In mandatis meditari: Festschrift für Hans Paarhammer zum 65. Geburtstag [1 ed.] 9783428537457, 9783428137459

Prälat Univ.-Prof. Dr. Hans Paarhammer wurde am 3. April 1947 in Hallwang bei Salzburg geboren. Er studierte katholische

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German Pages 1205 Year 2012

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In mandatis meditari: Festschrift für Hans Paarhammer zum 65. Geburtstag [1 ed.]
 9783428537457, 9783428137459

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In mandatis meditari Festschrift für Hans Paarhammer zum 65. Geburtstag

Herausgegeben von Stephan Haering, Johann Hirnsperger, Gerlinde Katzinger und Wilhelm Rees

Duncker & Humblot · Berlin

In mandatis meditari

Kanonistische Studien und Texte begründet von Dr. A l b e r t M . K o e n i g e r † o.ö. Professor des Kirchenrechts und der Kirchenrechtsgeschichte an der Universität Bonn fortgeführt von Dr. Dr. H e i n r i c h F l a t t e n † o.ö. Professor des Kirchenrechts und der Kirchenrechtsgeschichte an der Universität Bonn und Dr. G e o r g M a y Professor für Kirchenrecht, Kirchenrechtsgeschichte und Staatskirchenrecht an der Universität Mainz herausgegeben von Dr. A n n a E g l e r Akademische Direktorin i. R. am FB 01 Katholisch-Theologische Fakultät der Universität Mainz und Dr. W i l h e l m R e e s Professor für Kirchenrecht an der Leopold-Franzens-Universität Innsbruck

Band 58

In mandatis meditari

In mandatis meditari Festschrift für Hans Paarhammer zum 65. Geburtstag

Herausgegeben von Stephan Haering, Johann Hirnsperger, Gerlinde Katzinger und Wilhelm Rees

Duncker & Humblot · Berlin

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte, auch die des auszugweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 2012 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme: Process Media Consult GmbH, Darmstadt Druck: AZ Druck und Datentechnik GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0929-0680 ISBN 978-3-428-13745-9 (Print) ISBN 978-3-428-53745-7 (E-Book) ISBN 978-3-428-83745-8 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorwort Am 3. April 2012 vollendet Prälat Univ.-Prof. Dr. Hans Paarhammer sein 65. Lebensjahr. Aus diesem Anlass legen Freunde, Kollegen und Schüler diese Festschrift vor und verbinden mit der akademischen Gabe ihre herzlichen Glück- und Segenswünsche. Mit dem Titel dieses Buches wird der Psalmvers „Et meditabar in mandatis tuis, quae dilexi valde“ (Psalm 118,47 Vulg.) aufgegriffen. Der Beter des Psalms bringt zum Ausdruck, dass der Umgang mit Gottes Wort und Weisung ihm Freude und Erfüllung bedeute. Seit jungen Jahren geht der Jubilar Hans Paarhammer mit Gottes Wort um und verkündet es als Priester in klarer und menschennaher Weise. In seiner wissenschaftlichen Arbeit hat er sich vor allem mit dem Recht der Kirche auseinandergesetzt, das Gottes Weisung aufnehmen und zum Nutzen der kirchlichen Gemeinschaft konkret werden lassen will. Zu verschiedenen Themenfeldern des Kirchenrechts hat Professor Paarhammer zahlreiche Beiträge geleistet. Im Einzelnen gibt davon das Schriftenverzeichnis, welches in diesen Band aufgenommen wurde, ein beredtes Zeugnis. Dabei war die Ausgestaltung der kirchlichen Rechtsordnung in einer Weise, die das kirchliche Leben bestmöglich fördert, für Hans Paarhammer immer ein besonderes Anliegen. Auch in der praktischen Anwendung des Kirchenrechts in Rechtsprechung und Verwaltung, die in seinem gesamten Wirken breiten Raum einnimmt, war der Jubilar darauf bedacht, den Gläubigen zu nützen und ihnen Möglichkeiten zur immer besseren Entfaltung der christlichen Berufung zu schaffen. Wiederholt hat Paarhammer darauf hingewiesen, dass die pfarrliche Seelsorge eines der entscheidenden Felder sei, auf dem das Kirchenrecht erprobt werde und sich bewähren müsse. Hans Paarhammer wurde am Gründonnerstag, 3. April 1947, in Hallwang bei Salzburg geboren. Dort empfing er am Ostersonntag, 6. April 1947, das Sakrament der Taufe. Er wuchs zusammen mit vier Schwestern in einer kleinbäuerlichen Familie auf. Seine Gymnasialausbildung erhielt er am erzbischöflichen Kollegium und Privatgymnasium Borromäum in Salzburg, wo er am 1. Juni 1966 maturierte. Im Herbst desselben Jahres trat Hans Paarhammer in das Salzburger Priesterseminar ein und nahm an der Paris-Lodron-Universität Salzburg das Studium der Philosophie und Theologie auf. Am 5. Juli 1973 erfolgte die Sponsion zum Magister der Theologie. In den folgenden Jahren vertiefte er unter der Leitung von Univ.-Prof. Dr. Richard A. Strigl seine Studien im Kirchenrecht. Aufgrund einer rechtshistorischen Untersuchung zur Tätigkeit des spätmittelalterlichen Salzburger Offizialatskonsistoriums wurde Paarhammer am 25. November 1976 an der Alma Mater Paridiana zum Doktor der Theologie promoviert. In den Jahren 1977 bis 1981 erweiterte

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Vorwort

Hans Paarhammer seine kirchenrechtlichen Kenntnisse durch den Besuch von Lehrveranstaltungen am Kanonistischen Institut der Ludwig-Maximilians-Universität München. Im Sommersemester 1981 wurde Dr. Paarhammer an der KatholischTheologischen Fakultät der Karl-Franzens-Universität Graz bei Univ.-Prof. DDr. Hugo Schwendenwein für das Fach Kirchenrecht habilitiert. Seine akademischen Qualifikationen hat Hans Paarhammer neben einer nicht minder engagierten Tätigkeit in der Seelsorge und in der praktischen kirchlichen Rechtspflege erworben. Nachdem er am 29. Juni 1971 im Hohen Dom zu Salzburg die Priesterweihe empfangen hatte, wirkte der junge Geistliche als Kooperator in Salzburg-Gnigl (1972 – 1975) und in Strobl am Wolfgangsee (1975 – 1977). Erzbischof DDr. Karl Berg bestellte ihn 1977 zum Provisor in Koppl bei Salzburg und vertraute ihm die Leitung dieser Pfarre an. Neben den Aufgaben in der Pfarrseelsorge war Paarhammer ab 1974 Prosynodalrichter am Diözesan- und Metropolitangericht Salzburg und nach seiner Promotion 1976 ebenda Vizeoffizial. 1982 klärte sich, dass Hans Paarhammer, trotz mancher akademischer Möglichkeiten andernorts, langfristig in Salzburg tätig sein und damit seinem Heimatbistum erhalten bleiben würde. Am 1. August 1982 wurde er im Alter von 35 Jahren zum ordentlichen Universitätsprofessor für Kirchenrecht an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Paris-Lodron-Universität Salzburg ernannt und trat damit die Nachfolge seines Lehrers Richard A. Strigl an. Bald darauf, am 1. September 1982, bestellte ihn der Salzburger Erzbischof zum Offizial des erzbischöflichen Diözesan- und Metropolitangerichts Salzburg (bis 1993). Damit begannen fruchtbare Jahre des Wirkens in der gerichtlichen Rechtspflege und insbesondere an der Universität. In verschiedenen Bereichen setzte Professor Paarhammer in Forschung und Lehre besondere Schwerpunkte. Es waren die Bereiche Rechtsgeschichte, kirchliche Verwaltung und Rechtsprechung, Rezeption des geltenden kanonischen Rechts und Konkordatsrecht, die seine verstärkte Aufmerksamkeit fanden. Speziell zeichnet Professor Paarhammer sein Bemühen um eine Verortung des kanonischen Rechts in der Pastoral aus sowie die Untersuchung und Pflege des ausgedehnten und vielschichtigen Beziehungsgefüges von Recht, Kult und Brauch. Ein vordringliches Anliegen ist ihm die Aus- und Fortbildung kirchlicher Richter. Regelmäßige Exkursionen zu den Dikasterien der Römischen Kurie sowie auch Besuche bei staatlichen Stellen (Parlament, Verfassungsgerichtshof, Ministerien u. a.) weiteten den Blick der Studierenden für das Verhältnis Kirche und Staat sowie Kirche und Internationale Organisationen. Als akademischer Lehrer des Kirchenrechts hat Paarhammer es in hervorragender Weise verstanden, sein Fach den Studierenden nahezubringen. Sein Engagement für die Förderung des fachlichen Nachwuchses wird nicht zuletzt anhand der stattlichen Zahl der akademischen Schüler ersichtlich, die ihre Qualifikationsschriften unter der Ägide von Professor Paarhammer verfasst haben. Es kann nicht weiter verwundern, dass Hans Paarhammers fachlicher Rat vielfach gesucht wurde. So wirkte Paarhammer bei der Reform und Neufassung der Statuten

Vorwort

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des Salzburger Domkapitels und der Stiftskapitel von Mattsee und Seekirchen maßgeblich mit. Bei der Reform der Statuten der Österreichischen Bischofskonferenz wurde er als kirchenrechtlicher Sachverständiger beigezogen. Von 1996 bis 2011 war er als Konsultor des Päpstlichen Rates für die Gesetzestexte tätig. Insbesondere versicherten sich die Salzburger Erzbischöfe – von Karl Berg über Georg Eder bis Alois Kothgasser SDB – der Unterstützung Hans Paarhammers in der Diözesanleitung. Ab 1. September 1983 war Paarhammer Mitglied des erzbischöflichen Konsistoriums. Fünf Jahre später, am 1. September 1988, wurde er zum Domkapitular des Metropolitankapitels an der Salzburger Kathedrale ernannt. Als Generalvikar der Erzdiözese Salzburg stand Hans Paarhammer vom 27. November 1993 bis 11. Juni 1999 an der Seite von Erzbischof Dr. Georg Eder. Doch auch für andere Aufgaben ließ sich Professor Paarhammer in Anspruch nehmen. 1987 bis 1989 diente er der Katholisch-Theologischen Fakultät der Salzburger Universität als Dekan. Im Jahre 1996 unterstützte er als päpstlich bestellter Begleiter von Kardinal Christoph Schönborn OP diesen bei der Apostolischen Visitation der Priesterseminare der Bistümer Österreichs und wirkte bei der Berichterstattung an den Apostolischen Stuhl mit. Von 2001 bis 2008 leitete er als Präsident das Internationale Forschungszentrum für Grundfragen der Wissenschaften Salzburg. Seit 25. Jänner 2006 ist Hans Paarhammer ehrenamtlich als Richter am Diözesangericht des Bistums Linz tätig. Hans Paarhammer wäre nicht vollständig charakterisiert, wollte man seinen Einsatz in der Seelsorge nicht gebührend herausstellen. Bis zu seiner Ernennung zum Generalvikar 1993 war er neben seinen Aufgaben an Universität und kirchlichem Gericht 16 Jahre lang auch verantwortlicher Leiter der Pfarre Koppl. Darüber hinaus hat er ab 1980 seelsorgliche Aufgaben bei den Verbänden und Gemeinschaften der Salzburger Volkskultur und in der kategorialen Seelsorge für verschiedene Berufsgruppen und Sparten des wirtschaftlichen Lebens übernommen. Seit 1994 spendet er in der Erzdiözese Salzburg im Auftrag des Erzbischofs auch das Sakrament der Firmung. Papst Johannes Paul II. würdigte das außerordentliche Wirken Hans Paarhammers 1993 mit der Ernennung zum Päpstlichen Ehrenprälaten. Gedankt sei den Autoren des vorliegenden Bandes, die – teilweise unmittelbar vom Werk und Wirken Hans Paarhammers inspiriert – verschiedenen Themen aus Theologie, Recht und Kirchenrecht nachsinnen und forschend nachgehen. Sie geben mit ihren vielfältigen Beiträgen diesem Band die inhaltliche Substanz. Herzlicher Dank gilt Dipl.-Theol. Sr. Monika Katrin Amlinger OSB, München, in deren Händen weitgehend die redaktionelle Betreuung des Bandes lag, sowie Frau Sabine Geiler, Innsbruck, die vor allem administrative Aufgaben wahrnahm. Dank sagen möchten die Herausgeber auch dem Verlag Duncker & Humblot und insbesondere Frau Birgit Müller für die gute Zusammenarbeit bei der Erstellung des Werkes.

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Vorwort

Finanziell wurde das Vorhaben unterstützt vom Land Salzburg (Wissenschaftsabteilung), vom Magistrat der Stadt Salzburg, vom Bundesministerium für Wissenschaft und Forschung, Wien, von der Erzdiözese Salzburg, von der Diözese Graz-Seckau, von der Paris-Lodron-Universität Salzburg, vom Department Katholische Theologie der Ludwig-Maximilians-Universität München, vom Fürstlichen Kommerzienrat Senator h. c. Prof. Dr. Dr. Herbert Batliner, Vaduz, und von Frau Dr. Irmgard Zell, Salzburg. Auch ihnen schulden die Herausgeber verbindlichen Dank für diese Förderung des vorliegenden Bandes. Salzburg, am Tag des Heimgangs des hl. Bischofs Rupert, den 27. März 2012

Die Herausgeber

Grußwort des Erzbischofs von Salzburg Wer sich in die Biografie von Prälat Prof. Dr. Hans Paarhammer ein wenig vertieft, der wird sehr schnell erkennen: Hier begegnet man einem Priester, der wissenschaftliche Gelehrsamkeit, seelsorgliche Praxis und Volksverbundenheit auf besondere Weise in sich vereint. Als weit über die Diözesangrenzen hinaus geschätzter und gesuchter Professor für Kirchenrecht ist er an unserer Theologischen Fakultät ein begehrter Lehrer und wissenschaftlicher Begleiter von vielen Studierenden. Manche wurden in der Zwischenzeit selbst renommierte Professoren für Kirchenrecht oder als Richter an kirchlichen Gerichten berufen. Als Offizial am Metropolitan- und Diözesangericht unserer Erzdiözese hat Hans Paarhammer nachhaltige Spuren hinterlassen. Paarhammer war und ist aber nicht nur Gelehrter, er war und ist auch immer Seelsorger gewesen und geblieben. Ob als Pfarrprovisor in Koppl, als Kirchenrektor der von Erzbischof Paris Lodron gegründeten St. Loreto-Kirche mit den Kapuzinerinnen von der Ewigen Anbetung, als Aushilfspriester in seiner Heimatpfarre Hallwang und in vielen anderen Pfarren als Festprediger sowie als gesuchter, kompetenter Festredner bei vielfältigen Anlässen, als Seelsorger für die Vereinsseelsorge, als Landeskurat der Schützen, als geistlicher Assistent der Salzburger Volkskultur, Paarhammer war immer Priester für die ihm anvertrauten Gläubigen, aber auch Seelsorger mit den Menschen. Er ist einer, der die Menschen mag, und diese mögen ihn. Dass ein Priester mit diesen vielfältigen Begabungen und Eigenschaften auch in der diözesanen Kurie als Domkapitular in verschiedensten Funktionen zum Einsatz kam, versteht sich fast von selbst. Ob als Generalvikar, Präsident des Internationalen Forschungszentrums, als Vizepräsident des Katholischen Hochschulwerkes und manch anderes mehr, überall war und ist Prälat Paarhammer mit ganzer Kraft und Hingabe, ohne sich selbst dabei zu schonen, bei der Sache. Sein ganzes priesterliches Wirken ist geprägt von dem Bestreben, für die Menschen da zu sein, ganz im Sinne des Konzilsdokuments Gaudium et spes, wo es heißt: „Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen von heute, besonders der Armen und Bedrängten aller Art, sind auch Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Jünger Christi.“ Möge ihm Gott all sein seelsorgliches Wirken reichlich lohnen und ihn stets auf seinen Hirten-Wegen begleiten. Dr. Alois Kothgasser (Erzbischof von Salzburg)

Grußwort Gerne komme ich der Einladung der Herausgeber nach, ein Grußwort für diese Festschrift zum 65. Geburtstag des verdienten Seelsorgers und Kirchenrechtlers Univ.-Prof. Prälat Dr. Hans Paarhammer zu schreiben. Seit 1996 gehört der Geehrte zu den Konsultoren dieses Päpstlichen Rates für die Gesetzestexte. Auf diese Weise hat er seine Fachkenntnis und seine Erfahrung nicht nur innerhalb seiner Diözese und bei der Österreichischen Bischofskonferenz, sondern auch auf Ebene der Weltkirche einbringen können. Neben der Aufgabe, die Gesetzestexte der Kirche zu interpretieren, steht der Päpstliche Rat für die Gesetzestexte auch den anderen Dikasterien der römischen Kurie zur Verfügung, wenn es um die Abfassung und Veröffentlichung normativer Dokumente geht, um ihnen zu helfen, dass diese Dokumente „mit den geltenden Gesetzesvorschriften übereinstimmen und in der rechten juristischen Form abgefasst werden“ (Pastor Bonus, Art. 156). Darüber hinaus hat er auch die allgemeinen Dekrete der Bischofskonferenzen unter juristischen Gesichtspunkten und im Hinblick auf ihre Übereinstimmung mit der gesamtkirchlichen Gesetzgebung zu prüfen. Auf Antrag hat der Päpstliche Rat sodann darüber zu entscheiden, „ob partikulare Gesetze und allgemeine Dekrete, die von Gesetzgebern unterhalb der höchsten Autorität erlassen wurden, mit den gesamtkirchlichen Gesetzen übereinstimmen oder nicht“ (Pastor Bonus, Art. 158). Dem Päpstlichen Rat für die Gesetzestexte, der durch seine Arbeit einen entsprechenden Überblick über die rechtlichen Erfordernisse hat, kommt es darüber hinaus zu, dem Papst als oberstem Gesetzgeber der Kirche Vorschläge im Hinblick auf die Änderung oder Ergänzung der Rechtsordnung der Kirche zu machen. Zudem ist es ein Anliegen des Rates, die Kenntnis und die Anwendung des Rechts in der Kirche zu fördern sowie den Studierenden und denjenigen, die in der Kirche die Aufgabe der Rechtsanwendung haben, als Dialogpartner zur Verfügung zu stehen, um an der Förderung einer Rechtskultur in der Kirche mitarbeiten zu können. Bei seinen vielfältigen Aufgaben ist der Päpstliche Rat für die Gesetzestexte auf die Mitarbeit der Konsultoren angewiesen, die auf Grund ihrer Fachkenntnis ausgewählt werden und zugleich die verschiedenen Bereiche des Kirchenrechts und verschiedene Ortskirchen vertreten sollen. Auf diese Weise kann der Päpstliche Rat bei den verschiedenen Fragen, die es zu beantworten, und den verschiedenen Aufgaben, die es zu erledigen gilt, auf ein weltweites Netzwerk von Experten zurückgreifen, welche die Arbeit des Rates unterstützen und zugleich seine universalkirchliche Ausrichtung sicherstellen.

