Neuzeitliches Denken: Festschrift für Hans Poser zum 65. Geburtstag [Reprint 2011 ed.] 9783110896374, 9783110175165

Ever since the onset of the modern era, the relationships between knowledge, the sciences, technology, and the life worl

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German Pages 491 [492] Year 2002

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Table of contents :
Vorwort
I. Aspekte des Wissens und der Wissenschaften
Die Weltlichkeit der Wahrheit. Anthropologie als Theorie der Erkenntnis
„Gesammelte Werke“
Die Macht der Weltbilder und Bildwelten
Mathematik und Lebensform
Zur technologie- und handlungsorientierten Wissenschaftstheorie. Wissenschaftstheoretische Bemerkungen zum Theoriebegriff und zu theoretischen Begriffen samt Folgerungen für die Konstruktions- und Design-Theorie
II. Denken von der Frühen Neuzeit bis zum Deutschen Idealismus
Denken und Rechnen: Über die Beziehung von Logik und Mathematik in der frühen Neuzeit
Alchemie und Transzendenz im Spiegel zweier Symbole
Descartes’ „Regulae“ als Problemlösungsmethodologie
Überlegungen zum Begriff des „Geistes“ bei Leibniz
Le „Système de l’Harmonie Préétablie“ et la critique de l’Occasionalisme
Lexicographie et caractéristique universelle
Le calcul leibnizien dans la correspondance entre Leibniz et Jean Bernoulli
Leibniz and ,Universal‘ Justice: The Influence of Plato’s Euthyphro
All you need is love, love ... Leibniz’ Vermittlung von Hobbes’ Naturrecht und christlicher Nächstenliebe als Grundlage seiner Definition der Gerechtigkeit
Leibniz und der Eklektizismus
Leibnizens Plan einer protestantischen Mission in China
Menschliche Vernunft. Kritik der Urteilskraft §§76–77
Geschichtsphilosophie: Ein problematisches Erbe der Aufklärung
Natur als Objekt – Natur als Subjekt. Der Wandel des Naturbegriffs bei Fichte und Schelling
Hegel und die Dezentrierung des Subjekts. Versuch über das Resultat der spekulativen Selbstvollendung des Subjekts
III. Moderne Technik und Technologien
Expertendilemma und Abduktion: Zum Umgang mit Ungewißheit in der Technikbewertung
Analytische Probleme des Pragmatischen Syllogismus
Erfinden und Konstruieren
Jenseits von Zähmung oder Züchtung. Die Ablösung der Künstlichen Intelligenz durch die Netzwerk-Menschen
Spezifika der Technikwissenschaften
Wider die Entdinglichung im Technikverständnis
Dämonisierende und eudämonisierende Technikdeutungen
Siglenverzeichnis
Verzeichnis der Schriften Hans Posers
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Neuzeitliches Denken: Festschrift für Hans Poser zum 65. Geburtstag [Reprint 2011 ed.]
 9783110896374, 9783110175165

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Neuzeitliches Denken

Neuzeitliches Denken Festschrift für Hans Poser zum 65. Geburtstag

Herausgegeben von Günter Abel Hans-Jürgen Engfer Christoph Hubig

W DE G Walter de Gruyter · Berlin · New York 2002

© Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt. Die Deutsche Bibliothek — ClP-Hinheitsaufnahme

Neuzeitliches Denken : Festschrift für Hans Poser zum 65. Geburtstag / hrsg. von Günter Abel .... — Berlin ; New York : de Gruyter, 2002 ISBN 3-11-017516-9

© Copyright 2002 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, D-10785 Berlin. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechdich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Kinspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Einbandgestaltung: Christopher Schneider, Berlin

Hans Poser

Vorwort Am 25. Mai 2002 vollendet Hans Poser sein 65. Lebensjahr. Für Kollegen, Weggefährten und Schüler ist dies Anlaß, ihn mit dem vorliegenden Band zu ehren. Die Autoren der Beiträge würdigen auf diese Weise einen Gelehrten, dessen Arbeiten leitmotivisch unter dem im Titel genannten Stichwort „Neuzeitliches Denken" versammelt werden können. Des näheren und holzschnittartig kann man die Arbeiten von Hans Poser unter drei Gesichtspunkten sehen, die auch die Gliederung des vorliegenden Bandes bestimmen: (1) Aspekte des Wissens und der Wissenschaften; (2) Denken von der Frühen Neuzeit bis zum Deutschen Idealismus; und (3) Moderne Technik und Technologien. In diesen Themenfeldern und ihren Verschränkungen geht es Hans Poser vor allem um die Verhältnisse zwischen Philosophie, Wissenschaft, Technik und Lebenswelt. Seine Arbeitsgebiete im speziellen sind: Wissenschaftsphilosophie; Technikphilosophie; Modaltheorie; Philosophie der Mathematik; Geschichte der Philosophie des 17. und 18. Jahrhunderts. In diesen Bereichen hat Hans Poser einschlägige Publikationen vorgelegt, die international hohes Ansehen genießen. Nach dem Staatsexamen in Mathematik und Physik (1964) wurde Hans Poser an der TU Hannover 1969 in Philosophie promoviert und 1971 habilitiert. 1972 wurde er auf eine ord. Professur für Philosophie an der Technischen Universität Berlin berufen, die er bis heute innehat. Hans Poser versteht Philosophie nicht als eine isolierte, in sich zurückgezogene und gegenüber anderen Disziplinen abgeschottete Tätigkeit. Immer wieder hat er auch fächerübergreifend gearbeitet. Das betrifft zunächst Fragestellungen der Geisteswissenschaften insgesamt. Es betrifft sodann aber vor allem die Schnittstellen zwischen den Geistes-, den Natur- und den Technikwissenschaften. Das am Ende des vorliegenden Bandes veröffentlichte Schriftenverzeichnis belegt auch dies eindrucksvoll. Hans Poser argumentiert dabei zum einen auf dem fachwissenschaftlichen Niveau dieser Disziplinen, zum anderen aber in genuin philosophischer Perspektive. Vor allem durch letzteren Aspekt werden, wie etwa am Beispiel des Verhältnisses von Mathematik und Erfahrungswissenschaften, Aspekte sichtbar, die in einer rein fachwissenschaftlichen Betrachtung nicht ohne weiteres in den Blick treten. Auf diese Weise ist Hans Poser zu einem wichtigen Gesprächspartner über die Grenzen des Faches Philosophie hinaus geworden. Die Herausgeber danken den Autoren für ihre Mitarbeit. Im Verlag Walter de Gruyter ist Herrn Dr. Volker Gebhardt für die Aufnahme des Bandes in

VÜi

Vorwort

das Verlagsprogramm, Frau Grit Müller und Herrn Christoph Schirmer für die Betreuung des Projektes zu danken. Für die großzügige Gewährung eines Druckkostenzuschusses sind wir dem Präsidium der Technischen Universität Berlin und der „Gesellschaft von Freunden der Technischen Universität Berlin e. V." zu Dank verpflichtet. Unser herausgehobener Dank gilt den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern am Institut für Philosophie der Technischen Universität Berlin: Frau Astrid Wagner, Frau Ute Feldmann, Herrn Jan Kromminga, Herrn Claudio Roller und Herrn PD Dr. Rainer Adolphi. Ohne ihre Tätigkeit wäre der vorliegende Band nicht möglich gewesen. Mit großem zeitlichem und sachkompetenten Engagement haben sie die Aufbereitung und Vereinheitlichung der Manuskripte, alle redaktionellen Arbeiten sowie das gesamte Layout durchgeführt. Zu danken haben wir auch den anderen Angehörigen des Instituts, die sich dankenswerterweise an der Korrekturlektüre der Beiträge beteiligt haben. Berlin, im Mai 2002 Günter Abel Hans-Jürgen Engfer Christoph Hubig

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

vii

I. Aspekte des Wissens und der Wissenschaften Christa Hackenesch Die Weltlichkeit der Wahrheit. Anthropologie als Theorie der Erkenntnis

3

Hans-Jörg Rheinberger „Gesammelte Werke"

13

Günter Abel Die Macht der Weltbilder und Bildwelten

23

Ulrich Dirks Mathematik und Lebensform

49

Hans Lenk Zur technologic- und handlungsorientierten Wissenschaftstheorie. Wissenschaftstheoretische Bemerkungen zum Theoriebegriff und zu theoretischen Begriffen samt Folgerungen für die Konstruktions- und Design-Theorie

67

II. Denken von der Frühen Neuzeit bis zum Deutschen Idealismus Massimo Mugnai Denken und Rechnen: Über die Beziehung von Logik und Mathematik in der frühen Neuzeit

85

Hans-Werner Schutt Alchemic und Transzendenz im Spiegel zweier Symbole

101

Thomas Gil Descartes' „Regulae" als Problemlösungsmethodologie

117

X

Inhaltsverzeichnis

Thomas Leinkauf Überlegungen zum Begriff des „Geistes" bei Leibniz

125

Michel Fichant Le „Systeme de l'Harmonie Preetablie" et la critique de POccasionalisme

145

Andre Robinet Lexicographic et caracteristique universelle

163

Eberhard Knobloch Le calcul leibnizien dans la correspondance entre Leibniz et Jean Bernoulli

173

Patrick Riley Leibniz and .Universal' Justice: The Influence of Plato's Euthyphro

195

Ursula Goldenbaum All you need is love, love ... Leibniz' Vermittlung von Hobbes' Naturrecht und christlicher Nächstenliebe als Grundlage seiner Definition der Gerechtigkeit

209

Ulrich Johannes Schneider Leibniz und der Eklektizismus

233

Wenchao Li Leibnizens Plan einer protestantischen Mission in China

251

Jürgen Engfer Menschliche Vernunft. Kritik der Urteilskraft §§76-77

267

Concha Roldän Geschichtsphilosophie: Ein problematisches Erbe der Aufklärung

285

Christoph Asmuth Natur als Objekt - Natur als Subjekt. Der Wandel des Naturbegriffs bei Fichte und Schelling

305

Klaus Erich Kaehler Hegel und die Dezentrierung des Subjekts. Versuch über das Resultat der spekulativen Selbstvollendung des Subjekts

323

Inhaltsverzeichnis

XI

III. Moderne Technik und Technologien Christoph Hubig Expertendilemma und Abduktion: Zum Umgang mit Ungewißheit in der Technikbewertung

339

Klaus Kornwachs Analytische Probleme des Pragmatischen Syllogismus

353

Hans Heinz Holz Erfinden und Konstruieren

381

Walther Ch. Zimmerli Jenseits von Zähmung oder Züchtung. Die Ablösung der Künstlichen Intelligenz durch die Netzwerk-Menschen

391

Wolfgang König Spezifika der Technikwissenschaften

411

Günter Ropohl Wider die Entdinglichung im Technikverständnis

427

Ernst Oldemeyer Dämonisierende und eudämonisierende Technikdeutungen

441

Siglenverzeichnis

461

Verzeichnis der Schriften Hans Posers

463

I. Aspekte der Wissens und der Wissenschaften

Die Weltlichkeit der Wahrheit Anthropologie als Theorie der Erkenntnis?

Christa Hackenesch (Berlin)

„Hat sich der Mensch", so formuliert es Max Scheler in den zwanziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts, „einmal aus der gesamten Natur hera«sgestellt und sie zu seinem .Gegenstande' gemacht, so muß er sich gleichsam erschauernd umwenden und fragen: ,Wo stehe ich denn selbst? Was ist denn mein Standort?' Er kann nicht eigentlich mehr sagen: ,Ich bin ein Teil der Welt, bin von ihr umschlossen' - denn das aktuale Sein seines Geistes und seiner Person ist sogar den Formen des Seins dieser ,Weltc in-Raüm und Zeit überlegen."* „Die Stellung des Menschen im Kosmos" wird in ihrer Fragwürdigkeit, ihrer möglichen absoluten Kontingenz neu und in radikalisierter Weise offenbar im Augenblick, in dem das Pathos der Neuzeit, das Pathos des Menschen als Subjekt von Welt, als Grund, Autor ihrer Bedeutung und Gestalt als zerstört erscheint. „Wir kommen", hatte Hegel im Blick auf Descartes in seiner Geschichte der Philosophie geschrieben, „eigentlich jetzt erst zur Philosophie der neuen Welt [...] Mit ihm treten wir eigentlich in eine selbständige Philosophie ein, welche weiß, daß sie selbständig aus der Vernunft kommt und daß das Selbstbewußtsein wesentliches Moment des Wahren ist. Hier, können wir sagen, sind wir zu Hause und können wie der Schiffer nach langer Umherfahrt auf ungestümer See ,Land' rufen."2 Gerade aber dieses „Zuhausesein" im Bewußtsein des Selbst, der Vernunft ist es, was verlorenging in der geschichtlichen Erfahrung, in der Reflexion dieser Erfahrung durch die Philosophie. „Zerrissenheit", so Hegel, der Verlust der Gewißheit des eigenen „Standorts" gegenüber der Welt, provoziert „das Bedürfnis der Philosophie", daß sie den Abgrund zwischen Selbst und Welt zu versöhnen, ihre Einheit wiederzubegründen vermöchte durch die Macht der Vernunft, des Geistes. Das Vertrauen in diese Macht aber scheint unwiederbringlich verloren - und darin das des Menschen in sich selbst als ihren endlichen Repräsentanten. Macht, so Scheler, besitzt der Geist nicht aus sich selbst heraus. Sie wächst ihm erst zu aus den Sublimierungsleistungen des Menschen, der nur potentiell 1 2

M. Scheler, Die Stellung des Menschen im Kosmos, 12. Aufl., Bonn 1991, S. 88. G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, Theorie Werkausgabe Bd. 20, Frankfurt a. M. 1971, S. 120.

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Christa Hackenesch

ein geistiges, der zuerst ein lebendiges Wesen ist. „Leben" ist der Grund, aus dem heraus „Geist" sich erst bildet. Programmatisch heißt es: „Für die Neuzeit hat die klassische Theorie des Menschen ihre wirksamste Form gefunden in der Lehre des Descartes, die wir eigentlich erst in jüngster Zeit abzuschütteln im Begriff sind."3 „Abzuschütteln" ist die metaphysische Fiktion einer ursprünglichen geistigen Substanz des Menschen, die ihn der natürlichen Welt immer schon enthoben hat, sein „Wesen" aus der Gegenüberstellung zu ihr bestimmt. Zugleich und durchaus entgegen einer Zurücknahme des Bildes des Menschen in den ihn umgreifenden Raum des Lebendigen feiert Scheler den geschichtlichen Prozeß, in dem der Mensch Gegenstandsbewußtsein gewinnt, seine „Umwelt" zur „Welt" distanziert, zum Gegenstand seines Erkennens, seines Wissens. Die Stellung des Menschen im Ganzen des Kosmos ist kontingent. Und doch vermag der Mensch einen Standpunkt der Objektivität einzunehmen. „Denn das ist das Große der menschlichen Wissenschaft, daß der Mensch in ihr mit seiner Zufallsstellung im Universum, mit sich selbst und seinem ganzen physischen und psychischen Apparat gleichwie mit einem fremden Dinge, das in strengen Kausalverknüpfungen zu anderen Dingen steht, immer umfassender zu rechnen lernt und damit langsam ein Bild der Welt selbst zu gewinnen weiß, das und dessen Gegenstände und deren Gesetze von seiner psychophysischen Organisation, seinen menschlichen Sinnen und deren Schwellen, seinen Bedürfnissen und deren Interessen an den Dingen ganz und gar unabhängig sind."4 Das Telos des Geistes, einer die natürliche Welt durchdringenden Vernunft bleibt bestehen, relativiert im Blick auf seine Genese aus der Wirklichkeit des Lebens, der der Mensch ursprünglich zugehört. Und zugleich überhöht Scheler dieses Telos noch, indem er den Geist als der „Sphäre eines absoluten Seins" zugehörig behauptet. Die Fragwürdigkeit des „Standorts" des Menschen gegenüber der Welt findet ihre Antwort für ihn zuletzt in einem Dritten, in dem Gedanken Gottes als eines alle Differenz, „Zerrissenheit" einenden Seins. Nach Scheler hat kein Vertreter der Philosophischen Anthropologie „Gott" mehr als ihren möglichen Fluchtpunkt angesehen. Bestimmt diese sich doch gerade als Kritik jeder theologischen, jeder metaphysischen Bestimmung eines Wesens des Menschen. Und Scheler selbst hatte ja einer solchen Bestimmung widersprochen in der Behauptung einer geschichtlichen Kontinuität von Leben und Geist. Als seine eigentliche Leistung ist eben auch dies tradiert worden: eine Genese des Selbst beschrieben zu haben, die Schritte, die von der Gebundenheit an seine Triebe und Affekte zur Unabhängigkeit, zur „Weltoffenheit" des Menschen führen, die ihn Welt von sich distanzieren, 3 4

M. Scheler, Die Stellung des Menschen im Kosmos, a.a.O., S. 71. Ebd., S. 47.

Die Weltlichkeit der Wahrheit. Anthropologie als Theorie der Erkenntnis?

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sie erkennen lassen, statt daß er in einer um ihn geschlossenen „Umwelt" zu leben gezwungen bliebe. Diese Behauptung einer geschichtlichen Genese des Selbst trennt die Philosophische Anthropologie von der Metaphysik des Geistes. Sie trennt sie auch von einer Ontologie des Selbst, wie sie Heidegger darzustellen sucht. Für diesen bedeutet die Sinnlichkeit, die Leiblichkeit des Menschen nur den Ausdruck seiner ontologischen Bestimmung der Endlichkeit. Wir sind gezwungen, die Dinge der Welt zu erfahren, „hinzunehmen", statt sie zu erschaffen, weil wir endliche Wesen sind. Statt den Menschen aus seiner Differenz zum Tier, als ein „besonderes Tier" zu bestimmen gilt es, seine eigentliche ontologische Bestimmung, die der Freiheit, darzustellen. Diese offenbart sich für Heidegger nicht in der Erkenntnis, sondern als die Macht, Horizonte der Bedeutung zu entwerfen, innerhalb derer jede Erkenntnis in einer Welt ihren möglichen Sinn erst gewinnt. Wissenschaft erscheint in dieser Perspektive als bloße sekundäre Manifestation eines Wissenwollens, Beherrschenwollens des Seins der Dinge durch das endliche Wesen Mensch. Die Philosophische Anthropologie ist bescheidener, bindet ihren Begriff des Menschen zurück an dessen Kreatürlichkeit. Entschieden wehrt sie sich so auch gegen Heideggers Anspruch, gegen seine Polemik ihrer Fixierung auf den „natürlichen Menschen". Der Mensch, so formuliert es Helmuth Plessner, ist nicht nur „weltoffen", sondern konstituiert Welt und darin sich selbst. Aber zugleich und ineins ist er ein leibliches Wesen und in dieser seiner „Doppelnatur" zu begreifen.5 Eine Ontologie des Selbst beschreibt nur ein anderes, ein endliches transzendentales Subjekt, während es darum geht, die Wirklichkeit des Menschseins in ihrer Aporie von Freiheit und Gebundenheit darzustellen. Der Gegenstand der Philosophischen Anthropologie ist der Mensch, nicht, wie für Hegel, der Geist als sein Wesen, nicht, wie für Heidegger, das „Dasein in ihm", die Freiheit. Und keine Philosophie vermag zu begreifen, „was der Mensch ist", die seine Leiblichkeit einer metaphysischen, einer ontologischen Bestimmung unterstellt, statt sie als seine elementare Wirklichkeit anzuerkennen. Zuerst ist der Mensch Leben, Teil des Lebendigen. Und er bleibt dies, wenn es auch gilt, den Prozeß zu beschreiben, in dem er über seine leibbedingte Gebundenheit hinauswächst, in dem aus „Weltoffenheit" Bestimmung von Welt und darin die des eigenen Selbst erwächst. Freiheit und Erkenntnis sind in der Perspektive der Philosophischen Anthropologie geschichtlich gewordene Phänomene, statt daß ein metaphysisches Subjekt ihr Grund wäre, statt daß eine ontologische Bestimmung des Menschen sie begründete. In seinem Versuch über den Menschen bestimmt Ernst Cassirer die Aufgabe der Philosophischen Anthropologie darum als die 5

Vgl. H. Plessner, Der Aussagewert einer philosophischen Anthropologie, in: ders., Mit anderen Augen. Aspekte einer philosophischen Anthropologie, Stuttgart 1982.

