ihnen zugrunde liegenden Externalitätsproblem zu unterscheiden. Bei der ersten Kategorie von Gü-

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tern handelt es sich um Güter, aus deren Konsum Staaten ausgeschlossen werden können. Bei dieser Art von Externalitätsproblemen haben die Nationalstaaten einen Anreiz zu kooperieren, da die Zusammenarbeit zu Wohlfahrtssteigerungen für alle führt. Staaten haben einen Anreiz, dem Club beizutreten und daher vertrauenswürdige Verpflichtungen einzugehen, da die Nichterfüllung der Verpflichtung mit Ausschluss bestraft werden könnte. Für „europäische Clubgüter“ sind zwischenstaatliche Verhandlungen zwischen den Mitgliedstaaten möglich (sie sind möglicherweise sogar die effizienteste Lösung). Das einzige verbleibende Problem ist die asymmetrische Information. Dieses Problem kann durch die Schaffung gemeinsamer Institutionen, wie z. B. der Europäischen Kommission, gelöst werden, die die Informationen gleichmäßig verteilen. Diese Institutionen brauchen keine direkte demokratische Legitimation (Collignon, 2017, S. 57). Wenn es jedoch um Probleme mit gemeinsamen Ressourcen geht, gibt es keine ausreichenden Anreize mehr zur Zusammenarbeit, da gemeinsame Ressourcen ein Nullsummenspiel sind, bei dem jeder versucht, seinen Gewinn zu maximieren. Das Problem bei einem Allmendegut ist, dass niemand vom Konsum ausgeschlossen werden kann. Eine Überausbeutung der gemeinsamen Ressourcen ist die Folge (Collignon, 2011, S. 8–9). Gemeinsame Ressourcen bedürfen einer stärker zentralisierten Verwaltung. Ein Beispiel für ein Klubgutproblem könnte ein Mitgliedstaat sein, der dem „Klub“ der Eurozone beitreten möchte. Der Staat hat einen Anreiz, vertrauenswürdige Zusagen zu machen, weil er sonst aus dem Club ausgeschlossen wird. Die Verhandlungen über den Beitritt zum Euroraum könnten daher im Prinzip von zwischenstaatlichen Institutionen geführt werden. Diese müsste sicherstellen, dass die Angaben der Kandidaten wirklich korrekt sind (was im Falle Griechenlands allerdings bereits problematisch war). Einmal im Euroraum, konnte Griechenland dann vom Vertrauen der Finanzmärkte in die Mitglieder der Währungsunion profitieren. Dieses Vertrauen stellte somit eine gemeinsame Ressource da, derer sich Griechenland bediente. Die Eurokrise hat zudem gezeigt, dass es schwierig ist, einen Mitgliedstaat auszuschließen, wenn er dem Club einmal beigetreten ist. Obwohl Griechenland seine Verpflichtungen brach (und die anderen Mitglieder sogar belog), wurde es nicht aus dem

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Club ausgeschlossen, weil die Kosten eines Ausschlusses für die anderen Mitgliedstaaten und das europäische Projekt insgesamt zu hoch gewesen wären. Dies deutet darauf hin, dass der Steuerung des Euroraums andere externe Effekte zugrunde liegen, die eine zwischenstaatliche Steuerung erschweren. Die freiwillige Zusammenarbeit wird daher scheitern, weil jeder Einzelne „versucht ist, in einer Weise zu handeln, die den allgemeinen kollektiven Interessen direkt entgegensteht“. Die „Eigentümer“ dieses Gemeinguts haben in einer Republik das „Recht und die Befugnis“, eine Institution einzurichten, die in der Lage ist, „wenn nötig legitime Gewalt (die Macht der Regierung) anzuwenden, um zu verhindern, dass Einzelne ihren persönlichen Nutzen auf Kosten des Gemeinwohls steigern“ (Collignon, 2017, S.  57). Bei europäischen Gemeinschaftsgütern werden zwischenstaatliche Verhandlungen daher nicht zu effizienten Ergebnissen führen. Collignon argumentiert, dass, wenn europäische Gemeingüter auf zwischenstaatliche Weise verwaltet werden, die Bürger ihres Rechts beraubt werden, dieses Gut zu „besitzen“ (Collignon, 2013, S. 56–57). Collignons Hauptargument ist, dass, obwohl zu Beginn des europä­ ischen Integrationsprozesses europäische „Club“-Güter vorherrschend gewesen sein mögen, die europäische Wirtschaftsintegration seit der Einführung des gemeinsamen Marktes und der gemeinsamen Währung hauptsächlich durch gemeinsame Ressourcenprobleme gekennzeichnet sei. Die zunehmende Kooperation führe zu zunehmenden Interdependenzen und damit zu einer steigenden Zahl europäischer öffentlicher Güter (Collignon. 2017, S.  57–60). Die Einführung eines gemeinsamen Marktes für Konsumgüter machte laut Collignon die Einführung des Euro unumgänglich (Collignon, 2013, S.  10). Seit der Einführung des Euro wird die europäische Integration von gemeinsamen Ressourcenproblemen dominiert, da der Euro eine gemeinsame Ressource darstellt (Collignon, 2011, S.  10–11). Collignon leitet diese Eigenschaft des Euro aus der Tatsache ab, dass einerseits die Europäische Zentralbank (EZB) gemäß den europäischen Verträgen das Geld knapp halten muss. Daher gibt es eine Rivalität beim Konsum in „Euro“. Andererseits setzt das Gebot der makroökonomischen Stabilität voraus, dass zumindest alle Geschäftsbanken in Europa unbegrenzten Zugang zu Zentralbankliquidität haben (begrenzt nur durch den Zins- und Mindest-

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reservesatz) (Collignon, 2012, S.  47). Diese Argumentation bedarf jedoch weiterer Erklärungen. Ein Problem ist, dass die erste Annahme (Rivalität) auf einem rechtlich vereinbarten Vertrag beruht, während die zweite (Nicht-auschließbarkeit) nur auf der „wirtschaftlichen Notwendigkeit“ beruht, die eine schwächere „soziale Tatsache“ ist. Wenn außerdem nur die Banken unbegrenzten Zugang zu Geld haben, bleibt der Euro für den Durchschnittsbürger ein ausschließbares Gut.

6.3.5 Entscheidungsfindung in Bezug auf europäische öffentliche Güter Ein Hauptproblem der europäischen Integration besteht darin, dass sie immer mehr europäische Probleme mit öffentlichen Gütern schafft, während das Entstehen dieser öffentlichen Güter nicht zu einer kohärenten europäischen Governance geführt hat. Der Entscheidungsfindungsprozess der europäischen Integration ist nach wie vor weitgehend ein intergouvernementaler Prozess. Dies führte zu dem Gefühl eines „Demokratiedefizits“ der EU (Collignon, 2017, S. 41–44), wie wir auch schon gesehen haben. Mit der zunehmenden Bedeutung von Gemeinschaftsgütern auf europäischer Ebene gerät das Urteil des BVerfG zum Maastricht-Vertrag zunehmend in Konflikt mit der wirtschaftlichen Realität in Europa. Aus republikanischer Sicht untergräbt die intergouvernementale Entscheidungsfindung die Souveränität, insbesondere wenn es um Pro­ bleme der gemeinsamen Ressourcen geht. Darüber hinaus ist die Verlagerung der Bereitstellung öffentlicher Güter von der nationalen auf die europäische Ebene mit einer Reihe von Problemen verbunden. Collignon argumentiert, aufbauend auf dem Prinzipal-Agent-Argument, dass zwischenstaatliche Entscheidungspro­ zesse nicht in der Lage sind, die europäischen kollektiven Präferenzen für eine europäische Bereitstellung öffentlicher Güter zu bestimmen. In einem intergouvernementalen Prozess werden die Präferenzen zunächst auf nationaler Ebene festgelegt, erst dann verhandeln die Politiker auf europäischer Ebene. Das Ergebnis ist abhängig von der Verhandlungsmacht der Regierung. Probleme mit externen Effekten werden nach wie vor auf nationaler Ebene durch den Nationalstaat gelöst (oder vielmehr

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internalisiert). Diese Konstruktion kann nicht zu effizienten Ergebnissen führen. Die Bestimmung der richtigen Bereitstellung von europäischen öffentlichen Gütern könnte durch den zwischenstaatlichen Entscheidungsprozess fehlerhaft werden (Collignon, 2017, S. 42–44). Darüber hinaus könnte der Nationalstaat mit der Lösung von externen Pro­ blemen überfordert sein, die auf europäischer (oder globaler) und nicht auf nationaler Ebene verursacht werden. Collignon kommt zu dem Schluss, dass das ineffiziente Ergebnis der zwischenstaatlichen Verwaltung von öffentlichen Gütern zu sozialer Ungerechtigkeit auf europäischer Ebene führen kann. Während das Problem des „Demokratiedefizits“ in der Literatur breit diskutiert wurde, wurde das Problem der „europäischen sozialen Gerechtigkeit“ bisher vernachlässigt. Um dieses Problem anzugehen, wäre ein neuer institutioneller Rahmen erforderlich (Collignon, 2017, S. 43–47). Die hier vorgestellte Logik der öffentlichen Güter würde – streng genommen – vorschlagen, für jedes einzelne europäische öffentliche Gut, das entsteht, eine angemessene Institution zu schaffen. Diese Methode der direkten Demokratie wird, so Collignon, von kleinen Republiken wie der Schweiz angewandt. In einem großen Gemeinwesen wie der Europä­ ischen Union „führt die Komplexität der europäischen öffentlichen Güter zu einer übermäßigen funktionalen Trennung zwischen den verschiedenen öffentlichen Gütern, was eine demokratische Kontrolle praktisch unmöglich macht“. Collignon schlägt eine (europäische) parlamentarische Demokratie vor, in der „politische Fragen gebündelt und von Parlamenten kontrolliert werden, die den Souverän für einen begrenzten Zeitraum vertreten“ (Collignon, 2011, S. 14). Der Ansatz einer Europäischen Republik könnte dazu beitragen, einige der Hauptprobleme zu lösen, die die Padoa-Schioppa-Gruppe in ihrem Bericht beschrieben hat (siehe Einleitung). Sie könnte besser geeignet sein, das Paradoxon zwischen Europa als wirtschaftlichem Akteur und „starken innenpolitischen Kulturen“ zu lösen und „die wirtschaftlichen Herausforderungen zu lösen und gleichzeitig starke demokratisch legitimierte Grundlagen zu bewahren“ (siehe Zitat der Padoa-­Schioppa-­ Gruppe in der Einleitung, Abschn. 1.1.3.2). Eine Europäische Republik könnte dazu beitragen, die Grundlage für eine Art europäische soziale Gerechtigkeit zu schaffen. Außerdem liefert sie eine wichtige Quelle für

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eine europäische Identität. Eine Europäische Republik wäre der Endpunkt der „Renaissance“ der antiken griechischen und römischen Philosophie. Eine Europäische Republik wäre daher die praktische Umsetzung der langjährigen philosophischen Tradition Europas.

6.4 Wie der europäische Republikanismus die Probleme der europäischen Integration bewältigen kann In diesem Kapitel wurden aktuelle Ansätze des europäischen Republikanismus vorgestellt. Wie könnten diese Ansätze des europäischen Republikanismus die drei großen theoretischen Probleme der europä­ ischen Integrationstheorie angehen, die im ersten Teil des Buches beschrieben wurden?

6.4.1 Souveränität vs. soziale Institutionen zur Lösung von Externalitätsproblemen Das Konzept der Souveränität war ein wichtiger Baustein für die Entwicklung moderner Nationalstaaten. Allerdings hat sich das Konzept der Souveränität auch als ein wichtiges Hindernis bei der Schaffung einer europäischen politischen Union erwiesen, wie wir in Kap.  2 gesehen haben. Neuere Ansätze der europäischen Integrationstheorie versuchen, das Problem der Souveränität zu umgehen (siehe Kap.  5). Die Multi-­ Level-­Governance (MLG) beispielsweise nimmt die Europäische Union einfach als gegebenes Gebilde und erklärt, wie Entscheidungsprozesse an verschiedene Ebenen delegiert werden, ohne die Souveränitätsproblematik allzu sehr zu berücksichtigen. Der neue Institutionalismus versucht, die Entscheidungsprozesse in der Europäischen Union zu erklären, ohne sich zu sehr mit Fragen der Souveränität zu beschäftigen. Er verbindet die Wirtschaftstheorie mit dem Institutionalismus. Der Neue Institutionalismus ist ein vielversprechender Ansatz, da er die Möglichkeit bietet, eine Brücke zwischen

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ökonomischen und politikwissenschaftlichen Theorien zu schlagen. Er beschreibt, wie Institutionen gestaltet werden sollten, um bestimmte Probleme der externen Effekte und der öffentlichen Güter zu lösen. Einige dieser öffentlichen Güter und Externalitäten können durch zwischenstaatliche Regelungen verwaltet werden, während andere eine europä­ ische Governance erfordern. Fragen der Souveränität adressiert der Ansatz dabei allerdings nur indirekt. Collignon argumentiert, dass dieser institutionelle Ansatz durch ein republikanisches Paradigma ergänzt werden sollte. Das Konzept der res publica öffentlicher Güter besagt, dass, wenn europaweite externe Effekte und öffentliche Güter existieren, europäische Institutionen benötigt werden, um diese externen Probleme zu lösen und öffentliche Güter zu verwalten. Wenn es europäische öffentliche Güter gibt, dann sind die europäischen Bürger  – und nicht die europäischen Regierungen  – die Eigentümer dieser Güter. Ein europäischer demokratischer Entscheidungsprozess sollte daher entscheiden, welche europäischen öffentlichen Güter einer europäischen Governance bedürfen. Das republikanische Paradigma ermöglicht es, die Position des Bürgers in diesem Prozess zu stärken und Fragen der Souveränität und der politischen Legitimation zu behandeln. Der republikanische Ansatz hilft dabei, Souveränitätsprobleme zu umgehen und zu überwinden. Der Republikanismus könnte auch ein neues Narrativ zur europä­ ischen Integration entwickeln, das über das Konzept der Souveränität hinaus geht. Wie wir gesehen haben, ist der Republikanismus ein historisch viel älteres Konzept als das der Souveränität. Es wurde von den alten Griechen entwickelt, während die Souveränität erst in der frühen Neuzeit aufkam. Vor der Aufklärung waren die Machtverhältnisse in einem (landbasierten) Herrschaftssystem internalisiert. Der Nationalstaat war in der Lage, diese Beziehungen in nationale Institutionen (Märkte und politische Institutionen) zu verinnerlichen, obwohl die externen Beziehungen zwischen den Staaten bestehen blieben. Mit dem Aufkommen eines gemeinsamen europäischen Marktes und einer gemeinsamen Währung und den europäischen Externalitäten als Nebeneffekt wird das Konzept der nationalen Souveränität jedoch obsolet.

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6.4.2 Die wirtschaftliche Grundlage: Interdependenz vs. Externalitäten Das Konzept der externen Effekte wurde in der Wirtschaftswissenschaft entwickelt, um staatliche Eingriffe in nationale Märkte zu erklären und zu rechtfertigen. Die Wirtschaftspolitik von Staaten dient demnach dazu, Problemen durch externe Efekte zu begegnen. Die Herausforderung, die die wirtschaftliche Verflechtung für die nationale Politik darstellt, besteht laut Cooper darin, dass „die meisten nationalen Wirtschaftspolitiken für ihre Wirksamkeit auf die Trennung der Märkte angewiesen sind“ (Cooper, 1972, S. 165). Wirtschaftliche Interdependenz untergräbt daher die Fähigkeit des Nationalstaates, nationale externe Effekte zu regulieren. Folglich bedroht die wirtschaftliche Verflechtung „die nationale Autonomie“ (Cooper, 1972, S. 164). Moravcsik vertrat die Ansicht, dass die europäische Integration ein Prozess ist, der von den nationalen Regierungen angestrebt wird, um die Interdependenzen zu bewältigen und die Kontrolle über die nationalen Politiken wiederzuerlangen. Die Annahme der „Interdependenz“ ist jedoch – zumindest innerhalb der Eurozone – nicht mehr gültig (siehe Kap. 9), da sie voraussetzt, dass zwei getrennte Volkswirtschaften existieren, die sich gegenseitig beeinflussen. Interdependenz könnte in einer Freihandelszone, einer Zollunion oder einem gemeinsamen Markt mit nationalen Währungen ein geeignet Konstrukt zur Beschreibung der Probleme sein. Aufgrund der gemeinsamen Währung ist das Konzept für den Euroraum jedoch nicht mehr angemessen. Der Hauptgrund ist, dass der Zinssatz, der Hauptimpulsgeber der Wirtschaft, nun für alle Marktteilnehmer von der Europäischen Zentralbank festgele gt wird. Dieser Zinssatz und eine gemeinsame Inflationsrate wirken sich auf die Menschen im gesamten Euro-­Währungsgebiet in gleicher Weise aus. Es ist daher nicht mehr sinnvoll, von zwei Märkten und Preissystemen auszugehen, die sich gegenseitig beeinflussen. Im Gegensatz dazu werden die wirtschaftlichen Pro­ bleme heute innerhalb desselben europäischen Marktsystems gelöst. Ungleichgewichte können nicht mehr in Form von Interdependenzen erklärt werden, sondern sollten als ökonomische Externalitäten unvollständiger Marktmechanismen modelliert werden, die eine institutionelle An-

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passung erfordern. Das Konzept der „Interdependenz“ muss daher durch das Konzept europaweiter externer Effekte und öffentlicher Güter ersetzt werden, die im gesamten Euro-Währungsgebiet oder, in geringerem Maße, im Europäischen Gemeinsamen Markt existieren. Nach dem republikanischen Paradigma müssen diese externen Effekte durch eine europäische Governance geregelt werden. Der europäische Republikanismus und insbesondere das Konzept einer „res publica der öffentlichen Güter“ könnten daher ein leistungsfähiges Instrument sein, um die wirtschaftliche Logik (der Theorie der öffentlichen Güter) in einen politischen Rahmen (die res publica des Republikanismus) zu integrieren, um eine europäische Governance zu legitimieren (mehr dazu in Kap. 9).

6.4.3 Die Triebkraft der EI: Wirtschaftlicher Vorteil vs. Furcht vor wirtschaftlicher Dominierung Neuere Theorien neigen dazu, sich auf die wirtschaftliche Rationalität der nationalen Regierungen als Haupttriebkraft der europäischen Inte­ gration zu konzentrieren, wie wir bereits gesehen haben. Insbesondere der liberale Intergouvernementalismus und die Rational-Choice-Theorie versuchen, die europäische Integration als einen rein rationalen Prozess zu erklären, der von nationalen Akteuren mit dem Ziel der Maximierung des wirtschaftlichen Vorteils berechnet wird. Diese Theorien waren in der Lage, den Prozess der europäischen Integration zu beschreiben. Sie hatten jedoch Probleme, die Ursprünge und den endgültigen Umfang der europäischen Integration zu erklären. Sie lassen zudem die geopolitischen Aspekte der europäischen Integration außer Acht. Das Konzept der res publica der öffentlichen Güter bietet die Möglichkeit, diese theoretischen Schwächen zu überwinden. Nach dem republikanischen Paradigma schaffen Individuen Gesetze und Institutionen, um die res publica gemeinsam zu verwalten und die Beherrschung durch andere zu vermeiden. Gemeinsame Probleme müssen durch gemeinsame Regeln gelöst werden. Die wichtigste Triebkraft für den Aufbau europä­ ischer Institutionen ist daher nicht der reine wirtschaftliche Vorteil, sondern die Furcht vor wirtschaftlicher Dominierung durch andere. Dieser Ansatz hilft, die Ursprünge und den Umfang der europäischen Integra-

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tion besser zu erklären. Darüber hinaus ist er auch in der Lage, geopolitische Unterbrechungen des Integrationsprozesses zu erklären, wie sie in der Ära de Gaulle in Frankreich auftraten. Schließlich ist sie in der Lage, eine neue Vision, eine Zielvorstellungfür Europa zu entwickeln. Die europäische Integration hat zum Ziel, die Ideale der Aufklärung in Europa zu verwirklichen, jede Art von Herrschaft über die Menschen abzuschaffen und die Rechtsstaatlichkeit auf den gesamten europäischen Kontinent auszuweiten. Dieses Ziel, der Endpunkt der Aufklärung, kann nach dem republikanischen Paradigma nur durch eine europäische Republik erreicht werden.

6.4.4 Offene Baustellen einer „Europäischen Republik“ Theorie Collignons Vorschlag scheint in der Tat ein vielversprechender neuer Ansatz zu sein, um die europäische Integration zu erklären und einen Weg aus der derzeitigen Sackgasse aufzuzeigen. Allerdings enthält er noch einige „offene Baustellen“, die es zu überwinden gilt. So fehlt zum Beispiel noch eine detaillierte Einordnung des Ansatzes der „Europäischen Republik“ in das Feld der europäischen Integrationstheorien. Was kann der europäische Republikanismus leisten, was andere Theorien nicht können? Welche Schwächen anderer Theorien will der europäische Republikanismus angehen? Warum braucht die europäische Integrationstheorie einen republikanischen Ansatz? Im ersten Teil dieses Buches habe ich versucht, diese Fragen zu beantworten. Außerdem ist der Ausgangspunkt von Collignons Argumentation, die Schaffung einer europäischen epistemischen Basis, mit einigen Problemen verbunden. Er erkennt an, dass es für die Europäische Union von größter Bedeutung ist, die epistemische Grundlage der Union kohärent und vollständig zu definieren. Doch wie können sich die Europäer auf ein gemeinsames (republikanisches) Regelwerk einigen, wenn einige Länder die Idee einer europäischen Verfassung ablehnen? Die Schaffung einer solchen europäischen epistemischen Wählerschaft scheint daher noch ein großes Problem zu sein, das auch Collignons Ansatz noch nicht vollständig lösen kann. Darüber hinaus argumentiert Collignon, dass Ver-

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teilungsfragen immer noch auf einer niedrigeren Ebene, zum Beispiel dem Nationalstaat, gelöst werden könnten. Wenn jedoch die zugrundeliegenden Externalitätsprobleme eines gemeinsamen europäischen Marktes europaweite Verzerrungen verursachen, müssen sie immer noch durch eine europaweite Governance (und möglicherweise eine europaweite Umverteilung) gelöst werden. Auch die Definition der europäischen externen Effekte und öffentlichen Güter muss noch weiter entwickelt werden. Es scheint, als ob die Theorie der öffentlichen Güter zum gegenwärtigen Zeitpunkt für den europäischen Republikanismus nicht „praktikabel“ ist. Die Verbindung zwischen externen Effekten, öffentlichen Gütern und Fragen der Souveränität muss klarer herausgearbeitet werden. Daher muss die Theorie der öffentlichen Güter (verstanden als Institutionen zur Lösung von Externalitätsproblemen) um die politische Philosophie erweitert werden (siehe Kap. 7). Darüber hinaus muss der Übergang von „inklusiven Clubgütern“ zu „gemeinsamen Ressourcenproblemen“ in einer Theorie stärker untermauert werden. Collignon argumentierte, aufbauend auf einer in den Wirtschaftswissenschaften durchaus anerkannten Sichtweise, dass die Schaffung eines gemeinsamen Marktes (für Konsumgüter) die Einführung des Euro unausweichlich machte. Tatsächlich könnte der Austausch von Handelsgütern in einem gemeinsamen Markt theoretisch aber auch durch ein Wechselkurssystem ohne gemeinsame Währung erreicht werden. Es stellt sich jedoch die Frage, was die Einführung des Euro unausweichlich machte. Ich werde diese Frage in den Kap. 8 und 9 eingehen und argumentieren, dass es die Bereitschaft der europäischen Staats- und Regierungschefs war, einen europäischen Kapitalmarkt zu schaffen. Damit änderte sich die Natur des zugrundeliegenden „Spiels“: Handelsströme sind immer reziprok (unter der Annahme von Null-Kapitalströmen und ausgeglichenen Leistungsbilanzen), beide Seiten profitieren theoretisch vom Warenaustausch. Kapitalströme hingegen sind immer einseitig, und die Nettokapitalströme fließen von Nord nach Süd oder umgekehrt. Die organisation von (ausgeglichenen) Handelsströmen stellt ein so genannten „inclusive public good“ problem dar, während bei Kapitalströmen das Kapital zu einer gemeinsamen, knappen Resource wird, um das sich eine Konkurrenz entwickelt. Inclusive Public

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Goods und Common Resource Goods benötigen jedoch unterschiedliche Managmentformen. Mit diesen Problemen werde ich mich in Teil III dieses Buches befassen.

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7 Eine politische Philosophie öffentlicher Güter

Im vorangegangenen Kapitel habe ich Ansätze zu einer Europäischen Re­ publik, insbesondere Collignons res publica der öffentlichen Güter, vor­ gestellt und auf offene Konstruktionsstellen im Konzept einer Europä­ ischen Republik hingewiesen. Ein grundlegender Mangel des Konzepts der res publica der öffentlichen Güter liegt in der Theorie der öffentli­ chen Güter selbst. Es ist immer noch schwierig zu definieren, was ein öf­ fentliches Gut eigentlich ist. Wie wir in Abschn. 5.4 gesehen haben, kon­ zentriert sich die aktuelle Literatur zu europäischen öffentlichen Gütern hauptsächlich auf eine „Suche“ von Gütern, die die Kriterien der (Nicht-) Ausschließbarkeit und (Nicht-)Rivalität im Konsum auf europäischer Ebene erfüllen könnten. Es wird nicht gefragt, woher diese Kriterien eigentlich kommen und in welchem Umfang sie anwendbar sind. In die­ sem Kapitel werde ich zunächst die aktuelle Theorie der öffentlichen Güter und ihre theoretischen Grenzen vorstellen. Ich werde mich auf das Dichotomie- und Definitionsproblem der Gemeinwohltheorie konzen­ trieren, das bereits von Samuelson (1954, 1955, 1969) diskutiert wurde. Anschließend stelle ich einen politisch-philosophischen Ansatz für die Theorie der öffentlichen Güter vor, der in der Lage ist, die Dichotomie­ probleme der Theorie der öffentlichen Güter zu lösen. Schließlich stelle © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Nature Switzerland AG 2023 T. Zimmermann, Europäischer Republikanismus, https://doi.org/10.1007/978-3-031-44091-5_7

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ich das Konzept einer Hierarchie ineinandergreifender sozialer Institutio­ nen und öffentlicher Güter vor, das die Rolle des Staates bei der Defini­ tion und Regelung öffentlicher Güter legitimiert und eine Brücke zwi­ schen der Theorie öffentlicher Güter und der politischen Philosophie schlägt.

7.1 Externe Effekte Die Theorie (vollkommener) abstrakter Märkte setzt voraus, dass alle Ak­ teure in der Lage sind, alle relevanten Informationen in ihre Verhaltens­ funktionen zu internalisieren. Nur wenn alle wirtschaftlichen Fakten und Beziehungen in den Markt, seine Akteure und seine Preismechanismen internalisiert sind, kann das System zu einem optimalen Gleichgewicht führen. Heute ist „Externalität“ ein weithin akzeptiertes Konzept in der Wirtschaftstheorie, um Marktversagen aufgrund einer unvollständigen Internalisierung von Informationen zu erklären. Allerdings weist die Theorie der Externalitäten immer noch erstaunliche Schwächen auf. Cor­ nes und Sandler haben festgestellt, dass unter Wirtschaftswissenschaftlern „die Versuchung groß ist, eine explizite Definition der Externalität zu vermeiden, da selbst dieser erste Schritt eine fruchtbare Quelle für Kon­ troversen war“ (Cornes & Sandler, 1996, S. 39). Baumol und Oates stel­ len außerdem fest, dass das Konzept der externen Effekte einerseits „ein­ fach“ und andererseits „außerordentlich schwer fassbar“ ist. Sie führen weiter aus, dass „das Definitionsproblem unsere Fähigkeit, das Problem zu analysieren, nicht ernsthaft eingeschränkt zu haben scheint, so dass es vielleicht keine großen Anstrengungen wert ist“ (Baumol & Oates, 1988, S. 14). Es lohnt sich jedoch durchaus, genauer zu untersuchen, wie ex­ terne Effektein einer abstrakten Marktwirtschaft entstehen. Das Phänomen der externen Effekte ist eng mit der Schaffung von Marktinstitutionen verbunden und entstand zusammen mit der Indus­ trialisierung Europas. Sie stehen daher in engem Zusammenhang mit der konsequenten Anwendung der Arbeitsteilung und der Schaffung von „Marktgesellschaften“ (amrket societies) während der „Großen Trans­ formation“, wie Polanyi sie nannte (siehe Abschn. 1.1.2). Das Konzept der (modernen wirtschaftlichen) Externalitäten ergibt sich aus der Ent­

7  Eine politische Philosophie öffentlicher Güter 

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stehung von Wirtschaftsclustern und der Konzentration von Kapital innerhalb eines kapitalistischen Marktsystems seit Beginn der Industria­ lisierung und insbesondere seit der zweiten Industrialisierungswelle am Ende des 19. Im Vereinigten Königreich kam es zum Beispiel zu einer starken Konzentration der industriellen Kräfte in Manchester. In Italien verlagerten sich nach der Wiedervereinigung die wirtschaftlichen In­ vestitionen in den Norden, wodurch die beginnende Industrialisierung des Südens untergraben wurde. Ähnliche Prozesse fanden in den USA nach dem Bürgerkrieg (1861–1865) und in Deutschland nach der Wiedervereinigung 1871 statt. Darüber hinaus war die Wirtschaftskraft des Ruhrgebiets eine der Hauptursachen für die beiden Weltkriege und ein Hauptanreiz für den Schuman-Plan (siehe Abschn.  3.2.1). Auch heute sehen einige Wissenschaftler den Kapitalfluss von Südeuropa nach Norden (und insbesondere nach Deutschland) als Hauptgrund für die Euro-Krise.

7.1.1 Marshalls externe Volkswirtschaften Marshall (1920/1890) war der erste, der externe Effekte analytisch defi­ nierte, um die Existenz von Wirtschaftsclustern zu erklären, die im19 Jhd. Entstanden waren. In seiner Theorie der industriellen Organisation unterschied Marshall zwischen internen und externen Ökonomien, um zu erklären, wie Arbeitsteilung zu Skaleneffekten und zur Bildung von Wirt­ schaftsclustern führen kann. Interne Ökonomien sind jene Skaleneffekte, die „von den Ressourcen der einzelnen beteiligten Unternehmen, ihrer Organisation und der Effizienz ihres Managements“ abhängen. Es han­ delt sich um Effizienzgewinne, die durch die (bewusste) Organisation oder technische Verbesserungen verursacht werden. Externe Ökonomien sind solche, die „von der allgemeinen Entwicklung der Industrie“ (Mar­ shall, 1920/1890, S. 266, IV–IX) abhängen, d. h. von den Umgebungs­ bedingungen für Unternehmen, die die Produktionsmöglichkeiten aller Unternehmen beeinflussen, aber nicht direkt von ihnen beeinflusst wer­ den. Marshall verwendet das Konzept der externen Ökonomien, um die Entstehung von Industrieclustern zu erklären. Unternehmen neigen dazu, sich dort niederzulassen und zu bleiben, wo die Produktionsbe­

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dingungen am besten sind. Relevante externe Faktoren könnten ein fle­ xibler und tiefer Arbeitsmarkt mit einem ausreichenden Arbeitskräfte­ angebot, der Zugang zu Ressourcen (während der Industrialisierung ins­ besondere Kohle oder Stahl) und die Infrastruktur sein. Die Unterscheidung zwischen interner und externer Ökonomie hilft zu verstehen, „inwieweit die ganzen Vorteile der Arbeitsteilung durch die Konzentration einer großen Anzahl kleiner Unternehmen ähnlicher Art am selben Ort erreicht werden können, und inwieweit sie nur durch die Zusammenfassung eines großen Teils der Geschäfte des Landes in den Händen einer vergleichsweise kleinen Anzahl reicher und mächti­ ger Firmen erreicht werden können“ (Marshall, 1920/1890, S.  277, IV–X). Marshall betont, dass interne Größenvorteile im Vergleich zu externen Faktoren wie einer starken und gut ausgebildeten Erwerbs­ bevölkerung oder der Infrastruktur „häufig sehr gering“ sind (Marshall, 1920/1890, V–XI). Die historische Bedeutung der externen Wirtschaft für den europä­ ischen Kontinent lässt sich am besten anhand des Dilemmas veranschau­ lichen, das das Ruhrgebiet für Frankreich in der ersten Hälfte des zwan­ zigsten Jahrhunderts darstellte. Selbst wenn die französischen Unter­ nehmen ihre internen Skalenerträge verbesserten, konnten sie aufgrund der überlegenen externen Skalenerträge in Deutschland nicht mit den deutschen Unternehmen konkurrieren. Die deutsche Schwerindustrie, eine der wichtigsten Kriegsindustrien jener Zeit, war daher in der Lage, die europäische Wirtschaft zu dominieren. Dieses Beispiel zeigt, wie wichtig es für den Souverän ist, zu analysieren, wo externe Effekte eines gemeinsamen Marktes auftreten könnten, und dass er in angemessener Weise eingreifen muss, wenn sie auftreten (siehe auch Abschn. 3.2.1).

7.1.2 Das Pigou’sche Soziale Nettoprodukt In seinem Werk „Economics of welfare“ (Pigou, 2013) entwickelte Pigou Marshalls Konzept der externen Effekte weiter. Er unterschied zwischen „sozialen“ und „privaten“ Grenznettoprodukten. Ersteres ist das „ge­ samte Nettoprodukt an materiellen Dingen oder objektiven Dienst­

7  Eine politische Philosophie öffentlicher Güter 

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leistungen aufgrund des marginalen Zuwachses an Ressourcen bei einer bestimmten Nutzung oder an einem bestimmten Ort, unabhängig davon, wem ein Teil dieses Produkts zufällt“. Das marginale private Nettoprodukt ist der Teil des marginalen sozialen Nettoprodukts, „der in erster Instanz – z. B. vor dem Verkauf – der Person zufällt, die für die Investition von Ressourcen dort verantwortlich ist“ (Pigou, 2013, S. 134–135). Mit anderen Worten: Das marginale Nettoprodukt kann durch externe Faktoren beeinflusst werden, die nicht der verantwort­ lichen Person zugeschrieben werden können. Die Informationen über die Beziehung werden daher nicht in das Marktsystem „internalisiert“. Ein ineffizientes Marktergebnis könnte die Folge sein (d. h. eine Überoder Unterproduktion). Um solche Marktineffizienzen zu korrigieren, schlug Pigou eine Steuer für den Produzenten (der den externen Effekt erhält) vor. Diese Steuer sollte so hoch sein wie die Differenz zwischen der privaten und der ge­ sellschaftlichen Grenzertragsrate. Das Ziel dieser Steuer besteht also nicht darin, Einnahmen für den Staatshaushalt zu schaffen oder ein bestimmtes moralisch oder ideologisch motiviertes Handeln zu fördern (was der Sou­ verän auch tun könnte, aber mit einer anderen Art der Legitimation), sondern einfach ein Marktversagen zu korrigieren. Um eine effiziente Pi­ gouv’sche Steuer zu erheben, benötigt der Staat jedoch eine genaue Kenntnis der gesellschaftlichen und privaten Grenzprodukte. Eine Pigou-Steuer könnte auch eine mögliche Lösung für das Problem der Kapitalkonzentration und ihrer positiven externen Effekte auf die lo­ kale Industrie sein. Eine Steuer auf kapitalintensive Industrien und Wirt­ schaftscluster könnte eingeführt werden, um Subventionen für die In­ dustrien zu finanzieren, die unter der Kapitalkonzentration leiden. Ein Beispiel könnte sein, kapitalintensive Exportindustrien in Nordeuropa zu besteuern, um Industrien von nicht handelbaren Gütern in der Peri­ pherie zu subventionieren. Dieses Beispiel veranschaulicht, dass die Ein­ führung eines gemeinsamen Marktes die Existenz eines Souveräns voraus­ setzt, der sich um die auftretenden externen Effekte kümmern muss (für eine ausführlichere Diskussion siehe Kap. 9).

184 

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7.1.3 Externalitäten auf abstrakten Märkten Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde das Konzept der externen Effekte weiterentwickelt, um zu erklären, wann Märkte nicht vollständig und abstrakt sind und daher nicht zu optimalen Ergebnissen führen. Das Konzept der externen Effekte trug dazu bei, staatliche Eingriffe zu legiti­ mieren. Der Schwerpunkt verlagerte sich von den externen Effekten des Produktionsprozesses zu den externen Effekten, die durch die Interaktion der einzelnen Marktteilnehmer entstehen. Ökonomen (z.  B. Friedrich Hayek) betonten, dass das reibungslose Funktionieren eines Markt­ systems von den dezentralen rationalen Entscheidungen der Marktteil­ nehmer abhängt. Märkte führen zu optimalen Ergebnissen, wenn die Marktteilnehmer alle verfügbaren Informationen in ihre Verhaltens­ funktionen (die Nutzen- oder Gewinnfunktion) einbeziehen und ihr persönliches Ergebnis maximieren. Das optimale Marktergebnis hängt also von dieser dezentralen „Berechnung“ der persönlichen Gewinne und des Nutzens ab. Eine unvollständige Internalisierung führt zu „Externali­ täten“ und suboptimalen Marktergebnissen. Eine Standarddefinition einer Externalität wird von Meade gegeben, der eine Wirtschaft zwischen zwei Industrien als „extern“ bezeichnet, wenn: „Der einzelne Unternehmer im ersten Wirtschaftszweig wird die Aus­ wirkungen seines Handelns nur auf das berücksichtigen, was innerhalb des ersten Wirtschaftszweigs geschieht (interner Effekt), wird aber die Aus­ wirkungen seines Handelns auf die Produktion des zweiten Wirtschafts­ zweigs außer Acht lassen, in dem es die Produktion verbessern (externe Ökonomie) oder verringern (externe Unwirtschaftlichkeit) kann.“ (Meade, 1952, S. 56)

In einer späteren Definition beschrieb er die Außenwirtschaft in einem noch breiteren Rahmen, indem er den Schwerpunkt auf den Einzel­ nen legte: „Eine externe Ökonomie (oder Unwirtschaftlichkeit) ist ein Ereignis, das einer oder mehreren Personen, die bei der Entscheidung oder den Ent­ scheidungen, die direkt oder indirekt zu dem fraglichen Ereignis geführt

7  Eine politische Philosophie öffentlicher Güter 

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haben, nicht in vollem Umfang zugestimmt haben, einen spürbaren Nut­ zen bringt (einen spürbaren Schaden zufügt)“ (Meade, 1973, S. 15)

Das besondere Merkmal von Meades Definitionen ist, dass jemand (eine Person oder ein Unternehmer) die Auswirkungen seiner Handlungen nicht „berücksichtigt“. Anders ausgedrückt: In der Marktwirtschaft muss jeder handelnde Akteur (sei es eine Person oder ein Unternehmen) alle Wirkungen und Ereignisse um ihn herum „berücksichtigen“. Nur dann funktioniert die Marktwirtschaft. Alle Ereignisse und Beziehungen müs­ sen in das Entscheidungsfindung eines jeden Menschen einfließen, damit sie auch in den Marktprozess einfließen. Dies kann nur erreicht werden, wenn effiziente soziale Institutionen (z. B. ein Markt, Eigentumsrechte) vorhanden sind. Ein Marktversagen kann daher definiert werden als ein „Versagen eines mehr oder weniger idealisierten Systems von Preis-­ Markt-­ Institutionen, ‚wünschenswerte‘ Aktivitäten aufrechtzuerhalten oder ‚unerwünschte Aktivitäten‘ zu unterbinden“, wobei Aktivitäten Konsum oder Produktion sein können (Bator, 1958, S. 351). Das „Ver­ sprechen“ der Wirtschaftswissenschaft ist, dass, wenn ein Preis-Markt-­ System mit allen notwendigen Bedingungen (allseitige Konvexität, Un­ abhängigkeit der Geschmäcker, Technologie, …) eingerichtet wird, das dezentralisierte System von Signalen, Regeln und eingebauten Sanktio­ nen gemäß dem ersten allgemeinen Wohlfahrtstheorem immer zu einem Pareto-effizienten Ergebnis führen wird. Die Bereitstellung der not­ wendigen Institutionen ist die Aufgabe des Souveräns. Die Frage ist, ob diese „Internalisierungsmaschine“ auf nationaler oder europäischer (oder globaler) Ebene organisiert werden soll. Der am weitesten anerkannte Ansatz der externen Effekte stammt von Arrow (1970). Im Gegensatz zu Meades weit gefasster Definition ver­ suchte Arrow, externe Effekte innerhalb des klaren und kohärenten „spezifischen institutionellen Rahmens“ des Marktes zu definieren (Cor­ nes & Sandler, 1996, S. 40). Dies machte seine Definitionen von Exter­ nalitäten für Ökonomen praktikabel und leicht erfassbar. Arrows Modell kann wie folgt beschrieben werden (vgl. Cornes & Sandler, 1996, S. 40–42). Man stelle sich eine Tauschwirtschaft mit zwei Personen (A

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und B) und zwei Gütern (y1 und y2) vor. Die Nutzenfunktion beider In­ dividuen kann wie folgt geschrieben werden:





U i   U i yii1 , yii2 , y ij1 , y ij 2 mit i, j  A, B; i  j



(7.1)

Arrows Formulierung des Externalitätsproblems im Rahmen der Theorie des Wettbewerbsgleichgewichts ermöglicht es, Externalitäten einfach als „zusätzliche Güter“ zu definieren, die bisher vom Markt nicht berück­ sichtigt wurden. Indem sie als zusätzliches Gut definiert werden, kann gemäß dem ersten fundamentalen Wohlfahrtstheorem ein pareto-­ effizientes Wettbewerbsgleichgewicht erreicht werden, selbst wenn der Konsum einer Person in den Nutzen einer anderen einfließt. Das Haupt­ argument von Arrow ist, dass die Externalität nicht nur durch die Inter­ dependenz der Nutzenfunktionen verursacht wird, sondern auch durch das Fehlen vollständiger Märkte, die diese Interdependenzen bewältigen könnten. Analytisch gesehen lautet sein Argument wie folgt. Im Falle voll­ ständiger Märkte kann die Nutzenfunktion jedes Individuums auf die Form reduziert werden (vgl. wiederum Cornes & Sandler, 1996, S. 41):





(7.2)





(7.3)

V i  V i P,  i



Die Gewinnfunktion lautet

 j   j P, T j

wobei P der vollständige Vektor aller Preise, Ωi die exogene Ausstattung mit Gütern und T j die verfügbare exogene Technologie ist. Wenn die Märkte nicht vollständig sind, gehen die Handlungen ande­ rer (Ai und Aj) in die Nutzen- und Gewinnfunktion ein.

    P, T

 ,A 

V i  V i P ,  i , Ai j

j

j

j

(7.4) (7.5)

7  Eine politische Philosophie öffentlicher Güter 

187

Für Arrow sind diese Handlungen „endogen für das Wirtschaftssystem, werden aber nicht von dem Empfänger kontrolliert, in dessen Ziel­ funktion sie erscheinen“ (Cornes & Sandler, 1996, S.  41). Die ent­ scheidenden Merkmale einer Externalität sind für Arrow, dass sie außer­ halb des Marktsystems liegen und nicht vom Individuum kontrolliert werden (und es keine „interne Ökonomie“ für das Individuum gibt). Es ist daher nach Arrow die Aufgabe des Staates, immer abstraktere Märkte zu schaffen, um diese Externalitätsprobleme zu lösen. Wie wir weiter unten sehen werden, sollte jedoch der Souverän entscheiden, wie groß die Marktsphäre seines Gemeinwesens sein sollte. Bestehende externe Ef­ fekte können ein Indikator dafür sein, dass die Marktsphäre erweitert werden muss. Dennoch sollten sie nicht zum einzigen oder gar dominie­ renden Faktor in diesem Entscheidungsprozess werden, da dies die demo­ kratischen Grundsätze untergraben könnte.

7.2 Das Dichotomie- und Definitionsproblem der Theorie der öffentlichen Güter In diesem Abschnitt werde ich die Theorie der öffentlichen Güter kurz vorstellen und das so genannte Dichotomieproblem erläutern, das auf die Schwierigkeiten der aktuellen Definitionen öffentlicher Güter hindeutet.

7.2.1 Heutige Definitionen von öffentlichen Gütern In der modernen Wirtschaftstheorie wird zwischen vier Arten von Gü­ tern unterschieden: Öffentliche Güter, private Güter, Clubgüter und Ge­ meinschaftsgüter. In den heutigen Lehrbuchdefinitionen werden diese vier Arten von Gütern nach zwei Kategorien unterschieden: (Nicht-)Aus­ schließbarkeit und (Nicht-)Rivalität im Konsum. Nicht ausschließbar bedeutet, dass niemand vom Konsum ausgeschlossen werden kann (oder nur zu sehr hohen Kosten), und Nicht-Rivalität im Konsum bedeutet, dass der Konsum eines Gutes durch ein Individuum keinen Einfluss auf den Nutzen eines anderen Konsumenten hat. Ein öffentliches Gut ist beispielsweise ein Gut, das nicht ausschließbar ist und dessen Konsum

188 

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nicht rivalisiert. Der Rundfunk war in den 1950er-Jahren ein gutes Bei­ spiel für ein öffentliches Gut: Der Konsum eines Fernsehprogramms durch ein Radiosignal hat keinen Einfluss auf den Konsum eines anderen Verbrauchers. Solange es noch keine Verschlüsselungstechniken oder Kabelfernsehen gab, war der Ausschluss von Kunden nahezu unmöglich. Das Fernsehen war also ein öffentliches Gut. Diese beiden Kriterien der (Nicht-)Ausschließbarkeit und der (Nicht-) Rivalität im Konsum erlauben es, vier verschiedene Güter zu klassifizieren (siehe Abb. 7.1). Ein privates Gut ist ein Gut, das ausschließbar ist und bei dem eine Rivalität im Konsum gibt. Nur private Güter können effizient von der Wirtschaft produziert und über den Markt verteilt werden. Beispiele sind Äpfel oder Handys. Diese können sinnvollerweise nur einer Person ge­ hören. Ein Gemeingut ist ein Gut, zu dem jeder Zugang hat (es ist also nicht ausschließbar), das aber im Verbrauch rivalisiert. Beispiele dafür sind Wälder, Brunnen oder Fischerei. Diese Güter bedürfen einer be­ sonderen Verwaltung, um den Zugang zu den Gütern zu regeln. Ein Klubgut ist nicht rivalisierend im Verbrauch, d. h. die Tatsache, dass je­ mand anderes dieses Gut nutzt, hat keinen Einfluss auf meine Nutzung dieses Gutes. Es ist jedoch ausschließbar (z. B. für Personen, die keine

Abb. 7.1  Kategorien öffentlicher Güter

7  Eine politische Philosophie öffentlicher Güter 

189

Eintrittsgebühr bezahlt haben). Beispiele dafür sind Tennisplätze oder Bibliotheken (solange sich nicht zu viele Menschen darin aufhalten). Ein öffentliches Gut ist ein Gut, das weder ausschließbar ist noch im Ver­ brauch konkurriert. Beispiele dafür sind Luft, Landesverteidigung oder Meereswasser. Alle diese Beispiele haben jedoch gewisse Schwächen. Frische Luft ist nur so lange ein öffentliches Gut, wie sie in ausreichender Menge vor­ handen ist. Die Verschmutzung kann daher frische Luft in ein knappes Gut verwandeln. Die Landesverteidigung ist nur innerhalb eines Landes ein öffentliches Gut, was sie eigentlich zu einem Clubgut macht. Die ak­ tuelle Literatur zu Externalitäten und öffentlichen Gütern enthält jedoch bis heute Definitionen, die es schwierig machen, auch nur ein einziges reines öffentliches oder gar reines privates Gut zweifelsfrei zu identi­ fizieren. Es stimmt, wenn ich einen Apfel esse, kann ein anderer ihn nicht essen. Wenn ich jedoch meinen Apfel gegessen habe und nicht mehr hungrig bin, werde ich meine Nachbarn nicht angreifen, um mehr Essen zu bekommen. Der Verzehr eines Apfels könnte also eine positive Exter­ nalität haben. Dies mag ein sehr ausgeklügeltes Beispiel sein, es zeigt je­ doch, dass eine absolut eindeutige Definition eines reinen Privatguts schwer zu treffen ist. Die Schwierigkeit des Problems wird noch deutlicher, wenn man be­ denkt, dass sich die Eigenschaften ein und desselben „Gutes“ unter ver­ schiedenen Umständen ändern können. Wir haben bereits das Beispiel des Fernsehers gesehen. Ein anderes Beispiel ist eine Straße in einer Stadt. Solange es nicht zu viel Verkehr gibt, ist sie ein reines öffentliches Gut (für alle, die in der Stadt leben). Niemand kann ausgeschlossen werden, und mein Konsum der Straße mindert nicht den Nutzen der Straße für andere. Wenn es zu Staus kommt, gibt es eine Rivalität im Verbrauch und die Straße wird zu einem Gemeingut. Mit der Navigationstechnologie wäre es heute theoretisch möglich, die Routen jedes Fahrers zu verfolgen und einen genauen Preis für die Nutzung der Straße zu berechnen. Per Gesetz könnte jeder, der nicht über ein solches Navigationssystem ver­ fügt, von der Nutzung der Straße ausgeschlossen werden. Die Nutzung der Straße würde dann zu einem privaten Gut oder die Straße insgesamt zu einem Clubgut.

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Beide Merkmale der Kategorisierung von öffentlichen Gütern beruhen auf Externalitätsproblemen. Das erste, die Nicht-Rivalität des Konsums, bedeutet, dass ein Gut in mehr als eine Nutzenfunktion eingehen kann, da es nicht mehr „konsumiert“ wird, nachdem es in die erste Nutzen­ funktion eingegangen ist. Die Nutzung lässt sich daher nicht eindeutig einer Nutzen- (oder Kosten-)Funktion zuordnen. Das zweite Merkmal, die Nicht-Ausschließbarkeit, bedeutet, dass es nicht klar ist, in wessen Nutzenfunktion ein Gut eingeht. Da es keine „Schranken“ gibt, hat jeder Zugang zu dem Gut. Ist das Gut nicht aus­ schließbar, aber rivalisierend, dann kann es sein, dass ein Gut nur in eine Nutzenfunktion eingehen kann; es ist jedoch nicht möglich, a priori zu sagen, in welche Nutzenfunktion es eingehen wird. Während sich die heutigen Definitionen von Externalitäten auf (individuelle) Verhaltens­ weisen konzentrieren, konzentriert sich die Theorie der öffentlichen Güter auf die Eigenschaften der Güter.