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Grußwort

Im Namen des Päpstlichen Rates für die Gesetzestexte und persönlich danke ich Herrn Prof. Paarhammer herzlich für den Beitrag, den er in diesen Jahren zur Arbeit des Päpstlichen Rates für die Gesetzestexte geleistet hat, und wünsche der Festschrift zu seinen Ehren eine wohlwollende Aufnahme. Ad multos annos! Vatikanstadt, am Sitz des Päpstlichen Rates für die Gesetzestexte, 22. Februar 2012 Francesco Card. Coccopalmerio (Präsident des Päpstlichen Rates für die Gesetzestexte)

Geleitwort des Rektors der Paris-Lodron-Universität Salzburg Die Paris-Lodron-Universität Salzburg verdankt Konsistorialrat Prälat Univ.Prof. Dr. Hans Paarhammer an erster Stelle die umsichtige Betreuung des Faches Kirchenrecht an der Theologischen Fakultät seit inzwischen 30 Jahren. Seine Tätigkeit als Professor für Kirchenrecht ist einerseits geprägt durch den engagierten Einsatz in Forschung und Lehre, die intensive Betreuung Studierender und die große Beliebtheit bei diesen. Dank und Anerkennung seitens der Universität verdient Hans Paarhammer aber auch für seine Funktionen innerhalb der universitären Selbstverwaltung, insbesondere für sein Dekanat der Theologischen Fakultät 1987 – 1989. Was ihn über die Maßen auszeichnet, sind die vielfältigen Kooperationen und Kontakte, die seine Tätigkeit prägen. Innerhalb der Universität ist die intensive Zusammenarbeit mit der Rechtswissenschaftlichen Fakultät zu nennen, für die er häufig als Gutachter tätig war, über die Universität hinaus die hohe Wertschätzung, die er in der Kollegen- und Kolleginnenschaft seines Faches genießt, sowie die intensiven Kontakte zu Einrichtungen des staatlichen Rechtswesens wie dem Verfassungsgerichtshof und zu römischen Institutionen wie u. a. dem Päpstlichen Rat für die Interpretation kirchlicher Gesetzestexte, dessen Konsultor er 1996 – 2011 war. Als Präsident des Internationalen Forschungszentrums für Grundfragen der Wissenschaften in den Jahren 2001 – 2008 machte er sich um den interdisziplinären wissenschaftlichen Austausch über Fakultäts- und Universitätsgrenzen hinweg verdient, ebenso durch seine Tätigkeit im Direktorium und Präsidium der Salzburger Hochschulwochen und im Katholischen Hochschulwerk. Durch seine hohen kirchlichen Ämter in der Erzdiözese Salzburg, insbesondere als Domkapitular und Generalvikar, ist er ein verlässlicher Vermittler zwischen Erzdiözese und Universität geworden. Was ihn darüber hinaus auszeichnet, ist die intensive Verbundenheit mit Institutionen des kirchlichen und gesellschaftlichen Lebens. Als Priester und Theologieprofessor repräsentiert er für viele Menschen in allen gesellschaftlichen Gruppen Salzburgs die Verbindung von Kirche und Theologie, von Glaube und Wissenschaft. Dass ihm diese Vermittlung in so überzeugender Weise gelingt, hat wesentlich mit seinem Verständnis von Kirchenrecht und Theologie zu tun: Beide dienen in seinem Sinne letztlich der Verkündigung des Glaubens und haben ihre Zielsetzung in der Pastoral, in der konkreten Seelsorge an den Menschen. Diese Überzeugung lebt Hans Paarhammer mit größtem Einsatz bei zahllosen Veranstaltungen in Kirche,

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Geleitwort des Rektors der Paris-Lodron-Universität Salzburg

Kultur und Brauchtum in Zusammenarbeit mit Verbänden und Vereinen des kirchlichen und gesellschaftlichen Lebens, besonders der Heimat- und Brauchtumspflege. Der Name Hans Paarhammer steht für diese Vermittlungsarbeit zwischen Wissenschaft, Kirche und Gesellschaft. Die Universität und die Katholisch-Theologische Fakultät haben dies in großer Dankbarkeit anzuerkennen. Univ.-Prof. Dr. Heinrich Schmidinger (Rektor der Universität Salzburg)

Wissenschaft, Magd des Daseins Herrn Prälat Prof. Dr. Hans Paarhammer (Soc. Acad.) herzlichst zu seinem 65. Geburtstag zugeeignet Bei der Gründung der Europäischen Akademie der Wissenschaften und Künste war es Kardinal König, dem Mitgründer der Europäischen Akademie, ein ganz besonders wichtiges Anliegen, die Theologie als Mutter der Wissenschaften voll in das Haus der Wissenschaften und Künste zu integrieren. Damit ergibt sich ein großer und spannender Bogen aller Wissenschaften und Künste. Wissenschaften tragen zum Verständnis unserer Existenz, zu unserem Dasein bei. Es eröffnen sich ständig weitere unbekannte Räume des Daseins, bekannt als Fortschritt in unterschiedlichen Geschwindigkeiten. Es bleiben immer die drei Fragen: Woher komme ich? Wohin gehe ich? Was bin ich? Und damit ergeben die Wissenschaften Halt in unserer Daseinsbewältigung, dem Daseinsablauf und der Daseinsorientierung. Der Mensch ist in seinem Leben drei unendlich weiten Räumen ausgesetzt, die sich im Wesen seiner Natur treffen. Im Überleben wird sein Verhältnis im Raum der Natur ausgelotet. Im Raum des Umganges zwischen den Menschen miteinander und mit sich selbst ergibt sich der Raum des Interhumanen. Der dritte Raum betrifft das Geistige, das es zu pflegen gilt, wie auch daraus die lebensbestimmende Orientierung zu gewinnen. Im Schnittpunkt steht der lebende Mensch. Alles, was er zum Leben braucht, ergibt sich im Haus der Wissenschaften. Alle drei unendlich großen Räume stehen wie in einem harmonischen Dreieck zueinander. Die Balance der Wissenschaften zueinander wird interdisziplinär gehalten – im Umgang das Nationale überwindend, transnational und letztlich immer Brücken bauend. Der Mensch in seiner Existenz steht in diesem Dreieck im Mittelpunkt, die Räume schneiden sich im Menschen. Raum zur Natur Der Mensch in seiner Einheit aus Körper, Geist und Seele ist weitgehend von der Natur abhängig. Aus dem Raum der Menschen zur Natur ergeben sich die Naturwissenschaften mit ihren abgeleiteten technischen Wissenschaften, Landwirtschaftswissenschaften, Umweltwissenschaften. Bei der Auslotung dieses Raumes zur Daseinsbewältigung, des Verhältnisses des Menschen zur Natur, entdeckt man stets noch nicht erschlossene neue Räume. Die

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gesamte Forschung ist unablässig auf dem Weg, Spuren zu neuen Erkenntnissen und neuen Dimensionen der Natur zu beschreiben. Außerdem ändern sich selbstverständlich unser Naturbild und unser Weltbild ständig. Gerade die Astronomie lässt uns heute neu ins Unendliche hinein denken. Als eine der großen, bemerkenswerten und atemberaubenden Entdeckungen ist das Durchwandern von Galaxien, ein Durchwandern, wie es auch beim Menschen zu beobachten ist. Ja, die Astrophysik bemüht sich, Befunde vorzulegen, dass auch Leben auf anderen Galaxien existiert. Die Nanotechnologie zeigt, wie sehr wir materiell durchlässig sind; zum anderen sind wir auf vier Aminosäuren aufgebaut. Seit das Genom entschlüsselt worden ist, ist der einzelne Mensch aus der unendlichen Masse der Genome nichts anderes als eine Varianz des Einen. Die Wissenschaften aus der Natur abgeleitet, haben das Messen als Basis und gehen immer von belegbaren Fakten aus, d. h. wenn Millionen Forscher das gleiche Resultat erzielen, so wird ein Faktum, je geringer die Streubreiten beim Messen sind, immer realer und wahrer. Das Faktenfinden durch Messen hat auch unser Weltbild stark beeinflusst, da wir nur das glauben, was messbar ist oder messbar gemacht werden kann. Raum zum Interhumanen Im Raum des Verhältnisses des Menschen zum Mitmenschen sind die historisierenden Wissenschaften, die Sprachen, die Sozialwissenschaften, geschichtlichen Wissenschaften, Jurisprudenz, Wirtschaftswissenschaften, hin bis zur Medizin und Psychologie zu finden. Im Raum des Intermenschlichen beginnt es einmal mit der Kommunikation, den Sprachschwierigkeiten bzw. wie wir unsere Gedanken, unser Fühlen, unser Erleben den anderen mitteilen. Im transnationalen Gebrauch der Sprache ergeben sich viele Variationen. Auch in der eigenen Muttersprache sind so viele Variationen vorhanden, dass man oft zu seinen Mitmenschen sagt: „Ich verstehe Dich nicht.“ Gerade das Pfingstfest hat ja als Phänomen, über den Geist die Sprachenbarrieren zu überwinden. In diesem Zusammenhang mit Sprachen, des Mitteilens und Übersetzens darf man auch an den Beginn des Johannesevangeliums erinnern: „In principio erat verbum et verbum apud Deum.“ Nun liest man im Deutschen „principium“ als Anfang und „logos“ als Wort übersetzt. Logos kann man auch als das Umfassende, als Zeit und Raum verstehen. Wird Prinzip als Anfang übersetzt, zieht man aus dem Anfang die Zeit heraus und lässt statt Anfang wieder Prinzip stehen, so ergibt sich: „Im Prinzip war Zeit und Raum und Zeit und Raum war Gott.“ Damit entsteht ein möglicher Schluss mit anderen Religionserfahrungen, wo, wie im buddhistischen, das Prinzip ohne Zeit betont wird. Im Bereich des Intermenschlichen ist das Messen weniger leicht. Es kommt immer sehr stark auf eine subjektive menschliche Bewertung, das Ermessen an. Die vielen Streubreiten sind als Lesart bekannt. Gerade im Recht ergeben sich

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viele Variationen. Letztlich ist oft ein Schiedsspruch davon abhängig, wie sehr ein Richter in der Lage ist, in einem humanen Ermessen zu urteilen. In dieser enormen Bandbreite ist die Epikie besonders gefragt. Die Medizin mit der Psychologie beschäftigt sich mit dem Menschen in seiner Einheit „Körper – Seele – Geist“. Gerade in der Medizin ist das Zusammenprallen der drei Räume besonders spürbar; zum einen operieren wir in der Medizin sehr stark am Naturteil des Menschen (Körper), agieren aber weniger an der Seele. Der Geist des Menschen wird negiert. Raum zum Geistigen Im dritten Raum werden die Fragen zum Geistigen dargestellt, wo man mit Philosophie, Kunst und Theologie die Frage der Sinnhaftigkeit des Lebens zu finden sucht. Im Raum unseres Verhältnisses zum Geistigen zeigen sich die Philosophie, die Künste und die Religionen. Sie alle sprechen von der Sinnerfahrung zur Wahrheit, von der Erfahrung der Wahrheit zur Beschreibung der Daseinskomponente. Im Theologischen wird das Streben ganz stark transzendiert zum Ewigen. Im Wesentlichen ist aber aus diesem Raum festzuhalten, dass es viele Wege der Beschreibungen des Geistigen gibt. Wir Menschen stehen in einem System, das dem großen System Gottes untergeordnet ist. In der Suche nach einer Wahrheit sind die Künste aufgerufen. Die Musik ist ein besonderer Bote zwischen dem Ewigen und dem Irdischen. Mozart, hat Richard Wagner so treffend formuliert, kommt vom Himmel her. Die bildenden und darstellenden Künste geben die verschiedenen Situationen des Menschen wieder, aber auch im Blick eines Spiegels des Anderssein-Könnens. Die Philosophie und auch die Literatur beschäftigen sich mit den verschiedenen Formulierungen unseres Seins und tragen zur Ethik mit der Theologie bei. Wichtig scheint es mir, dass man den Teil des Menschen, den Geist, in diesem Bereich besonders spürbar erfährt. Über den Geist besteht das Zusammenleben, wie man zusammen lebt, wie man sich aber letztlich seine eigene Zukunft vorstellt, wie man in diesem Zusammenhang den Sinn, die Auflösung seines Lebens im Sein erfährt. Das Ergebnis der Auslotung der Räume ist bekannt durch die großen Entdeckungen der Menschheit. Sie dringen immer interdisziplinär in alle Bereiche vor und werden damit weltbild-bestimmend, wenn man vom Menschen als Mittelpunkt unseres Lebens ausgeht. Reicht man beim Hinausreichen aus unserer Mitte tief in den Makrokosmos (wir kennen ja nur uns selbst, und das schlecht), in das Weltall hinaus und fallen wir durch unsere Mitte tief hinein in den Mikrokosmos, werden wir uns aus beiden Richtungen kommend als Coincidentia oppositorum wieder treffen. Das Aufschließen der Räume ist Wissenschaft. Wir kratzen an der Oberfläche und es bleibt

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immer das Ewige als Geheimnis des Lebens verborgen, die große ewige mystische Unbekannte. Jedenfalls war es Kardinal König wichtig, dass Theologie als Mutter der Wissenschaften sich mit ihren Kindern und Enkelkindern wieder intensiv auseinandersetzt. Denn große Entdeckungen gehen querschnittsmäßig durch die gesamte Menschheit, was es mit drei Beispielen zu beleuchten gilt. Am Beispiel der Nanotechnologie, wo die feinsten Strukturen in einer ultrakleinen Dimension erfahren werden, erleben wir das Durchwandern der Partikel durch unseren Organismus. Dieses Durchwandern spiegelt sich plakativ in den Galaxien. Das heißt, wir sind vom Ewigen durchdrungen, das sich durch unseren Körper kosmisch bewegt. Auch ein Beispiel der Immunität. Immerhin lebt der Mensch in einem Ambiente von mehr Mikroben als er selbst Zellen hat. Wir reden immer von der medizinischen Immunität des Menschen, wie er sich selbst gegen Keime feit. Aber es gibt eine angeborene Immunität, wie wir dem Leben in seiner Natur standhalten. Das ist das Organische. Aber im Geistigen gibt es eine philosophische Immunität, eine religiöse Immunität, wie man selbst versucht, das Böse zu immunisieren und abzuwehren. Als drittes Beispiel ist das Genom, das quer durch das Weltbild aller geht, zu werten. Wir selbst sind alle, wie auch im Tierreich, auf vier Aminosäuren aufgebaut und die vier Aminosäuren bilden in bestimmten Sequenzen unsere Gene, ein halber Gensatz vom Vater und ein halber von der Mutter. Aber letztlich sind wir individuell nichts anderes als das Ergebnis einer ungemeinen Varianz des Einen. In diesem Zusammenhang versteht man Nikolaus von Kues, wie er Gott am Prägestock des Lebens sieht. Dass so alle Menschen Brüder sind, ist eine reale globale Bedingung unseres Zusammenlebens. Wir erleben und erhellen nur kleine Teile der unendlichen Räume des Lebens. Im Dasein ist die Liebe der unverzichtbare Motor des Lebens, der die Kraft aus seinem Mittelpunkt zum Nächsten und zur Schöpfung gibt. Natürlich ist es heute schwierig, ein Weltbild, das an einem bestimmten Punkt aufgehängt ist, zu definieren. Unser heutiges Weltbild hat sich in den letzten fünfzig Jahren völlig gewandelt und verändert. Der Mensch bleibt über all die Jahre immer der Gleiche und versucht, sich in den weitläufigen Räumen des Daseins zurechtzufinden. Und somit wird die Wissenschaft als Erfahrbares des Menschen die Dienerin zur Entdeckung des Daseins. Wenn vorher „Im Prinzip ist Raum und Zeit“ betont wird, dann hat Einstein versucht, das als Kontinuum zu beschreiben, aber die Auflösung liegt in seinem Schöpfer Gott – apud Deum. Prof. Dr. Dr. h.c. Felix Unger (Präsident der Europäischen Akademie der Wissenschaften und Künste)