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Christa Hackenesch

einer geschichtlichen Darstellung der sinnstiftenden Leistungen des Menschen, durch die er eine gegebene Wirklichkeit „überformt", sich in ihr Gestalt zu geben sucht, indem er jeden „Eindruck", den er empfängt, unmittelbar in einen Ausdruck seiner selbst umwandelt, in jedem Augenblick seines Wahrnehmens bereits symbolisierend tätig ist. Der Mensch als „animal symbolicum": Cassirers Voraussetzung ist, „daß, wenn es überhaupt eine Definition des , Wesens' oder der .Natur' des Menschen gibt, diese Definition nur als funktionale, nicht als substantielle verstanden werden kann. Wir können den Menschen nicht durch ein inneres Prinzip definieren, das sein metaphysisches Wesen ausmacht, und ebensowenig können wir ihn durch eine angeborene Anlage oder einen angeborenen Instinkt, der sich durch empirische Beobachtung bestätigen ließe, definieren. Das Eigentümliche des Menschen, das, was ihn wirklich auszeichnet, ist nicht seine metaphysische oder physische Natur, sondern sein Wirken."6 Der Mensch macht sich erst zum „transzendentalen Subjekt", zum Möglichkeitsgrund der Bestimmtheit von Welt, statt daß diese bestimmende Subjektivität immer schon sein Wesen ausmachte. Welche „Stellung im Kosmos" aber hat dieser Mensch, der nur noch ein geschichtlich gewordenes transzendentales Subjekt repräsentiert und sich nicht mehr, wie Scheler es noch behauptete, der Sphäre eines absoluten Seins ursprünglich zugehörig weiß, der, in der reinen Funktionalität seines Tuns, seines „Wirkens" doch ein empirisches, an einen Ort in der Welt gebundenes Dasein ist, für den das Bewußtsein seiner sinnstiftenden Kraft, seiner Einbildungskraft das seiner Kontingenz nicht aufzuheben vermag? In seiner Darstellung der Genesis der kopernikanischen Welt hat Hans Blumenberg zu demonstrieren versucht, wie das Bild des metaphysischen Subjekts die elementare „Kränkung" des Selbstbewußtseins des Menschen, der sich durch die Erkenntnisse der Naturwissenschaft aus seiner „Zentralstellung" innerhalb des Universums in einen bloßen „Winkel" desselben verbannt sah, zu kompensieren vermochte. Das metaphysische Subjekt „ist nicht mehr auf die Entschlüsselung seiner topographischen Weltstellung angewiesen; die Natur ist freigestellt von der Nötigung, dem Menschen Signale für sein Selbstverständnis zu geben [...] Damit wird jede äußere Zwecksetzung abgewiesen, an der sich der Mensch [...] anschauliche Vergewisserung des anthropozentrischen Weltsinnes verschaffen will."7 Der metaphysisch bestimmte Mensch ist „Selbstzweck", bedarf keiner Bestätigung seines Wesens durch seine Stellung im Kosmos: „Die Lokalisierung des Menschen im Universum ist gänzlich gleichgültig, wenn er gar nicht mehr innerhalb des Ganzen, sondern als Subjekt dem Ganzen gegenübersteht."8

6 7 8

E. Cassirer, Versuch über den Menschen, Frankfurt a. M. 1990, S. 110. H. Blumenberg, Die Genesis der kopernikanischen Welt, Frankfurt a. M. 1981, S. 75. Ebd., S. 91.

Die Weltlichkeit der Wahrheit. Anthropologie als Theorie der Erkenntnis?

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Schelers Frage nach der Stellung des Menschen im Kosmos zeigt sich, jenseits seiner willkürlichen Behauptung eines „absoluten Seins", als Ausdruck einer Fragwürdigkeit, wie sie aufbricht, nachdem die souveräne Ortlosigkeit des Subjekts als metaphysische Illusion entlarvt erscheint. Der Mensch hat sich, in der Haltung des Erkennenwollens, der Welt gegenübergestellt. Aber der Ort dieses Gegenübers ist fiktiv. Erkenntnis geschieht nicht von einem „Nirgendwo" her, aus der weltlosen Perspektive eines metaphysischen Selbst. Sie geschieht als die des empirischen Menschen in einer Welt, von den Horizonten dieser Welt her, die die Topographie zeichnen, in der er sich zu verorten hat. Es existiert keine „Objektivität" der Erkenntnis diesseits der Welt, als das Eigentum eines metaphysischen Subjekts. „Wissenschaft", schreibt Cassirer, „ist nur ein Glied und ein Teilmoment im System der .symbolischen Formen'. Sie mag in gewissem Sinne als der Schlußstein im Gebäude dieser Formen gelten; aber sie steht nicht allein, und sie könnte ihre spezifische Leistung nicht durchführen, wenn ihr nicht andere Energien zur Seite stünden, die sich mit ihr in die Aufgabe der ,Zusammenschau', der geistigen »Synthesis' teilen."9 Denn es ist, fügt er hinzu, keineswegs so, „daß die begrifflich-wissenschaftliche Erkenntnis ihre Arbeit gleichsam im Leeren vollzieht. Sie findet nicht einen schlechthin amorphen Stoff vor, an dem sie ihre formbildende Kraft ausüben kann."10 Schon unser Wahrnehmen deutet, formt das Wahrgenommene, statt es nur „aufzufassen". Und in der Sprache artikuliert sich immer schon ein Verstehen von Welt, das ihrer begrifflichen Erkenntnis vorausund zugrundeliegt. Erkenntnis ist Teil der Welt wie das erkennende Subjekt selbst. Zwei zueinander komplementäre Behauptungen bilden das Zentrum der Philosophischen Anthropologie als einer Theorie der Erkenntnis. Zum Einen: Das Subjekt der Erkenntnis ist ursprünglicher das von Sinnbildung überhaupt, durch die Welt erst sich bildet. Zum Anderen: Der Geltungsanspruch wissenschaftlicher Erkenntnis ist zurückgebunden an den weltlichen Raum, in dem sie geschieht, ihren geschichtlichen Ort hat. Zum Ersten: Es geht in der Kritik der Philosophischen Anthropologie an der Figur des metaphysischen Subjekts offenbar, trotz der Zurückführung des „Geistes" auf das „Leben", nicht um eine bloße Umkehrung, „Umwertung der Werte" im Blick auf den Begriff des Menschen. Wenn im neunzehnten Jahrhundert Schopenhauer den „Willen" als die eigentliche Macht behauptet, als das eigentliche Wesen des Menschen, angesichts dessen sein Geist sich als eine trügerische Oberfläche, ein täuschender Schein offenbart, vollzieht er eine solche Umwertung und bleibt so im Raum der Metaphysik. „Leben" aber ist in der Perspektive der Philosophischen Anthropologie kein Begriff, 9 E. Cassirer, Zur Logik der Kulturwissenschaften, Darmstadt 1961, S. 18. 10 Ebd.

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Christa Hackenesch

der auf eine konkurrierende Substanz verweist, sondern auf die Spähre, der der Mensch als ein geistbegabtes Wesen bleibend zugehört. Es gilt, den Menschen in dem zu beschreiben, was ihn über seine „bloße" Kreatürlichkeit hinausführt, aber dies ist nicht mehr eine „Wesenseigenschaft", die ihn in seiner Endlichkeit zugleich einer anderen, geistigen Welt zugehörig sein ließe. Der Mensch ist nicht „Bürger zweier Welten", seine Sinnlichkeit und seine Geistigkeit durchdringen sich in der Gestalt seiner Existenz, in seiner Gestaltung von Welt. Wenn Cassirer den Menschen als „animal symbolicum" bestimmt, liegt darin zuerst die Abgrenzung zum Begriff des „animal rationale". „Die großen Denker", schreibt er, „die den Menschen als animal rationale beschrieben haben, waren keine Empiristen, und sie hatten auch nicht die Absicht, eine empirische Darstellung von der Natur des Menschen zu geben. In ihrer Definition brachten sie vielmehr einen fundamentalen moralischen Imperativ zum Ausdruck."11 Daß der Mensch ein Vernunftwesen sei und darin einer imaginären Welt solcher Wesen angehörig - diese Bestimmung des Menschen erscheint nur noch als eine moralische Forderung, die an ihn ergeht, statt daß sie die Wirklichkeit seines Seins beschriebe. Die „Natur des Menschen" übersteigt seine Kreatürlichkeit, aber nicht im Blick auf die Dimension der Vernunft, im „utopischen" Sinne einer übergeschichtlichen, weltlicher Topographie enthobenen Wesenheit. Das animal symbolicum verfügt über kein Wesen, das sein Dasein in einem solchen Sinne überstiege. Aber es verfügt über die Fähigkeit der Einbildungskraft. In der Auszeichnung der Einbildungskraft als der eigentlichen differentia specifica, die das Sein des Menschen von dem des Tieres unterscheidet, artikuliert sich seine entscheidende Bestimmung durch die Philosophische Anthropologie. Menschen sind kein Teil einer Welt, die ihre bloße „Umwelt" wäre, sie bilden Welten, indem sie alles nur gegebene Wirkliche umformen zum Ausdruck eines Sinnhaften. Statt der Einbildungskraft, wie Kant, nur die Rolle einer Vermittlungsinstanz zwischen Anschauung und Begriff, Sinnlichkeit und Vernunft zuzubilligen, wird sie als der eigentliche „Grund" der Konstitution von Welt behauptet und darin als das, was den Menschen ausmacht: „weltoffen", weltbildend zu sein. Der Mensch, so beschreibt es Plessner, ist „vermittelte Unmittelbarkeit": Er ist nur, indem er sich darstellt, sich „entäußert", „verkörpert" in der Gestaltung, der Formung des Wirklichen zu einer Welt. Den „Utopisten der ursprünglichen Natürlichkeit" stellt er „den Gedanken vom Doppelgängertum des Menschen entgegen; den Menschen als ein Wesen, das sich nie einholt, weil es sich verkörpern muß. Entäußerung bedeutet keine Entfremdung seiner selbst, sondern [...] die Chance, ganz er selbst zu sein."12

11 E. Cassirer, Versuch über den Menschen^ a.a.O., S. 51. 12 H. Plessner, Die Frage nach der Conditio bumana, Frankfurt a. M. 1976, S. 59, S. 69.

Die Weltlichkeit der Wahrheit. Anthropologie als Theorie der Erkenntnis?

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Plessner tradiert hier eine Figur des Deutschen Idealismus: das „sich setzende Ich" Fichtes, das erst in seiner Entäußerung wirklich werdende Selbst Hegels. Aber er bezieht diese Figur auf den endlichen Menschen in der Kontingenz seines Daseins, das von keinem Ganzen eines geistigen Seins mehr umschlossen ist. Weltbildung geschieht als ein offener Prozeß, statt daß sich in ihr ein metaphysisches Wesen manifestierte, statt daß sie ein Telos besäße, von dem gewiß wäre, das sie es notwendig erreichen, verwirklichen wird. Daraus folgt unmittelbar die zweite der elementaren Behauptungen der Philosophischen Anthropologie: daß Erkenntnis von keinem Ort diesseits der Welt, der Geschichte ihres Werdens her möglich, sondern selbst Teil dieser Geschichte ist. Es existieren keine apriorischen Formen des Erkennens, keine zeitlosen Kategorien des Denkens, die der Erkenntnis eine überhistorische Dignität zu verbürgen vermöchten. Nicht nur, was „die Dinge an sich selbst sind", bleibt uns verborgen. Auch die Weise, in der sie uns „erscheinen", ist bestimmt durch weltliche, geschichtlich gewordene Horizonte. „Wahrheit" ist geschichtlich, relativ auf Welt und darin berührt von Kontingenz. Zuletzt bedeutet ihr Begriff eine „regulative Idee", im Sinne einer „Horizontverschmelzung", der Möglichkeit der Verständigung zwischen unterschiedenen Perspektiven der Wahrnehmung, des Erkennens und Begreifens des Wirklichen. In seiner Darstellung der Entwicklung des Wissens als eines „epischen Theaters" ersetzt Yehuda Elkana das Hegeische geschichtsphilosophische Modell einer „List der Vernunft", die die Menschen glauben läßt, ihre Ziele zu verfolgen, während sich doch durch ihr Handeln hindurch einzig das Telos der Vernunft verwirklicht, durch das einer „metischen Vernunft", „die die Einstellungen oder Annahmen und die individuelle Geschichte des Zuhörers/Lesers berücksichtigt und ihre Argumente so wählt, daß sie ihn zu überzeugen vermag."13 Der Logos der Vernunft weicht der Kunst der Rhetorik, wenn die „Entwicklung des Wissens" keiner Notwendigkeit mehr zu folgen scheint, sondern als ein „episches Theater" aufzufassen ist, das höchstens noch nach notwendigen Bedingungen fragen läßt: „Warum ist es so gekommen, obwohl es auch anders hätte kommen können?"14 Allerdings setzt diese Anthropologie der Erkenntnis zuletzt voraus, was sie anfänglich bestritten hatte: daß es keinen „grundlegenden Unterschied" zwischen der Denkweise verschiedener Welten, Kulturen gebe. Denn „menschliche Wesen", heißt es, „kommen mit einigen angeborenen kognitiven Strukturen zur Welt."15 Und zu diesen gehört hier als ein zentrales Beispiel die Neigung, Kausalerklärun-

13 Y. Elkana, Anthropologie der Erkenntnis. Die Entwicklung des Wissens als episches Theater einer listigen Vernunft, Frankfurt a. M. 1986, S. 15. 14 Vgl. ebd. 15 Ebd., S. 61.

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Christa Hackenesch

gen zu geben, die als ein universales Merkmal menschlichen Denkens behauptet wird.16 Hier ist es, im Widerspruch zu metaphysischen und ontologischen Bestimmungen eines Wesens des Menschen, zuletzt seine „Natur", die die Geschichte der Erkenntnis als eine, als die des Menschen begründen soll. Das aber hat die Philosophische Anthropologie in ihrem Festhalten an der Kreatürlichkeit, Leiblichkeit des Menschen nicht gemeint. Diese verweist auf seine Gebundenheit in den Raum des Lebendigen, nicht auf eine Substantialität geistiger, kognitiver Strukturen. Das „epische Theater der Entwicklung des Wissens" ist ein offener Prozeß, der von keinen geschichtslosen Strukturen getragen wird, dessen Akteur die Einbildungskraft des Menschen ist. Um diesen Prozeß zu verstehen, bedarf es wohl auch nicht der Unterstellung einer „listigen Vernunft". In seinem Buch über die Wissenschaftstheorie und Wissenschaftsgeschichte des zwanzigsten Jahrhunderts beschreibt Hans Poser das Phänomen, daß neuere Publikationen zu Fragen, die man noch vor einigen Jahren der Wissenschaftstheorie zugerechnet hätte, nun „unter dem Signum der Wissenschaftsphilosophie erscheinen. Es geht dabei nicht einfach um die Wiedergewinnung verloren geglaubten Terrains, sondern um eine unter der Hand veränderte Fragestellung, die nicht mehr in erster Linie dem Erkenntnisanspruch wissenschaftlicher Aussagen gilt, sondern dem wissenschafts- und kulturgeschichtlichen Phänomen Wissenschaft in seinen Weltbildbezügen."17 Eine solche Wissenschaftsphilosophie wird auch Philosophische Anthropologie sein müssen. Denn wenn es richtig ist, wie Poser schreibt, daß Weltbilder, daß die „Weltsicht einer Kultur" in ihrer Deutung des Zusammenhangs von Mensch und Welt den Raum bildet, in dem Wissenschaft ihren Ort hat und also unsere theoretische Aufmerksamkeit im Blick auf das Phänomen Wissenschaft „singulären Zuständen in ihrer Geschichtlichkeit und in ihrem jeweiligen Bezug zum Menschen" zu gelten hat18 - dann sind die geschichtlichen Selbstbilder des Menschen, in ihrer Komplementarität zu denen seiner Welt, bestimmend nicht nur für die Ziele, die sein Erkenntnisinteresse verfolgt, sondern elementarer dafür, was ihm überhaupt als eine zu rechtfertigende Erkenntnis gilt. Poser verweist jedoch eindrücklich darauf, daß es falsch, kurzsichtig wäre, von dieser Gebundenheit von Erkenntnis an die Selbst- und Weltdeutung des Menschen auf ihre Beliebigkeit, die ihrer Kriterien und Methoden, zu schließen. Der Verzicht auf Unbedingtheit der Erkenntnis überantwortet diese nicht der Willkür. Im Blick auf den vermeintlichen erkenntnistheoretischen Anarchisten Paul Feyerabend heißt es in aller Deutlichkeit: „Was er zu zeigen beabsichtigt, ist nicht, daß Wissenschaft der Beliebigkeit anheim gegeben ist, 16 Vgl. ebd., S. 62.

17 H. Poser, Wissenschaftstheorie. Eine philosophische Einführung, Stuttgart 2001, S. 286. 18 Vgl. ebd., S. 17, S. 273.

Die Weltlichkeit der Wahrheit. Anthropologie als Theorie der Erkenntnis?