7.2.2 Das Dichotomieproblem der Theorie der öffentlichen Güter Paul A.  Samuelsons Artikel „The pure theory of public expenditure“ (1954) wird oft als Ausgangspunkt der modernen Theorie der öffentli­ chen Güter angesehen. Die Problematik der Externalitäten war bereits von Pigou (2013) analysiert worden, der eine Steuer zur Lösung von Ex­ ternalitätsproblemen vorschlug. Samuelson zeigte jedoch, dass  – im Gegensatz zu privaten Konsumgütern – bei kollektiven Konsumgütern „kein dezentralisiertes Preissystem dazu dienen kann, das Produktions­ niveau optimal zu bestimmen“, weil „es im egoistischen Interesse jeder Person liegt, falsche Signale zu geben, vorzugeben, weniger Interesse an einer bestimmten kollektiven Konsumaktivität zu haben“ (Samuelson, 1954, S. 338). Dieses Verhalten ist auf die Tatsache zurückzuführen, dass ein „kollektives Konsumgut“ ein Gut ist, „das alle gemeinsam in dem Sinne genießen, dass der Konsum eines jeden Individuums von einem solchen Gut zu keiner Reduzierung des Konsums eines anderen Indivi­ duums von diesem Gut führt“ (Samuelson, 1954, S. 387). Samuelsons Artikel war somit die Grundlage für die Kriterien der Nicht-­Rivalität, die

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öffentliche Güter definieren (während das Kriterium der Nicht-­ Ausschließbarkeit von Buchanan (1965) eingeführt wurde, siehe unten). Analytisch gesehen lassen sich die nicht-konkurrierenden Kriterien wie folgt ausdrücken: X j = X ij



(7.6)



für jedes Individuum i, und



ui  ui X1i , , X ni



(7.7)

Unter der Annahme einer konvexen Produktionsfunktion F(X1, …., Xn) erhält man die optimale Bedingung s



uij

u i 1

i r



Fn Fr

(7.8)

Es gibt also eine optimale Versorgung mit diesem öffentlichen Gut, die vom Staat bereitgestellt werden könnte. Diese Güter sollten daher vom Staat als öffentliche Güter bereitgestellt und durch Steuern finanziert wer­ den. Jede Marktlösung, auch mit einer Pigouv’schen Besteuerung zur Korrektur der Marktergebnisse, wird für kollektive Konsumgüter nicht effizient sein. Samuelsons Ansatz zielte also nicht darauf ab, die Markt­ ergebnisse zu korrigieren, sondern war eine Legitimation für die öffentlichen Ausgaben selbst, wie auch der Titel seines Artikels besagt.1 Das Marktversagen wurde zu einer Quelle für die Legitimation des Staates. In dieser Logik liegt jedoch ein entscheidender Fehler. Samuelson nimmt den Markt immer noch als etwas Gegebenes an und legitimiert eine Rolle des Staates nur, wenn Marktversagen auftritt. Ich werde im Folgenden zeigen, dass es der Staat, der Souverän, ist, der den Markt legitimieren muss, und nicht umgekehrt.

 Samuelson vertrat eine keynesianische Sicht der Wirtschaft.

1

192 

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Pickardt (2006, S. 446) wies darauf hin, dass die heutigen Lehrbuch­ definitionen eher auf den Artikeln von Musgrave (1959) und (1969) und dem Artikel von Samuelson (1955) aufbauen als auf dem früheren Arti­ kel von Samuelson (1954). Die Verwendung des Begriffs „öffentliche Güter“ ersetzte das ursprüngliche „kollektive Konsumgut“, wie es Samu­ elson vorgeschlagen hatte. Der Grund für diese Änderung war laut Pi­ ckardt die heftige Kritik, die Samuelson (1954) für seine strikte Dicho­ tomie von öffentlichen und privaten Gütern erhielt. Wie wir oben ge­ sehen haben, haben Ökonomen in der Tat Schwierigkeiten gehabt, auch nur ein Beispiel für ein zweifelsfrei reines öffentliches Gut zu finden. Samuelson reagierte auf die Kritiker, indem er diese Definitionen als „polare Fälle“ betrachtete und eine grafische Analyse für den Bereich der Güter zwischen den beiden polaren Fällen erstellte (1955). Auf diese Weise wollte er eine „etwas ausgefeiltere“ Lösung anbieten, als „dem Staat keine wirtschaftliche Rolle zu überlassen“, wie es das walrasianische Mo­ dell vorschlägt, oder „jede beliebige Regierungskonfiguration zu recht­ fertigen“, wie es die Gruppengedanken der Romantikkritiker und Natio­ nalisten tun (Samuelson, 1955, S.  350). Pickardt unterstreicht jedoch, dass Samuelson in weiteren Arbeiten über öffentliche Güter keine zusätz­ lichen mathematischen Formulierungen lieferte und stattdessen nur rein verbale Versionen seiner Definitionen gab (Pickardt, 2006, S. 444). Die Verschiebung von Samuelson zeigt, dass eine mathematische Lösung zur Definition öffentlicher Güter nicht existiert. Dennoch bedauerte Samuelson, 1969 nach langen Debatten in den Wirtschaftswissenschaften seinen Rückzieher von (1955) und kehrte zu seiner ursprünglichen, „radikaleren“ Definition von (1954) mit einer kla­ ren Dichotomie zurück: „Was bleibt uns? Zwei klare Pole und ein Konti­ nuum dazwischen? Nein, ein messerscharfer Pol des privaten Gutes und mit der ganzen restlichen Welt der öffentlichen Güter, die eine ‚Kon­ sum-Externalität‘ beinhalteten“. Samuelson beharrt daher auf seiner frü­ heren Definition, wonach „[ein] öffentliches Gut ein Gut ist, das in den Nutzen von zwei oder mehr Personen eingeht“ (Samuelson, 1969, S. 107–108). Nachdem er zu seiner früheren Definition zurückgekehrt war, hat Samuelson „die Definitionsfrage nie wieder aufgeworfen“ (Pi­ ckardt, 2006, S. 444–445).

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193

7.2.3 Aufbrechen der Dichotomie: Clubgüter Die Schwierigkeit, Beispiele für reine öffentliche Güter zu finden, führte die Wissenschaftler zur Definition „unreiner“ öffentlicher Güter. Bucha­ nan kritisierte, dass der „implizite institutionelle Rahmen für die neo­ klassische Wirtschaftstheorie, einschließlich der theoretischen Wohl­ fahrtsökonomie, ein Regime des Privateigentums ist“. Die neoklassische Theorie beschränkt sich auf die Analyse des kleinen Teils der privaten Güter im Spektrum der Gütervariationen. Samuelsons Beitrag versuchte, die ökonomische Analyse auch auf den Bereich der öffentlichen Güter auszudehnen; die „reine Theorie der öffentlichen Güter steckt jedoch noch in den Kinderschuhen, und die wenigen Modelle, die am rigoroses­ ten entwickelt wurden, gelten nur für Polar- oder Extremfälle“. Bucha­ nan fordert daher eine „allgemeine Theorie“, die „das gesamte Spektrum der Eigentums- und Konsummöglichkeiten abdeckt“ (Buchanan, 1965, S. 1). Private Güter und Marktlösungen können dann als ein Spezialfall zur Lösung von Problemen wirtschaftlicher Beziehungen betrach­ tet werden. In seinem Artikel versuchte Buchanan, Samuelsons Dichotomie der Güter zu durchbrechen, indem er eine Theorie der kooperativen Mit­ gliedschaft entwickelte und das Kriterium der (Nicht-)Ausschließbarkeit einführte. Die so genannten „Clubgüter“ sind nicht rivalisierend, aber im Konsum ausschließbar. Sie sind weder private noch öffentliche Güter. Die Definition von Clubgütern ermöglicht es, die Dichotomie von pri­ vaten und öffentlichen Gütern zu durchbrechen und „Güter, die zwi­ schen diesen beiden Extremen liegen, in die Nutzenfunktion einzu­ beziehen“ (Buchanan, 1965, S.  2). Aufgrund von Verschlüsselungs­ techniken und billigeren Datenkabeln ist beispielsweise das Fernsehen teilweise zu einem Clubgut geworden (z. B. „Sky Television“ in Europa). Aktuellere Beispiele sind in der Sharing Economy zu finden, z. B. Car­ sharing. Das Hauptziel der Theorie der Clubgüter besteht darin, „die richtiger Mitgliederspanne zu bestimmen, sozusagen die Größe der Mitglieder­ anzahl aus der der wünschenswertesten Kosten- und Verbrauchsteilungs­ anordnung“ zu ermittln (Buchanan, 1965, S. 2). In Buchanans Aufsatz

194 

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dies durch ein Beispiel veranschaulicht: Individuen entscheiden sich dafür, ein Gut zu teilen, das normalerweise als typisches privates Gut an­ gesehen würde: ein Paar Schuhe. Wenn N Individuen i sich dafür ent­ scheiden, diese Schuhe zu teilen, ergibt sich unter der Annahme einer gleichmäßigen Aufteilung die folgende Nutzenfunktion:











(7.9)







(7.10)

U i   X1i , N1i , X 2i , N 2i , , X ni  m , N ni  m 

Die Produktionsfunktion lautet dann





F i   X1i , N1i , X 2i , N 2i , , X ni  m , N ni  m 

Die Bedingung zur Bestimmung der richtigen Anzahl von Mitgliedern lautet dann



i uij uri uNj = = f ji fri f Nji

(7.11)

Buchanan räumt jedoch ein, dass seine Theorie der Klubgüter nur in Fäl­ len relevant ist, in denen ein Ausschluss möglich ist. Er stellt jedoch fest, dass die Klubtheorie in Fällen flexibler Eigentumsrechte tatsächlich zu einer Theorie des „optimalen Ausschlusses“ werden kann. Die Klub­ theorie kann dann dazu verwendet werden, optimale Eigentumsrechte zu definieren, indem beispielsweise lizenzen erforderlich gemacht werden, um eine Leuchtturmpassage durchqueren zu können (Buchanan, 1965, S. 13). Buchanans Beitrag zeigte also, dass es nicht so einfach ist zu definieren, was ein „privates“ und was ein „öffentliches“ Gut ist. Wenn ein Aus­ schluss möglich ist, können „gemeinsame Konsumgüter“ als Clubgüter konstruiert werden, die dann auf einem Markt gehandelt werden kön­ nen. Für „Außenstehende“ würden sie als private Güter erscheinen. Cornes und Sandler haben darauf hingewiesen, dass die Mitgliedschaft in einem Club freiwillig sein muss. Außerdem muss die Mitgliedschaft,

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anders als bei einem reinen öffentlichen Gut, endlich sein. Wenn die Ver­ drängungskosten gleich Null wären, dann wäre die optimale Größe des Clubs, wie bei einem reinen öffentlichen Gut, die gesamte Bevölkerung (Cornes & Sandler, 1996, S. 348). Olson hat darauf hingewiesen, dass es das Ziel von Clubs ist, Größenvorteile zu erzielen und somit öffentliche Güter zu teilen. Clubs, die ein „reines öffentliches Gut“ teilen, werden auch als inklusive Clubs bezeichnet, während Clubs mit rivalisierenden öf­ fentlichen Gütern exklusive Clubs sind (Olson, 2009/1965).

7.2.4 Die Tragödie der Allmendegüter In seinem Artikel über die „Tragödie der Allmende“ (1968) brachte der Ökologe Garrett Hardin ein wichtiges Problem in die wirtschaftliche De­ batte ein: das der gemeinsamen Ressourcen. Nach der Standarddefinition ist ein Allmendegut ein Gut, das nicht ausschließbar ist, bei dem aber eine Rivalität im Verbrauch besteht. Ein typisches Beispiel, das auch von Hardin verwendet wurde, ist eine Weide, die von Viehhirten für ihre Rinder genutzt wird. Wenn jeder Hirte versucht, seinen Nutzen aus der gemeinsamen Ressource zu maximieren, ist die Überweidung die unver­ meidliche Folge. Analytisch ausgedrückt, wird jeder Hirte versuchen, fol­ gende Funktion zu maximieren



c     F C  C 

(7.12)

wobei c das Vieh eines Hirten ist, C das Vieh aller Hirten zusammen und F(•) eine Produktionsfunktion der Weide mit abnehmendem Ertrag für F •  die Menge des Viehs ist. Daraus ergibt sich  F   •  , was zu einer C Überausbeutung der gemeinsamen Ressource führt. Hardin argumentierte, dass rationale und eigennützige Individuen nicht in der Lage sind, Gemeingüter effizient zu verwalten. Die einzige Möglichkeit, die Überweidung in einem System mit gemeinsamen Res­ sourcen zu begrenzen, besteht seiner Meinung nach darin, an die Moral

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der einzelnen Hirten zu appellieren. Es muss also ein starker sozialer Zu­ sammenhalt geschaffen werden, der die Freiheit eines jeden einschränkt. Er ist daher der Ansicht, dass die Privatisierung von Allmendegütern letztlich die Freiheit (des Zugangs) des Einzelnen erhöhen würde, da „[i]ndividuelle Menschen, die in der Logik der Allmende gefangen sind, nur die Freiheit haben, den allgemeinen Ruin herbeizuführen“. Er ver­ anschaulicht sein Argument mit dem Beispiel eines Bankräubers, der eine Bank als Gemeingut betrachten würde; durch die Einführung von Geset­ zen gegen Bankraub „wurde die Menschheit freier, nicht weniger“ (Har­ din, 1968, S. 1248). Libertäre berufen sich heute oft auf den (Biologen) Hardin, wenn sie die Privatisierung von Gemeingütern fordern. Elinor Ostrom argumen­ tierte jedoch unter Bezugnahme auf den Artikel von Garrett Hardin, dass Tragödien der Allmende „real, aber nicht unvermeidlich“ sind und eine erfolgreiche Selbstorganisation unter bestimmten Bedingungen möglich ist (Ostrom et al., 1999). Sie definierte bestimmte Prinzipien für Institu­ tionen, die für eine dauerhafte Bewirtschaftung von Allmende-­Ressourcen erfüllt sein müssen (Ostrom, 1990, S. 90). In diesen Fällen können All­ mende-Ressourcen lokal von den Nutzern verwaltet werden; sie müssen nicht vom Staat verwaltet werden, und es besteht auch nicht die Not­ wendigkeit, sie zu privatisieren. Ganz allgemein kann das Problem des offenen Zugangs zu Ressourcen wie folgt definiert werden (siehe auch Cornes & Sandler, 1996, S. 58–59): Mehrere Einzelpersonen oder Firmen versuchen, eine gemeinsame Res­ source zu nutzen, z.  B. den Fischbestand eines Sees oder eines ge­ meinsamen Waldes. Jedes Unternehmen verfolgt eine Gewinnfunktion:



l      F  L   wl L

(7.13)

wobei l für den Arbeitseinsatz eines Unternehmens, L für den Arbeitsein­ satz aller Unternehmen zusammen, w für den Wettbewerbslohn und F(•) für eine Produktionsfunktion mit abnehmender Rentabilität der Arbeit F •  steht. Daraus ergibt sich  F   •  , was zu einer Überausbeutung L

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der gemeinsamen Ressource führt. Dieses allgemeine Problem hat zahl­ lose mögliche Verzweigungen, insbesondere wenn längere Zeiträume in Betracht gezogen werden.

7.2.5 Die Verwaltung von gemeinsamen Ressourcen In seinem bahnbrechenden Werk argumentierte Garrett Hardin, dass es für viele Probleme mit gemeinsamen Ressourcen keine technische Lö­ sung gibt. Wenn der Einzelne seinen persönlichen Gewinn maximiert, wird es immer eine suboptimale Ausbeutung der gemeinsamen Ressour­ cen geben. Das persönliche Interesse jedes Einzelnen führt zu Hand­ lungen, die der Gesellschaft als Ganzes schaden. Dieser Prozess ist Hardin zufolge unvermeidlich. Es ist diese Un­ vermeidlichkeit, die die Tragödie hervorruft, denn das „Wesen der dra­ matischen Tragödie ist nicht das Unglücklichsein. Es liegt im feierlichen, unerbittlichen Wirken der Dinge“ (Hardin, 1968, S. 162 zitiert hier den Philosophen Whitehead). Die Tragödie liegt nicht im Schaden selbst der entsteht, sondern in der (womöglichen) Unvermeidbarkeit der Über­ nutzung gemeinsamer Ressourcen. Darüber hinaus wird mit der steigen­ den Zahl der auf der Erde lebenden Menschen auch die Notwendigkeit entstehen, immer mehr Gemeingüter zu reglementieren: In der Ver­ gangenheit waren es Nahrungsmittelsammlungen, Ackerland oder Fischereigebiete. In der Zukunft wird es die Umweltverschmutzung oder die Freiheit der Fortpflanzung sein. Hardin argumentierte, dass es nur zwei Möglichkeiten gibt, diese Tra­ gödie zu verhindern. Die erste ist eine Änderung der Moral und die Ein­ hegung der Allmende, d. h. die Durchsetzung von Eigentumsrechten an den gemeinsamen Ressourcen. Die andere ist der „Sozialismus“, was be­ deutet, dass „die Menschen auf einen Zwangaußerhalb ihrer individuel­ len Psyche reagieren müssen, einen ‚Leviathan‘, um den Begriff von Hobbes zu verwenden“ (Hardin, 1968, S.  314). Die zweite Option nannte er jedoch „zu schrecklich, um sie in Betracht zu ziehen“ (Hardin, 1968, S. 247). In der Tat hat Ostrom darauf hingewiesen, dass viele Wissenschaftler das Leviathan-Argument benutzt haben, um Zentralregierungen zur Lö­

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sung zu empfehlen, die (teilweise gar in Form von Militärregierungen) die gemeinsamen Ressourcen kontrollieren (Ostrom, 1990, S.  9). Die Hypothese von Hardin wurde jedoch von Ostrom (1990) in Frage ge­ stellt. Ostrom betonte, dass eine dritte Lösung möglich ist, wenn Institu­ tionen in der richtigen Weise geschaffen werden, um das Problem der ge­ meinsamen Ressourcen zu lösen. Garrett Hardin argumentierte in seinem bahnbrechenden Werk, dass Gemeingüter nicht effizient verwaltet werden können und daher in der Geschichte der Menschheit immer mehr „Commons“ privatisiert werden müssen, um das Überleben der Menschheit zu sichern. Er schuf damit die theoretische Grundlage für das neoliberale Argument einer sich immer weiter ausdehnenden Privatgütersphäre.Ostrom entwickelt eine Reihe von Grundsätzen die es ermöglichen Institutionen zu gestalten, die in der Lage sind, Probleme von gemeinsamen Ressourcen ohne Privati­ sierung oder die Schaffung eines „Leviathans“ zu lösen. Jedoch sind die Governance-Probleme, die die Probleme der gemeinsamen Ressourcen mit sich bringen, viel schwerwiegender als beispielsweise die Problem­ stellung bei Clubgütern oder auch öffentlichen Gütern. Eine mangelnde Verwaltung öffentlicher Güter kann dazu führen, dass das öffentliche Gut nicht zur Verfügung gestellt wird. Das ist natürlich nicht optimal, führt aber nicht unbedingt zu heftigen Konflikten und Auseinander­ setzungen. Wie wir oben gesehen haben, gibt es bei Problemen mit Club­ gütern Anreize für die Beteiligten, effiziente Lösungen zu finden. Bei All­ mendegütern besteht dagegen die Gefahr schwerer Konflikte, wenn sie nicht richtig gehandhabt werden, weil es zwar eine Rivalität beim Ver­ brauch, aber keine Ausschließbarkeit gibt. Wenn Gemeingüter nicht richtig verwaltet werden, können sie in der Tat zur Quelle von schweren Konflikten, Gewalt und Dominierung werden. Daher erfordern Pro­ bleme mit gemeinsamen Ressourcen höchste Aufmerksamkeit.

7.2.6 Private oder öffentliche Güter, Märkte oder Staat – was kommt zuerst? Die heutige Literatur über öffentliche Güter folgt, wie wir gesehen haben, der Kategorisierung von Gütern nach den Merkmalen „(Nicht-)Aus­

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schließbarkeit“ und „(Nicht-)Rivalität im Konsum“, um öffentliche Güter zu definieren. Die Suche nach Beispielen für öffentliche Güter führt so zu einer einfachen „Suche“ nach Gütern, die einige Merkmale der Nicht-Ausschließbarkeit aufweisen oder im Verbrauch nicht rivalisie­ ren. Ist ein Gut als entsprechend identifiziert, kann für eine staatliche Intervention oder eine Bereitstellung dieser Güter durch den öffentlichen Sektor argumentiert werden (siehe Abschn. 5.4.4 über die „Suche“ für europäische öffentliche Güter). Jedoch bleibt die Definition von klar unterscheidbaren öffentlichen und privaten Gütern in der aktuellen Theorie der öffentlichen Güter schwer zu fassen. Wissenschaftler hatten nicht nur ernsthafte Probleme, ein eindeutiges Beispiel für ein reines öf­ fentliches Gut zu finden, sondern auch Schwierigkeiten, ein Beispiel für ein reines privates Gut zu liefern. Die Methode, öffentliche Güter anhand der genannten Kriterien zu suchen, scheint privaten Gütern eine bevorzugte Rolle zuzuweisen. Es wird argumentiert, dass sie, da sie auf Märkten handelbar sind, auto­ matisch zu optimalen Ergebnissen führen. Öffentliche Güter bedürfen in dieser Logik jedoch einer besonderen Rechtfertigung, um akzeptiert zu werden; es muss nachgewiesen werden, dass sie nicht rivalisierend und nicht ausschließbar sind. Ihr Auftreten scheint eine Ausnahme von der „normalen“ Welt der privaten Güter zu sein. Der Markt wird als etwas „Gegebenes“ betrachtet, das durch staatliche Eingriffe künstlich verzerrt wird. Nur Marktversagen legitimiert den Staat zum Handeln und Eingreifen. Die Theorie der öffentlichen Güter hat bereits auf diese Kritik reagiert. Sie erkennt an, dass der Austausch privater Güter das Vorhandensein einer Reihe sozialer Institutionen voraussetzt, wie etwa Marktinstitutionen oder Eigentumsrechte. Der Staat muss den Markt schaffen. Sie argumen­ tieren, dass der Markt selbst bereits ein wichtiges öffentliches Gut ist, das die Schaffung und den Austausch von Privateigentum und Gütern er­ möglicht. In den nächsten Abschnitten werde ich jedoch darlegen, dass der theoretische Fehler der Theorie der öffentlichen Güter tiefer liegt. Die entscheidende Frage lautet: Warum schafft der Staat eigentlich einen pri­ vaten Markt? Gelehrte anderer Wissenschaftsbereiche wie Historiker und Anthropo­ logen hatten schon immer ihre Probleme mit dem ökonomischen Ver­

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ständnis der Entstehung von Märkten und privaten Gütern. Sie lehnten das grundlegende Argument von Adam Smith ab, wonach die vor­ industrielle Wirtschaft eine Tauschwirtschaft war, in der private Güter ohne den Einsatz von Geld ausgetauscht wurden. Die vorindustrielle Ge­ sellschaft war jedoch vielmehr eine Gesellschaft von sich selbst er­ haltenden kleineren Gruppen, die von der gemeinsamen Bewirtschaftung von Bewässerungssystemen, Fischgründen, Weiden oder Wäldern be­ herrscht wurde. Seit den Anfängen der Menschheitsgeschichte versuchten die Menschen, effiziente Regeln zur Lösung dieser gemeinsamen Ressourcenprobleme zu finden, z. B. die Dorfgemeinschaften. Vor Adam Smith, der Industrialisierung und der Umwandlung in Marktgesell­ schaften wurde das wirtschaftliche Denken nicht von Problemen privater Güter (sei es durch Tausch oder Märkte), sondern von Problemen ge­ meinsamer Ressourcen beherrscht. Die Idee von Märkten und einer Sphäre privater Güter wurde im Laufe der Zeit von Thomas Hobbes, John Locke, Bernard Mandeville, Adam Smith und anderen entwickelt. Die notwendigen sozialen Institutionen wurden über einen langen Zeit­ raum hinweg geschaffen. Es scheint, dass die Privatgüterwirtschaft irgendwann aus einer ursprünglichen „Gemeingüterwirtschaft“ hervor­ gegangen ist. In den nächsten Abschnitten werde ich einen politisch-­philosophischen Ansatz zur Definition öffentlicher Güter entwickeln. Der Ursprung der Merkmale (Nicht-)Ausschließbarkeit und (Nicht-)Rivalität im Konsum wird dabei philosophisch aus dem Leib-Seele-Problem, der Existenz einer geistigen und einer materiellen Welt abgeleitet und mit Fragen der Souveränität verknüpft werden. Dieser Ansatz stellt (materielle) All­ mendegüter und (mentale) persönliche Clubgüter an den Anfang der Argumentation. Zwischen diesen beiden Güterarten besteht eine klare Dichotomie. Die Definition von privaten und öffentlichen Gütern lässt sich von diesem Ausgangspunkt ableiten und dabei mit Fragen der Souveränität verknüpfen. Dieser Ansatz stellt den Staat in der Her­ leitung vor den Markt, Es ist der Staat der den Markt schafft, nicht umgekehrt.

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7.3 Ein Ansatz der politischen Philosophie Die oben angeführten Argumente deuten darauf hin, dass es einen grund­ legenden Fehler in der Art und Weise gibt, wie Ökonomen denken und mit öffentlichen und privaten Gütern umgehen. Es ist jedoch keine ein­ fache Aufgabe, den Fehler genau zu identifizieren. Man muss weit in der Philosophie des Denkens selbst zurückgehen, um die Wurzel des Fehlers zu finden. Die Bedeutung des Begriffs „Gut“ oder „Objekt“ muss mit philosophischen Mitteln dekonstruiert werden. In diesem Abschnitt werde ich zeigen, wie die Unterscheidung zwischen einer geistigen und einer materiellen Welt dazu beitragen kann, die Probleme im Zusammen­ hang mit der richtigen Definition von und der Dichotomie zwischen öf­ fentlichen und privaten Gütern zu lösen.

7.3.1 Öffentliche und private Güter: Eine soziale Konstruktion Seit der Zeit René Decartes wird darüber debattiert, ob es eine geistige und eine materielle Welt gibt und wie sie miteinander verbunden sind. „Dualisten“ argumentieren, dass beide existieren und irgendwie zu­ sammenwirken (z. B. durch das Zusammenwirken von „Gott“ oder eine besondere Verbindung zwischen Körper und Seele). Monotheisten argu­ mentieren, dass nur eines von beiden existiert. Es könnte sein, dass nur unsere geistige Welt existiert und die materielle Welt eine reine Illusion ist. Es ist aber auch möglich, dass nur die materielle Welt existiert. Davon geht der Behaviorismus seit den 1950er-Jahren aus. Die Wirtschafts­ wissenschaften können als ein Zweig dieses Ansatzes betrachtet werden. Hier werde ich mich teilweise auf den Ansatz des sozialen Konstruktivis­ mus stützen, der von Searle (1996) entwickelt wurde, der den dualisti­ schen Ansatz ablehnt und behauptet, dass „der Geist nur eine Reihe von Merkmalen auf höherer Ebene des Gehirns ist, eine Reihe von Merkma­ len, die gleichzeitig ‚mental‘ und ‚physisch‘ sind“ (Searle, 1996, S. 9). Se­ arle glaubt, dass eine „reale Welt“ unabhängig von uns existiert. Darüber hinaus gibt es eine unsichtbare „soziale Realität“ als Ergebnis mentaler Zustände und absichtlich, eine Realität, die „von uns für unsere Zwecke

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geschaffen wurde“ (Searle, 1996, S. 4). Soziale Realität ist für Searle eine Realität, die nur existiert, weil wir glauben, dass sie existiert. Beispiele dafür sind Geld, Ehen oder Regierungen und Präsidenten. Würden wir aufhören zu glauben, dass Geld existiert, dann wäre ein Dollarschein nicht mehr als ein Stück Papier (Searle, 1996, S. 32). Nach Searle haben wir Zugang zur realen Welt durch Wahrnehmung, Gedanken, Sprache oder Überzeugungen. Er fasste diese verschiedenen Zugangswege als „Re­ präsentationen“ der realen Welt in unserem Geist zusammen. Diese Re­ präsentationen können beides enthalten: intrinsische Intentionalität in Form von Überzeugungen und Wahrnehmungen und abgeleitete Intentionalität in Form von Sätzen (Searle, 1996, S. 150–151). Darüber hinaus hat unser Geist die Fähigkeit, Objekten Funktionen zuzuweisen. Diese Funktionen sind niemals intrinsisch, sondern immer beobachter­ abhängig. So ist beispielsweise ein Stuhl in der realen Welt nicht mehr als ein Stück Holz (oder ein anderes Material, aus dem er besteht). Erst wenn unser Verstand diesem Objekt die Funktion zuweist, dass man darauf sit­ zen kann, wird es zu einem Stuhl (Searle, 1996, S. 14). Um eine klare Definition darüber geben zu können, wie Güter (oder Objekte, Dinge) (nicht) ausschließbar oder (nicht) rivalisierend sein kön­ nen, werde ich zwischen einer geistigen und einer materiellen Ebene unterscheiden. Ich werde nun zeigen, dass alles, was wir als „Gut“ be­ zeichnen, in materielle und mentale „Bestandteile“ zerlegt werden kann. Oder anders ausgedrückt: Alles, was wir als „gut“ bezeichnen, ist eine Zusammensetzung aus materiellen und mentalen Bestandteilen. Die Zu­ sammensetzung dieser Bestandteile bestimmt, ob das konstruierte Gut eher die Merkmale eines privaten, öffentlichen, gemeinschaftlichen Gutes oder eines Clubgutes aufweist. „Güter“, wie wir sie konstruieren, sind also immer geistig und materiell, was Searles Hypothese stützt, dass eine reale Welt und eine sozial konstruierte Realität gleichzeitig existieren.

7.3.2 Materielle Bestandteile als gemeinsame Ressourcengüter Im Folgenden definiere ich einen materiellen Bestandteil als alles, was durch einen unserer fünf Sinne in unser Bewusstsein gelangt. Ich meine

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damit nur den materiellen Gegenstand, der wirklich in einen mensch­ lichen Sinn in unsere Wahrnehmung eintritt. Nehmen wir zum Beispiel einen Fernseher. Das eigentliche „Gut“, das wir von der Außenwelt wahr­ nehmen, ist nicht der Fernseher selbst, sondern es sind die Lichtstrahlen und Schallwellen, die in unsere Sinne eindringen. Das ist das eigentliche „Gut“. Der Fernseher ist nur die Quelle dieses Gutes. Der Fernseher ist also bereits ein konstruiertes Gut. Solche materiellen Teile aus der „realen“ Welt sind im Konsum immer rivalisierend, da sie nur in die Sinne eines Körpers gelangen können (Ein­ stein würde sagen, da sie lokal sind). Nicht-Rivalität kann nur festgestellt werden, wenn die Quelle, die dieses Gut produziert, so viel von diesem Gut produziert, dass jeder seine Bedürfnisse befriedigen kann. Die Licht­ strahlen des Fernsehers sind dre eigentliche „rivalisierende“ materielle Teil eines Gutes, und sie sind nur dann nicht rivalisierend, wenn es genug davon für alle gibt, wenn also jeder einen guten Blick auf den Bildschirm hat und genug Lichtstrahlen wahrnimmt. Darüber hinaus sind in einem Naturzustand materielle Bestandteile für jeden, der nahe genug ist, um das Gut zu erreichen, immer nicht aus­ schließbar. Der einzige ausschließbare Faktor in einem Naturzustand ist daher die zeitliche oder räumliche Entfernung. In diesem Zustand, wie ihn Thomas Hobbes in seinem Leviathan (2008/1651) definiert hat, sind daher alle materiellen Bestandteile Allmendegüter. Einige Beispiele: Ein Apfel ist natürlich rivalisierend im Verzehr; jedes Stück des Apfels kann nur in einen Magen gelangen und dort verwertet werden. Die Nicht-Rivalität kann nur erreicht werden, wenn genügend Apfelmasse vorhanden ist. Solange es aber keine soziale Institution, die die Nutzung reglementiert gibt, kann jeder, der nah genug an einem Apfel dran ist, ihn auch greifen und essen; im Naturzustand ist es nicht möglich, jemanden vom Verzehr des Apfels auszuschließen (außer durch rohe, „materielle“ Gewalt). Im Gegensatz dazu wird ein „klassisches Kon­ zert“ oft als „Club-Gut“ betrachtet: Es ist ausschließbar (durch die Ein­ trittskarte), aber nicht rivalisierend (jeder im Saal kann das Konzert hören, ohne den Konsum der anderen Teilnehmer zu schmälern). Ein klassisches Konzert ist jedoch bereits ein konstruiertes Gut. Eintritts­ karten sind eine soziale Konstruktion, um Menschen künstlich auszu­ schließen; im Naturzustand gibt es sie nicht. Eintrittskarten funktionie­

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ren, weil wir kollektiv vereinbart haben, dass sie existieren und funktio­ nieren sollen. Wenn sich jemand ins Konzert schleicht und erwischt wird, kann die Polizei gerufen werden, umden Delinquenten zu bestrafen, und der Polizist wird denken, dass er etwas Richtiges tut (die Rechtsstaatlich­ keit durchsetzen, um Chaos zu vermeiden), und die meisten Leute wer­ den zustimmen. Auch der materielle Aspekt des klassischen Konzerts kann zerlegt werden. Das Konzert selbst ist nicht das eigentliche mate­ rielle Gut; es ist eine Quelle für ein materielles Gut. Die eigentlichen ma­ teriellen Bestandteile, die in unsere Sinne gelangen, sind die Schallwellen, die in unsere Ohren gelangen (und vielleicht die Lichtstrahlen, die in unsere Augen gelangen). Für die Besucher eines Konzerts ist der Konsum dieser Güter nicht konkurrierend, da das Orchester mehr als genug für alle Anwesenden produziert. Ein weiteres Beispiel sind die Sonne und die Luft, die oft als globale öffentliche Güter bezeichnen werden, da sie nicht ausschließbar und nicht rivalisierend im Verbrauch sind. Das eigentliche materielle Gut, das wir verbrauchen, sind jedoch Lichtstrahlen und Sauerstoffatome. Sie sind rivalisierend im Verbrauch, da jeder Lichtstrahl und jedes Sauerstoffatom nur in eine einzelne Person gelangen kann. Al­ lerdings produzieren die Quellen (die Sonne und das Ökosystem) (noch) so viel von diesen Gütern, dass eine gewisse Nicht-Rivalität gegeben ist. Für unsere alltäglichen Interaktionen ist es natürlich schwierig, diese Definitionen für ein „Gut“ zu verwenden. Niemand würde anfangen, die Anzahl der Lichtstrahlen oder Schallwellen zu zählen, um den genauen Betrag eines individuellen Verbrauchs zu berechnen. Es ist viel bequemer, sich mit den bereits konstruierten „Produkten“ zu befassen, wie etwa Eintrittskarten. Es ist jedoch wichtig zu verstehen, dass die Wirtschafts­ wissenschaft nur dann eine wirklich „präzise“ Wissenschaft sein kann, wenn sie in der Lage ist, den genauen Verbrauch zu berechnen. Dies ist der eigentliche Unterschied zur Physik, die genauer messen kann, was unsere Sinne wahrnehmen. In der Ökonomie ist jedoch die Annahme, ein Konzert als „ein Gut“ zu definieren, bereits eine Vereinfachung, die zu gravierenden Verzerrungen führt. Sie macht die Definition von reinen Privatgütern, die nur in die Nutzenfunktion einer Person eingehen sol­ len, unmöglich, wie Samuelson feststellen musste (siehe Abschn. 7.2).

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7.3.3 Geistige Bestandteile eines Gutes als persönliche Clubgüter In der Literatur werden geistige Bestandteile meist als immaterielle Güter bezeichnet. Ich habe den Ausdruck „geistige Bestandteile“ gewählt, um zu betonen, dass es sich um einen Bestandteilhandelt, also um einen Teil eines konstruierten Gutes, der aus der geistigen Welt stammt. Die Cha­ rakteristik der geistigen Bestandteile ist der der materiellen Bestandteile entgegengesetzt. Geistige Bestandteile sind in ihrer reinen Form immer konkurrenzlos im Konsum. Mein Vergnügen, einen Text zu lesen, beein­ flusst nicht das Vergnügen eines anderen, der diesen Text liest. Wenn es eine Rivalität gibt, bezieht sie sich immer auf einen materiellen Bestand­ teil, zum Beispiel wenn ein Text in einem Buch gedruckt ist (das mate­ rielle Papierbuch wird dann zu dem Ding, um das eine Rivalität besteht). Auch Wissen ist ein geistiger Bestandteil eines Gutes. Es ist daher nicht rivalisierend in dem Sinne, dass Wissen nicht schlechter wird, wenn je­ mand anderes es auch hat. Vielleicht verliere ich einen bestimmten Vor­ teil, zum Beispiel einen Wettbewerbsvorteil auf dem Markt, wenn je­ mand anderes dieses Wissen hat, aber diese Nachteile beziehen sich dann auf eine materielle Ebene, den Wettbewerb um ein bestimmtes Produkt auf dem Markt. Darüber hinaus behaupte ich in dieser Argumentation, dass mentale Bestandteile als absolut ausschließbar angesehen werden können, in dem Sinne, dass sie nur im eigenen Geist existieren können. Es handelt sich um eine singuläre Intentionalität (Searle, 1996, S. 23–24). Es gibt, zu­ mindest bis heute, keine bekannte Möglichkeit, mentale Bestandteile in den Geist eines anderen zu „transportieren“, ohne ein materielles Me­ dium zu benutzen. Dieses Medium könnte unsere Zunge/akustische Wellen, Lichtstrahlen, ein Buch und so weiter sein. Nur durch diese ma­ teriellen Medien kann ein Gedanke zu einem anderen Geist transportiert werden. Wir wissen jedoch nie wirklich, wie der Geist des anderen wirk­ lich aussieht und wie er die Realität wahrnimmt. Er ist also absolut aus­ schließbar in dem Sinne, dass er nur einer Person gehört. In Ermangelung eines besseren Ausdrucks werde ich es daher ein persönliches Club­ gut nennen.

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Nach Searle haben wir jedoch die Fähigkeit zu glauben, dass jeder etwas glaubt („we believe“). Er nennt dieses Phänomen kollektive Intentionalität (Searle, 1996, S. 24). Wir können zum Beispiel glauben, dass es Geld gibt, was dazu führt, dass es Geld gibt. Oder wir können glauben, dass wir uns freuen sollten, wenn Deutschland die Fußballwelt­ meisterschaft gewinnt, was das Phänomen des „Fußballfiebers“ zu einem der ganz seltenen Beispiele für ein reines öffentliches Gut macht. Die Annahme der „absoluten Ausschließbarkeit“ ist ein wichtiger Punkt. Sie bedeutet, dass „geistige Bestandteile“ nur auf einen Geist be­ schränkt sind (obwohl sie mit Hilfe materieller Medien auf einen ande­ ren Geist „kopiert“ werden können). Ich setze hier also nicht not­ wendigerweise eine abstrakte universelle Welt der Ideale oder Konzepte eines „Weltgeistes“ voraus, wenn ich von geistigen Bestandteilen spreche. Allerdings schließe ich auch nicht aus, dass es eine „Welt der Ideen“ gibt. In diesem Fall würden die geistigen Güter zu einem nicht ausschließ­ baren reinen öffentlichen Gut.

7.3.4 Konstruierte Güter als Kombinationen von geistigen und materiellen Bestandteilen Fast alle Güter, mit denen wir in unserem Alltag zu tun haben, sind Kom­ binationen aus diesen beiden Arten von Bestandteilen. „Bildung“ enthält Merkmale eines materiellen Gutes in dem Sinne, dass man bestimmte materielle Medien benötigt, um jemanden zu bilden: Hörsäle, spre­ chende Professoren, Videoprojektoren, Bücher und so weiter. Es ist ein geistiges Gut in dem Sinne, dass das, was bei der Bildung transportiert wird, Ideen und Wissen sind, die in den Geist des Menschen eingehen. Die „Universität“ ist kein Gut an sich, sondern eine „Quelle für ein Gut“. Ein Apfel ist ein materielles Gut in dem Sinne, dass sein Inhalt nur ein­ mal in unseren Mund, unsere Zunge und unseren Magen gelangen kann. Der Genuss eines Apfels – oder eines ausgezeichneten Tellers Spaghetti frutti di mare an einem italienischen Strand – existiert nur in unserem Kopf. Alle Waren, mit denen wir es auf Märkten zu tun haben, sind also konstruierte Waren. Sie existieren nicht als reales, einzigartiges Objekt in der Wirklichkeit. Der Grad der geistigen oder materiellen „Bestandteile“,

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die sie enthalten, und die sozialen Institutionen, von denen sie umgeben sind, bestimmen, ob sie Merkmale der (Nicht-)Ausschließbarkeit und der (Nicht-)Rivalität im Konsum enthalten und ob sie daher ein privates, öffentliches, Club- oder Gemeinschaftsgut sind. Außerdem kann es sinnvoll sein, eine „Produkteinheit“ zu konstruie­ ren, um mit ihr umgehen zu können und ihren Wert auf einem Markt zu messen und den Austausch im Alltag zu erleichtern. Es wäre nicht sinn­ voll, jeden einzelnen Teil des Apfels in dem Moment zu messen, in dem er in den Mund kommt, oder zu messen, wie viele Lichtstrahlen eines Fernsehers in die Augen jeder einzelnen Person eindringen, die in den nächsten 10 oder 15 Jahren vor einem bestimmten Fernseher sitzen wird. Es ist sinnvoller, den Fernseher – die Quelle einer bestimmten Kombina­ tion von Gütern – als ein Produkt zu definieren, das auf einem Markt ge­ handelt werden kann. Die Werte von geistigen Gütern sind noch schwie­ riger zu messen, da sie subjektiv und nicht vergleichbar sind. Außerdem gibt es bei ihrem Konsum keine Rivalität. Musik zum Beispiel wird nicht schlechter, wenn andere Menschen sie auch hören. Allerdings gibt es eine Rivalität um die Scheibe, auf die die Musikdateien als CD gebrannt wer­ den. Die Tatsache, dass Musik lange Zeit nur über bestimmte materielle Datenträger erhältlich war, ermöglichte es der Musikindustrie, einen Markt für „private Güter“ zu schaffen. Die Musikindustrie hatte jedoch große Mühe, technische Standards (z.  B.  Kopierschutzmechanismen) durchzusetzen, um Musik auch im heutigen Internetzeitalter zu einem ausschließbaren und konkurrenzfähigen Gut zu machen. Die Frage, wie die Musikindustrie und ihre Künstler für ihre Arbeit durch das Wirt­ schaftssystem entlohnt werden sollten, berührt daher sehr komplexe The­ men, die den Wandel der Wirtschaft im einundzwanzigsten Jahrhundert im Allgemeinen veranschaulichen. Dies wurde während der Debatte über die Richtlinie (EU) 2019/790 zum Urheberrecht im digitalen Binnen­ markt deutlich. Dieses Beispiel zeigt auch, dass sich die Art und Weise, wie Waren zu­ sammengesetzt sind, im Laufe der Zeit entsprechend dem technischen Fortschritt verändern kann. Ein anderes Beispiel, das ich bereits genannt habe, ist ein Navigationssystem. Dieses würde es (theoretisch) ermög­ lichen, genau zu erfassen, welches Auto welche Straße wie oft benutzt. Eine genaue Berechnung der Nutzung von Straßen wäre möglich und

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Straßen könnten von „öffentlichen“ in private Güter umgewandelt wer­ den (ob dies wirklich geschehen sollte, ist eine andere, politische, Frage). Ein weiteres Beispiel sind Filme. Vor einem Jahrzehnt war es nur mög­ lich, Filme entweder im Fernsehen (mit einer sehr eingeschränkten Aus­ wahl, da das Fernsehprogramm für alle festgelegt war) oder auf einem Medium wie einer DVD oder Videokasette zu sehen. Heute ist es mög­ lich, Filme zu streamen, was ein größeres Angebot und eine günstigere Preisgestaltung möglich macht. Durch Streamingdiesnte wurde die Film­ branche zu einem „Clubgut“. Neue Technologien wie die Google-Brille (sofern sie weiterentwickelt werden) könnten zudem helfen, die materiel­ len von den geistigen Bestandteilen einer Ware zu trennen und die Menge des Konsums genauer zu messen (ob dies wirklich getan werden sollte, ist wiederum eine andere, politische Frage; siehe Abschn. 7.3.6).

7.3.5 Die Dichotomie zwischen gemeinsamen Ressourcen und „persönlichen“ Clubgütern Was bedeutet das nun für unsere Diskussion über private und öffentliche Güter? Nahezu alle Güter, mit denen wir tagtäglich zu tun haben (und die meisten davon werden auf Märkten gehandelt), sind Kombinationen bestimmter materieller und geistiger Bestandteile. Einen „messerscharfen Pol des privaten Güterfalls“ , wie ihn Samuelson (1969, S. 107–108) de­ finiert hat, gibt es daher nicht. Es gibt jedoch einen „messerscharfen Grenzpol“ zwischen der materiellen und der geistigen Welt, zwischen materiellen gemeinsamen Ressourcen und geistigen „persönlichen Club­ gütern“, wie oben beschrieben. Dies macht die Welt eher zu einer „Do­ mäne der öffentlichen Güter, da sie eine gewisse Konsumexternalität be­ inhaltet“ (siehe Abschn. 7.2). Private Güter sind hier im Grunde die Aus­ nahme, sie können gesellschaftlich geschaffen werden, z.  B. durch bestimmte Institutionen als Eigentumsrechte (also durch mentale Be­ standteile). In vielen Fällen kann es tatsächlich sinnvoll sein, private Güter künstlich zu schaffen, da dies dazu beiträgt, wirtschaftliche Res­ sourcen effizienter zu verwalten. Der wirtschaftliche Erfolg der moder­ nen Marktwirtschaften hat dies bewiesen.

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Es ist jedoch wichtig, sich vor Augen zu halten, dass es sich bei diesen privaten Gütern um konstruierte Güter handelt. Sie sind nicht „der Zu­ stand der Natur“. Die Wirtschaftswissenschaft kann daher niemals eine perfekte „Naturwissenschaft“ sein. Der grundlegende Fehler, den die mo­ derne Wirtschaftswissenschaft in Bezug auf die Dichotomie von öffentli­ chen und privaten Gütern begeht, besteht also darin, dass sie für die An­ erkennung „öffentlicher Güter“ eine „besondere Legitimation“ benötigt. Das Gegenteil sollte der Fall sein: Wir sollten sehr sorgfältig prüfen, bei welchen Gütern es tatsächlich sinnvoll ist, sie „künstlich“ zu privaten Gü­ tern zu machen und sie auf Märkten zu handeln, um die Vorteile der Marktmechanismen zu nutzen. Anstatt nach „schwerwiegenden Markt­ versagen“ zu suchen, sollten wir nach Gründen suchen, die es sinnvoll machen aus materiallen und geistigen Betsandteilen ein Privatgut zu schaffen. Eine Regierung sollte wahrscheinlich Eigentumsrechte für Äpfel einführen, um sie auf Märkten zu handeln. Wahrscheinlich auch für Musik und anderes geistiges Eigentum, obwohl die Musikindustrie schon zu Beginn des Jahrtausends ernsthafte Probleme hatte, die ihre Bedenken rechtfertigten. Ob Bildung ein privates Gut sein sollte, ist durchaus um­ stritten.

7.3.6 Verfassungsrechtliche Aspekte von Definitionen öffentlicher vs. privater Güter Ich habe argumentiert, dass jedes Gut, mit dem wir es zu tun haben, be­ stimmte materielle und geistige „Bestandteile“ enthält. Die Zusammen­ setzung dieser Bestandteile bestimmt die Eigenschaften des Gutes, ins­ besondere hinsichtlich der Kriterien, ob das Gut (nicht) ausschließbar und/oder (nicht) rivalisierend im Konsum ist. Diese Kriterien bestimmen, ob das Gut eher ein öffentliches, ein privates, ein Vereins- oder ein All­ mendegut ist. Die Kombination von geistigen und materiellen Bestandteilen setzt je­ doch nach Thomas Hobbes die Existenz eines Leviathans voraus, der den Naturzustand, eine rein materielle Welt der gemeinsamen Ressourcen, durch die Verbindung der Menschen auf geistiger Ebene über die Spra­ che und die Durchsetzung eines Gesellschaftsvertrags in eine Gesellschaft

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verwandelt (ich werde diesen Aspekt im nächsten Abschn. ausführlich er­ örtern). Es ist also der Leviathan, der darüber entscheidet, was ein öffent­ liches, ein privates oder ein Gemeingut ist, denn die Definition dessen, was ein Gut und insbesondere was ein privates Gut ist, ist eine, die die Grundlage unserer menschlichen Beziehungen bildet. Sie berührt die Grundlage unserer demokratischen, rechtsstaatlichen Ordnung. Die end­ gültige Entscheidung darüber, was ein Gut ist, das auf Märkten gehandelt werden kann, muss daher von einer demokratisch legitimierten Institu­ tion getroffen werden. Handelsabkommen wie das transatlantische Handelsabkommen (TTIP), über das bis 2016 verhandelt wurde, das aber nie in Kraft ge­ treten ist, untergraben diesen Grundsatz. Unter TTIP hätte eine trans­ atlantische Institution, und nicht eine europäische, zum Beispiel definie­ ren würde, was Lebensmittel sind, die auf den Märkten verkauft werden dürfen. Viele europäische Verbraucher (oder besser gesagt, einzelne Mit­ glieder des gemeinsamen europäischen Marktes) würden es jedoch ab­ lehnen, dass bestimmte Lebensmittel mit niedrigem Standard auf unse­ ren Märkten verkauft werden. Auf der anderen Seite würden viele Ame­ rikaner die laxen europäischen Bankvorschriften ablehnen. Wenn man dieses Argument zu Ende denkt, bedeutet dies natürlich auch, dass euro­ päische Institutionen, die „europäische“ Waren und Marktregeln definie­ ren, eine höhere demokratische Legitimation benötigen. Unter TTIP würde jedoch eine demokratisch nicht legitimierte Institution darüber entscheidet, welche Produkte auf europäischen und amerikanischen Märkten verkauft werden können. Ein weiteres Beispiel für die sich verändernde „Konstruktion“ von Gü­ tern und die Bedeutung der Definition privater Güter ist die Verwendung privater Daten in der neuen Ära des Social Webs. Medienunternehmen wie Google oder Facebook zeichnen das Verhalten von Internetnutzern auf. Sie sammeln Daten darüber, welche Filme Internetnutzer gesehen haben, welche Nachrichten sie gelesen haben und so weiter. Sie ver­ wenden diese Daten, um ein neues „konstruiertes“ Produkt zu schaffen: individualisierte Werbung oder Wissen über mögliche Kunden. Sie ver­ kaufen diese Produkte an Unternehmen, die für ihre Produkte werben wollen. Diese persönliche Daten sind daher eine Art öffentliches Gut: Sie werden nicht schlecht, wenn viele Menschen sie nutzen (die Informatio­

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nen bleiben dieselben; vielleicht gibt es einen Wettstreit darum, wer Ihnen am Ende ein „materielles“ Produkt verkauft). Außerdem sind sie in der digitalen Welt nahezu endlos reproduzierbar und nicht auf einem Papiermedium „fixiert“. Hinzu kommt, dass eine einzelne Person ihre privaten Daten nicht ohne weiteres schützen kann; im Allgemeinen könnte jeder sie sich einfach „abgreifen“ und damit machen, was er will. So wissen oft nicht genau, was Internetfirmen mit diesen Daten genau machen. Es bedarf daher besonderer Regelungen, um zu verhindern, dass Internetunternehmen unbegrenzt individuelle Daten sammeln und nut­ zen. Das Produkt „Daten zum Nutzerverhalten“ ist so konstruiert, dass es für eine einzelne Person schwierig ist, den Überblick darüber zu behalten, wem ihre privaten Daten gehören.2 Wenn man private Daten jedoch so konstruieren möchte, dass sie ein echtes privates) Gut werden, müsste man die gesamte Architektur des Internets ändern. Jeder Bürger müsste die Möglichkeit haben, Zugang zu all den Daten zu erhalten, die Google oder Facebook über jeden sammeln und wie sie diese nutzen. Die europä­ ische Datenschutzverordnung war ein wichtiger Schritt dorthin, sie kann jedoch auch nur ein Anfang sein, um muss neuen technologischen Ent­ wicklungen in Zukunft angepasst werden. Wir haben gesehen, dass es wichtig ist, dass die Entscheidung darüber, was ein (privates) Gut ist, nicht allein vom Markt getroffen werden kann. Eine öffentliche, demokratisch legitimierte Verwaltung muss sich an die­ sem Prozess beteiligen. Diese Regulierungsaufgabe kann daher nicht als ein „öffentliches“ Gut selbst angesehen werden, wie dies einige Vertreter der Theorie der öffentlichen Güter zu tun pflegen, da sie logischerweise vor dem Markt und der Konstruktion von „Gütern“ selbst steht. Diese Institution entscheidet darüber, was ein privates, öffentliches oder Clubgut ist.