Tabula gratulatoria Aichern OSB, Maximilian, Dr. theol. h. c., Altbischof von Linz, Rudigierstraße 10, 4020 Linz. Althaus, Rüdiger, Dr. theol., Lic. iur. can., Prof., Domplatz 12, 33098 Paderborn. Amann, Thomas A., Dr. theol., Lic. iur. can., PD, Waldstraße 27, 73666 Baltmannsweiler. Ammer, Josef, Dr. iur. can., Prälat, Domkapitular, Offizial, Bischöfliches Konsistorium Regensburg. Anuth, Bernhard Sven, Dr. theol., Lic. iur. can., wiss. Mitarbeiter, Kirchenrechtliches Seminar der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Bonn. Appesbacher, Matthäus, Mag., Dr. theol., Bischofsvikar, Apostol. Protonotar, Kapitelplatz 1, 5020 Salzburg. Assenmacher, Günter, Dr. iur. can., Prälat, Domkapitular in Köln, Offizial für die Diözesen Köln, Essen und Limburg, Erzbischöfliches Offizialat Köln. Auer, Franz, Mag., Pfarrer und Dekan, Mariathal-Kramsach. Aymans, Winfried, Dr. iur. can., Apost. Protonotar, em. Prof. am Klaus-Mörsdorf-Studium für Kanonistik der Ludwig-Maximilians-Universität München. Bair, Johann, Ass.-Prof., Mag., Dr., Institut für Römisches Recht und Rechtsgeschichte an der Universität Innsbruck, Innrain 52, 6020 Innsbruck. Bauer, Emmanuel J., ao. Univ.-Prof., MMag., Dr., dzt. Vizedekan, Philosophie an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Salzburg, Psychotherapeut, Salzburg. Baumgartner, Harald, Dr., LL.M., Universitätslehrgang Kanonisches Recht für Juristen, Institut für Rechtsphilosophie, Religions- und Kulturrecht an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät Wien, Schenkenstraße 8 – 10, 1010 Wien. Berkmann, Burkhard Josef, Mag. phil., Dr. theol., Dr. iur., Lic. iur. can., Rechts- und Liegenschaftsreferat der Diözese St. Pölten, Diözesanrichter und Lehrbeauftragter an der Philosophisch-Theologischen Hochschule St. Pölten, St. Pölten. Bernard, Felix, Dr., Prälat, Prof., Katholisches Büro Niedersachsen, Nettelbeckstraße 11, 30175 Hannover. Bier, Georg, Dr. theol., Lic. iur. can., Prof., Kirchenrecht und Kirchliche Rechtsgeschichte an der Theologischen Fakultät der Universität Freiburg i.Br. Binder, Dieter A., Dr. phil., Univ.-Prof., Andr‚ssy Gyula Universität Budapest, Graz. Binder-Seewang, Eva, Dr. med. univ., Graz. Birnbacher OSB, P. Korbinian, Dr. theol., Prior, Erzabtei St. Peter, Salzburg. Bittner, Claus, Lic. iur. can., Msgr., Domkapitular, Offizial, Bischöfliches Konsistorium Passau, Residenzplatz 8, 94032 Passau.

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Tabula gratulatoria

Blaschke, Irene, Mag., Pastoralassistentin in der Pfarre St. Martin, Triebenbachstraße 26, Pfarrzentrum St. Martin, 5020 Salzburg. Boekholt SDB, Peter, Dr., Prof., Philosophisch-Theologische Hochschule, Don-Bosco-Straße 1, 83671 Benediktbeuern. Breitsching, Konrad, Dr., Ass.-Prof., Univ.-Ass., Institut für Praktische Theologie, Theologischen Fakultät der Universität Innsbruck. Bründler, Hilde, Dr. iur., Diözesanrichterin i. R. am Bischöflichen Diözesangericht Innsbruck, Innsbruck. Bucher, Anton A., Mag., Dr., Professor für Religionspädagogik am FB Praktische Theologie, Lehrbeauftragter FB Erziehungswissenschaften und Psychologie an der Universität Salzburg. Burger, Stephan, Lic. iur. can., Geistlicher Rat, Offizial der Erzdiözese Freiburg i. Br. Busek, Erhard, Dr., Jean Monnet Professor ad personam, Vizekanzler und Bundesminister a. D., Präsident des Instituts für den Donauraum und Mitteleuropa, Wien. Casutt, Roland, Lic. iur. can., Dipl.-Theol., Pfarrer, Bandverteidiger/Promotor iustitiae des Erzbistums Vaduz, 9487 Bendern. Dopsch, Heinz, Dr. phil., MAS, em. o. Univ.-Prof., Historiker im Fachbereich Geschichte an der Kultur- und Gesellschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universität Salzburg, Schwanenstraße 5, 5201 Seekirchen. Eder, Georg, Dr. theol., Alterzbischof von Salzburg, Fisching 19, 5163 Mattsee. Edtstadler, Karl W., Dr., Hofrat, Landtagsdirektor, Landtag Salzburg, Tiefenbachstraße 23, 5161 Elixhausen. Egger-Wenzel, Renate, Mag., Dr., ao. Univ.-Prof., Universitätsdozentin für Alttestamentliche Bibelwissenschaft, FB Bibelwissenschaft und Kirchengeschichte der Universität Salzburg, 5020 Salzburg. Egler, Anna, Dr., Akademische Direktorin i. R., Rotkehlchenweg 8, 55126 Mainz. Eisl, Josef, Landesrat, 5342 Abersee. Eke, Mmaju, Dr. theol., Domvikar, Ehebandverteidiger am Bischöflichen Offizialat Eichstätt, Römerstr. 33, Preith, 85131 Pollenfeld. Eppacher, Anton, Dr. theol., Cons., Diözesanrichter am Bischöflichen Diözesangericht Innsbruck. Erdo˝ , P¦ter, Dr. theol., Dr. iur can., Dr. SC, em. Prof. für Kirchenrecht, Kardinal, Erzbischof von Esztergom-Budapest, ¢ri u. 62., 1014 Budapest. Ernst, Michael, Dr. theol., ao. Univ.-Prof., Neutestamentler an der Theologischen Fakultät der Universität Salzburg und an der Päpstlichen Hochschule Benedikt XVI. in Heiligenkreuz. Erzbischöfliches Metropolitan- und Diözesangericht Wien, Spiegelgasse 3, 1010 Wien. Friedl, Mathilde, Pfarrhaushälterin, Triebenbachstraße 26, Pfarrzentrum St. Martin, 5020 Salzburg. Fürst, Sr. Kunigunde, Mag., Dr. theol., Professorin AHS, derzeit Generaloberin der Franziskanerinnen von Vöcklabruck, Salzburger Straße 18, 4840 Vöcklabruck.

Tabula gratulatoria

XXI

Geistlinger, Michael, Dr., ao. Univ.-Prof., Forum außerordentliche UniversitätsprofessorInnen an der Universität Salzburg, Völkerrecht, Universität Salzburg, Wastlgasse 252, 5542 Flachau. Gerosa, Libero, Dr. theol. habil., o. Prof., Direktor des Instituts DiReCom, Lugano. Gielen, Marlis, Dr. theol., Univ.-Prof. für Neutestamentliche Bibelwissenschaft, Fachbereich Bibelwissenschaft und Kirchengeschichte an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Salzburg, 83395 Freilassing. Graulich SDB, Markus, Dr., Prof., Prälat-Auditor der Rota Romana. Grillberger, Konrad, Dr., o. Univ.-Prof., Fachbereich Arbeits-,Wirtschafts- und Europarecht an der Paris Lodron Universität Salzburg, Churfürststraße 1, 5020 Salzburg. Gröpl, Andreas, Dipl. iur., Mag. theol., LL.M., Notar der Diözesankurie der Diözese Innsbruck, Vernehmungsrichter am Bischöflichen Diözesangericht Innsbruck, Fachreferent im Bischöflichen Eheamt Innsbruck, Innsbruck. Gruber, Gerald, Mag. theol., Dr. iur. can., Vizeoffizial am Eb. Metropolitan- und Diözesangericht Wien. Gruchmann-Bernau, Johannes, Mag., Direktor der BAKIP-Salzburg, Söllheim 1a, Hallwang. Haering OSB, P. Markus, Mag. theol., Dipl. Kfm., Dipl. Soz. Päd. (FH), Cellerar, Abtei Metten (Niederbayern). Haering, P. Stephan Bernhard, OSB, Dr. theol., Dr. iur. can. habil., M.A., Univ.-Prof., Ordinarius für Kirchenrecht, Klaus-Mörsdorf-Studium für Kanonistik der Ludwig-MaximiliansUniversität München, Geschwister-Scholl-Platz 1, 80539 München. Hagl OSB, Wolfgang M., Mag. theol., Abt, Abtei Metten (Niederbayern). Hahn, Judith, Dr. theol., Lic. iur. can., Juniorprofessorin, Lehrstuhl für Kirchenrecht an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Ruhr-Universität Bochum. Halbmayr, Alois, Dr., ao. Univ.-Prof., Fachbereich Systematische Theologie der KatholischTheologischen Fakultät der Universität Salzburg, Universitätsplatz 1, 5020 Salzburg. Hallermann, Heribert, Dr. theol. habil., Univ.-Prof., Inhaber des Lehrstuhls für Kirchenrecht an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Julius-Maximilians-Universität Würzburg. Hasenburger, P. Andreas, Mag., Provinzial, Ordenspriester, Leitung der Gemeinschaft der Missionare vom Kostbaren Blut in der Deutschen Provinz als Provinzial, Leiter des Exerzitienhauses Maria Hilf – Kleinholz in Kufstein, Gyllenstormstraße 8, 5026 Salzburg-Aigen. Hasenhütl, Franz, MMag., Dr., Universitätsassistent am Institut für Kanonisches Recht der Karl-Franzens-Universität Graz. Heinemann, Heribert, Dr., Universitätsprofessor an der Ruhr-Universität Bochum (em.), Bischöflicher Generalvikar von Essen (em.), Mitglied des Kathedralkapitels Essen (em.), Kollegstraße 10, 44801 Bochum. Henseler CSsR, Rudolf, Dr. iur. can., Professor für Kirchenrecht an der Philosophisch-Theologischen Hochschule SVD Sankt Augustin, Theologische Fakultät, Ordensreferent der Erzdiözese Köln, Kölnstraße 415, 53117 Bonn. Hentze, Willi, Dr. theol., Apost. Protonotar, Offizial und Dompropst im Erzbistum Paderborn, Paderborn.

XXII

Tabula gratulatoria

Hierold, Alfred E., Dr. iur. can., Lic. iur. can., Prälat, Prof. für Kirchenrecht (em.), Josephstraße 12, 96052 Bamberg. Hilger, Peter, Dr. iur. can., Prälat, Domkapitular, Offizial, Stefansberg 5, 55116 Mainz. Hillebrand, Alois, Dr. iur. can., Kapuziner, Offizial der Diözese Bozen-Brixen, Runggadgasse 23, 39042 Brixen. Hirnsperger, Johann, Mag. theol., Dr. theol., o. Univ.-Prof. für Kirchenrecht an der KatholischTheologischen Fakultät der Karl-Franzens-Universität Graz, Heinrichstraße 78 A, 8010 Graz. Hofer, Hansjörg, Mag. theol., Dr. theol., Domkapitular, Konsistorialrat, Prälat, Generalvikar der Erzdiözese Salzburg, Kapitelplatz 1, 5020 Salzburg. Hoff, Gregor Maria, Dr. theol., Univ.-Prof., Fundamentaltheologie und Ökumene an der Universität Salzburg, Obmann der Salzburger Hochschulwochen, Churfürststraße 1, 5020 Salzburg. Hopfner, Max, Dr. theol., Apost. Protonotar, Bischöflicher Offizial em., Domdekan em. des Domkapitels der Diözese Regensburg, Regensburg. Horta Espinoza, Jorge, Dr. iur. can., Professor für kanonisches Recht und Dekan der Fakultät für Kirchenrecht der Päpstlichen Universität Antonianum, Via Merulana 124, 00185 Rom. Huber, Josef, Dr. iur. can., Geistlicher Rat, Prälat-Auditor der Rota Romana (em.). Ibounig, Jakob, Dr., Kanonikus, Msgr., Offizial und Ordinariatskanzler am Diözesangericht der Diözese Gurk, Mariannengasse 2, 9020 Klagenfurt. Illmer, Simon, Ök.-Rat., Präsident des Salzburger Landtages (Büro- und Postadresse: Chiemseehof, Pf. 527, 5010 Salzburg) und Bürgermeister der Gemeinde Pfarrwerfen, Laubichl 4, 5452 Pfarrwerfen. Jäger, Ernst, Dr. theol., Consiliarius, Diözesanrichter am Bischöflichen Diözesangericht Innsbruck, Bischofsvikar für Pastorale Bildung der Diözese Innsbruck, Dekan des Dekanats Axams, Vikar im Seelsorgeraum „Westliches Mittelgebirge“ in der Diözese Innsbruck, Götzens. Jurman OSB, Elisabeth Sr. Hanna, Dr. iur., Priorin der Benediktinerinnen v.U.H.M., Steinerkirchen an der Traun. Kainberger, Maria, Dr., kirchl. Anwältin am Wiener Metropolitan- und Diözesangericht, Wien. Kalb, Herbert, DDr., Univ.-Prof., Institut für Kanonistik, Europäische Rechtsgeschichte und Religionsrecht, Vizerektor, Johannes Kepler Universität Linz, Altenbergerstraße 69, 4040 Linz. Kalde, Franz, Dr. iur. can., Univ.-Doz., Erzbischöfl. Offizialat, Domplatz 26, 33089 Paderborn. Kalista, Monika, Dr. jur., Hofrätin, Leiterin der Abteilung „Kultur Gesellschaft Generationen“ des Landes Salzburg, Franziskanergasse 5a, 5020 Salzburg. Kandler-Mayr, Elisabeth, Dr., Lic. iur. can., Ordinariatskanzler der Erzdiözese Salzburg, Kapitelplatz 2, 5020 Salzburg. Kapellari, Egon, Dr., Bischof von Graz-Seckau, Bischofsplatz 4, 8010 Graz.