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sondern daß sich eine fruchtbare Entwicklung der Wissenschaften nicht in einem Methodenschema gleich welcher Art einfangen läßt: Die großen Durchbrüche in der Wissenschaftsentwicklung, in den Theorienkonzeptionen sowie in der Anwendung im Bereiche der Technikwissenschaften beruhen gerade nicht auf stupiden methodischen Regeln, die sich in einem Methodenkanon einfangen lassen, sondern auf kreativer menschlicher Vernunft, der es gelingt, gänzlich neue Strukturen zu erdenken und die Welt unter diesen Strukturen gänzlich neu zu erfassen, zu deuten und zu gestalten."19 Es geht nicht um ein absolutes, abstraktes Gegenüber von Wahrheitsanspruch und anarchistischem Bekenntnis. Es geht um die Anerkennung der Kreativität des Menschen als Autor von Wissenschaft. Wenn das so ist, gewinnt aber eine Philosophische Anthropologie an Bedeutung, die gerade dies zu beschreiben, darzustellen sucht: den Menschen als animal formans, ein aus der Freiheit seiner Einbildungskraft weltgestaltendes Wesen. Diese Beschreibung, Darstellung kann eben nicht aus dem geschichtslosen Blick auf ein Wesen, ein zeitloses Sein des Menschen geschehen. Was der Mensch ist, zeigt sich an den Gestalten, die er sich gibt als die einer Welt. In dieser Perspektive ist Wissenschaft eine dieser Gestalten. Aber dies gerade nicht im Sinne anthropozentrischer Beschränkung, als bedeutete sie nur eine Projektion, Spiegelung des Menschen. Denn diesen „gibt es nicht", bevor er sich „entäußert". Und seine Entäußerung bricht sich an der Widerständigkeit der Dinge, die „an sich" sind statt, wie der Idealismus behauptete, selbst „Geist" zu sein. Die Stellung des Menschen im Kosmos ist kontingent - und die gänzliche Gleichgültigkeit dieser Kontingenz für das Selbstbewußtsein des metaphysischen Subjekts, wie sie Blumenberg dargestellt hat, zu einer vergangenen Gestalt der Geschichte der Selbstbilder des Menschen geworden. Der Ort, die Perspektive des Menschen entscheidet, ungeachtet seiner Fähigkeit zur „Objektivierung", über das, was ihm als „wahr" erscheint. Dieser Ort ist endlich, begrenzt, als der Ort „des" Menschen ist er tatsächlich Inbegriff einer Pluralität von Perspektiven auf die „Gegebenheit" des Wirklichen. Dies bedeutet Verlust, Verlust der Gewißheit einer den endlichen Menschen übergreifenden Vernunft, an der er teilhätte, die ihn zu orientieren vermöchte. Es bedeutet zugleich eine unendliche Steigerung seiner Verantwortlichkeit, der Rechenschaftspflicht des handelnden Individuums, das sein Tun durch kein allgemeines Telos mehr zu rechtfertigen vermag. Als dies endliche Wesen „in einem Winkel des Universums" bestimmt doch allein der Mensch die Gestalt seiner Welt, die er, anders als ein „Vernunftwesen überhaupt", zu bewohnen gezwungen bleibt, statt, als ein metaphysisches Wesen, gleichgültig sein zu können gegenüber dem Ort, der seiner ist.

19 Ebd., S. 185.

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„Die Bemühung um das Menschsein und um die Stellung des Menschen inmitten des Seienden", so Heidegger, „durchherrscht die Metaphysik."20 Und er beklagt dieses metaphysisch bestimmte „Kreisen um den Menschen in engeren oder weiteren Bahnen."21 Die Freiheit, von der er spricht, die für ihn der Wahrheit entspricht, ist keine Eigenschaft des Menschen, sondern „besitzt den Menschen, und das so ursprünglich, daß einzig sie einem Menschentum den alle Geschichte erst begründenden und auszeichnenden Bezug zu einem Seienden im Ganzen als einem solchen gewährt."22 Diese Freiheit meint eine Wahrheit, eine Macht diesseits des Menschen. Philosophische Anthropologie, wie sie im zwanzigsten Jahrhundert Gestalt gewinnt, bestimmt sich zuerst dadurch, eine solche Macht zu bestreiten. Sie beschreibt ein Verhältnis, das des Menschen zur Welt. Ihr Begriff der Wahrheit ist Teil, Moment dieses Verhältnisses, das sie in seinem geschichtlichen Werden darzustellen sucht.

20 M. Heidegger, Platans Lehre von der Wahrheit, in: ders., Wegmarken, GA Bd. 9, Frankfurt a. M. 1976, S. 236. 21 Ebd. 22 M. Heidegger, Vom Wesen der Wahrheit, in: Wegmarken, G A Bd. 9, Frankfurt a. M. 1976, S. 190.

„Gesammelte Werke" Hans-Jörg Rheinberger (Berlin) Die folgende Miszelle wurde durch einen Vortrag von Michael Cahn angeregt, den er vor einigen Jahren im Haus des Literarischen Colloquiums am Wannsee hielt und in dem er sich mit der kulturellen Semantik des Edierens von Texten auseinandersetzte.1 Die Herausgabe der Werke eines Autors ist eine der Formen der Produktion kultureller Autorität. Sie erzählt etwas über und ist eingebettet in historische Kontexte, deren wechselnde epistemologische und soziale Akzente hier an einigen Beispielen aus der Geschichte der Lebenswissenschaften von der zweiten Hälfte des 18. bis zur ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts schlaglichtartig erläutert werden sollen. Das ganze 18. Jahrhundert über ist es nicht ungewöhnlich, daß der Autor selbst als der Herausgeber seiner eigenen gesammelten Werke auftritt. Der französische Mathematiker, Geograph, Naturtheoretiker und Philosoph Louis Moreau de Maupertuis (1698-1759) ist ein gutes Beispiel dafür. Die erste Ausgabe einer Sammlung seiner Werke datiert aus dem Jahre 1744.2 Ein Jahr zuvor, wie man dem Band entnehmen kann, war Maupertuis zum regulären Mitglied der Academic des Sciences in Paris gewählt worden. Die in Amsterdam gedruckte Kompilation von Texten versammelte im wesentlichen seine Aufsätze zur Astronomie und zur physikalischen Geographie. Nachdem Maupertuis 1746 zum Präsidenten der Berliner Akademie der Wissenschaften ernannt worden war, organisierte er die Publikation einer zweiten Version seiner Werke, die 1752 in Dresden erschien.3 In Übereinstimmung mit seiner neuen Position entschied er sich, den Einzugsbereich der in die Sammlung aufgenommenen Werke zu erweitern. Zusätzlich zu den astronomischen und geographischen Aufsätzen enthielt die Ausgabe von 1752 philosophische und biologische Abhandlungen, darüber hinaus auch einige akademische Reden.4 Eine nochmals etwas erweiterte Berliner und Lyoner Edition

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M. Cahn, „ Opera Omnia". Vortrag auf der Tagung „Geschichte der Wissenschaft, Geschichte des Textes", organisiert von K. Chemla, Einstein Forum und Wissenschaftskolleg zu Berlin, 30.3. - 2.4.1995, Berlin. P. L. Moreau de Maupertuis, Ouvrages divers, Amsterdam 1744. P. L. Moreau de Maupertuis, (Ettvres, Dresden 1752. G. Tonelli, Introduction: Bibliographie et histoire du texte, in: P. L. Moreau de Maupertuis, CEuvres, Hildesheim 1974, S. XI-LXXXIII.

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in zwei Bänden folgte 1753. Ihr waren weitere Briefe und Reden angefügt.5 1756 hatte sich die Ausgabe zu vier Bänden ausgewachsen. Maupertuis' Freund, der Abbe Nicolas-Charles-Joseph Trublet, ordnete das unhandlich gewordene Konvolut von Texten neu und gliederte es unter disziplinären Gesichtspunkten.6 Maupertuis konnte sich noch drei Jahre an dieser letzten Edition seiner Werke erfreuen, bevor er starb. Wir können demnach mit dem späteren Wiederherausgeber dieser Ausgabe letzter Hand, Giorgio Tonelli, in die seltsame konditionale Antizipation aus der vergangenen Zukunft einstimmen, die Edition von 1756 könne ein Bild vermitteln, „das man als endgültig hätte ansehen können, wenn Maupertuis seinen bevorstehenden Tod hätte vorhersehen können".7 Diese paradoxe prospektive Retrospektion bringt in perfekter sprachlicher Form das Dilemma zum Ausdruck, das darin besteht, vollständige Werke zu versammeln, bevor das Werk vollständig ist, das heißt, seine Gesammelten Werke zu seinen eigenen Lebzeiten zu publizieren. Ein zweites Beispiel eines Autors aus dem 18. Jahrhundert, der seine gesammelten Werke selbst edierte, ist der Bürger der Republik Genf, Insektenspezialist, Naturhistoriker und Philosoph Charles Bonnet (1720-1793). Bonnet veröffentlichte die von ihm als „collection complette" bezeichnete Suite von Arbeiten über Naturgeschichte und Philosophie auf Anregung von und im Verlag des Königlichen Buchhändlers Samuel Fauche in Neuchätel.8 Die Ausgabe war in der Tat ziemlich vollständig, obwohl sie weder Bonnets Memoires als auswärtiger Korrespondent der Königlichen Akademie zu Paris noch seine Beiträge zu Abbe Roziers Journal de Physique enthielten. Im Vorwort instruiert Bonnet den Leser, die Aussicht auf eine vollständige Sammlung seiner Werke habe ihn gleichzeitig dazu veranlaßt, diese zu revidieren und „mehr oder weniger beträchtliche Zusätze teils in der Form von Anmerkungen, teils als Supplemente zu machen", und er fügte hinzu: „Weitere Schriften, die ich nie publiziert hatte, fanden [ebenfalls] ihren Platz in dieser umfassenden Überarbeitung."9 Bonnet teilte die ganze Sammlung in zwei Teile. Der erste Teil umfaßte seine „Schriften zur Naturgeschichte", der zweite die „Schriften zur spekulativen Philosophie".10 Diese „generelle" - wie der Autor sich ausdrückt - Einteilung reflektiert allerdings nicht, wie man vielleicht zunächst annehmen möchte, eine chronologische Ordnung, wonach wie des öfteren behauptet - Bonnet als Naturhistoriker und Naturforscher begonnen und als spekulativer Philosoph geendet hätte. Wie der Wissen5 6 7 8

P. L. Moreau de Maupertuis, (Euvres, in zwei Bänden, Berlin-Lyon 1753. P. L. Moreau de Maupertuis, (Euvres, in vier Bänden, Lyon 1756. G. Tonelli, Introduction: Bibliographie et histoire du texte, a.a.O., S. XIV. Collection Complette des (Euvres de Charles Bonnet. (Euvres d'Histoire naturelle et de Philosophie de Charles Bonnet, Neuchätel 1779-1781. 9 Ebd., Bd. l, S. vi. 10 Ebd., Bd. l, S. viii.

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Schaftshistoriker Marino Buscaglia uns erinnert, können wir in Bonnets Arbeitsleben vier verschiedene Perioden unterscheiden: Eine frühe insektologische Phase bis 1740 wurde abgelöst durch eine Periode des Experimentierens mit Pflanzen. Daraufhin wandte sich Bonnet metaphyischen Angelegenheiten zu, kehrte aber schließlich zur empirischen Arbeit zurück und stellte zwischen 1765 und 1777 Versuche zur Regeneration von Schneckenköpfen und Salamander-Extremitäten an.11 Obwohl oder vielleicht gerade weil es Bonnet eine dreijährige Anstrengung von 1775 bis 1778 kostete, um die Sammlung zu redigieren, konnte er sich am Ende eines gewissen unguten Gefühls nicht erwehren. Es beschlich ihn das Sentiment, daß ein Teil seines Werkes trotz aller Verbesserungsversuche womöglich bereits nicht mehr zeitgemäß sein könnte. Aber er tröstete sich mit dem selbstverliebten Wunsch und schließlich auch der Überzeugung, daß dies sein CEuvre nicht davon abhalten könne, ja es gerade dazu prädestiniere, noch während seiner Lebzeiten „Teil der Geschichte des menschlichen Geistes" zu werden.12 Bonnet war es vergönnt, dieses erhebende Gefühl, dieses hinhaltende Wähnen einer vorgezogenen Vollendung noch ein langes Jahrzehnt über das Erscheinungsdatum der Edition hinaus zu genießen, bevor er 1793 auf seinem Gut Genthod am Genfer See starb. Man mag sich fragen, wie weit die Tendenz, den Abschluß der Textproduktion des eigenen Lebens und die Kodifizierung ihrer Vollendung vorwegzunehmen, getrieben werden kann. Wer darangeht, seine eigenen - „vollständigen" - Werke zu edieren, impliziert damit in gewisser Weise, daß die Zeit des produktiven Schreibens, jedenfalls aber des relevanten, abgeschlossen ist. Diesen Gedankenfaden nimmt Michael Cahn an einer Stelle seines Essays auf, wenn er bemerkt: „So traurig es aber ist, es ist noch keine Methode erfunden worden, eine Gesamtausgabe zu schreiben. [Bücher] kann man schreiben, aber gesammelte Werke müssen ediert werden." Nun gibt es jedoch ein Beispiel, das man geradezu als die Verwirklichung dieser Unmöglichkeit und damit die Erfindung genau dieser Methode ansehen könnte. Es handelt sich um Georges Louis Leclerc de Buffons (1707-1788) Histoire naturelle, generale et particuliere. Buffons CEuvre ist nicht einfach eine enzyklopädische Arbeit im Sinne einer umfassenden Naturgeschichte; er konzipierte sie von Anfang an als die Summe seines wissenschaftlichen Lebens. Buffon hatte seine akademische Karriere als Übersetzer unter anderem von Stephen Hales' Vegetable Staticks™ und Isaac Newtons The Method of

11 M. Buscaglia, Bonnet dans l'histoire de la methode experimentale, in: Charles Bonnet, savant et philosophe (1720-1793), Memoires de la Societe de Physique et d'Histoire Naturelle de Geneve, Vol. 47, hrsg. v. M. Buscaglia/R. Sigrist/J. Trembley/J. Wüest, Genf 1994, S. 283-313, S. 285. 12 Ch. Bonnet, Collection complete, Bd. l, S. xii. 13 S. Haies, La statique des vegetaux et ['analyse de l'air, Paris 1735.

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Fluxions and Infinite Series™ begonnen. Beide Werke versah er mit einem ausgiebigen Vorwort. 1739 löste er seinen Freund Charles-Francois de Cisternai Du Fay als Direktor des Königlichen Gartens und des Naturalienkabinetts ab. Um diese Zeit herum muß er sich dazu entschlossen haben, nicht in der üblichen Manier weiterhin Berichte für die Academic des Sciences abzufassen, wie er es getan hatte, seitdem er 1733 zum adjoint-mecanicien befördert worden war, sondern vielmehr alle seine wissenschaftlichen Anstrengungen auf die Schaffung einer umfassenden Werksammlung zur Naturgeschichte zu richten. Buffons späterer Herausgeber Pierre Marie Jean Flourens bemerkt dazu devot: „[Er] weihte volle zehn Jahre der tiefsten Meditation, bevor er begann, sein großes Werk zu veröffentlichen. Der Plan, den er entwarf, war der umfassendste und gewagteste, den ein Mensch sich je ausgedacht hat."15 Eben jener „Drang, sich zu distinguieren", der den jungen Buffon in die Arme der Wissenschaften getrieben hatte, als er mit 24 Jahren nach Paris kam,16 eben jener Drang kulminierte nun in dem präzedenzlosen Vorhaben, die gesammelten Werke der Naturgeschichte zu schreiben - ein Rundumschlag, der sich von der Bildung des Sonnensystems einschließlich der Planeten und des Globus bis zu den vielfältigsten Lebensformen und physikalischen Prozessen erstreckte, die sich auf der Erde abspielten. Im Gegensatz zu Maupertuis, der die letzte Fassung seines CEuvres Männern des Handels und der Wissenschaft dedizierte - unter ihnen dem Direktor der Indischen Kompanie in Paris, Monsieur Duvelaer 17 - widmete Buffon sein Unternehmen „Ihrer Majestät".18 Die ersten drei Bände der Histoire naturelle wurden von der Königlichen Druckerei 1749 ausgeliefert. Der letzte Band erschien 40 Jahre später, 1789, ein Jahr nach Buffons Tod. Das ganze Konvolut umfaßte schließlich fünfzehn Bände „Allgemeine und Besondere Naturgeschichte" (1749-1767) einschließlich einer „Beschreibung des Königlichen Kabinetts", neun Bände „Naturgeschichte der Vögel" (1770-1783), fünf Bände über „Mineralien" (1783-1788) und sieben Supplementbände. Der erste dieser Ergänzungsbände erschien 1774, der letzte 1789 posthum, herausgegeben vom Comte Bernard Germain Etienne de Lacepede. Insgesamt waren es sechsunddreißig Bände - die zum Teil in Zusammenarbeit mit dem Anatomen Louis Jean-Marie Daubenton und dem Ornithologen Gueneau de Montbeillard entstanden - eine bemerkenswerte Kollektion. Buffons Genius hinterließ in diesem Monument die Spur einer „sichtbaren Filiation von Ideen", die in einem „beständigen Fortschritt" begriffen und „außerordent14 I. Newton, La methode des fluxions et des suites infinies, Paris 1740. 15 M. Flourens, Notice sur Buffon, in: CEuvres completes de Buffon, tome premier, Paris 1855, S. xiv. 16 Ebd., S. i. 17 PL. Moreau de Maupertuis, (Euvres, in vier Bänden, Band l, S. 1. 18 G. L. Leclerc de Buffon, Histoire naturelle, generate et particuliere, avec la description du cabinet du rot, Tome Premier, Paris 1749, „Au Roi."

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lieh entwicklungsfähig" waren, wie Flourens nicht ohne einen leichten Anflug von Ironie bemerkte.19 Wie handhabte Buffon diese Ideenfiliation, diesen beständigen Fortschritt, diese Fortschrift, wie man sagen könnte? Man könnte auch fragen: Wie ging er mit dem Problem um, daß sich seine Ansichten nicht nur entwickelten, sondern manchmal auch änderten, diesem Haupthindernis auf dem Weg zu dem Ende, seine Gesammelten Werke kontinuierlich und direkt zu schreiben? Buffon fand gleich mehrere Lösungen. Einerseits revidierte und schrieb er seine allgemeinen Überlegungen von Zeit zu Zeit neu. So zum Beispiel enthielt Band l (1749) einen eröffnenden „Diskurs über die Weise, Naturgeschichte zu studieren und zu behandeln". Fünfzehn Jahre später ordnete Buffon seine Gedanken zum Thema in einer „Ersten Ansicht der Natur" im 12. Band (1764) neu, der eine „Zweite Ansicht der Natur" im 13. Band (1765) folgte. Ähnlich hielt er es mit der Erdgeschichte. Der „Geschichte und Theorie der Erde" von 1749 folgten die „Epochen der Natur" von 1778. Erstere sah die Erdenläufe gewissermaßen in einem zeitlosen Gleichgewicht, einer ständigen Pendelbewegung, letztere ordnete sie einem unerbittlichen Gradienten der Abkühlung unter. Andererseits machte Buffon von der Möglichkeit des Supplements Gebrauch. Ab 1774 publizierte er eine Reihe von Ergänzungsbänden, die einen ständigen Strom von Additionen und Korrekturen zum bereits publizierten Material dokumentierten und absetzten. Diese Strategie der internen Referenzierung auf mehreren Ebenen zwingt geradezu dazu, das Werk als ein Ganzes zu betrachten. Wenn man wissen möchte, was Buffon über einen bestimmten Aspekt der Naturgeschichte dachte, beispielsweise wie sein Spezies-Begriff beschaffen ist, muß man das ganze Kompendium konsultieren. Man kann sich nicht einfach eine Stelle heraussuchen! Buffons Histoire naturelle verkaufte sich von Anfang an gut. Am 4. Januar 1750 schrieb er an seinen Freund und Lehrer Gabriel Cramer über die am Jahresende 1749 erschienenen ersten drei Bände: „Die Ausgabe war in sechs Wochen ausverkauft. Nun sind zwei Neudrucke in der Presse."20 Die Bände wurden nicht nur beständig nachgedruckt, es erschienen auch bereits zu Lebzeiten Buffons zahlreiche neue Ausgaben und mehr oder weniger extensive Umgruppierungen, beispielsweise Editionen mit und ohne Daubentons anatomische Beschreibungen. Eine von ihnen, aus dem Jahre 1774 datiert, trägt etwas verfrüht, aber eben ganz im Sinne des Unternehmens den stolzen Titel (Euvres completes 2 1785 wurde die Herstellung einer Ausgabe mit kolorierten Kupfern in Angriff genommen.22 Daniel Mornet schätzt, daß zur Zeit des 19 M. Flourens, Notice sur Buffon, S. xix, i. 20 G. L. Leclerc de Buffon, Brief an Gabriel Cramer, in: Correspondance generale. Recueillie et annotee par Henri Nadault de Buffon, Bd. l, Paris 1885, S. 61-62. 21 (Euvres completes de M. le Cte de Buffon, Paris 1774-1778. 22 Histoire naturelle generale et particuliere, par M. le Cte de Buffon, Sanson, Deux-Ponts 1785-1790.