 In einem bereits in den 1980er-Jahren ergangenen Urteil hat das Bundesverfassungsgericht argu­ mentiert, dass in einer Situation, in der ein Bürger nicht mehr weiß, wer welche Informationen über ihn besitzt, der Einzelne wahrscheinlich sein Verhalten dieser Unsicherheit anpassen wird. Diese Verhaltensanpassung untergräbt grundlegende demokratische Prozesse der Entscheidungs­ findung (vgl. Volkszählungsurteil, BVerfG, Urteil v. 15. Dezember 1983, Az. 1 BvR 209, 269, 362, 420, 440, 484/83). 2

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7.4 Souveränität und die Hierarchie sozialer Institutionen In den vorangegangenen Abschnitten habe ich die heutige Theorie der öffentlichen Güter vorgestellt und einige grundlegende theoretische Schwächen dieser Theorie aufgezeigt, insbesondere das Problemstellung, ob eine Dichotomie zwischen öffentlichen und privaten Gütern existiert. Ich habe einen neuen, auf dem sozialen Konstruktivismus basierenden Ansatz vorgeschlagen, um die theoretischen Probleme der Theorie der öf­ fentlichen Güter zu lösen. Ein weiterer Schwachpunkt der gegenwärtigen Theorie der öffentlichen Güter ist, dass es zwar eine umfangreiche Litera­ tur darüber gibt, wie öffentliche Güter zu regeln sind und wie die opti­ male Bereitstellung dieser Güter zu bestimmen ist, die Literatur zur Definition öffentlicher Güter jedoch bisher recht begrenzt ist. Sie konzentriert sich auf die „Suche“ nach mögliche Gütern, die die Kriterien der Nicht-Rivalität und Nicht-Ausschließbarkeit erfüllen, ohne im Detail zu erklären, woher diese Definitionen kommen. Darüber hinaus handelt es sich bei der (ökonomischen) Theorie der öffentlichen Güter um einen rein analytischen Ansatz, der es schwierig macht, die Theorie der öffent­ lichen Güter in die bestehende Literatur der politischen Philosophie zu integrieren. In diesem Abschnitt werde ich das Konzept einer Hierarchie in­ einandergreifender sozialer Institutionen und öffentlicher Güter vor­ schlagen, um Überlegungen zur politischen Philosophie von Platon und Thomas Hobbes mit den Überlegungen zur Theorie der öffentlichen Güter zu verbinden. Ich konzentriere mich auf Platon und Hobbes, weil hier der Unterschied zwischen der geistigen und der materiellen Welt und seine Verbindung zu Fragen der Souveränität deutlich wird. Dieser Ansatz wird dazu beitragen, öffentliche Güter zu definieren, und er ist, wie ich argumentieren werde, besser geignet, um zwischen öffentlichen und privaten Gütern zu unterscheiden und die Theorie der öffentlichen Güter in die politische Philosophie zu integrieren.

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7.4.1 Sicherheit zur Überwindung des Naturzustandes Als Ausgangspunkt für die Ableitung einer Hierarchie ineinander­ greifender sozialer Institutionen wähle ich den Naturzustand, wie ihn Thomas Hobbes in seinem „Leviathan“ beschrieben hat. Seit Hobbes’ Le­ viathan ist der Naturzustand der Ausgangspunkt in der politischen Philo­ sophie, um die Entstehung von Gesellschaftsverträgen zu erklären. Im Hobbes’schen Naturzustand gibt es keine sozial konstruierten Institutio­ nen, nicht einmal Sprache oder irgendeine andere Form der Kommuni­ kation zwischen Menschen existiert. Bei Hobbes gibt es nur die mate­ rielle Welt und sich bewegende Körper. In diesem Zustand ist jeder völlig frei. Da es jedoch keine Kommunikation gibt, ist die Folge ein Kriegs­ zustand „eines jeden Menschen gegen jeden Menschen“ (Hobbes, 2008/1651, 84, Kap. XXX). Der Hobbes’sche Naturzustand wird oft als Sinnbild für eine Welt der Ressourcenknappheit mit Konkurrenzkämpfen beschrieben. Unter Berücksichtigung meines Verständnisses von öffentli­ chen Gütern wie in Abschn. 7.3 beschrieben, handelt es sich um eine ma­ terielle Welt ohne geistige Bestandteile. Jeder versucht zu überleben, indem er sich Nahrung aus der Natur (der gemeinsamen Ressource) holt und sich verteidigt. Die Güter, die jeder Einzelne „an sich reißt“, hängen nur von ihm und seinem Verhältnis zur Natur ab, nicht von seinem Ver­ hältnis zu anderen Menschen. Der Naturzustand ist also auch ein Zu­ stand der absoluten Freiheit von (gesellschaftlich konstruierter) Herr­ schaft. Da es jedoch keine Form der Kooperation gibt und die Ein­ mischung anderer durch physische Gewalt immer noch möglich (und wahrscheinlich) ist, ist das Leben in diesem Naturzustand „einsam, arm, gemein, brutal und kurz“ (Hobbes, 2008/1651, S. 84, Kap. XXX).

7.4.1.1 Die Überwindung der Welt der gemeinsamen Ressourcen Die Menschen sind daher, nach Hobbes, bereit, ihre Freiheit im Natur­ zustand aufzugeben und sich einem Gesellschaftsvertrag unterzuordnen, um die Zusammenarbeit mit anderen Menschen zu ermöglichen. Es ist

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die Aufgabe des Souveräns (des Leviathans), die geistige und die mate­ rielle Welt zu verbinden, um soziale Institutionen wie Sprache, politische Institutionen oder Märkte und private Güter zu ermöglichen. Von die­ sem neuen Ausgangspunkt lässt sich eine Hierarchie von sozialen Institu­ tionen und öffentlichen Gütern ableiten, die vom Leviathan bereitgestellt werden müssen, um den Naturzustand zu überwinden. Das erste öffent­ liche Gut, das ein Souverän bereitstellen muss, ist Sicherheit, um die Menschen davon zu überzeugen, ihr Recht auf Selbstverteidigung aufzu­ geben und den Kampf aller gegen alle im (materiellen) Naturzustand zu überwinden, indem sie sich einem (geistig konstruierten) Gesellschafts­ vertrag anschließen (Abb. 7.2). Diese Logik findet sich bereits in Platons „Republik“. Platon argumen­ tiert in seiner „Republik“, dass der Grund für die Schaffung des Staates die Organisation der menschlichen Zusammenarbeit und Arbeitsteilung ist. Er argumentierte, der Staat sei notwendig, um die Arbeitsteilung zu organisieren und die negativen Folgen (die externen Effekte) eines sol­ chen Wirtschaftssystems zu bewältigen (Plato, 1980). Beeinflusst durch

Abb.  7.2  Hierarchie der ineinandergreifenden sozialen Einrichtungen und öffentlichen Güter

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die Gräueltaten des Bürgerkriegs in England (1642–1649) vertrat Hobbes die Ansicht, dass die Unterordnung vollständig sein muss. Die Bürger müssen dem gemeinsamen Herrscher, einem „Leviathan“, gehorchen, da dies die einzige Möglichkeit ist, den Kampf aller gegen alle zu verhindern (Hobbes, 2008/1651). Thomas Hobbes wurde daher vorgeworfen, er habe den aufkommenden absolutistischen Monarchien intellektuell den Weg geebnet. Hobbes’ Grundaussage ist jedoch, dass die Menschen be­ reit sind, ihr natürliches Recht auf Selbstverteidigung und ihr Recht auf „Nahrungsbeschaffung“ aufzugeben, um die rein materielle Welt mit den unausweichlichen Konflikten um knappe Ressourcen zu verlassen. „Innerhalb“ eines Gesellschaftsvertrags (der nur in der mentalen Welt existiert) werden die gemeinsamen Ressourcen entweder vom Herrscher oder einem seiner Agenten verwaltet (so kann der Zugang zum Wald zum Beispiel von einem Herzog geregelt werden) oder die gemeinsamen Ressourcen können durch die Durchsetzung von Eigentumsrechten (also durch „mentale“ Konstruktionen) in private Güter umgewandelt wer­ den. In jedem Fall muss der Herrscher, bevor er über eine dieser ver­ schiedenen Möglichkeiten entscheiden kann, wie er die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen den Individuen im Rahmen eines Gesellschafts­ vertrags gestaltet, ein anderes, logisch vorrangiges öffentliches Gut bereit­ stellen: Sicherheit. Diese Sicherheit besteht aus zwei Teilbereichen: ers­ tens die Schaffung eines (staatlichen) Gewaltmonopols und zweitens ein gewisses Maß an Ernährungssicherheit, da ein System, das zu Hungers­ nöten und damit zum Tod führt, in der Logik von Thomas Hobbes dem Individuum das Recht geben würde, den Gesellschaftsvertrag zu ver­ lassen. Nur wenn der Herrscher diese beiden öffentlichen Güter bereit­ stellen kann, wird er auch in der Lage sein, alle anderen öffentlichen Güter und sozialen Einrichtungen zu schaffen, die wir heute kennen. Sicherheit und (Landes-)Verteidigung sowie die Sicherheit der Nahrungs­ mittelversorgung sind daher das erste öffentliche Gut, das bereitgestellt werden muss. Aufbauend auf diesem öffentlichen Gut entstehen weitere öffentliche Güter, insbesondere die Schaffung einer Wirtschaftsver­ fassung. Es ist jedoch wichtig zu verstehen, dass diese öffentlichen Güter ineinandergreifende öffentliche Güter sind. Die Art und Weise, wie die Wirtschaftsverfassung ausgestaltet wird, hängt also davon ab, wie das erste öffentliche Gut, die nationale Sicherheit, geschaffen wird.

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7.4.1.2 Souveränität und Verteidigung als öffentliche Güter In der Literatur wird die Landesverteidigung oft als ein Paradebeispiel für ein „reines“ öffentliches Gut bezeichnet. Jeder Bürger kommt in den Ge­ nuss der Vorteile der Landesverteidigung, es gibt keine Rivalität beim Verbrauch und es ist nicht möglich, jemanden von der Landesver­ teidigung auszuschließen. Wenn man jedoch genau hinsieht, ist die Landesverteidigung nicht immer konkurrenzlos und nicht-ausschließbar. Die Einwohner von Verdun könnten der Ansicht widersprechen, dass der Bau der Befestigung der deutsch-französischen Grenze, das „System Séré de Riviéres“, ihrem Schutz diente, da die Deutschen die Befestigung durch den Schlieffen-Plan umgingen und Verdun direkt angriffen. Das Verteidigungssystem hatte letztlich eine dramatische negative Aus­ wirkung auf Verdun. Der logische Fehler des Konzepts der „Landesverteidigung“ lässt sich aufdecken, wenn man den Begriff selbst genauer betrachtet. Nationale Verteidigung besteht aus zwei Wörtern: „national“ und „Verteidigung“. Verteidigung ist per se ein reines Privatgut. Das gilt vor allem im Natur­ zustand. Auch innerhalb einer Gesellschaft kann jeder einen privaten Leibwächter, einen privaten Nachbarschaftsschutz oder sogar eine Privat­ armee engagieren (solange der Leviathan dies nicht verbietet). Was die Landesverteidigung zu einem öffentlichen Gut macht, ist ihr Adverb „na­ tional“. Damit wird deutlich, dass nicht die Verteidigung, sondern die Nation ein öffentliches Gut für das Land (bzw. ein Clubgut für außen­ stehende) ist. Die Landesverteidigung existiert, weil es Nationen gibt. Wie wir jedoch gesehen haben, basiert eine Nation theoretisch eher auf dem Konzept eines „Gesellschaftsvertrags“, der einen Souverän schafft, um Frieden und Sicherheit zu gewährleisten. Es wäre daher angemessener, von „Souveränität“ statt von „Nation“ zu sprechen. Die „nationale“ Ver­ teidigung könnte dann am besten als „souveräne Verteidigung“ oder die Verteidigung der Souveränität einer Gruppe von Menschen be­ schrieben werden. Was bewirkt die „souveräne Verteidigung“? Im Naturzustand ist alles ein „Allgemeingut“, und der Besitz kann einfach durch „zugreifen“ er­ langt werden. Durch die Anwendung persönlicher Gewalt, können wir in

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in dieser Welt des Naturzustandes privaten Besitz erlangen. Die Selbst­ verteidigung im Naturzustand ist daher das erste private Gut in der Hie­ rarchie öffentlicher Güter. Die Menschen schließen sich in einem Ge­ meinwesen zusammen und geben ihr privates Recht auf Selbstver­ teidigung auf, um den Naturzustand zu überwinden (Hobbes, 2008/1651). Nach schafft die Gesellschaft so eine zentralisierteMacht, einen Souverän, der das Gewaltmonopol besitzt: den Leviathan. Nur so können wir einen Gesellschaftsvertrag aufbauen und einen Krieg aller gegen alle vermeiden. Das erste „private“ Gut, das Recht auf Selbstver­ teidigung im Naturzustand, wird also durch einen intellektuellen, men­ talen Akt durch das erste öffentliche Gut ersetzt, eine staatliche Gewalt, die die Bürger schützen soll. Indem wir die „Idee“ haben, dass wir eine sou­ veräne Nation sind und dass wir unsere Souveränität verteidigen müssen, schaffen wir eine bestimmte Art von öffentlichem Gut. Auf globaler Ebene ist die Nation jedoch eher ein Vereinsgut als ein reines öffentli­ ches Gut.3 Außerdem muss die vom souverän organisierte Verteidigung das Ge­ meinwesen vor Bedrohungen von außerhalb des Gemeinwesens schüt­ zen. Ein mächtiges souveränes Gemeinwesen könnte versuchen, einem anderen souveränen Gemeinwesen seinen Willen aufzuzwingen, was des­ sen Souveränität und den geschaffenen Gesellschaftsvertrag unterläuft. Die Schaffung eines souveränen Gemeinwesens kann daher negative ex­ terne Effekte auf ein anderes Gemeinwesen haben. Souveräne Ver­ teidigung ist daher notwendig, um die Mitglieder des Gemeinwesens vor diesen inneren und äußeren Bedrohungen zu schützen. Diese Definition von souveräner Verteidigung und ihre enge Ver­ bindung mit dem Aufbau eines Gesellschaftsvertrags bringt einige schwerwiegende Widersprüche mit sich. Die Verteidigung wird in der westlichen Welt heute nicht auf nationaler Ebene, sondern weitgehend auf zwischenstaatlicher Ebene, insbesondere durch die NATO, gewähr­ leistet. Die Hierarchie der ineinandergreifenden sozialen Institutionen und öffentlichen Güter könnte auch zur Lösung eines anderen Para­ doxons beitragen. In den USA ist die Verteidigung zu einem größeren  Außerdem hat die Flüchtlingskrise gezeigt, dass es sich um einen Club handelt, in dem die Kosten der Ausgrenzung recht hoch sind. 3

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Teil als in Europa ein „privates“ Gut, da jeder US-Bürger das Recht hat, Waffen zu tragen.4 Der Verfassungszusatz stärkte auch die Rolle der pri­ vaten Waffenindustrie. Nach dem Ansatz der Hierarchie der sozialen In­ stitutionen und der öffentlichen Güter sollte eine klare Trennung zwi­ schen der Wirtschaft, insbesondere den Marktkräften, und der Ver­ teidigung bestehen. Es könnte daher im Sinne des Ansatzes notwendig sein, die Waffenindustrie zu verstaatlichen, da ansonsten die Souveränität des Leviathans und mit ihm des Gesellschaftsvertrages unterlaufen wird. US-Präsident Dwight D. Eisenhower warnte 1961 in seiner viel zitierten Abschiedsrede an die Nation, dass „wir uns davor hüten müssen, dass der militärisch-industrielle Komplex ungerechtfertigten Einfluss erlangt, sei er erwünscht oder unerwünscht“ (Eisenhower, 1961).

7.4.1.3 Der Nexus zwischen einer gemeinsamen Verteidigung und einem gemeinsamen Haushalt Die Schaffung des „ersten öffentlichen Gutes“, der Landesverteidigung, hat wichtige Auswirkungen auf die Schaffung des zweiten öffentlichen Gutes, der Wirtschaftsverfassung. Charles Tilly argumentierte, dass die modernen Nationalstaaten erfunden wurden, weil die Kriegsführung nach der Erfindung des Schwarzpulvers und der stehenden Heere so teuer wurde, dass sie nur durch einen modernen Nationalstaat finanziert werden konnte (Tilly, 1993). Die entstehenden europäischen National­ staaten brauchten einerseits Armeen, um sich zu verteidigen und ihre Souveränität zu erhalten. Andererseits machte die Finanzierung einer Armee die Schaffung oder Weiterentwicklung des Nationalstaates not­ wendig. Eine gemeinsame Armee ist daher ein wichtiges Bindeglied für die Schaffung eines gemeinsamen Staates. Die Geschichte von Ländern wie den USA oder Deutschland zeigt auch, dass diese Länder durch Kriegsschulden geeint wurden. Die USA zum Beispiel hatten nach ihrem  Wörtlich heißt es: „Eine gut regulierte Miliz, die für die Sicherheit eines freien Staates notwendig ist, darf das Recht des Volkes, Waffen zu behalten und zu tragen, nicht verletzen“. Historische Ur­ sprünge des Verfassungszusatzes liegen in der englischen Bill of Rights von 1689, als (Protestanten) versuchten, auch mit Waffengewalt die Autorität des Königs zu begrenzen und den katholischen Einfluss einzudämmen. 4

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Unabhängigkeitskrieg eine riesige Verschuldung. Die Verwaltung dieser Schulden spielte eine wichtige Rolle, um die 13 Kolonien zusammenzu­ halten und einen gemeinsamen Haushalt zu schaffen. Auch Deutschland wurde zunächst durch Kriege geeint. In Deutschland spaltete der Streit um eine nachträgliche Legitimation der Kriegsfinanzen von Bismarck den Nationalismus vom Liberalismus (Schwanitz, 2002, S.  173–179). Die Reparationen, die Deutschland nach seinem Sieg über Frankreich 1871 erhielt, spielten eine wichtige Rolle beim Aufbau des deutschen Währungs- und Wirtschaftssystems, dem zweiten öffentlichen Gut.

7.4.2 Die Wirtschaftsverfassung Der nächste Schritt bei der Schaffung eines Gesellschaftsvertrags ist die Entscheidung darüber, wie die wirtschaftlichen Ressourcen unter den In­ dividuen, die Teil des Gesellschaftsvertrags sind, aufgeteilt werden sollen. Daher ist eine Wirtschaftsverfassung erforderlich. Wie ebereits erwähnt, argumentiert Platon in der „Republik“, dass das Ziel des Staates die Er­ möglichung der Arbeitsteilung ist. Zu der Frage, wie die durch die Arbeitsteilung produzierten Güter verteilt werden sollen, war Platons „Republik“ allerdings erstaunlich vage. Er schlug eine Art Kommunis­ mus für die „Wächter“ vor, die die Republik zu schützen hatten, sagte al­ lerdings nicht viel darüber, wie die wirtschaftlichen Beziehungen zwi­ schen „normalen“ Bürgern organisiert werden sollten. Platon erklärte lediglich, dass es Märkte und „Geldstücke“ geben sollte (Plato, 1980, S. 617, Buch II). In der Hobbes’schen Logik wäre es das ausschließliche Recht des Herr­ schers zu entscheiden, welche Gesetze und welches Wirtschaftssystem innerhalb eines Gesellschaftsvertrags umgesetzt werden sollten. Er würde die sozial konstruierten Regeln definieren und durchsetzen, die die Modalitäten der wirtschaftlichen Interaktion und Kooperation zwischen den Individuen bestimmen. Diese Regeln entscheiden darüber, wie die Wirtschaft gestaltet wird, ob sie die „Schifffahrt“ hervorbringt, die uns den „Gebrauch der Waren, die auf dem Seeweg importiert werden kön­ nen“, ermöglicht, oder die „Güter des Bauwesens“, die „Instrumente der Fortbewegung“, das „Wissen“, das „Zeitkonto“, die „Künste“, die „Briefe“

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oder einfach die „Kultur der Erde“ (Hobbes, 2008/1651, S.  84, Kap. XXX), die in einem Naturzustand ohne Kooperation nicht existie­ ren würden. Allerdings erkannte bereits Hobbes an, dass der „Herrscher“, der über die Gesetze entscheiden kann, auch „eine allgemeine Versammlung“ sein kann, obwohl Hobbes einen König als einzigen Herrscher bevorzugte. Später fügte Jean-Jacques Rousseau den Begriff des „Volonté générale (allgemeinen Willens)“ zum Diskurs in der politischen Philosophie hinzu, der Wille muss gebildet werden, damit Entscheidungen über diese Fragen getroffen werden können. Es die Aufgabe dieser Instanz zu ent­ scheiden, ob eine kapitalistische Marktwirtschaft, ein feudales landwirt­ schaftliches Bodensystem oder ein kommunistisches Produktionssystem eingeführt werden soll. Es bleibt die Aufgabe des Herrschers, die für das jeweilige System erforderlichen Institutionen bereitzustellen. In einem kommunistischen System würde ein zentrales Planungsbüro, d. h. eine politische Institution, über die Verteilung der Ressourcen entscheiden. In einem kapitalistischen System entscheiden Eigentumsrechte und Preis­ mechanismen über die Verteilung des Reichtums. Es wäre dann die Auf­ gabe des Leviathans, über die Regeln zu entscheiden, wie geistige und materielle Bestandteile zu verschiedenen öffentlichen, privaten, gemein­ schaftlichen Ressourcen oder Clubgütern kombiniert werden können. In einer Demokratie sollte diese Aufgabe von einer durch den Souverän le­ gitimierten Institution wahrgenommen werden. Ein demokratisch legiti­ mierter Entscheidungsprozess sollte dann darüber entscheiden, was ein öffentliches Gut ist und was nicht (siehe auch Collignon, 2017, S. 3–5). Die Wirtschaftsverfassung bestimmt, in welchem Rahmen die wirtschaftliche Zusammenarbeit stattfinden soll. Der Souverän kann sich – und sollte sich wohl auch – für eine Marktwirtschaft entscheiden, denn die Geschichte hat bewiesen, dass effiziente Märkte den Wohlstand für alle maximieren können. Die Regierung muss Regeln festlegen, wie geistige und materielle Bestandteile (d. h. gemeinsame Ressourcengüter und metallene persönliche Clubgüter) kombiniert werden können. Es darf jedoch nicht vergessen werden, dass der Staat an erster Stelle steht und den Markt für das Gemeinwohl einführt. Der Markt hat keinen Zweck und keine Legitimation in sich selbst.

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Die Bereitstellung aller Institutionen, die zur Verwirklichung dieses Systems erforderlich sind (Durchsetzung der Marktregeln, Kartell­ behörden usw.), sind „Teil“-Öffentlichkeitsgüter für diese Entscheidung. Die Frage, welche Institutionen (oder besser gesagt, welche „sub“-öffent­ lichen Güter) ein voll funktionsfähiges kapitalistisches Marktsystem be­ nötigt, ist jedoch heikel, zumal alle diese öffentlichen Güter ineinander­ greifend sind. Um zum Beispiel den Verlauf der europäischen Integration zu ver­ stehen, ist es sehr wichtig zu wissen, wie das erste öffentliche Gut – die Sicherheit – und das zweite öffentliche Gut – die Wirtschaftsverfassung – und ihre untergeordneten öffentlichen Güter (die Institutionen zur Ver­ wirklichung des Wirtschaftssystems) miteinander verbunden sind. Wie wir gesehen haben, sind die Bereitstellung des ersten und zweiten öffent­ lichen Gutes eng miteinander verbunden; sie sind „ineinandergreifende soziale Konstrukte“. Dies gilt insbesondere für das vom Souverän ge­ schaffene „Geld-Token“ (wie Platon es nannte), das Geldsystem. Die so­ ziale Institution des Geldes ist daher eng mit Fragen der Souveränität ver­ bunden. Ein grundlegender Fehler vieler klassischer und neoliberaler Theorien besteht darin, dass sie dazu neigen, den Zusammenhang zwi­ schen Souveränität und Geld zu ignorieren (siehe Kap. 8).

7.4.3 Wie geht man mit dem Außenhandel um? Außerdem sind die wirtschaftliche Zusammenarbeit innerhalb einer Souveränität und die wirtschaftliche Zusammenarbeit zwischen Mit­ gliedern zweier verschiedener Souveränitäten zwei sehr unterschiedliche Dinge. Der Hauptunterschied besteht darin, dass der Gewinn aus der Arbeitsteilung, der innerhalb einer Souveränität entsteht, durch Regeln der Regierung (um-)verteilt werden kann, während dies bei Gewinnen, die zwischen verschiedenen Souveränitäten entstehen, nicht möglich ist. Sobald die Entscheidung über die Wirtschaftsverfassung getroffen ist, muss die Gemeinschaft des Gesellschaftsvertrags daher eine weitere wich­ tige Entscheidung treffen. Wie soll er seine Beziehungen zu anderen Län­ dern gestalten? Diese Frage umfasst Themen wie Zölle oder andere Handelsschranken, die Einführung von Kapitalverkehrskontrollen und

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Wechselkursregelungen. Schon Platon hat in seiner „Republik“ vorweg­ genommen, dass der wirtschaftliche Austausch innerhalb eines Kreises und der wirtschaftliche Austausch mit einem anderen Kreis zwei sehr unterschiedliche Dinge sind. Während Platon eine Art Geldwirtschaft innerhalb einer Republik vorschlug (organisiert durch Arbeitsteilung und Fiat-„Geldmünzen“), schlug er für den wirtschaftlichen Austausch zwischen zwei Wahlkreisen eine Art Tauschhandel vor, um Probleme der Zeitinkonsistenz zu vermeiden (Plato, 1980, S. 617). Die heutigen Wirt­ schaftstheorien gehen nicht auf die Andersartigkeit dieses Austauschs ein.

7.4.4 Justiz Wie Platon betonte, besteht die letzte Aufgabe des Staates darin, die Idee der Gerechtigkeit zu verkörpern. Es liegt daher in der Verantwortung des Herrschers eines Staates, sein Gemeinwesen auf einen Zustand der Ge­ rechtigkeit und nicht auf einen Naturzustand auszurichten. Dies betrifft u.  a. auch Fragen der gerechten Umverteilung und der sozialen Ge­ rechtigkeit. Die Präferenzen und Formulierungen in Bezug auf soziale Gerechtig­ keit können von Land zu Land und von Gesellschaft zu Gesellschaft unterschiedlich sein. In der Antike glaubten die Menschen, dass ein ge­ rechter Staat auf einem tugendhaften Leben seiner Bürgerinnen und Bür­ ger beruhte. Laster wurde als etwas Schlechtes angesehen, das der Gesell­ schaft als Ganzes schaden würde. Dieser Ansatz wurde im Zuge der Mo­ dernisierung völlig umgedreht. Aufbauend auf der Arbeit von Mandeville vertrat Adam Smith (Smith, 2003/1776) die Ansicht, dass es für die Ge­ sellschaft als Ganzes vorteilhaft sei, wenn jeder Einzelne sein eigenes In­ teresse verfolge, anstatt den Nutzen der Gesellschaft oder der Gemein­ schaft als Ganzes zu verfolgen: „Nicht vom Wohlwollen des Metzgers, des Brauers oder des Bäckers er­ warten wir unser Abendessen, sondern von ihrer Rücksicht auf ihr eigenes Interesse. Wir wenden uns nicht an ihre Menschlichkeit, sondern an ihre Eigenliebe, und wir sprechen mit ihnen nie über unsere eigenen Bedürf­ nisse, sondern über ihre Vorteile.“ (Smith, 2003/1776, S.  23–24, Buch I, Kap. 2)

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Eine Marktwirtschaft baut die geeigneten Institutionen auf, um die Art von Austausch zu ermöglichen, die eine Arbeitsteilung erlaubt, bei der jeder Einzelne versucht, sein persönliches Interesse zu verfolgen, ohne Rücksicht auf die Gesellschaft als Ganzes zu nehmen. In einer solchen Marktwirtschaft, die auf dem gesellschaftlich konstruierten Konzept der Privatgüter aufbaut, wird der Wettbewerb zum herrschenden Verteilungs­ prinzip. Adam Smith betonte jedoch, dass dieser Prozess der Arbeits­ teilung nicht absichtlich erfunden wurde, um den Nutzen der Gesell­ schaft als Ganzes zu maximieren: „Diese Arbeitsteilung, aus der sich so viele Vorteile ergeben, ist ursprüng­ lich nicht die Wirkung irgendeiner menschlichen Weisheit, die den all­ gemeinen Reichtum, zu dem sie Anlass gibt, voraussieht und beabsichtigt. Sie ist die notwendige, wenn auch sehr langsame und allmähliche Folge einer bestimmten Neigung in der menschlichen Natur, die keinen so weit­ reichenden Nutzen im Auge hat: die Neigung, eine Sache gegen eine an­ dere zu handeln, zu tauschen und zu tauschen.“ (Smith, 2003/1776, S. 22, Buch I, Kap. 2)

Es bleibt also die Frage, wohin dieser Prozess führen soll. In diesem Buch wird argumentiert, dass durch die Kombination verschiedener zu­ gewiesener Funktionen neue, ineinandergreifende Funktionen entstehen, die dem ähnlicher sind, was Platon abstrakte Ideen nannte. Das über­ geordnete Ziel einer Marktwirtschaft wäre es daher, eine bessere Perfek­ tionierung dieser platonischen Ideen zu erreichen, die dann zu einem rei­ nen öffentlichen Gut würden. Die Eigenliebe könnte in einer Marktwirt­ schaft immer noch ein wichtiger Anreiz sein; es sollte jedoch nicht vergessen werden, dass das übergeordnete Ziel des Marktes die Ver­ wirklichung der abstrakten Ideen ist. Der Einzelne muss also beides in Betracht ziehen: seine Eigenliebe und die Gesamtperspektive der Gesell­ schaft. Das ultimative Ziel der Gemeinwohl-Hierarchie wäre dann, Ge­ rechtigkeit als reines Gemeinwohl und die Erfüllung der Aufklärung zu erreichen.

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7.5 Schlussfolgerungen In diesem Kapitel habe ich die derzeitige Theorie der öffentlichen Güter einer kritischen Prüfung unterzogen. Ich habe argumentiert, dass ihre größten Schwächen die angebliche (aber nicht vorhandene) Dichotomie zwischen privaten und öffentlichen Gütern und ihre Tendenz, private Güter zu bevorzugen, sind. Beide Trugschlüsse ergeben sich aus einem falschen Ausgangspunkt der Analyse. Die Theorie der öffentlichen Güter nimmt den Markt als etwas Gegebenes an und versucht nur zu erklären, wie man mit Marktversagen umgeht. Ich habe einen eigenen Ansatz vorgeschlagen, der sich auf die politi­ sche Philosophie von Platon, Hobbes und Searle und insbesondere auf die Unterscheidung zwischen einer materiellen und einer mentalen Welt stützt, um das Dichotomieproblem der Theorie der öffentlichen Güter zu lösen und eine Verknüpfung der Theorie der öffentlichen Güter mit Fra­ gen der Souveränität zu ermöglichen. Ich habe argumentiert, dass die wichtigsten Kriterien für die Definition öffentlicher und privater Güter, die (Nicht-)Ausschließbarkeit und die (Nicht-)Rivalität im Konsum, sich aus den mentalen und materiellen Bestandteilen eines Gutes ergeben. Es ist die Aufgabe des Souveräns, zu entscheiden, wie diese Bestandteile zu­ sammengesetzt werden können. In einem demokratischen Staat sollte die Institution, die über diese Fragen entscheidet, durch den Souverän, das Volk, legitimiert sein. In Anlehnung an Platons Republik habe ich argu­ mentiert, dass sich eine Hierarchie der sozialen Institutionen und öffent­ lichen Güter ableiten lässt. Das oberste Ziel des Staates sollte dann darin bestehen, eine Repräsentation der Gerechtigkeit zu schaffen.

Literatur Arrow, K. J. (1970). Political and economic evaluation of social effects and ex­ ternalities. In The analysis of public output. UMI. Bator, F. M. (1958). The anatomy of market failure. The Quarterly Journal of Economics, 72(3), 351–379. Baumol, W. J., & Oates, W. (1988). The theory of environmental policy (2. Aufl.). Cambridge University Press.

7  Eine politische Philosophie öffentlicher Güter 

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Teil III Überwindung der Probleme der EI-Theorie

8 Souveränität und monetäre Integration

Im ersten Teil dieses Buches habe ich argumentiert, dass die derzeitigen Theorien der europäischen Integration aufgrund dreier theoretischer Schwächen Probleme haben, die europäische Integration zu erklären: Unstimmigkeiten zwischen den Konzepten der Souveränität und des Föderalismus, die Modellierung wirtschaftlicher Probleme als Inter­ dependenzen (anstelle von externen Effekten und öffentlichen Gütern) und die Annahme, dass wirtschaftlicher Vorteil die Haupttriebkraft der europäischen Integration ist (anstelle der Furcht vor wirtschaftlicher Do­ minierung). Im zweiten Teil habe ich den europäischen Republikanismus als alternativen Ansatz zur Erklärung der europäischen Integration vor­ gestellt. Das Konzept einer Hierarchie ineinandergreifender sozialer In­ stitutionen und öffentlicher Güter wurde entwickelt, um die Legitimie­ rung der Bereitstellung öffentlicher Güter abzuleiten. Im dritten Teil werde ich erläutern, wie das Konzept einer europä­ ischen Republik und einer Hierarchie ineinandergreifender sozialer Insti­ tutionen und öffentlicher Güter auf konkrete Fragen der europäischen Integration angewendet werden kann. Daher werde ich erstens den Zu­ sammenhang zwischen Fragen der Souveränität und der monetären Integration aufzeigen, zweitens darlegen, wie die Schaffung eines ge­ © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Nature Switzerland AG 2023 T. Zimmermann, Europäischer Republikanismus, https://doi.org/10.1007/978-3-031-44091-5_8

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meinsamen Marktes, insbesondere eines gemeinsamen Kapitalmarktes, zur Entstehung europaweiter Externalitätsprobleme geführt hat, die das Konzept der komplexen Interdependenz obsolet werden lassen, und drit­ tens andeuten, dass die treibende Kraft der europäischen Integration eher „die Furcht vor wirtschaftlicher Dominierung“ als nur „wirtschaftlicher Vorteil“ ist.

8.1 Entwicklung einer kohärenten Theorie der monetären Integration Einer der bemerkenswertesten Aspekte der Ensteheung der gemeinsamen europäischen Währung ist, dass die europäische Währungsintegration vorangetrieben wurde, obwohl eine kohärente Theorie der Währungs­ integration, die Aspekte des politischen Institutionenaufbaus der Währungsintegration erklären würde, noch immer nicht existiert. Es gibt zwar Theorien, die einzelne Aspekte der Währungsintegration ana­ lysieren. Die Theorie des optimalen Währungsraums (OCA-Theorie) be­ schreibt zum Beispiel, unter welchen Bedingungen die Einführung einer einheitlichen Rechnungseinheit sinnvoll ist. Sie vernachlässigt jedoch As­ pekte der Souveränität und des Aufbaus politischer Institutionen. In diesem Kapitel werde ich kurz die Funktionen des Geldes, den Zu­ sammenhang zwischen Geld und Souveränität und die Implikationen für die monetäre Integration skizzieren. Ich werde erläutern, wie sich diese Theorien der monetären Integration in das Konzept einer Hierarchie ineinander­ greifender sozialer Institutionen und öffentlicher Güter einfügen lassen, das ich in Abschn. 7.4 entwickelt habe. Auf der zweiten Stufe der Hierarchie in­ einandergreifender sozialer Institutionen und öffentlicher Güter, der Wirt­ schaftsverfassung, muss der Souverän die notwendigen Institutionen schaffen, um die wirtschaftliche Interaktion zu ermöglichen. Durch die Schaffung von sozialen Institutionen (in der geistigen Welt) kann der Souverän die Grund­ lage für die Überwindung der gemeinsamen Ressourcenwelt des (materiellen) Naturzustandes schaffen. Entscheidet sich der Souverän für den Aufbau einer Geldwirtschaft, dann spielt die Schaffung von Geld als soziale Institution eine entscheidende Rolle.

8  Souveränität und monetäre Integration 

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Das Konzept der Hierarchie ineinandergreifender sozialer Institutio­ nen und öffentlicher Güter betont, dass die öffentlichen Güter, die ein Leviathan bereitstellen muss, „ineinandergreifend“ sind (siehe auch Abschn. 7.4) und dass es wichtig ist, zu verstehen, wie diese Güter in­ einandergreifend sind, um die Probleme der wirtschaftlichen Integration zu verstehen. Ich werde daher monetäre Theorien vorstellen, die verdeut­ lichen, dass Geld ein Konstrukt aus ineinandergreifenden Funktionen ist, und erklären, wie diese Theorien in das Konzept einer Hierarchie in­ einandergreifender sozialer Institutionen und öffentlicher Güter inte­ griert werden können. Die monetäre Integration ist dann als ein Prozess zu verstehen, in dem monetäre Funktionen und soziale Institutionen vom Souverän Schritt für Schritt integriert werden.

8.2 Geld als Konstrukt aus ineinandergreifenden Funktionen Auf den ersten Blick scheint Geld eine einfache Erfindung zu sein: Geld ist das Mittel, das zur Bezahlung von Gütern verwendet wird. Eine ein­ fache, aber weit anerkannte ökonomische Definition von Geld besagt daher, dass „Geld das ist, was Geld tut“ (Ingham, 1996, S.  507–508). Ingham wies jedoch darauf hin, dass Geld zwar eine der wichtigsten „Sozialtechnologien, die jemals entwickelt wurden“, sei, aber bisher „von den dominanten oder Mainstream-Traditionen nicht nur in der moder­ nen Ökonomie, sondern auch in der Soziologie ziemlich vernachlässigt“ worden sei (Ingham, 1996, S. 508). Ähnlich hat Hahn (1984) auf das Problem hingewiesen, dass Geld im Walras’schen Gleichgewichtsmodell im Grunde gar keinen Platz hat. Geld ist hier allenfalls eine numéraire, die das Rechnen erleichtert. Es gibt also ökonomische Theorien, die zwar wirtschaftliche Zusammenhänge bescreiben, sich aber nicht im Detail mit der Frage beschäftigen, was Geld eigentlich ist. Es werden komplexe Wirtschaftsmodelle geschaffen und Geld wird als etwas Selbstverständ­ liches betrachtet.

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Verschiedene Denker haben in der westlichen Ideengeschichte über Jahrhunderte über die Frage nachgedacht, was Geld eigentlich ist. In sei­ nem bereits in Abschn. 5.3 erwähnten Buch The Construction of Social Reality (Die Konstruktion der sozialen Wirklichkeit) hat John Searle das Geld als ein wichtiges Beispiel dafür verwendet, wie „soziale Tatsachen“ (social facts) geschaffen werden. Wie bereits in Abschn. 5.3 erwähnt, ist die Zuweisung von Funktionen für Searle eine rein mentale Aktivität. Funktionen sind also nicht einem bestimmten Objekt inhärent, sondern von Menschen zugeordnet. Außerdem ist es möglich, dass eine Funktion, d. h. eine „soziale Tatsache“, auf einer anderen sozialen Tatsache aufbaut. So baut zum Beispiel das „Recht“ auf der sozialen Tatsache „Sprache“ auf (Searle, 1996). In ähnlicher Weise ist Geld eine komplexe, soziale Kon­ struktion ineinandergreifender Funktionen. Die Tatsache, dass Geld ein Konstrukt ineinandergreifender sozialer Funktionen ist, macht es so schwierig, genau zu verstehen, was Geld eigentlich ist. Um das Wesen des Geldes zu verstehen, muss man die ver­ schiedenen Funktionen, die der Mensch dem Geld zugewiesen hat, de­ konstruieren und die „Hierarchie“ der Funktionen des Geldes aufdecken. Jevons (2005/1875) war der erste, der vier explizite Funktionen des Gel­ des definierte: ein Tauschmittel, ein Wertmaß oder eine Rechnungsein­ heit, ein Wertaufbewahrungsmittel und ein Zahlungsmittel oder ein Standard für aufgeschobene Zahlungen. Die heutigen Definitionen des Geldes beziehen sich hauptsächlich auf die ersten drei Funktionen des Geldes, da sie davon ausgehen, dass die vierte Funktion eine Zusammen­ setzung der anderen drei Funktionen ist. In diesem Kapitel werde ich zunächst die vier Hauptfunktionen be­ schreiben, die Geld nach den gängigen Definitionen von Geld erfüllt. Anschließend werde ich zwei Schulen des Geldes vorstellen, die metallis­ tische und die chartalistische Schule, und erläutern, wie sie mit diesen Funktionen umgehen. Ich werde argumentieren, dass die chartalistische Schule besser geeignet ist, in das Konzept einer Hierarchie ineinander­ greifender sozialer Institutionen und öffentlicher Güter integriert zu werden.

8  Souveränität und monetäre Integration 

233

8.2.1 Wertmaßstab oder Rechnungseinheit Eine der wichtigsten Funktionen des Geldes ist es, als „Wertmaßstab“ oder „Rechnungseinheit“ zu dienen. Das Oxford Dictionary of Econo­ mics definiert „Rechnungseinheit“ als „eine Standard-Geldeinheit zur Messung der Kosten von Waren und Dienstleistungen“ (Black et  al., 2009). Die Logik hinter diesem Argument scheint einfach zu sein: In einer Welt ohne Geld, d. h. ohne eine Standard-Rechnungseinheit, muss der Preis jedes Gutes in einem Verhältnis zu jedem Gut ausgedrückt wer­ den. In einer Wirtschaft mit 50 Gütern, aber ohne eine einheitliche Rechnungseinheit, gäbe es 1275 verschiedene Preise (oder vielmehr „Ver­ hältnisse“, z.  B. kann ein Apfel gegen 1,5 Birnen getauscht werden). Durch die Einführung einer Rechnungseinheit wird die Zahl der Preise auf 50 reduziert, was das Marktgeschehen wesentlich erleichtert. In sei­ ner mathematisch ausgerichteten Ökonomie hat Léon Walras die Funk­ tion des Geldes auf eine solche technische Zahl reduziert (Walras, 1976/1874). Die Funktion des Geldes als Recheneinheit ist jedoch nicht banal. Sie impliziert, dass Geld ein „Wertmaßstab“ wird. Die Funktion des Geldes als Recheneinheit beschreibt also unsere menschliche Fähigkeit, den Din­ gen einen mathematischen Wert (Geldwert) zu geben. Keynes argumen­ tierte, dass es in der Ökonomie nur möglich ist, zwei Dinge mathema­ tisch zu messen: Beschäftigungsmengen und Geldwertmengen (Keynes, 2008/1936, S.  31). Die Aggregation aller anderen Größen mache laut Keynes keinen Sinn. In einer Welt ohne Geld wäre es möglich, alle ver­ schiedenen Verhältnisse zu berechnen, um einen bestimmten Satz von Preisen für alle Güter zu definieren. Allerdings wäre es in einer solchen Welt nicht möglich, den abstrakten Wert von drei Äpfeln und fünf Birnen zu berechnen. Es gäbe kein abstraktes „Bruttoinlandsprodukt“ von, sagen wir, 3 Mrd. Dollar, das den Wert der gesamten Wirtschaftsleistung misst. Es wäre lediglich möglich festzustellen, dass die Wirtschaft drei Äpfel und fünf Birnen produziert hat. Erst die Einführung einer einheitlichen Rechnungseinheit macht dies möglich.

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8.2.2 Tauschmittel „Tauschmittel“ bedeutet im Grunde lediglich, dass Geld ein Instrument ist, das den Tausch ermöglicht und den direkten Tauschhandel vermeidet. Um die Funktion des Tauschmittels zu erfüllen, muss das Geld teilbar und leicht zu transportieren sein. Außerdem muss es allgemein akzeptier­ tes Zahlungsmittel sein. Die Tauschmittelfunktion könnte daher mit „Öl“ verglichen werden, das den Motor am Laufen hält (Wicksell, 2007/1934, S.  5). Theoretische Ansätze, die die Rolle des Geldes als Tauschmittel (über-)betonen, argumentieren, dass Geld vor allem ein Instrument zur Vermeidung von direkten Tauschgeschäften ist (weitere Einzelheiten zu den verschiedenen Schulen des Geldes siehe unten). Auch Jevons argumentierte, dass der Hauptvorteil des Geldes darin be­ stand, das Problem der „doppelten Koinzidenz der Bedürfnisse“ des Tauschhandels zu überwinden (Jevons, 2005/1875, S. 3). Die Schwierig­ keit in einer (imaginären) Tauschwirtschaft besteht darin, zwei Personen zu finden, die beide ein bestimmtes Gut besitzen, das sie tauschen wol­ len, während eine Person genau das Produkt besitzt, das die andere Per­ son haben möchte. Geld löst dieses Tauschproblem: In einer Geldtausch­ wirtschaft tauscht eine Person eine Ware gegen Geld. Später kann er ver­ suchen, eine andere Person zu finden, um ein Gut zu erhalten, das seinen persönlichen Bedürfnissen entspricht. Wirtschaftstheorien wie die me­ tallistische Schule des Geldes gehen (vielleicht unbewusst) davon aus, dass der Tauschhandel die vorherrschende Form des Austauschs vor der Einführung der Marktwirtschaft war. Diese Hypothese wird jedoch von Gelehrten aus anderen wissenschaftlichen Bereichen angezweifelt. Nach Simmel waren die alten Tauschformen „Geschenke“ (eine einseitige Form des Tauschs, bei der der Geber die Gnade des Empfängers erwartet) und „Raub“ (ein einseitiger „Tausch“ ohne die Zustimmung des Betroffenen). Die Erfindung des Tauschmittels ermöglichte es daher nach Simmel, eine dritte Art des Tausches zu entwickeln, die auf den Prinzipien der Ge­ rechtigkeit und Gleichheit beruhte (Simmel, 1900, S. 287). Geld ist also immer mit Fragen der Gerechtigkeit und der Souveränität verbunden. Menger beispielsweise beschrieb das „Mysterium“ des Geldes als die Tatsache, dass „jede wirtschaftliche Einheit in einer Nation bereit

8  Souveränität und monetäre Integration 

235

sein sollte, ihre Güter gegen kleine Metallscheiben, die als solche schein­ bar nutzlos sind, oder gegen Dokumente, die letztere repräsentieren, zu tauschen, ein Verfahren ist, das dem gewöhnlichen Lauf der Dinge so sehr widerspricht“ (zitiert nach Jones, 1976, S. 757). Das Vorhandensein eines allgemein akzeptierten „Tauschmittels“ verändert also in be­ merkenswerter Weise das menschliche Sozialverhalten. Es hilft, traditio­ nelle Formen des Tauschs zu überwinden, die für die Schaffung komple­ xer wirtschaftlicher Produktionssysteme nicht sehr effizient sind. Aller­ dings deutet Mengers Definition bereits an, dass es innerhalb einer „Nation“ jemanden braucht, der diese Verhaltensänderung durchsetzt. Geld braucht also einen Souverän, der diese Verhaltensänderung durch­ setzen kann (Abschn. 8.4.2). Die Funktion „Tauschmittel“ ist jedoch nicht auf das vom Staat aus­ gegebene Fiatgeld (also ein Objekt ohne inneren Wert, das als Tausch­ mittel dient, v. a. Papiergeld) beschränkt. In der Geschichte der Mensch­ heit war Gold das bevorzugte Tauschmittel, da es die meisten Kriterien erfüllte, um allgemein akzeptiert zu werden. Der Goldstandard, der in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vorherrschend war, ermöglichte es, den Tausch auf globaler Ebene ohne große politische Integration zu organisieren. Nach dem Zweiten Weltkrieg war es in Deutschland üblich, Zigaretten als Tauschmittel zu verwenden, da die D-Mark nicht mehr existierte. Wie bereits erwähnt, besteht Geld aus verschiedenen Funktionen, die ineinandergreifend sind, aber manchmal auch konkurrieren können. Moacir dos Anjos beschrieb zum Beispiel das konkurrierende Verhältnis zwischen den Funktionen Tauschmittel und Wertmaßstab (eine weitere von Anjos definierte Funktion des Geldes, die eng mit der Funktion Wertmaßstab/Rechnungseinheit verbunden ist). Es gibt mehrere Instru­ mente, die als Tauschmittel verwendet werden, um einen Vertrag zu er­ füllen, ohne den Wertmaßstab zu repräsentieren. Beispiele hierfür sind Schecks oder Kreditkarten. Um ein solches Finanzsystem aufrechtzu­ erhalten, ist es von größter Bedeutung, „die Stabilität des Verhältnisses zwischen den Vermögenswerten, die eindeutig den Geldstandard reprä­ sentieren (d. h. Vermögenswerte, die als Zahlungsmittel fungieren), und dem breiteren Spektrum der als Tauschmittel verwendeten Vermögens­ werte zu wahren“. Außerdem kommen Verträge nur dann zustande,

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wenn die Repräsentativität des Tauschmittels und des Zahlungsmittels gewährleistet ist (dos Anjos, 1999, S. 679–681). Geld ist also eine sozial konstruierte Realität, die verschiedene Funktionen in sich vereint. Geld ist jedoch kein klar umrissenes Konstrukt; es ist wichtig zu verstehen, wie die einzelnen Teilfunktionen miteinander verbunden sind, um zu ver­ stehen, wie Geld – und die monetäre Integration – funktioniert.

8.2.3 Wertaufbewahrung Unter Wertaufbewahrung versteht man die Fähigkeit des Geldes, den „Wert“ über die Zeit stabil zu halten und bei Bedarf später auf den Wert zurückgreifen zu können. Die entscheidende Frage ist jedoch, was das Wort „Wert“ eigentlich bedeutet. Die Wertaufbewahrungsfunktion be­ deutet, um es mit Adam Smith zu sagen, die Fähigkeit des Geldes, Reich­ tum über die Zeit zu bewahren, wobei Reichtum „die Kaufkraft; eine ge­ wisse Verfügungsgewalt über die gesamte Arbeit oder über alle Produkte der Arbeit, die dann auf dem Markt sind“ ist (Smith, 2003/1776, S. 44, Kap. V). Ein klassisches Wertaufbewahrungsmittel in der Geschichte der Menschheit war Gold (oder andere Edelmetalle). Der Grund dafür ist einfach: Gold ist relativ leicht zu transportieren, teilbar und hat einen mehr oder weniger stabilen Wert. Stephen Rousseau vertrat die Auffassung, dass die Wertaufbewahrungs­ funktion die wichtigste Funktion des Geldes ist, und zwar aufgrund der „radikalen Ungewissheit, in die vertragliche Beziehungen getaucht sind“ (zitiert nach dos Anjos, 1999, S. 680). Dow und Smithin stellten jedoch fest, dass die Wertaufbewahrungsfunktion des Geldes (oder des Goldes) in der Regel „von weitaus geringerer Bedeutung ist, da es in der Regel an­ dere Wertaufbewahrungsmittel gibt, möglicherweise mit besseren Rendi­ ten, die keine Geldfunktionen erfüllen“ (Dow & Smithin, 1999, S. 79). In der Tat wird der meiste „Wert“ heute in anderen Formen gehalten, z.  B. in Finanzanlagen, Immobilien und anderen Investitionen. Einige dieser Vermögenswerte haben je nach ihrer Liquidität und Akzeptanz teilweise auch die Eigenschaften von Geld (z. B. Staatsanleihen). Es be­ steht daher auch eine wichtige Beziehung zwischen dem Wertauf­ bewahrungsmittel und der Rechnungseinheit (Abb. 8.1).