Tabula gratulatoria

XXIII

Karl, Wolfram, Dr. iur., LL.M. (Cantab.), em. o. Univ.-Prof., Leiter des Österreichischen Instituts für Menschenrechte, Mönchsberg 2a, 5020 Salzburg. Katinsky, Egon, Prälat, Bischofsvikar a.D., Pfarrprovisor, Gaisbergstraße 4, 5020 Salzburg. Katzinger, Gerlinde, MMag., Dr., Hochschullehrerin, Kirchlich Pädagogische Hochschule Edith Stein, Salzburg, AHS-Lehrerin für Religion am Privatgymnasium St. Ursula in Salzburg, Salzburg. Killermann, Stefan, Dr. utr. iur., Avvocato Rotale, Domkapitular und Offizial, Bischöfliches Offizialat Eichstätt, Eichstätt. Kissela, Robert, Dr., Hofrat, Bezirkshauptmann in Tamsweg, Schwimmschulgasse 24, 5580 Tamsweg. Knittel, Reinhard, Dr. theol., Dr. iur. can., Hochschul-Professor, Offizial, Philosophisch-Theologische Hochschule St. Pölten, St. Pölten. Koci OSB, P. Paulus, Dipl.-Theol., Dipl. Soz. Päd. (FH), Kolleg St. Benedikt, 5020 Salzburg. Köck, Heribert Franz, Dr., DDr. h.c., M.C.L., em. o. Univ.-Prof., Johannes Kepler Universität Linz, Wien. Köck, Markus, Mag. (FH), Mag., Ökonom und Finanzkammerdirektor der Diözese Innsbruck. Köhler OSB, Theodor W., Dr., em. Univ.-Prof., Fachbereich Philosophie an der KatholischTheologischen Fakultät der Universität Salzburg, Franziskanergasse 1/IV, 5020 Salzburg. Koncsik, Endre, Dr., Vizeoffizial, Offizialat Würzburg, Kardinal-Döpfner-Platz 7, 97070 Würzburg. Konjecic, Erwin, MMag., DDr., Rechtsreferent, Katechetisches Amt der Erzdiözese Salzburg, Salzburg. Konvent der Ursulinen der Römischen Union, Aignerstraße 135, 5061 Salzburg. Krämer, Peter, Dr. theol., Lic. iur. can., Prof. für Kirchenrecht (em.), Memelstraße 4, 54295 Trier. Kreuzberger, Matthias, Mag., Pfarrprovisor in den Pfarren St. Michael und St. Margarethen im Lungau, Marktstraße 57, 5582 St. Michael. Kuhn, Christian, Mag., Dr., Hofrat, Diözesanrichter, Gefängnisseelsorger (eh. Präsident der Internationalen Katholischen Gefängnisseelsorgerkommission: ICCPPC, International Commission of Catholic Prison Pastoral Care), Geschäftsführender Direktor der Sozialen Gerichtshilfe, Justizanstalt Wien Josefstadt, Alserstraße 55/9, 1080 Wien. Kumpfmüller, Wolfgang, Ständiger Diakon und Journalist, Leiter des Amtes für Kommunikation und Öffentlichkeitsarbeit der Erzdiözese Salzburg, Presse-, Kommunikations- und Öffentlichkeitsarbeit sowie Homepage der Erzdiözese Salzburg, Niederthalheim (OÖ). Küng, Klaus, DDr., Diözesanbischof von St. Pölten. Laireiter, Gottfried, Mag., Dr., KR Domkapitular, Regens am Priesterseminar der Erzdiözese Salzburg, Salzburg. Landau, Michael, DDr., Kanonikus, Msgr., Caritasdirektor der Erzdiözese Wien, Albrechtskreithgasse 19 – 21, 1160 Wien.

XXIV

Tabula gratulatoria

Lauterbacher OSB, Franz, Pfarrer, Benediktiner von Michaelbeuern, Pfarrer in Mülln und Pfarrverbandsleiter PV 6, Augustinergasse 4, 5020 Salzburg. Lederhilger O. Praem, Severin, Dr. iur, Dr. iur. can., Mag. theol., Univ.-Prof., KTU Linz, Bethlehemstraße 20, 4020 Linz. Lehmann, Karl, Kardinal, Bischof von Mainz. Leitner, Gustav, Mag. theol., Pfarrer und Dechant in Westendorf, Peter Neuschmidstr. 14, 6363 Westendorf. Licklederer MSC, P. Walter, Mag., Provinzial der Süddeutsch-Österreichischen Provinz der Herz-Jesu-Missionare, Missionshaus, Salzburg-Liefering, Schönleitenstraße 1, 5020 Salzburg. Lidicky, Josef, Konsistorialrat, Finanzkammerdirektor der Erzdiözese Salzburg, Kapitelplatz 2/ III, 5020 Salzburg. Lienbacher, Georg, Dr., SC a.D., Univ.-Prof., Mitglied des Verfassungsgerichtshofs, Institut für Österreichisches und Europäisches Öffentliches Recht der Wirtschaftsuniversität Wien, Althanstraße 39, 1090 Wien. van der Linde O.Cist., Anselm, Lic. iur. can., Abt, Abtei Wettingen-Mehrerau, 6900 Bregenz. Link, Christoph, Dr. jur., Dres. theol. h.c., em. o. Univ.-Prof. an der Juristischen Fakultät der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, Rühlstraße 35, 91054 Erlangen. Loretan, Adrian, Dr. iur. can., Lic. theol., o. Univ.-Prof., Co-Direktor des Zentrums für Religionsverfassungsrecht an der Universität Luzern, Luzern. Lüdecke, Norbert, Dr. theol., Dr. habil., Lic. iur. can., Professor für Kirchenrecht, Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn, Honorarprofessor für Kirchenrecht und Staatskirchenrecht, Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main, Jufferhof 8, 53639 Königswinter. Lüdicke, Klaus, Dr. iur. can., Dipl.-Theol., Ass. iur., Univ.-Prof. (em.), Hüfferstraße 69/71, 48149 Münster. Luidold, Lucia Maria, Mag. phil., Dr. phil., Leiterin des Referats Volkskultur und Erhaltung des kulturellen Erbes, Amt der Salzburger Landesregierung, Postfach 527, 5010 Salzburg. Marböck, Johannes, Dr., em. Univ.-Prof., Wurmstraße 13, 4020 Linz. Matzneller, Josef, Lic. theol., Lic. phil., Generalvikar, Diözese Bozen-Brixen, Bozen. Max, Michael, Dr., Stadtpfarrer, Liturgiereferent der Erzdiözese Salzburg. May, Georg, Dr. theol., Lic. iur. can., o. Univ.-Prof. (em.), Apostolischer Protonotar, Fränzenbergstraße 14, 55257 Budenheim bei Mainz. Mayer, Reinhold, Mag., Hofrat, Bezirkshauptmann von Salzburg-Umgebung, Bergstraße 7, 5102 Anthering. Mayr, Gertrude, Mag. iur., Diözesanrichterin am Bischöflichen Diözesangericht Innsbruck, Innsbruck. Meckel, Thomas, Dr. theol., Akademischer Rat am Lehrstuhl für Kirchenrecht der KatholischTheologischen Fakultät der Universität Würzburg.

Tabula gratulatoria

XXV

Meier OSB, Dominicus, Dr. theol., Lic. iur. can., Prof., Abt der Benediktinerabtei Königsmünster, 59872 Meschede. Mick, Walter, Dr. theol., Domkapitular, Ordinariatskanzler, Wollzeile 2, 1010 Wien. Mödlhammer, Helmut, Bürgermeister der Gemeinde Hallwang, Präsident des Salzburger Gemeindeverbandes, Präsident des Österreichischen Gemeindebundes, Wiener Bundesstraße 63, 5300 Hallwang. Mödlhammer, Johann Werner, Dr. theol., Lic. phil., em. o. Univ.-Prof., Oberndorf bei Salzburg. Mosler-Törnström, Gudrun, BSc, Zweite Landtagspräsidentin des Salzburger Landtages, Chiemseegasse 6, 5010 Salzburg. Müller, Ludger, Dr. theol., Dr. iur. can. habil., M.A., Univ.-Prof., Vorstand des Instituts für Kanonisches Recht an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien, Konsultor des Päpstlichen Rates für die Gesetzestexte, Schenkenstraße 8 – 10, 1010 Wien. Muser, Ivo, Dr. theol., Bischof der Diözese Bozen-Brixen, Bozen. Mussinghoff, Heinrich, Dr. theol., Bischof von Aachen, Aachen. Nauthe, Norbert, Kan., GR, Mag., Pfarrer in Straßwalchen. Neisser, Heinrich, Dr., Univ.-Prof., em. Jean Monnet-Prof., Institut für Politikwissenschaft an der Universität Innsbruck, Pokornygasse 13, 1190 Wien. Neureiter, Georg, Msgr., Stadtpfarrer, Lexengasse 1, 5020 Salzburg. Neureiter, Michael, Mag. theol., Mag. phil., Zweiter Landtagspräsident a.D., Turmuhrmacher, Präsident der Stille-Nacht-Gesellschaft, Vorsitzender der Dr. Hans Lechner-Forschungsgesellschaft u. a., Bad Vigaun. Ohly, Christoph, Dr. theol., Lic. iur. can., Professor für Kirchenrecht an der Theologischen Fakultät Trier, Nordallee 10, 54292 Trier. Ortner, Franz, DDr., Univ.-Doz. i.R., Siedlungsweg 177, 5424 Bad Vigaun. Ötker, Martin, Lic. iur. can., Lic. theol., Dipl.-Theol., Ehebandverteidiger, Bischöfliches Diözesangericht Chur, Hirchengraben 66, 8001 Zürich. Ozankom, Claude, Dr., Dr., Prof., Dekan der Katholisch-Theologischen Fakultät Bonn, Institut für Fundamentaltheologie, Religionsphilosophie und Theologie der Religionen, ReginaPacis-Weg 1, 53012 Bonn. Pacik, Rudolf, Mag. art., Dr. theol., Univ.-Prof. für Liturgiewissenschaft, Fachbereich Praktische Theologie an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Salzburg, Universitätsplatz 1, 5020 Salzburg. Padinger, Franz, Dr., Geistlicher Assistent der Katholischen Aktion der Erzdiözese Salzburg, Domkapitular, Salzburg. Paus OSB, Ansgar, Dr. phil., em. Univ.-Prof., Salzburg. Perkmann OSB, Johannes, Mag. theol., Dipl. Soz. Päd. (FH), Abt, Benediktinerabtei Michaelbeuern. Pfab MSC, P. Franz, Triebenbachstraße 26, Pfarrzentrum St. Martin, 5020 Salzburg.

XXVI

Tabula gratulatoria

Pfannkuche, Sabrina, wiss. Mitarbeiterin, Seminar für Kirchenrecht, Kirchliche Rechtsgeschichte und Staatskirchenrecht, Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Platen, Peter, Dr., Prof., Abteilung Kirchliches Recht des Bischöflichen Ordinariats Limburg, Katholisch-Theologische Fakultät der Universität Münster i. W., Roßmarkt 4, 65549 Limburg. Pöttler, Ernst, Stadtpfarrer, Pfarramt Salzburg-Itzling, Kirchenstraße 22a, 5020 Salzburg. Potz, Richard, Dr., o. Univ.-Prof., Vorstand des Instituts für Rechtsphilosophie, Religions- und Kulturrecht an der Rechtswissenschaftliche Fakultät der Universität Wien, Schenkenstraße 8 – 10, 1010 Wien. Pree, Helmuth, Mag. theol., Dr. iur., Dr. iur. can., Professor für Kirchenrecht (Lehrstuhl für Kirchenrecht, insbes. für Theologische Grundlegung des Kirchenrechts, allgemeine Normen und Verfassungsrecht sowie orientalisches Kirchenrecht) am Klaus-Mörsdorf-Studium für Kanonistik der Ludwig-Maximilians-Universität, Geschwister-Scholl-Platz 1, 80539 München. Primetshofer CSsR, P. Bruno, Dr. iur. can., Dr. theol. h.c., em. Ordinarius für Kirchenrecht an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien, Salvatorgasse 12, 1010 Wien. Pucher, Ernst, Mag. theol., Dr. iur., Lic. iur. can., Apostolischer Protonotar, Dompropst und Offizial der Erzdiözese Wien, Stephansplatz 5, 1010 Wien. Pühringer, Josef, Dr. jur., Landeshauptmann von Oberösterreich, Landhaus Linz, Traun. Pulte, Matthias, Dr. phil. habil., Lic. iur. can., Dipl.-Theol., Diakon, Univ.-Prof., Seminar für Kirchenrecht, Kirchliche Rechtsgeschichte und Staatskirchenrecht, FB 01 an der KatholischTheologischen Fakultät der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Putz, Gertraud, Dr., Ass.-Prof., Christliche Gesellschaftslehre der Universität Salzburg. R‚bek, Frantisˇek, Militärbischof der Slowakei, Ordinari‚t N‚m. 4 Apr†la 18, 90033 Marianka, Slowakei. Raffl, Sr. Hildegard, Gerenaloberin der Eucharistieschwestern (CSSE) in Salzburg, Kloster Herrnau, Friedensstraße 5, 5020 Salzburg. Rambacher, Stefan, Dr. theol., Lic. iur. can., Domkapitular, Offizial der Diözese Würzburg, Vorsitzender der deutschsprachigen Offizialenkonferenz, Würzburg. Rasquin, Walter, Dr. iur. utr., Dipl.-Theol., Lic. iur. can., Msgr., Vizeoffizial am Erzbischöflichen Offizialat Köln, Bergisch Gladbach. Reber, Urs, Dr. iur. utr., Prof., Zürich. Rees, Wilhelm, Dr. theol. habil., o. Univ.-Prof. für Kirchenrecht am Institut für Praktische Theologie der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Innsbruck, Karl-RahnerPlatz 1, 6020 Innsbruck. Rehak, Martin, Dr. iur. can., Dipl.-Theol., Ass. iur., München. Reisinger, Ferdinand, MMag., Dr., em. Univ.-Prof., KTU Linz, Chorherr des Stiftes St. Florian, Pfarrer von Hargelsberg. Reiterer, Friedrich Vinzenz, Mag., Mag., Dr., Univ.-Prof., Fachbereich Bibelwissenschaft und Kirchengeschichte an der Universität Salzburg, Churfürststraße 1, 5020 Salzburg.

Tabula gratulatoria

XXVII

Rinnerthaler, Alfred, Dr., ao. Univ.-Prof., Rechts- und Sozialgeschichte/Religionsrecht im Fachbereich Sozial- und Wirtschaftswissenschaften, Universität Salzburg, Churfürststraße 1, 5020 Salzburg. Rupprechter, Josef, Mag. theol., Konsistorialrat, Direktor des Katechetischen Amtes der Erzdiözese Salzburg, Henndorf am Wallersee. Sagmeister, Raimund, Mag., Dr. theol., Prof., Rektor des Katechetischen Amtes der Erzdiözese Salzburg, Anif. Saje, Andrej, Dr. iur can., Dozent an der Theologischen Fakultät der Universität Ljubljana, Lehrstuhl für Kirchenrecht, Generalsekretär der Slowenischen Bischofskonferenz, Dolnic´arjev 4, 1000 Ljubljana. Salzl, Johannes, Mag., Dr., LLic., Msgr., Offizial und Pfarrer, Gerichtsvikar der Diözese Eisenstadt, St. Rochus-Straße 21, 7000 Eisenstadt. Sauerwein, Erich, Dr. iur. can., Prälat, Offizial des Bischöflichen Diözesangerichts Innsbruck, Bischofsvikar für Eheangelegenheiten der Diözese Innsbruck, Pfarrer von Ranggen, Innsbruck. Scharl, Franz, Mag., Dr., Weihbischof der Erzdiözese Wien, Stephansplatz 6/III/6/628, 1010 Wien. Scheuer, Manfred, Dr., Bischof der Diözese Innsbruck, Domplatz 5, 6020 Innsbruck. Scheulen, Roland, Dr. theol., Lic. iur. can., Pfarrer, Diözesanrichter und Ehebandverteidiger am Bischöflichen Offizialat Aachen, Kirchplatz 2, 47929 Grefrath-Oedt. Schick, Ludwig, Dr. iur.can., Prof., Erzbischof von Bamberg. Schinkele, Brigitte, Dr., Hon.-Prof., Institut für Rechtsphilosophie, Religions- und Kulturrecht an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät Wien, Schenkenstraße 8 – 10, 1010 Wien Schleinzer O.Cist., Friedrich, Dr., o. Univ.-Prof., Fachbereich Praktische Theologie, Universitätsplatz 1, 5020 Salzburg. Schmid, Peter, Dr. theol., Lic. iur. can., Offizial der Diözese Basel, Domdekan, 4500 Solothurn. Schmitz, Heribert, Dr. iur. can., Prof., em. Ordinarius für Kirchenrecht, insbesondere Verwaltungsrecht sowie Kirchliche Rechtsgeschichte am Klaus-Mörsdorf-Studium für Kanonistik, Katholisch-Theologische Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität München, Harthausener Straße 6, Ortsteil Neukeferloh, 85630 Grasbrunn. Schmoller, Kurt, Dr., Univ.-Prof., Institut für Strafrecht, Kapitelgasse 5 – 7, 5020 Salzburg. Schnaiter, Sr. Maria Josefa vom Hlgst. Herzen Jesu, mit dem Konvent der Kapuzinerinnen von der Ewigen Anbetung, Oberin, Kloster St. Maria Loreto, Paris-Lodron-Straße 6, 5020 Salzburg. Schöch, Nikolaus OFM, Mag. theol., Dr. iur. can., Univ.-Doz., Zweiter Kirchenanwalt am Höchstgericht der Apostolischen Signatur, Professor an der Fakultät für Kanonisches Recht der Päpstlichen Universität Antonianum im Rom, Dozent für Kirchenrecht an der Theologischen Fakultät der Universität Salzburg, Konsultor an der Kongregation für den Klerus, Anwalt der Römischen Rota, Kommissar für die Auflösung der nichtvollzogenen Ehen an der Kongregation für den Gottesdienst und die Disziplin der Sakramente.