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Anden Regime beinahe jede zweite Privatbibliothek in Frankreich eine der Versionen von Buffons Werken enthielt.23 Mindestens ebenso bemerkenswert wie diese Proliferation von Editionen zu Buffons Lebzeiten ist das Schicksal seines Opus magnum nach seinem Tod. Bernard Germain Etienne de La Cepede setzte Buffons Unternehmen fort und fügte von 1778 bis 1804 zwei Bände über „Naturgeschichte der Eierlegenden Vierfüßer und Schlangen" hinzu, fünf Bände über die „Naturgeschichte der Fische" und einen Band über die „Naturgeschichte der Cetaceen".24 Im Jahr VII des neuen Kalenders (1799) brachte Rene-Richard Castel bei Deterville eine Ausgabe von Buffons Naturgeschichte heraus, die deren Inhalt nach dem System von Linne reklassifizierte.25 Die Edition bei Deterville zog eine lange Kette von weiteren Drucken, Bearbeitungen und Ergänzungen über annähernd 40 Jahre bis 1837 nach sich. Sie wurden unter anderen von F. Martin Grostete T. de Tigny, E.-F. Guerin, Louis Augustin Guillaume Böse und Jean-Baptiste Lamarck besorgt. Von 1799 bis 1808 kam bei Frangois Dufart ein neuer Buffon heraus, der von Charles Nicolas Sigisbert Sonnini de Manoncourt redigiert wurde. Er brachte das Korpus auf stolze 127 Bände, einschließlich zusätzlicher Beiträge von Sonnini selbst sowie von Fran9ois Marie Daudin, Pierre Denys de Montfort, Pierre Andre Latreille und CharlesFrangois Brisseau de Mirbel.26 Jean-Frangois Bastien publizierte die Vollständigen Werke Buffons 1811 und stellte ihnen die Elogen über Buffon von Felix Vicq d'Azyr und Marie Jean Antoine Nicolas de Condorcet voran. Der Comte de Lacepede reedierte die komplette Ausgabe in abermals neuer Ordnung 1817-1818. Weitere Neuausgaben besorgten Hippolyte Romain Duthilloeul 1822 sowie Jean-Vincent-Felix Lamouroux und Anselme Gaetan Desmarest zwischen 1824 und 1832.27 1825-1826 goß Georges Cuvier Buffons Naturgeschichte in die Ordnung seiner eigenen Taxonomie.28 Eine weitere vollständige Edition einschließlich eines fünfbändigen, von Cuvier verfaßten Komplements über den Fortschritt der Naturgeschichte seit Buffons Tod gab Achille 23 D. Mornet, L'Enseignement des bibliotheques privees, in: Revue d'Histoire Litteraire de la France 17 (1910) S. 449-496. 24 Histoire naturelle des quadrupedes ovipares et des serpents, par M. le Cte de Lacepede, Paris, hotel de Thou, 1788-1789; Histoire naturelle despoissons, par le cen La Cepede, Paris, Plassan 1798-1803; Historic Naturelle des cetaces, par le cen La Cepede, Paris, Plassan an XII-1804. 25 Histoire naturelle de Buffon, classee ... d'apres le Systeme de Linne ... par Rene-Richard Castel, Deterville, Paris an VII. 26 Histoire naturelle generate et particuliere, par Ledere de Buffon. Nouvelle edition. Ouvrage formant un cours complet d'histoire naturelle, redige par C.-S. Sonnini, Paris an VII-1808. 27 (Euvres completes de Buffon. Public par Jean-Franqois Bastien, et precede des Eloges de Buffon par Vicq d'Azyr et Condorcet, Paris 1811. - (Euvres completes de Buffon, mises en ordre ... par M. le Cte de Lacepede. Nouvelle edition, Paris 1817-1818. - (Euvres completes de Buffon. Nouvelle edition publiee par H.-R. Duthilloeul, Douai 1822. - (Euvres completes de Buffon ... Nouvelle edition dirigeepar M. Lamouroux ... (et continueepar M. A.-G. Desmarest)..., Paris 1824-1832. 28 Histoire naturelle de Buffon, mise dans un nouvel ordre, precedee d'une notice sur la vie et les ouvrages de cet auteur. Par M. le Bon Cuvier, Paris 1825-1826.

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Richard zwischen 1826 und 1836 heraus.29 Diese Ausgabe wurde während der beiden nächsten Jahrzehnte immer wieder neu gedruckt. Der Herausgeber Roret begann mit seinen Nouvelles Suites a Buffon 1834. Das Unternehmen erstreckte sich über ein langes halbes Jahrhundert bis 1890 und schloß Arbeiten von Henri Milne-Edwards, Felix Dujardin und Alphonse de Candolle ein.30 Da sich Cuvier entschieden hatte, Buffon nach seinen eigenen Vorstellungen umzuordnen, konnte auch Etienne Geoffroy Saint-Hilaire nicht widerstehen, seinen eigenen Buffon, versehen mit einer historischen Notiz und einigen philosophischen Überlegungen zum Fortschritt der Naturwissenschaften, zu publizieren. Seine (Euvres completes de Buffon folgten eine Dekade nach Cuviers Ausgabe in den Jahren 1837 und 1838.31 Weitere Buffons kamen vom Ständigen Sekretär der Academic des Sciences Marie-Jean-Pierre Flourens 1853-1855, von Ernest Faivre 1859 und von Jules Pizzetta zwischen 1860 und 1863.32 Die Ausgabe schließlich, die heute noch den Standard eines „besten Textes" vom Standpunkt der Philologie des ausgehenden 19. Jahrhunderts darstellt, ist die 1884-1885 publizierte Werkausgabe von Jean-Louis de Lanessan.33 „Buffon", wie man aus dieser eindrücklichen Liste ersehen kann, wurde zum Synonym für verschiedene Formen von Autorschaft „in seinem Namen", die unter anderem Akte der Herausgabe, der Reklassifikation, des Verfassens von Zusätzen und Verbesserungen sowie des Umschreibens umfaßten. Diese aufeinanderfolgenden „autoritativen" Besitzergreifungen eines Werkes unterschieden sich subtil voneinander in der Art, wie sie dazu beitrugen, das Unternehmen Buffon fortzuschreiben. Nicht nur das, sie halfen auch, diejenigen zu identifizieren, hervorzuheben und auszuzeichnen, die sich in die Prozession einreihten. Ein Jahrhundert lang schrieben die distinguiertesten französischen Naturforscher ihren Namen in die versammelten Werke Buffons ein und adelten sich als Forscher durch ihre Assoziation mit dem großen Vorgänger.

29 (Euvres completes de Buffon, mises en ordre et precedees d'une notice historique par M. A. Richard ... suivies de deux (cinq) volumes sur les progres des sciences physiques et naturelles depuis la mort de Buffon, par le Bon Cuvier, Paris 1826-1836. 30 Nouvelles Suites a Buffon ..., Paris 1834-1890. 31 (Euvres completes de Buffon, precedees d'une notice historique et des considerations generates sur le progres de ['influence philosophique des sciences naturelles depuis cet auteur jusqu 'a nos jours, par M. Geoffroy Saint-Hilaire, Paris 1837-1838. 32 (Euvres completes de Buffon, avec la nomenclature Linneenne et L· classification de Cuvier, revues ... et annotees par M. Flourens ..., Paris 1853-1855. - (Euvres completes de Buffon, precedees d'une etude historique et d'une introduction sur les progres des sciences naturelles depuis le commencement du XIXe siede, par Ernest Faivre ... Nouvelle edition ..., Paris 1859. - (Euvres de Buffon ... mises en ordre et annotees parj. Pizzetta .... Paris 1860-1863. 33 (Euvres completes de Buffon. Nouvelle edition annotee et precedee d'une introduction par Jean-Louis de Lanessan ... Suivie de la correspondence generate de Buffon, recueillie et annotee par Henri Nadault de Buffon, Paris 1884-1885.

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Die sich vom 18. bis zum späten 19. Jahrhundert drastisch ändernde Bedeutung von „oeuvres completes" wird uns eindrücklich vor Augen geführt durch die zunächst wuchernde Expansion des „Buffon" - zu der alles seinen Beitrag leistete, was in der Naturgeschichte des ausgehenden 18. und der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts Rang und Namen hatte - und seine anschließende Zurückführung auf den „authentischen" Buffon, die ihren Abschluß mit Lanessan fand. Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts legitimierte das Etikett „komplett" ganz offensichtlich die Zufügung von allem, was man als wichtig erachtete und was dem Werk noch fehlen mochte: Linnes Terminologie, Cuviers Taxonomie, die Supplementierung von Buffons eigenhändiger Naturgeschichte mit neuen Gruppen nicht nur von Tieren, sondern auch von Pflanzen, und die Einarbeitung von Details und von Veränderungen in Buffons Text. Nicht einmal Lanessan, in der ganzen philologischen Emphase des „Zurück zu den Quellen", zögerte am ausgehenden 19. Jahrhundert, dem Werk eine Ordnung zu geben, die weit von der Chronologie des Buffonschen Schreibprozesses entfernt war. Wenn es eine kritische Ausgabe ist, dann beschränkt sich die Kritik in diesem Fall auf den Wortlaut des Textes. So überschwemmten denn Buffon-Versionen aller Art und jeglicher Größe den französischen Markt für Naturgeschichte im Jahrhundert nach Buffons Tod. Die wissenschaftlichen Editionen wurden durch populäre Ausgaben ergänzt. Von 1800 bis 1880 zählt der Katalog der Bibliotheque Nationale verschiedenste Abreges und Beautes de Buffon, Genie de M. de Buffon, Morceaux choisis de Buffon, selbst einen Petit Buffon moral et religieux. Besondere Audienzen wurden angesprochen mit dem Buffon des ecoles, dem Buffon de la jeunesse, dem Buffon des demoiselles, dem Buffon des families, dem Buffon des enfans, und selbst ein Buffon des petits enfants wurde 1841 in den Handel gebracht.34 Mit Buffon erreichte der Versuch, gesammelte Werke zu schreiben, unbestreitbar seine Apotheose. Und für ein langes Jahrhundert übten Buffons (Euvres eine kulturelle Autorität, wenn nicht gar Hegemonie in der Naturgeschichte aus. Mit der Ausnahme von ein paar Jahren während der Französischen Revolution wurde Buffon als eine nationale Ikone behandelt. Sein Einfluß blieb nicht auf Frankreich beschränkt. Er erstreckte sich über den ganzen Kontinent, wie Übersetzungen ins Deutsche, Spanische und Italienische bezeugen.35 Das Vorwort zur ersten deutschen Ausgabe stammte von keinem 34 Vgl. W. Lepenies, Das Ende der Naturgeschichte, München 1976. 35 Allgemeine Historia der Natur, nach allen ihren besondern Theylen abgehandelt (von Buffon); nebst einer Beschreibung der Naturalienkammer Sr. Majestät des Königes von Frankreich (von Daubenton). Mit einer Vorrede Herrn Doctor Albrecht von Hallers, Hamburg und Leipzig 1750-1754. - Herrn von Buffons Naturgeschichte der Vögel, aus dem Französischen übersetzt... durch Friedrich Heinrich Wilhelm Martini... (und Bernhard Christian Otto), Berlin, 1772-1804. - Herrn von Buffons Naturgeschichte der vierfüssigen Thiere ... (aus dem Französischen übersetzt durch Friedrich Heinrich Wilhelm Martini und Bernhard Christian Otto, Berlin 1773-1801. - Storia naturale generate e particolare del Sig. conte di Buffon ...,

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Geringeren als Albrecht von Haller. An der 1772 von Friedrich Heinrich Wilhelm Martini, dem Begründer der Gesellschaft naturforschender Freunde zu Berlin, begonnenen und bei Joachim Pauli in Berlin erscheinenden Übersetzung der „Naturgeschichte der Vierfüssigen Thiere" arbeitete nach Martinis Tod auch Georg Forster mit.36 „Buffon" wurde während eines größeren Teils des 19. Jahrhunderts zum Synonym für Naturgeschichte schlechthin. Ironischerweise markiert Lanessans kritische Ausgabe mit ihrer Wiederherstellung des ursprünglichen Textes nach einer langen Suite von „Fortsetzungen" des Werkes zugleich auch das Ende seines allgegenwärtigen kulturellen Einflusses und die endgültige Verwandlung von Buffons Schriften in einen Gegenstand rein historischen Interesses. Die Publikation von opera, omnia zu Lebzeiten des Autors und, auf die Spitze getrieben, ihre Inszenierung als ein Schreibprozeß im 18. Jahrhundert scheint keine prominente Fortsetzung in der Biologie des 19. Jahrhunderts gefunden zu haben. Ich möchte aber mit einer kurzen Beobachtung über eine andere Form von opera schließen, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts auftaucht. Diese Form von „Werken" beruht auf den Veränderungen, die das Schreiben von Wissenschaft im Jahrhundert zuvor erfuhr. Im Verlauf des 19. Jahrhunderts wurde das Verfassen großer Reihen, Handbücher und Monographien zunehmend zurückgedrängt und teilweise, wenn auch nie vollständig ersetzt durch die Publikation kürzerer Forschungsartikel, die man in immer kürzeren Abständen und in immer spezialisierteren Zeitschriften veröffentlichte. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war die Veröffentlichung zumindest von Forschungsliteratur so gut wie synonym mit der Publikation von Aufsätzen in disziplinär ausgerichteten Journalen. Parallel dazu wurde die Versendung, der Erhalt und das Sammeln von Sonderdrucken zu einem der hauptsächlichen Verfahren, sich einerseits selbst als Wissenschaftler sichtbar zu machen und andererseits auf dem laufenden über das zu bleiben, woran andere forschten. Als Folge dieser Transformation im wissenschaftlichen Schreiben entwickelte sich die Herausgabe von gesammelten Zeitschriftenaufsätzen zu einer Form, einen produktiven wissenschaftlichen Autor in der republique des lettres scientifiques zu ehren. Ein gutes Beispiel sind die opera e periodicis collata des holländischen Genetikers Hugo de Vries (1848-1935). Sie wurden von einer ungenannten „Anzahl von Freunden und Verehrern" des Autors am Ende des 1. Weltkriegs zu seinem 70. Geburtstag auf den Weg gebracht und wuchsen bis 1927 auf insgesamt sieben Bände an.37 Es ist klar, daß die Freunde und Verehrer des prominenten deutschen Mit-„Wiederentdeckers" der Mendelschen Vererbungsregeln, Carl Correns (1864-1933), diese Venezia 1782-1791. - Historia natural, general y particular, escrita en frances por el conde de Buffon ... y traducidapor D. Joseph Clavijo y Faxardo, Madrid 1785-1791. 36 Herrn von Buffons Naturgeschichte der vierfüßigen Thiere. Mit Vermehrungen aus dem Französischen übersetzt [von Georg Forster], Sechster Band, Berlin 1780. 37 H. de Vries, Opera e periodicis collata, Band 1-7, Utrecht 1918-1927.

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Herausforderung nicht unbeantwortet lassen konnten. Wenige Jahre nachdem das holländische Unterfangen auf den Weg gebracht war, organisierte Correns' Schüler und Mitarbeiter Fritz von Wettstein die Herausgabe der „Gesammelten Abhandlungen zur Vererbungswissenschaft aus periodischen Schriften" aus Anlaß des 60. Geburtstags seines Lehrers Carl Correns im Jahre 1924.38 Damit war die Balance im Anspruch auf nationale wissenschaftliche Autorität auf dem sich stürmisch entwickelnden Gebiet der klassischen Genetik wiederhergestellt. Wie Michael Cahn in seinem schönen, leider bisher nicht veröffentlichten Essay gezeigt hat, ist das Phänomen der opera omnia es wert, aus der Perspektive einer Kulturgeschichte des Textes untersucht zu werden. Mein besonderes Interesse in dieser Miszelle war es, das Paradox der Vollendung vor dem Abschluß zu kommentieren, das heißt die verschiedenen Formen zu beleuchten, die das unmögliche und offensichtlich dennoch unwiderstehliche Begehren eines Autors annehmen kann, die Erfüllung seines literarischen QEuvres vorwegzunehmen. Über den engeren Fokus dieser Beispiele hinaus wollte ich andeuten, daß es eine lohnende, bisher zu wenig wahrgenommene Aufgabe für die Wissenschaftsgeschichte ist, der historischen Entwicklung von Formen und Genres des wissenschaftlichen Schreibens nachzugehen.

38 C. Correns, Gesammelte Abhandlungen zur Vererbungswissenschaft aus periodischen Schriften 1899-1924, hrsg. v. d. Deutschen Gesellschaft für Vererbungswissenschaft, Berlin 1924.

Die Macht der Weltbilder und Bildwelten Günter Abel (Berlin)

Vier Fragen sind im folgenden leitend. Sind Weltbilder und Bildwelten für unser Welt-, Fremd- und Selbstverständnis wichtig? Worauf beruht ihre Relevanz und Wirksamkeit? Welcher Art ist das Verhältnis zwischen Weltbildern und Bildwelten? Welche Konsequenzen könnten diese Zusammenhänge für zukünftige Projekte philosophischer Forschung haben? Entfaltet werden die Antworten in insgesamt fünf Schritten.