8  Souveränität und monetäre Integration 

Geld als komplexes Zusammenspiel sozialer Fakten Wertmess -bzw. Recheneinheit Das Zahlungsmittel muss die Recheneinheit

Zahlungsmittel

Diese Funktionen können auch durch ein Wechselkurs- und Zahlugssystem bereit

Wertmesseinheit muss über die Zeit stabil sein

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Kapitalmarkt

Wertaufbewahrung

Zeitversetzes Zahlungsmittel ist eine kombination de anderen Geldfunktionen

Zeitversetzte Zahlung

Diese Funktionen können nur durch eine Währungsgemeinschaft im vollem Umfang bereit

Abb. 8.1  Geld als ineinandergreifende soziale Institution

Auch Moacir dos Anjos wies darauf hin, dass einige Vermögenswerte auch als Tauschmittel verwendet werden können, andere dagegen nicht. Darüber hinaus können einige Vermögenswerte leichter in Tauschmittel umgewandelt werden als andere. Es gibt also eine „Liquiditätsskala“ von Wertaufbewahrungsmitteln, und oft besteht ein „Trade-off“ zwischen der erwarteten Rendite eines Vermögenswertes und seiner Liquidität (dos Anjos, 1999, S. 681). Verträge kommen jedoch „nur zustande, wenn […] es Vermögenswerte gibt, die liquide genug sind, um als Wertauf­ bewahrungsmittel verwendet zu werden und gleichzeitig die Nachfrage nach Tauschmitteln in der Zukunft zu bedienen“; es ist daher notwendig, eine Konvertierbarkeit zwischen Wertaufbewahrungsmitteln und Tausch­ mitteln zu gewährleisten (dos Anjos, 1999, S.  682), beide Funktionen müssen eineinander greifen. Mit anderen Worten: Um die Funktion eines Wertaufbewahrungsmittels zu erfüllen, muss eine Währung durch einen starken und effizienten Finanzsektor (seien es Banken oder Kapital­ märkte) gestützt werden, der die Konvertibilität zwischen Wertauf­ bewahrungsmittel und Tauschmittel gewährleistet. Es ist daher die Auf­

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gabe des Staates, einen solchen Finanzsektor zu schaffen, um die Steue­ rung der Arbeit und die Organisation komplexer Produktionsketten zu ermöglichen.

8.2.4 Zahlungsmittel oder Standard für zeitversetzte Zahlungen Nach Robert Clower ist die „Zahlungsmittelfunktion“ die primäre Funk­ tion des Geldes, und alle anderen Funktionen dienen eigentlich nur die­ ser vorrangigen Funktion (zitiert nach dos Anjos, 1999, S. 680). Dow und Smithin haben darauf hingewiesen, dass es einen logischen Zu­ sammenhang zwischen der Funktion der Rechnungseinheit und der Zahlungsmittelfunktion gibt. Wenn ein Vertrag geschlossen wird, erfüllt das Geld zu verschiedenen Zeitpunkten des Vertrages unterschiedliche Funktionen. Zu Beginn, wenn die Vertragsbedingungen festgelegt sind, dient es als Rechnungseinheit. Später, wenn die Zahlung zu leisten ist, dient es als Standard für zeitversetzte Zahlungen (Dow & Smithin, 1999, S. 78). In diesem Prozess hat das Geld die Funktion eines stabilen Maßes, einer Rechnungseinheit, über die Zeit und für die Durchführung der Zahlung, wie Lau und Smithin feststellten. Es ist also ein „Standard der zeitverstzten Zahlung“. Diese Funktion des Geldes ist wichtig für die Durchführung „dynamischer Geschäftstransaktionen“, da eine Trennung des Zahlungsmittels von der Rechnungseinheit die Vereinbarung von Wechselkursen zwischen beiden erforderlich machen und somit „Un­ sicherheit“ verursachen würde (Lau & Smithin, 2002, S.  10–11). Das Funktionieren einer modernen Geldwirtschaft setzt daher voraus, dass zumindest die Rechnungseinheit und das Zahlungsmittel in einem Ver­ mögenswert vereint sind, denn nur dann hat „Geldheit“ für die gesamte Gesellschaft „einige der Eigenschaften eines öffentlichen Gutes“ (Dow & Smithin, 1999, S. 73). Geld als Standard für aufgeschobene Zahlungen ist daher notwendig, um komplexe Produktionsketten und Arbeitsteilung zu organisieren.

8  Souveränität und monetäre Integration 

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8.2.5 Eine Hierarchie von Funktionen? Aufbauend auf dem entwickelten Ansatz einer Hierarchie ineinander­ greifender sozialer Institutionen und öffentlicher Güter scheint es nahe­ liegend, eine Hierarchie der vier verschiedenen Funktionen zu erstellen, die gerade vorgestellt wurden. Moacir dos Anjos Jr. argumentierte, dass eine Hierarchie der Funktionen für unseren alltäglichen Umgang mit Geld nicht wichtig ist. Wir gehen mit Geld als ein gebrauchsfertiges, in­ einandergreifendes soziales Konstrukt um. Er betont, dass es nur die „Komplementarität zwischen diesen Funktionen ist, die dem Geld seine Rolle als Ermöglicher sozialer Institutionen verleiht, indem es die Produ­ zenten mit den für den Abschluss von Verträgen notwendigen Informa­ tionen versorgt“. Anjos räumt jedoch ein, dass es nützlich sein kann, eine Hierarchie der Geldfunktionen anzuwenden, um das Wesen des Geldes zu verstehen. Wenn eine Hierarchie abgeleitet werden soll, dann sollte sie von der Wertmaßstabsfunktion ausgehen, „denn durch diese Funktion definiert das Geld einen Messraum für die Tauschwerte und verkündet damit seine normative Kraft“ (dos Anjos, 1999, S. 680). Anjos sieht das Geld (d. h. die soziale Institution, die alle vier Funktionen erfüllt) als eine „Basisinstitution“, auf der weitere soziale Institutionen aufgebaut werden können: private Verträge. Geld ist also ein Bindeglied zwischen dem Staat – oder dem allgemeinen Gesellschaftsvertrag – und der theoretisch unbegrenzten Anzahl von privaten Verträgen, die innerhalb des Rahmens des Gesellschaftsvertrags entstehen. Auch Dow und Smithin (1999, S. 77) plädieren für Rechnungsgeld als „primäres Konzept für die monetäre Analyse“, ein Argument, das erst­ mals von Keynes in seinem „Treatise of Money“ (1930) vorgebracht wurde. Der Grund dafür ist, dass die Fähigkeit zu „zählen“ (d. h. eine monetäre Berechnung durch eine Rechnungseinheit) eine Voraussetzung für die Entwicklung einer Marktwirtschaft ist. Erst wenn dieser „abs­ trakte Begriff des Geldes“ mit „einem ‚konkreten‘ Zahlungsmittel“ ver­ bunden ist, wird eine moderne monetäre Marktwirtschaft möglich (Dow & Smithin, 1999, S. 77).

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8.3 Fiatgeld und die Notwendigkeit eines Souveräns Eine zentrale Frage der Geldtheorie ist, ob das Basisgeld vom öffentlichen Sektor bereitgestellt werden muss. Geldtheorien, die auf Menger (1984/1892) aufbauen, argumentieren, dass sich Geldsysteme spontan entwickeln und daher kein staatliches Eingreifen erforderlich ist. Es ist jedoch weithin in Frage gestellt worden, ob die Bereitstellung von Geld durch den Markt langfristig zu einem stabilen, effizienten Geldsystem führen wird. Da Vertrauen bei der Geldschöpfung eine sehr wichtige Rolle spielt, werden höchstwahrscheinlich natürliche Monopolprobleme auftreten (Dow & Smithin, 1999, S. 73). Zentralisierungstendenzen der Finanzmärkte sind daher nicht per se durch staatliche Eingriffe „er­ zwungen“, sondern ein natürlicher Prozess (Dow & Smithin, 1999, S. 80–82). Zentralisierungstendenzen gibt es daher sowohl auf globaler Ebene als auch in der europäischen Marktwirtschaft. Die Phänomene der monetären Konzentration sind auch auf globaler Ebene zu beobachten: Der Dollar ist bis heute die dominierende Reservewährung und verleiht der US-Notenbank Fed eine dominierende Stellung in der Welt. In Europa hat die dominante Stellung der Bundesbank in den 1980er-­ Jahren viele europäische Länder dazu veranlasst, sich für einen Übergang vom Europäischen Währungssystem zu einer gemeinsamen Währung einzusetzen (Dow & Smithin, 1999, S. 85). Seit der Eurokrise führt die monetäre Konzentration zu einer Zentralisierung der Anleihemärkte und einer Konzentration auf deutsche Anleihen. Monopol- und Netzwerkexternalitätsprobleme stellen daher eine wichtige Quelle für „Marktversagen“ bei der Bereitstellung von Geld dar. Die marktbeherrschende Stellung einer Leitwährung kann es dem Mono­ polisten ermöglichen, andere Teilnehmer zu „dominieren“. Der Republikanismus sieht daher eine inhärente Gefahr in einer privaten Bereitstellung von Geld und monetären Funktionen. Andere haben je­ doch argumentiert, dass es einen allgemein akzeptierten Vermögenswert geben muss, der, „wenn er als Zahlungsmittel angeboten wird, eindeutig die endgültige Begleichung der auf eine Rechnungseinheit lautenden Schuld darstellt“, da nur dies dazu beiträgt, das mit einem Geldvertrag

8  Souveränität und monetäre Integration 

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verbundene Risiko zu verringern. Produzenten und Händler haben daher ein Interesse an einem ultimativen Zahlungsmittel, um ein „systemati­ sches Risiko“ zu vermeiden (in diesem Sinne könnte die Einführung des Euro – und die darauf folgende Eurokrise – als Versuch interpretiert wer­ den, das systematische Risiko vom privaten auf den öffentlichen Sektor zu verlagern) (Dow & Smithin, 1999, S. 78). Dieses „Basisgeld“, das von einer öffentlichen Behörde bereitgestellt wird, definiert somit auch die Rechnungseinheit, die „erste“ Funktion des Geldes. Wenn jedoch mone­ täre Marktwirtschaften eine „ultimative Quelle der Kaufkraft“ voraus­ setzen, dann müssen „zwangsläufig Fragen der Zentralisierung, der Macht und der Kontrolle aufkommen“ (Dow & Smithin, 1999, S. 76). Dieses Vertrauen kann nur durch den Souverän, den Leviathan, geschaffen wer­ den, der auch für den Gesellschaftsvertrag als Ganzes bürgt. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Geld verschiedene Arten von Monopolen, öffentlichen Gütern und Netzwerkexternalitäten mit sich bringt. Es ist jedoch schwierig, diese Probleme innerhalb des Geldes selbst zu definieren, da diese Probleme mit den verschiedenen Funktionen des Geldes zusammenhängen. Die Funktion des Tauschmittels bringt ei­ nige kleinere Netzwerkexternalitäten mit sich. Allerdings könnte das Tauschmittel im Prinzip auch vom privaten Sektor bereitgestellt werden (wie es auch in Form von Kreditkarten, Schecks usw. geschieht). Die Funktion der Rechnungseinheit ist schwierig zu etablieren, da sie von allen akzeptiert werden muss. Sie muss also durchgesetzt werden. In demo­ kratischen oder republikanischen Staaten ist die Durchsetzung nur per Gesetz durch eine legitimierte Institution möglich. Die Verwendung einer gemeinsamen Rechnungseinheit erfordert daher die Schaffung ge­ meinsamer politischer Institutionen. Die Wertaufbewahrungsfunktion bringt weniger Probleme mit öffentlichen Gütern mit sich. Sie setzt je­ doch das Vorhandensein eines tiefen Kapitalmarktes im Währungsraum voraus; diese Institutionen müssen geschaffen werden. Die Funktion des  aufgeschobenen Zahlungsmittels bringt die Durchsetzung einer Rechnungseinheit im Laufe der Zeit mit sich und macht daher weitere öffentliche Institutionen erforderlich. Darüber hinaus hat Frank Hahn die logischen Paradoxien aufgedeckt, die Mengers Erklärung der Entstehung des Geldes mit sich bringt. An­ hand eines Tauschspiels mit Nash-Gleichgewicht konnte er zeigen, dass

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es in einer Geldwirtschaft tatsächlich für jeden Akteur vorteilhaft ist, Geld zu verwenden, „vorausgesetzt, die anderen tun dies ebenfalls“. Hahn weist jedoch darauf hin, dass „eine Tauschwirtschaft ebenfalls ein Nash-Gleichgewicht sein kann“ (zitiert nach Ingham, 1996, S. 514). Ing­ ham betonte daher, dass der entscheidende Punkt hier nicht darin be­ steht, dass Geld vorteilhaft ist, sondern „dass die Akteure Geld nur dann nutzen können, wenn andere dies auch tun“. Das Paradoxon liegt darin, dass „[m]ein Geld für den Einzelnen nur dann von Vorteil ist, wenn an­ dere es nutzen; aber der Theorie zufolge können sie es nur dann rational nutzen, wenn es nachweislich einen individuellen Vorteil darstellt“ (Ing­ ham, 1996, S. 515). Dieses Problem wurde bereits von Menger selbst an­ gesprochen, der, wie wir bereits gesehen haben, feststellte, dass die Ver­ wendung von Geld durch die Menschen ein Paradoxon ist, dass nämlich Geld zwar dem Gemeinwohl dient, aber ein Verhalten ist, das „im Kon­ flikt mit dem nächsten und unmittelbaren Interesse der vertrag­ schließenden Individuen steht“ (zitiert nach Ingham, 1996, S. 514). Mengers Ansatz kann also erklären, dass es vorteilhaft ist, eine ge­ meinsame Währung zu haben, er kann jedoch nicht erklären, wie die Geldwirtschaft in der Praxis umgesetzt wurde. Was noch fehlt, ist die Rolle einer öffentlichen Autorität, die garantiert, dass „wertlose“ Metall­ scheiben oder Papiere gegen nützliche Güter getauscht werden können. Es bedarf also einer öffentlichen Autorität, eines Leviathans, um das „Startproblem“ einer Geldwirtschaft zu lösen. Ingham fasst daher zu­ sammen, dass „Geld, sobald es existiert und allgemein akzeptiert wird, so­ wohl ein ‚individuelles‘ als auch ein ‚öffentliches Gut‘ sein kann“ (Ing­ ham, 1996, S. 514). Geld kann daher mit der neoklassischen Methodik nicht als öffentliches Gut erklärt werden, da „Geld keine ‚Mikro-­ Grundlagen‘ haben kann, wenn diese ausschließlich in dem formalen de­ duktiven Modell der rationalen Entscheidung des einzelnen Akteurs ge­ sucht werden, einen ‚Schleier‘ oder ein ‚Schmiermittel‘ als einfaches Me­ dium in einer ‚realen‘ Tauschwirtschaft zu halten“ (Ingham, 1996, S.  516). Mengers Ansatz erklärt also nicht, warum oder wie eine ge­ meinsame Währung eingeführt wird, obwohl er einige Hinweise darauf geben kann, warum sie vorteilhaft ist oder nicht. Ein Souverän wird immer noch benötigt, um die Verwendung von Geld durchzusetzen und das „Startproblem“ zu lösen.

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8.4 Zwei Schulen des Geldes Wie lassen sich Theorien der monetären Integration in das Konzept einer Hierarchie ineinandergreifender sozialer Einrichtungen und öffentlicher Güter einfügen? Im Laufe der Geschichte gab es immer wieder ver­ schiedene ökonomische Denkschulen, die Geld auf unterschiedliche Weise behandelten. Laut Ingham wurde im 16. und 17. Jahrhundert der Kampf zwischen „Metallisten“ und Anti-Metallisten ausgetragen, im 19.  Jahrhundert zwischen der Währungs- und der Bankenschule (oder eher Materialisten gegen Nominalisten) und schließlich im Streit ­zwischen Monetarismus und keynesianischer Ökonomie unserer Zeit (Ingham, 1996, S. 511). Charles Goodhart vertrat die Auffassung, dass es zwei verschiedene Schulen der Geldtheorie gibt. Während die erste Schule, die „Metallisten“, behauptet, dass der Wert einer Währung ­hauptsächlich von ihrem inneren Wert abhängt (z.  B. der Gold- oder Silberwert einer Münze), behauptet die „chartalistische“ Schule, dass der Wert des Geldes von der „Macht der ausgebenden Behörde“ abhängt, d. h. z. B. von den Hoheitszeichen auf einer Münze. Goodhart argumen­ tiert, dass die zweite Schule „weitaus besser in der Lage ist, die beobachtete Beziehung zwischen souveränen Ländern und den dazugehörigen ­Währungen vorherzusagen und zu erklären“ (Goodhart, 1998, S. 408). Diese verschiedenen ökonomischen Denkschulen neigen dazu, unter­ schiedliche Funktionen des Geldes zu betonen. Einige Schulen betonen die Funktion des Geldes als Tauschmittel, während andere die Funktion als Standard für zeitversetzte Zahlungen hervorheben. Die chartalistische Schule des Geldes betrachtet die Bedeutung des Souveräns; sie scheint daher ein vielversprechender Ansatz zu sein, um die Verbindung zwi­ schen Souveränität und Geld und damit zwischen der ersten und der zweiten Stufe der „Hierarchie der ineinandergreifenden sozialen Institu­ tionen und öffentlichen Güter“ zu erklären. Er könnte dazu beitragen, die Lücke zwischen Ökonomie und Politikwissenschaft zu schließen und eine „einfache, einheitliche, gebrauchsfertige Theorie der Vorteile der monetären Integration“ zu entwickeln, die laut dem „One Market One Money“-Bericht der Kommission (siehe Einleitung) noch fehlte. Die meiste Literatur zur Eurokrise und zur europäischen Wirtschafts­

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integration baut jedoch leider immer noch auf der ersten Schule der mo­ netären Integration auf (wie z. B. Ansätze, die auf der Optimum Cur­ rency Area Theorie aufbauen; siehe Abschn.  8.6). Ich werde zunächst einen genaueren Blick auf beide Denkschulen werfen. Beginnen wir mit der metallistischen Schule, die heute die Wirtschaftstheorie dominiert.

8.4.1 Die metallistische Schule des Geldes Die metallistische Theorie des Geldes argumentiert, dass „Geld sich als privatwirtschaftliche, marktorientierte Antwort auf die Überwindung der Transaktionskosten des Tauschhandels entwickelt hat“ (Goodhart, 1998, S. 408), eine (als falsch belegte) Hypothese von Aristoteles, auf die bereits Adam Smith in seinem Wohlstand der Nationen zurückgriff. Me­ tallisten sehen Geld hauptsächlich als Tauschmittel, weniger als Zahlungs­ mittel oder Rechnungseinheit (Lau & Smithin, 2002, S. 6). Aufbauend auf Mengers (1984/1892) Ansatz argumentieren Metallisten, dass der Weg zu einer gemeinsamen Währung oder einem gemeinsamen Markt „rein aus dem Eigeninteresse der Händler im System und ohne die Not­ wendigkeit jeglicher Form von rechtlichen Beschränkungen“ erklärt wer­ den kann; um die Transaktionskosten zu senken, werden sich die Händ­ ler daher auf die akzeptabelste Ware einigen, die als Geld gehandelt wird (Dow & Smithin, 1999, S.  76). Der Anreiz zur Senkung der Trans­ aktionskosten wird also zu einem Prozess führen, der die Rechnungsein­ heit zusammen mit dem Tauschmittel uneinbringlich macht. Dieser Zu­ sammenhang könne, so die Metallisten, nur durch staatliche Interaktion geschieden werden (Dow & Smithin, 1999, S. 76). Das Argument von Menger gilt jedoch nur für die Funktion des Gel­ des als Tauschmittel. Hier besteht in der Tat eine Übereinstimmung, und das zuverlässigste und akzeptabelste Instrument wird sich durchsetzen. Eine Kreditkarte ist verlässlicher als ein Scheck, schneller als eine Bank­ überweisung und leicht über das Internet ausführbar. Dies erklärt den Erfolg von Kreditkarten als Tauschmittel in den letzten Jahrzehnten. Keynes hat jedoch darauf hingewiesen, dass, wenn sich Geld auf ein blo­ ßes „Tauschmittel an Ort und Stelle“ beschränkt, „wir kaum aus dem Stadium des Tauschhandels herausgekommen sind“ (zitiert nach Ing­

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ham, 1996, S. 517). Das Basisgeld, auf dem diese Tauschmittel aufbauen, wird jedoch weiterhin von der öffentlichen Hand bereitgestellt wer­ den müssen. Theorien, die auf diesem Verständnis von Geld aufbauen (wie die Op­ timum Currency Area Theory, wie wir in Abschn. 8.6 sehen werden), ver­ suchen die monetäre Integration zu erklären, indem sie die (statischen) komparativen Vor- und Nachteile einer gemeinsamen Währung ver­ gleichen. Während diese Theorien eine „elegante“ formale Theorie ent­ wickelt haben, ist sie bemerkenswert schwach in Bezug auf „institutio­ nelle Details und historische Empirie“ (Goodhart, 1998, S. 408–409). Sie erklärt daher wenig darüber, wie Individuen in der Lage sind, die „so­ zialen Institutionen“ zu schaffen, die Geld impliziert. Die meisten Wirt­ schaftstheorien bauen jedoch immer noch auf der metallistischen Schule des Geldes auf und schreiben dem Geld nur eine „sekundäre“ Rolle zu (Lau & Smithin, 2002).

8.4.2 Die chartalistische Schule des Geldes Die chartalistische Schule des Geldes geht auf Platons Verständnis des Geldes als „Token“ (das lateinische Wort für Token ist „Charta“) zurück, das es ermöglicht, den Dingen einen abstrakten Wert zuzuweisen (auch Marx’ Konzept der abstrakten Arbeit geht auf diese Denkrichtung zu­ rück). Chartalisten betonen daher die Rolle des Geldes als Zahlungs­ mittel und Recheneinheit (Lau & Smithin, 2002, S. 6). Die eigentliche chartalistische Theorie wurde von Knapp (1905) begründet, der argu­ mentierte, dass der souveräne Staat eine wichtige Rolle bei der Geld­ schöpfung spielt. Geld kann nur innerhalb des institutionellen Rahmens der politischen Souveränität, der Steuerhoheit und der Zentralbank ver­ standen werden. Für Chartalisten beruht der „Wert des Geldes eher auf gesellschaftlichen Vereinbarungen als auf dem eigentlichen ‚Stoff‘, aus dem das Geld gemacht ist“ (Lau & Smithin, 2002, S. 6). Chartalisten glauben nicht, dass niedrigere Transaktionskosten eine wichtige Rolle bei der Erklärung der monetären Integration spielen; für sie hängt die Frage nach der optimalen Größe einer Währung eher mit Fragen der Souveräni­ tät zusammen.

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Die Charta-Theorie erhielt große Unterstützung von anderen Diszipli­ nen, insbesondere von Historikern und Anthropologen, wurde aber von den Wirtschaftswissenschaftlern bisher kaum berücksichtigt (Goodhart, 1998, S.  408–409). Die Historiker haben auch zwei wichtige Ver­ bindungen zwischen Geld und dem souveränen Staat aufgedeckt. Die erste Verbindung betrifft die Erfindung des Geldes und die Rolle des Staates bei der Verhinderung von Gewalt (das „erste“ öffentliche Gut). Eine der frühesten Verwendungen von Geld war das so genannte „Wer­ geld“ des frühen Mittelalters, ein Tarif, mit dem ein Täter sein Opfer ent­ schädigen konnte (Goodhart, 1998, S. 413). Es gab verschiedene Tarife für Diebstahl, Überfall oder sogar Mord. Wergeld spielte also eine wich­ tige Rolle, um weitere Gewalt zu verhindern. Das Wort „Zahlung“ leitet sich vom lateinischen Wort „pacere“ ab, was „befrieden“ bedeutet (ob­ wohl dieser Ausdruck erst im zwölften Jahrhundert mit der Erfindung der doppelten Buchführung aufkam) (OED, 2014). Goodhart kommt daher zu dem Schluss, dass „Geld häufig zunächst eine Rolle als Zahlungs­ mittel in zwischenmenschlichen, sozialen und staatlichen Rollen spielte, bevor es eine wichtige Rolle als Tauschmittel bei Markttransaktionen spielte“ (Goodhart, 1998, S. 418). Der historische Übergang vom Metallmünzgeld zum modernen Fiat­ geld enthält eine weitere wichtige Verbindung zur Hierarchie der in­ einandergreifenden sozialen Institutionen. Tilly hat die Verbindung zwi­ schen Krieg, Geld und der Schaffung von Staaten beschrieben (siehe Abschn. 7.4.1.3). Wie Lerner dargelegt hat, nutzten viele Regierungen die Seignorage, die sie durch die Geldschöpfung erzielen konnten, zur Fi­ nanzierung von Kriegen. Ein Beispiel dafür ist die konföderierte Wäh­ rung, die während des US-Bürgerkriegs eingeführt wurde (zu beiden siehe Goodhart, 1998, S. 416). Die Geldschöpfung ist also historisch mit der Bereitstellung des „ersten“ öffentlichen Gutes verbunden: Ver­ teidigung und Sicherheit. Der Souverän führt Geld ein, um das Sicher­ heitsdilemma zu lösen und den Naturzustand zu überwinden. Monetäre Arrangements leiten sich also bereits aus der Bereitstellung des ersten öf­ fentlichen Gutes in der Hierarchie der öffentlichen Güter ab. Zweitens wurde der Übergang von Metallgeld zu Fiatgeld nach An­ sicht von Wirtschaftshistorikern durch die Steuerpolitik des Staates er­ möglicht. Diese Rolle des Geldes findet sich bereits in den Kommando­

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wirtschaften des antiken Mesopotamiens und Ägyptens, wo vom Staat ausgegebene Tontafeln eine wichtige Rolle für die administrative Kon­ trolle und Besteuerung spielten (Otero-Iglesias, 2014, S.  4). Die Ver­ wendung von Fiatgeld anstelle von Arbeit oder Waren erleichterte dem Staat die Erhebung von Steuern. Goodhart kommt daher zu dem Schluss, dass „Geld die Transaktionskosten von Regierungen reduziert, pari passu mit denen des privaten Sektors“ (Goodhart, 1998, S. 416). Dieses Argu­ ment findet sich bereits bei Simmel (1900), der argumentierte, dass Fiat­ geld persönliche Herrschaftsbeziehungen (zwischen Herr und Knecht) durch Geldbeziehungen ersetzt. Geld brachte also, so Simmel, mehr Frei­ heit in dem Sinne, dass jeder selbst entscheiden konnte, wie er dieses Geld verdiente; er war nicht mehr an die Befehle eines Herrn gebunden. Die Möglichkeit, den Dingen einen abstrakten Wert zuzuweisen, machte es möglich, die direkte Herrschaft durch Geldbeziehungen zu ersetzen. Nach Goodhart spielte die Fähigkeit des Staates, die Bürger zur Zahlung von Steuern zu zwingen, eine wichtige Rolle bei der Einführung eines Fiat­ geldsystems, das dann auch von den Bürgern zur Begleichung persön­ licher Schulden verwendet wird (Goodhart, 1998, S. 416). Fiatgeld ist also nicht durch Gold gedeckt, sondern durch die „Macht der Regie­ rung“ bzw. des Souveräns und seine „Fähigkeit, Steuern zu erheben“. Nur wenn der Staat die Bürger zwingen kann, Steuern mit Fiatgeld zu zahlen und dieses Fiatgeld auch im persönlichen Verkehr zu verwenden (z. B. durch gesetzliche Zahlungsmittel), wird Geld zu einem akzeptierten Zahlungs­ mittel (Goodhart, 1998, S. 417). Tatsächlich gab es seit dem Ersten Welt­ krieg bis zum Ende des Bretton-Woods-Abkommens viele Gesetze und Verordnungen, insbesondere in Deutschland und den USA, die den Be­ sitz von Gold und dessen Verwendung als Zahlungsmittel verboten. Ziel dieser Gesetze war es, eine Fiatgeldwährung einzuführen und die Ten­ denz der Bürger, Gold zu horten, zu untergraben. Abba P. Lerner kommt daher zu dem Schluss, dass „wir uns theoretisch vom Goldfetischismus emanzipiert haben“, da es „kein Paradox mehr ist, zu erklären, dass der Wert des Goldes von der Möglichkeit abhängt, Dol­ lar dafür zu bekommen“. Der Goldstandard und andere goldgedeckte Währungssysteme wurden nur geschaffen, weil „dies möglicherweise die einzige Möglichkeit war, vor der Entwicklung der gut organisierten sou­ veränen Nationalstaaten der Neuzeit eine allgemeine Akzeptanz zu er­

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reichen“. Ein moderner Nationalstaat kann daher theoretisch alles als Geld durchsetzen, nur in Krisenzeiten werden die Menschen es für vor­ teilhaft halten, Zigaretten oder ausländische Währungen als Geld zu ver­ wenden. Geld wird zu einer „Kreatur des Staates“ (Lerner, 1947, S. 312–313). Es stimmt zwar, dass nur wenige Wirtschaftswissenschaftler immer noch behaupten, dass Geld auf einem Goldstandard beruhen sollte, aber viele Wirtschaftstheorien berücksichtigen die Konsequenzen in ihren Modellen noch nicht, indem sie eine detailliertere Definition in die Wirtschaftsmodelle einbeziehen. Darüber hinaus haben die beiden unterschiedlichen Schulen des Gel­ des auch zu zwei unterschiedlichen Schulen der Wirtschaftswissen­ schaften geführt. Die „reale Analyse“ geht davon aus, dass Märkte ein „‘institution-free’ aggregate of barter-like exchanges“ sind (Lau & Smit­ hin, 2002), während die „monetäre“ Analyse, die auf Keynes zurückgeht, davon ausgeht, dass „Geld eine eigene Rolle spielt und Motive und Ent­ scheidungen beeinflusst und […] einer der operativen Faktoren ist“ (zi­ tiert nach Lau & Smithin, 2002, S. 6). Geld beeinflusst also den Markt und seine Teilnehmer selbst; es ist kein neutrales „Tauschmittel“. Die Einführung der Institution (eines gemeinsamen) Geldes kann daher die Schaffung weiterer Institutionen erforderlich machen, da Geld die „Mo­ tive“ und „Entscheidungen“ der Marktteilnehmer beeinflusst. Dieser Mechanismus der ineinandergreifenden Institutionen wird in der „Hie­ rarchie“ der ineinandergreifenden sozialen Institutionen und öffentlichen Güter, die bereitgestellt werden müssen, beschrieben (siehe Abschn. 7.4). Chartalisten betonen deshalb so deutlich, dass Geld „logisch und histo­ risch dem Markttausch vorgelagert“ sei (zitiert nach Lau & Smithin, 2002, S. 7). So argumentieren beispielsweise viele „Metallisten“, dass die monetäre Integration eine Folge der Römischen Verträge und der Ein­ heitlichen Europäischen Akte sei. Beide Institutionen wären jedoch ohne das (Währungs-)Abkommen von Bretton Woods, das bereits 1944 ge­ schlossen wurde, nicht möglich gewesen. Währungsvereinbarungen wer­ den also geschlossen, bevor ein Markt entsteht. Lau und Smithin argumentieren, dass auch Geld und Eigentums­ rechte ineinandergreifende soziale Institutionen sind. Sie argumentieren, dass es in Stammesgesellschaften nur „Besitz“ gab. Die Erfindung des Privateigentums setzte jedoch die Erfindung eines Rechnungsgeldes vo­

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raus, da es das Rechnungsgeld ist, das „Preise und Schuldverträge ermög­ licht“ (zitiert nach Lau und Smithin, 2002, S. 9–10). Dementsprechend „kann man ohne das Konzept einer Rechnungseinheit (Geld) keine Art von Kreditbeziehung ausdrücken“. Daher muss „der Begriff des Eigen­ tums selbst […] einen bestimmten Geldwert haben“ (Lau & Smithin, 2002, S. 9). Auch das Eigentum ist also eine komplexe, in einer Hierar­ chie sozialer Institutionen und öffentlicher Güter ineinandergreifende soziale Institution. Eigentum und damit private Güter könnten daher ohne die soziale Institution „Geld“ nicht existieren. In Kap.  4 habe ich argumentiert, dass das Konzept der „Inter­ dependenz“ mit der Einführung eines gemeinsamen Marktes und einer gemeinsamen Währung obsolet geworden ist. Es ist sinnvoller, die wirtschaftlichen Probleme Europas in Form von „Externalitäten“ anstelle von Interdependenzen zu modellieren. In Kap. 9 werde ich beschreiben, wie diese Externalitätsprobleme durch die Währungsintegration und die Schaffung eines gemeinsamen europäischen Kapitalversorgungssektors entstanden sind.

8.4.3 Die republikanische Sicht auf die Chartalistische Geldtheorie Die metallistische Schule hat Probleme zu erklären, warum die europä­ ischen Politiker eine europäische Währung eingeführt haben, da sie nur die wirtschaftlichen Vorteile einer gemeinsamen Währung analysiert. Kann also die chartalistische Theorie die Einführung und die Notwendig­ keit des Euro besser erklären? Die Antwort ist nicht ganz einfach. Wenn man die zuvor genannten Argumente heranzieht, würden auch die Chartalisten die Einführung des Euro kritisch sehen. Aufgrund des Schei­ terns der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft im Jahr 1954 wurde das „erste“ öffentliche Gut, Verteidigung und Sicherheit, nicht auf euro­ päischer Ebene bereitgestellt. Die europäische Souveränität, nach charta­ listischem Verständnis eine Voraussetzung für die Ausgabe von Geld, war somit nicht gegeben. Es bestand daher keine Notwendigkeit, eine euro­ päische Armee durch europäische Steuern zu finanzieren, die über eine europäische Währung erhoben wurden. Da die Europäische Union auch

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keine anderen öffentlichen Güter auf makroökonomisch bedeutsamer Ebene bereitstellt, bleibt der europäische Haushalt begrenzt (etwa 1 % des Bruttoinlandsprodukts (BIP)) und wird hauptsächlich durch zwischenstaatliche Beiträge finanziert. Die Europäische Union verfügt je­ doch über eine starke Zentralbank und starke Institutionen zur Durch­ setzung von Marktregeln und harmonisierten Eigentumsrechten. Die chartalistische Theorie würde daher sicherlich vorschlagen, einen stärke­ ren europäischen Haushalt und vielleicht eine europäische Armee zu schaffen, damit der Euro funktionieren kann. Allerdings sagt die chartalistische Theorie wenig über die „optimale Größe“ eines Währungsraums aus. Der Grund dafür ist, dass die charta­ listische Theorie des Geldes bisher nur wenig Theorie über Wechselkurs­ regime entwickelt hat. Natürlich wird es hier nicht möglich sein, eine „chartalistische“ Theorie des optimalen Währungsraums zu entwickeln; lassen Sie mich jedoch in einem Absatz skizzieren, wie eine solche Theo­ rie aussehen könnte. Der chartalistische Ausgangspunkt wäre, dass Schuldenbeziehungen zwischen zwei Individuen/Agenturen in zwei ver­ schiedenen Währungsräumen nicht durch ein verfassungsmäßiges Rechtssystem geregelt sind. Die Art ihres Schuldverhältnisses hängt von den internationalen Währungs- und Zentralbankvereinbarungen zwi­ schen den beiden Staaten ab – oder von der Anarchie, falls es keine Ver­ einbarungen gibt. Chartalisten tolerieren daher Schuldenbeziehungen zwischen zwei getrennten Staaten nur bis zu einer bestimmten Schwelle. Diese Schwelle hängt von der Art des Wechselkursregimes ab, auf das sich die beiden Staaten geeinigt haben. Wenn dieser Schwellenwert erreicht ist, würden Chartalisten entweder Kapitalverkehrskontrollen vor­ schlagen, um weitere Schuldenbeziehungen zu begrenzen  – oder, falls dies nicht gewünscht ist, die Einführung einer gemeinsamen Währung, verbunden mit politischer Integration, um einen rechtlichen Rahmen für diese Schuldenbeziehungen zu definieren. Der Republikanismus teilt viele Ansichten mit der chartalistischen Interpretation des Geldes. Die Anhänger der republikanischen Theorie könnten zustimmen, dass Geld eine Kreatur des Staates ist. Die Art und Weise, wie der Euro eingeführt wurde  – durch recht undemokratische Entscheidungen der nationalen Regierungen – stützt in der Tat die An­ nahme, dass das Geld vom Staat aufgezwungen wird. Der Republikanis­

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mus betont jedoch, dass die öffentlichen Institutionen (und damit auch die Geldinstitutionen) Eigentum der Bürger sind. Wenn Geld durch Ge­ setz und Zwangsgewalt geschaffen wird, dann muss es von den Bürgern der Republik legitimiert werden. Die Republikaner wären daher be­ sonders besorgt über eine supranationale Zentralbank, die die (poten­ zielle) Fähigkeit hat, nationale Regierungen zu dominieren. Eine Europä­ ische Zentralbank (EZB) bra ucht eine europäische Regierung als Gegen­ spielerin. Der Republikanismus teilt auch viele Ansichten von Simmels Ver­ ständnis von Geld. Geld gibt nach Simmel jedem Individuum die Möglichkeit, selbst zu entscheiden, wie er die notwendige Menge an Geld verdienen will, um eine Schuld (sei es gegenüber dem Staat oder dem Individuum) zu begleichen. Ein europaweites Währungs- und Zahlungssystem gibt daher jedem Bürger das Recht, seine Schulden bei einem anderen europäischen Individuum durch die Verwendung der europäischen Währung zu begleichen. Alle Schuldverhältnisse zwischen Bürgern der Euro-Zone können in Euro ausgewiesen werden. Eine ge­ meinsame Währung ist daher eine wichtige Voraussetzung für eine euro­ päische Republik, da sie die Beziehungen zwischen den Bürgern der Re­ publik organisiert und kanalisiert. Anders verhält es sich, wenn man ein Schuldverhältnis mit jemandem außerhalb des Währungsraumes hat. Die Frage, wie eine Schuld mit jemandem außerhalb Ihres Währungs­ gebietes beglichen werden kann, hängt vor allem davon ab, welches Ab­ kommen die Zentralbanken der beiden Währungsgebiete haben. Diese Abkommen sind jedoch keine Garantie für eine rechtmäßige Beziehung zwischen Einzelpersonen, da internationale Vereinbarungen leichter ge­ ändert werden können als nationale Verfassungen. Eine gemeinsame Währung definiert also den Raum, in dem ein Individuum seinen An­ spruch auf ein Schuldverhältnis mit Hilfe von Geld durchsetzen kann. Jedes Individuum, das in einem Währungsraum lebt, nimmt also an die­ sem System teil. Aus diesem Grund wird eine Währungsunion auto­ matisch auch zu einer Wertegemeinschaft.1

 Die Einführung einer gemeinsamen Währung, wie des Euro, bedeutet daher auch den Eintritt in eine Wertegemeinschaft. 1

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Der Padoa-Schioppa-Bericht und der Bericht „Ein Markt, ein Geld“, die, wie in der Einleitung erwähnt, auf dem Weg nach Maastricht eine wichtige Rolle spielten, erwähnten das chartalistische Verständnis von Geld jedoch nicht einmal. In der Tat hätte die chartalistische Theorie jeden Versuch abgelehnt, eine gemeinsame Währung zu schaffen, ohne gleichzeitig einen europäischen politischen Souverän zu schaffen. Die ak­ tuelle Situation in Europa bringt die chartalistische Theorie in ein ernst­ haftes Dilemma. Einerseits ist die Theorie im Allgemeinen offen für die Idee, einen „neuen“ europäischen Souverän zu schaffen, wenn wirtschaft­ liche Interdependenz und europaweite Externalitäten dies erforderlich machen. Eine neue europäische Währung und ein neuer europäischer Souverän würden dann Hand in Hand gehen. Sollte es jedoch – aus wel­ chen Gründen auch immer – nicht möglich sein, einen neuen europä­ ischen Souverän zu schaffen, dann würde die chartalistische Theorie höchstwahrscheinlich eine Rückkehr zu nationalen Währungen und na­ tionalen Souveränen vorschlagen, einschließlich aller schmerzhaften An­ passungen: Kapitalverkehrskontrollen wären höchstwahrscheinlich not­ wendig, was auch Grenzkontrollen erforderlich machen würde, und der gemeinsame Markt würde wieder stärker zersplittert werden oder auf­ hören zu existieren.

8.5 Monetäre Integration nach Funktionen Geld ist, wie wir gesehen haben, ein komplexes, ineinandergreifendes so­ ziales Faktum, das mindestens vier Funktionen erfüllt: Tauschmittel, Rechnungseinheit, Wertaufbewahrungsmittel und Mittel für zeitver­ setzte Zahlungen. Die monetäre Integration sollte als ein Prozess ver­ standen werden, in dem diese verschiedenen Funktionen zusammen­ geführt werden. Die Integration der ersten Funktion, eines gemeinsamen Tauschmittels, kann zum Beispiel auf einer einfachen Ebene durch inter­ nationale Überweisungen oder Kreditkarten erreicht werden. Wechsel­ kursrisiken bleiben jedoch bestehen und sind eine wichtige Quelle der Instabilität. Eine gemeinsame Rechnungseinheit kann dieser Gefahr be­ gegnen; sie kann teilweise bereits durch feste Wechselkurse oder eben durch eine gemeinsame Währung erreicht werden. Die Integration der

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beiden anderen Funktionen (Wertaufbewahrung und Zahlungsaufschub) setzt jedoch eine Art gemeinsame Währung in jedem Falle voraus. Die Wertaufbewahrungsfunktion des Geldes kann nur durch einen ge­ meinsamen Finanzsektor erreicht werden, wie wir in Kap. 9 sehen wer­ den. Die gemeinsame Währung ist vor allem notwendig, um das Problem der Steuerung der Kapitalströme zu lösen. Geld als Mittel für zeitver­ setzte Zahlungen erfordert ein vollwertiges gemeinsames Zahlungs­ system, das in der Regel von einer gemeinsamen Zentralbank bereit­ gestellt wird (siehe Abb. 8.2). Der Euro wurde eingeführt, um die beiden letztgenannten Funktionen zu erfüllen: Wertaufbewahrung und Stan­ dard für zeitversetzte Zahlungen. Die Integration dieser beiden Funktio­ nen ist jedoch noch nicht abgeschlossen, was einer der Hauptgründe für die Euro-Krise war. Um die monetäre Integration in Europa zu verstehen, ist es notwendig, die Bedeutung der vier verschiedenen Funktionen des Geldes zu ver­ stehen. Der Grund, warum die monetäre Integration stattfindet – und die Art und Weise, wie sie stattfinden sollte – hängt mit diesen vier Funk­ tionen zusammen. Es ist wichtig zu beachten, dass die Integration der ersten beiden Funktionen – Tauschmittel und Rechnungseinheit – auch Monatäre Integration Nach Geldfunktionen

Funktion Zahlungsmittel

kann erreicht werden durch Allgemeines Zahlungsmittel, z. B. Kreditkarten, Banküberweisungen

Wertmess- bzw. Recheneinheit

Gemeinsame Währung oder fixes Wechselkursregime

Wertaufbewahrungsmittel

Gemeinsamen Kapitalmarkt/ Finanzsektor Gemeinsames Zahlungssystem (durch Zentralbank bereit gestellt)

Zeitversetztes Zahlungsmittel

Abb. 8.2  Monetäre Integration durch Funktionen

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durch andere Währungssysteme (z.  B. einen Goldstandard oder den Europäischen Wechselkursmechanismus) erreicht werden könnte. Der Euro wurde daher eingeführt, um die beiden letzten Funktionen zu er­ füllen: Wertaufbewahrungsmittel und Standard für zeitversetzte Zahlun­ gen. Die Wertaufbewahrungsfunktion ist eng mit einem gemeinsamen Kapitalsektor (z. B. einem Kapitalmarkt oder einem Bankensystem) ver­ bunden. Ein wichtiger Grund für die Einführung des Euro war die Schaf­ fung eines europäischen Kapitalmarktes (wie wir im nächsten Kapitel sehen werden). Die Schaffung eines europäischen Kapitalmarktes führt jedoch auch zu europaweiten Externalitäten, die von einer europäischen Regierung geregelt werden müssen. Die fehlende Schaffung der not­ wendigen Institutionen, um die beiden letztgenannten Funktionen des Geldes zu vereinen, war einer der Hauptgründe für die Eurokrise. Schauen wir uns nun diese vier Funktionen und in Bezug auf die euro­ päische Währungsintegration genauer an.

8.5.1 Tauschmittel und Rechnungseinheit Einige Wissenschaftler vertreten die Auffassung, dass der Hauptgrund für die Einführung des Euro darin bestand, den Marktaustausch effizien­ ter zu gestalten und den gemeinsamen Markt zu vollenden (siehe ins­ besondere Padoa-Schioppa, 1987). Diese Ansicht ist auch in der öffentli­ chen Debatte sehr präsent. Der Euro wurde demnach eingeführt, um ein europaweites Tauschmittel und eine Rechnungseinheit zu schaffen, die die europaweiten finanziellen Interaktionen erleichtern. Gäbe es den Euro nicht, würde es (Stand 2019) 19 verschiedene nationale Währun­ gen geben. In einem gemeinsamen europäischen Markt ohne eine ge­ meinsame Währung gäbe es daher 19 verschiedene Preise für jedes Pro­ dukt. Mit der Einführung des Euro verringerte sich die Zahl der Preise auf 1; der Euro lieferte somit eine einzige Rechnungseinheit für den euro­ päischen Markt. Das Argument ist natürlich nicht falsch, aber es überbetont die Funk­ tion des Euro als „Tauschmittel“ und „Rechnungseinheit“. Das Problem des Tauschmittels wurde bereits zuvor in gewissem Umfang durch inter­ nationale Zahlungssysteme gelöst. Internationale Banküberweisungen

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können ohne eine gemeinsame Währung ausgeführt werden; Kredit­ karten sind ein weithin akzeptiertes Zahlungsmittel, das unabhängig von den Landesgrenzen verwendet werden kann. Zwar sind diese Lösungen unvollständig und das Problem der Wechselkursschwankungen bleibt be­ stehen. Die Verwirrung und Unsicherheit, die die Wechselkurse ver­ ursachen, haben jedoch eher mit unvollständigen Faktormärkten und den Funktionen „Wertaufbewahrungsmittel“ und „Standard für zeitver­ setzte Zahlungen“ zu tun, wie wir weiter unten sehen werden. Aber auch eine europäische Rechnungseinheit gab es (technisch) schon vorher. Von 1975 bis 1979 war es die Europäische Rechnungseinheit und von 1979–1999 die Europäische Währungseinheit (ECU), ein Korb der Währungen der Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft. Unter der Annahme eines stabilen Systems fester Wechselkurse können Korb­ währungen wie der ECU die Funktion der Rechnungseinheit weitgehend erfüllen, und es besteht nicht unbedingt die Notwendigkeit, eine ge­ meinsame Währung einzuführen. Die Annahme eines stabilen Systems fester Wechselkurse ist jedoch eine schwierige Aufgabe. Dies hat mit den beiden anderen Funktionen zu tun, die das Geld erfüllt: Wertauf­ bewahrung und zeitversezte Zahlung, wie wir weiter unten sehen werden. Zwischenstaatliche Systeme sind nicht in der Lage, auf Dauer feste Wechselkurse durchzusetzen; der ECU war daher nur eine unvoll­ kommene Rechnungseinheit. Die wichtigste Theorie zur Erklärung der Integration der Funktion der Rechnungseinheit des Geldes, die Theorie des offenen Währungsraums, war jedoch nicht eindeutig, ob sie eine ge­ meinsame Rechnungseinheit für den Euroraum vorschlagen würde. Nichtsdestotrotz war dies eine der wichtigsten Theorien, mit der für die europäische Währungsintegration geworben wurde, wie ich in Abschn. 8.6 zeigen werde.

8.5.2 Die Integration der Funktion „Tauschmittel“ Die Integration des Tauschmittels birgt nicht viele theoretische Schwierig­ keiten. Sie bedeutet lediglich, dass dasselbe Medium in zwei verschiedenen Staaten verwendet werden kann. Dies wäre der Fall, wenn es möglich ist, dieselben Geldmünzen und -scheine in zwei verschiedenen Ländern zu

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verwenden. Da Geld jedoch auch eine Rechnungseinheit enthält, wäre in diesem Beispiel auch die Rechnungseinheit integriert worden (siehe nächste Abschnitte). Ein besseres Beispiel ist daher eine Kreditkarte (oder vielmehr das dahinter stehende Zahlungssystem). Die Kreditkarte ist ein Tauschmittel, das in verschiedenen Staaten verwendet werden kann. In diesem Beispiel ist die Funktion der Rechnungseinheit vom Tauschmittel getrennt. Die Integration eines Tauschmittels (ohne Integration der Rechnungseinheit) erfordert eine Art von Governance (z. B. in Form von Vorschriften für das Zahlungssystem), aber nicht unbedingt eine ge­ meinsame Regierung.

8.5.3 Integration der Funktion „Rechnungseinheit“ Die Integration der Funktion der Rechnungseinheit ist ein viel komple­ xeres Thema, da sie viele komplexe wirtschaftliche Beziehungen berührt. Sie berührt grundlegende Fragen der Verteilung und der ökonomischen Gerechtigkeit in einer Gesellschaft. Daher werde ich mich hier ausführ­ licher mit diesem Thema befassen. Die gängigste Theorie zur Analyse der Auswirkungen einer gemeinsamen Rechnungseinheit ist die Theorie der optimalen Währungsräume (OCA-Theorie). Die Theorie der offenen Währungsräume wurde vor dem Hintergrund des Systems von Bretton Woods entwickelt. In dieser Theorie wird untersucht, ob in einem währungspolitischen Rahmen (wie dem Bretton-Woods-System) die Wechselkurse zwischen bestimmten Ländern fest oder flexibel sein soll­ ten. Die Theorie des optimalen Währungsraums hat ihren Ursprung in einer Diskussion, die in den 1950er- und 1960er-Jahren vor dem Hinter­ grund des Bretton-Woods-Abkommens mit seinen festen Wechselkursen und Kapitalkontrollen geführt wurde.