XXVIII

Tabula gratulatoria

Schönborn OP, Christoph, Kardinal, Dr., Erzbischof von Wien, Vorsitzender der Österreichischen Bischofskonferenz. Schuster, Manfred G., Lic. iur. can., Mag., Gerichtsvikar, Diözesangericht Graz-Seckau, Bürgergasse 2, 8010 Graz. Schwaighofer, Johann, Mag., Pfarrer in Wals und Dechant des Dekanates Bergheim, Hauptstraße 1, 5071 Wals. Schwarz, Karl W., Dr. theol., Dr. phil. h.c., tit. Univ.-Prof., Ministerialrat im Kultusamt des Bundesministeriums für Unterricht, Kunst und Kultur, Professor für Kirchen- und Staatskirchenrecht an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien, Gastprofessor an der Comenius-Universität Bratislava, Leiter des Instituts für Kirchengeschichte des Donau- und Karpatenraumes, Wien. Schwarz, Ludwig, Dr., Bischof der Diözese Linz, Herrenstraße 19, Postfach 251, 4010 Linz. Schwendenwein, Hugo, DDr., em. Univ.-Prof., Apostolischer Protonotar, Plüddemanngasse 16/ 18, 8010 Graz. Sedmak, Clemens, Prof., DDDr., King’s College London und Internationales Forschungszentrum Salzburg, Salzburg. Seitz, Alexander, Dipl.-Theol., wiss. Mitarbeiter der Professur für Kirchenrecht und Kirchliche Rechtsgeschichte, Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt, Eichstätt. Selge, Karl-Heinz, Dr. theol., Lic. iur. can., PD, Offizialatsrat, Richter, Erzbischöfliches Offizialat Paderborn, Paderborn. Spindelböck, Josef, Dr. theol. habil., Hochschulprofessor für Moraltheologie an der Philosophisch-Theologischen Hochschule der Diözese St. Pölten. Stamm, Heinz-Meinolf, Dr. iur. can., em. Prof., Vizeoffizial des Erzbistums Paderborn, Paderborn. Stecher, Reinhold, Dr., Altbischof der Diözese Innsbruck, Lärchenstraße 39a, 6064 Rum. Steidl, Hermann, Dr. iur. can., Prälat, Bischofsvikar für Orden und spirituelle Bewegungen, Vizeoffizial der Diözese Innsbruck, Rennweg 40, 6020 Innsbruck. Steiner MSC, P. Andreas, Mag. theol., Konsistorialrat, Superior des Missionshauses der HerzJesu-Missionare in Salzburg-Liefering, Schönleitenstraße 1, 5020 Salzburg. Stolzlechner, Harald, Dr., o. Univ.-Prof., Leiter des Fachbereichs Öffentliches Recht, Institut für Verfassungs- und Verwaltungsrecht der Universität Salzburg, Kapitelgasse 5 – 7, 5020 Salzburg. Thissen, Werner, Dr., Erzbischof von Hamburg. Turnovszky, Stephan, Dipl.-Ing., Mag., Weihbischof und Bischofsvikar für die Begleitung der Priester in der Erzdiözese Wien, Stephansplatz 6, 1010 Wien. Unger, Felix, Dr., Dr. h.c., Univ.-Prof., Präsident, Europäische Akademie der Wissenschaften und Künste, St.-Peter-Bezirk 10, 5020 Salzburg. Vavrovsky, Hans-Walter, Mag., Dr., Domdechant und Prälat, Rektor von St. Virgil, Salzburg und Präses des Metropolitankapitels, Kapitelplatz, Salzburg.

Tabula gratulatoria

XXIX

Viana, Antonio, Dr., Dr., Prof., Universidad de Navarra, Facultad de Derecho Canýnico, Pamplona. Viehhauser, Gerhard, Dr., Pfarrer in St. Blasius/Loretto Gemeinschaft und Spiritual im Priesterseminar der Erzdiözese Salzburg, Bürgerspitalgasse 2, 5020 Salzburg. Wächter, Lothar, Dr. iur. can., Lic. iur. can., Dipl.-Theol., Päpstlicher Ehrenprälat, Domkapitular, o. Prof. für Kirchenrecht an der Theologischen Fakultät Fulda, Offizial der Diözese Fulda, Leiter der Stabsstelle Kirchenrecht im Bischöflichen Generalvikariat Fulda, Domdechanei 11, 36037 Fulda. Wagner, Josef, KR, Pfarrer von Bad Hofgastein, Röm.-Kath. Pfarramt Bad Hofgastein, Pfarrgasse 6, 5630 Bad Hofgastein. Walser, Markus, Dr. iur. can., Lic. theol., Prälat, Generalvikar und Gerichtsvikar des Erzbistums Vaduz, Diözesanrichter des Bistums Chur, Dozent für Kirchenrecht an der Theologischen Hochschule Chur, Fürst-Franz-Josef-Straße 112, 9490 Vaduz. Walter, Gudrun, MMag., Dr., Bakk., LL.M., Kanzlerin der Diözese Innsbruck, Leiterin der Abt. Recht & Liegenschaftsverwaltung, Hall. Weber, Johann, Dr. h. c., Altbischof der Diözese Graz-Seckau, Graz. Weber, Josef, Dr. theol., Richter am Diözesan- und Metropolitangericht Bamberg, Pettstadt. Webhofer, Peter, Dr. mus. sacr., Msgr., Diözesanrichter am Bischöflichen Diözesangericht Innsbruck, Innsbruck. Weikinger, Franz, KR, Pfarrer i. R., 5350 Strobl 88. Weingartner, Paul, Dr., Dr. h. c., Univ.-Prof. em., Institut für Philosophie der Universität Salzburg, 5321 Koppl. Weishaupt, Gero P., Dr. iur. can., Offizial des Bistums Ïs-Hertogenbosch, Diözesanrichter im Bistum Roermond, Dozent für Kirchenrecht, Sittard. Weiß, Andreas, Dr. theol. habil, Dr. iur. can., Prof., Diakon, Kirchenrecht und Kirchliche Rechtsgeschichte an der Theologischen Fakultät der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt, Vorsitzender Richter am Bischöflichen Offizialat Rottenburg, Mitglied des Disziplinargerichts der Diözese Rottenburg-Stuttgart, P.-Philipp-Jeningen-Platz 6, 85072 Eichstätt. Weiß, Andreas M., Dr., Ass.-Prof., FB Praktische Theologie, Fach Moraltheologie, Universität Salzburg, Universitätsplatz 1, 5020 Salzburg. Werner, Christian, Mag., Militärbischof für Österreich, Bräunerstraße 3/1, 1010 Wien. Wieser, Josef, Msgr., Diözesanrichter am Bischöflichen Diözesangericht Innsbruck, Olang. Wijlens, Myriam, Dr., Prof., Lehrstuhl für Kirchenrecht, Katholisch-Theologische Fakultät, Universität Erfurt, Nordhäuser Straße 63, 99089 Erfurt. Winkler O.Cist., Gerhard Bernhard, Dr. theol., Dr. phil., M.A., o. Univ.-Prof. em. (Salzburg), Linzerstraße 4, 4073 Wilhering (Stift). Winkler, Ulrich, Dr., ao. Univ.-Prof., Fachbereich Systematische Theologie, Zentrum Theologie Interkulturell und Studium der Religionen (stv. Leiter), Universitätsplatz 1, 5020 Salzburg.

XXX

Tabula gratulatoria

Witsch, Norbert, Dr. theol., PD, Referat für Hochschulen und Grundsatzfragen im Bistum Mainz, Bischofsplatz 2, 55116 Mainz. Wolbert, Werner, Dr., Dr. h. c., Univ.-Prof., Universitätsprofessor für Moraltheologie an der Universität Salzburg, Hallwang. Wolfram, Herwig, Dr., em. o. Univ.-Prof., em. Direktor des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung an der Universität Wien, Sommeregg 13, 5301 Eugendorf bei Salzburg. Wöste, Karl, Dr., Offizial, Prälat, Bischöfliches Offizialat der Diözesen Hamburg und Osnabrück. Zallinger, Karl, DSA Mag., Geschäftsführer im Kolpinghaus Salzburg, Präsident der AKVS, Kolpingsfamilie Salzburg Zentral, Salzburg. Zell, Irmgard, Dr. phil., Lehrerin i. R., Borromäumstraße 17, 5020 Salzburg. Zeller, Klaus, Mag. theol., Dr. iur. can., wiss. Mitarbeiter, stv. Vorstand des Instituts für Kanonisches Recht an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien, Schenkenstraße 8 – 10, 1010 Wien. Zotz, Bertram, Dr. theol., Lic. iur. can., Leiter der Gerichtskanzlei und Diözesanrichter am Bischöflichen Diözesangericht Innsbruck, Bischöflicher Notar im Bischöflichen Eheamt Innsbruck, Innsbruck.

Inhaltsverzeichnis

I. Geschichte und Rechtsgeschichte Anna Egler Der Propst in nichtinkorporierten Klöstern der Zisterzienserinnen . . . . . . . . . .

3

Gerlinde Katzinger Streiflichter auf dem Weg zur Entwicklung eines kirchlichen Medienrechts . .

25

Norbert Witsch System der kirchlichen Freiheit. Zur Bestimmung des Verhältnisses von Kirche und Staat durch Clemens August von Droste-Hülshoff . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

67

Alfred Rinnerthaler Diözese und Erzdiözese nach dem endgültigen Anfall Salzburgs an Österreich

85

Dieter A. Binder 1918 und der politische Katholizismus. Ein Fresko in Schwarz? . . . . . . . . . . .

127

Nikolaus Schöch Die Überprüfung der endgültigen Urteile im Ehenichtigkeitsprozess und der Dispensreskripte von der geschlossenen, aber nicht vollzogenen Ehe gemäß Art. VII, § 4 des österreichischen Konkordats durch den Obersten Gerichtshof der Apostolischen Signatur in der Zeit vom 1. Mai 1934 bis zum 31. Juli 1938

149

P¦ter Erdo˝ Il problema della sede vacante. Sfide giuridico-canoniche allÏinizio degli anni 1950 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

183

Martin Rehak Erzbischof Andreas Rohracher (1892 – 1976) als Kanonist und Konzilsvater. Ein Streifzug durch gedruckte und ungedruckte Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . .

203

II. Katholische Theologie Libero Gerosa Schutz der Menschenrechte und Volksidentität im Lehramt von Papst Johannes Paul II. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

245

XXXII

Inhaltsverzeichnis

Adrian Loretan Menschenrechte in der Kirche – ein Schutz vor Machtmissbrauch . . . . . . . . . .

263

Gertraud Putz Handeln für die Zukunft der Schöpfung – Eine Herausforderung für Kirche, Staat und Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

285

Wilhelm Rees Römisch-katholische Kirche und Bewahrung der Schöpfung. Kirchenrechtliche Impulse und konkrete Umsetzung mit einem besonderen Blick auf die Erzdiözese Salzburg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

299

Friedrich Schleinzer Seelsorge zwischen Grundsatztreue und Wunschkonzert. Zum Spannungsfeld von Gemeindetheologie und priesterzentrierter Sonderpastoral . . . . . . . . . . . . .

339

Anton A. Bucher Brauchtum: Psychologische und pädagogische Skizzen . . . . . . . . . . . . . . . . . .

349

Rudolf Pacik Einrichtung von Kirche und Altarraum in den Vor-Fassungen der Liturgiekonstitution . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

357

Andreas M. Weiß Abwägung im Tötungsverbot? Zur Kontroverse um die Forschung an überzähligen Embryonen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

387

III. Kanonisches Recht Ernst Pucher Ars regendi und CIC/1983. Gedanken zur Ausübung der Leitungsgewalt in der Kirche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

405

Franz Kalde Das fortgeschrittenere Alter (aetas provectior) der Pfarrhaushälterin. Ein unbestimmter, aber höflicher Rechtsbegriff als Eignungskriterium . . . . . . . . . . . .

415

Peter Boekholt Der (Laien-)Dienst des Lektors und Akolythen (c. 230 CIC/1983) als besondere Ausgestaltung des allgemeinen Priestertums. Bestandsaufnahme – Fragen – Perspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

431

Dominicus M. Meier Der Beauftragte des Bischofs für die movimenti – ein (weiteres) neues Amt in der diözesanen Kurie? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

453

Inhaltsverzeichnis

XXXIII

Johann Hirnsperger Das Domkapitel von Brixen – eine Einrichtung im Dienst priesterlicher Lebensführung und Seelsorge an der Domkirche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

473

Rüdiger Althaus Pastorale Neuordnungen und mittlere Ebene. Kanonistische Schlaglichter . . . .

497

Heribert Hallermann Die rechtliche Vertretung der Pfarrei durch den Pfarrer. Kanonistische Erwägungen aufgrund gewandelter Verhältnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

521

Thomas A. Amann Die Beichtbefugnis. Eine erneute Anfrage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

537

Christoph Ohly Omnium in mentem. Ein notwendiger Schritt zur Klärung von Wesen und Sendung des Diakons? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

561

Matthias Pulte Repraesentatio in persona Christi serviens. Kanonistische Überlegungen zu den ordinationsrechtlichen Weichenstellungen für Diakone im Motu proprio „Omnium in mentem“, im nachsynodalen apostolischen Schreiben „Verbum Domini“ Benedikts XVI. und in der Instruktion „Universae Ecclesiae“ der Kommission Ecclesia Dei . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

579

Elisabeth Kandler-Mayr Friedhof – Recht und Ordnung. Kanonistische Erwägungen zu aktuellen Fragen des Friedhofsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

603

Klaus Lüdicke Kirchliches Strafrecht und sexueller Missbrauch Minderjähriger. Eine Problemanzeige . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

619

Peter Platen Perspektiven für eine Reform des kirchlichen Strafrechts mit besonderem Blick auf den sexuellen Missbrauch Minderjähriger durch Geistliche . . . . . . . . . . . .

639

Ludger Müller Der Anwalt im kanonischen Prozess zwischen Einzelinteresse der Partei und öffentlichem Interesse der Kirche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

657

Alfred E. Hierold Die Arbeitsgerichtsbarkeit der Katholischen Kirche in der Bundesrepublik Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

671

XXXIV

Inhaltsverzeichnis

IV. Theologie und Recht der Ehe Werner Wolbert „Der Bruder oder die Schwester ist nicht versklavt“ (1 Kor 7,15). Rezeptionsgeschichtliche, ethische und kanonistische Aspekte zu 1 Kor 7 . . . . . . . . . . . .

683

Heinz-Meinolf Stamm Das Ehehindernis der Blutsverwandtschaft in der Urversion des Decretum Gratiani (Mitte 12. Jh.) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

695

Severin J. Lederhilger Die unauffällige Eheunfähigkeit. Nichtigkeit der Ehe auf Grund einer passivaggressiven Persönlichkeitsstörung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

719

Hugo Schwendenwein Das Ehehindernis der öffentlichen Ehrbarkeit und die Zivilehe. Anmerkungen zum Text des c. 1093 CIC . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

739

Karl-Heinz Selge Sich der Wahrheit über sich selbst und über die eigene menschliche und christliche Berufung zur Ehe stellen. Kanonische Eheverfahren und ihr Wert für die Ehevorbereitung ¢ Überlegungen im Anschluss an die Ansprache von Papst Benedikt XVI. an die Römische Rota vom 22. Januar 2011 . . . . . . . . . . . . . . .

759

Myriam Wijlens Krankenseelsorge in konfessionsverbindenden Ehen. Eine ekklesiologisch-kirchenrechtliche Betrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

781

V. Evangelische Kirche Harald Baumgartner Die Kirchenleitung der Evangelischen Kirche in Österreich . . . . . . . . . . . . . . .

803

Karl W. Schwarz Das josefinische Toleranzpatent und seine Bedeutung für die evangelische Minderheit in Slowenien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

819

VI. Staat, Gesellschaft und weltliches Recht Karl W. Edtstadler Demokratie und Bildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

839

Johann Bair Religionsfreiheit im Licht der Arbeit der „Österreichischen Grundrechtskommission“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

853

Inhaltsverzeichnis

XXXV

Herbert Kalb Das Grundrecht auf Gewissensfreiheit – Konturierung, Chancen . . . . . . . . . . .

867

Andreas Weiß Im Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen. Überlegungen zum Gottesbezug und zur Menschenwürde im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland und in der Rechtsordnung der Europäischen Union

883

Felix Bernard Der Gottesbezug in der Niedersächsischen Verfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

903

Georg Lienbacher Gesetzliche Anerkennung als Religionsgesellschaft ohne Erwerb der Rechtspersönlichkeit nach Bekenntnisgemeinschaftengesetz? . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

913

Richard Potz Islamische Theologie an der Universität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

929

Georg May Anzeige und Anzeigepflicht bei Missbrauchsfällen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

951

Kurt Schmoller Grenzen der rechtlichen Erlaubnis zum Schwangerschaftsabbruch . . . . . . . . . .