/. Dominanz der Bildwelten und Vielfalt der Weltbilder Zur Situation unserer Zeit gehört die Flut von Bildwelten ebenso wie die Vielfalt unterschiedlicher Weltbilder. Kaum jemand wird bestreiten, daß wir in den hochgradig medien-basierten Gesellschaften fortwährend einer Fülle von Bildern und dicht gestaffelten visuellen Informationen und Botschaften in einem Maße ausgesetzt sind, wie dies in früheren Zeiten bei weitem nicht der Fall war. Wir sind, so könnte man sagen, von einer Vielzahl neuer Medien und virtueller, insbesondere visueller virtueller Realitäten umstellt. Diese sind auch längst schon Bestandteile unserer Lebenswelten geworden, und ihren Einflüssen kann man sich kaum entziehen. Das ist nicht nur ein allgemeines gesellschaftliches Phänomen. Wir haben es darin zugleich mit einer grundsätzlichen Verschiebung von Schriftwelten zu Bildwelten zu tun. Es scheint, als befänden wir uns im Übergang von der Epoche der Schrift in die des Bildes. Vergleicht man zum Beispiel moderne Lehrbücher in den Naturwissenschaften mit denen von vor etwa dreißig Jahren, so stellt man fest, daß die älteren Bücher vorwiegend Fließtext enthalten, die neueren dagegen durch eine dichte Folge bildlicher Darstellungen gekennzeichnet sind. Dem entspricht die fundamentale Rolle, die den bildgebenden Verfahren in Teilen der heutigen Naturwissenschaften zukommt. Auch in der Philosophie hat man die Bilder wiederentdeckt. Wurde die klassische Bewußtseinsphilosophie in der analytischen Philosophie durch den „linguistic turn" abgelöst, so spricht man inzwischen von einem „pictorial turn", der auf diesen folge und für das philosophische wie generell das kulturanthropologische Denken von hohem Interesse sei. Leben wir also nicht so

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sehr in Sprachwelten als vielmehr in Bildwelten? Zwar hat die traditionelle Philosophie mit ihrer Konzentration auf die Welt der Begriffe die Bildlichkeit, überhaupt die Seite der Anschauung, über Gebühr vernachlässigt, ihres Eigenwertes weitgehend beraubt und so zum Beispiel auch den Blick auf die kognitive Rolle und Dimension der Bildlichkeit selbst verkannt. Aber auf der anderen Seite mag man inzwischen durchaus die Frage stellen, ob denn bei so viel Bildlichkeit nicht die Gefahr bestehe, daß das Denken, das sich nicht in Bildern, sondern in Begriffen und Urteilen bewegt, auf der Strecke zu bleiben droht? Zur Signatur unserer Zeit gehört seit längerem auch die doppelte Einsicht, daß Weltbilder eine grundlegende und normierende Rolle in einem jeden Welt-, Fremd- und Selbstverständnis spielen und daß wir es darin - vornehmlich im Falle unterschiedlicher Kulturen - mit einer Vielfalt von Weltbildern zu tun haben, die untereinander nicht immer kompatibel sind. Diese Aspekte sind bis in die Wissenschaften hinein deutlich. Wissenschaft wird in einer öffentlichen Lebenswelt betrieben. Ihre Zwecke, Ziele, leitenden Ideen und dominanten Forschungsmethoden sind in einer kulturell bestimmten und in diesem Sinne öffentlichen sowie durch Weltbilder geprägten Lebenswelt situiert. Die Wechselbeziehung reicht bis in den „logical space of reasons",1 dessen Verhältnis zum öffentlichen Raum der Geltung von Argumenten nicht ohne Bezug auch auf Weltbildaspekte geklärt werden kann. In der neueren Wissenschaftstheorie wurde gezeigt, daß Wissenschaften und ihre Entwicklungen auch durch bestimmte Vorannahmen gekennzeichnet sind, in denen etwa festgelegt ist, welches die elementaren Gegenstände der Forschung sind (z. B. Atome oder Neuronen-assemblies)y welche Sätze als unantastbar gelten (z. B. der Energieerhaltungssatz), welche Strategien als besonders wirksam zur Gewinnung von Erkenntnis akzeptiert werden (z. B. die Beobachtung und das Experiment) und wann eine Theorie als eine erfolgreiche Theorie angesehen wird (z.B. bei widerspruchsfreier, umfänglicher, aber einfacher Organisation einschlägiger Sachverhalte). In solchen Annahmen manifestiert sich auch das Weltbild einer Zeit und Kultur. Und mögliche Veränderungen solcher Netzwerke der Bedingungen von Wissenschaft lassen sich letztlich nur im Rekurs auf ein Weltbild begründen und rechtfertigen. Unter .Weltbild' sei dabei, mit Wittgenstein,2 das unhinterfragte und öffentliche, d. h. das mit anderen geteilte Fundament unseres (auch wissenschaftlichen) Sprechens, Handelns und Denkens verstanden, das einer Kultur zu einer Zeit zugrundeliegt. Dies schließt die Möglichkeit ein, daß Ergebnisse der Wissenschaften von so grundlegender Relevanz sein können, daß sie ihrerseits die W. Sellers, Empiricism and the Philosophy of Mind (1956), (with an introduction by Richard Rorty and a study guide by Robert Brandon), Cambridge (Mass.), London 1997, section 36, S. 76. Vgl. L. Wittgenstein, Über Gewißheit [im folgenden abgekürzt als G], in: Werkausgabe, Band 8, Frankfurt a. M. 1984, Nr. 93 ff.

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Form des zugrunde liegenden Weltbildes modifizieren (wie z.B. im Falle der Relativität von Raum und Zeit oder angesichts kosmologischer Befunde der Astrophysik oder der Entschlüsselung des menschlichen Genoms durch die Bioforschung). Die Wissenschaften sind systematisch auf ihre intersubjektive Mitteilbarkeit, ihre methodisch geregelten Verfahrensweisen, die intersubjektive Nachprüfbarkeit ihrer Resultate und auf den durch die in der „scientific community" festgelegten Standards des Messens bestimmten Sinn von Objektivität verpflichtet. Aufgrund dieser Eigenart sind in den Wissenschaften selbst die möglichen Konflikte und Konfrontationen zwischen den vor-wissenschaftlichen bzw. vor-theoretischen Weltbildern, die aufgrund ihrer irreduziblen Vielheit leicht entstehen können, nicht so direkt relevant wie dies in den vorwissenschaftlichen Lebenswelten und zwischen kulturell unterschiedlichen sowie inhaltlich konkurrierenden Lebenswelten der Fall sein kann und oft genug auch ist. Kaum jemand wird heute bestreiten, daß es Konflikte und Widerstreit zwischen schwer miteinander zu vereinbarenden oder gar inkompatiblen Weltbildern gibt. Wodurch aber sind Weltbilder des näheren gekennzeichnet? //. Die Eigenart von Weltbildern An die Wittgensteinsche Auffassung von ,Weltbild' wurde bereits angeknüpft. In ihr wird ein /Weltbild' als der „überkommene Hintergrund", als das Fundament menschlichen Sprechens, Denkens und Handelns und in diesem Sinne als die Grundlage der jeweiligen menschlichen Kultur angesehen. Dieser Hintergrund umfaßt propositionale Elemente (wie z.B. Überzeugungen und Meinungen) und nicht-propositionale Komponenten (wie z. B. religiöse und mythische Einstellungen) ebenso wie sprachliche Teile (wie z. B. Erzählungen oder Legenden) und nicht-sprachliche Elemente (wie z. B. Sitten, Gebräuche und Rituale). Innerhalb dieses weit gefaßten und tief liegenden Sinns der Rede von Weltbild kann man dann auch den engeren Sinn solcher Rede ansiedeln. In einem Weltbild schließt sich nämlich für die Menschen einer Kultur und Epoche das Gesamt ihrer mannigfaltigen Lebenserfahrungen zu einer gewissen einheitlichen Sicht der Welt im Bild bzw. im anschaulichen Modell zusammen. In diesem Sinne spricht man z. B. von einem „geozentrischen" im Unterschied zu einem „heliozentrischen Weltbild". In ersterem ist eine Vorstellung des Kosmos leitend, in der die Erde den ruhenden Mittelpunkt bildet. In letzterem dagegen wird von der Sonne als dem Mittelpunkt des Planetensystems ausgegangen. Solche Rede von „Weltbild" unterscheidet sich von einer „Weltanschauung" vor allem dadurch, daß in „Weltbild" das Gesamt eines Hintergrundes, ein Hintergrund-Geflecht von Bedingungen und nicht, wie in „Weltanschau-

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ung", die Frage nach dem Sinn der Welt, nach deren Grund, Zweck und Ziel gemeint ist. „Weltbild" ist auch unterschieden von „Lebenswelt", letztere im Sinne Husserls verstanden als die Gesamtheit der von Menschen in ihren alltäglichen Lebenszusammenhängen und vortheoretischen Erfahrungen gestalteten praktischen Umwelt. Weltbilder haben ihre Funktionsstellen gleichsam noch vor der praktischen Gestaltung von Umwelt und wirken normierend auf diese ein. Zwar ist der Begriff , Weltbild' zunächst für den Bereich der Erkenntnis, des näheren im Zusammenhang von Welterkenntnis und Weltwissen angesiedelt und relevant. Aber er hat, da das Weltbild auch das Handeln der Menschen einer Kultur und Epoche, einschließlich des technischen Handelns, bestimmt, zugleich eminent praktische Konsequenzen. Diesen wichtigen Aspekt stellt auch Martin Heidegger heraus, wenn er in Die Zeit des Weltbildes (1938) betont, daß die Philosophie der Neuzeit durch das Weltbild und das technische Handeln gekennzeichnet sei, so wie diese sich am Leitfaden des mathematisch-naturwissenschaftlichen Modells von Wissen verstehe. In diesem Sinne der Herstellung eines wissenschaftlichen Weltbildes, das darin zugleich als das umfängliche philosophische Weltbild angesehen werde, bestehe der epochale „Grundvorgang der Neuzeit", in der „Eroberung der Welt als Bild" nämlich.3 Die Wissenschaft und deren praktisches Komplementärstück, die Technik, sind beide und jeweils auf eine doppelte Weise mit der Frage des Weltbildes und darin zugleich der Bildwelt verbunden. Zum einen setzen Wissenschaften und Technologien stets bereits Weltbilder voraus, innerhalb derer sie so agieren, wie sie agieren. Zum anderen stellen Wissenschaften und Technologien Aktivitäten dar, die ihrerseits Weltbilder hervorbringen oder vorhandene kritisieren und korrigieren können. Wissenschaft verfügt über eine „weltbildgenerierende Kraft".4 Während also in dem erstgenannten Sinne (demzufolge Wissenschaft stets bereits ein Weltbild voraussetzt und in Anspruch nimmt) die Formulierung wissenschaftliches Weltbild etwas von einem hölzernen Eisen hat, macht diese Formulierung in der zweiten Bedeutung (derzufolge Wissenschaft ihrerseits weltbild-erzeugend ist) guten Sinn. Und neben der Rede von einem wissenschaftlichen Weltbild ist es darüber hinaus sinnvoll, auch von einem technologischen Weltbild zu sprechen, zumal heute die weltbild-erzeugenden Einflüsse der modernen Technologien unverkennbar sind. In beiden Formulierungen wird letztlich nur dem Umstand Rechnung getragen, daß, obzwar Wissenschaft und Technik stets bereits ein Weltbild voraussetzen, beide für die Aus-

M. Heidegger, Die Zeit des Weltbildes, in: ders., Holzwege, Frankfurt a. M., 7. Aufl. 1994, S. 94, Hervorhebung G. A. J. Mittelstraß, Weltbilder. Die Welt der Wissenschaftsgeschichte, in: ders., Der Flug der Eule, Frankfurt a. M. 1989, S. 232.

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gestaltung einer Lebenswelt von so großer Reichweite sein können, daß sie ihrerseits die Weltbilder, die sie in Anspruch nehmen, umgestalten, revidieren und im Grenzfall durch neue zu ersetzen vermögen. Daß und in welchem Sinne Wissenschaft über eine „weltbildgenerierende Kraft" verfügt, läßt sich mit Blick auf die Wissenschaftsgeschichte verdeutlichen. Jürgen Mittelstraß hat dies anhand der Unterschiede verdeutlicht, die zwischen dem, was er die „Aristoteles-Welt", die „Hermes-Welt", die „Newton-Welt" und die „Einstein-Welt" nennt, bestehen.5 Das Bild der in Antike und Mittelalter vorherrschenden Aristoteles-Welt besteht, grob vereinfacht, aus einer Welt natürlicher Körper, die aus Stoff und Form bestehen und deren ideologische Bewegungen auf natürliche Orter gerichtet und letztlich auf einen Ersten Beweger zurückzuführen sind. Dagegen ist das Bild der Welt in der Hermes-Welt der Renaissance eher durch hermetische Komponenten (wie Alchemic und Astrologie) sowie durch naturphilosophische Aspekte gekennzeichnet, in der die Welt als ein großer Organismus verstanden wird, innerhalb dessen das Verhältnis der Teile untereinander und die Beziehungen zwischen dem Makro- und dem Mikrokosmos, insbesondere zwischen Universum und Mensch, als Beziehungen sympathetischer Harmonie aufgefaßt werden. Demgegenüber zeigt das Bild der Welt in der Newton-Welt eine Welt, in der Materie und Raum die eigentlichen Bestandteile sind und sich schwere Massen in einem Koordinatensystem von absolutem Raum und absoluter Zeit bewegen, wobei die gravitative Anziehung zwischen den Massen nicht als eine Eigenschaft der (passiven) Materie selbst angesehen wird. Die NewtonWelt ist später dann bekanntlich zum Musterfall dessen geworden, was man mit dem berühmten Buchtitel von E. J. Dijksterhuis Die Mechanisierung des Weltbildes genannt hat. Darin wird die Welt schließlich als eine Maschine konzipiert.6 In der Einstein-Welt dagegen erscheint die Welt in einem anderen Bild. Nicht mehr herrscht dort das Newtonsche Koordinatensystem des absoluten Raums und der absoluten Zeit. Vielmehr wird die Raum-Zeit abhängig gedacht von der Energie- und Materieverteilung im Weltall. Alle Wechselwirkungen zwischen Partikeln der Welt sollen auf die Struktur dieser Raum-Zeit zurückgeführt werden, und es kommt zu einer Geometrisierung der Gravitation. Geometrie und Physik werden in den Feldgleichungen untrennbar miteinander verbunden. Die Beispiele aus der Geschichte der Wissenschaften sind Beispiele für den oben betonten Doppelcharakter des Verhältnisses von Wissenschaft und Weltbild, daß Wissenschaften (und Technologien) zum einen eben stets be5 6

Vgl. dazu und zur folgenden Beschreibung dieser Welten J. Mittelstraß, Weltbilder. Die Welt der 'Wissenschaftsgeschichte, a.a.O., S. 232-242. E. J. Dijksterhuis, Die Mechanisierung des Weltbildes, Berlin, Heidelberg 1956.

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reits Weltbilder voraussetzen, daß sie zum anderen aber auch ihrerseits weltbild-erzeugend und kritisch sowie revidierend auf jeweils überkommene Weltbilder wirken können. Wie aber kann man näher beschreiben (Abschn. III) und worauf beruht (Abschn. IV) die so grundlegende Funktion von Weltbildern, die darin jeweils auch als Bildwelten wirken? ///. Die grundlegende Rolle der Weltbilder In bezug auf die zentrale Rolle von Weltbildern seien im folgenden zwei Aspekte hervorgehoben: Weltbilder in ihrer Funktion als Basis und Garanten von Gewißheit (III. 1.), und Weltbilder als Stabilisatoren von Handlungen (III.2.).

l. Weltbilder als Gewißheitsgaranten Daß und in welchem Sinne Weltbilder als Gewißheitsgaranten angesehen werden können, kann in Anknüpfung an Wittgensteins Schrift Über Gewißheit dargelegt werden. Die Tiefenfunktion eines Weltbildes läßt sich zunächst mit Blick auf solche Sätze verdeutlichen, deren Gegenteil kaum jemand glauben und behaupten würde. Wittgenstein denkt hier an Sätze, wie sie G. E. Moore vor Augen hatte, wenn dieser Beispiele für unerschütterliche Gewißheit geben wollte. Der Satz, „daß Moore sein ganzes Leben in geringer Entfernung von der Erde verbracht hat" (G, Nr. 93), wäre ein Satz, dessen Gegenteil Wittgenstein deshalb kaum glauben und behaupten würde, weil alles, was Wittgenstein bislang wahrgenommen, gelesen und gehört hat, zu der Überzeugung führt, „daß kein Mensch sich je weit von der Erde entfernt hat". Auch die erst nach Wittgensteins Ableben erfolgte Mondlandung hat daran natürlich nichts Wesentliches geändert. Denn bezogen auf die interstellaren Entfernungen spielte sich die Mondlandung nicht weit von der Erde entfernt ab. Im Blick auf die Weltbildfrage ist entscheidend, daß nichts „in meinem Weltbild"7 dafür spricht, das Gegenteil des Moore-Satzes zu glauben und zu behaupten. Spielt mein Weltbild diese überaus wichtige Rolle, dann lohnt es sich, seine Besonderheiten näher in den Blick zu nehmen. Wittgenstein hat die entscheidenden Punkte benannt. Man hat sein Weltbild nicht, weil man sich zuvor und in einer eigenen Prüfung von dessen Richtigkeit überzeugt hat und als Resultat dieser Prüfung dann von ihm überzeugt ist. Vielmehr funktioniert

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Ebd.; Hervorhebung G. A.

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und ist mein Weltbild der „überkommene Hintergrund", auf dem „ich zwischen wahr und falsch unterscheide" (G, Nr. 94). Man beachte hier zwei Aspekte. Erstens geht es primär um die ErstePerson-Perspektive. Es kommt darauf an, daß ein Weltbild mein Weltbild ist. Das heißt nicht, daß dies solipsistisch oder privatistisch aufzufassen ist. Analog zu Wittgensteins Argumentation gegen die Möglichkeit einer privaten Sprache8 könnte man sagen: Einer allein und nur für sich und nur ein einziges Mal kann kein Weltbild haben, im Rekurs auf das er sich dann kaum vorstellen kann, daß Einer (und das heißt auch: eine andere Person) Sätze von der Art wie der, „daß kein Mensch sich je weit von der Erde entfernt hat", ernsthaft bezweifeln und behaupten würde. Aber in der unauflöslichen Verschränkung von Sprecher- und Hörer-Perspektive, von Erster-Person- und DritterPerson-Perspektive, kommt der individuellen Ersten-Person eine besondere Bedeutung zu. Zweitens ist zu beachten, daß dann, wenn das Weltbild den Hintergrund bildet, auf dem zwischen wahr und falsch entschieden wird, dies zur Folge hat, daß der ganzen Wahr-Falsch-Opposition sowie dem Prädikat „... ist wahr" stets bereits die Struktur eines Weltbildes voraus- und zugrundeliegt. Können die Prädikate „... ist wahr" und „... ist falsch" erfolgreich zur Anwendung gebracht werden, dann beruht dieser Erfolg letztlich nicht auf der Trivialität ihrer Applikation, sondern darauf, daß ein Weltbild gegeben ist, auf dessen Hintergrund die Unterscheidung zwischen wahr und falsch möglich und sinnvoll ist. In diesem (und keineswegs relativistisch zu nennenden) Sinne ist die Wahr-Falsch-Unterscheidung weltbild-bezogen, weltbild-gebunden. Wittgenstein erinnert an wissenschaftliche Lehrbücher, deren Inhalte man in der Regel nicht deshalb für wahr hält, weil man selbst die einzelnen Fakten, von denen da die Rede ist, nachgeprüft hat, sondern weil man davon ausgeht, daß das, was in einem anerkannten Lehrbuch steht, gut bestätigt ist. Aber „wie weiß ich das?" bzw. „Was ist meine Evidenz dafür?" (G, Nr. 162). Ich muß zu diesem Zwecke nicht erst noch ein Weltbild erwerben. Vielmehr „habe" ich bereits eines. Und in bezug auf dieses mein Weltbild läßt sich strenggenommen nicht noch einmal sinnvoll fragen, ob es selbst „wahr" oder „falsch" ist. Denn diese Unterscheidung macht, wie zu hören war, Sinn überhaupt erst vor dem Hintergrund eines Weltbildes. Mein Weltbild ist „vor allem das Substrat alles meines Forschens und Behauptens". Und wenn man nun sein Weltbild beschreiben möchte, so ist besonders wichtig, daß die Sätze, die mein Weltbild beschreiben, von der Art sind, daß sie „nicht alle gleichermaßen der Prüfung [unterliegen]" (G, Nr. 162). Alle Sätze, die Erfahrung mich gelehrt hat, kann ich auch überprüfen. Doch viele Sätze und vor allem die grundlegenden, diejenigen, die meinen Vgl. L. Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen [im folgenden abgekürzt als PU], in: Werkausgabe, Band l, 4. Aufl., Frankfurt a. M. 1980,1, Nr. 243-315.