8.5.3.1 Optimale Währungsgebiete oder Optimale Rechnungseinheitengebiete? Wie bereits erwähnt, befasst sich die OCA-Theorie mit der Frage, ob die Wechselkurse fest oder flexibel sein sollten. Der Wechselkurs ist die „An­

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zahl der Einheiten einer ausländischen Währung, die bezahlt werden muss, um eine Einheit der inländischen Währung zu erwerben“ (Fried­ man, 1953, S. 159). Die Frage betrifft also nur die erste der vier Funktio­ nen des Geldes, die Rechnungseinheit. Es geht um die Frage, ob zwi­ schen zwei verschiedenen Gebieten eine feste Rechnungseinheit (durch Festlegung des Wechselkurses) oder ein flexibler Wechselkurs beibehalten werden sollte. Die Frage, ob die Souveränität auf einer supranationalen Ebene gebündelt werden sollte, um die gesellschaftlichen Institutionen für eine gemeinsame Währung zu schaffen, wird nicht im Detail behandelt. Mundell, ein Doktorand von James E. Meade (siehe unten), war der erste, der eine kohärente Theorie der „optimalen Währungsräume“ ent­ wickelte (Mundell, 1961). Die Theorie des optimalen Währungsraums definiert bestimmte Be­ dingungen, unter denen eine bestimmte Anzahl von Ländern ein ge­ meinsames Währungssystem mit festen Wechselkursen oder sogar einer gemeinsamen Währung bilden könnte. Diese Kriterien sind (vgl. Mon­ gelli, 2008, S. 2–3): 1 . Preis- und Lohnflexibilität 2. Mobilität der Produktionsfaktoren einschließlich der Arbeit 3. Integration der Finanzmärkte 4. Der Grad der wirtschaftlichen Offenheit 5. Die Diversifizierung von Produktion und Verbrauch 6. Ähnlichkeiten der Inflationsraten 7. Steuerliche Integration 8. Politische Integration Die Länder können daher ihre Wechselkurse festsetzen, wenn – kurz ge­ sagt – die Märkte effizient sind und die Preismechanismen funktionieren, d. h. wenn Löhne und Preise flexibel sind und auf Veränderungen in den anderen Bereichen reagieren und wenn Arbeit und Kapital ausreichend mobil sind. Wenn dies nicht der Fall ist, könnte ein flexibler Wechselkurs dazu beitragen, die relativen Preise zwischen zwei Gebieten anzupassen, was bedeutet, dass die Rechnungseinheit flexibel gehalten wird. Flexible Wechselkurse haben den Vorteil, dass sie sich extrem „schnell, auto­

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matisch und kontinuierlich anpassen und so tendenziell zu Korrektur­ bewegungen führen, bevor sich Spannungen aufbauen und eine Krise entwickeln können“ (Friedman, 1953, S. 163). Wären nämlich „die in­ ternen Preise ebenso flexibel wie die Wechselkurse, würde es wirtschaft­ lich kaum einen Unterschied machen, ob die Anpassungen durch Wechselkursänderungen oder durch entsprechende Änderungen der in­ ternen Preise herbeigeführt werden“ (Friedman, 1953, S. 165). Die OCA-Theorie befasst sich mit der grundlegenden Frage, ob die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen zwei verschiedenen Bereichen in ein einziges Marktsystem mit einer einzigen Rechnungseinheit  – oder numéraire  – „internalisiert“ werden können, was dann nach der Wirt­ schaftstheorie zu einem allgemeinen Gleichgewicht führen würde. Es geht also um die Frage, ob es eine einzige „harte Budgetbeschränkung“ geben sollte (Kornai, 1986). Eine auf der OCA-Theorie basierende Ana­ lyse der optimalen Größe eines Währungsgebiets, z. B. des Eurogebiets, würde daher die Funktion des Geldes auf eine „Rechnungseinheit“ und ein „Tauschmittel“ beschränken. Geld erfüllt jedoch mindestens vier Funktionen, wie wir bereits gesehen haben. Ein „einheitliches Währungs­ system“ und ein „System fester Wechselkurse“ sind daher nicht „fast das­ selbe“, wie Ronald I. McKinnon, ein weiterer prominenter Vertreter der OCA-Theorie, meinte (McKinnon, 1963, S. 717). Mundell (1961) versuchte, die „periodischen Zahlungsbilanzkrisen“ zu lösen, die durch das Bretton-Woods-System verursacht wurden. Er war jedoch kritisch bezüglich der Wirksamkeit flexibler Wechselkurse als Instrument zur Lösung von Zahlungsbilanzproblemen. Er versuchte, einen kohärenten Rahmen zu entwickeln, um die optimale Größe eines Währungsgebiets zu definieren. Ein „Währungsgebiet“ ist jedoch nicht gleichbedeutend mit einer „gemeinsamen Währung“. Für Mundell waren beide Optionen möglich: sowohl ein „Währungsgebiet“ mit mehreren nationalen Währungen die durch einen festen Wechselkurs als Währungs­ gebiet verbunden sind, als auch ein Währungsgebiet mit einer ge­ meinsamen Währung. Der Unterschied zwischen beiden Optionen liegt vor allem darin, wer die Anpassungskosten bei externen Schocks trägt (siehe Abschn. 8.5.3.3). Der Ausdruck „Theorie des optimalen Währungs­ raums“ ist daher teilweise irreführend, da er sich hauptsächlich mit der ersten der vier Funktionen des Geldes befasst. Tatsächlich war Mundell,

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wie er selbst sagte, unschlüssig, ob er seine Arbeit „Optimale Währungs­ räume“ oder eher „Optimale Währungseinheiten“ nennen sollte (Mun­ dell, 1997). Leider entschied er sich für die erste Option.

8.5.3.2 Die politische Ökonomie flexibler Wechselkurse In den 1950er-Jahren plädierten Friedman (1953) und Meade (1957) für flexible statt für feste Wechselkurse. Friedman, ein libertärer Konservati­ ver, argumentierte, dass nur durch flexible Wechselkurse „unein­ geschränkter multilateraler Handel zu einer realen Möglichkeit wird“, da dadurch alle „direkten quantitativen Kontrollen über Importe und Ex­ porte“ beseitigt werden (Friedman, 1953, S. 158). Flexible Wechselkurse würden daher eine Rückkehr zum politischen Konsens des 19. Jahr­ hunderts bedeuten, in dem „die wichtigsten Länder der westlichen Welt der Freiheit von staatlicher Einmischung im Inland und dem unein­ geschränkten multilateralen Handel im Ausland weitaus größere Be­ deutung beimaßen als der Stabilität im Inland“ (Friedman, 1953, S. 166–167). Friedman argumentiert daher, dass flexible Wechselkurse es ermöglichen würden, eine nationale Politik der Nichteinmischung zu schaffen und stattdessen den freien internationalen Handel zu fördern. Flexible Wechselkurse würden es daher ermöglichen, die auf Voll­ beschäftigung abzielende Politik der staatlichen Intervention abzu­ schaffen. Stattdessen würden flexible Wechselkurse Druck erzeugen, um strukturelle Probleme innerhalb eines Landes zu lösen (Friedman, 1953, S. 158). Friedman widersprach der zu seiner Zeit verbreiteten Ansicht, dass flexible Wechselkurse eines der Hauptprobleme der wirtschaftlichen Instabilität der Zwischenkriegszeit einschließlich der Großen Depression gewesen seien (Bordo, 1993). James E. Meade, ein liberaler Sozialist, beschäftigte sich mit dem Pro­ blem, wie man eine Zahlungsbilanz erreichen und es dem Staat gleich­ zeitig ermöglichen könnte, nationale Stabilisierungsprogramme durchzu­ führen. Er befürwortete flexible Wechselkurse, weil er der Meinung war, dass dies dem Nationalstaat mehr Möglichkeiten zur nationalen Planung geben würde (Mundell, 1997). In Bezug auf die Debatten über eine euro­ päische Freihandelszone in den 1950er-Jahren (die erst 1958 mit den Rö­

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mischen Verträgen verwirklicht wurde) argumentierte Meade, dass es un­ möglich sei, Vollbeschäftigung und ein Zahlungsbilanzgleichgewicht mit Freihandel zu kombinieren (Meade, 1957, S. 379). Meade beschrieb drei mögliche Ansätze zur Lösung von Zahlungsbilanzproblemen innerhalb einer Freihandelszone: den Liquiditätsansatz, den Goldstandardansatz und den Integrationsansatz. Der Liquiditätsansatz sei nur eine vorüber­ gehende Lösung gewesen, bei der versucht wurde, die Liquiditätsreserven der teilnehmenden Länder zu erhöhen, zum Beispiel durch Kredite aus anderen Ländern (wie es bereits in der Europäischen Zahlungsunion praktiziert wurde) (Meade, 1957, S.  183). Der Goldstandard-Ansatz schlägt vor, eine gemeinsame „Rechnungseinheit“ zu schaffen, den Gold­ standard. Eine Anpassung ist dann nur auf zwei Wegen möglich: Ent­ weder muss das Überschussland inflationieren, um die relativen Preise anzupassen, oder das Defizitland muss deflationieren (z. B. durch Lohn­ senkungen; siehe unten). Meade hat bereits darauf hingewiesen, dass Überschussländer in der Regel Wege finden, eine Inflation zu vermeiden und damit die Anpassungskosten auf die Defizitländer zu verlagern (Meade, 1957, S. 385, siehe auch den nächsten Subabschnitt). Die dritte Option ist die Integration, d. h. die Schaffung einer gemeinsamen Wäh­ rung und gemeinsamer politischer Institutionen. Der Unterschied zwi­ schen einem gemeinsamen Währungsraum und einem Raum mit festen Wechselkursen besteht nach Meade darin, dass in einem gemeinsamen Währungsraum „Defizite“ in der Zahlungsbilanz zwischen zwei Regio­ nen Ausdruck direkter Schulden- oder Transferbeziehungen zwischen In­ dividuen sind, da es einen festen institutionellen Rahmen gibt. In einem Wechselkurssystem hingegen werden Defizite indirekt über das Reserve­ system der beteiligten Zentralbanken abgewickelt, da jedes teilnehmende Land einen eigenen institutionellen Rahmen für seine Währung hat.2 Außerdem liegt in einem gemeinsamen Währungsraum die Ver­ antwortung für die Entscheidung über die Maßnahmen, die zur Wieder­ herstellung des Gleichgewichts ergriffen werden sollten, bei den supra­ nationalen Institutionen. Das Problem dieser Lösung ist jedoch, dass die von der supranationalen Institution durchgeführten Anpassungsmaß­  Viele Kommentatoren scheinen sich dieser Tatsache während der Euro-Krise jedoch nicht bewusst gewesen zu sein. 2

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nahmen immer Verteilungseffekte mit sich bringen (Meade, 1957, S. 385–392), was eine besondere demokratische Legitimation erfordert.

8.5.3.3 Anpassungskosten bei festen Wechselkursen oder einer gemeinsamen Währung Die Fixierung von Wechselkursen kann jedoch zu ernsthaften politischen Dilemmata führen, da schwierige Anpassungsmechanismen die Folge sein können. Das Grundproblem fester Wechselkurse lässt sich am besten anhand des so genannten Goldautomatismus veranschaulichen, der be­ reits von dem Philosophen David Hume (1711–1776) als Gegenargu­ ment zur merkantilen Doktrin der positiven Zahlungsbilanzen ent­ wickelt wurde. Hume argumentierte, dass ein Gold+tandard einen auto­ matischen Anpassungsmechanismus mit sich bringt, um lang anhaltende Bilanzüberschüsse und -defizite zwischen Ländern zu vermeiden. Wenn ein Land mehr exportieren als importieren würde, hätte dies einen Zu­ fluss von Gold in das Überschussland und einen Abfluss von Gold aus dem Defizitland zur Folge. Aufgrund des sinkenden Goldpreises im De­ fizitland werden die Preise in diesem Land sinken, während sie im Über­ schussland aufgrund der zunehmenden Goldmenge im Umlauf steigen werden. Infolgedessen wird das Überschussland weniger exportieren und mehr aus den Defizitländern importieren (siehe auch Krugman & Obst­ feld, 2009, S. 660–667) (Abb. 8.3). Der Goldautomatismus spielte eine wichtige Rolle bei der Analyse der Probleme des Goldstandards, der bis zum Beginn des zwanzigsten Jahr­ hunderts vorherrschend war. Der Vorteil des Goldstandards als Rechnungseinheit bestand darin, dass er viele automatische Anpassungs­ mechanismen bot, ohne dass gemeinsame Regeln festgelegt werden muss­ ten. Dies ermöglichte es, den weltweiten Austausch von Waren ohne große politische Koordinierung zu bewerkstelligen. Das System setzt jedoch das Vorhandensein effizienter nationaler Märkte und Preismechanismen sowie einen freien internationalen Han­ del ohne Zölle oder andere Hindernisse voraus. Unter diesen Be­ dingungen findet die Anpassung automatisch innerhalb des nationalen Marktsystems statt. Alle Arten von Externalitätsproblemen müssen daher

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Gold Standard

Land A Überschussland

Land B Netto Export von Gütern

Interne Marktanpassung:

Interne Marktanpassung: GA ↑ → PA ↑

Defizitland

Netto Import von Gold

GB ↓



PB ↓

→ ExB ↑ und ImB ↓

→ ExA ↓ und ImA ↑

Euro System Region A PB = PB (PA)

Region B PA = PA (PB)

Abb. 8.3  Goldstandard-Mechanismus

auch innerhalb der Nationalstaaten gelöst werden. Nationale Preise re­ agieren auf nationale Knappheit von Gold. Dies steht in krassem Gegen­ satz zu einer gemeinsamen Währung, zum Beispiel dem Euro-System, das auf der Annahme beruht, dass europaweite Marktmechanismen exis­ tieren. Im Euro-System sollten die deutschen Löhne und Preise direkt auf die Entwicklung der Löhne und Preise in südlichen Ländern der Euro­ zone reagieren, um Ungleichgewichte zu vermeiden. Wenn diese An­ passung jedoch nicht funktioniert, dann sind flexible Wechselkurse oder mehr europäische staatliche Interventionen notwendig, sonst ist eine Zu­ spitzung der Situation wie die Eurokrise die Folge. Auch Mundell (1961) befasste sich mit dem Problem der Anpassungs­ kosten in einem System fester Wechselkurse und innerhalb einer ge­ meinsamen Währung. Das Modell von Mundell sagt nichts darüber aus, welche der beiden Optionen besser ist. Er räumt lediglich ein, dass es

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wichtige Unterschiede bei der politischen Koordinierung zur Bewältigung makroökonomischer Ungleichgewichte gibt. Im Falle einer Nachfrage­ verlagerung von A nach B, so Mundell, könnte die Arbeitslosigkeit in B steigen, während in A ein Inflationsdruck entsteht, so dass A zu einem Überschussland wird. In einem Währungsraum mit nationalen Währun­ gen hat A die Möglichkeit, nicht zu kooperieren und die Inflation durch strengere Kreditrestriktionen zu bekämpfen. In diesem Fall fiele die ge­ samte Last der Anpassung (Verringerung des Realeinkommens, der Pro­ duktion und der Beschäftigung) auf Land B. In Währungsräumen mit einer gemeinsamen Währung und einer gemeinsamen Zentralbank ist es Aufgabe der Zentralbank, über die Anpassungspolitik zu entscheiden. Sie muss dann zwischen inflationären Tendenzen in Land A und Arbeits­ losigkeit in Land B entscheiden. Mundell argumentiert, dass die An­ passung eher den Überschussländern obliegen sollte; sie sollten „so lange inflationieren, bis die Arbeitslosigkeit in den Defizitländern beseitigt ist“ (Mundell, 1961, S. 658–659). Das Problem, das Mundell beschreibt, klingt wie eine Blaupause für die Diskussionen, die im Euroraum geführt wurden. Überschussländer wie Deutschland weigerten sich, die Kosten der Anpassung zu über­ nehmen; stattdessen wälzten sie die Kosten auf die Defizitländer ab. Die Europäische Zentralbank hat nicht viel Spielraum, die Arbeitslosigkeit im Süden zu bekämpfen, indem sie die Inflation im Norden in Kauf nimmt, denn sie ist an die Stabilität der Kaufkraft gebunden und daher hauptsächlich Inflation bekampfen muss. Außerdem fehlte eine europä­ ische politische Institution, die über die „gerechte“ Verteilung der An­ passungskosten entscheiden könnte und europäische Politiken ent­ sprechend hätte anpassen können.

8.5.4 Wertaufbewahrung und Standard der zeitversetzten Zahlung In diesem und vor allem auch im nächsten Kapitel werde ich argumentie­ ren, dass der wichtigste Grund für die Einführung des Euro europaweite Integration der dritten Funktion des Geldes, der Wertaufbewahrungs­ funktion, war (auf die Integration der Wertaufbewahrungsfunktion

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werde ich in Kap. 9 näher eingehen). Ein wichtiger Mangel der Währungs­ systeme, die vor der Einführung des Euro in Europa bestanden, war, dass sie keinen europaweiten Kapitalmarkt schaffen konnten. Daher konnten sie keine verlässliche europaweite Verbindung zwischen der Funktion Wertaufbewahrungsmittel und Rechnungseinheit/Tauschmittel her­ stellen. Auch heute noch ist dieses Problem nicht vollständig gelöst, da wichtige Instrumente der Geldhierarchie fehlen, die zur Schaffung und Stabilisierung der Finanzmärkte wichtig wären. So wird beispielsweise die Stabilität einer nationalen Währung normalerweise durch nationale Anleihen gesichert. Auf europäischer Ebene fehlt dieses Instrument je­ doch, da es immer noch keine Euro-Anleihen gibt. Darüber hinaus ist eine wichtige Voraussetzung für eine starke ge­ meinsame Währung die Repräsentativität der Funktionen Tauschmittel und zeitversetzte Zahlungen. Nur wenn diese Repräsentativität gewähr­ leistet ist, werden Verträge zustande kommen (dos Anjos, 1999, S. 681). Hier liegt eine große Schwäche aller Währungssysteme, die vor der Ein­ führung des Euro eingerichtet wurden. Sowohl der Europäische Wechsel­ kursmechanismus als auch das Bretton-Woods-Abkommen waren nicht in der Lage, die Repräsentativität beider Funktionen vollständig zu ge­ währleisten, da Wechselkursabwertungen immer möglich waren. Dies er­ schwert den Abschluß europaweiter Verträge und insbesondere die Schaf­ fung komplexer europaweiter Produktionsketten. Außerdem ist es ein Hindernis für den europaweiten Handel; die Auswirkungen auf die Produktionsstruktur sind jedoch gravierender.

8.5.5 Schwierigkeiten bei der Integration der Wertaufbewahrungsfunktion In Abschn.  8.2.3 haben wir gesehen, dass die Wertaufbewahrungs­ funktion des Geldes (in einer modernen Marktwirtschaft) eng mit dem Vorhandensein eines Finanzsektors (in Form von Banken und/oder Kapitalmärkten) verbunden ist. Eine enge Verbindung zwischen beiden ist erforderlich, um eine Verbindung zwischen der Funktion der Rechnungseinheit/des Tauschmittels und der Wertaufbewahrungs­

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funktion des Geldes herzustellen. Die monetäre Integration setzt daher voraus, dass auch die Finanzsektoren der verschiedenen Staaten integriert werden (können). Die Verbindung zwischen Geld und Finanzsektor ist daher ein wichti­ ger Pfeiler für die Schaffung einer gemeinsamen Währung. Es könnte auch bedeuten, dass beide Staaten ihre Finanzsektoren so anpassen müs­ sen, dass sie integriert werden können. Dies ist besonders wichtig, wenn ein Staat eine marktbasierte Kapitalallokation hat, während der andere Staat eine bankbasierte Kapitalallokation hat (siehe Abschn.  8.2.3 und Kap. 9). Bevor die Entscheidung für eine monetäre und weitere wirtschaft­ liche Integration getroffen wird, müssen beide Staaten entscheiden, ob sie ihren Finanzsektor anpassen wollen, was eine höchst politische Ent­ scheidung ist. Sie berührt die Frage, wie auf eine gemeinsame Ressource des Gemeinwesens – das Kapital – zugegriffen werden kann. Wenn ein Staat beschließt, seinen Finanzsektor beizubehalten und sich nicht zu in­ tegrieren, müssten Kapitalkontrollen eingeführt werden, und die wirtschaftliche Integration würde sich auf den Handel (mit Waren, nicht mit Kapital) konzentrieren. Die Schwierigkeiten, dieses System aufrecht­ zuerhalten, könnten jedoch zu einer Zahlungsbilanzkrise und Instabili­ tät führen.

8.5.6 Integration der Funktion „Mittel für zeitversetzte Zahlungen“ Wie bereits erwähnt, ist die Funktion der zeitversetzten Zahlung eine Kombination aus den anderen drei Funktionen des Geldes. Diese Funk­ tion des Geldes kann daher nur integriert werden, wenn die anderen drei Funktionen integriert sind. Die Funktion des zeitversetzten Zahlungs­ mittels ist gegeben, wenn ein voll funktionsfähiges Zahlungssystem funk­ tioniert, das Zahlungen über einen bestimmten Zeitraum hinweg garan­ tiert. Sie stellt die Verbindung zwischen den Funktionen Rechnungsein­ heit/Tauschmittel und einem reibungslosen Abrechnungssystem her. Sie liefert das nötige Vertrauen, um die Schaffung komplexer Produktions­ ketten zu ermöglichen.

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8.6 Die OCA-Theorie als Legitimation für monetäre Integration Die wichtigste Theorie zur Beurteilung der Frage, ob eine Reihe von Volkswirtschaften eine gemeinsame Rechnungseinheit bilden sollte, ist die OCA-Theorie. Sie wurde vor dem Hintergrund des Bretton-Woods-­ Systems entwickelt, in dem die Wechselkurse der verschiedenen Volks­ wirtschaften festgelegt wurden. Die OCA-Theorie konzentriert sich je­ doch auf diese eine Funktion des Geldes (Rechnungseinheit) und lässt andere Aspekte wie Souveränität, Vertrauen, die Notwendigkeit eines ge­ meinsamen Finanzsektors oder die Integration der anderen Funktionen des Geldes unberücksichtigt. Der Hintergrund, auf dem der theoretische Rahmen des OCA ent­ wickelt wurde, war jedoch nicht die Schaffung von Währungsunionen, sondern von „Währungsräumen“, wie Mundell sie nannte. Dieser Aus­ druck ist jedoch irreführend. Der grundlegende Streitpunkt der frühen OCA-Theorie war nicht, ob verschiedene Länder ihre Souveränität an eine supranationale Zentralbank abgeben sollten, sondern einfach, ob die Wechselkurse zwischen zwei Ländern in einem Währungssystem fest sein sollten oder nicht. Warum spielte sie dennoch eine so wichtige Rolle für die Legitimation des Euro? Mit der monetaristischen Revolution, angeführt von Milton Friedman in den 1970er-Jahren, und dem Übergang zu flexiblen Wechselkursen nach dem Nixon-Schock kam die OCA-Theorie aus der Mode. Moneta­ risten argumentierten, dass Abwertungen in einem System fester Wechsel­ kurse keine nennenswerten langfristigen Auswirkungen haben, da sich die Löhne und Preise schnell an den neuen Wechselkurs anpassen (De Grauwe, 1992, S. 447). Außerdem werden die Menschen die Inflations­ politik ihrer Regierungen vorwegnehmen (Barro & Gordon, 1983). Die OCA-Theorie fand erneut Eingang in die akademische Arena, nachdem der Delors-Bericht einen Entwurf für eine gemeinsame Währung ent­ wickelt hatte, der zu einem erheblichen Teil auf der OCA-­Theorie ba­ sierte (Beetsma & Giuliodori, 2010, S.  605–606). Aus einer OCA-­ Perspektive ist das Argument für die Europäische Währungsunion (EWU) jedoch schwierig zu führen. Es wurde in Frage gestellt, ob der

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Euroraum wirklich ein optimaler Währungsraum ist. Nach der Veröffent­ lichung des Delors-Berichts entstand jedoch eine „neue Theorie der opti­ malen Währungsräume“, wie Paul de Grauwe es formuliert hat, die an die Bedürfnisse der europäischen Integration angepasst wurde (De Grauwe, 1992). Die neuen Theorien der OCA versuchten zu argumentieren, dass schwache, inflationäre Länder versuchen, einer Währungsunion mit einem starken Land beizutreten, um eine „harte Haushaltsbeschränkung“ (Kornai, 1986) in ihrer Wirtschaft einzuführen und politische Reformen durchzusetzen. Eine unwiderrufliche Währungsunion verschafft den Politikern der „schwachen“ Länder die notwendige Glaubwürdigkeit für ein politisches Programm, das auf Marktbedürnisse ausgerichtet ist. Wäh­ rend ein fester Wechselkurs in der Zukunft von den Regierungen mani­ puliert werden kann, bleibt eine unwiderruflich festgelegte gemeinsame Währung für jede Regierung in der Zukunft eine „harte Budgetbe­ schränkung“ (De Grauwe, 1992, S.  449–450). Der Beitritt zum EWS (und später zum Euro) ermöglichte es daher einerseits den Regierungen, marktkonforme Politikprogramme durchzusetzen; andererseits erhöht er auch die Glaubwürdigkeit der Länder mit hoher Inflation auf dem Markt (Giavazzi & Pagano, 1988). Dieses Argument spielte für Länder wie Italien eine wichtige Rolle beim Beitritt zur WWU. Mit Hilfe des „vincolo esterno“ (einer externen Bindung) versuchten die politischen Entscheidungsträger, Italien in den 1990er-Jahren mit dem Argument zu reformieren, dass Italien sich auf die gemeinsame Währung vorbereiten muss und so den Übergang von der sogenannten zwei­ ten zur dritten Republik zu bewältigen (für einen Überblick über diesen Pro­ zess siehe z.  B.  Zimmermann, 2012). Das Argument ist jedoch eine rein wirtschaftliche Perspektive; es erklärt keine politischen Faktoren, zum Bei­ spiel warum das „alte“ politische System obsolet wurde. Im Falle Italiens lag ein wesentlicher Grund darin, dass sich das italienische politische System nicht auf die politischen Folgen der Umstellung auf flexible Wechselkurse und die monetaristische Revolution in den 1970er-Jahren eingestellt hat. Die OCA-Theorie hatte also eine hochpolitische Wirkung, obwohl sie vorgibt, in ihrer Theorie keine politischen Fragen zu berücksichtigen. Eine Theorie der monetären Integration, die Fragen des Geldes und der Souveränität in Be­ tracht zieht, gibt es jedoch nicht.

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Goodhart behauptete sogar, dass die OCA-Theorie eine „verdeckte, aber nicht versteckte“ Tendenz zu einer „reduzierten Rolle des Staates in wirtschaftlichen Angelegenheiten“ beinhaltet (Goodhart, 1998, S. 425). Aufgrund des asymmetrischen Aufbaus des Euroraums „stellt der Euro ein entpolitisiertes und daher stabiles Geld dar“, wie es ein Gründungs­ mitglied der EZB, Issing, ausdrückte (zitiert nach Otero-­Iglesias, 2014, S. 7). Die Eurokrise hat jedoch gezeigt, dass die Asymmetrie zwar Vor­ teile in Bezug auf eine niedrige Inflationsrate mit sich bringt, aber nicht unbedingt zur Stabilität der Eurozone als Ganzes beiträgt. Die OCA-Theorie stellt ein interessantes Paradoxon dar: Obwohl sie keine Versuche unternimmt, die „Institutionenbildung“ des Geldes zu er­ klären, spielte sie eine wichtige Rolle bei der Legitimierung der Ein­ führung des Euro. Für die OCA-Theorie gibt es „keinen Grund, warum Währungsgebiete mit souveränen Staaten zusammenfallen und mit ihnen zusammenhängen müssen“ (Goodhart, 1998, S.  420). Der Padoa-­ Schioppa-­Bericht (Padoa-Schioppa, 1987) und der Bericht „One Mar­ ket, one Money“ (European Commission, 1990) stützten ihre Argu­ mente weitgehend auf die OCA-Theorie. Sie hatten keine Probleme damit, eine Art von gemeinsamer Währung vorzuschlagen, ohne dabei zu sehr ins Detail zu gehen, was die Fragen der Souveränität angeht. Mundell argumentierte sogar, dass der Plan für die Europäische Währungsunion „das größte Opfer des Zusammenbruchs des inter­ nationalen Währungssystems“ gewesen sei. Für Mundell ging es den europäischen Volkswirtschaften besser, als sie um den Dollar herum inte­ griert waren. Der Dollar diente als externes „free lunch“, das für grund­ legende Stabilität sorgte (Mundell, 1997). In den 1970er-Jahren, als die USA versuchten, ihre wirtschaftlichen Probleme durch Inflation zu lösen, wurde Europa, so Mundell, „zur Schaffung des Europäischen Währungs­ systems provoziert“ (Mundell, 1997). Der Einfluss der OCA-Theorie auf die europäische Währungs­ integration ist daher widersprüchlich. Einerseits hat die Kommission die OCA-­Theorie genutzt, um eine ökonomische Logik für die Währungs­ integration zu entwickeln (European Commission, 1990). Andererseits haben viele Wissenschaftler betont, dass die Eurozone nicht alle Kriterien eines optimalen Währungsraums erfüllt (siehe z.  B.  Krugman, 2012).

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Eine kohärentere Theorie der monetären Integration, die auch Fragen der Souveränität und des Aufbaus von Institutionen berücksichtigt, wäre daher erforderlich. Der Republikanismus und insbesondere das Konzept einer „res publica der öffentlichen Güter“ könnten in Kombination mit der chartalistischen Schule des Geldes und dem Konzept einer Hierarchie sozialer Institutionen und öffentlicher Güter einen Rahmen für die Weiterentwicklung einer solchen monetären Theorie liefern.

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8  Souveränität und monetäre Integration 

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9 Externe Effekte eines gemeinsamen Faktormarktes

Im vorangegangenen Kapitel habe ich argumentiert, dass der Euro ein­ geführt wurde, um europäische Kapitalmärkte zu schaffen und die dritte und vierte Funktion des Geldes (Wertaufbewahrungsmittel und Zah­ lungsmittel) zu integrieren. Nun werde ich zeigen, wie die Schaffung eines europäischen Faktor- (und insbesondere Kapital-) Marktes zu europaweiten Externalitätsproblemen führt. Diese Externalitätsprobleme ergeben sich aus der Tatsache, dass Kapital eine gemeinsame Ressource ist. Wie wir in Abschn. 7.2.5 gesehen haben, bedürfen gemeinsame Res­ sourcen einer besonderen Form des Regierens, da gemeinsame Ressour­ cen tiefere Verteilungskonflikte impliziert als andere Formen von Gütern. Wirtschaftliche Probleme innerhalb der Europäischen Union oder zu­ mindest innerhalb des Euroraums sollten daher nicht mehr als Inter­ dependenzen modelliert werden, sondern als externe Effekte, die sich durch die gemeinsame Resource eines europäischen Kapitalmarktes er­ geben. Die europaweiten externen Effekte erfordern die Schaffung euro­ päischer Institutionen.

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Nature Switzerland AG 2023 T. Zimmermann, Europäischer Republikanismus, https://doi.org/10.1007/978-3-031-44091-5_9

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9.1 Institutioneller Aufbau eines europäischen Kapitalsektors Die Schwächen der Theorie des optimalen Währungsraums (OCA) zur Erklärung der europäischen Währungsintegration zeigen, dass das Ziel, eine gemeinsame Rechnungseinheit zu schaffen, nicht die Hauptantriebs­ kraft für die Einführung des Euro war. Lane argumentierte, dass „die meisten direkten Gewinne aus dem Beitritt zum Euroraum aus der Schaf­ fung von tieferen und liquideren Finanzmärkten resultieren könnten“. Er hat gezeigt, dass Unternehmen im Euroraum lieber innerhalb als außer­ halb des Euroraums investieren, und dass es eine gewisse „Euro-Vorliebe“ gibt (Lane, 2006, S.  52–53). Darüber hinaus konnten Sousa und Lo­ chard zeigen, dass die Direktinvestitionen im Euroraum um 62  % ge­ stiegen sind (Lane, 2006, S. 30). Der Handel hingegen ist nach der Ein­ führung des Euro nicht signifikant gestiegen. Der Anstieg von 5–15 % lässt sich eher durch einen allgemeinen weltweiten Anstieg des Handels als durch die Einführung des Euro erklären (Lane, 2006, S. 57–58). Bis in die 1980er-Jahre konzentrierte sich die europäische Wirtschafts­ integration hauptsächlich auf die Handelsintegration. Das Hauptziel war die Schaffung eines gemeinsamen europäischen Marktes für „Waren“, nicht für Kapital oder Arbeit. In den 1980er-Jahren kamen die europä­ ischen Politiker und Technokraten zu dem Schluss, dass mehr getan wer­ den muss, um Europa wieder auf den Weg der europäischen Integration zu bringen. Die europäischen Politiker wollten die wirtschaftliche Sta­ gnation überwinden, die seit dem Zusammenbruch des Bretton-­Woods-­ Systems in den 1970er-Jahren herrschte. Die Einheitliche Europäische Akte (1987) zielte darauf ab, den gemeinsamen Markt zu vollenden und auch eine gemeinsame Währung und einen gemeinsamen Faktormarkt zu schaffen. Eine Motivation der EEA könnte daher auch darin be­ standen haben, einen gemeinsamen europäischen Kapitalmarkt zu schaf­ fen, der unabhängiger von den internationalen Turbulenzen ist, die seit dem Zusammenbruch von Bretton Woods herrschten. Der Bericht der Delors-Kommission (Delors, 1989) schlug einen drei­ stufigen Ansatz zur Verwirklichung der Währungsunion vor. Der erste Schritt war die vollständige Abschaffung der Kapitalverkehrskontrollen

9  Externe Effekte eines gemeinsamen Faktormarktes 

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innerhalb Europas im Jahr 1990. Der Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) garantiert in Artikel 63 die Freiheit des Kapitalverkehrs innerhalb und außerhalb der Europäischen Union. Spä­ ter, im Jahr 1994, sollte ein Währungsinstitut (der Vorgänger der Euro­ päischen Zentralbank (EZB)) gegründet werden (Schritt 2), und 1999 sollte als letzter Schritt der Euro eingeführt werden. Es ist daher wichtig, sich daran zu erinnern, dass es vor 1990  in Europa Kapitalverkehrs­ kontrollen gab, die es erschwerten, Geld von einem Land in ein anderes zu transferieren. Um Geld in ein anderes Land zu transferieren, war oft eine Genehmigung erforderlich. Die Kapitalkontrollen erschwerten die Koordinierung von Finanztransaktionen mit anderen Ländern. Be­ sonders schwierig war es, grenzüberschreitende Produktionsketten zu or­ ganisieren. In der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg wurden Produktions­ ketten zu großen Teilen innerhalb einer Volkswirtschaft organisiert, da das Kapital ein Land nicht verlassen konnte. Ein Volkswagen zum Bei­ spiel wurde in Deutschland produziert, während heute verschiedene Teile in ganz Europa und der Welt hergestellt werden. Die Abschaffung der Kapitalverkehrskontrollen war ein erster wichti­ ger und notwendiger Schritt auf dem Weg zu einem vereinten Kapital­ sektor. Er war jedoch nicht ausreichend. Mit unterschiedlichen Währun­ gen gab es auch unterschiedliche Wirtschafts- und Finanzsysteme sowie unterschiedliche Rechts- und Regulierungssysteme. Infolgedessen blie­ ben die europäischen Kapitalmärkte stark fragmentiert. Die Wertpapier­ dienstleistungsrichtlinie sollte Direktinvestitionen in anderen europä­ ischen Mitgliedsstaaten durch die Harmonisierung von Standards ent­ lasten (DG, 1993). Im Jahr 1999, nach der Einführung des Euro, verabschiedeten die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union den Aktionsplan für Finanzdienstleistungen (FSAP), mit dem bis 2005 ein Binnenmarkt für Finanzdienstleistungen in Europa geschaffen wer­ den sollte. Dieses Ziel wurde 2007 mit der Richtlinie über Märkte für Finanzinstrumente (MiFID) erreicht, die die Wertpapierdienstleistungs­ richtlinie von 1992 ersetzte. Die neue Richtlinie betonte nach wie vor die Bedeutung der Herkunftslandaufsicht, gab jedoch das Prinzip der „Mindestharmonisierung und gegenseitigen Anerkennung“ auf und führte das Prinzip der „maximalen Harmonisierung“ ein. Im Jahr 2012,

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während der Finanz- und Eurokrise, wurde die MiFID durch die Euro­ pean Market Infrastructure Regulation (EMIR) aufgewertet (Lanoo, 2015, S. 1). Die Eurokrise hat gezeigt, dass Europa seinen Finanzsektor stärker in­ tegrieren muss. Während der Krise hat die Europäische Kommission be­ reits damit begonnen, die Europäische Bankenunion ins Leben zu rufen, um die nationalen Systeme in ein europäisches Regulierungs- und Über­ wachungssystem zu integrieren.

9.2 Kapitalversorgung: Banken vs. Kapitalmärkte In einer modernen, industrialisierten Wirtschaft erfüllt der Finanzsektor eine wichtige Aufgabe: Er sammelt das verfügbare Kapital aus ver­ schiedenen Quellen, aggregiert es und verleiht es an Haushalte oder Unternehmen, die einen Kredit für Investitionen benötigen. Für die Sammlung und Verteilung von Kapital sind zwei verschiedene Systeme üblich. Das erste ist ein bankbasiertes System. Die Banken sammeln Ka­ pital ein, zum Beispiel von privaten Haushalten, und verleihen es an Unternehmen, um deren Geschäfte zu führen. Der Vorteil eines solchen Systems ist, dass die Banken eng mit den Unternehmen verbunden sind, denen sie Geld leihen. Normalerweise haben Banken lokale oder regio­ nale Zweigstellen, die eng mit der Industrie vor Ort verbunden sind. Dies ermöglicht den Banken einen tiefen Einblick in die wirtschaftliche Stabilität der kleinen und mittleren Unternehmen. Allerdings bringt dies auch weniger Flexibilität mit sich. Vor allem für innovative Start-ups könnte es schwierig sein, einen Kredit für die Gründung eines Unter­ nehmens zu erhalten. Es könnte sein, dass das Kapital nicht an der effizi­ entesten Stelle eingesetzt wird, da die Strukturen oft starr und nicht offen für neue Innovationen sind. Eine bankbasierte Kapitalallokation könnte daher stabiler, aber weniger effizient sein. Auf einem Kapitalmarkt hingegen wird das Kapital immer dorthin ge­ leitet, wo es am effizientesten zu sein verspricht. Außerdem ist er „offe­ ner“ für kleine und mittlere Unternehmen, da theoretisch jeder Zugang zu den Finanzmärkten hat. Risikokapitalmärkte können Kapital für in­

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novative Neugründungen bereitstellen. Kapitalmärkte versprechen also einerseits mehr Wirtschaftswachstum, andererseits könnten sie aber auch zu mehr wirtschaftlicher Instabilität führen. Die Schaffung eines Kapital­ marktes könnte daher einige wichtige öffentliche Güter liefern (mehr Wirtschaftswachstum, mehr Zugang zu Krediten für alle); sie bringt je­ doch auch beträchtliche öffentliche Nachteile oder negative externe Ef­ fekte für alle mit sich (makroökonomische Instabilität, mehr Unsicher­ heit für die individuelle Planung). Die Entscheidung darüber, welches System sich durchsetzen soll, ist daher eine politische Entscheidung und sollte immer beide Überlegungen einbeziehen. Ein Bankensystem und ein Kapitalmarkt unterscheiden sich in der Art und Weise, wie der Zugang zu einer gemeinsamen Ressource – Kapital – organisiert ist. Auf einem perfekten und gut organisierten Kapitalmarkt wird das Kapital als „perfektes“ privates Gut zugeteilt. Ein banken­ gestütztes System hat dagegen viel mehr Ähnlichkeiten mit einer All­ mende. Die Institutionen (Banken) haben viel mehr Einfluss und ent­ scheiden persönlich, wohin das Kapital fließen soll. Die Kapitalallokation erfolgt nicht immer nach reiner Gewinnmaximierung, sondern auch nach Kriterien wie Sicherheit und Stabilität. Die Entscheidung darüber, welches System sich in einer Euro-Wirtschaft durchsetzen sollte (bzw. wie stark beide System in der gesamten EU ausgeprägt sind), ist noch nicht gefallen, da beide Systeme nach wie vor fragmentiert und unvollständig sind. Eine Entscheidung darüber, welches System sich durchsetzen soll, sollte daher immer auch Überlegungen zu beiden Systemen beinhalten. Die Art und Weise, wie diese gemeinsame Ressource verteilt wird, ist eine europäische res publica; die Entscheidung darüber muss von allen euro­ päischen Bürgern getroffen werden. In Kontinentaleuropa spielen die Kapitalmärkte bis heute nur eine untergeordnete Rolle. Die Banken dominieren den Finanzsektor. Der wichtigste Kapitalmarkt für die Eurozone ist London, ein Standort außer­ halb von „Euroland“ und damit außerhalb des Einflusses der Ecb und der Euroland-Mitgliedsstaaten. Lanoo wies jedoch darauf hin, dass viele Be­ obachter in der Schaffung eines europäischen Kapitalmarktes eine Chance sehen, das von den Banken dominierte System in Kontinentaleuropa zu überwinden. Er betonte, dass die Schaffung eines europäischen Kapital­ marktes ein viel komplizierteres Unterfangen ist als die Integration eines

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bankbasierten Systems. Es gibt nur sehr wenige entwickelte, gut funktio­ nierende Kapitalmärkte in der Welt (Lanoo, 2015, S. 1). Im Jahr 1993 betrug die inländische Börsenkapitalisierung in der EU (ohne Groß­ britannien) nur 31 % des Bruttoinlandsprodukts (BIP), in Deutschland und Italien sogar nur 20 %. Dies steht in scharfem Kontrast zu Ländern wie den USA (85 %) und Japan (77 %). Im Jahr 2014 war die höchste Börsenkapitalisierung in der EU im Vereinigten Königreich, in Schwe­ den, den Niederlanden und Dänemark zu finden (Lanoo, 2015, S. 4). Dies sind alle Länder mit Ausnahme der Niederlande, die sich gegen die Teilnahme am Euro entschieden haben. Diese Zahlen stützen also die Ansicht, dass die Integration des Finanzsektors (und nicht der Handel oder ein gemeinsamer Markt) ein Hauptgrund für die Einführung des Euro war. Die italienische Quote lag Anfang des Jahrtausends immer noch bei etwa 20 %, die deutsche Quote ist leicht gestiegen. Auch Lane hat darauf hingewiesen, dass die Bedeutung des Kapitalmarkts ein Haupt­ grund dafür war, dass das Vereinigte Königreich dem Euro nicht bei­ getreten ist (Lane, 2006, S. 55). Das Problem einer bankbasierten Kapitalverteilung ist, dass die Markt­ mechanismen weniger gut funktionieren. In einem solchen System sind die Banken oft in der Lage, Oligopole zu bilden. Die beherrschende Stel­ lung der Banken erschwert vielen Unternehmen, insbesondere Neu­ gründungen und Risikokapitalunternehmen, den Zugang zu Kapital. Andererseits ist eine bankbasierte Kapitalallokation oft viel stabiler. Ban­ ken bauen langfristige Beziehungen zu Unternehmen auf, so dass sie deren wirtschaftliche Lage sehr gut kennen. Die Entstehung von Spekulationsblasen wie auf dem Immobilienmarkt ist in einem solchen System im Allgemeinen unwahrscheinlicher. Der Nachteil eines bank­ basierten Systems ist außerdem, dass es schwierig ist, die nationale Frag­ mentierung zu überwinden, da die Banken normalerweise viel lokaler agieren. Auf einem gut entwickelten Kapitalmarkt werden die Kapitalströme aufgrund von Marktanreizen stets auf ihre effizienteste Verwendung aus­ gerichtet. Diese Aussage trifft jedoch nur zu, wenn die Märkte effizient und gut strukturiert sind. Wenn dies der Fall ist, dann hat ein Markt­ system viel mehr Möglichkeiten, Informationen und Verhalten in den Marktprozess zu internalisieren.

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Die Schaffung eines gemeinsamen Finanzsektors ist daher ein wichti­ ger Pfeiler für eine gemeinsame Währung. Das Problem der Währungs­ systeme in Europa vor der Einführung des Euro war, dass sie keine ver­ lässliche europaweite Verbindung zwischen Wertaufbewahrungsmittel und Rechnungseinheit/Tauschmittel herstellen konnten. Monetäre In­ stabilität des europäischen Währungssystems war die Folge. Auch heute, nach der Einführung des Euro, ist dieses Problem nicht vollständig ge­ löst, da wichtige Instrumente zur Verbindung von Geld und Finanz­ sektor fehlen, die für die Stabilisierung der Finanzmärkte wichtig wären. Zum Beispiel wird die Stabilität einer nationalen Währung normaler­ weise durch nationale Anleihen gesichert. Auf europäischer Ebene fehlt dieses Instrument jedoch, da es noch keine Euro-Anleihen gibt.

9.3 Die Umstellung auf ein Kapitalmarktsystem in Deutschland Nach der Einführung des Euro blieb die Regulierung des Finanzmarktes bis zur Eurokrise eine nationale Aufgabe. Dies führte zu unterschied­ lichen Entwicklungen in den einzelnen Ländern. Seit den 1960er-Jahren hatte Deutschland ein starkes Netz von Landesbanken aufgebaut, staats­ eigene Banken mit engen Verbindungen zu politischen Entscheidungs­ trägern und zur lokalen Wirtschaft. Mit der Unterstützung der Landes­ banken hofften die deutschen Politiker, eine starke Konkurrenz aufzu­ bauen, um die Macht der deutschen Geschäftsbanken zu brechen. Doch seit den 1990er-Jahren bewertete die Europäische Kommission die staat­ liche Unterstützung für die Landesbanken kritisch, und zu Beginn des neuen Jahrtausends musste Deutschland die Unterstützung für seine Landesbanken einstellen. In der Folge änderten einige deutsche Landes­ banken, insbesondere die WestLB, ihr Geschäftsmodell und investierten in internationale Finanzmärkte, insbesondere in US-Subprime-Kredite und neue Finanzinstrumente wie Asset-Backed-­Securities (abs) und Cre­ dit Default Swaps (cds). Jörg Asmussen, damals Abteilungsleiter im Finanzministerium, be­ schrieb in einem kurzen Artikel für die deutsche „Zeitschrift für das ge­

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samte Kreditwesen“ die deutsche Strategie zur Schaffung eines stärkeren deutschen Kapitalmarktes auf der Grundlage von Abs-Instrumenten (As­ mussen, 2006). Asmussen beschrieb (2006), dass die Notwendigkeit, stärkere Kapitalmärkte (als Ersatz für das Kreditangebot der Banken) zu schaffen, eine direkte Folge der Einführung des Euro ist. Aufgabe der Bundesregierung ist es daher, so Asmussen, einen rechtlichen Rahmen für einen modernen Kapitalmarkt zu schaffen, der es ermöglicht, das na­ tionale Kreditangebot in internationale Finanzkreisläufe zu integrieren. Ein neuer rechtlicher Rahmen würde den deutschen Banken (ins­ besondere den Landesbanken) helfen, ihre derzeitigen Geschäftsmodelle zu ändern. Asmussen unterstreicht, dass die Entwicklung eines starken Abs-­Marktes in Deutschland eine wichtige Säule der neuen Struktur des Finanzsektors in Deutschland ist. Asmussen stellt ausdrücklich fest, dass die Schaffung eines deutschen abs-Marktes eine wichtige Rolle spielte, um die Kreditbeziehungen zwischen deutschen Banken (insbesondere Landesbanken) und mittelständischen Unternehmen aufrechtzuerhalten, nachdem die Europäische Kommission die deutsche Unterstützung für ihre Landesbanken für illegal erklärt hatte (Asmussen, 2006). Die Reform des deutschen Finanzsektors hatte weitreichende Folgen. Die deutschen Banken, insbesondere die Landesbanken, investierten  – getrieben von ihren politischen Führern  – in großem Umfang in den internationalen Abs-Markt und in US-Subprime-Kredite. Aufgrund mangelnder Regulierung vergaben sie auch große Mengen an Kapital an den Süden Europas. Folglich wurden sie nach Ausbruch der Finanzkrise im Jahr 2007 am stärksten getroffen. Da sie ihre Bilanzen rekapitalisieren mussten, floss Kapital von der Peripherie des Eurolandes zurück ins Zen­ trum, was zu einer Kreditklemme in der Peripherie führte (für einen Überblick über die Kapitalströme vor und während der Eurokrise siehe z. B. Merler & Pisani-Ferry, 2012 oder Lane, 2013). Die Eurokrise hat gezeigt, dass einseitige Strategien und nationale Politiken enorme Auswirkungen auf die gesamte Eurozone haben kön­ nen. Griechenland wurde oft vorgeworfen, dass seine unverantwortliche und kostspielige Politik und Haushaltsführung negative externe Effekte auf die gesamte Eurozone hatte. Aber auch der Versuch Deutschlands, seinen Kapitalsektor von einem hauptsächlich bankenorientierten Sys­ tem auf ein Kapitalmarktsystem (basierend auf Finanzinstrumenten wie

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abs) umzustellen, könnte eine wichtige Rolle für die Eurokrise gespielt haben. Dieser Effekt kann auch bei den deutschen Arbeitsmarktreformen beobachtet werden. Die (einseitige) Senkung der deutschen Arbeits­ kosten wird von einigen Ökonomen als wichtige treibende Kraft für die Eurokrise gesehen (z. B. Hall, 2014, S. 1227). Während der Eurokrise entstand ein Konsens darüber, dass solche Reformen auf europäischer Ebene organisiert werden müssen, da alle Europäer betroffen sind. Aus diesem Grund hat die Kommission eine Strategie zur Schaffung einer „Europäischen Kapitalmarktunion“ bis 2019 ausgearbeitet. Dabei muss anerkannt werden, dass der Zugang zu den Kredit- und Finanzmärkten seit der Einführung des Euro ein gemeinsames europäisches Ressourcenproblem ist und daher eine viel engere Form der Zusammenarbeit benötigt. Diese Probleme und der undefinierte Zustand des europäischen Kapitalmarktes zwischen einem bankenbasierten und einem kapital­ basierten System zeigen, dass der „europäische“ Kapitalmarkt noch lange nicht vollendet ist. Es ist daher erstaunlich, dass es die ausdrückliche Strategie der europäischen (und insbesondere der deutschen) Regierun­ gen war, die Anreize der Finanzmärkte zu nutzen, um die nationalen Re­ gierungen zu disziplinieren und die Finanzpolitik europaweit zu ko­ ordinieren, obwohl ein effizienter europäischer Kapitalmarkt, der in der Lage wäre, den gesamten europäischen Markt mit all seinen Akteuren und Informationen zu internalisieren, noch immer nicht vollendet ist.

9.4 Finanzmärkte vor der Krise in Irland, Spanien und Griechenland Ähnliche Entwicklungen fanden auch in anderen Ländern statt. Ich werde hier jedoch nur einen sehr kurzen Überblick darüber geben kön­ nen, wie sich die Kapitalmärkte in den verschiedenen Mitgliedstaaten aufgrund der unterschiedlichen nationalen Kapitalmarktpolitik ent­ wickelt haben. Irland nutzte den europäischen Integrationsprozess, um seine Wirt­ schaft gegenüber dem Kontinent zu öffnen und unabhängiger vom Ver­

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einigten Königreich zu werden. Im Jahr 1973 trat es zusammen mit dem Vereinigten Königreich der Europäischen Gemeinschaft bei. In den 1970er- und 1980er-Jahren begann das Land mit der Umgestaltung sei­ ner Wirtschaft. In den 1990er-Jahren lud Irland US-Unternehmen ein, im Land zu investieren. Das Land deregulierte seinen Bankensektor und senkte seine Unternehmenssteuer von 40 % (1995) auf 12,5 % (2003). Infolgedessen wuchs die irische Wirtschaft zwischen 1994 und 2007 um 4–10 % pro Jahr, und die Staatsverschuldung wurde von 94,2 % im Jahr 1993 auf 24,8 % im Jahr 2007 reduziert (vgl. Donovan & Murphy, 2013, S. 16, 23). Niedrige Zinssätze und deregulierte Banken führten jedoch zu einem Boom des irischen Immobilienmarktes (vgl. Donovan & Murphy, 2013, S. 59–100). Als 2007 die Finanzkrise ausbrach, brach das System zusammen und Irland musste seinen Bankensektor retten. Das Wachs­ tum Irlands wurde durch die Senkung der Kredit- und Regulierungs­ standards und die Öffnung des irischen Finanzsektors für ausländische Direktinvestitionen in großem Umfang finanziert. Diese Politik trug dazu bei, die irische Wirtschaft in eine moderne, global integrierte Wirt­ schaft zu verwandeln. Während der Finanzkrise brach sie jedoch zu­ sammen, was enorme negative Auswirkungen auf den gesamten Euro­ raum hatte. Bereits 1959, noch unter dem Franco-Regime, beschloss Spanien, sein Ziel der wirtschaftlichen Autarkie aufzugeben und öffnete seine Wirt­ schaft mit dem „Plan de Estabilización“. Bis in die 1970er-Jahre ent­ wickelte sich Spanien zu einem Industrieland. Seit dem Übergang zur Demokratie im Jahr 1975 trat Spanien auch internationalen Organisatio­ nen bei; 1986 wurde es Mitglied der EU. Die spanische Wirtschaft wuchs über einen langen Zeitraum hinweg, und viele spanische Unternehmen waren international erfolgreich (Iberia, Zara usw.). Der spanische Boom wurde jedoch durch ausländische Investitionen finanziert. Die niedrigen Zinssätze in Spanien führten zu einer Blase auf dem Immobilienmarkt. Ähnlich wie in Irland brach das System zusammen, als 2007 die Finanz­ krise ausbrach (für einen Überblick über die wirtschaftliche Entwicklung Spaniens und die Eurokrise siehe de la Escosura & Sanz, 1996 sowie Neal & García-Iglesiasd, 2013). Der griechische Fall ist in vielerlei Hinsicht anders. Auch in Griechen­ land endete die Diktatur der Junta erst 1975, und Griechenland trat der

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EU 1981 bei. Allerdings war die wirtschaftliche Transformation in Griechenland nicht so stark wie in Irland oder Spanien. Das Land wurde zwar für ausländische Investitionen geöffnet, aber das Geld wurde haupt­ sächlich in Staatsschulden investiert. Eine enge Verbindung zwischen dem griechischen Bankensystem und der Regierung machte dies mög­ lich. Außerdem verursachte die ineffiziente griechische öffentliche Ver­ waltung Probleme. Das nationale Statistikamt wurde von der politischen Führung beeinflusst und veröffentlichte falsche Zahlen zum BIP-­ Wachstum und zur Staatsverschuldung. Infolgedessen entwickelte sich eine unhaltbare Staatsverschuldung. Doch auch das griechische System brach zusammen, nachdem die Finanzkrise 2007 ausgebrochen war (für einen Überblick siehe z. B. Featherstone, 2011). All diese Beispiele zeigen jedoch, dass die Eurokrise als ein Höhepunkt gesehen werden muss, in dem viele Transformationsprozesse in Europa über Jahrzehnte kulminierten. Es ist daher zu kurz gegriffen, die Euro­ krise auf Fragen der staatlichen Effizienz und der Rettungsaktionen zu re­ duzieren. Sie muss im Rahmen eines umfassenden Modernisierungs­ prozesses in Europa gesehen werden. Die Liberalisierung der Kapital­ ströme in den letzten Jahrzehnten hat in diesem Prozess eine wichtige Rolle gespielt.