975

VII. Kirche und Staat Burkhard Berkmann Die Europäische Union und die Kirchen: Zwei Formen des Dialogs und deren Entwicklungsmöglichkeiten im Vergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

999

Heinrich Neisser Säkularisierung im Lichte der europäischen Integration . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1017 Heribert Franz Köck Die Grundrechte im Spannungsfeld von Kirche und Staat – „Unterbelichtete“ Aspekte des Problems . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1035 Peter Krämer Die Leugnung des Holocaust im Spannungsfeld zwischen der kirchlichen und der staatlichen Rechtsordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1055 Helmuth Pree Zur Anwendbarkeit des Unternehmensgesetzbuches (UGB) auf kirchliche Rechtsträger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1067

XXXVI

Inhaltsverzeichnis

Andrej Saje Die Finanzierung der Katholischen Kirche in Slowenien – staatliche Unterstützung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1083 Brigitte Schinkele Kirchenmitgliedschaft, Kirchenaustritt und europäisches Antidiskriminierungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1099 Stephan Haering Der Kirchenaustritt vor dem Staat und seine Konsequenzen im staatlichen und im kirchlichen Bereich. Zur Rechtslage in Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1119 *** Stephan Haering und Gerlinde Katzinger Bibliographie Hans Paarhammer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1141 Verzeichnis der Mitarbeiter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1165 *** In diesem Band verwendete Abkîrzungen und Siglen folgen dem Verzeichnis in: Handbuch des katholischen Kirchenrechts, 2., grundlegend neubearb. Aufl., hrsg. von Joseph Listl und Heribert Schmitz, Regensburg 1999, S. XXIII – LII. Außerdem: LKStKR Lexikon fîr Kirchen- und Staatskirchenrecht ©ARR ©sterreichisches Archiv fîr Recht und Religion

I. Geschichte und Rechtsgeschichte

Der Propst in nichtinkorporierten Klöstern der Zisterzienserinnen Von Anna Egler I. Einleitung Die Klöster der Zisterzienserinnen, ob dem Orden inkorporiert oder nicht, bedurften für die Wahrnehmung ihrer Interessen im äußeren Bereich, vor allem für die Ökonomie, einer nicht an die Klausur gebundenen Person. Die Bestimmung des Generalkapitels der Zisterzienser von 1267, das eine begriffliche Klärung brachte, lässt erkennen, dass die Einsetzung eines Verwalters, zunächst als „praepositus“ bezeichnet, in inkorporierten Nonnenkonventen gängige Praxis war.1 Auch die nichtinkorporierten Kommunitäten bedurften wegen der Beachtung der Klausur einer solchen Person. Die hier vorgestellten eichsfeldischen Klöster Anrode, Beuren und Teistungenburg2, die dem Orden nicht inkorporiert waren, hatten während der rund sechs Jahrhunderte ihres Bestehens in der Regel einen Propst. Denn die Nonnen sahen die Institution eines Verwalters als nützlich und hilfreich an; sie war auch von ihnen gewünscht, selbst wenn Meinungsverschiedenheiten bezüglich der Eignung der jeweiligen Person und des Vorganges der Besetzung mit der zuständigen Autorität entstanden oder mit Amtsinhabern Querelen und Friktionen auftraten. Wie selbstverständlich eine Propstei zum vollständigen Gebilde einer Frauenzisterze gehörte, beweist die Tatsache, dass Konrad von Bodenstein erster Propst seiner Gründung Beuren wurde (bezeugt ab 1201) und 1238 der Familie Bodenstein künftig eine Besetzung der Propstei, die ohne Konflikte von statten gehen sollte, zweifelsfrei war.3 Fraglos war diese Institution auch dem Erzbischof und Kurfürsten von Mainz, dem geistlichen und weltlichen Oberen des Eichsfeldes. Daher ordnete er 1269 in der 1 Joseph Marie Canivez, Statuta Capitulorum Generalium Ordinis Cisterciensis ab anno 1116 ad annum 1786, Tom. III: ab anno 1262 ad annum 1400, Louvain 1935, S. 49, Nr. 10. Mit den Trägern der Verwaltung „in temporalibus“ befassten sich auch die Generalkapitel der Jahre 1321 und 1390 (ebd., S. 355, Nr. 11 und 12). 2 Zu den Klöstern insgesamt: Anna Egler, Anrode, in: Bayerische Benediktinerakademie (Hrsg.), Die Mönchs- und Nonnenklöster der Zisterzienser in Hessen und Thüringen (Germania Benedictina IV), St. Ottilien 2011, S. 62 – 112; dies., Beuren, in: ebd., S. 225 – 265; dies., Teistungenburg, in: ebd., S. 1454 – 1496. – In jedem Beitrag Angaben der ungedruckten und gedruckten Quellen sowie der Literatur (bis ca. 2010). 3 Urkundenbuch des Eichsfeldes, T.1 (Anfang saec. IX bis 1300), bearb. von Aloys Schmidt (Geschichtsquellen der Provinz Sachsen und des Freistaates Anhalt, Neue Reihe 13), Magdeburg 1933, S. 155 – 157, Nr. 271, hier S. 156. – Zit.: UB Eichsfeld.

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Anna Egler

Konfirmationsurkunde für Anrode sowohl die Wahl eines Propstes wie die einer Äbtissin oder Magistra an.4 II. Zum Begriff „praepositus – Propst“ 1. Allgemein Mit „praepositus“ wurden Funktionsträger sowohl in verschiedenen weltlichen wie geistlichen Bereichen bezeichnet.5 Innerhalb der Kirche war der Praepositus als Erster/Oberer eine wichtige Figur sowohl im Ordenswesen wie in den Stiftsund Domkapiteln. Seine Stellung und damit die Inhalte seiner Tätigkeit durchliefen eine Entwicklung. Im abendländischen Mönchtum wurde der Begriff für den Oberen einer Kommunität mit schwankenden Varianten verwendet, bis sich die Bezeichnung „abbas“ für den Erstverantwortlichen durchsetzte. In der Regel Benedikts ist der Abt die erste Autorität, der „praepositus“ sein Stellvertreter (cap. 64; cap. 65: praepositus, übers. „Prior“).6 Allerdings konnte im Benediktinerorden auch der Vorsteher einer Gemeinschaft, die noch nicht die Vollform einer Abtei erreicht hatte und in Abhängigkeit von einem Mutterkloster stand, als Prior oder Propst bezeichnet werden.7 In den norddeutschen Benediktinerinnenklöstern wurde seit dem 12. Jahrhundert der Propst deren eigentlicher Leiter. Als Folge dieser Entwicklung ging das Amt der Äbtissin mancherorts unter. Der Priorin fielen nun die Interna zu, während der Propst als 4

UB Eichsfeld (Anm. 3), S. 305 – 306, Nr. 500; Eduard Ausfeld, Regesten zur Geschichte des Klosters Anrode bei Mühlhausen i. Thür. (1262 – 1735), in: Mühlhäuser Geschichtsblätter 7, 1906/1907, S. 1 – 74, hier S. 8 – 9, Nr. 3; Nikolaus Görich, Geschichte des eichsfeldischen ehemaligen Zisterzienserinnenklosters Anrode, 9 Bildbeil., 2 Lagepläne, Duderstadt 1932, ND Bickenriede 1996, S. 186 – 187 VI. Vgl. Liborius Goldmann, Kloster Anrode, in: Unser Eichsfeld 7, 1912, S. 214 – 228, hier S. 217; Bernhard Opfermann (†), Das Zisterzienserinnenkloster Anrode (ca. 1260 – 1810), in: ders. (†), Die Klöster des Eichsfeldes in ihrer Geschichte. Die Ergebnisse der Forschung, 3. bearb. u. erw. Aufl., bearb. u. insbes. zur Nachsäkularisationszeit ergänzt von Thomas T. Müller und Gerhard Müller, Heiligenstadt 1998, S. 144 – 165, hier S. 144. 5 Vgl. Thesaurus Linguae Latinae X, 2, Berlin/New York/Leipzig/Stuttgart/München 1980 – 2009, Sp. 774 – 778; Charles du Fresne Du Cange, Glossarium mediae et infimae latinitatis VI, ed. nova, Graz 1954, S. 462 – 466; Günter Rauch, Propst, in: HRG III, Berlin 1984, Sp. 2036 – 2039. 6 Albert de Vogü¦, La communaut¦ et lÏabb¦ dans la rÀgle de Saint Beno„t. Pr¦face du R. P. Louis Bouyer. Ouvrage publi¦ avec le concours du Centre National de la recherche scientifique (Textes et Etudes th¦ologiques), Bruge 1961, passim, hier S. 388 – 389; ders., Propst, in: LexMA VII, Sp. 264. 7 Z.B. die Tochtergründung Fuldas, die Propstei Großburschla (Georg Kohlstedt, Die Benediktinerpropstei und das spätere Kollegiatstift Großburschla an der Werra [9. Jahrhundert bis 1650] [Studien zur Katholischen Bistums- und Klostergeschichte Bd. 9], Leipzig 1965, passim, hier S. 24; Otto Dobenecker, Regesta diplomatica necnon epistolarum historiae Thuringiae, I: c. 500 – 1152, Stuttgart 1896, ND Vaduz 1986, S. 263 – 264, Nr. 1260) und das Kloster Maria Dalen in Mainz (Brigitte Flug, Mainz, Dalen, in: Bayerische Benediktinerakademie (Hrsg.), Die Männer- und Frauenklöster der Benediktiner in Rheinland-Pfalz und Saarland [Germania Benedictina IX], St. Ottilien 1999, S. 426 – 444, hier S. 427 – 432).

Der Propst in nichtinkorporierten Klöstern der Zisterzienserinnen

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eigentlicher Vorsteher des Klosters die Externa wahrnahm.8 In den Dom- und Stiftskapiteln stand ein „Propst“ der Körperschaft vor. Jedoch verengte sich sein Pflichtenkreis im Laufe der Geschichte auf die Verwaltung der Temporalien als vorrangige Aufgabe.9 In Kanonissenstiften hieß die Stellvertreterin der Äbtissin „praeposita“; ihr oblag vor allem die innere Aufsicht der Kommunität. Verantwortung trug sie auch für die Verwaltung der besonderen Besitzungen des Stiftes.10 2. Bei den Zisterzienserinnen Der Begriff „praepositus“ scheint bei den Zisterzienserinnen zunächst die übliche Bezeichnung für den Verwalter (provisor) gewesen zu sein, denn die Bestimmung des Generalkapitels von 1267 spielte auf eine bestehende Gewohnheit im Sprachgebrauch an (consueverunt appellare), der künftig ausgeschlossen ist. Für die dem Orden inkorporierten Nonnenklöster legte es fest: „Item, moniales Ordinis quae provisores suos consueverunt appellare praepositos, eos ulterius non praepositos vel priores, sed procuratores appellent …“11 Die vom Generalkapitel gewünschte Eindeutigkeit in der Verwendung der Begriffe setzte sich in der Praxis häufig nicht durch12 ; sie waren in diesen Konventen austauschbar.13 8 Vgl. Ulrich Faust, Benediktinerinnen in Norddeutschland, in: Bayerische Benediktinerakademie (Hrsg.), Die Frauenklöster in Niedersachsen, Schleswig-Holstein und Bremen, bearb. von Ulrich Faust (Germania Benedictina XI: Norddeutschland), St. Ottilien 1984, S. 19 – 41, hier S. 26 – 30. 9 De Vogü¦, Propst (Anm. 6), Sp. 264; Rauch, Propst (Anm. 5), Sp. 2036. – Als Ehrentitel erhielt sich die Bezeichnung „Propst“ in der katholischen Kirche für den Geistlichen an bedeutenden Kirchen bis in die Gegenwart (z. B. an St. Marien, Heilbad Heiligenstadt). Für den Protestantismus vgl. Christoph Thiele, Propst, in: RGG VI, 42003, Sp. 1716 – 1717. 10 K. Heinrich Schäfer, Die Kanonissenstifter im deutschen Mittelalter. Ihre Entwicklung und innere Einrichtung im Zusammenhang mit dem altchristlichen Sanktimonialentum (Kirchenrechtliche Abhandlungen 43. und 44. H.), Stuttgart 1907, ND Amsterdam 1965, S. 165 – 166, 180. – Die Urkunde zur Übertragung der dem Stift Quedlinburg gehörenden Kapelle in Teistungenburg an das dortige Kloster ist ausgestellt von der Äbtissin, der „preposita“ und der Dekanin mit Konvent (21. August 1270: UB Eichsfeld [Anm. 3], S. 319 – 320, Nr. 522). 11 Canivez, Statuta (Anm. 1), S. 49, Nr. 10. Wegen der großen Zahl an Publikationen seien nur folgende genannt: Ernst Günther Krenig, Mittelalterliche Frauenklöster nach den Konstitutionen von C„teaux, unter besonderer Berücksichtigung fränkischer Nonnenkonvente, in: Analecta Sacri Ordinis Cisterciensis 10, 1954, S. 1 – 105, hier S. 55 – 56, 64; Maren KuhnRehfus, Zisterzienserinnen in Deutschland, in: Die Zisterzienser. Ordensleben zwischen Ideal und Wirklichkeit. Eine Ausstellung des Landschaftsverbandes Rheinland, Rheinisches Museumsamt, Brauweiler, Aachen – Krönungssaal des Rathauses, 3. Juli – 28. September 1980 (Schriften des Rheinischen Museumsamtes Nr. 10), Köln 1980, S. 125 – 147, hier S. 141 – 142; Margit Mersch, Das ehemalige Zisterzienserinnenkloster Vallis Dei in Brenkhausen im 13. und 14. Jahrhundert (Denkmalpflege und Forschung in Westfalen Bd. 45), Mainz 2007, S. 89 – 107. 12 Beispiele bei: Mersch, Das ehemalige Zisterzienserinnenkloster Vallis Dei (Anm. 11), S. 93 – 107; Gabriele Maria Hock, Die westfälischen Zisterzienserinnenklöster im 13. Jahrhundert. Gründungsumstände und frühe Entwicklung, Phil. Diss. Münster 1994, PDF 2004, passim, v. a. S. 666 – 667.

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In den Klöstern Anrode, Beuren und Teistungenburg, die dem Orden nicht inkorporiert waren, ihr Leben aber möglichst getreu am zisterziensischen Ideal ausrichten wollten, hielt sich die Bezeichnung „Propst“ für die Person, die „in spiritualibus et temporalibus“ verantwortlich war, abgesehen von wenigen Ausnahmen während der Zeit ihres Bestehens durch.14 Manchmal wurde sich der deutschen Sprachform bedient, wie z. B. durch David Böddener; er nannte sich in einem Schreiben vom 19. Oktober 1596 an den Kommissar in Heiligenstadt „Vorsteher zu Anrode“.15 Dem „Verwalter“ entsprach der zuweilen in lateinischer Sprache verwendete Begriff „admininistrator“ mit dem Zusatz „in spiritualibus et temporalibus“, und für die Tätigkeit steht „Verwaltung“ bzw. „Administration“. Mit der Kompetenzumschreibung „in spiritualibus et temporalibus“ waren Auswahlkriterien für den Inhaber einer Propstei vorgegeben. Er sollte nicht nur im Hinblick auf die Temporalia versiert, sondern auch befähigt sein, die Nonnen „in spiritualibus“ zu betreuen. Er sollte Priester sein; ob Welt- oder Ordenskleriker, war zunächst nicht festgelegt. In den Zisterzen Beuren und Teistungenburg amtete bis zu ihrer Aufhebung 1810 bzw. 1809 und in Anrode bis 1628 ein Säkularkleriker als Propst, der zu der Zeit, da er vorgeschlagen oder gewählt wurde, häufig noch Pfarrseelsorger war.16 Aus der Frage Säkular- oder Regularkleriker als Propst erwuchs im 17. und 18. Jahrhundert eine Kontroverse der Klöster Beuren und Teistungenburg mit dem Erzbischof von Mainz. Hauptargumente für einen Geistlichen aus dem Zisterzienserorden waren die Gleichförmigkeit in Liturgie und Ordensdisziplin, die angeblich besseren Kenntnisse in der Verwaltungspraxis und schließlich – im Falle Beurens wegen seiner Armut – der Entfall einer Besoldung. Der Beurener Konvent versuchte im 18. Jahrhundert mehrmals mit z. T. nicht zutreffenden, ja falschen Aussagen über die Administration ihrer weltgeistlichen Pröpste den Wunsch für die Berufung eines Ordensgeistlichen zu untermauern und durchzusetzen17. 13

Flug, Mainz, Dalen (Anm. 7), S. 427, 429. Vizepröpste Johannes Bueß OCist (4. September 1630: Staatsarchiv Würzburg Mainzer Regierungsarchiv H 1788, fol. 13r – Zit.: StA Würzburg MRA), Johannes Abel/Apel am 11. Juli 1673 (Bistumsarchiv Erfurt Depositum Pfarrei Wingerode: Kopiar des Klosters Beuren, Mappe Beuren fol. 44r – Zit.: BA Erfurt Kopiar des Klosters Beuren); Frater Joachim für Anrode auf dem Hülfensberg (12. Juni 1634: Johann Wolf, Eichsfeldische Kirchengeschichte, Göttingen 1816, 205 Anm. a), Quasipropst Johann Simerod, 1618 – 1644. Vgl. auch die Liste der Pröpste bei Egler, Anrode (Anm. 2), S. 103; dies., Beuren (Anm. 2), S. 256 – 257; dies., Teistungenburg (Anm. 2), S. 1488 – 1489. 15 StA Würzburg MRA Stifte und Klöster K 736/1629, fol. 16v (19. Oktober 1596). – Zu Böddener, Propst von 1577 – 1612: Thomas T. Müller, „Propter admissam contumaciam“ – Das Leben von David Böddener, dem Propst der Klöster Anrode und Zella, in: Eichsfeld. Monatszeitschrift des Eichsfeldes 41, 1997, 249 – 250 mit Ulrich Hussong, David Böddeners Abzug aus Hessen im Jahre 1576, in: Eichsfeld. Monatszeitschrift des Eichsfeldes 42, 1998, S. 87 – 89; Egler, Anrode (Anm. 2), S. 69 – 70, 89, 92 – 93. 16 Vgl. Anm. 14: die Listen der Pröpste. 17 Beuren: Archiv des Bischöflichen Geistlichen Kommissariats Heiligenstadt (Zit.: KA Heiligenstadt) 281, 1, 10. Februar 1739 mit 20. Februar 1739 (Gegenargumente im Bericht an das Mainzer Generalvikariat), 27. und 28. September 1743, 18. Mai 1762 mit 281, 6 fol. 25r – 14