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Glauben über die Welt und die Wirklichkeit als ganze verkörpern, sind von einem solchen Grad an Selbstverständlichkeit, daß in bezug auf sie im allgemeinen niemand die Forderung einer eigenständigen Prüfung aufstellt. Das ist letztlich deshalb nicht der Fall, weil diese Sätze von der Art sind, daß sie in den angemahnten Prüfungen bereits vorausgesetzt und in Anspruch genommen werden müßten. Grundüberlegung dabei ist, daß dann, wenn überhaupt geprüft wird, wir in eben solchem Prüfen „schon etwas voraussetzen], was nicht geprüft wird" (G, Nr. 163). Manche Dinge werden sinnvollerweise gar nicht geprüft, sondern man geht wie selbstverständlich von ihnen aus. Prüft denn, Wittgensteins Beispiel (ebd.), jemand ernsthaft, ob der Tisch vor uns auch dann noch stehenbleibt, wenn wir ihm den Rücken zuwenden, ihn also nicht kontinuierlich beobachten. Man kann hier auch Überzeugungen anführen wie z. B. die (G, Nr. 234), daß Menschen Eltern haben, daß es verschiedene Städte gibt, daß wir uns auf der Oberfläche der Erde bewegen. Gewisse selbstverständliche Annahmen sind für die Formen unseres alltäglichen Wissens ebenso kennzeichnend wie für das szientifische Wissen im engeren Sinne sowie im Hinblick auf die Voraussetzungen von Wissenschaft. Bei allen Unterschieden zwischen den einzelnen Wissenschaften (z.B. zwischen Physik, Ökonomie, Philologie oder Rechtswissenschaft) beruht jede Wissenschaft, wie bereits in Abschnitt I betont, auf einer Reihe von (geschichtlich gewachsenen) Annahmen und Festsetzungen, etwa hinsichtlich dessen, was als eine zugelassene Methode und als ein akzeptables Verfahren der Verifikation oder der Begründung gilt und was nicht. Der in diesem Zusammenhang zentrale wissenschaftsphilosophische Unterschied zwischen Festsetzungen erster und Festsetzungen zweiter Stufe ist vor allem von Hans Poser herausgearbeitet worden.9 Festsetzungen erster Stufe sind objektbezogen und betreffen Verfahren der genannten Art. Festsetzungen zweiter Stufe enthalten diejenigen Verfahren, nach denen die objektbezogenen Festsetzungen erster Stufe gegebenenfalls verändert, verworfen oder begründet werden können. Vornehmlich in bezug auf diese Begründungen und/oder Zurückweisungen zeigt sich schnell, daß sie nicht auf der objektbezogenen Ebene, sondern letztlich nur im Rekurs auf das Weltbild einer Zeit gegeben werden können. Poser führt als ein historisches Beispiel die Leibniz-Newton-Kontroverse um die Konzepte von Raum, Zeit und Gravitation an. Die in dieser Debatte gegeneinander aufgebotenen Argumente greifen nicht so sehr auf Elemente der objektbezogenen Wissenschaft dieser Zeit, sondern auf metaphysische Annahmen und Prinzipien zurück, vor allem auf das Prinzip des zureichenden Grundes und auf metaphysische Vorstellungen von Raum und Zeit. Ent-

Vgl. dazu H. Poser, Wissenschaftstheorie. Eine philosophische Einführung, Stuttgart 2001, S. 186-207, und ders., Ist eine wissenschaftliche Weltanschauung möglich?, in: Perspektiven der Analytischen Philosophie, Bd. 18, hrsg. von G. Meggle/J. Nida-Rümelin, Berlin 1997, S. 538-556.

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schieden wird die Debatte letztlich in der Dimension der Weltbilder, nicht in der auf Objekte und Ereignisse bezogenen Wissenschaft selbst. Geht es um selbstverständliche Annahmen und Festsetzungen, dann sind damit auch Fragen des philosophischen Skeptizismus berührt. Auf das oben angeführte Tisch-Beispiel bezogen, lautet die skeptische Frage in ihrer Humeschen Variante, ob man einen Gegenstand auch dann als numerisch denselben ansprechen kann, wenn man ihn nicht kontinuierlich beobachtet hat? Selbst bei intendierter kontinuierlicher Beobachtung müßte man irgendwann einmal, und sei's nur für einen Bruchteil an Zeit, die Augenlider schließen, und ein Gott oder ein anderer flinker Zeitgenosse könnte genau diesen Moment nutzen, um den numerisch identischen gegen einen bloß noch qualitativ identischen Tisch auszutauschen. Wäre dies nicht ein Argument dafür, daß der Zweifel in bezug auf die kontinuierliche Existenz der Außenwelt im Kern berechtigt, unerschütterliche Gewißheit also nicht zu haben ist? Normalerweise jedoch setzen wir die Fortexistenz von Tischen auch dann voraus, wenn wir diese nicht kontinuierlich beobachten. Der Deskriptiven Metaphysik Peter F. Strawsons zufolge ist dies dadurch gerechtfertigt, daß es sich bei der Annahme kontinuierlicher Fortexistenz auch bei nicht-kontinuierlicher Beobachtung um eine Eigenschaft handelt, die mit dem sprach- und grundbegrifflichen System selbst, mit dem wir ausgestattet sind, verbunden bzw. gegeben ist.10 In Wittgensteinscher Sicht handelt es sich dabei schlicht um etwas, das zu unserem Weltbild gehört. Wenn jemand kommt und zweifelt, ob (bekanntes Beispiel) die Welt vor fünf Minuten tatsächlich existierte, dann würde man diesen Zweifel nicht etwa deshalb nicht verstehen, weil man die Existenz der Welt vor fünf Minuten nicht selbst nachgeprüft hat und auch empirisch nun nicht mehr nachprüfen kann, sondern deshalb, weil man dann nicht mehr weiß, was eine solche Person überhaupt noch als Sicherheit und Evidenz gelten lassen würde und was nicht (G, Nr. 231). In solchen Fällen zeigt sich, daß tief sitzende Anschauungen verschieden und einander auch widersprechend sein können. Wenn jemand sagt, die Erde habe vor fünf Minuten noch nicht existiert, so ist dies ein Satz, der meiner Grundauffassung widerspricht. Wenn Grundsichten derart unvereinbar sind, notiert Wittgenstein, „so müßte ich's dabei bewenden lassen" (G, Nr. 238). Es gibt dann kein gemeinsames Drittes, keinen externen Standpunkt, auf den die beiden einander so widersprechenden Annahmen zurückgeführt werden könnten. Tritt diese Situation ein, dann ist es sinnvoll, von Unterschieden in den Weltbildern, von unterschiedlichen Weltbildern auszugehen.

10 Vgl. P. F. Strawson, Individuais. An Essay in Descriptive Metaphysics, London, New York 1971. Zur Frage, ob und wie der philosophische Skeptizismus zufriedengestelllt werden kann, vgl. Verf., Interpretationswelten. Gegenwartsphilosophie jenseits von Essentialismus und Relativismus, Frankfurt a. M. 1993.

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In diesem Zusammenhang ist ein Punkt herauszustellen, den auch Wittgenstein betont und der im Blick auf die Zurückweisung eines terminalen Skeptizismus von hoher Bedeutung ist. Zwar können wir viele einzelne unserer Überzeugungen in Frage stellen und bezweifeln, aber wir können nicht alle zugleich bezweifeln, ohne damit die Basis für ein berechtigtes Zweifeln selbst zu zerstören. Denn, so Wittgenstein, daß wir nicht alle Überzeugungen gleichzeitig bezweifeln, „ist eben die Art und Weise, wie wir urteilen und handeln" (G, Nr. 232). Von dem Augenblick an, wo man urteilt und handelt, steht es einem nicht mehr frei, alle Überzeugungen und alle Fakten zugleich zu bezweifeln. Denn das würde bedeuten, gerade auch diejenigen Selbstverständlichkeiten, des näheren diejenigen selbstverständlichen Aspekte und Überzeugungen unseres Weltbildes bezweifeln zu wollen, die überhaupt erst das Urteilen, Handeln und Bezweifeln möglich machen. Die Aspekte und Überzeugungen, die in der Ersten-Person-Perspektive fraglos feststehen, sind bis auf weiteres nicht hintergehbare, nicht distanzierbare, nicht in ihrer Geltung suspendierbare und operativ nicht herstellbare Bestandteile des Weltbildes. Ein hyperkritischer Geist oder ungläubiger Thomas möchte vielleicht einwenden, daß es unter kritischem Vorzeichen doch nicht hinnehmbar ist, etwas als feststehend anzusehen; das könne nur heißen, daß noch nicht radikal genug gezweifelt worden ist. Nun ist aber für die hier vorgetragene Überlegung kennzeichnend, daß der Umstand, daß mir etwas selbstverständlich ist und feststeht, eine Einstellung ist, die ihren Grund „nicht in meiner Dummheit oder Leichtgläubigkeit" hat (G, Nr. 235). Vielmehr handelt es sich um diejenigen Selbstverständlichkeiten eines Weltbildes, die bereits auch in der Anwendung eines noch so radikalen Prinzips der Kritik vorausgesetzt sein müssen, damit Kritik überhaupt möglich ist. Für die im Weltbild feststehenden Selbstverständlichkeiten kann ich keinen Grund angeben, gar eine Letztbegründung liefern. Denn dies würde voraussetzen, daß man sich außerhalb seines Weltbildes aufstellen können müßte, um den Grund der Geltung der charakteristischen Selbstverständlichkeiten einsehen und benennen zu können. Wir befinden uns also in der nicht undelikaten und vielleicht sogar beunruhigenden Situation, zum einen den nicht-hintergehbaren Strukturen unseres Weltbildes in jedem Urteilen und Handeln glauben und vertrauen, zugleich aber von der „Grundlosigkeit" (G, Nr. 166) unseres Glaubens und Vertrauens ausgehen zu müssen. Aber man muß auch die angenehme Seite dieser Medaille sehen. Sie liegt vor allem darin, daß ich mir, da mein Wehbild so tiefsitzend ist, wie es ist, um mein Weltbild keine wirklichen Sorgen zu machen und mich nicht ernsthaft um es zu kümmern brauche. Da man zudem vom öffentlichen, d. h. von dem mit anderen Personen geteilten Charakter seines Weltbildes ausgehen kann, kann man darauf vertrauen, daß das eigene Weltbild auch von vielen anderen Personen geteilt wird. Es braucht einem daher auch nicht bei jedem fraglos funktionierenden Aspekt und jeder fraglos gültigen Überzeugung der Ver-

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dacht zu kommen, daß man sich mit seinem Weltbild insgesamt und in jedem seiner Teile und Elemente in Bezug auf die .tatsächliche' Beschaffenheit der Welt im Irrtum befinden könnte. Zwar kann man niemals sicher ausmitteln, bis zu welchem Grade die anderen Personen ein Weltbild mit einem teilen. Aber durch diese Grenze wird mein Vertrauen in mein Weltbild nicht erschüttert. Zu dessen erfolgreichem Funktionieren gehört nicht das Wissen darüber, wie weit und wie tief die Übereinstimmung mit den anderen Personen im Weltbild geht. Vielleicht möchte unser ungläubiger Thomas aber doch noch einmal die Frage nach der »Wahrheit meines Weltbildes' selbst stellen. Er tut dies jetzt zwar nicht mehr im Rahmen der in der Tat sinnwidrigen Annahme, wir könnten als endliche Geister schließlich vielleicht doch eine epistemische Position einnehmen - und sei's nur im Sinne reflexiver Idealisierung -, von der aus mein Weltbild hinsichtlich seiner Übereinstimmung mit der .wahren Natur der Welt' überprüft werden könnte. Er hat inzwischen durchaus begriffen, daß ein solcher Standpunkt für endliche Geister nicht zu haben und sinnwidrig ist. Aber, so betont er, wir haben doch gleichwohl .Kriterien' der Beurteilung eines Weltbildes, z. B. den Rekurs auf die Stimmigkeit im Sinne der Prädikatenlogik und der Beobachtungssätze (etwa der Mooreschen Art: „Das ist meine Hand"). Nun ist der Rückgriff auf die Prädikatenlogik und auf Beobachtungsdaten natürlich überaus wichtig, und beide dienen in vielen Fällen in der Tat auch erfolgreich als Kriterien. Aber, und das ist hier die Pointe, wir können nicht auf eine begründete Weise sicher wissen, ob es sich bei diesem Rekurs tatsächlich um wehbud-unabhängige Angelegenheiten und Kriterien handelt oder nicht.

2. Weltbilder als Stabilisatoren von Handlungen Weltbilder üben ihre stabilisierenden Funktionen nicht nur in bezug auf theoretische Einstellungen bzw. theoretische Gewißheit aus. Sie spielen auch im Hinblick auf unser praktisches und alltägliches Handeln und Verhalten eine bedeutende Rolle. Auch in dieser Hinsicht sind mehrere Funktionen von Weltbildern zu verzeichnen. Sie spielen eine Rolle: (i) hinsichtlich des Eintretens in eine Handlung (d. h. der Bereitstellung der Anfangsbedingungen dafür, überhaupt eine Handlung zu beginnen oder zu unterlassen); (ii) bezüglich der Form einer Handlung (d. h. der Art und Weise, in der eine Handlung durchgeführt wird); und (iii) in puncto Bewertung einer Handlung (d. h. hinsichtlich dessen, was überhaupt als erlaubt und gerechtfertigt und was als nichterlaubt und nicht-gerechtfertigt zählt). (i) Zunächst ist zu betonen, daß Weltbilder mit unserem Handeln und Verhalten in dem Sinne verbunden sind, daß sie ihrerseits nicht frei in der Luft schweben und keine bloß imaginierten Gebilde sind, sondern fest in

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unseren lebensweltlichen und kulturellen Praktiken situiert sind. Weltbilder bestehen, wie zu sehen war, aus Netzwerken und Hintergrundgeflechten von Sichtweisen, Meinungen, Überzeugungen, Bildern und weiteren Komponenten, die sich in unseren Lebenspraktiken auf unterschiedliche Weise manifestieren und mit ihnen verwoben sind. Weltbilder darf man sich also nicht als etwas vorstellen, das .hinter', .neben', ,unter' oder ,vor' unserer Lebenspraxis situiert ist und dann von einem solch isolierten Punkt und auf distanzierte Weise seine Funktion ausübt. Ein Weltbild, so Wittgensteins Vorstellung, besteht aus und manifestiert sich in einem Geflecht unterschiedlicher Praktiken und Sprachspiele, die untereinander verhakelt sind, sich überkreuzen, Zusammenhänge, Koalitionen oder Dissoziationen bilden, sich überlappen oder einander übergreifen. Ein Weltbild muß also keineswegs homogen und einheitlich strukturiert, gar ein konsistentes System sein. Man könnte sogar soweit gehen zu sagen, daß gerade dann, wenn die Konsistenzanforderung an ein Weltbild ein gewisses Maß überschreitet, die orientierende Kraft dieses Weltbildes in bezug auf die lebensweltlich doch sehr unterschiedlichen Praktiken verlorengeht. Die Offenheit und Polyvalenz eines Weltbildes erscheint als einer der Garanten seiner Wirksamkeit. Man denke zum Beispiel daran, daß zum Weltbild unserer westlichen modernen Kultur so unterschiedliche Sphären gehören wie die Wissenschaften (und hier z.B. so verschiedene Bereiche wie Mathematik, Psychologie, Architektur und Geschichte), die Technologien, die gesellschaftlichen, politischen, ökonomischen, juristischen Systeme, die religiösen, moralischen und psychologischen Überzeugungen und vieles andere mehr. Hier Einheitlichkeit und formale Konsistenz über ein gewisses Maß hinaus zu fordern, hätte dysfunktionale Konsequenzen. Die Systeme würden den Charakter ihres flüssigen Funktionierens verlieren, ins Stocken geraten und eben dadurch ihre lebensweltlich orientierende Funktion nicht mehr zufriedenstellend wahrnehmen können. Das gilt bereits in der alltäglichen Kommunikation. Wer jede Äußerung seines Gesprächspartners bis ins letzte auf ihre formale Konsistenz hin prüfen möchte, bevor er die Kommunikation fortzusetzen bereit ist, wird eben damit deren Ende herbeiführen. Und man stelle sich vor, Börsengeschäfte in Frankfurt, London oder New York würden überhaupt nur dann getätigt, wenn zuvor formale Konsistenz in bezug auf die jeweiligen Anlageentscheidungen gegeben ist. Würde dies flächendeckend zur Kondition der Börsengeschäfte erhoben, liefe es auf deren Stillstand bzw. Ende hinaus. Ein Weltbild darf also in keinem Falle als eine KonsistenzanforderungsInstanz mißverstanden werden. Seine Bedeutung besteht, wie betont, vielmehr darin, zur Funktionsfähigkeit und Orientierung unserer Lebenspraxis beizutragen und diese nach Art von Hintergrundstabilisatoren zu stützen. Genau dies erfolgt im allgemeinen dadurch, daß wir uns ein Bild von den Verhältnissen machen. Und natürlich gibt es treffliche und weniger treffliche

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Bilder, von denen einige wiederum in Sätzen ausgedrückt werden können, die dann ihrerseits näher oder entfernter vom Kern des Weltbildes liegen und entsprechend fraglos oder weniger fraglos voraus- und eingesetzt werden. Wittgenstein nennt den Umstand, daß wir uns „von der Erde das Bild einer Kugel" machen, „ein gutes Bild" (G, Nr. 146; 147). Dies ist nicht deshalb so, weil mit diesem Bild Konsistenzanforderungen und Anforderungen empirischer Bestätigung besonders gut erfüllt sind, sondern weil dieses Bild uns hilft beim „Beurteilen verschiedener Sachverhalte" und sich in vielfältigen Kontexten bewährt, kurz: weil wir mit ihm arbeiten, „ohne es anzuzweifeln". Aufgrund genau dieser Funktionen ist der Satz „Die Erde ist rund" ein Weltbild-Satz und des näheren einer, der eher zum Kern als zur Peripherie unseres Weltbildes gehört. Dies merkt man auch daran, daß man sich etwa in einem Reisebüro z. B. leicht über unterschiedliche Flugrouten rund um die Erde verständigen kann, ohne daß dabei auch nur ein einziges Mal der Satz „Die Erde ist rund" ausgesprochen oder gar gerechtfertigt werden müßte. Die bildliche Voraussetzung, daß die Erde eine Kugel ist, ist damit auch eine der Bedingungen dafür, daß die sprachlichen Sätze z. B. bei der Buchung in einem Reisebüro semantisch gehaltvoll sind und man eine Reise etwa von Berlin nach Japan buchen, d. h. in die Handlung des Buchens dieser Reise eintreten, und, im Falle einer Last-Afinute-Re'ise, umgehend zum Flughafen fahren und die Reise ,um den halben Globus* antreten kann. Das also ist der erste Aspekt der Rolle eines Weltbildes in bezug auf unser Handeln und Verhalten: Wenn das Weltbild aktiviert ist, dann hängt von ihm auch ab, ob ich in der Situation die Bedingungen gegeben sehe, die mich dazu führen, in eine bestimmte Handlung einzutreten oder diese zu unterlassen. Dafür ist ein Weltbild nicht bloß optional, sondern konditional. (ii) Weltbilder sind darüber hinaus auch an der Form der Handlungen, d. h. an der Art und Weise beteiligt, wie Handlungen erfolgen. Sie bestimmen die Lebenspraxis dadurch, daß sie die Handlungen in einem elementaren Sinne regulieren. Weltbilder wirken an der Festlegung dessen mit, was als erlaubt bzw. nicht-erlaubt und was als sinnvoll bzw. nicht-sinnvoll gelten können will. Auf diese Weise hat mein Weltbild immer schon tief in mein Leben eingegriffen und regiert dessen Praktiken. Dies manifestiert sich z. B. in den kulturell entwickelten Überzeugungen, Grundanschauungen, Sitten und Gebräuchen, die in einer Gesellschaft und Kultur normierend auf die Handlungen und das Verhalten ihrer Mitglieder wirken und als die verbindlichen gelten. In diesem Sinne fungieren die in einer Kultur und Epoche dominierenden Prinzipien eines Weltbildes zugleich auch und in einem weiten Sinne als die Rationalitätsprinzipien in dieser Kultur und Epoche. Dies heißt, daß die handlungs-orientierenden und die handlungs-normierenden Aspekte, die aus einem Weltbild heraus und auf dieses hin wirksam sind, letztlich entscheidend auch für das sind, was wir Handlungs-Rationalität nennen. Darunter verstehen wir in einem weiten Sinne von Rationalität nicht nur (wie in deren engem