9.5 Die externen Effekte eines europäischen Kapitalmarktes Der Aufbau eines europäischen Kapitalmarktes bringt viele Vorteile mit sich, führt aber auch zu einer Reihe von schwerwiegenden externen Ef­ fekten und europaweiten „öffentlichen Missständen“. Externe Effekte treten auf, wenn bestimmte Beziehungen in der Funktion, die das Ver­ halten eines Akteurs beschreibt, nicht angemessen dargestellt werden (z. B. wird die Umweltverschmutzung nicht als Kosten für den Produ­ zenten integriert). In diesem Fall ist es die Aufgabe des Souveräns, den Regelungsrahmen so zu verändern, dass die Faktoren in die Verhaltens­ funktionen der entsprechenden Akteure integriert werden können. Der Staat muss also einige soziale Einrichtungen oder öffentliche Güter schaf­

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fen, damit die Marktmechanismen besser funktionieren. Auf diese Weise kann den externen Effekten begegnet werden. Die Voraussetzung für die Schaffung eines europäischen Kapital­ marktes war die Einführung des Euro und der Europä ischen Zentral­ bank. Die Vereinheitlichung der nationalen Währungssysteme zu einem europäischen System bedeutet, dass sich alle Geschäftsbanken ihr Geld von nur einer Zentralbank zum gleichen Zinssatz leihen. Die „Quelle“ des Kapitals wurde also vereinheitlicht. Die Vereinheitlichung des Zins­ satzes für alle Mitgliedstaaten der Eurozone ist jedoch auch die wichtigste Quelle für mögliche negative externe Effekte. Die Padoa-Schioppa-Gruppe (Padoa-Schioppa Group, 2012, S.  26–30) wies darauf hin, dass die Bereitstellung von Zentralbank­ krediten zu einem einheitlichen Zinssatz insbesondere dann problema­ tisch ist, wenn konjunkturelle Divergenzen bestehen. Vor der Einführung des Euro hatten die nationalen Zentralbanken die Möglichkeit, ihre na­ tionalen Zinssätze je nach Wirtschaftslage anzupassen (obwohl ihr Hand­ lungsspielraum durch das Ziel fester Wechselkurse begrenzt war). Die Zentralbanken konnten also die besondere Situation eines jeden Landes berücksichtigen. Die Entscheidung über den Zinssatz eines Landes wurde beispielsweise grundsätzlich von der Entwicklung der Inflation und in geringerem Maße auch von Überlegungen zum Wirtschaftswachstum und zur Arbeitslosigkeit bestimmt:

ia  iCBa  pa , ra ,ua  und ib  iCBb  pb , rb,ub 



(9.1)

Im Euro-Währungsgebiet haben die Mitgliedstaaten diese Möglichkeit nicht mehr, da der Zinssatz von der EZB für alle Mitglieder zusammen extern festgelegt wird:

ia  b  iCBab  pa , ra ,ua , pb , rb,ub 



(9.2)

Das Problem in einem gemeinsamen Währungsraum ist, dass unter­ schiedliche Inflationsentwicklungen nicht mehr über die Wechselkurse ausgeglichen werden können. Außerdem scheint sich auch die Inflations­ rate nicht angemessen anzupassen. Infolgedessen können gleiche Zins­

9  Externe Effekte eines gemeinsamen Faktormarktes 

285

sätze und unterschiedliche Inflationsraten zu unterschiedlichen Real­ zinsen führen, die nicht den tatsächlichen realen Wechselkurs zwischen zwei Regionen widerspiegeln. Das „one size fits none“-Problem stellt daher ein ernsthaftes Externalitätsproblem dar, da es „negative und sich sogar selbst verstärkende prozyklische Effekte“ hat, die „zu übermäßigen zyklischen Divergenzen und Ungleichgewichten führen“ (Padoa-­ Schioppa Group, 2012, S. 5). Das Problem eines einheitlichen Zinssatzes ergibt sich daraus, dass sich die Preise und Löhne in der Eurozone immer noch nicht gleichmäßig an­ passen. Wie wir oben gesehen haben, sollte, wenn die deutsche Wirt­ schaft boomt und Deutschland einen kumulierten Leistungsbilanzüber­ schuss erzielt, die Inflation in Deutschland nach einiger Zeit ansteigen, so dass sich das gesamte System wieder auf ein Gleichgewicht zubewegt. Das deutsche Preisniveau reagiert jedoch nicht entsprechend der wirtschaftlichen Lage. Die Inflation bleibt sogar niedriger als im Süden, was die Situation noch verschlimmert. Die Padoa-­ Schioppa-­ Gruppe nennt dies das „Primat des Realzinseffekts über den realen Wechselkurs­ effekt“ (Padoa-Schioppa Gruppe, 2012, S. 26–27). Lane hat darauf hingewiesen, dass die Anpassung an einen einheit­ lichen Zinssatz nach der Einführung des Euro für die südlichen Länder viel schwieriger war als für die nordeuropäischen Länder. Die Einführung eines europäischen Zinssatzes hat das Niveau der Realzinsen für alle Mit­ gliedstaaten gesenkt. Länder wie Spanien, Irland oder Griechenland waren jedoch vor der Einführung des Euro an wesentlich höhere Real­ zinsen gewöhnt. Der niedrigere Zinssatz führte in diesen Ländern in den ersten Jahren nach der Einführung des Euro zu einem Kreditboom. Deutschland hingegen hatte mit einem überbewerteten Wechselkurs zu kämpfen und war in den ersten Jahren nach der Einführung des Euro für Kapitalzuflüsse nicht attraktiv. Lane wies jedoch darauf hin, dass der Kreditboom zu einer höheren Inflation und damit auch zu höheren Lohnsteigerungen in den südlichen Ländern führte. Ein Verlust an Wett­ bewerbsfähigkeit war die Folge (Lane, 2006, S.  49–50). Es war dieser Boom des Kapitalzuflusses aus dem Norden in den Süden, der einige Jahre später die Eurokrise auslöste. Seitdem fließt das Kapital wieder in die Kernländer, insbesondere nach Deutschland. Höhere Inflations­

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tendenzen sind in Deutschland jedoch (bisher) nicht aufgetreten. Diese wären normalerweise notwendig, um das System neu zu justieren. Ein weiteres Problem, das auf eine „falsche Internalisierung“ von Marktinformationen zurückzuführen ist, ergibt sich aus der Tatsache, dass alle Mitgliedstaaten der Währungsunion denselben Wechselkurs haben. Bei einer nationalen Währung könnte sich jeder Wechselkurs ent­ sprechend der besonderen wirtschaftlichen Situation des Landes an­ passen (bei einem flexiblen Wechselkurs). In einer Währungsunion wird der Wechselkurs jedoch durch die Wirtschaftsleistung des gesamten Währungsgebiets bestimmt. Steigt der Wechselkurs, weil es z. B. Deutsch­ land wirtschaftlich gut geht, könnte dies zu einem Nachteil für die italie­ nischen Exporteure werden, die ohnehin schon unter einem Verlust an Wettbewerbsfähigkeit leiden. Die Beispiele eines festen Zinssatzes und Wechselkurses für alle Mitglieder der Eurozone zeigen, dass es nicht mehr sinnvoll ist, wirtschaftliche Probleme innerhalb der Eurozone als Inter­ dependenzen zu modellieren, sondern als europaweite Externalitäten.

9.6 Target2 und die Euro-Krise Während der Eurokrise wurde das Target-System zu einem wichtigen Argument für (vor allem deutsche) Ökonomen, um zu argumentieren, dass der Euro zu einem unhaltbaren Ungleichgewicht in Europa geführt hat. Ich werde hier einen Überblick über dieses Argument geben. Auch diese Debatte verdeutlicht, dass die Eurozone eher mit europaweiten Ex­ ternalitätsproblemen als mit wirtschaftlichen Verflechtungen zwischen nationalen Systemen konfrontiert ist.

9.6.1 Von Ziel zu Ziel2 Das TARGET-System wurde 1999 als Interbankenzahlungssystem für den Euroraum eingeführt. In der ersten Phase des TARGET-Systems, die bis 2007–2008 dauerte, baute das System auf den noch bestehenden na­ tionalen Zahlungssystemen auf. Banküberweisungen wurden daher weiterhin auf nationaler Ebene verwaltet; die nationalen Zentralbanken

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waren in der Lage, Kapitalbewegungen innerhalb ihres Landes zu über­ wachen und übermäßige Kapitalbewegungen in andere Länder innerhalb der Eurozone zu melden. Dieses dezentralisierte Zahlungssystem wurde 2007/2008 durch ein echtes supranationales Zahlungssystem der EZB, Target2, ersetzt. Bei Target2 handelt es sich um ein Echtzeit-Bruttoabwicklungssystem (RTGS), was bedeutet, dass jede Transaktion sofort auf europäischer Ebene abgewickelt wird; es gibt keine täglichen Abwicklungen zwischen den nationalen Zentralbanken mehr. Die L änder der Eurozone haben sich dem Target2-System in drei Wellen von November 2007 bis Mai 2008 angeschlossen, um die Zuverlässigkeit des Systems zu testen. Bis 2007 nutzten die Banken das Target-System nur für Großzahlungen. Die nationalen Banken hatten ihre eigenen, privaten Clearingsysteme, Target wurde nur für Überschusszahlungen genutzt. Erst seit der Einführung von Target2 im Jahr 2007 nutzten die Banken das Target-System auch für kleine Zahlungen. Als die Zentralbank Target2 einführte, glaubte sie außerdem nicht, dass große Ungleichgewichte möglich sein würden (Sinn & Wollmershaeuser, 2011, S. 8). Offiziell wurde die Einführung von Target2 nur mit Effizienz- und technischen Überlegungen begründet. Dennoch haben Ulrich Bindseil (Director General Market Operations bei der Ecb) und Phillip König ar­ gumentiert, dass das Target2-System ein „konstituierendes Element der Währungsunion“ ist. Target2 ermöglichte erstmals den direkten und un­ begrenzten Zahlungsverkehr in der gesamten Eurozone (Bindseil & Ko­ enig, 2012, S. 136–137). Laut Garber vereinigt Target2 „unwiderruflich die ehemaligen nationalen Währungen“ zu einer neuen europäischen Währung mit einem europäischen Zahlungssystem (zitiert nach Bindseil & Koenig, 2012, S. 138). Target2 hat also das Zahlungssystem innerhalb des Euroraums von einer eher zwischenstaatlichen zu einer echten supra­ nationalen Organisation gemacht.

9.6.2 Target2 und die Euro-Krise Seit dem Ausbruch der Finanz- und Eurokrise haben die Target2-­ Ungleichgewichte erheblich zugenommen. Vor allem südeuropäische

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Länder liehen sich Geld von der EZB, um Importe aus nordeuropäischen Ländern zu finanzieren. Deutschland und einige andere Länder wurden daher zu Nettokreditnehmern des Target-Systems; Griechenland, Italien, Spanien und andere Länder wurden zu Nettogläubigern. Im Jahr 2011 machte der deutsche Wirtschaftswissenschaftler Hans Werner Sinn das Thema einem breiteren Publikum bekannt (Sinn & Wollmershaeuser, 2011). Bis dahin waren die Target-Salden nur in einigen kleinen Unter­ kapiteln der offiziellen Ecb-Berichte veröffentlicht worden. Die Dis­ kussion über die Bedeutung von Target2 spielte eine wichtige Rolle in der öffentlichen Debatte über die Eurokrise in Deutschland. Sinn argumentierte, dass das Target-Zahlungssystem es den süd­ europäischen Ländern ermöglichen würde, theoretisch unbegrenzte Kre­ dite zu erhalten. Sinn argumentierte, dass Leistungsbilanzdefizite in einem monetären System (einem System mit nationalen Währungen und mehr oder weniger festen Wechselkursen) und Target-Ungleichgewichte in einem gemeinsamen Währungsraum im Grunde dasselbe sind. Das Target-System der EZB würde daher hauptsächlich zur Finanzierung der Kapitalflucht aus dem Süden genutzt und ist als zusätzliche Rettungs­ möglichkeit zu sehen. Der Kredit des Target2-Systems würde für Deutsch­ land verloren gehen, wenn ein südliches Land den Euroraum verlassen sollte (Sinn & Wollmershaeuser, 2011, S. 6–8). Sinn und sein Forschungs­ institut haben einen „Haftungspegel“ entwickelt, der alle möglichen Ver­ bindlichkeiten Deutschlands, vom griechischen Rettungsprogramm über EFSF und ESM bis hin zu den Target-­ Ungleichgewichten, zusam­ menrechnet. Sinn wies aber auch darauf hin, dass nordeuropäische Banken das Geld des Target-Systems nutzten, um Refinanzierungskredite der nationalen Zentralbanken zu reduzieren. Target-Salden wurden somit zu einem Maßstab für die Reallokation von Refinanzierungskapital innerhalb der Eurozone (Sinn & Wollmershaeuser, 2011, S.  17–20). Die Eurokrise kann daher als „Zahlungsbilanzkrise“ verstanden werden und hat damit laut Sinn die gleichen Auswirkungen wie die Bretton-Woods-Krise in den 1970er-Jahren (Sinn & Wollmershaeuser, 2011, S. 15). Sinn weist darauf hin, dass derartige Ungleichgewichte im Zahlungs­ system in den USA nicht möglich gewesen wären, da Defizite regelmäßig

9  Externe Effekte eines gemeinsamen Faktormarktes 

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zwischen verschiedenen Bezirken umverteilt werden, indem Vermögens­ werte übergeben werden. Wenn ein Distrikt nicht in der Lage ist, diese Vermögenswerte zu liefern, ist der Zahlungsausfall des Distrikts die Folge (Sinn & Wollmershaeuser, 2011, S.  27–29). Sinn fordert, Target-­ Ungleichgewichte zu begrenzen, indem ein jährlicher Ausgleich mit Ver­ mögenswerten erzwungen wird, da Deutschland sonst sogar zur Unter­ stützung weiterer Rettungsprogramme oder zur Einführung von EuroBonds erpresst werden könnte. Eine Begrenzung der Target-Salden würde nach Sinn auch einen automatischen Anpassungsmechanismus bewirken: Hätten die Südländer nicht die Möglichkeit gehabt, ihre Leistungsbilanz­ defizite durch Target-Kredite zu finanzieren, so Sinn, wäre die Kredit­ klemme in diesen Ländern noch stärker ausgefallen. Die Wirtschaft wäre noch schneller geschrumpft, Einkommen und Importe wären zurück­ gegangen, was die „Leistungsbilanzdefizite“ reduziert hätte (Sinn & Woll­ mershaeuser, 2011, S. 27).

9.6.3 Kritik an der Zielvorgabe2 Paul de Grauwe und Yuemei Ji haben argumentiert, dass Sinns Argumen­ tation nicht richtig ist, da er grundlegende Erkenntnisse eines modernen Geldsystems nicht anerkennt. Sie argumentieren, dass in einer modernen Fiatgeldwirtschaft die Zentralbank neues Geld ausgibt, indem sie Ver­ mögenswerte auf dem Markt kauft. In einem solchen System ist es nicht wichtig, was mit den von der Zentralbank gekauften Vermögenswerten geschieht; sie „könnte sie buchstäblich vernichten“ (De Grauwe & Ji, 2012, S. 11). Der Grund dafür ist laut de Grauwe, dass der Wert des aus­ gegebenen Geldes nur von seiner Kaufkraft abhängt und nicht von den Vermögenswerten in den Büchern der Zentralbank. Solange die Geld­ menge unter Kontrolle gehalten wird, hat die Vernichtung von Ver­ mögenswerten in der Bilanz der Zentralbank keine Auswirkungen auf die Makroökonomie. Ökonomen sollten sich das System der Eurozone daher nicht als einen Goldstandard oder ein Wechselkurssystem vorstellen, bei dem den Regierungen das Gold oder die Devisen ausgehen können (De Grauwe & Ji, 2012, S. 12). De Grauwe räumt jedoch ein, dass der Er­

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werb von Staatsschulden durch di e Zentralbank „die Natur der Schulden verändert“, da er „frühere Schulden monetarisiert“ (De Grauwe & Ji, 2012, S. 12). Wenn (Staats-)Schulden monetarisiert werden, dann hängt ihr Wert nicht mehr von der Zahlungsfähigkeit des Staates ab, sondern von der Kaufkraft des emittierten Geldes. Solange die Kaufkraft nicht entwertet wird, macht das Zentralbanksystem als Ganzes keine Verluste (De Grauwe & Ji, 2012, S. 12). Darüber hinaus argumentiert de Grauwe, dass die deutsche Zentralbank selbst im Falle eines Auseinanderbrechens der Eurozone keine Verluste aus dem Auseinanderbrechen des Target-­ Systems machen müsste; die Anpassung würde aufgrund der Abwertung in den südlichen Ländern stattfinden und „Gerechtigkeit wird herrschen“ (De Grauwe & Ji, 2012, S. 12). Darüber hinaus würde eine Begrenzung der Target-Ungleichgewichte nur eine künstliche Fragmentierung der europäischen Kapitalmärkte auf­ rechterhalten. Auch Bindseil und König argumentieren, dass „das TAR­ GET-System das Rückgrat der operativen Seite der Währungsunion ist“, und jede Begrenzung würde daher das gesamte System in Frage stellen (Bindseil & Koenig, 2012, S. 138). Außerdem werden dadurch alle An­ passungskosten auf den Süden verlagert. Viel wichtiger wäre es, einen selbsttragenden Anpassungsmechanismus in das europäische Währungsund Zahlungssystem selbst zu implementieren. Wenn die südeuropäischen Volkswirtschaften sich nicht anpassen, um ihre Wettbewerbsfähigkeit zu verbessern, wenn die Arbeitsmigration nicht ausreicht, um einen An­ passungsmechanismus in Gang zu setzen, und wenn Transfers zwischen den Mitgliedstaaten der Eurozone ausgeschlossen werden sollen, dann sollten Inflation und Lohnanstieg/-rückgang das Ungleichgewicht auto­ matisch ausgleichen. Es ist daher wichtig, die Gründe für das Ausbleiben von Inflation und Lohnzuwachs in Deutschland zu ermitteln. Ein weite­ rer Ansatz zur Schaffung eines europaweiten Anpassungsmechanismus könnte daher z. B. auch darin bestehen, europaweite Lohnverhandlungen mit Gewerkschaften und Arbeitgebervertretern zu führen, die die europa­ weite wirtschaftliche Situation berücksichtigen, nicht nur die deutsche/ nordeuropäische (siehe Abschn. 9.7).

9  Externe Effekte eines gemeinsamen Faktormarktes 

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9.6.4 Schaffung einer supranationalen Geldwirtschaft Die Target2-Debatte weist auf einige schwerwiegende institutionelle Mängel hinsichtlich des zwischenstaatlichen oder supranationalen Cha­ rakters der Ecb-Institutionen hin. Die Ecb ist als Bank im Besitz der einzelnen nation alen Zentralbanken. Darüber hinaus werden die Ge­ winne, die die Ecb, auch aufgrund des Target2-Systems, erzielt, an ihre Eigentümer, die nationalen Zentralbanken, übertragen. Es bleibt dann den nationalen Zentralbanken überlassen, was sie mit diesem Geld ma­ chen. Da die Bundesbank ihre Gewinne an den deutschen Haushalt ab­ führt, würde der deutsche Steuerzahler durch Verluste des Target2-­ Systems negativ beeinflusst werden. Die entscheidende Frage ist jedoch, warum es der Bundesbank überhaupt erlaubt sein sollte, Gewinne, die durch den Betrieb des europäischen Währungs- und Zahlungssystems er­ zielt wurden, in einen nationalen (deutschen) Haushalt zu transferieren. Die Federal Reserve Bank of St. Louis zum Beispiel führt ihre Gewinne oder Verluste aus dem Betrieb des US-Zahlungsverkehrssystems nicht an die Haushalte von Missouri oder Kentucky ab. Die Gewinne werden an die Bundeszentralbank in Washington und von dort an den Bundeshaus­ halt überwiesen. Es ist bemerkenswert, dass die Europäische Zentralbank im Besitz ihrer eigenen Unterzentralbanken ist, die (meist) den einzelnen Mitglied­ staaten der Europäischen Union gehören. Diese Konstruktion steht im Widerspruch zu dem supranationalen Charakter, den die EZB eigentlich haben sollte. Es hindert die EZB also daran, die richtige Geldpolitik zu betreiben, die Europa als Ganzes braucht. Die Eigentümer der europä­ ischen Zentralbank (und des europäischen Zahlungssystems) sollten nicht die nationalen Mitgliedsstaaten sein, sondern die europäischen Bürger als Ganzes. Die Gewinne, die mit einem europäischen Zahlungs­ system erzielt werden, sollten auf europäischer Ebene gesammelt und dann an einen europäischen Haushalt überwiesen werden. Dennoch bleibt das Problem bestehen, dass das Target-System eine Art nicht-nachhaltigen Prozess zum Ausdruck bringt. Die Länder des Südens können sich immer mehr Geld von der Zentralbank leihen, um immer mehr Waren zu importieren, ohne so viele Waren zu exportieren, um

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diese Importe zu finanzieren. Die Folge ist also ein Zufluss von immer mehr Fiatgeld in Land A und ein Zustrom von immer mehr Waren in Land B.  In einem Wechselkurssystem oder einem Goldstandardsystem würde sich dieses Problem automatisch lösen. Importe von Land A nach Land B schaffen ein direktes Schuldverhältnis zwischen Land A und Land B. Land B bräuchte also Gold oder Devisen, um Importe aus Land A zu finanzieren. Eine Abwertung macht die Importe teurer und die Exporte billiger, eine automatische Anpassung ist die Folge (Abb. 9.1). In einem Währungsraum mit einem gemeinsamen Zahlungsverkehrs­ system liegen die Dinge jedoch anders. Hier kann sich Land B (theore­ tisch unbegrenzt) Geld von der Zentralbank zu einem festen Zinssatz lei­ hen. Mit diesem Geld kann es die Waren bezahlen, die es von Land A er­ hält. Land A hat nun eine Forderung gegenüber der Zentralbank/dem Zahlungssystem und Land B eine Verbindlichkeit gegenüber der Zentral­ bank/dem Zahlungssystem. Im Falle eines nicht nachhaltigen Zuflusses von Fiatgeld in Land A und nicht nachhaltiger Importe in Land B sind verschiedene Anpassungsverfahren möglich. Sinn hat vorgeschlagen, die Target-Defizite zu begrenzen, wie wir bereits gesehen haben. Dies wird jedoch zu einer Fragmentierung der Kapitalmärkte führen und schwer durchsetzbar sein. Eine andere Option, die derzeit in der Eurozone ver­ folgt wird, ist der Versuch, Land B so wettbewerbsfähig wie Land A zu Zahlung in einem Wechselkursregime NZB A WR A

NZB B Zahlung

WR B

Güter

NZB: Nationale Zentralbank WR: Währungsreserven Abb. 9.1  Zahlungen in einem Wechselkurssystem. NZB: Nationale Zentralbank, CR: Währungsreserven

9  Externe Effekte eines gemeinsamen Faktormarktes 

293

machen, damit es mehr Waren exportieren und seine Schulden zurück­ zahlen kann. Es ist jedoch unwahrscheinlich, dass Griechenland jemals so wettbewerbsfähig wie Deutschland werden wird. Eine andere Möglich­ keit wäre die Migration von Arbeitnehmern aus Land B nach Land A. Dies ist jedoch aufgrund der sprachlichen und kulturellen Barrieren schwierig. Eine weitere Möglichkeit wäre, Transfers auf föderaler Ebene zu organisieren, um die Defizite von Land B zu finanzieren (Abb. 9.2). Wenn all diese Mechanismen nicht funktionieren, dann bräuchte die europäische Geldwirtschaft einen weiteren automatischen Anpassungs­ mechanismus, der eingreifen sollte. Wenn immer mehr Zentralbankgeld aus der Region B in die Region A fließt und die Region A nicht bereit ist, dieses Geld zum Kauf von Waren aus der Region B zu verwenden, dann müsste dieser Zustrom von Fiatgeld eigentlich eine Inflation in Land A verursachen. Infolgedessen würde Land B seine Einfuhren verringern und seine Ausfuhren erhöhen, und das Zahlungssystem als Ganzes würde sich selbst regulieren. Es mag sein, dass es politisch vorzuziehen ist, einen der anderen Anpassungsmechanismen (Strukturreformen, Arbeits­ migration, Transfers usw.) zu nutzen, um die Anpassung zu bewirken. Wenn jedoch alle diese Mechanismen nicht funktionieren, dann sollte der Inflationsmechanismus automatisch greifen. In der Tat stellt auch die Padoa-Schioppa-Gruppe fest, dass die meisten Wissenschaftler vor der Zahlung in einem Währungsraum

ZB hält eine Forderung gg. ZB

RZBA A

Zahlung Güter

hat eine Verbindlichkeit gg. ZB

RZBA B

ZCB: Zentralbank RZBA: Regionale Zentralbank Agentur Abb.  9.2  Zahlungen im Währungsraum. CB: Zentralbank, RCBA: Regionale Zentralbank-Agentur

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Einführung des Euro davon ausgingen, dass „der reale Wechselkurseffekt Vorrang vor dem realen Zinseffekt haben würde und dass sich die in­ ländische Stabilisierung daher automatisch ergeben würde“ (Padoa-­ Schioppa Group, 2012, S.  16). Mit anderen Worten: Änderungen des Preisniveaus sollten den einheitlichen, von der EZB festgelegten Zinssatz entsprechend den Bedürfnissen jeder Region oder jedes Mitgliedstaats „anpassen“. Diese Flexibilität im Preisniveau wird durch einen effizienten europaweiten Markt für Waren und Dienstleistungen erreicht. Die ersten zehn Jahre der WWU haben jedoch gezeigt, dass die Anpassung über den Preiskanal nicht ausreichend ist. Enderelein et al. argumentieren, dass der Grund für diese „unflexiblen Preise“ in der Bedeutung von „räumlich fi­ xierten Faktoren“ liegt, deren Preis nicht auf Veränderungen in anderen Regionen oder Mitgliedstaaten reagiert (Padoa-Schioppa Group, 2012, S. 16). Ein weiterer möglicher Grund könnte sein, dass in Deutschland, im Gegensatz zu den südlichen Ländern, der Sektor der handelbaren Güter viel wichtiger ist als der Sektor der nicht handelbaren Güter. Lane hat gezeigt, dass die Inflationstendenzen im Sektor der nicht handelbaren Güter viel höher sind (Lane, 2006, S. 49–50). Diese Argumente mögen für die ersten Jahre der WWU vor der Euro­ krise zutreffen. Das Ausbleiben der Inflation in Deutschland seit dem Ausbruch der Eurokrise kann jedoch nicht nur mit einem unvollständigen gemeinsamen Markt erklärt werden, wenn man bedenkt, wie viel Geld nach Deutschland zurückgeflossen ist. Die entscheidende Frage ist, was all das Fiatgeld, das aus der europäischen Peripherie kommt, in Deutsch­ land macht. Die Antwort wurde von Hans Werner Sinn gegeben: Es wurde verwendet, um die Refinanzierungskredite der nationalen Zentral­ banken zu reduzieren (Sinn & Wollmershaeuser, 2011, S. 17–20). Mit anderen Worten: Die nationale Zentralbank (Bundesbank) und die deut­ schen Banken verwendeten das Geld, um die deutschen Banken nach der Finanzkrise 2009 zu rekapitalisieren. Dies könnte erklären, warum die deutschen Banken nach 2010 keine ernsthaften Probleme mehr hatten. Hätte Griechenland 2010 Konkurs angemeldet, wäre auch das deutsche Bankensystem zusammengebrochen, ein enormes Rettungsprogramm der deutschen Regierung für ihre Banken wäre notwendig gewesen. Das

9  Externe Effekte eines gemeinsamen Faktormarktes 

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Rettungsprogramm für Griechenland ersetzte ein mögliches Rettungs­ programm für deutsche Banken. Man könnte es auch anders formulie­ ren: Die Eurokrise hat einen Kapitalzufluss nach Deutschland ausgelöst, der zur Refinanzierung deutscher Banken genutzt wurde. Deutschland hat also die Kosten der Finanzkrise auf die südeuropäische Peripherie ab­ gewälzt. Die Target-Defizite stehen für beides: die Kapitalflucht vom Süden in den Norden und einen unhaltbaren Import von Gütern aus dem Norden in den Süden, der unbegrenzt durch Zentralbankkredite fi­ nanziert wird, solange der Zustrom von Geld nach Nordeuropa nicht zu Inflation führt. Was könnte getan werden, um dieses Problem zu lösen? Ein Schritt wäre, wie bereits erwähnt, die europäischen Bürger zu den Eigentümern der Europäischen Zentralbank zu machen und nicht die nationalen Zentralbanken. Die Europäische Zentralbank sollte gegenüber den euro­ päischen Institutionen, zum Beispiel der Europäischen Kommission oder dem Europäischen Parlament, rechenschaftspflichtig sein. Viele and ere Fehler liegen bereits in der Vergangenheit und sind nur schwer zu än­ dern. Im Jahr 2010 hätten Deutschland und Frankreich nicht die griechi­ schen Steuerzahler, sondern die deutschen und französischen Banken ret­ ten sollen. Dann hätten Deutschland und Frankreich ähnliche An­ passungsprozesse durchlaufen müssen wie Griechenland, Spanien oder Irland. Die Gründe, warum die Zentralbankgeldschwemme in Deutsch­ land nicht zu Inflation führt, müssen genauer analysiert werden. Die In­ flation muss als ultima ratio akzeptiert werden, um Anpassungsprozesse in der Eurozone zu erzwingen, wenn andere Mechanismen nicht funktio­ nieren. Die Ziele der Europäischen Zentralbank sollten daher geändert werden, ähnlich wie bei der Fed in den USA; Preisstabilität sollte nicht das einzige Ziel der EZB sein. Dies wäre notwendig, um gleichmäßigere Anpassungsmechanismen zu entwickeln. Der institutionelle Rahmen der Zentralbank sollte nicht den wirtschaftlichen Interessen einzelner Länder dienen, indem bestimmte Anpassungsmechanismen bevorzugt werden. Ein weiterer wichtiger Schritt der automatischen Anpassung wäre die Einführung eines europäischen Lohnverhandlungsprozesses, wie wir im nächsten Abschnitt sehen werden.

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9.7 Gemeinsame Arbeitsmärkte im Euroraum Die Einführung des Euro als gemeinsame Währung hat nicht nur den Kapitalmarkt, sondern auch den zweiten Faktormarkt, den Arbeitsmarkt, beeinflusst. Im Gegensatz zum Kapital ist die Arbeit innerhalb Europas jedoch viel weniger mobil. Es ist daher sehr viel schwieriger, einen „inte­ grierten“ europäischen Arbeitsmarkt zu schaffen. Es sind zwar Ver­ besserungen bei der Mobilität der Arbeitskräfte zu beobachten, aber im Allgemeinen wird die Hauptanpassung auf dem Arbeitsmarkt immer noch durch flexible Löhne erreicht. Die strukturellen Probleme eines nicht integrierten europäischen Arbeitsmarktes führen zu europaweiten Externalitätsproblemen.

9.7.1 Der Nexus zwischen Kapital- und Arbeitsmärkten Die unterschiedliche Entwicklung der Arbeitskosten wird als ein wesent­ licher Grund für die Ungleichgewichte in der Eurozone und damit für die Eurokrise selbst gesehen. Der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung wies in seinem Jahresgutachten 2011 darauf hin, dass die Lohnstückkosten in der europäischen Peri­ pherie deutlich stärker gestiegen sind als in Deutschland. Das Gutachten unterstreicht, dass diese Entwicklung der Nominallöhne nicht die Produktivitätsentwicklung in diesen Ländern widerspiegelt, sondern die Inflationsentwicklung (Sachverstaendigenrat, 2011, S.  86). Die Lohn­ entwicklung wurde jedoch auch durch ineffiziente Kapitalbewegungen in den Euroraum beeinflusst. Diese Kapitalströme wurden häufig nicht zur Herstellung produktiver Strukturen verwendet, sondern flossen in Im­ mobilienblasen (wie in Griechenland oder Irland) oder zur Finanzierung von Staatsschulden (wie in Griechenland). Die Aufgabe bestünde also darin, diese Kapitalströme zur Schaffung produktiver Strukturen zu nutzen. Interessanterweise sind sich Ökonomen vom linken wie vom rechten Flügel einig, dass ein Hauptgrund für die Eurokrise in einer falschen Ent­ wicklung der Löhne und Kapitalströme im Euroraum liegt. Eine Lösung

9  Externe Effekte eines gemeinsamen Faktormarktes 

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könnte daher darin bestehen, die Kapitalströme effizienter zu kanalisie­ ren, indem ein effizienterer Kapitalmarkt geschaffen wird (wie wir in den vorangegangenen Abschnitten gesehen haben) oder indem eine Finanz­ transaktionssteuer eingesetzt wird, um die Kapitalströme stärker zu kon­ trollieren. Ein anderer Ansatz könnte darin bestehen, Investitionen zu „sozialisieren“, wie es John M. Keynes in seiner Allgemeinen Theorie ge­ fordert hat. In Bezug auf die Lohnentwicklung scheint es daher, dass Arbeitgeber und Gewerkschaften „falsche Informationen“ verinnerlichen, wenn sie Lohnerhöhungen aushandeln. Die deutsche Lohnzurückhaltung scheint unbeabsichtigte Folgen für die Nachbarländer Deutschlands gehabt zu haben. Es stellt sich daher die Frage, ob die Lohnverhandlungen in einer europäischen Währungsunion nach einem anderen Muster ablaufen müssen als in einem „nationalen“ Wirtschaftssystem.

9.7.2 Eine zentralere Lohnverhandlung? Collignon argumentierte, dass die Schaffung eines europäischen Währungsraums, eines wirtschaftlichen „Eurolands“, auch Einfluss da­ rauf hat, wie die Lohnverhandlungen in den Mitgliedstaaten des Euro­ gebiets geführt werden sollten. Vor der Einführung des Euro, mit natio­ nalen Währungen und Wirtschaftssystemen, habe die „Goldene Regel in Europa“ gelautet, dass die Nominallöhne mit der Arbeitsproduktivität steigen sollten. Collignon weist darauf hin, dass diese Regel in einem Währungsraum nicht mehr gilt, „weil sie zwar die Gewinnspannen stabi­ lisiert, sich aber nicht an Veränderungen der Kapitalproduktivität an­ passt“ (Collignon, 2012, S. 10). Collignon entwickelt ein neues Modell, das die Gleichgewichts-Lohnstückkosten unter der Annahme europaweit gleicher Kapitalrenditen ermittelt. Wenn die Kapitalmärkte im Euro­ raum effizient arbeiten, dann sollte die Kapitalrendite überall im Euro­ raum gleich sein (Collignon, 2012, S. 101). R

Py  wL Pk K

(9.3)

298 

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Dabei ist R die europaweite Kapitalrendite, Py der nominale Output, wL die nominalen Lohnkosten und Pk K der nominale Wert des Kapitals. Außerdem definiert Collignon die durchschnittliche Kapitaleffizienz (ACE) wie folgt: k

P y  Pk K

(9.4)

Die Rendite kann auch als das Produkt aus dem Gewinnanteil Py  wL k  und ACE (k) ausgedrückt werden, woraus sich folgen­ Py des ergibt: R  kk 



Py  wL Py  Py  wL  Py Py  wL    Py Pk K PyPk K Pk K

Py wL  Py  wL  Py  ULC  k  1  1     Py  Pk K  P  Pk K Pk K  Py 

(9.5)

wL wobei die Lohnstückkosten (ULC) sind. Die Kapitalrendite hängt y also nach Collignon vom ACE ab, d. h. von der Produktivität des Kapi­ y tals oder davon, ob die Preise für Kapitalgüter weniger stark steigen K P als das allgemeine Preisniveau . In einem Währungsraum mit effizien­ Pk ten Kapitalmärkten und fragmentierten Arbeitsmärkten wird die Kapital­ rendite im gesamten Währungsraum gleich sein, während Preisniveau (P), Löhne (w), Lohnstückkosten (LSt) und „Arbeitsrendite“ von Land zu Land unterschiedlich sein können. Wir können daher für Land A und B schreiben:



 ULC A   ULC B RA  RB   1  k   A 1  PA  PB  

  kB 

(9.6)

9  Externe Effekte eines gemeinsamen Faktormarktes 

299

und daher:



 wA L A   wB L B 1   kA  1  PA ya  PB  

   kB  kB   KA   KB kA 

(9.7)

Collignon kommt zu dem Schluss, dass „im Gleichgewicht die Unter­ schiede in den Lohnanteilen die relativen Wertproduktivitäten des Kapi­ tals widerspiegeln müssen“ (Collignon, 2012, S. 101). Mit anderen Worten: In einem europäischen Währungsraum muss die Lohnentwicklung die Auswirkungen der Kapitalströme widerspiegeln, die durch den neu geschaffenen europäischen Kapitalmarkt verursacht wurden. Vor der Einführung des Euro konnten sich die Gewerkschaften bei ihren Lohnforderungen an der Veränderung der Arbeitsproduktivität orientieren, da die Auswirkungen der Kapitalströme durch den Wechsel­ kurs bereinigt wurden. In einem Währungsraum ist dies jedoch nicht mehr möglich. Die Auswirkungen der Kapitalströme müssen daher auch durch einen Lohnkorridor internalisiert werden. Der Grund dafür ist wiederum, dass sich die Arbeitsmärkte viel lang­ samer anpassen werden, weil die Mobilität der Arbeitskräfte viel lang­ samer ist als die des Kapitals. Während die Kapitalrendite aufgrund des effizienten Kapitalverkehrs in ganz Europa (wohl) gleich sein wird, kann die Arbeitsrendite nur durch unterschiedliche Lohnentwicklungen aus­ geglichen werden. Dies bedeutet, dass sich die Lohnverhandler anstelle der Arbeitsproduktivität an der Differenz zwischen den tatsächlichen und den Gleichgewichts-Lohnstückkosten orientieren sollten (Collig­ non, 2012, S. 10). Dieser Ansatz kann zu völlig unterschiedlichen Verhaltensweisen der Lohnverhandler führen. Wenn die Zinssätze gesenkt werden und die Kapitaleffizienz sinkt, wird die Arbeitseffizienz normalerweise steigen. In einem Währungsgebiet könnte in dieser Situation jedoch Lohnzurück­ haltung statt Lohnsteigerung erforderlich sein, so Collignon. Der Anstieg der Löhne während der Niedrigzinsphase in den Jahren vor der Eurokrise könnte tatsächlich zu einem Verlust der Wettbewerbsfähigkeit in Süd­ europa geführt haben. Um dieses Ziel zu erreichen, schlägt Collignon „zentralere Lohnverhandlungen durch eine sektorübergreifende Ko­

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ordinierung der Löhne, eine Ausweitung der Tarifverhandlungen und eine Stärkung der Gewerkschaften“ vor (Collignon, 2012, S.  10). Die Gewerkschaften sollten daher zu einem Wegbereiter einer europäisierten Geldwirtschaft werden. Die Notwendigkeit einer stärkeren Zentralisierung der Lohnver­ handlungen, bei der die Verhandlungsführer europaweite Entwicklungen des Kapital- und Arbeitsverkehrs berücksichtigen, zeigt einmal mehr, dass es in einer integrierten europäischen Geldwirtschaft nicht mehr sinnvoll ist, Interdependenzen zwischen nationalen Wirtschaftssystemen zu modellieren. Vielmehr ist es sinnvoll, die Externalitätsprobleme eines europaweiten Währungssystems und eines europäischen Kapitalmarktes zu modellieren und die richtigen (europäischen) Institutionen zu definie­ ren, um mit diesen Externalitätsproblemen umzugehen.

9.8 Was kann getan werden, um diese externen Effekte zu überwinden? In den vorangegangenen Abschnitten habe ich eine Reihe von Problemen mit externen Effekten beschrieben, die durch die wirtschaftliche und ins­ besondere monetäre Integration in Europa entstanden sind. Nun werde ich einige mögliche Lösungen aufzeigen, die dazu beitragen könnten, diesen externen Problemen zu begegnen. Was die Probleme eines einheit­ lichen Zinssatzes betrifft, so macht die Padoa-Schioppa-Gruppe zwei Vorschläge, die die Externalitätsprobleme überwinden sollen. Der erste Vorschlag besteht darin, den gemeinsamen Markt zu vervollständigen, um den realen Wechselkurskanal zu stärken. Dies wird dazu beitragen, dass interne Abwertungen durch Preis- und Lohnänderungen möglich werden. Es wird jedoch lange dauern, bis dieses Ziel erreicht ist. In der Zwischenzeit könnte der zweite Vorschlag helfen: Ein Versicherungs­ fonds für konjunkturelle Anpassungen könnte eingerichtet werden, um Ungleichgewichten zu begegnen, die durch die beschriebenen Externali­ täten des europäischen Kapitalmarktes verursacht werden (Padoa-­ Schioppa Group, 2012, S. 28–30). Darüber hinaus wären stärkere euro­ päische Institutionen, insbesondere ein größerer EU-Haushalt, erforder­ lich, um den Auswirkungen europaweiter externer Effekte zu begegnen.

9  Externe Effekte eines gemeinsamen Faktormarktes 

301

9.8.1 Fehlende Umverteilung auf europäischer Ebene Mit dem gemeinsamen Markt hat Europa einen institutionellen Rahmen geschaffen, um komplexe Produktionsketten innerhalb Europas zu orga­ nisieren. Was jedoch noch fehlt, ist ein adäquater Umverteilungs­ mechanismus auf europäischer Ebene, um den Externalitätsproblemen zu begegnen, die ein gemeinsamer europäischer Markt schafft. In den na­ tionalen Volkswirtschaften erfolgt die Umverteilung der Marktergebnisse durch einen bedeutenden öffentlichen Sektor. In westlichen Volkswirt­ schaften macht der Marktbereich „nur“ zwischen 50 und 70 % der ge­ samten Wirtschaft aus, die anderen 30–50 % sind Staatsausgaben (Daten: IMF, 2019). Gesamtausgaben des Staates in Prozent des BIP 2017 USA Deutschland Frankreich Japan EU-Durchschnitt

34,79 % 43,93 % 56,47 % 37,42 % 45,31 %

Der Unterschied liegt jedoch in der Höhe der öffentlichen Ausgaben. Während der Bundeshaushalt und die Sozialversicherung im Jahr 2017 in den USA 20,8 % des BIP ausmachten, lag die Quote in Deutschland bei 31,6 % und in Frankreich sogar bei 49,3 %. Der Haushalt der EU macht nur etwa 1 % des Bruttonationaleinkommens (BNE) aus.1 Diese Zahlen sind wichtig, weil die Ausgaben der Zentralregierung wichtige Gleich­ gewichtsfunktionen haben. Wenn der Markt von einem wirtschaftlichen Schock getroffen wird und es einer Region wirtschaftlich schlechter geht, wirken sinkende Steuereinnahmen und steigende Ausgaben aus nationa­ len Quellen (Haushalt + Sozialversicherung) wie ein automatischer Stabi­ lisator. Auf dem europäischen Markt funktioniert dieser Stabilisator je­ doch nicht, da es keinen bedeutenden europäischen Haushalt und kein europäisches Sozialversicherungssystem gibt.  Quellen: Für Deutschland/Frankreich (Eurostat, 2019), für den EU-Haushalt (Europäische Kom­ mission, 2018, S. 10) und für den US-Haushalt (COB, 2017, S. 4) sowie eigene Berechnungen. 1

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Ausgaben des Zentralstaats in % des BIP Soziale Sicherheit Insgesamt

USA

GER

FR

EU

14,1 %  6,7 % 20,8 %

12,5 % 19,1 % 31,6 %

23,2 %a 26,1 %* 49,3 %

1,0 %b 0,0 % 1,0 %

Vorläufig In % des Bruttonationaleinkommens gemäß dem Mehrjahresrahmen 2014–2020

a

b

In Europa findet daher im Gegensatz zu anderen Marktwirtschaften keine Umverteilung auf der Ebene des gemeinsamen Marktes statt. Der Haushalt der Europäischen Union ist daher nicht in der Lage, die Mit­ glieder der gemeinsamen Märkte zu entschädigen, die unter den europa­ weiten externen Effekten leiden, die ein gemeinsamer Markt schafft. Dies kann zu sozialer Ungerechtigkeit in Europa führen. Ökonomisch gesehen könnte die Einführung europaweiter Steuern gerechtfertigt sein, um externe Probleme zu lösen, die durch den ge­ meinsamen Markt entstehen. Allerdings muss geklärt werden, wem die Einnahmen aus einer solchen Steuer zufließen sollten. Es könnte bei­ spielsweise argumentiert werden, dass die Einnahmen aus einer Steuer, die eingeführt wurde, um europäische Externalitäten zu bekämpfen, zur Finanzierung eines europäischen Haushalts erhoben werden sollten (für einen genaueren Überblick über dieses Argument siehe Abschn. 9.8). Eine Pigouv-Steuer könnte auch eine mögliche Lösung für das Pro­ blem der Kapitalkonzentration und ihrer positiven externen Effekte auf die lokale Industrie sein. Eine Steuer auf kapitalintensive Industrien und Wirtschaftscluster könnte eingeführt werden, um Prämien für Industrien zu finanzieren, die unter der Kapitalkonzentration leiden. Ein Beispiel wäre die Besteuerung kapitalintensiver Exportindustrien in Nordeuropa zur Subventionierung von Industrien nicht handelbarer Güter in der Peripherie.

9.8.2 Versicherungssystem Der Versicherungsfonds für konjunkturelle Anpassungen sollte nach An­ sicht der Padoa-Schioppa-Gruppe außerhalb des EU-Haushalts gehalten, von den nationalen Finanzministern finanziert und von den nationalen

9  Externe Effekte eines gemeinsamen Faktormarktes 

303

Parlamentariern kontrolliert werden. Die Versicherung sollte so gestaltet werden, dass sie zu einem Nullsummenspiel ohne langfristige Transfers wird. Länder werden profitieren, wenn ihre Wirtschaft im Verhältnis zur Leistung der anderen Länder schwach ist. Ein Land muss jedoch in den Jahren in die Versicherung einzahlen, in denen es wirtschaftlich besser dasteht als die anderen (Padoa-Schioppa Group, 2012, S. 30–32). Der Vorschlag einer „Versicherung“ ist insofern vielversprechend, als er ein guter Kompromiss zwischen intergouvernementalistischen und supranationalistischen Ansätzen zu sein scheint. Selbst konservative deut­ sche Politiker und Ökonomen könnten zustimmen, dass eine solche „Versicherung“, wenn es sich nicht um einen langfristigen Transfer­ mechanismus handelt, wirtschaftlich notwendig und verfassungsrecht­ lich unproblematisch ist. Ob eine solche Versicherung jedoch wirklich funktionieren wird, ist unklar. Wenn die Preise und Löhne starr bleiben, dann könnten die deutschen Überschüsse sogar dauerhaft sein. In diesem Fall ist eine Nullsummenversicherung auf lange Sicht nicht möglich. Da­ rüber hinaus könnte man argumentieren, dass die Bezeichnung „Ver­ sicherung“ irreführend ist, da die wirtschaftlichen Probleme system­ immanent sind; es handelt sich nicht um einen externen Schock wie eine Naturkatastrophe. Außerdem braucht Europa europäische Institutionen, die von den europäischen Bürgern demokratisch legitimiert sind. Diese können nicht durch ein Versicherungssystem bereitgestellt werden. Eine europäische Konjunkturausgleichsfazilität sollte auf europäischer Ebene finanziert und demokratisch kontrolliert werden. Er könnte durch eine europäische Steuer finanziert und vom Europäischen Parlament (oder einem Euro­ land) kontrolliert werden. Allerdings könnte die Einführung einer euro­ päischen Steuer in der Tat eine schwierige Aufgabe sein. In der Zwischen­ zeit könnte es daher auch sinnvoll sein, die europäische Konjunkturaus­ gleichsfazilität aus den Gewinnen der Ecb zu finanzieren. Die Gewinne der EZB stammen aus ihrer Geldschöpfung, d. h. aus dem monopolisier­ ten Angebot von Zentralbankkrediten. Sie gehören den europäischen Bürgern. Es ist daher nur gerecht, daß die Gewinne aus diesem Kredit­ angebot zur Finanzierung eines Fonds verwendet werden, der die ex­ ternen Effekte eines europäisierten Kapital- und Kreditmarktes auffängt.

304 

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9.8.3 Europäische Arbeitslosenversicherung Eine europäische Arbeitslosenversicherung ist ein ähnliches Konzept, da sie unterschiedliche europaweite konjunkturelle Entwicklungen inner­ halb der Eurozone internalisiert und eine Anpassungsfunktion an kon­ junkturelle Trends hat. Eine europäische Arbeitslosenversicherung könnte daher ein nützliches Instrument sein, um europaweite Externalitätspro­ bleme in Europa zu lösen. Außerdem dürfte es auch bei einer europä­ ischen Arbeitslosenversicherung keine größeren verfassungsrechtlichen Probleme in einzelnen Ländern geben, da die Versicherung nicht als Ver­ teilungstransfer angesehen wird.

9.8.4 EU-weiter Anlageprodukte für Privatkunden und Euro-Anleihen Lanoo hat darauf hingewiesen, dass ein wichtiger Schritt zur Über­ windung der Fragmentierung der europäischen Kapitalmärkte die Schaf­ fung „portabler EU-weiter Anlageprodukte für Privatkunden“ wäre (Lanoo, 2015, S. 7). Derzeit gibt es laut Lanoo auf europäischer Ebene keine „gut diversifizierten und stabilen Anlageprodukte“, wie sie auf na­ tionaler Ebene in Form von Lebensversicherungs- oder Pensionsfonds­ produkten existieren. Lanoo weist jedoch darauf hin, dass sie durch Ver­ briefung verschiedener nationaler Produkte geschaffen werden könnten. Das gleiche Problem besteht auch auf den Anleihemärkten. Anleihen werden von nationalen Staaten ausgegeben, und jedes Land gibt seine eigenen Anleihen aus. Der zersplitterte Anleihemarkt ist Teil der „Nobail-­out“-Regel, die im Vertrag von Maastricht verankert wurde. Jedes Land sollte für seinen eigenen Haushalt verantwortlich sein. Der Markt sollte zwischen der finanziellen Situation der verschiedenen Länder unterscheiden. Wenn ein Land dazu neigt, mehr Schulden zu machen, sollte es auch eine höhere Risikoprämie zahlen. Euro-Anleihen, so das Argument, würden den Anreiz für die Länder des Südens verringern, auf ihre Haushalte zu achten. Andernfalls würden die nördlichen Länder hö­ here und die südlichen Länder niedrigere Zinsen zahlen.