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Der Kommissar Johann Franz Huth (1751 – 1781)18 lieferte am 18. Mai 1762 – anscheinend auf dem Höhepunkt der Kontroverse – eine andere Deutung der Geschehnisse. Mit Belegen aus der Vergangenheit der Zisterze entkräftete er deren Argumente mit der entwaffnenden Schlussfolgerung: diese seien von „gahr keiner Wichtigkeit“19. Denn die Qualitäten, die ein Ordensmann für die Verwaltung mitbringe, fänden sich auch bei einem Weltgeistlichen, wie die positive wirtschaftliche Entwicklung, die personelle Erstarkung des Konventes und die Errichtung von Gebäuden nach der Wiedereröffnung 1618 beweise. Die Pröpste aus dem Säkularklerus hätten „in den betrübten schlimmen Zeiten von dem Religions-Abfall“ die Klöster des Landes nicht nur vor diesem bewahrt, sondern diese danach auch wieder „in flor“20 gebracht. In Erinnerung daran habe der Erzbischof Johann Philipp von Schönborn (1647 – 1673) am 28. November 1660 dem Kommissar Andreas Burckardt21 befohlen, weiterhin nur Säkularkleriker als Pröpste vorzusehen: „Nullos praepositos Regulares permittes succedere Saecularibus in Monasterijs Monialium, sed potius operam dabis, ut Regularibus deinceps surrogentur Clerici Saeculares …“22 Wenn sich einige weltgeistliche Pröpste die Missgunst der Nonnen, gar „haß und verdrußÐ zugezogen haben – wie Propst Nikolaus Jünemann (1725 – 1758)23, gründete das in dem Umstand, dass er auf die Einhaltung der Klausur gedrungen hat und keine Zugangstür zur Klausur dulden wollte. Die Ordenszugehörigkeit eines Propstes garantiere nicht per se wirtschaftliches Gedeihen, wie Anrode zeigt. Es wurde seit über einem Jahrhundert, von 1628 bis zu diesem Jahre 176224, von einem Zisterzienser aus dem Kloster Reifenstein verwaltet und ist doch zusehends in Verfall geraten, woran anscheinend auch Äbtissin und Konvent ihren Anteil hatten. Im Jahre 1760 musste der Kommissar eingreifen. Er zwang den Regularen Adam Kaltwasser (1744 – 1760) zur Resignation, weil dieser die Ökonomie nicht nutzbringend verwaltete und nicht mehr fähig war, die einem Propst obliegenden Aufgaben zu erfüllen.25 Die Entfernung 33v, hier fol. 25r – 26r. Zu 1762 vgl. Adalbert Dölle, Das ehemalige Zisterzienserinnenkloster Beuren im Eichsfeld, Duderstadt 1998 (Phil. Diss. Jena 1957 Masch.), S. 215 – 216. – Teistungenburg: KA Heiligenstadt 285, 6, 11. August 1684, 2. März 1714. Im Jahre 1614 hatte diese Abtei die Erfüllung ihrer Bitte, den Benediktiner Franciscus Hamilton einzusetzen, an die Zustimmung des Erzbischofs als ihres „Patrons“ geknüpft (StA Würzburg MRA Stifte und Klöster K 738/2686, 1. September [1615?]). 18 Zu Huth: Georg May, Die Organisation von Gerichtsbarkeit und Verwaltung in der Erzdiözese Mainz vom hohen Mittelalter bis zum Ende der Reichskirche, 2 Bde. (Quellen und Abhandlungen zur mittelrheinischen Kirchengeschichte [QMRKG] 111/I u. II), Mainz 2004, S. 991 – 993. 19 Für das Folgende: KA Heiligenstadt (Anm. 17), 281, 6 fol. 25r – 33v. 20 KA Heiligenstadt (Anm. 17), 281, 6 fol. 28r. 21 Zur Person: May, Die Organisation (Anm. 18), S. 882 – 883, 985. 22 KA Heiligenstadt (Anm. 17), 281, 6 fol. 28r – v. 23 KA Heiligenstadt (Anm. 17), 281, 6 fol. 26r. 24 Siehe Egler, Anrode (Anm. 2), S. 103. 25 Zitat nach Görich, Geschichte (Anm. 4), S. 86, aus KA Heiligenstadt (Anm. 17), 278, Nr. 1.

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aus dem Amt bei Unfähigkeit eines Säkularklerikers ist ebenso möglich wie bei einem Regularkleriker. III. Der Propst in den nichtinkorporierten Klöstern 1. Die Bestellung des Propstes Die Bestellung des Propstes in den drei genannten Klöstern stellte sich als ein mehrstufiger Vorgang dar. Vor der Wahl zogen der Konvent und/oder der Kommissar Erkundigungen über eine geeignete Person ein, die gegebenenfalls mit einer Empfehlung des Kommissars an den Erzbischof gesandt wurde. Der Erzbischof erteilte mit der Billigung des Vorgeschlagenen die Genehmigung zu wählen und anschließend mit der Bestätigung der Wahl die Erlaubnis zur Einsetzung in das Amt. Die Einsetzung des Propstes mit der Eidesleistung übertrug der Erzbischof dem Kommissar im Eichsfeld. a) Klärungen vor der Wahl Der Wahl voraus ging die Suche nach einer Person, die die Voraussetzungen und die Fähigkeiten für die zu übernehmende Propstei hatte. In der Regel schlug der Konvent einen Kandidaten vor. Entweder billigte der Kommissar diesen und gab den Vorschlag mit seiner Zustimmung an den Ordinarius weiter oder er empfahl eine ihm geeigneter erscheinende Person. Grundsätzlich war der Kommissar in das Verfahren insofern eingeschaltet, als mit dessen Hilfe geprüft wurde, ob die in Frage kommende Person die entsprechende Eignung aufwies.26 Von Erzbischof Johann Philipp von Schönborn, der einem Säkularkleriker den Vorzug vor einem Ordensmann gab, findet sich eine Zusammenfassung aus dem Jahre 1660, die die üblicherweise für die Übernahme eines kirchlichen Amtes geltenden Kriterien benannte. Der Geistliche soll sein „pietate, aetate, doctrina et experientia conspicui“27. Die Empfehlung des Gewünschten lautete häufig, er sei „in geistlichen wie in oeconomischen Wissenschaften wohl erfahren“; sie kehrt variiert als Formel in den Bitten der Konvente und in den Schreiben bzw. auch in den von den Kommissaren erbetenen Gutachten wieder.28 Die Äbtissin von Teistungenburg rühmte an Ha-

26 Z.B. KA Heiligenstadt (Anm. 17), 285, 6, 16. Oktober 1714, 22. Juni 1759; 281, 1, 20. (?) Februar 1739, 7. Juni 1762, 5. Juli 1758, 5. Juli 1791. 27 KA Heiligenstadt (Anm. 17), 281, 6 fol. 28r – v. – Vgl. Mainz, Martinusbibliothek Hs 21, Bl. 51; Johannes Hau, Statuten eines niederdeutschen Zisterzienserinnenklosters, in: Cistercienserchronik 47, 1935, S. 129 – 138, 213 – 222, hier S. 221: „… das Regiment, der Zeitt vndt eusserlichen dingen Administration“. 28 Z.B.: KA Heiligenstadt (Anm. 17), 278, 1, 12. Dezember 1804; 281, 1, 10 Mai 1738; 285, 6., 7./9. (?) März 1662; 285, 6, 16. Oktober 1714. – Vgl. auch Statuten von 1584: Mainz, Martinusbibliothek Hs 21, Bl. 51; Hau, Statuten (Anm. 27), S. 221.

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milton außer seiner genügenden Qualifikation in „Weltlichen“ [Dingen], diese auch im Hinblick auf „Haltung vndt Befurderung Vnser Regell“29. Dass die Konvente einen Vorschlag für die Besetzung der vakanten Propstei machen durften, war ihnen zugebilligt; sie wurden sogar aufgefordert, einen Kandidaten für die anstehende Wahl zu nennen und sich keiner missverständlichen Ausdrücke zu bedienen. Die erzbischöfliche Behörde achtete genauestens darauf, ob die Bittschreiben der Klöster die richtigen Termini gebrauchten. Als die Kommunität von Beuren mit der Äbtissin an der Spitze hoffte, dass es ihnen „vergönnet“ werde, einen Zisterzienser für die vakante Propstei „zu praesentiren“30, reagierte das Generalvikariat Mainz prompt. Es stellte nachdrücklich fest, das Kloster Beuren habe kein „jus praesentandi“, sondern der Erzbischof habe den Propst „zu setzen“31. Bescheiden und in demütigem Ton antworteten die Nonnen daraufhin, sie wollten dem Erzbischof den Gewählten „in ordine ad confirmandum“ vorschlagen32. b) Die Wahl Die Vorgehensweise bei einer anstehenden Wahl des Prokurators bzw. des Propstes erfolgte bei den inkorporierten wie nichtinkorporierten Klöstern auf dieselbe Weise. Der jeweilige Jurisdiktionsträger erteilte die Erlaubnis, die Wahl vorzunehmen. In den Klöstern Anrode, Beuren und Teistungenburg sprach diese der Erzbischof von Mainz aus, wie auch bei der Wahl einer neuen Äbtissin.33 In den inkorporierten Konventen gestattete der Vaterabt, die Wahl durchzuführen.34 In der Urkunde, mit der Erzbischof Werner (1259 – 1284) am 2. Januar 1269 die Gründung des Klosters Anrode konfirmierte35, ordnete er an, einen Propst zu wählen. Die Wahl sollten die Nonnen „canonice et concorditer iuxta morem“ tätigen, d. h. nicht nur nach den Regeln des kanonischen Rechtes, sondern auch gemäß der Gewohnheit (Sitte) übereinstimmend, in Einigkeit. Die Sorge um die Wahrung der „concordia“ bei der Propstwahl, die als selbstverständliches Recht der Nonnen an29

StA Würzburg MRA Stifte und Klöster K 738/2686, 1. September [o. J. – 1609/1610?]. KA Heiligenstadt (Anm. 17), 281, 1, 18. Mai 1762. 31 KA Heiligenstadt (Anm. 17), 281, 1, 7. Juni 1762. 32 KA Heiligenstadt (Anm. 17), 281, 1, 10. Juli 1762. 33 Die Kommunität Anrode, die seit 1628 einen Religiosen aus dem Kloster Reifenstein als Propst hatte, beschrieb 1744 den Vorgang in folgender Weise: Aus drei vom Reifensteiner Abt vorgeschlagenen Mitgliedern seines Konventes wählen die Nonnen einen und der Erzbischöfliche Kommissar „instituiret“ ihn (KA Heiligenstadt [Anm. 17], 278, 1, 31. Januar 1744). 34 Canivez, Statuta (Anm. 1), S. 49, 10 (1267). – 1321 statuierte das Generalkapitel, dass die Prokuratoren in den Frauenklöstern „… de patrum abbatum consensus et consilio deinceps instituantur“ (ebd., S. 355, 11). 35 UB Eichsfeld (Anm. 3), S. 305 – 306, Nr. 500; Ausfeld, Regesten (Anm. 4), S. 8 – 9 Nr. 3; Görich, Geschichte (Anm. 4), S. 186 – 187, VI. Vgl. Goldmann, Kloster Anrode (Anm. 4), S. 217; Opfermann, Die Klöster des Eichsfeldes (Anm. 4), S. 144. 30

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gesehen wurde, war schon das Anliegen der Ritter von Bodenstein, die als Eigenkirchenherren und Landbesitzer die Gründung Beurens ermöglicht hatten. Bei Übergabe der niederen Gerichtsbarkeit an das Kloster 123836 behielten sie sich ein Einschreiten vor, wenn eine feindselige Person Uneinigkeit heraufbeschwören sollte („… si inimico homine faciente circa electionem prepositi ibidem aliquando discordia fuerit suscitata“). Sollte dieser Fall eintreten, oblag es einem Mitglied der Stifterfamilie und einem Zisterzienserabt, mit ihrem Rat und ihrem Einfluss Frieden und Eintracht (concordia) herzustellen; allerdings berechtigte diese Intervention nicht zu Eingriffen in das Wahlgeschehen. Die Wahl erfolgte per scrutinium. Die Wahl verblieb den Konventen zeit ihres Bestehens als Recht, wie die Quellen beweisen.37 Nach der Wahl wurde an den Erzbischof die Bitte gerichtet, den Gewählten zu bestätigen und ihn als Propst und in die Pfarrei, die dem Patronat des Klosters unterstand, einzusetzen.38 c) Die Einsetzung in die Propstei Mit der Bestätigung des Wahlergebnisses ordnete der Erzbischof die Institution in das Amt an, die vor Ort dem Kommissar oblag. Der Akt der Einsetzung des Propstes – auch als ,PräsentationÐ39 bezeichnet – verlief nach einem bestimmten Zeremoniell.40 Dieser „actus praesentationis“ am 26. Juni 1737 im Kloster Anrode wurde minutiös protokolliert.41 Der Kommissar begab sich nach Anrode, teilte zunächst der Äbtissin die positive erzbischöfliche Antwort mit und bat sie, die Nonnen ins Refektorium zu rufen. Vor der dort versammelten Kommunität sprach der Kommissar ein Gebet und stellte den neuen Propst vor, so wie es der „tenor Commissionis Secundum mentem gratiosi rescripti Reverendissimi Vicariatus“ vorsah. Dann folgte die Leistung des Eides im Chor der Abteikirche. Das „altgewöhnliche in des Commissarii Hand abzulegende Juramentum praepositi …“42 war immer fester Bestandteil der Handlung. Erst nachdem der künftige Propst in die Hand des Kommissars „das altgewöhnliche

36 StA Würzburg Mainzer Urkunden 70; UB Eichsfeld (Anm. 3), S. 155 – 157 Nr. 271, hier S. 156; Josef Reinhold, Mit Brief und Siegel. Beuren in mittelalterlichen Urkunden, in: 875 Jahre Beuren. Beiträge zur Geschichte eines Dorfes im Eichsfeld von 1128 – 2003, Duderstadt 2003, S. 3 – 88, hier S. 79 – 80 (dt.); Wolf, Eichsfeldische Kirchengeschichte (Anm. 14), S. 88; Dölle, Das ehemalige Zisterzienserinnenkloster Beuren (Anm. 17), S. 91 – 92, 344. 37 Z.B. KA Heiligenstadt (Anm. 17), 281, 6 fol. 28r – v (Verb surrogare). 38 KA Heiligenstadt (Anm. 17), 281, 1, 10. Februar 1739, 10. Mai 1758 (Der Erzbischof möge „confirmieren“), 5. Juli 1758. 39 Vgl. KA Heiligenstadt (Anm. 17), 281, 6 fol. 30v. 40 Vgl. die Anweisungen des erzbischöflichen Generalvikariates an den Kommissar des Eichsfeldes: KA Heiligenstadt (Anm. 17), 281, 1, 5. Juli 1758, 26. Juli 1762. 41 KA Heiligenstadt (Anm. 17), 278, 1, Datum. 42 KA Heiligenstadt (Anm. 17), 281, 1, 26. Juli 1762; vgl. 281, 6 fol. 30v.