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Sinne) Konsistenzanforderungen, sondern die kohärente Stimmigkeit innerhalb des Geflechts unserer Überzeugungen, Meinungen, Erwartungen, kurz: unserer propositionalen Einstellungen. Viele solcher normativen Regulierungen sind in einer Gesellschaft und Kultur auch in sprachlich artikulierter Form anzutreffen. Man denke etwa an Ehrenkodices (z. B. in der Medizin, generell in den Wissenschaften), Glaubensbekenntnisse, Verhaltensrichtlinien, bis hin zum .Knigge' als Handbuch für angemessenes Verhalten im privaten und öffentlichen Leben. Für die Wirkung eines Weltbildes ist aber keineswegs konditional, daß seine normierenden Strukturen auch explizit ausgesprochen werden. Die subtilste und vermutlich auch nachhaltigste Wirkung eines Weltbildes liegt vornehmlich dort, wo seine normative Kraft gar nicht artikuliert zu werden braucht, gleichwohl aber unser Handeln nachdrücklich bestimmt. Dies ist vor allem in zwei Hinsichten der Fall. Ihnen hat auch Wittgenstein immer wieder starkes Interesse entgegengebracht. Zum einen (a) ist diese Situation in bezug auf mythos-nahe und tabuisierte Themen, wie z.B. Tod und Sterben, gegeben. Hier sind Hintergrund-Bilder für die Form unseres Verhaltens und Handelns von grundlegender Bedeutung, die ihrerseits im allgemeinen nicht expliziert und in diskursiver Form kaum erörtert werden. Zum anderen (b) gilt dies vor allem hinsichtlich der alltäglichsten Dinge um uns herum, die so offenkundig sind, daß wir sie gar nicht eigens mehr bemerken, in bezug auf das also, was, wie Wittgenstein betont, „schon offen vor unsern Augen liegt". Denn genau „das scheinen wir, in irgendeinem Sinne, nicht zu verstehen" (PU I, Nr. 89). Wir scheinen, insbesondere nicht .hinter' die „für uns wichtigsten Aspekte der Dinge" (PU I, Nr. 129) zu kommen. Denn diese „sind durch ihre Einfachheit und Alltäglichkeit verborgen". Man könne dies, schreibt Wittgenstein, nicht bemerken, „weil man es immer vor Augen hat". Im alltäglichen Umgang mit den Dingen und Personen ist dieser Effekt auch unter dem Namen der Nähe-Blindheit vertraut. In diesem auf das Selbstverständliche bezogenen Sinne ist mein Weltbild vornehmlich in den für mich wichtigsten Situationen und Dingen präsent, ohne daß ich es eigens in einem gegenständlichen Sinne antreffe. In der Präsenz des Weltbildes, könnte man sagen, wird das Weltbild selbst nicht präsentiert bzw. nicht repräsentiert. Es entzieht sich seiner Vergegenständlichung auf eine eigentümliche, elusive Weise. Bezogen auf Semantik und Logik könnte man diesen Punkt auch so ausdrücken, daß Weltbilder nicht Gegenstände innerhalb der semantischen Logik sind, obgleich sie diese mitbestimmen. Im Blick auf ein Weltbild ist in philosophischer Hinsicht mithin auch die Frage überaus relevant, in welchen Bereichen und bis zu welchen Punkten ein Weltbild explizit gemacht werden kann und in welchen Hinsichten und Bereichen sowie bis zu welchen Graden wir uns mit nicht explizierten und nichtexplizierbaren Aspekten und Strukturen zufriedengeben müssen.

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Vor diesem Hintergrund leuchtet denn auch unschwer ein, daß wir die Struktur eines Weltbildes nicht mit buchstäblich denotierenden Sätzen, nicht mit Aussagesätzen, und das heißt auch: nicht mit den Mitteln der Begriffe oder wissenschaftlicher Theorien, sondern letztlich nur mit der Hilfe von Metaphern, mithin in bildhafter Rede beschreiben können. Andere Versuche drohen schnell in die Falle zu laufen, ein Weltbild doch wieder als einen Gegenstand in der semantischen Logik ansehen zu müssen. Um das jedoch tun zu können, müßte man voraussetzen, daß ein Weltbild für uns ein Gegenstand in der Welt sein kann. Denn dann erst könnte man im strengen Sinne über ,es' eine .Theorie' aufstellen. Niemand aber kann sich in diesem Sinne außerhalb seines Weltbildes aufstellen. Selbst wenn dies jemandem tatsächlich gelungen sein sollte, so bestünde für uns endliche Geister und in unserer epistemischen Situation kein Grund, ihm dies auch glauben zu müssen. Wir können nicht begründet sicher wissen, ob er tatsächlich einen weltbildexternen Standpunkt hat einnehmen können. Hinzu kommt der bereits erwähnte Aspekt, daß die Form eines Weltbildes nicht ihrerseits in der Präsentation und der Repräsentation selbst präsentiert und repräsentiert ist. Nichts an dem, was innerhalb des Horizontes eines, meines Weltbildes erfahren und gewußt wird, läßt erkennen, das es aus eben diesem Weltbild heraus präsentiert und re-präsentiert ist. Darüber hinaus schließlich ist noch an den Aspekt zu erinnern, daß zu einem Weltbild gehört, sich eben ein Bild (z. B. das Bild von der Erde als einer Kugel), nicht aber einen Begriff oder buchstäblich denotierende Aussagen bzw. eine Theorie (im engeren terminologischen Sinne) zu machen. (iii) Daß Weltbilder in puncto Bewertung einer Handlung von grundlegender Bedeutung sind, ist offensichtlich. Dabei lassen sich zwei Ebenen unterscheiden. Erstens (a) ist ein Weltbild in einer Handlungsbewertung in dem Sinne stets bereits vorausgesetzt, daß es an der Festlegung dessen beteiligt ist, was überhaupt als eine erlaubte und gerechtfertigte (bzw. als eine nichterlaubte und eine nicht-gerechtfertigte) Handlung gilt. Die in einer solchen Einteilung bereits in Anspruch genommenen Horizonte, Einstellungen und Perspektiven haben ihre Wurzeln letztlich in einem Weltbild und sind auch auf dieses bezogen. Zugleich wird darin auch der Rahmen abgesteckt, innerhalb dessen dann zweitens (b) die Bewertung post factum, die nachträgliche Beurteilung einer Handlung, erfolgt. Sobald wir über eine Handlung befinden, sie beurteilen, würdigen oder kritisieren (also z.B. sagen, „daß die Handlung X gut ist", oder „daß die Handlung verwerflich ist"), sind solche Horizonte, Einstellungen, Perspektiven, Wertkriterien und Wertmaßstäbe immer schon vorausgesetzt und in Anspruch genommen. Ohne deren Voraussetzung hätten wir es gar nicht mit einer Beurteilung bzw. Bewertung zu tun. Das Bewerten einer Handlung kann ein Bewerten in einem moralischen Sinne sein (z. B. in „Die Handlung X ist eine gute Handlung") oder in einem

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nicht-moralischen Sinne sein (z.B. in „Die Handlung X ist gut durchgeführt worden") oder in einem präskriptiven Sinne sein (z. B. in „Man sollte die Handlung X durchführen, und jedermann sollte sich in vergleichbaren Fällen an ihr orientieren"). Alle drei Varianten der Bewertung-/>oif-/tfcfw?n setzen normierende und normierte Standards, Maßstäbe und Kriterien voraus, die ihrerseits letztlich im zugrunde liegenden Weltbild ihren Grund und ihre genealogische Herkunft haben. Die Wertprädikate „gut" und „schlecht" (im Grenzfall: „böse") sind selbst keine Weltbild-neutralen Prädikate. Zwar enthält „gut" im Sinne der moralischen Bewertung transsubjektive, über die partikulare Wertschätzung seitens eines Individuums hinausgehende Komponenten. Aber der Übergang von der Subjektivität in die Transsubjektivität und Intersubjektivität bedeutet keineswegs, daß man damit auch dem Weltbild entkommen wäre. Vielmehr wird ein Weltbild, wie betont, vornehmlich als der mit anderen Personen geteilte, überkommene, kulturell entwickelte Hintergrund der theoretischen Einstellung ebenso wie des Handelns verstanden, aus dem heraus und auf den hin Handlungen so erfolgen, wie sie erfolgen. Auch der zweite dieser Aspekte, daß Handlungen nämlich auf das Weltbild, auf das Geflecht der Hintergrundbedingungen hin erfolgen - man könnte auch sagen: aus dem Leben heraus und auf dieses hin erfolgen - hat direkt zur Folge, daß jedwede Bewertung einer Handlung (moralisch, nicht-moralisch, präskriptiv) schlußendlich in einem Weltbild ihren .letzten' Halt hat.

IV. Grundlagen der Macht der Welt-Bilder Ist die zentrale Rolle von Weltbildern (als Gewißheitsgaranten und als Handlungsstabilisatoren) deutlich, so stellt sich die weitergehende Frage, worauf denn genau die welten-formierende und handlungs-bestimmende Macht eines Welt-Bildes beruht. Vor allem vier Aspekte sind zu betonen, von denen wir den ersten bereits kennengelernt haben. Die Macht der Welt-Bilder beruht, so die These, (a) auf ihrer Qualität nicht weiter begründbarer Überzeugung und Selbstverständlichkeit, (b) auf ihrem Charakter vor-begrifflicher Einstellung und Haltung, (c) auf ihrer Eigenart bildhafter (nicht-sprachlicher) Einstellung und (d) auf ihrer vor-theoretischen und anschaulichen Organisationskraft. (a) In Abschnitt III wurde dargelegt, daß der Einfluß meines Weltbildes auf mein Welt-, Fremd- und Selbstverständnis sowie auf die Form meiner Handlungen im Kern damit zusammenhängt, daß das Weltbild als der selbstverständliche Hintergrund anzusehen sind, der nicht nur keiner weiteren Begründung und Rechtfertigung zugänglich ist, sondern vielmehr seinerseits die .letzte' Grundlage einer jeden Begründung und Rechtfertigung bildet. Das erste Element der Grundlagen der Macht eines Welt-Bildes besteht genau

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darin, daß es sich bei ihm um das Geflecht nicht weiter hintergehbarer, nicht suspendierbarer und nicht weiter begründ- oder erklärbarer Grundüberzeugungen und Grundanschauungen handelt. (b) Ein zweites Element besteht in dem vor-begrifflichen Charakter eines Weltbildes. Dieser Punkt läßt sich durch eine einfache Überlegung hinsichtlich der Voraussetzungen begrifflichen Wissens in den Blick bringen. Eine Analyse von .Wissen' zeigt schnell, daß, in der Sprache der epistemischen Logik gesprochen, jedes „Ich weiß, daß p" ein „Ich glaube, daß p" voraussetzen muß. Wenn eine Person etwas weiß, dann muß sie es auch glauben. Und, so kann man hinzufügen, wenn sie etwas glaubt, dann muß sie es auch meinen. Diese Trias von (begrifflichem) Wissen, (epistemischem) Glauben und (bloß subjektivem) Meinen nennt Kant die drei Modi des Fürwahrhaltens.11 Wichtig ist für unseren Zusammenhang vor allem deren pyramidale Struktur: die kleine Spitze bildet der Bereich des begrifflichen Wissen; dieses setzt stets bereits ein umfängliches Reich des Glaubens im Sinne von Überzeugungen voraus; und der Bereich unserer Überzeugungen ruht seinerseits immer schon auf einem noch breiteren Feld von Meinungen. Wissen bewegt sich in Begriffen, Glauben in Überzeugungen und Einstellungen. Die jeweils vorausliegende Ebene ist konditional für die folgende, d. h. Meinungen sind konditional für Überzeugungen, und Überzeugungen sind konditional für begriffliches Wissen. Die Anordnung kann man also sowohl top down als auch bottom up lesen. Bottom up heißt dies: aus dem Ozean unserer Meinungen lassen sich die Inseln unserer Überzeugungen und aus diesen wiederum einige wenige Leuchttürme begrifflichen Wissens gewinnen und hervorheben. Kant hat diese Unterschiede in die pointierte Figur gebracht: Meinungen sind noch nicht einmal subjektiv verbindlich; Überzeugungen sind noch nicht objektiv, wohl aber schon subjektiv verbindlich; und Wissen ist subjektiv und objektiv verbindlich. Stellt man die Frage, auf welcher dieser Ebenen Weltbilder ihren Sitz haben, so kann man sagen, daß sie ihre Funktion nicht nur, aber vor allem im Bereich der vor-begrifflichen Einstellungen, des näheren des Glaubens und Meinens üben. Und kraft dieser sind sie dann konditional für das Wissen und seine Rechtfertigung. Wir können daher das, was oben in den Abschnitten II und III zur Eigenart und zur zentralen Rolle von Weltbildern gesagt wurde, innerhalb dieses Drei-Ebenen-Modells von Meinen, Glauben und Wissen situieren. Bezogen auf die Frage nach den Grundlagen der Macht von WeltBildern heißt dies, daß diese Macht auch darauf beruht, daß Weltbilder vor allem auf den Ebenen des vor-begrifflichen Glaubens und des Meinens ihren Sitz haben und von dort aus unser Welt-, Fremd- und Selbstverständnis pra-

ll I. Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 848 ff., und ders., Logik, hrsg. v. G. B. Jäsche, Einleitung, Abschn. IX.

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gen. Die Macht eines Weltbildes hat im Charakter vor-begrifflicher Einstellung und Haltung einen ihrer Ursprünge. (c) Das dritte Element der Macht eines Welt-Bildes besteht in seinem Charakter bildhafter (mithin nicht-sprachlicher) Einstellung. Denken und propositionales Wissen („Wissen, daß...") bewegen sich in Begriffen und Urteilen, und diese sind sprachlich organisiert und artikuliert. Dagegen enthält, so die These, die Ebene der Überzeugungen und Meinungen, auf der die Weltbilder ihre Funktionsstelle haben, auch (aber nicht nur) non-verbale und bildhafte Aspekte und Einstellungen. Zwar ist für unsere Überzeugungen und Meinungen zunächst deren Charakter propositionaler Einstellung, mithin das kennzeichnend, daß der Gehalt einer solchen Einstellung in einer sprachlichen Proposition ausgedrückt werden kann („Ich bin überzeugt, daß..."; „Ich meine, daß..."). Aber die non-verbalen und die bildhaften Aspekte und Elemente von Überzeugungen und Meinungen sind gleichwohl nicht zu übersehen und können in ihrer Funktion kaum hoch genug eingeschätzt werden. Das Element des Bildhaften ist im Deutschen bereits in dem Ausdruck „'Wehbild" mitgesetzt. Das darf natürlich nicht im Sinne von Gemälde oder Fotografie oder Spiegelbild verstanden werden. Die Rede von .Bildern' umfaßt generell zunächst so sehr unterschiedliche Dinge, wie z. B. materielle Bilder (etwa Gemälde, Fotografien), Sprachbilder (z. B. Metaphern), mentale Bilder (z. B. Vorstellungen, Erinnerungen, Träume), Vor- und Leitbilder (etwa andere Personen, z. B. Yehudi Menuhin) und eben auch Weltbilder. Unter Weltbildern ist dabei, wie zu sehen war, das Geflecht sowohl sprachlicher als auch nicht-sprachlicher Überzeugungen, Einstellungen und Meinungen zu verstehen. Der Kernunterschied zwischen Weltbildern und anderen Bildern kann darin gesehen werden, daß alle anderen Bildtypen im Lichte ihrer Repräsentationsfunktion gefaßt und thematisiert werden können. Weltbilder dagegen entfalten ihre Funktion bereits auf einer davor liegenden Stufe. Sie sind von der Art, daß sie an der Umgrenzung dessen beteiligt sind, was überhaupt als eine gelingende und als eine nicht-gelingende Repräsentation gelten kann. In Weltbildern geht es, was deren Bild-Charakter angeht, nicht um die Repräsentation vorgegebener Strukturen, Objekte und Ereignisse. Es geht vielmehr um die ursprüngliche Macht zur Präsentation von .etwas als Etwas', um die Macht des Zur-Darstellung-Bringens. Weltbilder sind keine Spiegelbilder, und ihre Macht besteht nicht darin, daß sie eine Re-präsentationsleistung erbringen. Sie besteht vielmehr in ihrer originären Präsentationsleistung, nicht also in der Wiedergabe von etwas vorfabriziert fertig Gegebenem, sondern in der welten-formierenden und handlungs-bestimmenden Kraft der Organisation eines Geflechts sich überkreuzender und untereinander verknüpfter Überzeugungen und Meinungen zu einer orientierenden und normierenden Welt-, Fremd- und Selbstsicht. Und diese Organisationskraft gilt nicht nur für den sprachlichen und propositionalen Teil unseres Weltbildes. Sie gilt auch

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für dessen non-verbalen und bildhaften Teil. - Natürlich lauern hier sogleich grundsätzliche Fragen und Schwierigkeiten. Drei von ihnen seien benannt. Erstens (i) ist zu fragen, was es heißt, daß nicht-sprachliche und bildhafte Elemente an der Organisation unseres Welt-, Fremd- und Selbstverständnisses beteiligt sind. Daß sprachliche Prädikate von organisierender Kraft dieser Art sind, ist unstrittig. Denn es sind die Prädikate in Urteilen („Sagen und denken, daß ein F ist"), die in besonderer Weise zur Bestimmtheit von Objekten, Ereignissen, Situationen und Zuständen beitragen. Doch gibt es denn überhaupt ein nicht-sprachliches Pendant zur sprachlichen Prädikation? Und wenn ja, wie funktionieren dessen Elemente? Zweitens (ii) ist zu fragen, wie man bildhafte von sprachlichen Symbolsystemen unterscheiden kann? Das ist die Frage nach dem Unterschied zwischen Sprache und Bild. Obwohl es auf den ersten Blick so scheint, daß doch jeder den Unterschied zwischen einem Text und einem Bild kennt, erweist sich eine genauere Antwort auf diese Frage als überaus schwierig. Drittens (iii) ist zu fragen, welche Rolle Elemente bildhafter Symbolsysteme hinsichtlich der semantischen Merkmale, die den Elementen sprachlicher Symbolsysteme eignen (Bedeutung, Referenz, Wahrheits- bzw. Erfüllungsbedingungen), spielen. Sprache und Bild liegen nicht einfach beziehungslos nebeneinander. Eine erste These lautet, daß eine über den gegenwärtigen Stand in der Sprachphilosophie hinausführende Analyse des gelingenden Gebrauchs sprachlicher Zeichen auch Komponenten nichtsprachlicher Symbolsysteme einbeziehen muß. Damit ist ein Desiderat der Forschung formuliert. Dieses enthält zwei weitere Thesen. Zunächst die, daß Sprachphilosophie auf die Einbeziehung auch nicht-sprachlicher Aspekte angewiesen ist, um in ihrer Theoriebildung weiterzukommen (- denn irgendwie hat die rein inner-sprachbezogene, die rein sprach-analytische Betrachtungsweise der letzten drei Jahrzehnte keine wirklichen Fortschritte mehr in der Sprachphilosophie zustande gebracht; auch heute noch gelten die Referenz- und Bedeutungstheorien der frühen siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts, mit all ihren bekannten Schwierigkeiten).12 Darüber hinaus sind und dies ist die zweite der beiden weiterführenden Thesen - auch in die Analyse der Funktion und Struktur von Weltbildern über deren propositionale Teile hinaus vornehmlich auch deren non-verbale und bildhafte Komponenten und Eigenheiten einzubeziehen. In bezug auf das Verhältnis von verbalen und bildhaften Elementen, von Sprache und Bild, liegen unterschiedliche Ansätze vor. Ein wichtiger unter ihnen ist die Allgemeine Symboltheorie, wie sie von Nelson Goodman konzipiert worden ist. In ihr werden bildhafte Symbolsysteme von sprachlichen dadurch unterschieden, daß bildhafte Systeme Systeme sind, deren Elemente Bilder, und diese wiederum dadurch charakterisiert sind, daß diesen die für 12 Vgl. dazu Verf., Interpretationswelten, Teil III.