9  Externe Effekte eines gemeinsamen Faktormarktes 

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Nach dem Ausbruch der Finanzkrise waren viele Anleger auf der Suche nach „sicheren Häfen“, in denen sie ihr Geld „parken“ können. Normaler­ weise sind Anleihen ein sicherer Hafen, da sie durch den Staat eines Lan­ des abgesichert sind. Da es jedoch keine „europäischen“ Anleihen gibt, müssen die Anleger nach nationalen „sicheren Häfen“ suchen, d. h. nach Anleihen eines Landes mit einer starken Wirtschaft und einem großen Anleihemarkt. Die Niederlande und Finnland mögen starke Volkswirt­ schaften sein. Sie verfügen jedoch nicht über tiefe Anleihemärkte, da diese Länder relativ klein sind. Italien und Spanien verfügen über tiefere Anleihemärkte; ihre Volkswirtschaften wurden jedoch von der Finanzund Eurokrise schwer getroffen. Daher waren italienische und spanische Anleihen eine riskante Investition. In dieser Situation waren nur deut­ sche (und vielleicht französische) Anleihen ein echter „sicherer Hafen“. Viele Anleger, die nach einem sicheren Hafen in Europa suchten, schich­ teten ihr Geld aus dem Süden in deutsche Anleihen um. Infolgedessen hat das deutsche Forschungsinstitut IWH berechnet, dass Deutschland aufgrund der niedrigeren Zinssätze während der Eurokrise bis zu 100 Mrd. € gespart hat (IWH, 2015). Das ist mehr als die deutschen Ga­ rantien für griechische Schulden, die sich auf rund 90 Mrd. € belaufen. Der Bericht kommt zu dem Schluss, dass Deutschland selbst dann, wenn Griechenland kein Geld zurückzahlt, zu den Gewinnern der Eurokrise gehören würde. Das Kalkül, das in der „No-Bail-Out“-Regel enthalten ist, dass die na­ tionalen Regierungen nur für ihre eigenen finanzpolitischen Ent­ scheidungen verantwortlich und haftbar sein sollten, ist daher in einer Krise nicht zutreffend. Deutschland hat aus den Fehlern, die in Griechen­ land und anderen Ländern gemacht wurden, einen großen Vorteil ge­ zogen. Dieser Vorteil war größer als die Belohnung, die es normalerweise für eine stabilere Finanz- und Wirtschaftspolitik als andere Länder hätte erhalten müssen. Deutschland profitierte also von einer positiven Exter­ nalität, die durch die Krise in der Peripherie verursacht wurde. Hätte es Euro-Anleihen als Alternative gegeben, hätten viele Anleger in Euro-An­ leihen anstelle von deutschen Anleihen investiert. Dies hätte die Möglich­ keit geboten, die Gewinne, die der Staat durch das „Safe Harbor“-Verhal­ ten der Marktteilnehmer erhält, gerecht auf die verschiedenen Mitglied­ staaten der Eurozone zu verteilen.

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9.8.5 Eine europäische Tobin-Steuer zur Kontrolle europäischer Kapitalflüsse Eine weitere Möglichkeit, unkontrollierte Kapitalströme innerhalb des europäischen Kapitalmarktes zu begrenzen, könnte die Einführung einer europaweiten Transaktionssteuer (die sogenannte Tobin-Steuer) sein, um europaweite Kapitalströme zu kontrollieren. Die europäischen Kapital­ verkehrskontrollen sollten nicht abgeschafft werden, sondern durch eine solche Steuer ersetzt werden. Die Einnahmen aus einer solchen Steuer könnten zur Finanzierung eines europäischen Haushalts verwen­ det werden.

9.8.6 Weiterentwicklung des Geldbegriffs Langfristig könnte es darüber hinaus notwendig sein, unser Konzept von Geld und Geldwirtschaft im Allgemeinen zu überdenken. Es könnte sein, dass nicht der Euro selbst scheitert, wie viele Ökonomen argumen­ tieren, sondern vielmehr unser Konzept von Geld und was Geld ist. Im Zuge des Wandels von einer industrialisierten Volkswirtschaft zu einer europäischen – oder sogar globalen – Wissenswirtschaft könnte es not­ wendig sein, die soziale Institution „Geld“ anzupassen. Zum jetzigen Zeitpunkt dürfte es schwierig sein, zu beschreiben, wie ein solches neues Konzept aussehen könnte. Nichtsdestotrotz gibt es bereits einige neue Konzepte, und die anhaltenden Schwierigkeiten der Zentralbanken, die traditionelle Geldpolitik anzuwenden, könnten darauf hindeuten, dass wir schon sehr bald unsere Sicht auf das Geld anpassen müssen, um die aktuelle Krise zu überwinden.

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10 Was treibt die europäische Integration an?

In der Einleitung haben wir gesehen, dass Politikwissenschaft und Wirt­ schaftswissenschaft unterschiedliche Ansätze zur Erklärung der europä­ ischen Integration entwickelt haben. In den Wirtschaftstheorien wurde das Argument entwickelt, dass die wirtschaftliche Integration zu Pare­ to-optimalen Wohlfahrtsgewinnen führen kann. Die „ökonomische“ Le­ gitimation für die europäische Integration lautet daher einfach, dass sie den Nutzen für alle Beteiligten optimiert. In der Politikwissenschaft wurden verschiedene Denkschulen entwickelt. Der Realismus betont, dass Staaten souverän und unabhängig sind. In diesen Theorien spielen geopolitische Überlegungen eine größere Rolle; sie sind eine wichtige Triebkraft, die das Verhalten von Staaten erklärt. Staaten streben in erster Linie nach Sicherheit und Macht, während wirtschaftliche Überlegungen zweitrangig sind. Andere Theorien, wie der Neofunktionalismus und der liberale Intergouvernementalismus, versuchten, wirtschaftliche und geo­ politische oder realistische Annahmen miteinander zu verbinden. Der Neofunktionalismus vertrat die Auffassung, dass es möglich ist, durch wirtschaftliche Integration eine politische Gemeinschaft zu schaffen. Der liberale Intergouvernementalismus betonte einerseits die realisti­

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Nature Switzerland AG 2023 T. Zimmermann, Europäischer Republikanismus, https://doi.org/10.1007/978-3-031-44091-5_10

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schen Annahmen, dass Staaten souverän sind und die Hauptakteure der Integration sind. Auf der anderen Seite wird jedoch argumentiert, dass die nationalen Regierungen mehr oder weniger einer wirtschaftlichen Logik folgen. Integration findet statt, wenn sie wirtschaftliche Vorteile für den Nationalstaat verspricht. Moravcsik vertrat sogar die Ansicht, dass geopolitische Überlegungen nur zweitrangig sind und nur dann be­ rücksichtigt werden, wenn wirtschaftliche Fragen nicht dominieren (siehe Kap. 4). Wie wir jedoch in Abschn. 4.1 gesehen haben, wurde der neofunktionalistische Ansatz von Haas ernsthaft in Frage gestellt, nach­ dem de Gaulle das Amt des französischen Präsidenten übernommen hatte und eine wesentlich „realistischere“ Politik der europäischen Inte­ gration verfolgte. Andrew Moravcsiks liberaler Intergouvernementalismus stieß an seine Grenzen, als die Eurokrise die Existenz der europäischen Integration selbst untergrub und als Sicherheitsfragen wie der Ukrai­ ne-Konflikt 2014 und die Flüchtlingskrise 2015 den Diskurs zu domi­ nieren begannen. In diesem Kapitel werde ich zeigen, dass die Hierarchie der ineinander greifenden sozialen Institutionen und öffentlichen Güter eine elegante Möglichkeit bietet, ökonomische Rationalität mit den Erkenntnissen der geopolitischen Politikanalyse zu verbinden. Nach dieser Hierarchie ist die Sicherheit das erste öffentliche Gut, das der Souverän bereitstellen muss. Die Wirtschaftsverfassung mit all ihren sekundären öffentlichen Gütern und Institutionen wird erst in einem zweiten Schritt entwickelt. Die Furcht vor Dominierung und Macht ist also die erste und wich­ tigste Triebfeder der europäischen Integration (oder besser gesagt, der Schaffung einer politischen Gemeinschaft). Der wirtschaftliche Vorteil kommt erst später ins Spiel, wenn der Souverän sich Gedanken darüber macht, wie er eine funktionierende Wirtschaft für private Güter schaf­ fen kann. In der Geschichte der europäischen Integration ist diese Reihenfolge der öffentlichen Güter jedoch durcheinander geraten. Viele Probleme der europäischen Integration lassen sich durch diese Ver­ wirrung darüber erklären, was die europäische Integration wirklich antreibt.

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10.1 Europäische Integration: Eine verworrene Hierarchie? Das Konzept einer Hierarchie ineinandergreifender sozialer Institutionen und öffentlicher Gütern kann helfen, die Probleme der europäischen In­ tegration zu verstehen. Ein solider Ausgangspunkt für die Schaffung der europäischen Einheit nach dem Zweiten Weltkrieg wäre die Schaffung einer gemeinsamen europäischen Armee gewesen. Mit der Ablehnung der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft durch die französische Nationalversammlung im Jahr 1954 und der Konzentration der europä­ ischen Integration auf wirtschaftliche Fragen ist die Hierarchie der in­ einandergreifenden sozialen Institutionen und öffentlichen Güter im Falle der europäischen Integration durcheinander geraten (siehe Abschn. 10.1.3). Darüber hinaus ist es interessant, dass in der westlichen Welt das erste öffentliche Gut, das ein Souverän bereitstellen muss, auf verschiedenen Ebenen angesiedelt ist. Während das (interne) Gewalt­ monopol nach wie vor auf nationaler Ebene organisiert ist, ist die zweite Aufgabe, die Verteidigung gegen äußere Bedrohungen, auf mehreren Ebenen organisiert: teils national (durch nationale Armeen) und teils zwischenstaatlich (durch die NATO und gemeinsame europäische Insti­ tutionen). Gemäß der Hierarchie der ineinandergreifenden sozialen Institutionen und öffentlichen Güter muss eine Analyse über eine fehlerhafte Kon­ struktion der Institutionen der Europäischen Union daher mit einer Analyse darüber beginnen, wie die öffentlichen Güter der Hierarchie der sozialen Institutionen und öffentlichen Güter bereitgestellt werden. Es besteht vor allem eine gewisse Verwirrung über den Zusammenhang ­zwischen dem öffentlichen Gut „gemeinsame Verteidigung“ und dem Wirtschaftssystem. Europas Weg zu einer wirklichen Föderation ist daher wegen der unzureichenden Schaffung des „ersten“ öffentlichen Gutes, nämlich einer gemeinsamen europäischen Sicherheits- und Verteidigungs­ strategie, ins Stocken geraten. Die Schaffung einer hybriden föderal-­ funktionalen „Europäischen Union“, die hauptsächlich durch wirtschaft­ liche Integration angetrieben wird, wurde erst erfunden, nachdem die mi­ litärische Integration gescheitert war.

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Warum die militärische Integration nach dem Zweiten Weltkrieg ge­ scheitert ist, soll hier nicht im Detail erörtert werden; es mag durchaus sein, dass Europa kurz nach dem Zweiten Weltkrieg aus vielen Gründen noch nicht zu diesem Schritt bereit war. In diesem Kapitel möchte ich je­ doch auf einige wichtige Zusammenhänge zwischen dem „ersten“ öffent­ lichen Gut Verteidigung und dem zweiten öffentlichen Gut Wirtschaftsverfassung hinweisen. Ein genaueres Verständnis der Probleme bei der Bereitstellung öffentlicher Güter auf dieser ersten Ebene der Bereit­ stellung öffentlicher Güter ermöglicht es, die Auswirkungen auf die Bereitstellung öffentlicher Güter auf der nächsten Ebene  – dem Wirt­ schaftssystem  – zu verstehen. Das Wissen um diese Zusammenhänge könnte dazu beitragen, das Bewusstsein dafür zu schärfen, dass es sinn­ voll sein könnte, eine stärkere militärische Integration in Europa anzu­ streben, um Europa wieder auf den richtigen Weg zu bringen. Dennoch sollten gewisse Gefahren eines militärisch geeinten Europas für den Welt­ frieden bedacht werden (siehe Mitranys Argumentation in Abschn. 3.1.1). In den folgenden Abschnitten werde ich zeigen, wie die Hierarchie der ineinandergreifenden sozialen Institutionen und öffentlichen Güter im Falle der Schaffung einer europäischen politischen Union durcheinander gebracht wurde. Ich werde aufzeigen, welche Folgen dies für die europä­ ische Integration hatte. Das Bretton-Woods-Abkommen von 1944 spielte eine wichtige Rolle. Es bestimmte den wirtschaftlichen Rahmen der internationalen Beziehungen (im Westen) und „störte“ die Schaffung einer rein europäischen Sicherheitsarchitektur. Wirtschaftliche Fragen wurden vor sicherheitspolitischen Fragen festgelegt. Das Hauptziel des Bretton-Woods-Abkommens bestand in der Tat darin, die Bildung regio­ naler Blöcke zu untergraben, die als große Bedrohung für den Welt­ frieden angesehen wurden (siehe auch das Argument von Mitrany in Abschn. 3.1.1).

10.1.1 Zuerst Schritt Drei: Ein internationales Währungssystem Der erste Schritt, der zur Vorbereitung der Nachkriegsordnung unter­ nommen wurde, war die Schaffung einer internationalen Währungs­

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architektur, was die dritte Stufe in der Hierarchie der ineinandergreifender sozialen Institutionen und öffentlichen Güter gewesen wäre. Das Bret­ ton-Woods-Abkommen, das 1944 vor allem zwischen den USA und dem Vereinigten Königreich ausgehandelt wurde und dem sich 44 Länder an­ schlossen, sollte eine neue internationale Wirtschaftsordnung für die Nachkriegszeit schaffen, die einige Vorteile des Goldstandards in sich ver­ eint und gleichzeitig dessen gravierendste Mängel behebt. Die neue Welt­ wirtschaftsordnung sollte den Teufelskreis der Währungsbewertungen, wie sie in den 1930er-Jahren auftraten, verhindern. Das Abkommen von Bretton Woods wurde bereits im Sommer 1944 ausgehandelt, ein Jahr vor Kriegsende und lange bevor andere Nach­ kriegsinstitutionen (wie die NATO, der Europarat oder sogar die Römi­ schen Verträge) eingerichtet wurden. Diese Tatsache unterstreicht die Bedeutung des allgemeinen Währungsrahmens. Währungspolitische ­ Entscheidungen wurden also getroffen, bevor andere politische Ent­ scheidungen getroffen wurden. Die Ursprünge des Abkommens von Bretton Woods liegen viel tiefer. Seit den 1930er-Jahren baute der amerikanische Finanzminister Henry Morgenthau im Finanzministerium eine Gruppe von Experten für inter­ nationale Wirtschaft auf. Führende Persönlichkeiten dieser Gruppe waren Jacob Viner und Harry D. White (Ikenberry, 1993, S. 164). Be­ reits 1934 rief das Finanzministerium, aufbauend auf dem Gold Reserve Act, den Exchange Stabilization Fund (ESF) zur Stabilisierung der Wechselkurse ins Leben. Der ESF wurde zum Vorbild für Harry D. Whi­ tes Pläne des Internationalen Währungsfonds (IWF) (Domhoff, 2014, S. 9). Im Jahr 1936 handelten sie das Tripartie-Abkommen aus, um den anhaltenden Währungskrieg (1931–1936) zu beenden. Die beteiligten Parteien (die USA, das Vereinigte Königreich und Frankreich) ver­ pflichteten sich, auf jegliche Wechselkursabwertungen zu verzichten und ihre Wechselkurse stabil zu halten. Andere Länder des Goldblocks (wie Belgien, die Schweiz und die Niederlande) schlossen sich dem Ab­ kommen an. Die Einführung des Dollars als Ankerwährung begann be­ reits 1936; das Einzige, was sich 1944 änderte, war, dass der Dollar die einzige Währung wurde, die gegen Gold eintauschbar war. Das Abkommen war jedoch informell und vorläufig. Zur gleichen Zeit entwickelte der Council on Foreign Relations (CFR) Entwürfe für eine

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„Grand Area Strategy“, die jene Gebiete der Welt identifizierte, die auf­ grund ihrer natürlichen Ressourcen für die US-Wirtschaft von größter Bedeutung waren. Die Grand Area umfasste die gesamte westliche Hemi­ sphäre (Lateinamerika und Europa sowie das gesamte britische Empire), aber auch Niederländisch-Ostindien (Indonesien), China, Japan und – aufgrund seiner Ölvorkommen – den Nahen Osten. Der ESF (und spä­ ter der IWF) sollte eine wichtige Rolle bei der Integration dieser Regio­ nen in die US-Wirtschaft spielen (Domhoff, 2014, S.  9–12), d.  h. er diente den USA auf der dritten Ebene der Hierarchie der öffentli­ chen Güter. Im Sommer 1941 schickte der CFR einen Bericht über seine „Grand Area Strategy“ an Präsident Roosevelt. Sie kamen zu dem Schluss, dass die Schaffung eines „panamerikanischen“ Blocks keine effiziente Strate­ gie wäre, da die USA weiterhin in hohem Maße von Rohstoffen außer­ halb des amerikanischen Kontinents abhängig wären. Ein „geschlossener“ britischer und japanischer Block wäre mit den Interessen der USA in Asien unvereinbar. Darüber hinaus wäre ein starker deutscher Block wahrscheinlich unabhängig von den USA und wäre daher nicht auf den Handel mit den Vereinigten Staaten angewiesen (Domhoff, 2014, S. 8–9). Seit dem Eintritt der USA in den Zweiten Weltkrieg im Dezember 1941 leitete Morgenthau die Expertengruppe um Harry D. White an, Entwürfe für eine funktionierende Nachkriegs-Wirtschaftsordnung zu erstellen (Ikenberry, 1993, S. 164). Diese Bemühungen führten zur Bret­ ton-Woods-Konferenz im Jahr 1944. Das Abkommen von Bretton Woods kann als eine offizielle Übernahme des Tripartie-Abkommens von 1936 angesehen werden. Darüber hinaus wurde die führende Rolle des Dollars anerkannt, da in dem Abkommen festgelegt wurde, dass nur US-Dollars in Gold umgetauscht werden durften. Dies kann als Versuch gewertet werden, den Zugang der USA zu den in der Grand Area Stra­ tegy beschriebenen Regionen zu erhalten. Auf britischer Seite wurden die Verhandlungen von John M. Keynes geleitet. Weitere Mitglieder der britischen Delegation waren Lionel Rob­ bins und James Meade (Ikenberry, 1993, S.  165). Die britische Seite teilte die Besorgnis, dass sich Wechselkursabwertungen zerstörerisch auf die Stabilität der Weltwirtschaft auswirken könnten. Sie legten jedoch

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mehr Gewicht auf die Bedeutung von Sozialhilfe und Wirtschaftsplänen (Ikenberry, 1993, S. 166). Ihr Ziel war es daher, die nationale Souveräni­ tät wiederherzustellen, um die Nationalstaaten in die Lage zu versetzen, wirtschaftliche und soziale Wohlfahrtsprogramme durchzuführen. Sie kümmerten sich daher mehr um die zweite Ebene der Hierarchie der so­ zialen Einrichtungen und öffentlichen Güter. Die Rolle Chinas bei den Bretton-Woods-Verhandlungen wird manch­ mal vernachlässigt, weil sich die geopolitische Rolle der Republik China nach der Gründung der Volksrepublik China im Jahr 1949 dramatisch verändert hat. Wie Helleiner dargelegt hat, hatte Roosevelt ein großes In­ teresse daran, die Republik China 1944  in die Bretton-Woods-­ Verhandlungen einzubeziehen. Er sah in China eine der vier Weltmächte (neben dem Vereinigten Königreich, der Sowjetunion und den USA) und einen wichtigen Pfeiler für eine Nachkriegs-Wirtschaftsordnung. China war demnach eines der wenigen Länder, die bereits seit 1942 zu den Plänen für eine Nachkriegsordnung konsultiert wurden (Helleiner, 2014, S.  186). China hatte eine der größten Delegationen in Bretton Woods (Schuler & Bernkopf, 2014). Nach der kommunistischen Revolution, die für die US-Regierung un­ erwartet kam, zog sich die Volksrepublik China jedoch aus Bretton Woods und anderen internationalen Organisationen zurück (der Sitz im UN-Sicherheitsrat wurde von der Republik China gehalten). Die US-­ Regierung unterstützte die chinesischen Nationalisten und versuchte, die kommunistische Bedrohung während des Koreakriegs (1950–1953) „einzudämmen“ und drängte Frankreich, dasselbe in Indochina (heute Vietnam) zu tun. Die USA wollten im Sinne der Grand Area Strategy mit allen Mitteln die wirtschaftliche Ausgrenzung vom asiatischen Kontinent verhindern. Nachdem Frankreich den Indochinakrieg (1946–1954) ver­ loren hatte,1 engagierten sich die USA immer stärker in Vietnam, was zum Vietnamkrieg (1955–1975) führte. Die Kosten des Vietnamkriegs waren eine der Hauptursachen für den Nixon-Schock und damit für das Ende des Bretton-Woods-Systems im Jahr 1971. Geopolitische Strate­ gien wirken sich also auf wirtschaftliche Strategien aus. Im Falle der  Das Ende des Indochina-Krieges steht wahrscheinlich auch im Zusammenhang mit dem Schei­ tern der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft. 1

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Grand Area Strategy ging die gesamte Strategie nicht auf. Erst mit der Öffnung der chinesischen Märkte seit 1978 wurde China ein wichtiger Teil der globalen Wirtschaftsordnung. Eines der Hauptziele des Bretton-Woods-Abkommens war es, die Bil­ dung regionaler „Blöcke“ zu vermeiden, sei es ein deutscher (oder kontinentaleuropäischer), ein britischer (insbesondere im Hinblick auf das imperiale Präferenzsystem) oder ein japanischer. Die USA waren der Ansicht, dass es für die wirtschaftlichen Interessen der USA – und für den Weltfrieden – besser wäre, einen offenen, multilateralen wirtschaft­ lichen Rahmen zu schaffen. Es war nicht so sehr der „wirtschaftliche Vor­ teil“, der zur Schaffung von Bretton Woods führte, sondern eher geopolitische Überlegungen. Vor allem bei Keynes stand die Furcht vor einer deutschen Dominierung im Vordergrund. Seine Planungsaktivitäten im britischen Wirtschaftskrieg waren hauptsächlich durch diese Furcht motiviert. Michael D. Bordo hat darauf hingewiesen, dass das Bretton-Woods-­ System eine äußerst kurzlebige Konstruktion war. Die volle Konvertier­ barkeit der Währungen wurde erst 1959 erreicht (nachdem die Römi­ schen Verträge angenommen worden waren), und der Goldpool wurde bereits am 15. März 1968 abgeschafft (als die Kosten des Vietnamkriegs und der Sozialsysteme in den USA explodierten). Das Bretton-­Woods-­ System war also nur neun Jahre lang aktiv und voll funktionsfähig (Bordo, 1993, S. 4). Ikenberry kommt zu dem Schluss, dass das Abkommen von Bretton Woods „eine Mittelstellung zwischen einem Freihandelssystem im Stil des 19. Jahrhunderts und regionalen oder nationalen kapitalistischen Vereinbarungen“ einnahm (Ikenberry, 1993, S. 178). Bretton Woods, so Ikenberry, eröffnete Möglichkeiten für neue politische Koalitionen und lieferte Ideen und Anregungen für politische Problemlösungen. Das Argument ist natürlich wichtig, aber es muss auch eingeräumt werden, dass dieser neue, multilaterale Rahmen die Schaffung einer europäischen politischen Union erschwerte, da die grundlegenden monetären öffentli­ chen Güter bereits als „free lunch“ von außen bereitgestellt wurden. Die „seltsame Konstruktion“ der Europäischen Union kann nur vor dem Hintergrund dieses Rahmens verstanden werden. Jean Monnet, der als Berater der Roosevelt-Administration auch in Bretton Woods anwesend

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war, versuchte, wie er selbst sagte, eine Methode zu entwickeln, die in jedem Fall Schritt für Schritt zu einer Art europäischer Föderation führen würde, indem sie in den größeren Funktionsrahmen der USA eingebettet wurde (siehe Monnet, 1976, S.  344–346 und Abschn.  3.2.1). Er ver­ suchte also, einen Weg zu einer europäischen Föderation zu entwickeln, der die klassische Logik der Nationenbildung und die „Hierarchie in­ einandergreifender sozialer Institutionen und öffentlicher Güter“ „umgeht“. Dennoch bleibt Bretton Woods ein „beispielloses Experiment“ im „Aufbau einer internationalen Wirtschaftsverfassung“ und in der „Auf­ stellung internationaler Regeln“ (Ikenberry, 1993, S. 155). Es wurde ver­ sucht, ein internationales System aufzubauen, das die meisten inter­ nationalen Wirtschaftsbeziehungen „internalisieren“ sollte. Insbesondere sollten „Währungskriege“ mit gegenseitiger Abwertung der Wechselkurse vermieden werden, die nur dazu führen würden, dass wirtschaftliche Pro­ bleme in die Nachbarländer exportiert würden, was wiederum zu gravie­ renden externen Effekten führen würde.

10.1.2 Zweiter Schritt: Eine funktionale westliche Verteidigungsarchitektur Die Schaffung eines westlichen Verteidigungsmechanismus, eigentlich die erste Stufe der Hierarchie, begann erst später nach dem Zweiten Welt­ krieg; ihre entscheidendsten Jahre waren zwischen 1947 und 1957. Im Allgemeinen verfolgte man hier eher einen funktionalen als einen födera­ len Ansatz. Hätten die Alliierten jedoch wirklich eine „europäische Föde­ ration“ schaffen wollen, dann hätte diese Föderation nur durch ein euro­ päisches Militärbündnis eingeleitet werden können, das in eine Wirt­ schaftsunion gemündet wäre. Dazu gab es zwar Versuche, aber durch die Vermischung von föderalen und funktionalen Ansätzen hat sich Europa nicht für den Weg zu einer Föderation entschieden. Die europäische In­ tegration blieb stecken, weil das „erste öffentliche Gut“, ein europäischer Sicherheitsmechanismus, nicht europäisch umgesetzt wurde. Um die heutigen Probleme Europas zu verstehen, ist es jedoch wichtig, sich daran

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zu erinnern, dass die europäische Integration insgesamt als geopolitisches Projekt begann, mit dem Ziel, eine europäische Sicherheitsarchitektur zu schaffen. Gemäß der in diesem Buch entwickelten Hierarchie ineinandergreifender sozialer Institutionen und öffentlicher Güter war die erste wichtige Frage, die es zu beantworten galt, die Frage nach der europäischen Sicherheitsarchi­ tektur. Die europäische Einigung konnte nur funktionieren, wenn Europa als Ganzes eine gemeinsame Verteidigungsarchitektur bilden würde. Eine ge­ meinsame europäische Verteidigungsarchitektur hätte die „europäische Souveränität“ und die Möglichkeit, autonom ein europäisches Wirtschafts­ system zu wählen, sichergestellt. Was geschah zwischen 1947 und 1957, dass sich wirtschaftliche und geopolitische Ansätze vermischten? Um eine Ord­ nung für die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg zu schaffen, mussten zwei wichtige Fragen beantwortet werden. Erstens: Was sollte mit Deutschland und seinen vier Besatzungszonen geschehen? Zweitens: Sollte die Sowjet­ union Teil dieser Sicherheitsarchitektur sein oder nicht? Das Jahr 1947 wurde zu einem entscheidenden Jahr für die Be­ antwortung beider Fragen. Am 1. Januar wurden die britische und die US-amerikanische Besatzungszone zusammengelegt, um eine Lösung für die deutsche Frage zu finden. Am 4. März 1947 unterzeichneten das Ver­ einigte Königreich und Frankreich den Vertrag von Dünkirchen, ein Vor­ läufer einer europäischen Sicherheitsarchitektur. Die allgemeine politi­ sche Atmosphäre zu dieser Zeit war jedoch durch den ideologischen und wirtschaftlichen Antagonismus zwischen den beiden außereuropäischen Großmächten geprägt. Dies hatte weitreichende Folgen: Fragen des euro­ päischen Wirtschaftssystems (Stufe 2 in der Hierachie für Europa) und außenwirtschaftliche Interessenkonflikte zwischen der Sowjetunion und den USA (Hierachiestufe 3 für beide Länder, nicht aber für Europa zu dieser Zeit) überschatteten die Fragen einer europäischen Sicherheits­ architektur. Aus Furcht vor den Folgen einer kommunistischen Revolu­ tion in Griechenland und der Türkei verkündete Harry S. Truman am 12. März 1947 die so genannte „Truman-Doktrin“, die die Eindämmung des Kommunismus zum Hauptziel der US-Außenpolitik erklärte. Die USA befürchteten, dass ein kommunistisches Europa weitreichende Fol­ gen für die amerikanische Wirtschaft haben würde. Die Truman-Doktrin sollte den Weg für die künftige Entwicklung Europas ebnen.

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Im März 1948 beschlossen die westlichen Alliierten, in Deutschland eine neue Währung einzuführen, obwohl die allgemeinen geopolitischen und sicherheitspolitischen Fragen noch nicht geklärt waren. Im Juni des­ selben Jahres wurde die deutsche Währungsreform durchgeführt, die größte logistische Aufgabe der US-Armee in Europa seit dem D-Day (Abelshauser, 2004, S.  123). Die Sowjetunion reagierte auf die Ein­ führung der D-Mark mit einer eigenen Währungsreform drei Tage später (sie befürchtete, dass die alte Reichsmark unkontrolliert nach Ost­ deutschland fließen würde) und mit der Blockade von Berlin, dem ersten Höhepunkt des Kalten Krieges. Die sowjetische Reaktion zeigt, welche weitreichende Bedeutung die Einführung einer Währung hat. Sie berührt wichtige verfassungsrechtliche Fragen und bestimmt wesentlich die zu­ künftige Entwicklung einer Region. Da die Wirtschaftsverfassung Deutschlands jedoch geschaffen wurde, bevor die Sicherheitsfragen ge­ klärt waren, war die Teilung Deutschlands für die nächsten Jahrzehnte festgelegt. Diese Entscheidungen beeinflussten auch den Weg, den die europä­ ische Integration nahm, wie wir bereits in Abschn. 3.1.3 gesehen haben. Die Alliierten schufen einen funktionalen Rahmen, der Europa zu einem Einigungsprozess führen sollte. Der Marshall-Plan und die Gründung der Organisation für europäische wirtschaftliche Zusammenarbeit (OEEC) sollten den wirtschaftlichen Rahmen abstecken, während der Brüsseler Vertrag (und später die NATO) den geopolitischen und sicher­ heitspolitischen Rahmen schufen. Die US-Architektur folgte den Grund­ sätzen der Grand Area Strategy, der bereits den funktionalen Charakter des währungspolitischen Rahmens des Bretton-Woods-­Abkommens von 1944 festlegte (siehe vorheriger Abschnitt).

10.1.3 Dritter Schritt: Momentum und Scheitern einer europäischen Föderation Im Jahr 1950, einem weiteren entscheidenden Jahr für Europa, vollzog sich ein wichtiger Wandel in der europäischen Integration. Am 9. Mai des Jahres gab Robert Schuman seine berühmte Erklärung ab, in der er Deutschland die Versöhnung anbot und vorschlug, die Schwerindustrie

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unter eine gemeinsame Behörde zu stellen. Dies war der erste supra­ nationale Vorschlag zur europäischen Integration. Der Grund für diesen Wandel war das Wiederauftauchen geopolitischer und sicherheits­ politischer Fragen in Europa. Der Schock des Koreakrieges im Juni 1950 machte deutlich, dass Europa nicht auf die Unterstützung der USA zäh­ len konnte, um sich zu verteidigen. Außerdem musste Westeuropa Deutschland aufrüsten, um mit der sowjetischen Militärmacht mithalten zu können. Bundeskanzler Adenauer war jedoch nur dann bereit, einer deutschen Aufrüstung zuzustimmen, wenn deutsche Soldaten Teil einer europäischen Armee sein würden. Am 9. August 1950 schlug Churchill die Schaffung einer europäischen Armee vor. Am 11. August unterstützte der Europarat Churchills Idee. Einen Monat später unterstützte auch der amerikanische Außenminister den Plan. Im Oktober legte der französi­ sche Premierminister René Pleven einen Plan für eine „Europäische Ver­ teidigungsgemeinschaft“ (EVG) mit einer europäischen Armee unter einer supranationalen Führung vor. Der Vertrag über die Europäische Verteidigungsgemeinschaft wurde 1952 angenommen und von einigen Ländern ratifiziert, so auch von Deutschland. Der Vertrag sah die Schaffung einer europäischen Armee und mittelfristig einer politischen Union vor. Dieser Weg der europä­ ischen Integration hätte also den „klassischen“ Weg zu einer Föderation ergeben: Die Schaffung einer europäischen Armee erfordert einen euro­ päischen Haushalt. Ein europäischer Haushalt würde ein europäisches Schuldensystem voraussetzen, ein europäisches Schuldensystem eine europäische Währung und so weiter. Allerdings lehnte das französische Parlament 1954 die Idee einer europäischen Armee ab. Es ist nicht klar, warum Frankreich den so genannten Pleven-Plan ablehnte. Er hatte je­ doch weitreichende Folgen: Das „erste“ europäische öffentliche Gut, ein europäisches Verteidigungssystem, wurde nicht geschaffen. Solange Europa durch die US-Präsenz in Europa mit einem „free lunch“ an Sicherheit versorgt und von einer funktionierenden internationalen Sicherheitsarchitektur umgeben war, hatte es offenbar nicht genügend Anreize, eine eigene Armee aufzubauen. Ohne eine eigene Armee wäre eine echte europäische Föderation jedoch nur schwer zu verwirklichen. Charles Tilly argumentierte, dass die modernen Nationalstaaten sich entwickelten, weil die Kriegsführung nach der Erfindung des Schwarz­

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pulvers und der stehenden Heere so teuer wurde, dass sie nur noch von einem modernen Nationalstaat finanziert werden konnte (Tilly, 1993). Die entstehenden europäischen Nationalstaaten brauchten einerseits Ar­ meen, um sich zu verteidigen und ihre Souveränität zu erhalten. Anderer­ seits machte die Finanzierung einer Armee die Schaffung oder Weiter­ entwicklung des Nationalstaates notwendig. Eine gemeinsame Armee ist daher ein wichtiges Bindeglied zur Schaffung eines gemeinsamen Staates. In der Tat zeigt die Geschichte von Ländern wie den USA oder Deutsch­ land, dass diese Länder durch Kriegsschulden geeint wurden. Die USA hatten nach ihrem Unabhängigkeitskrieg eine enorme Verschuldung. Die Verwaltung dieser Schulden spielte eine wichtige Rolle, um die 13 Kolo­ nien zusammenzuhalten und einen gemeinsamen Haushalt zu schaffen. Auch Deutschland wurde zunächst durch Kriege geeint. In Deutschland spaltete der Streit um eine nachträgliche Legitimation der Kriegsfinanzen von Bismarck den Nationalismus vom Liberalismus (Schwanitz, 2002, S. 173–179). Die Reparationen, die Deutschland nach seinem Sieg über Frankreich 1871 erhielt, spielten eine wichtige Rolle beim Aufbau des deutschen Währungs- und Wirtschaftssystems, dem zweiten öffentli­ chen Gut. Auch Europa hatte nach dem Zweiten Weltkrieg ein großes und kom­ plexes Schuldenproblem. Jedoch hat die Schuldenkonferenz in London 1953 die Schuldenfrage nicht mit der Frage einer gemeinsamen Armee und einer europäischen Föderation verknüpft. Wäre dies der Fall ge­ wesen, wäre es für Frankreich sehr viel schwieriger gewesen, 1954 die Pläne für eine gemeinsame europäische Armee abzulehnen. Da der Zu­ sammenhang zwischen der Bereitstellung des „ersten“ öffentlichen Gutes, einer gemeinsamen Armee, und dem „zweiten“ öffentlichen Gut igno­ riert wurde, war die Entscheidung über das Wirtschafts- und insbesondere das Währungssystem die eigentliche Ursache für den „seltsamen“ Weg, den Europa in Richtung einer europäischen Föderation eingeschlagen hat. Dies zeigt sich in Diskussionen bis heute. Euro-Bonds sind nicht nur eine Frage der „finanziellen Solidarität“, wie in der Euriokrise dargestellt. Sie könnten zu einem wichtigen Instrument für die Finanzierung einer echten europäischen Sicherheitsarchitektur werden und somit eine „ge­ meinsame Sicherheitssolidarität“ darstellen.

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Nach dem Scheitern der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft 1954 konzentrierte sich der europäische Integrationsprozess auf wirtschaftliche Fragen. Europa ging dazu über, die zweite Ebene von öf­ fentlichen Gütern in der Hierachie bereitzustellen, ohne die Grundlagen für die erste Ebene geschaffen zu haben. Ohne einen gemeinsamen Haus­ halt und eine gemeinsame Verschuldung ist es jedoch schwierig, ge­ meinsame Institutionen zu schaffen, die über eine Freihandelszone hinausgehen. Eine gemeinsame Währung braucht einen gemeinsamen Haushalt. Außerdem schien es so, als könne die europäische Integration nicht weiter voranschreiten, solange Europa von ausländischen Mächten beein­ flußt wurde. Erst in den 1980er-Jahren verschwanden die Schatten der beiden Supermächte über Europa und die europäische Integration konnte voranschreiten. Mit der Einheitlichen Europäischen Akte 1987 wurde ein Prozess der Kapitalmarktintegration eingeleitet, der nach dem Fall der Berliner Mauer beschleunigt wurde. Die wirtschaftliche Integration schritt voran, die politische Integration konnte jedoch nicht so schnell folgen. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Gründung der Vereinigten Staaten von Europa scheiterte, weil sich die Europäer nicht auf die Bereit­ stellung des „ersten öffentlichen Gutes“, eines gemeinsamen europä­ ischen Verteidigungssystems nach dem Zweiten Weltkrieg, einigen konn­ ten. Dieser Prozess wurde durch die Tatsache beschleunigt, dass die Euro­ päer durch die US-Präsenz in Europa und die von den USA geschaffenen und garantierten funktionierenden internationalen Institutionen ein „free lunch“ an Sicherheit erhielten. Die Amerikaner verhinderten eine europäische Föderation nicht; im Allgemeinen unterstützten sie die Idee sehr, solange sie nicht mit ihrer Grand Area Strategy kollidierte. Aller­ dings setzten sie als wohlwollender Hegemon auch nicht die nötigen star­ ken Anreize zur Schaffung der Vereinigten Staaten von Europa . Eine sta­ bile globale Friedensordnung hatte für die USA Priorität vor dem Expe­ riment, so kurz nach dem Zweiten Weltkrieg eine europäische Föderation zu forcieren.

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10.2 Geopolitische Beweggründe für den Euro Martin Feldstein (1997) hat argumentiert, dass die Europäer den Euro nicht aus wirtschaftlichen, sondern vielmehr aus geopolitischen Gründen eingeführt haben. Er bezeichnete die WWU sogar als eine „wirtschaft­ liche Last“, die auf politischen Überzeugungen beruhe. Feldstein ist einer der einflussreichsten Wirtschaftswissenschaftler; er war Präsident des Na­ tional Bureau of Economic Research (NBER), Mitglied der Gruppe der Dreißig und leitender Wirtschaftsberater von Präsident Ronald Reagan (1982–1984). Feldstein vertrat die Auffassung, dass das Hauptanliegen des Euro nicht darin besteht, die wirtschaftlichen Probleme der schwan­ kenden Wechselkurse zu lösen, sondern langfristig die Schaffung einer europäischen politischen Union durchzusetzen, um die geopolitische Position Europas zu verbessern: „Als jemand, der die europäische Debatte aufmerksam verfolgt hat und die Gelegenheit hatte, diese Fragen mit vielen der europäischen politischen Akteure zu diskutieren, bin ich der Meinung, dass die Entscheidungen, die Europa an den jetzigen Punkt gebracht haben […], eher auf einer Kombi­ nation von allgemeineren politischen Erwägungen und persönlichen Inte­ ressen beruhen als auf den wirtschaftlichen Vorzügen des jeweiligen Falles.“ (Feldstein, 1997, S. 16)

Die treibenden Kräfte der europäischen Währungsintegration sind daher „eine seltsame Mischung aus pro-europäischem Internationalismus und dem Streben nach eng definierten nationalen Eigeninteressen“ (Feld­ stein, 1997, S. 4–5). Frankreich wollte, so Feldstein, ein „Co-Manager“ der europäischen Integration werden, gleichberechtigt mit Deutschland, und die „Schwerkraft Europas“ in Brüssel und nicht in Berlin halten (Feldstein, 1997, S. 10). Der Ehrgeiz des deutschen Bundeskanzlers Hel­ mut Kohl bestand einerseits darin, „ein potentiell gefährliches Deutsch­ land“ in einem europäischen Rahmen einzudämmen und andererseits eine gewisse wirtschaftliche Hegemonie, insbesondere in der Währungs­ politik, aufrechtzuerhalten (Feldstein, 1997, S. 11). Im Wissen um die Bismarcksche Einigung Deutschlands und die deutsche Wiederver­

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einigung im Jahr 1990 habe Deutschland jedoch stets darauf bestanden, dass die politische Einigung der währungspolitischen vorausgehen sollte (Feldstein, 1997, S. 8). Dieses Argument steht auch im Einklang mit der in diesem Buch entwickelten Hierarchie ineinandergreifender sozialer In­ stitutionen und öffentlicher Güter. Eine politische Union, die einem Souverän unterstellt ist, ist der erste Schritt. Da Kohl jedoch mit einer harten französischen Opposition konfrontiert war, akzeptierte er eine umgekehrte Reihenfolge, wohl wissend, dass die wirtschaftlichen Kräfte auf lange Sicht zu einer politischen Union führen würden. Europa sollte so eine Ausnahme von der Regel werden. Feldsteins Argumente enthalten jedoch auch einige Schwachstellen. Er stellt fest, dass die WWU ihren Ursprung in den Versuchen von Jean Monnet nach dem Zweiten Weltkrieg hat, die Vereinigten Staaten von Europa zu bilden, um einen weiteren Krieg zu verhindern (Feldstein, 1997, S. 5). Wir haben im ersten Teil dieses Buches gesehen, dass die trei­ benden Kräfte der europäischen Integration viel tiefer in der Geschichte zurückverfolgt werden müssen. Darüber hinaus sieht er (aufbauend auf Kissinger) die Suez-Krise (1956) als Hauptantrieb für eine engere politi­ sche (und militärische) Union Europas. Während der Suez-Krise hatten die USA das Vereinigte Königreich undFrankreich gezwungen, ihren An­ griff auf Ägypten aufzugeben. Feldstein zufolge hatte dieses Ereignis den europäischen Nationen gezeigt, dass sie ihre geopolitische Macht ver­ loren hatten und „eine neue Struktur Europas erforderlich war, wenn sie ihre frühere Macht und ihren Einfluss wiedererlangen wollten“ (Feld­ stein, 1997, S. 7). Dieses Ereignis war laut Feldstein ein wichtiger Grund für die Schaffung des Gemeinsamen Marktes im Jahr 1958 und den Aus­ tritt Frankreichs aus der NATO ein Jahr später, mit dem Frankreich auch dem langfristigen Ziel einer gemeinsamen europäischen Sicherheits­ politik verfolgte. Feldstein übersieht jedoch, dass der Versuch, eine ge­ meinsame europäische Verteidigung zu schaffen, bereits einige Jahre zuvor (mit Unterstützung der USA) unternommen wurde, aber 1954 am Widerstand im französischen Parlament scheiterte. Außerdem argumentiert Feldstein, dass die Auswirkungen eines poli­ tisch geeinten Europas auf den Weltfrieden ungewiss sind, ein Argument, das bereits von David Mitrany seit den 1930er-Jahren entwickelt wurde, wie wir in Teil I dieses Buches gesehen haben. Hinsichtlich möglicher

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Konflikte mit anderen geopolitischen Akteuren schrieb Feldstein in sei­ nem Artikel (der 1997 veröffetnlicht wurde) etwas, das in Anbetracht der Ukrainekrise 2014 recht bemerkenswert klingt: „Könnte ein stärkeres Russland irgendwann in der Zukunft und mit einer gesicherten politischen Führung versuchen, die Kontrolle über die nun un­ abhängige Ukraine wiederzuerlangen? Würde eine starke, geeinte Europä­ ische Union ein solches Vorgehen verhindern? Wäre ein geeintes Europa versucht, eine russische Übernahme der Ukraine in einen umfassenderen Konflikt umzuwandeln, der an Deutschlands Einmarsch in Russland im Ersten und im Zweiten Weltkrieg erinnert?“ (Feldstein, 1997, S. 7)

Die Schaffung der Vereinigten Staaten von Europa wäre daher eine „poli­ tische Union, die die Politik in Europa und der Welt grundlegend ver­ ändern würde“ (Feldstein, 1997, S. 2). Feldstein hat auch gewisse Zweifel daran, ob die Vereinigten Staaten von Europa eine Garantie für den Frieden in Europa sind. In einer WWU, so schrieb er bereits 1997, könnten gemeinsame Politiken, die Ländern mit unterschiedlichen politischen, historischen und religiösen Hintergründen auferlegt werden, eine Quelle für weitere Konflikte sein. Außerdem, so Feldstein, habe der Bürgerkrieg in den USA gezeigt, dass „eine politische Union sicherlich keine Garantie gegen einen neuen Krieg zwischen ihren Mitgliedern ist“ (Feldstein, 1997, S. 6).

10.3 Die neue geopolitische Position Europas Europa ist am Ende der 2010er-Jahre mit einer Vielzahl unterschied­ licher Krisen konfrontiert. Die Eurokrise hat sich zwar beruhigt, ist aber noch nicht vorbei. Der Brexit gefährdet die Einheit der Union. In der Umgebung Europas toben mehrere Konflikte, insbesondere die Ukraine-­ Krise seit 2014 und der syrische Bürgerkrieg. In beiden Konflikten scheint Europa aufgrund des Fehlens einer gemeinsamen Außenpolitik machtlos zu sein. Die durch den syrischen Bürgerkrieg ausgelöste Flücht­ lingskrise, eine destabilisierte Türkei und eine ineffiziente europäische Grenzkontroll- und Einwanderungspolitik haben die Fehlfunktion der

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europäischen Institutionen deutlich gemacht. Alle Konflikte zusammen sind ein komplexer und gefährlicher Cocktail, der die Zukunft Europas gefährdet. Es bedarf einer umfassenden Strategie, um die Heraus­ forderungen, die vor Europa liegen, zu bewältigen. Diese vielfältigen Krisen bedeuten für Europa eine erhebliche Ver­ änderung seiner geopolitischen und sicherheitspolitischen Lage. Die wichtigste Veränderung für Europa geht jedoch nicht von der Ukraineoder Syrien-Krise selbst aus, sondern von dem steigenden Interesse der beiden (ehemaligen) „Supermächte“ an Europa und der neuen Verwund­ barkeit Europas durch Konflikte in der Nachbarschaft. Die sich ver­ ändernden geopolitischen Umstände könnten die Grundlage des der­ zeitigen Weges der europäischen Integration verändern. Die Schaffung einer starken europäischen Sicherheitspolitik – oder sogar einer europä­ ischen Armee  – könnte den Stillstand der europäischen Integration durchbrechen, der sich seit der Eurokrise abzeichnet.

10.3.1 Der Beginn eines Nord-Süd-Konflikts? In der öffentlichen Debatte wurde oft behauptet, dass wir mit der Ukrai­ ne-Krise 2014 eine unerwartete Wiederbelebung des alten Ost-­West-­ Konflikts erlebt haben. Dies ist jedoch nur teilweise richtig. Das Haupt­ merkmal des Kalten Krieges war der Wettbewerb zwischen zwei ver­ schiedenen Ideologien, Wirtschaftssystemen und zwei unterschiedlichen Versprechen auf Wohlstand. Das russische Wirtschaftssystem ist jedoch seit dem Fall des Eisernen Vorhangs im Vergleich zur Sowjetunion in die Weltwirtschaft integriert, und die ideologischen Unterschiede bezüglich der Wirtschaftspolitik sind nicht mehr so gravierend wie während des Kalten Krieges. Was wir heute jedoch beobachten können, ist die wach­ sende Bedeutung halbdemokratischer oder halbautoritärer Regime mit florierenden Volkswirtschaften wie Russland, China, der Türkei und Me­ xiko. Diese Länder fordern zunehmend eine größere Rolle auf globaler Ebene und in internationalen Institutionen wie dem IWF, der WTO, der UNO usw. Sie wollen die Regeln der internationalen Politik und des internationalen Handels ändern und werden versuchen, die Dominanz der westlichen Mächte in diesen internationalen Institutionen zu brechen.

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Unter der Obama-Regierung versuchten die westlichen Länder, auf diese Entwicklung zu reagieren, indem sie versuchten, einen „westlichen“ Handelsblock zu schaffen, um die Vorherrschaft und/oder Selbst­ bestimmung der westlichen Welt im einundzwanzigsten Jahrhundert zu erhalten. Dafür wurde die so genannte Transatlantische Handels- und In­ vestitionspartnerschaft (TTIP) ausgehandelt. Es wurde oft argumentiert, dass ein Hauptgrund für TTIP darin bestünde, mehr Wachstum zu schaf­ fen, was bedeutet, dass der wirtschaftliche Vorteil die Hauptantriebskraft für TTIP wäre. Die meisten Schätzungen über ein höheres Wachstum bewegen sich jedoch im Bereich von 0,5  % bis 0,7  %, obwohl der Gesamtwachstumseffekt von TTIP unklar ist. Diese Wirtschafts­ prognosen sind – bestenfalls – gute mathematische Modelle. Es ist jedoch unwahrscheinlich, dass Politiker ein so riesiges und umstrittenes Projekt in Angriff nehmen, wenn das wirtschaftliche Ergebnis schwer zu kalku­ lieren und unsicher ist. Es ist unwahrscheinlich, dass Politiker versucht haben, TTIP auf den Weg zu bringen, um das Wirtschaftswachstum an­ zukurbeln (und somit ihre Chancen zu erhöhen, in ferner Zukunft wiedergewählt zu werden). Einige Kommentatoren argumentierten daher, dass TTIP hauptsächlich von transnationalen Unternehmen vorangetrieben wurde, die versuchen, politische Entscheidungen zu be­ einflussen und regulative Standards zu ändern. Es ist in der Tat möglich, dass die TTIP-Verhandlungen, sobald sie begonnen hatten, hauptsäch­ lich von Lobbyinteressen der Unternehmen „übernommen“ und voran­ getrieben wurden. Es ist jedoch unwahrscheinlich, dass diese Unter­ nehmen es waren, die ein solch komplexes Projekt initiierten, nur um Lobbyinteressen durchzusetzen. Möglicherweise könnten auch andere wirtschaftliche Interessen eine Rolle gespielt haben. Durch die neuen Fracking-Technologien sind die USA nicht mehr auf Energieimporte angewiesen. In den nächsten Jahren werden die USA sogar zu einem der wichtigsten Exporteure von Flüssig­ gas werden. Europa wird aufgrund seiner fortgeschrittenen Wirtschaft und stabilen politischen Lage zu einem der interessantesten Märkte wer­ den. Allerdings werden die US-Unternehmen russische Unternehmen von den europäischen Märkten verdrängen müssen. Die TTIP hätte ein vielversprechender Rahmen für eine amerikanisch-europäische Energie­ partnerschaft werden können.