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sprachliche Systeme kennzeichnende syntaktische und semantische Disjunktheit fehlt.13 Daher kann man, mit Goodman, Bilder von sprachlichen Zeichen dadurch unterscheiden, daß sie als Elemente in analogischen und dichten Symbolsystemen fungieren. Jede noch so feine Nuance am Zeichen zählt als ein eigener Zeichencharakter im System, und für jede noch so kleine Nuance dessen, was repräsentiert werden soll, steht im Symbolsystem ein eigener Zeichencharakter zur Verfügung. Dem entspricht, daß es für Bilder, anders als für Sprachen, keine Alphabete oder Vokabulare im Sinne von endlichen Listen deutlich unterschiedener Zeichencharaktere gibt. In Sprachsystemen sind im Rekurs auf solche Listen alle dort möglichen sprachlichen Gebilde buchstabierbar. In Systemen mit Alphabeten, betont Goodman,14 ist jede unterschiedliche Inskription eines Zeichens gleichwertig. So zählen ein „a", ein „a", ein „a" oder ein „A" als gleichwertig austauschbar. Dagegen kann in analogischen, z.B. in bildlichen Systemen, d. h. in solchen Systemen, die nicht durch Alphabete oder Vokabulare, sondern etwa durch Bilder bestimmt sind, jeder noch so feinsinnige Unterschied von grundlegender Bedeutung sein. Das ist z. B. der Fall bei einer kaum merklichen Verschiebung im Blauton eines Gemäldes oder einer kaum merklichen Nuance in einer der klanglichen Hinsichten einer musikalischen Aufführung. Auf diese Weise ist zugleich der Unterschied zwischen einer sprachlichen Beschreibung und einer bildlichen (oder musikalischen oder mimischen oder skulpturalen) Darstellung und Präsentation markiert. In welchem Sinne könnten solche Überlegungen im Hinblick auf die Analyse von Weltbildern von Interesse sein? Die Antwort ist einfach. Es hätte darum zu gehen, das Verhältnis der bildhaften und der sprachlichen Aspekte in Weltbildern dadurch zu klären, daß die symboltheoretische Bildanalyse in die Analyse von Weltbildern einbezogen und dort fruchtbar gemacht wird. Auf diese Weise wird der innere Zusammenhang deutlich, der zwischen Weltbildzeichen und Bildweltzeichen, zwischen Weltbildanalyse und Bildweltanalyse, besteht. Sie gilt es ins Zentrum zu rücken und zu explizieren. (d) Das vierte Element der eigentümlichen Macht von Welt-Bildern besteht darin, daß sie über eine vor-theoretische und anschauliche Organisationskraft verfügen. Mit der organisierenden Kraft bildhafter (mithin nichtsprachlicher) Zeichen sind wir alltäglich und (von der visuellen Wahrnehmung bis hin zum Einsatz abstrakter Bildzeichen in der Mathematik) bestens vertraut. Man denke zum Beispiel an Filme, Fotos, Stadtpläne, Richtungspfeile, Gesten, Farbflächen, Skizzen, Zeichnungen, Diagramme, Verkehrschilder, Karikaturen, Geschwindigkeitsanzeiger. Solche nicht-sprachlichen und bild13 Vgl. dazu N. Goodman, Languages of Art. An Approach to a Theory of Symbols, Indianapolis, Cambridge, 4. Aufl. 1981, Kap. IV, V und VI.5. Zum Verhältnis von (sprachlichbegrifflichem) Sagen und (nicht-sprachlichem) Sich-Zeigen in der im folgenden skizzierten Perspektive vgl. Verf., Sprache, Zeichen, Interpretation, Frankfurt a. M. 1999, S. 169-208. 14 Vgl. N. Goodman, Languages of Art, a.a.O., S. 130-140.

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haften Zeichen tragen offenkundig ganz erheblich zur Organisation unserer Welt, zur Orientierung in dieser und damit in hohem Maße zur Bestimmtheit unserer Erfahrung, des näheren der Welt-, Fremd- und Selbsterfahrung bei. Sie sind an der Organisation unserer Erfahrung beteiligt und zeigen darin zugleich, wie die so organisierten Dinge und Ereignisse stehen, z.B. dann, wenn ein Benzinanzeiger im Auto zeigt, daß der Tank so gut wie leer ist. Zwar kann vieles, was in einem bildhaften System gezeigt bzw. präsentiert wird (z.B. daß der Tank fast leer ist) auch in einer Sprache gesagt werden (z. B. in dem Satz, „daß der Tank fast leer ist"). Das gilt auch für das Verhältnis zwischen dem sprachlichen und dem bildhaften Teil eines Weltbildes. Aber, und das ist im Augenblick der wichtige Aspekt, es gibt auch Strukturen und Aspekte, die sich der Artikulation in einer Sprache entziehen. Bereits das Sprichwort, daß ein Bild mehr als tausend Worte sage, läßt anklingen, daß Bilder über eine bildhaft präsentierende und re-präsentierende Kraft, über eine Bildhaftigkeit verfügen, die sich von den sprachlichen Ausdrücken unterscheidet. Der bildhafte Gehalt von Bildern kann nicht mithilfe sprachlicher Ausdrücke realisiert, vollständig individuiert, erfaßt und repräsentiert werden. Wollte man das, was ein Bild von z. B. Onkel Pauls Blick von der Veranda seines Hotels in Nizza über das Meer in der Abendsonne zeigt, mit sprachlichen Sätzen beschreiben, so wäre man nicht nur schnell bei Sätzen des Umfangs ganzer Telefonbücher. Bemerkenswerter noch ist, daß wir mit jedem unserer Sätze sowie mit deren zusätzlichen adverbialen Modifikationen dem im Bild gezeigten und ausgedrückten Ereignis und Zustand nicht nur nicht näher kommen, sondern uns immer weiter von ihm wegbewegen. Dieser Befund gilt, so die These, auch im Hinblick auf das Verhältnis der bildhaften Komponenten eines Weltbildes zu dessen sprachlichen und propositionalen Teilen. Darüber hinaus ist ein entscheidender Punkt erneut zu betonen: Weltbilder sind keine Spiegelbilder, keine Re-präsentationen, sondern von ursprünglich bildhafter Organisationskraft, von welten-formierendem und handlungs-bestimmendem Charakter. Die Pointe der bildhaften Zeichen eines Weltbildes liegt gerade darin, daß sie nicht etwas bereits fertig Vorhandenes bzw. Gegebenes in einem zweiten Schritt auch noch ,ins Bild' bringen, sondern darin, daß Weltbilder, so könnte man sagen, bildhaft machen. Darin hat ein Welt-Bild viel mit Kunst zu tun. Denn auch Kunst ist letztlich nicht Kunst des Re-präsentierens, sondern Kunst des Präsentierens. Auch im Zusammenhang von Weltzeichen und Bildzeichen kann man an die bekannte Formulierung Paul Klees denken: „Die Kunst gibt nicht das Sichtbare wieder, sondern macht sichtbar."15 Analoges gilt für die Funktion von Weltbildern. Diese vor-theoretische und anschauliche Organisationskraft der bildhaften Teile eines Welt-Bildes läßt sich, ebenso wie generell die erfahrungs-orga15 P. Klee, Schöpferische Konfession, Berlin 1920, hier zitiert nach: W. Grohmann, Paul Klee, Stuttgart 1954, S. 97.

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nisierende Kraft bildhafter bzw. nicht-sprachlicher Symbolsysteme, näher beschreiben. Auch damit ist ein Desiderat der Forschung bezeichnet. Denn zumeist gehen wir davon aus, daß ursprüngliche Organisationskraft den begrifflichen und sprachlichen Komponenten vorbehalten ist. Übersehen wird dabei zunächst der kardinale Punkt: im präsentierenden und re-präsentierenden Zeichen, d. h. dann, wenn ein Zeichen seine Zeichenfunktion erfolgreich ausübt, bilden die begrifflichen und die anschaulichen Aspekte stets bereits eine Einheit, und in ihr können Begriff und Anschauung nicht mehr trennscharf gegeneinander isoliert werden. Übersehen wird sodann, daß Bilder bzw. bildhafte Zeichen, und mithin auch die bildhaften Teile eines WeltBildes, ihrerseits über organisierende und normierende Kraft hinsichtlich unseres Welt-, Fremd- und Selbstverständnisses verfügen. Diese Kraft manifestiert sich unter anderem in der bildhaften Klassifikation (z. B. mithilfe von Bildern eines Stuhls oder eines Schränke zwecks Orientierung in einem Möbellager), in der anschaulichen Kategorisierung (z. B. einer runden oder einer eckigen Figur) oder in der Orientierung im Raum (z. B. in den Fluchtzeichen in einem Hotel für den Fall eines Feuers). Natürlich muß man den Gebrauch dieser Zeichen stets bereits erlernt haben und kennen, um die Zeichen überhaupt verstehen zu können. Aber man muß eben nur den Gebrauch der anschaulichen bzw. bildhaften Zeichen, nicht jedoch bereits auch den Begriff im engeren terminologischen Sinne beherrschen. Ein überzeugendes Beispiel für die These von der ursprünglichen Organisationskraft bildhafter Komponenten liefert die Interpretation, die Robert Schwartz im Rahmen der Allgemeinen Symboltheorie von Picassos berühmter Antwort auf den Einwand einiger Kritiker gegeben hat, sein Porträt von Gertrude Stein sehe dieser doch gar nicht ähnlich: „Everybody thinks she is not at all like her portrait, but never mind, in the end she will manage to look just like it."16 Picasso scheint mit seiner Antwort zunächst nahezulegen, daß bestimmte Bilder, wie z.B. sein Porträt Gertrude Steins, unsere Sicht der Welt, in diesen Falle: unsere Sicht von Gertrude Stein, verändern können. Wichtig ist zu sehen, daß es dabei nicht bloß um eine Veränderung in der Wahrnehmung der Welt, im Beispiel: Gertrude Steins, geht. Vielmehr können Bilder eine weitaus stärkere Rolle spielen. Sie können eine wichtige Funktion im Prozeß des (gerade auch für ein Welt-Bild charakteristischen) WeltenFormierens, in Goodmans Sprache: des „world-making", spielen.17 Dies erfolgt im Falle des Gertrude-Stein-Bildes von Picasso - so das Argument von Robert Schwartz - in dem Sinne, daß das Bild Picassos festlegen kann, welche Personen zu der Klasse der Gertrude-Stein-B) 0,(B)] => Oa(A). Es ist anzumerken, daß sich der Unterschied zwischen der Form einer Prädikation, abgekürzt durch die Aussagenvariablen A, und der Form des Ausdrucks A, der eine eher naturalistische Interpretation von A darstellt und sich auf einen in der realen Welt existierenden und verwirklichbaren (präparierbaren) Zustand bezieht (oder auf einen Prozeß, auf Handlungen, jedoch nicht auf deren Beschreibung), auf verschiedene Ausdruckstypen innerhalb des pragmatischen Syllogismus bezieht.48 Die Operatoren O,(B) und O2(A) können in verschiedener Weise interpretiert werden: O,(B) Der Zustand B, beschrieben durch den Satz, daß B, ist ein Element des Zielsystems (d.h. Be {Z}). Diese Interpretation verbleibt auf der Ebene der Beschreibung. O, (B) Der Zustand B, beschrieben durch den Satz, daß B, muß (sollte, müßte) in die Praxis umgesetzt werden. Dies ist ein Satz, der Verpflichtungen einschließt, interpretierbar als moralisches oder technischen Sollen (d. h. < B >!). O2(A) Der Zustand A, beschrieben durch den Satz, daß A, ist ein Element des Zielsystems (d.h. Ae{Z'}). Diese Interpretation verbleibt wiederum auf der deskriptiven Ebene. O2(A) Die Handlung A, die in die Welt dergestalt eingreift, daß sie mit dem Satz, daß A beschrieben werden kann, muß (sollte, müßte) unter der Kondition O,(B) durchgeführt werden. O2(A) muß durchgeführt werden unter der Bedingung der Verpflichtung O,(B) als ein technisches oder moralisches Sollen, geschrieben

47 Der etwas anders geschriebene Implikationspfeil => soll andeuten, daß er unter Umständen auch anders als der normale aussagenlogische Implikationspfeil interpretiert werden muß, wenn A und B Handlungen und keine Aussagen darstellen. 48 Hier tritt das Problem auf, daß ein normativer Ausdruck O1(B) durch einen aussagenlogischen Junktor mit einem deskriptiven Ausdruck (A -> B) verbunden wird. Das Einverständnis des Lesers für eine pragmatische Haltung an dieser Stelle vorausgesetzt, trotz eines gewissen normenlogischen Skeptizismus, ob normative Sätze wahrheitsdefinit sein können, gehe ich an dieser Stelle auf das Problem nicht näher ein.

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Analytische Probleme des Pragmatischen Syllogismus

als !. D. h. die Handlung selbst ist ein Obligo, nicht ihre Beschreibung. Ein moralisches Sollen setzt die Möglichkeit der freien Wahl voraus. Betrachtet man den Operator O als ein technisches Sollen, könnte man versucht sein, dies als eine rein deskriptive Interpretation des pragmatischen Syllogismus aufzufassen. Es bleibt zu zeigen, daß diese Interpretation nicht adäquat ist. Mögliche Interpretationen von O,(B) deskriptiv technisch normamoralisch tiv normativ B e {Z} !

!

^Ä.>:;.iv.äU.: ·

mögliche Interpretationen von 02(A)

deskriptiv A e {Z'} normativ unter Bedingung 0 2 (A)//0,(B)

! technisch

Fall (1)

technologischer Fehlschluß Fall (2)

natürlicher Fehlschluß Fall (3)

natürlicher Fehlschluß Fall (4)

Fall (5)

Fall (6)

technologischer Fehlschluß Fall (7)

Fall (8)

natürlicher Fehlschluß Fall (10)

Fall (11)

Sollen

! moralisch

moralischtechnischer Fehlschluß Fall(9) Fall (12)

Tabelle l: Mögliche Interpretationen der Operatoren der Obligation O. Die unterschiedlichen möglichen Interpretationen führen zu bestimmten Kombinationen innerhalb des pragmatischen Syllogismus. Die Tabelle l zeigt, daß es nur wenige Möglichkeiten für vernünftige Interpretationen gibt. Der Ausdruck „natürlicher Fehlschluß" bezieht sich auf ein Grundthema der analytischen Philosophie: Es gibt eine hinreichende Menge von Gründen, daß es keine Möglichkeit gibt, von einem rein deskriptiven Satz (d. h. einem Statement, daß ausschließlich deskriptive Terme enthält), zu einem normativen Satz zu gelangen, d. h. einem Satz, der mindestens einen normativen Term enthält wie „sollen" oder „erlauben". Die Umkehrung gilt ebenfalls. Deshalb scheiden all die Fälle, die zu einem natürlichen Fehlschluß führen würden, als ernsthafte Kandidaten für eine adäquate Interpretation aus.

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Fall (l)

Klaus Kornwachs

Der pragmatische Syllogismus ist hier ein rein deskriptives Statement, da alle Teilausdrücke in ihm deskriptiv sind. Der Ausdruck

(A ->B)

enthält:

nomologischer

Ausdruck

Fall (2)

O,(B)

-> O2(A)

Präcdikation wie

Prädikation wie

B e {Z}

A e {Z}

Da zumindest B ein prädikativer Ausdruck ist wie B = Prädikat P (bezogen auf eine Individuenkonstante a), geschrieben als P(a),49 ist die deskriptiv interpretierte Prädikation O,(B) = (B e{2}) zumindest ein Statement mit einem Prädikat Z(P) der zweiten Stufe, denn es ist O,(B) = O, (P(a)) = ({P(a)}e{Z}) = Z(P(a)). Hier treten Probleme auf, die in Kalkülen mit Prädikaten höherer Ordnung bekannt sind, nämlich nicht nur das Unentscheidbarkeits-, sondern auch das Unvollständigkeitsproblem. Um Probleme, die mit einer solchen Interpretation verbunden sind, zu vermeiden, sollte man den pragmatischen Syllogismus auf einer Ebene formulieren, in der nur noch Prädikate erster Ordnung vorkommen. Man müßte O(B) interpretieren als aeZ, was aber bedeuten würde, daß ein Objekt und nicht eine Eigenschaft zur Menge der Ziele gehörte. Deshalb tut man gut daran, den pragmatischen Syllogismus nicht als rein deskriptiven Satz anzusehen. Philosophisch gesehen wäre dies sowieso eine etwas naive Betrachtungsweise, weil ein technisches Sollen O(B) nicht einfach auf ein deskriptives Statement Be {Z} zurückgeführt werden kann. Andererseits ist das technische Sollen nicht mit dem moralischen Sollen identisch, da aus der Obligation (O) in der deontischen Logik auch die Erlaubnis (Per) folgt (O —> Per), während das technische Sollen nicht automatisch eine technische Erlaubnis im Sinne von technologischer Möglichkeit impliziert. Ein extremes Beispiel: Um die Sonne zu reparieren und ihr Ausbrennen zu verhindern, müßte man eine gewisse Sternentechnologie durchführen (wie sie Stanislav Lern diskutiert), aber niemand ist in der Lage, ein solches Wissen wirklich anzuwenden. Deshalb impliziert Ökologisch) noch lange nicht P