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Aus geopolitischer Sicht gibt es jedoch einen weiteren wichtigen Grund, aus dem TTIP forciert worden sein könnte: Mit dem Freihandels­ abkommen versuchen die westlichen Länder, einen einzigartigen west­ lichen Wirtschaftsblock zu schaffen, der es ermöglicht, trotz der zu­ nehmenden Bedeutung neuer Wirtschaftsmächte die Standards für den Handel im einundzwanzigsten Jahrhundert zu setzen. Heute produziert die westliche Welt immer noch 50  % der Weltwirtschaft. Tatsächlich hieß das Projekt ursprünglich nicht TTIP, sondern „Wirtschafts-NATO“. Der Initiator war kein Wirtschaftswissenschaftler oder Lobbyist, sondern ein ehemaliger NATO-General. In diesem Sinne wurde TTIP auch ent­ wickelt. Nicht als Institution zur Schaffung von Wirtschaftswachstum, sondern zum Erhalt der wirtschaftlichen Macht und zur Verhinderung der wirtschaftlichen Vorherrschaft aufstrebender authoritärer Regime. Die Motive für TTIP waren also eher geopolitischer als wirtschaftlicher Natur. Bei ihrem Amtsantritt stoppte die neue Trump-­Administration die TTIP-Verhandlungen jedoch. Der Wunsch, Maßstäbe setzen zu können, ist natürlich legitim, ins­ besondere angesichts der ständig scheiternden GATT-Verhandlungen (Allgemeines Zoll- und Handelsabkommen) und der aufstrebenden Wirtschaftsmächte, die die Werte und Gewohnheiten der westlichen freien Welt nicht zu teilen scheinen. Europa und die westliche Welt soll­ ten sich jedoch stets über ihre tatsächlichen Absichten und die Aus­ wirkungen ihres Handelns auf die umliegenden Mächte und Regionen im Klaren sein. Wenn Europa versucht, einen von Russland getrennten Wirtschaftsblock zu schaffen, dann sind Gegenreaktionen wahrschein­ lich (was sie jedoch noch lange nicht legal oder legitim macht). Russland scheint eine komplexe hybride Strategie anzuwenden, um die europä­ ische Einheit zu untergraben. Es unterstützt finanziell rechtspopulistische Bewegungen wie den Front Nationale in Frankreich und wohl auch zu­ mindest ideologisch die AfD in Deutschland sowie andere rechts­ gerichtete Bewegungen in Europa. Europa muss sich dieser Strategien und Gegenstrategien der beiden Supermächte bewusst sein, um eine ko­ härente Strategie für sich selbst zu formulieren.

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10.3.2 Den Stillstand der europäischen Integration durchbrechen Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs basierte die europäische Integra­ tion, wie wir oben gesehen haben, auf der so genannten „Monnet-­ Methode“, d.  h. einer schrittweisen Integration, die hauptsächlich von wirtschaftlichen Interessen geleitet wurde. Das Primat der wirtschaft­ lichen Integration wurde schließlich bestätigt, als der Vorschlag für eine Europäische Verteidigungsgemeinschaft (und damit die Schaffung einer europäischen Armee) 1954 an der französischen Natinalverssammlung scheiterte. Seitdem folgt Europa einer „verworrenen“ Hierarchie in­ einandergreifender sozialer Institutionen und einer entsprechenden Stra­ tegie zur Bereitstellung öffentlicher Güter. Warum sind die Pläne für eine gemeinsame europäische Verteidigungs­ politik gescheitert? Wie wir gesehen haben, ist einer der wichtigsten As­ pekte, dass die Sicherheit als öffentliches Gut insgesamt von den USA und der NATO bereitgestellt wurde. Die Präsenz der USA in Europa si­ cherte Europa vor der kommunistischen Bedrohung, und der Anreiz, eine eigene Armee aufzubauen, war daher nicht groß genug. Viele Kom­ mentatoren vertraten damals die Ansicht, dass die USA den Europäern nach dem Zweiten Weltkrieg eine Frist hätten setzen sollen, innerhalb derer sie sich vom alten Kontinent zurückziehen sollten (wie sie es in der jüngeren Geschichte getan haben, z. B. gegenüber der afghanischen Re­ gierung, allerdings mit bekannten Folgen). Dies hätte die Europäer ge­ zwungen, selbst für Sicherheit zu sorgen, zum Beispiel durch eine eigene europäische Armee. Der erste NATO-Vertrag war in der Tat auf 20 Jahre befristet; als die Frist jedoch näher rückte, wurde der Absatz in den 1970er-Jahren gestrichen. Da die USA weiterhin für Sicherheit sorgten, konnten sich die europäischen Staaten auf die Sicherheit der USA „ver­ lassen“; sie konzentrierten ihre Integrationsbemühungen auf wirtschaft­ liche Fragen. Obwohl sich die wirtschaftliche Integration Europas als großer Erfolg erwiesen hat, hat die Euro-Krise deutlich gemacht, dass sie in eine Sack­ gasse geraten ist. Auf der einen Seite sind wirtschaftliche Anreize allein nicht in der Lage, einen europäischen Staat oder eine europäische Föde­

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ration zu bilden. Auf der anderen Seite erfordert die wirtschaftliche Inte­ gration ab einem bestimmten Punkt jedoch eine stärkere politische Eini­ gung. Die neue geopolitische Lage könnte jedoch die Umstände der europäischen Integration verändern. Bis zur Obama-Regierung waren die USA bereit, die Europäer mit dem kostenlosen öffentlichen Gut Sicherheit zu versorgen, um ihre Interessen in Europa zu wahren und eine gewisse Hegemonie der USA über Europa zu gewährleisten. Die Europäer akzeptierten diesen Deal bereitwillig, da er für sie Stabilität und Frieden bedeutete und ihnen die Möglichkeit gab, ihre Nationalstaaten zu erhalten. In der heutigen Situation hat sich jedoch das Kosten-Nutzen-­ Kalkül der USA geändert. Es ist wahrscheinlich, dass die USA die Euro­ päer viel stärker dazu drängen werden, selbst wirksame Verteidigungs­ systeme aufzubauen, um mit den aufstrebenden Wirtschafts- und Militär­ mächten fertig zu werden. Ein starkes Europa ist auch für den bevorstehenden Konflikt mit aufstrebenden authoritären Regimen wichtig. Zudem erkennen die Europäer, dass sie den aktuellen globalen Heraus­ forderungen nicht allein mit wirtschaftlichen Konzepten begegnen kön­ nen. Der Konflikt in der Ukraine 2014 und in Syrien sowie die Flücht­ lingskrise haben den Europäern gezeigt, wie verwundbar ihre Sicherheit werden kann. Europa braucht eine kohärente gemeinsame geopolitische Sicherheitsstrategie. Die Schaffung einer europäischen Armee könnte dann den durch die Monnet-Methode verursachten Stillstand der euro­ päischen Integration durchbrechen, den die Eurokrise offenbart hat. Eine europäische Armee braucht eine europäische Finanzierung. Ein echter europäischer Haushalt und die Einführung von Euro-Anleihen könnten die Folge sein. Und es ist wahrscheinlich, dass für die meisten Europäer angesichts einer gemeinsamen Bedrohung unterschiedliche nationale Identitäten und Stereotypen nicht mehr so wichtig wären. Geopolitische und wirtschaftliche Aspekte der europäischen Integration müssen daher in einer kohärenten Theorie und Strategie kombiniert werden, um die aktuellen Herausforderungen für Europa zu bewältigen. Der europäische Republikanismus bietet einen vielversprechenden Rahmen, um diese As­ pekte zu kombinieren. Es muss jedoch eingeräumt werden, dass es sich hierbei nicht um eine rein friedliche Vision der europäischen Integration handelt. Europa

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würde zu einem großen Teil auf einer gemeinsamen Bedrohung auf­ bauen, nicht auf dem gemeinsamen Traum vom Wohlstand. Außerdem ist es wahrscheinlich, dass eine starke europäische Armee von den euro­ päischen Politikern in internationalen Konflikten in größerem Umfang eingesetzt werden würde, im Guten wie im Schlechten. Um beiden Ver­ suchungen zu widerstehen, braucht Europa ein starkes Wertegerüst, das seine Kräfte auf ein positives Ziel ausrichtet. Auch hier kann der Republikanismus ein umfangreiches Instrumentarium zur Definition dieser Werte liefern.

10.4 Die republikanische vs. die neoliberale Vision von Europa Der hier vorgeschlagene republikanische Ansatz kann auch dazu bei­ tragen, einige Hindernisse bei der europäischen Integration zu über­ winden, die unter dem Thema einer (möglicherweise fehlenden) „euro­ päischen Identität“ diskutiert werden. Wie bereits in der Einleitung und in Teil I dargelegt, ist es notwendig, eine historisch tiefere „Erzählung“ der europäischen Integration zu schaffen, um eine Art „europäische Identität“ zu entwickeln. Diese Erzählung sollte zumindest mit dem Be­ ginn der Industrialisierung beginnen. Die europäische Integration kann dann als ein Prozess zur Lösung von Externalitätsproblemen zwischen modernen industrialisierten Volkswirtschaften verstanden werden. Darü­ ber hinaus wurden die europäischen Völker im Zuge der Industrialisie­ rung von der Leibeigenschaft und anderen Formen der Sklaverei befreit und es entstanden moderne demokratische Staaten. Die republikanische Tradition spielte in diesem Prozess eine wichtige Rolle. Sie ist eine der ältesten Traditionen der politischen Philosophie; sie lässt sich zurückverfolgen bis zu den griechischen Gemeinwesen und den Werken von Platonund Aristoteles, zur römischen Republik und später zu Cicero, zu den italienischen Stadtstaaten, zu den französischen und amerikanischen Revolutionen (Collignon, 2013, S.  3). Sie gipfelte schließlich in Kants ewigem Frieden und dem Ausruf der Aufklärung als „dem Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündig­

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keit“ (Kant, 2004/1784). Sie spielte eine wichtige Rolle für die demo­ kratischen Bewegungen im Europa des neunzehnten Jahrhunderts. Ins­ besondere der griechische Republikanismus inspirierte viele europäische Intellektuelle, wie Victor Hugo und Giuseppe Mazzini. Der Republikanis­ mus kann daher eine Quelle für die Schaffung einer europäischen Identi­ tät sein. Seit der Eurokrise assoziierten viele Bürger, vor allem in Südeuropa, die europäischen Institutionen mit Instrumenten zur Durchsetzung neo­ liberaler Politiken, indem sie die Autorität des souveränen nationalen Entscheidungsprozesses untergraben. Eine Alternative zum neoliberalen Konzept von Europa ist das sozialistische (oder sozialdemokratische) Europa, wie es Altiero Spinelli und viele Föderalisten vorgeschlagen haben. Das Konzept eines sozialistischen Europas würde jedoch viele Ängste der liberalen Bewegungen in Europa hervorrufen und wäre daher schwer umzusetzen. Außerdem ist der eigentliche Gegner des Liberalis­ mus in Bezug auf die politische Philosophie nicht der Sozialismus, son­ dern der Republikanismus. Der Liberalismus behauptet, dass der „demo­ kratische Wille“ die Summe „vorpolitischer“, pluralistischer, individuel­ ler Interessen ist. Der Republikanismus hingegen glaubt, dass der demokratische Wille in einer öffentlichen Debatte auf der Grundlage bürgerlicher Tugenden gebildet wird. Beide Theorien erkennen an, dass es notwendig ist, einen demokratischen Willen zu bilden, aber sie sind sich uneinig über die Art und Weise, wie dies geschehen kann. Da der Liberalismus feste, vorpolitische Präferenzen voraussetzt, ist er mit zwischenstaatlichen Methoden vereinbar. Der Republikanismus hin­ gegen behauptet, dass ein demokratischer Wille nur durch eine öffentli­ che Debatte geschaffen werden kann, die die Präferenzen der Teilnehmer beeinflusst (Collignon, 2008). Das Ergebnis eines solchen republikani­ schen Ansatzes könnte dann eine neoliberale oder eine soziale Agenda oder eine Mischung aus beidem sein. Der europäische Republikanismus folgt einer rechtlichen und einer wirtschaftlichen Logik. Die rechtliche Logik besagt, dass die Freiheit nur aufrechterhalten werden kann, wenn die Machtstrukturen in einem Rechtssystem verinnerlicht sind. Jeder kann an der Gestaltung dieser Rechtsordnung mitwirken. Die wirtschaftliche Logik ist in das Konzept der öffentlichen Güter eingebettet: Jeder, der von einem öffentlichen Gut

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betroffen ist, sollte sich an der Schaffung einer Institution zur Verwaltung dieses öffentlichen Gutes beteiligen können. Im republikanischen Ge­ dankengut „gehört“ der Staat den Bürgern. Dies ist der Unterschied zum Konzept der „Nation“, wo die Bürger dem Staat „gehören“ (Collignon, 2017, S. 42–48). Eine europäische Demokratie, die nationale Ideologien überwindet, kann daher nur auf einer republikanischen Grundlage auf­ gebaut werden, die politische Theorie mit wirtschaftlichen Überlegungen verbindet.

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11 Schlussfolgerungen

Die Hypothese dieses Buches ist, dass der europäische Republikanismus einen neuen, erfrischenden theoretischen Rahmen liefern könnte, der es erlaubt, Theorien der Politikwissenschaften und der Wirtschaft auf kohä­ rentere Weise zu verbinden. Dieser Ansatz könnte dazu beitragen, drei theoretische Schwächen in der gegenwärtigen Debatte über die europä­ ische Integration zu überwinden: erstens das Verhältnis zwischen Souveränität und Föderalismus, zweitens die Modellierung wirtschaft­ licher Probleme als Interdependenzen (anstelle von externen Effekten) und drittens die Annahme, dass wirtschaftlicher Vorteil die Haupt­ antriebskraft der europäischen Integration ist (anstelle der Furcht vor wirtschaftlicher Dominierung). Der europäische Republikanismus und insbesondere das Konzept einer res publica der öffentlichen Güter bietet ein Instrumentarium zur Überwindung dieser Probleme. In dieser Arbeit war es jedoch nur möglich, die potenziellen Lösungen, die der europä­ ische Republikanismus bieten könnte, anzudeuten. Es muss noch viel Forschungsarbeit geleistet werden, um den europäischen Republikanis­ mus als emanzipierte Theorie in der Debatte um die europäische Integra­ tion zu etablieren.

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Nature Switzerland AG 2023 T. Zimmermann, Europäischer Republikanismus, https://doi.org/10.1007/978-3-031-44091-5_11

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Im ersten Teil dieses Buches wurden die wichtigsten Theorien der europäischen Integration vorgestellt und ihre Stärken und Schwächen aufgezeigt. Wir haben in Kap.  2 gesehen, dass der Föderalismus ge­ scheitert ist, weil er den Widerspruch zwischen Souveränität und Föderalismus nicht lösen konnte. Infolgedessen trennte sich das Konzept des „Nationalstaates“ vom Konzept einer europäischen Föderation und insbesondere von einer republikanischen Föderation. Die Folge waren die verheerenden Konflikte zwischen den Nationalstaaten in Europa in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts. Es ist daher wichtig, daran zu erinnern  – trotz des in öffentlichen Debatten oft erzählten Gründungsmythos  – dass die europäische Integration nicht plötzlich nach dem Zweiten Weltkrieg begann. Sie steht vielmehr im Zusammen­ hang mit dem Modernisierungsprozess in Europa, der in der Renaissance begann und im Zeitalter der Aufklärung weiterentwickelt wurde (siehe auch Kap. 6). Nach dem Zweiten Weltkrieg versuchte der Neofunktionalismus, einen praktischeren Weg zur Erreichung der europäischen Einheit zu fin­ den. Wie in Kap. 3 gezeigt wurde, versuchte diese Theorie, eine Födera­ tion auf der Grundlage eines „funktionalen“ globalen Rahmens zu er­ richten, der von den Alliierten nach dem Zweiten Weltkrieg geschaffen worden war. Die Ideen des Föderalismus und des Funktionalismus wur­ den so vermischt. Der Neofunktionalismus geriet in den 1970er-Jahren ins Wanken, als der funktionale Rahmen des Bretton-Woods-Systems zerfiel und die wirtschaftliche Interdependenz an Bedeutung gewann. Das Obsoletwerden des Neofunktionalismus durch den Zusammen­ bruch des Bretton-Woods-Abkommens zeigt, dass es wichtig ist, den Zu­ sammenhang zwischen währungspolitischer und politischer Integration genauer herauszuarbeiten (siehe Kap. 8). Der liberale Intergouvernementalismus versuchte, mit diesen Inter­ dependenzen umzugehen, und argumentierte, dass die Mitgliedstaaten im Prozess der europäischen Integration einer wirtschaftlichen Logik fol­ gen, wie ich in Kap. 4 gezeigt habe. Der liberale Ansatz zielte nicht darauf ab, irgendeine Art von Föderation zu schaffen oder einen bestimmten Umfang der europäischen Integration zu definieren. Er ist daher nicht in der Lage, angemessene Erklärungen zur Eurokrise zu geben, da er nicht erklären kann, wie mit dem Druck zur Schaffung einer politischen Union

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umzugehen ist, der durch die Kräfte der Währungsintegration verursacht wird. Darüber hinaus hat diese Theorie aufgrund ihrer Konzentration auf wirtschaftliche Gründe übersehen, dass die Hauptantriebskraft der euro­ päischen Integration nicht in wirtschaftlichen Vorteilen, sondern in der Furcht vor (wirtschaftlicher) Dominierung besteht. In jüngster Zeit wur­ den neue Ansätze wie der Multi-Level-Governance, der soziale Konstruk­ tivismus und die Theorie europäischer öffetnlicher Güter vorgeschlagen, um den Prozess der europäischen Integration aus einer anderen Perspek­ tive zu beschreiben und dabei beispielsweise Fragen der Souveränität zu umgehen. Diese Ansätze konzentrieren sich auf spezielle Probleme der europäischen Integration, ein kohärenter neuer Ansatz zur Erklärung der europäischen Integration im Allgemeinen steht jedoch noch aus. Im zweiten Teil dieses Buches wurde argumentiert, dass der europä­ ische Republikanismus als theoretischer Ansatz dazu beitragen kann, die derzeitigen Probleme der europäischen Integration zu überwinden. Der europäische Republikanismus bietet einen neuen, kohärenteren Rahmen, der die Stärken der einzelnen Theorien kombiniert und gleichzeitig die grundlegenden Schwächen und Irrtümer der derzeitigen Theorien be­ seitigt. Der europäische Republikanismus könnte, erstens, einen histori­ schen Rahmen liefern, um die Verbindung zwischen dem Modernisierungs­ prozess und der europäischen Integration wieder zu betonen. Der Republikanismus, der von den alten Griechen erfunden wurde, wurde in der Renaissance wiederentdeckt und in der Aufklärung weiterentwickelt. Mit diesem neuen Narrativ könnte eine europäische Republik als „Leit­ idee“ dienen, die auch einen klaren Rahmen für die europäische Integra­ tion bietet. Die Verwirklichung einer europäischen Republik könnte dann als Endpunkt des Modernisierungsprozesses, einer „Großen Trans­ formation“, und der Verwirklichung der Prinzipien der Aufklärung und der Selbstbestimmung in Europa gesehen werden. In Kap. 6 wurde gezeigt, wie die republikanische Theorie zur Debatte über ein Demokratiedefizit der EU beitragen und helfen kann, Souveräni­ tätsprobleme zu umgehen. Daher ist es wichtig, die kommunitaristische Interpretation des Republikanismus zurückzuweisen und genauer heraus­ zuarbeiten, wie die Debatte über die Wiederbelebung der Republik zum Prozess der europäischen Integration beitragen kann. Darüber hinaus wurde in Kap.  6 Collignons Ansatz einer res publica der öffentlichen

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Güter vorgestellt. Collignon argumentiert, dass europäische externe Ef­ fekte und öffentliche Güter eine europäische res publica darstellen, die eine europäische Governance erfordert. Dieser Ansatz ermöglicht eine kohärente Verbindung von wirtschafts- und politikwissenschaftlichen Theorien. Nichtsdestotrotz gibt es auch bei diesem Ansatz noch Bau­ stellen. Dies betrifft insbesondere die Definition der öffentlichen Güter, um die Theorie der öffentlichen Güter für die europäische Integrations­ theorie „brauchbar“ zu machen. In Kap. 7 habe ich Collignons Ansatz um einige eigene Überlegungen erweitert. Die Theorie der öffentlichen Güter wurde neu bewertet, wobei ein Hauptproblem der Theorie der öffentlichen Güter behandelt wurde. Es wurde argumentiert, dass sich die Merkmale öffentlicher und privater Güter, die (Nicht-)Ausschließbarkeit und die (Nicht-)Rivalität im Kon­ sum, aus der ontologischen Unterscheidung zwischen einer mentalen und einer materiellen Welt ableiten lassen. Dieser Ansatz ermöglicht es, das so genannte Dichotomieproblem der Theorie öffentlicher Güter zu lösen und öffentliche Güter mit Fragen der Souveränität zu verbinden. Außerdem habe ich argumentiert, dass die Definition dessen, was ein öf­ fentliches oder privates Gut ist, eine soziale Konstruktion ist, die wichtige Fragen der Souveränität berührt. Es ist die Aufgabe eines demokratisch legitimierten (europäischen) Souverän zu entscheiden, was ein privates und was ein öffentliches Gut sein soll. Ich habe das Konzept einer Hie­ rarchie von ineinandergreifenden sozialen Institutionen und öffentlichen Gütern eingeführt, das dazu beitragen könnte, eine tiefere Basis der poli­ tischen Philosophie für den europäischen Republikanismus zu schaffen. Dieses Konzept ermöglicht es, wirtschaftliche und politische Aspekte der europäischen Integration auf kohärente Weise zu verbinden. Es hilft daher, die Kluft zwischen politischer und wirtschaftlicher Theorie zu überbrücken, die ich in der Einleitung beschrieben habe. Es wurde argu­ mentiert, dass das Konzept einer Hierarchie von ineinandergreifenden sozialen Institutionen und öffentlichen Gütern erklären könnte, wie ein europäisches Regieren legitimiert werden kann. Darüber hinaus könnte die Idee einer Europäischen Republik dazu beitragen, das Identitäts­ problem Europas zu lösen, indem die Idee einer Republik, wie wir ge­ sehen haben, das Narrativ der europäischen Integration verändert.

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In Teil III wird weiter ausgeführt, wie der entwickelte Ansatz die drei größten Schwächen der derzeitigen Theorien überwinden kann. In Kap. 8 wird das Konzept einer Hierarchie sozialer Institutionen und öf­ fentlicher Güter auf die Theorie der monetären Integration angewendet. Der Zusammenhang zwischen Geld und Souveränität wird erneut hervorgehoben und es wird erläutert, welche Auswirkungen dies auf die Theorie der monetären Integration hat. Die monetäre Integration sollte unter Verwendung eines sozialkonstruktivistischen Ansatzes als eine Inte­ gration von Funktionen verstanden werden. Es wurde argumentiert, dass der Hauptantrieb zur Schaffung einer gemeinsamen Währung der Ver­ such war, einen gemeinsamen europäischen Kapitalmarkt zu schaffen. Es bleibt jedoch noch viel zu tun, um eine kohärente Theorie der Währungs­ integration zu entwickeln, die auch Fragen der Souveränität und des Auf­ baus von Institutionen berücksichtigt. In Kap. 9 wurde beschrieben, wie die Einführung eines gemeinsamen Marktes  – insbesondere eines gemeinsamen Kapitalmarktes  – die ge­ meinsamen Ressourcenprobleme der europäischen Integration verschärft hat. Ich habe gezeigt, dass die Schaffung eines gemeinsamen Kapital­ marktes zu europaweiten Externalitäten führt. Um diese Probleme zu lösen, ist eine gemeinsame Governance erforderlich. Diese Probleme soll­ ten nicht in Form von Interdependenzen zwischen Nationalstaaten mo­ delliert werden, sondern als europaweite Externalitäten, die eine ge­ meinsame Governance erfordern. Der Ansatz der res publica öffentlicher Güter kann helfen zu erklären, wie diese Probleme gelöst werden können. Gemäß der Hierarchie der ineinandergreifenden sozialen Institutionen und öffentlichen Güter ist das erste öffentliche Gut, das eine Regierung bereitstellen muss, die Sicherheit. Nur wenn die Sicherheit gewährleistet ist, ist die Regierung in der Lage, andere öffentliche Güter wie Wirt­ schaftssysteme und soziale Einrichtungen zur Gewährleistung des Privat­ eigentums bereitzustellen. Die Hierarchie der miteinander ineinander­ greifenden sozialen Institutionen und öffentlichen Güter zeigt, dass die erste und wichtigste Triebkraft der europäischen Integration nicht der wirtschaftliche Vorteil ist, sondern vielmehr die Furcht vor Macht und (wirtschaftlicher) Dominierung. In Kap.  10 wurde daher gezeigt, dass geopolitische und wirtschaftliche Überlegungen eng miteinander ver­ bunden sind und beide den Weg der europäischen Integration ­bestimmen.

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Die Mitgliedstaaten folgen also nicht nur einer wirtschaftlichen Logik, wie Moravcsik argumentierte. Der republikanische Rahmen einer res pu­ blica der öffentlichen Güter – der die Theorie der öffentlichen Güter mit der republikanischen Furcht vor Dominierung verbindet – ermöglicht es daher, die treibende Kraft neu zu justieren und gibt geopolitischen Über­ legungen mehr Raum. Darüber hinaus wurde auch auf das komplexe Wechselspiel zwischen Politik und theoretischen Entwicklungen in Politikwissenschaft und Wirtschaft eingegangen. Die Theorie entwickelt sich entsprechend den sich verändernden politischen und wirtschaftlichen Realitäten und um­ gekehrt. Einerseits bewerten Wissenschaftler politische Entwicklungen, um theoretische Annahmen neu zu bewerten. Auf der anderen Seite nut­ zen politische Entscheidungsträger Theorien als Quelle der Legitimation für ihre Entscheidungen. Andrew Moravcsik beispielsweise versuchte mit der Entwicklung des liberalen Intergouvernementalismus-Ansatzes auf die sich verändernden wirtschaftlichen Realitäten und das Aufkommen von Interdependenzen zu reagieren (siehe Kap. 4). Umgekehrt wurde die Theorie des optimalen Währungsraums verwendet, um für oder gegen die Währungsintegration zu argumentieren, und wurde von der Europä­ ischen Kommission genutzt, um die Einführung des Euro zu legitimieren (siehe Abschn.  8.6). Aus dieser Wechselwirkung ergibt sich eine Ver­ antwortung für die Politik- und Wirtschaftswissenschaften. Es muss kontinuierlich herausgearbeitet werden, unter welchen Bedingungen und Annahmen eine Theorie gültig ist. Der europäische Republikanismus bietet daher einen vielver­ sprechenden umfassenden und neuen Rahmen, der in der Lage sein könnte, grundlegende Probleme der europäischen Integrationstheorie anzugehen und die Herausforderungen zu bewältigen, mit denen Europa konfrontiert ist. Der Ansatz bietet viele mögliche Verbindungen zu ande­ ren Disziplinen und könnte daher als Brückenbauer dienen, insbesondere zwischen Wirtschafts- und Politikwissenschaften sowie zwischen Akade­ mikern und Praktikern. Neue Sichtweisen könnten zur Debatte über die europäische Integration beitragen. Der europäische Republikanismus könnte dazu beitragen, eine verständliche, eingängige Alternative zum derzeitigen Narrativ der europäischen Integration zu definieren. Das vage Konzept einer „Europäischen Union“ macht es schwierig zu erfassen, was

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europäische Integration eigentlich bedeutet. Das (historisch ältere) Kon­ zept der „Vereinigten Staaten von Europa“ weckt bei vielen Bürgern immer noch Ängste statt Hoffnung. Es beinhaltet die Vorstellung, dass die europäische Integration so etwas wie ein Schmelztiegel für die euro­ päischen Nationen sein würde. Die nationale Identität würde vollständig in einer neuen europäischen Identität aufgehen. Es muss jedoch betont werden, dass die europäische Integration nicht wie die Einwanderung in die USA im neunzehnten Jahrhundert funktioniert. Der europäische Republikanismus bietet eine Alternative, bei der sich die Bürger eher mit Gesetzen als mit der nationalen Kultur identifizieren. Wenn es europaweite wirtschaftliche Probleme gibt, dann brauchen wir europaweite Gesetze und Institutionen, um diese Probleme zu regeln und zu lösen, trotz kultureller Unterschiede. Die europäischen Bürger müssen die Eigentümer dieser Institutionen sein, sie müssen die Möglichkeit haben, sich in ihnen zu engagieren und Teil der Lösung zu sein. Sicher­ lich, es muss noch viel Arbeit geleistet werden, um die verschiedenen An­ sätze zu kombinieren und einen kohärenten Rahmen zu entwickeln. Der europäische Republikanismus bietet jedoch die Möglichkeit, den Weg zur Verwirklichung des wichtigsten Grundsatzes der Aufklärung zu ebnen: Europas Aufbruch aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Europa, Sapere aude! – Wage es, weise zu sein!

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© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Nature Switzerland AG 2023 T. Zimmermann, Europäischer Republikanismus, https://doi.org/10.1007/978-3-031-44091-5

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Stichwortverzeichnis

A

Adenauer, Konrad 21 AEUV 275 Ägypten 247, 324 Aktionsplan für Finanzdienstleistungen (FSAP) 275 Alesina, Alberto 122 Algerien 92 Althusius 32, 33 American Committee for a United Europe (ACUE) 70 Amerikanische Revolution 36 Amerikanischer Bürgerkrieg 36 Anjos, Moacir dos 235, 237, 239 Ansatz dirigistischer 3 Aquin, Thomas von 31 Arbeitslosigkeitsversicherung 263 Arbeitsmarkt 5, 182, 281, 296

Arbeitsproduktivität 297, 299 Arbeitsteilung 102, 180, 182, 214, 219, 221, 223, 238 Arendt, Hannah 142 Aristoteles 33, 140, 142, 244, 331 Armee, europäische 33, 71, 249, 321, 329 Asmussen, Jörg 279 Asset-Backed-Securities (abs) 279 Autarkie 65, 282 B

Bailyn, Bernard 142 Balassa, Bela 2, 4, 7 Bankenschule 243 Bankenunion 164, 276 Basisgeld 240, 241, 245 Bator, Francis M. 103 Baumol, William J. 180

© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Nature Switzerland AG 2023 T. Zimmermann, Europäischer Republikanismus, https://doi.org/10.1007/978-3-031-44091-5

359

360 Stichwortverzeichnis

Bedingung für den Handel 82 Behaviorismus 201 Belgien 70, 313 Bericht Ein Markt, ein Geld 252 Besitz 73 Besson, Samantha 108 Bestandteil, geistiger 205 Bewegung europäische föderalistische Bewegung 3 Bidault, Georges 75 Bindseil, Ulrich 287 BIP (Bruttoinlandsprodukt) 250 Bismarck, Otto von 12, 42 Block, wirtschaftlicher 65 Bodin, Jean 31 Bogdandy, Armin von 152 Bolivar, Simon 12 Bordo, Michael D. 316 Bozo, Frédéric 93 Bretton-Woods-System 98, 120, 132, 256, 258, 266, 274, 315, 336 Brexit 1, 7, 325 Briand, Aristide 65 Britischer Bürgerkrieg 316 Bruttoinlandsprodukt (BIP) 250 Buchanan, James M. 191, 193 Budgetbeschränkung, harte 258, 267 Bundesbank 6, 240, 291, 294 Bundesverfassungsgericht (BVerfG) 146, 148, 158, 159, 168 Bürger 163, 164, 167, 171, 211, 215–218 Burgess, Michael 32 Buti, Marco 123 BVerfG (Bundesverfassungsgericht) 146, 148, 158, 159, 168

C

Cambridge School 145 Cavour, Camillo 12, 42 China 315 Republik 315 Volksrepublik 315 Christentum 37 Churchill, Winston 70 CIA 70 Cicero 140, 162 Clearingsystem 287 Clower, Robert 238 Clubgut 88, 165, 167 europäisches 88, 166 inklusives 175 Coase, Ronald 115 Code Napoléon 36 Coeuré, Benoit 164 Collignon, Stefan 152, 159–162, 164, 166, 167 Commonwealth 34, 38, 162 polisch-litauisches 34 Cooper, Richard N. 95 Cornes, Richard 194 Coudenhove-Kalgeri, R. N. 70 Credit Default Swaps (CDS) 279 D

Dänemark 70, 129, 278 Davis, Salomon 31 Debatte Grimm-Habermas 149 Decartes, René 201 Defizit demokratisches 88 strukturelles 147 Deflation 260

 Stichwortverzeichnis 

Delors 266 Delors, Jacques 16 Delors-Bericht 82 Demokratie europäische 130, 147, 149, 151, 154, 159 Demokratiedefizit 146 d’Estaing, Valéry Giscard 21 Deutsch, Karl W. 103 Deutschland 42, 69, 73, 74, 81, 146, 181, 206, 219, 235, 278, 279, 285, 288, 293, 294, 296, 301, 305, 318, 319, 323 Dichotomie 179, 187, 192, 193, 200, 208, 212, 224, 338 Dienstleistung 182 Dow, Sheila C. 236, 238, 239 Durchschnittliche Kapitaleffizienz (ACE) 298 E

Ecb 277, 287, 288, 291, 303 Effekt, externer 9, 10, 14, 15, 65, 75, 105, 116, 126, 277, 280, 283, 284, 338 Marshall-Pigou 104 Netzwerk 240 EFSF 288 Eigentumsrecht 9, 115, 185, 194, 197, 199, 208, 209, 215, 220, 248, 250 Einheit der Rechnung 233 Einheitliche Europäische Akte 274 Einstein, Albert 203 Eisenhower, Dwight D. 218 Enderlein, Henrik 16 Enzyklik, päpstliche 33

361

Erasmus-Programm 21, 118, 164 Erweiterung der EU 153 Erzählung 331 ESM 288 EU-Haushalt 119, 123, 126, 128, 300–302 Euro-Anleihen 264, 279, 304, 305, 330 Euro-Krise 7, 21, 22, 84, 104, 181, 253, 260, 286, 287, 329 Europa 2020 127 Europa der Vaterländer 93 Europäische Gemeinschaft 75 Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) 73 Europäische Gerichtshof für Schiedsgerichtsbarkeit 41 Europäische Kommission 5, 276 Europäische Republik 152–154, 169, 340 Europäische Union (EU) 2, 5, 21, 23, 100, 112, 113, 116, 121, 125, 133, 144, 148 Europäische Verteidigungsgemeinschaft (EVG) 249, 311, 320 Europäische Währungseinheit (ECU) 255 Europäische Wirtschaftsgemeinschaft 25 Europäische Zentralbank (EZB) 100, 167, 172, 251, 263, 275, 284, 287, 290, 291, 293, 295 Europäischer Konvent 152 Europäischer Rat 126 Europäischer Republikanismus 144 Europäischer Wechselkursmechanismus 264

362 Stichwortverzeichnis

Europäisches Parlament 148 Europarat 70, 313, 320 Eurozone 166, 172, 262, 268, 277, 280, 284–287, 289, 290, 292, 295, 305 Externalität, finanzielles 104 F

Faschismus 42 Featherstone, Kevin 88 Fed 240, 295 Feld, turbulentes 87 Feldstein, Martin 323, 324 Feudalismus 25, 37 Fiat-Geld 222, 235, 240, 246, 289 Figueira, Filipa 124 Finanzmarkt 150, 166, 240, 257, 264, 274, 276, 279, 281 Finanztransaktionssteuer 297 Finnland 305 Flüchtlingskrise 146, 163, 310, 325, 330 Föderalismus 11–15, 18, 29–34, 36, 39, 40, 64, 120, 130, 133 fiskalischer 18 Föderation, europäische 11, 15, 19, 25, 30, 37, 42, 64, 65, 76, 79, 131, 317 Fouchet-Plan 93 Frankreich 36, 70, 75, 92, 140, 182, 295, 301, 315, 320, 323, 324, 328 Frantz, Constantin 42 Freihandelszone, europäische 121 Freiheit 21, 23, 141–145, 155, 157, 196, 332

als Nicht-Dominierung 142 als Nichteinmischung 142 Definition 142 negative 142 positive 142 Friedman, Milton 259 Funktionalismus 336 föderaler 19 Furcht vor Herrschaft 92 vor wirtschaftlicher Dominanz 74 G

Garibaldi, Giuseppe 41 Garrett, Geoffrey 114 GATT 328 Gaulle, Charles de 92 Gegenseitigkeit 38 Geistesgemeinschaft 40 Geldpolitik 96, 123, 291, 306 Gemeinsame Agrarpolitik (GAP) 123, 129 Gemeinschaft 154, 156, 165, 221, 255, 282, 310 Geschenkökonomie 234 Gesellschaftsvertrag 209, 213, 215, 216, 218, 219, 239 Gillingham, John 75 Giscard dÈstaing, Valéry 21 Gleichgewicht 84, 180, 231, 241, 258, 285 Gleichgewicht der Kräfte 299 Gold Reserve Act 313 Goldstandard 25, 247, 260, 261, 292 Goodhart, Charles 243

 Stichwortverzeichnis 

Grauwe, Paul de 267, 289 Griechenland 21, 123, 140, 158, 166, 281, 282, 288, 293–295, 305 Grimm, Dieter 149 Große Transformation 10 Größenvorteil 127, 182, 195 Großraumwirtschaft 3 Grund wirtschaftlicher 337 Gründungsmythos 21, 23, 336 Guérot, Ulrike 153 Gut öffentliches 217 öffentliches europäisches 118 privates 193, 200, 201, 207, 208, 214, 217, 224 H

Haager Kongress 70 Haas, Ernst B. 12, 64, 76, 77, 79, 83, 86, 87 Habermas, Jürgen 150 Hahn, Frank 241 Hall, Peter A. 114 Hamilton, Alexander 40 Handel 5, 68, 69, 82, 95, 98, 121, 130, 259, 265, 274, 278, 314, 328 freier 259, 261 Handelsbedingung 82 Hardin, Garrett 195, 197 Hartz, Louis 141 Hayek, Friedrich 184 Heere, stehendes 10 Heilige Allianz 30, 37, 38, 94 Heinrich IV., König 33

363

Herzog von Sully 33 Hierarchie der Geldfunktionen 239 der ineinandergreifenden sozialen Einrichtungen 214 Hobbes, Thomas 197, 200, 203, 212, 213, 215, 219, 224 Hoffmann, Stanley 94 Homo oeconomicus 108 Hooghe, Lisbet 111, 112 Hugo, Victor 41, 332 Hume, David 261 I

Idealismus 30 Identität 42 europäische 118 Ikenberry, G. John 316 Indonesien 314 Inflation 260, 263, 267, 268, 285, 290, 294, 295 Ingham, Geoffrey 231 Inkrementalismus 78, 86, 87 Institutionalismus 114, 115, 170 historischer 115 neuer 114 Institutionenökonomie, neue 115 Integration in den Arbeitsmarkt 5 monetäre 106, 230, 236, 252, 265 steuerliche 257 wirtschaftliche 1, 3, 4, 10, 13, 76, 79, 82, 92, 93, 101, 106, 118, 122, 131, 265, 309, 311, 322, 329 Intentionalität, kollektive 117

364 Stichwortverzeichnis

Interaktion menschliche 143 Interdependenz, 15 wirtschaftliche 15 Intergouvernementalismus 309 Internationale Arbeitsorganisation (ILO) 68 Internationalen Währungsfonds (IWF) 313 Irland 281, 283, 285 Issing, Ottmar 6 Italien 42, 70, 120, 128, 181, 267, 278, 288, 305 J

Japan 278, 301, 314 Jevons, William S. 232 Ji, Yuemei 289 Justiz 222 K

Kaldor, Nicholas 7 Kant, Immanuel 35 Kapitalbewegung 82, 106, 287, 296 Kapitalmarkt 20, 106, 230, 254, 264, 274, 277, 280, 281, 284 Kapitalstrom 69, 82, 87, 98, 132, 133, 175, 253, 278, 280, 283, 296, 299, 306 Kapitalunion 81, 82 Kapitalverkehrskontrolle 22, 69, 157, 221, 250, 252, 274, 306 Karolingische Renaissance 24 Keohane, Robert O. 99 Keynes, John M. 25, 233, 239, 244, 297 Keynesianismus 243

Kissinger, Henry 324 Knapp, Georg F. 245 Kohl, Helmut 21 Kollektivgüter 97 Kommunismus 219, 318 Kommunitarismus 33, 142 König, Phillip 287 König, Thomas 152 Konsens, epistemischer 161 Konservatismus 141 Konstruktivismus sozialer 116 Konsumgut, kollektives 191 Koreakrieg 315, 320 Krimkrieg 39 Krönungstheorie 6 L

Landesbank 279 Lane, Philipp R. 274 Lanoo, Karel 277 Lau, Jeffrey 238, 249 Läufer, Thomas 149 Lega Nord 120 Legitimation 148, 171, 183, 191, 210, 219, 220, 261 Legitimität 144 Leitidee 152, 153, 337 Lerner, Abba P. 246, 247 Leviathan 197, 209, 213, 215, 216, 218, 220 Liberaler Intergouverne­ mentalismus (LI) 11 Liberalisierung 97 des Kapitalverkehrs 5 Liberalismus 25, 108, 140–143, 219, 321, 332 Lindblom, Charles 78

 Stichwortverzeichnis 

Liquidität 236, 260 Lissabon-Strategie 124, 128 Lissabon-Vertrag 158 List, Friedrich 39 Locke, John 141, 200 Lohnstückkosten 296–299 Lohnsystem 107 Lohnverhandlung 290, 297 Lokomotivtheorie 6 Lovett, Frank 143, 144, 154 Luxemburg 70 Élysée-Vertrag 93 M

Maastrichter Vertrag 140 Maastricht-Urteil 148 Mackay, Charles 41 Majone, G. 114 Mandeville, Bernard 200 Mangel, institutioneller 291 Marks, Gary 111, 113 Markt abstrakter 180, 184, 187 gemeinsamer 3, 23, 24, 278, 302 Marktgesellschaft 9, 16, 29, 200 Marktversagen 129, 183, 185, 191, 209, 224, 240 Marshall-PigouExternalitätskonzept 104 Marshall-Plan 319 Martì, José Luis 108 Maß für den Wert 233 Mazzini, Giuseppe 40 McKinnon, Ronald I. 258 Meade, James E. 184, 185, 257, 259, 260 Mehrjahresrahmen 119, 302

365

Menger, Carl 234, 240, 242, 244 Mesopotamien 247 Metternich, Fürst Klemens von 37 Mexiko 326 Mitrany, David 64, 66, 68, 75 Mittel des Zahlungsaufschubs 253 Mitterand, François 21 Monnet, Jean 64, 71, 316, 324 Monnet-Methode 1, 64 Monnet-Plan 73 Monroe-Doktrin 39 Montesquieu, Charles-Louis 141 Moravcsik, Andreas 15, 91, 94, 95, 97, 99, 101 Morgenthau, Henry 75, 313 Multi-Level-Governance (MLG) 111 Mundell, Robert 257–259, 263, 266, 268 Musgrave, Richard 121, 192 N

Napoleon Bonaparte 12 Nash-Gleichgewicht 241 Nationalismus 25, 39, 40, 42, 65, 77, 141, 321 Nationalstaat 8, 16, 30, 39, 40, 71, 168, 248, 259, 310, 321 NATO 70, 71, 92, 217 Nazideutschland 3 Neofunktionalismus 11, 13–15, 63, 64, 71, 74, 86 Neo-Republikanismus 141, 154 New Deal 67 Nicht-Rivalität 130, 187, 190 Niederlande 70, 140, 278, 305, 313 Nixon-Schock 266, 315

366 Stichwortverzeichnis

No-Bail-out-Klausel 115, 304 Norwegen 70 Novalis 37 Nullsummenspiel 166, 303 Numéraire 231 Nye, Joseph S. 99 O

Oates, Wallace 120, 180 Obsoleszenz 99 OCA-Theorie 6, 230, 256, 258, 266, 268 OEEC 70 Olson, Mancur 195 OSS 70 Österreich 42 Ostrom, Elinor 196 P

Padoa-Schioppa-Bericht 5, 252, 268 Padoa-Schioppa-Gruppe 284, 285, 293, 300, 302 Padoa-Schioppa, Tommaso 16 Paneuropa 65 Pareto-Effizienz 185 Penn, William 33 Persson, Torsten 121 Pettit, Philip 142, 144, 154 Pickardt, Michael 192 Pierson, Paul 115 Pigou, Arthur 104 Pigouvsche Steuer 104 Pisani-Ferry, Jean 164 Platon 140, 212, 214, 219, 221, 222, 224, 331 Pleven, René 320

Pleven-Plan 320 Pocock, John G. A. 142 Polanyi, Karl 8, 9, 29 Polen 40 Pollack, Mark A. 114 Präferenz 77, 98, 106, 107, 122, 144, 152, 159, 168 Preissystem 172, 190 Prodi, Romano 124 Projekt, postwestfälisches 17 Putnam, Robert D. 98 R

Rat der Wirtschaftsexperten 313 Rationalität 93, 106, 118, 132, 152, 173, 310 Realismus 12, 38, 71, 92, 94, 101, 309 Recheneinheit 233 Recht, individuelles 141, 157 Rechtsstaatlichkeit 16, 29, 34, 76, 140, 144 Reichtum der Nationen 236 Renaissance 140–142 Republik niederländische 34 universale 40 Republikaner, kommunitärer 154 Republikanismus 40, 108, 139–141, 144, 155, 171, 174, 250 Res publica 20, 111, 140, 159, 173, 179 der Gemeingüter 161 Ressource gemeinsame 165, 167, 196, 202, 220, 265, 273, 277 Revolution

 Stichwortverzeichnis 

französische 331 glorreiche 34 Ricardo, David 2 Richtlinie über Märkte für Finanzinstrumente (MiFID) 275 Robbins, Lionel 314 Römische Verträge 248 Römisches Reich 24 Rosati, Massimo 142 Rousseau, Jean-Jacques 220 Rousseau, Stephen 236 Ruhrpolitik 75 Russland 100, 326, 328 S

Samuelson, Paul A. 179, 190, 192, 193, 208 Sandler, Todd 180, 194 Sapir-Bericht 124 Schachtschneider, K. A. 146, 155, 156, 158 Scharpf, Fritz 105, 114 Schimmelpfennig, Frank 105 Schlegel, Friedrich 35 Schmidt, Helmut 21 Schmitter, Philippe C. 83, 86, 91 Schottland 121 Schrift, föderalistische 39 Schule chartalistische 232, 243, 245, 249 Metallkunde 232 Schuman, Robert 21, 319 Schuman-Erklärung 70, 73, 74, 107 Schuman-Plan 74, 181 Schweden 70, 278 Schweiz 169, 313 Searle, John 117, 201

367

Seignorage 246 Selbstverwaltung 140, 141 Shepsle, Kenneth A. 114 Sicherheit 213, 216, 221, 277, 309, 320, 322, 329 Simmel, Georg 10, 102, 234, 247, 251 Sinn, Hans Werner 288, 289 Skinner, Quentin 142 Smith, Adam 200, 222, 236 Smithin, John 236, 238–240, 244, 245, 248 Solidarität 321 finanzielle 321 Souveränität 14, 31, 39, 71, 73, 92, 101, 113–115, 118, 124, 131, 148, 150, 156, 158, 170, 175, 212, 216, 218 Sowjetunion 3, 72, 74, 92, 315, 318 Sozialismus 141, 197, 332 Spanien 282, 283, 285, 288, 295, 305 Spill-over-Effekt 11 Spinelli, Altiero 66, 72, 332 Spurensuche für öffentliche Güter 128 Standard des Zahlungsaufschubs 253 Steuerpolitik 3, 7, 246 Stresemann, Gustav 65 Ströbele, Hans-Christian 146 Südamerika 39 Suez-Krise 324 Supranationalismus 291 Syrien 326, 330 T

Tabellini, Guido 121, 123 TARGET-System 286

368 Stichwortverzeichnis

Tauschhandel 222, 234, 244 Tauschmittel 234 Taylor, Rosemary C. 114 Theorie politikwissenschaftliche 2, 8, 9, 12, 14, 20 Theorie der Krönung 6 Thiel, Thorsten 144, 145, 151 Tilly, Charles 9, 218, 320 Tobin-Steuer 306 Totalitarismus 66, 67, 69, 155 Tragödie der Allmendegüter 195 Transferunion 6 Transnational 100 Tripartie-Abkommen 313 Truman, Harry S. 318 Truman-Doktrin 318 Tsebelis, Georg 114 TTIP 66, 210, 327 Tugend, bürgerliche 332 Türkei 70, 80, 318, 325, 326 U

Ukraine 66, 80, 100, 310, 325, 330 Unabhängigkeitskrieg 321 Ungewissheit 236 Union panamerikanische 39 politische 2, 8, 13, 82, 115, 122, 324, 325 Universalmonarchie 36 Universalrepublik 40 US-Dollar 314 V

Vatikanstaat 141 Vereinigte Staaten 25, 314, 322, 324, 325

von Europa 325 Vereinigtes Königreich 70, 72, 278, 282, 318, 324 Verfassung europäische 149 wirtschaftliche 149 Versailles 75 Versicherung gegen konjunkturelle Schwankungen 284 Vertrag von Brüssel 70 von Dünkirchen 318 Vertretung 258 Verwaltung öffentlicher Güter 198 Vier Funktionen des Geldes 257 Vietnam 315 Vincolo esterno 267 Viner, Jacob 2, 104, 313 Völkerbund 68 Vorherrschaft 39, 146, 327, 328 nicht 99 Vorteil komparativer 81, 245 wirtschaftlicher 15, 131, 133, 173, 335 W

Wahl rationale 114 Wählerschaft, erkenntnistheoretische 105 Währung gemeinsame 132, 165, 175, 242, 251, 252, 254, 264, 266, 274 Währungsschule 243 Währungsstabilisierungsfonds 259

 Stichwortverzeichnis 

Währungssystem 240, 254, 257, 258, 264, 268 Währungsunion 3, 6, 82, 121, 156, 166, 251, 266, 274, 286, 287, 297 Walrasianisches Modell 192 Waltz, Kenneth 103 Weber, Max 114 Wechselkurs 82, 238 fester 252, 255 Welt geistige 201 materielle 201 Weltbank 70 Weltkrieg erster 72 zweiter 71, 72, 77, 101, 131, 184 Wendt, Alexander 117 Wergeld 246 Werner-Bericht 5 Werner-Plan 81 Wert abstrakter 233 Wertaufbewahrung 232, 236, 241, 252, 253, 255 Wertmaßstab 233 Wertpapierdienstleistungs­ richtlinie 275 Westfälische Ordnung 16 Westfälischer Frieden 17 WestLB 279 Wettbewerbsfähigkeit 128, 285, 290, 299

369

White, Harry D. 313 Wiener, Antje 91 Wiener Kongress 30 Wirtschaftsblock 65 Wirtschaftsunion 3, 7, 317 Wood, Gordon S. 142 WTO 70 WWU 157, 294, 323–325 Z

Zahlungsaufschub 253 Zahlungsbilanz 95, 258–260, 265, 288 Zahlungsmittel 232, 234, 235, 238, 240, 244, 245, 247, 255, 273 Zahlungsmittelfunktion 238 Zahlungssystem 251, 253, 254, 256, 265, 286, 287 europäisches 287 Zapatero, José Luis 144 Ziel-System 286 Ziel2-System 286 Zinssatz 132, 172, 284, 292, 300 Zizek, Slavoj 25 Zollunion 3, 81, 88, 107, 172 Zuleeg, Fabian 128, 130 Zustand der Natur 209 Zwei-Ebenen-Perspektive 98 Zypern 129