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Juramentum“43 mit dem Gehorsamsversprechen gegenüber dem Erzbischof geschworen hatte44, erfolgte die eigentliche Einsetzung in die Propstei.45 Die Ablegung des Eides war die Voraussetzung für die Institution, denn mit dem Gehorsamsversprechen wurden die Unterordnung unter den Erzbischof und die Respektierung seiner Rechte in vollem Umfang anerkannt. Bei der Einsetzung des Propstes im Kloster Anrode sollte dieses Erfordernis 1744 den Ablauf der Handlung schwierig gestalten und verzögern, weil der einzusetzende Zisterzienser Adam Kaltwasser die vorgelegte Eidesformel nicht vollinhaltlich beschwören wollte. Seine Unterordnung unter die Jurisdiktion des Erzbischofs wollte er durch die Zusatzklausel einschränken, er wolle diese anerkennen, soweit sie „nicht gegen die Jura“ seines Abtes verstößt. Für Kommissar Huth, der ohnehin Säkularkleriker für die Propstei favorisierte, erhob sich die Frage nach der Loyalität und Willigkeit zur Unterordnung der Ordensgeistlichen unter die Autorität des Erzbischofs und Kurfürsten: „Wer will also so leichten glauben, das ein praepositus Regularis der Jurisdiction des höchsten Ordinarij wie ein Clericus Saecularis … schuldigst untergeben, und zugethan bleiben?“46 Die Verpflichtung auf ,schuldigsteÐ Untergebenheit unter die „Jurisdiction des höchsten Ordinarij“ ist inhaltlich immer Bestandteil der Eidesformel. 2. Der Inhalt des Eides a) Das Versprechen des Gehorsams Der Text des Eides war von unterschiedlicher Länge; er zählte mal summarischer, mal ausführlicher die Pflichten und Aufgaben des Propstes auf.47 Als wesentliche 43 KA Heiligenstadt (Anm. 17), 285, 6, 16. Oktober 1714; 281, 1, 5. Juli 1758 („das gewöhnliche Jurament“); 281, 6 fol. 30v (26. Juni 1762). – Die Statuten des Ordens von 1584 sehen für den Verwalter in inkorporierten Klöstern vor Übernahme der „Regierung“ eine Eidesleistung vor, in der er beschwört, dem Kloster ,treuÐ zu sein (Mainz, Martinusbibliothek Hs 21, Bl. 51 – 52. Vgl. Hau, Statuten [Anm. 27], S. 221). 44 Vgl. UB Eichsfeld (Anm. 3), S. 305 – 306 Nr. 500, hier S. 306: „obedienciam manualem“. Diese Urkunde von 1269 nennt noch die Seelsorge für die Nonnen. – Ausfeld, Regesten (Anm. 4), S. 8 – 9 Nr. 3; Görich, Geschichte (Anm. 4), S. 186 – 187, VI. 45 „… den actum praesentationis nicht ehnder vollzogen, bis … das Juramentum debite praestiret worden“ (KA Heiligenstadt (Anm. 17), 281, 6 fol. 30v). Vgl. auch KA Heiligenstadt (Anm. 17), 285, 6, 16. Oktober 1714; 278, 1, 9. Januar 1789; 281, 1 (o. D.: Jünemann „zum probst gesetz[t]“ [1725]). 46 KA Heiligenstadt (Anm. 17), 281, 6 fol. 30v – 31r. 47 Folgende Eide, Formulare für die Eidesleistung konnten erhoben werden und dienen als Grundlage der Darlegung: „Forma Juramenti Praepositi“ für Teistungenburg (22. April o. J.) und Beuren (27. April o. J.), z. Z. des Erzbischofs Johann Philipp von Schönborn (KA Heiligenstadt [Anm. 17], 281, 1, o. S.); Eid des Propstes Georg Gräff, 1614 – 1616, (StA Würzburg MRA Stifte und Klöster K 738/2686, o. D., anscheinend Vorlage oder Abschrift); Eid der Pröpste Johannes Joachim Riepenhausen, 1762 – 1791, Johannes Wegerich, 1791 – 1810, (KA Heiligenstadt [Anm. 17], 281, 1, 31. August 1762, 27. September 1791) und Nikolaus Mande, 1737 – 1743, (ebd., 278, 1, 26. Juni 1737, Beil.). Vgl. auch ebd., 285, 6, 16. Juli 1782.

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Elemente beinhaltete der Eid einleitend immer das Gehorsamsversprechen gegenüber dem Erzbischof und Kurfürsten, seinen Nachfolgern, der Kirche von Mainz und dem Erzstift48 sowie die Verpflichtung zur gewissenhaften Wahrnehmung der ihm für die Zisterze übertragenen Verwaltung. Der Auflistung des Kreises, dem der Eid geleistet wurde, folgte unmittelbar das Gehorsams- und Treueversprechen gegenüber den Genannten. In der „Forma Juramenti Praepositi“, einer Vorlage, die für die Vereidigung der Pröpste von Teistungenburg und Beuren gedacht und anscheinend im Jahre 1650 konzipiert worden war49, beginnt dieses Versprechen mit folgenden Worten: „Ego N. N. Praepositus huius Monasterij … Juro atque promitto, quod ab hac hora … ero fidelis et obediens …“ Im Eid des Georg Gräff50 heißt es: „Ich … gelobe vnd schwere …“, dem Erzbischof und Kurfürsten von Mainz und … besonders seinem Stellvertreter im Eichsfeld, dem Kommissar und geistlichen Richter „gehorsamb vnd gewertig“ sein zu wollen, und Johannes Wegerich ,gelobtÐ, dem Kurfürsten und Erzbischof sowie weiteren diözesanen Autoritäten „jederzeit hold und getreu“ zu sein.51 Im Blick auf die Aufgabe schwört Georg Gräff, dem Kloster „getrewlich, nach bestem muglichsten vleis“ vorzustehen, und Johannes Wegerich ,gelobtÐ, er „wolle dem Jungfräulichen Kloster Beuren in der mir aufgetragenen Propstei-Verwaltung getreulich vorstehen“. b) Die Aufgaben der Verwaltung Die ,Propstei-VerwaltungÐ anzutreten hieß, für das Kloster „in spiritualibus et temporalibus“52 Verantwortung zu übernehmen. Außer der lateinischen Formel „in spiritualibus et temporalibus“ benutzen die Eide die Kombination „sowoll in Diuinis als in temporalibus“ bzw. „ so woll in temporalibus alß diuinis“53 oder in deutscher Sprache „in geistlichen und weltlichen sachen“ bzw. „so wohl in geistlichen als weltlichen“[Dingen] und „in geistlichen und zeitlichen Dingen“.54 48

Die Aufzählung der Institutionen, der Mitarbeiter ist mitunter sehr umfangreich. KA Heiligenstadt (Anm. 17), 281, 1. – Am Rand ein Zusatz von anderer Hand „[1] 650. Sept.“. Ob dieser als Datum zu deuten ist, kann nicht entschieden werden. 50 StA Würzburg MRA Stifte und Klöster K 738/2686, o. D. (Eid des Propstes Georg Gräff von Teistungenburg – Am Schluss des Eides bekräftigte er nochmals, sich in allem so zu verhalten, wie es „einem getrewen, frommen, redlichen, vffrichtigen vnd fleißigen Diener woll anstehet“). Ähnlich die Instruktion vom 26. Juli 1762: „… damit Ihr als ein getreuer und fleißiger Probst bey Gott bestehen möget“ (KA Heiligenstadt [Anm. 17], 218, 1). 51 KA Heiligenstadt(Anm. 17), 281, 1, 27. September 1791. 52 Z.B. StA Würzburg MRA Stifte und Klöster K 738/2686, 29. Mai 1614. 53 StA Würzburg MRA Stifte und Klöster K 738/2686, o. D., o. fol. (Eid des Propstes Georg Gräff); ebd., 26. Oktober 1615. 54 StA Würzburg MRA Stifte und Klöster K 738/2686, 17. Mai 1614; KA Heiligenstadt (Anm. 17), 281, 1, 26. Juli 1762, 27. September 1791. – U. ö. ähnliche in den Ausdrücken und der Zusammenstellung variierende Formeln. Berichte über die Tätigkeit der Pröpste gebrauchen die Formeln ,äußere HaushaltungÐ, ,äussere OeconomieÐ und „exteriora“, für die der Äbtissin ,innere HaushaltungÐ (KA Heiligenstadt [Anm. 17], 281, 3, 14. Juni 1640; 285, 9, 18. Juli 1777; 285, 1, 21. Januar/23. Mai 1780). 49

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Nach dieser zusammenfassenden Aussage werden im Detail die Tätigkeiten „in spiritualibus et temporalibus“, für deren Erledigung der Propst pflichtgemäß sorgen wird, dargelegt. Betreffend die Temporalia55 wird er die Rechte, Privilegien und Freiheiten schützen, die Gerichtsbarkeit in der rechten Weise ausüben und die Güter, sowohl die vorhandenen wie die noch zu erwerbenden, in ihrem Bestand erhalten.56 Ohne Zustimmung des Kurfürsten wird er keine Güter veräußern, verpfänden oder auf andere Weise verlustig gehen lassen. Knapp, aber treffend, hatten Äbtissin, Priorin und der Konvent von Anrode am 31. Januar 1744 in ihrer Antwort auf eine Anfrage des Erzbischöflichen Vikariates wohl im Zusammenhang mit der Resignation des dortigen Propstes Nikolaus Mande im Jahre 1743 die Aufgaben des Propstes im äußeren Bereich umrissen. „In temporalibus“ habe der Propst hauptsächlich „die jura Monasterij gebuhrend zu observiren“. Dazu gehört, alle Einnahmen und Ausgaben zu tätigen sowie über die „hospitalitat“ gemäß den Ordensregeln zu wachen.57 Nur der Eid des letzten Propstes von Beuren, des Johannes Wegerich, enthielt das Versprechen, die „Secreta“ des Klosters geheim zu halten und keinem, der um diese nicht wissen durfte, davon Kenntnis zu geben.58 „Secreta“ kann sowohl verschwiegen zu bewahrende Interna des Klosters bedeuten59 wie „Siegel“. Die Verpflichtung, auch die Siegel sorgfältig zu verwahren, könnte durch die Ahnung heraufziehender Jahre der Unsicherheit im Gefolge der französischen Revolution geboten gewesen sein. Hatte doch im Bauernkrieg der Heiligenstädter Kommissar aufgefordert, bei ihm die Siegel in Gewahrsam zu geben. Dem Propst von Anrode war das noch rechtzeitig vor dem Ansturm der Mühlhäuser gelungen60. „In spiritualibus“ oblag dem Propst, den Gottesdienst zu zelebrieren, möglichst nach den Regeln des Zisterzienserordens, und auf die Übereinstimmung von „officium altaris mit dem officio choro“ zu achten. Das hieß, die Liturgie nach dem Direktorium der Zisterzienser zu feiern. Erwartet wurde von ihm weiter die Kenntnis der Ordensregel und der Statuten sowie deren praktische Anwendung, die Vertrautheit mit den aszetischen Übungen und für seine Person möglichst deren Annahme im Einklang mit der Kommunität.61 Die Konfirmationsurkunde vom 2. Januar 1269 für 55

Vgl. die Aussage vom 14. Juni 1640 betr. die Situation im Kloster Beuren: „Dominus Praepositus ad exteriora disponenda invigilet curiosius“ (KA Heiligenstadt [Anm. 17], 281, 3 fol. 1). 56 In allen genannten Eiden ziemlich gleichlautende Formulierungen. 57 KA Heiligenstadt (Anm. 17), 278, 1 (unterm Datum). 58 KA Heiligenstadt (Anm. 17), 281, 1, 27. September 1791. 59 So im Eid des Georg Gräff ausgedeutet. 60 Görich, Geschichte (Anm. 4), S. 46. 61 KA Heiligenstadt (Anm. 17), 281, 1, 10. Februar 1739, 18. Mai 1762; 278, 1, 31. Januar 1744; 285, 6, o. S. (1714). – Entgegen den Behauptungen der Beurener Nonnen richteten sich die weltgeistlichen Pröpste wie die Kapläne nach dem Direktorium des Zisterzienserordens und benutzten vor allem beim Stundengebet das Ordensbrevier (KA Heiligenstadt [Anm. 17],

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das Kloster Anrode hatte summarisch formuliert: Dem Propst obliegt die Seelsorge für die Nonnen.62 Besonderes Anliegen war den Erzbischöfen allezeit die klösterliche Disziplin, vor allem die genaue Einhaltung der Klausur. Nicht ohne Grund forderten sie anlässlich jeder Einsetzung eines Propstes in sein Amt, mit großer Sorgfalt auf die Klausur zu achten und deren Beobachtung zu urgieren.63 Die zehn Punkte umfassende Instruktion, die das Mainzer Generalvikariat Johannes Joachim Riepenhausen quasi zur Vorbereitung der Eidesleistung übersandt hatte, verpflichtete bereits in Punkt zwei zur Achtsamkeit „auf die so nützliche als nothwendige Clausur“, und im Eid beschwor er ebenso wie Johannes Wegerich, sich besonders zu bemühen, „damit durch die Beobachtung der … gebothenen Clausur schädliche Aergernis verhütet, gute Disciplin erhalten“ werde.64 Welche praktischen Mittel zur Ausführung der Aufgaben anzuwenden sind, werden z. B. im Eid des Propstes Gräff (ca. 1614) und der Instruktion für Propst Riepenhausen (1791) weiter im einzelnen aufgezählt: Führung der Erb- und Heberegister, das Einnehmen der Pachtabgaben sowie der Zins- und Lehngelder, die Dokumentation der Ein- und Ausgaben, die Erstellung der Jahresrechnung in drei Exemplaren und ihre Vorlage im Kommissariat zum festgesetzten Termin.65 In der Instruktion für Riepenhausen66, der in Beuren desolate ökonomische Verhältnisse in Ackerbau und Finanzwirtschaft antraf, wurde noch die „genaue Aufsicht“ über die Arbeitskräfte in der Feldbewirtschaftung hinzugefügt sowie das Ordnen der nachlässig geführten Heberegister, wodurch Gelder, Fruchtzinsen und Lehngefälle nicht eingegangen sind. Diese Rückstände habe er mit Nachdruck einzufordern und gegebenenfalls über eine häufigere Abhaltung des klösterlichen Gerichtes und „Executivische Verfahrung gegen die morose Debitores“ einzutreiben. Das sehr aufgeteilte Land des Klosters solle er wieder zu größeren Einheiten zusammenführen.

281, 1, 20. Februar 1739. Vgl. auch StA Würzburg MRA Stifte und Klöster K 738/2686, 1. September (o. J. – 1609/1610?). 62 ,Cura animarum conventusÐ (UB Eichsfeld [Anm. 3], S. 305 – 306, Nr. 500, hier S. 306). Am 16. Oktober 1714 wurde der zukünftige Propst von Teistungenburg vom Kommissar als integrer „curator animarum“ empfohlen (KA Heiligenstadt [Anm. 17], 285, 6, Datum). 63 KA Heiligenstadt (Anm. 17), 281, 1, 5. Juli 1758, 26. Juli 1762; 285, 6, 26. Oktober 1714. Vgl. auch die Eide. 64 KA Heiligenstadt (Anm. 17), 281, 1, 26. Juli 1762, 31. August 1762, 27. September 1791. 65 StA Würzburg MRA Stifte und Klöster 738/2686. Siehe auch die Aufzählung durch den Beurener Konvent: Einrichtung der Heberegister, Eintreibung der Lehngelder und anderer Einnahmen (Heiligenstadt KA [Anm. 17], 281, 1, 18. Mai 1762). 66 KA Heiligenstadt (Anm. 17), 281, 1, 27. September 1791.

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IV. Die Wahrnehmung der Aufgaben Aus den Quellen ist zu erheben, wie und in welchem Umfang der Propst in der Praxis des Alltags die ihm im Eid auferlegten und von ihm übernommen Aufgaben und Pflichten erfüllte. Unter diesen dürfte die Verantwortung für die Temporalia das umfangreichere Tätigkeitsfeld gewesen sein. Für die Spiritualia stand ein Klosterkaplan partiell zur Verfügung, der in der Regel die eigentlich dem Propst obliegende Seelsorge in der Klosterpfarrei ausübte. Zur Spendung des Bußsakramentes kam zu bestimmten Zeiten ein Ordenspriester, meist ein Zisterzienser. 1. In Angelegenheiten mit rechtlicher Implikation Die Temporalia waren – wie der Eid auswies – vielgestaltig und von unterschiedlicher Qualität hinsichtlich der Materie wie der Mitwirkung der Kommunität an den Aktivitäten des Propstes. Es gab Rechtsentscheidungen, bei denen der Propst alleine oder ausschlaggebend für den Konvent tätig wurde, wie z. B. bei der Schlichtung des Streites zwischen der matrix Beuren und ihrer filia Teistungenburg am 30. Dezember 1268. Die Äbtissinnen der beiden Klöster wurden zwar genannt, aber die eigentlich Handelnden waren die Pröpste. Der Propst von Teistungenburg leistete vollständigen Verzicht „pro dominabus suis prebendis ipsarum“, der Beurener Propst sagte eine finanzielle Unterstützung zu, allerdings mit dem Konvent, der in der Urkunde erst nach dem Propst genannt wurde.67 „B[runingus] prepositus de Buren“ trat als Zeuge bei der Übergabe von Gütern an das Kloster Walkenried auf.68 Der Beurener Propst dürfte durch den Erwerb von Grund in Welderekeshusen auch die Voraussetzungen für die Gründung des Klosters Mariengarten geschaffen haben.69 Propst Onolf derselben Abtei (1221 – 1238) verzichtete alleine dem Kloster Reifenstein gegenüber auf zwei Hufen klösterlichen Besitzes zu Ungedankeshausen.70 Dem Kloster Anrode gemachte Schenkungen und Verkäufe an dieses wurden nur von dessen Propst bezeugt.71 Ohne Äbtissin und Konvent besiegelte Propst Holerus von Teistungenburg am 12. Mai 1680 die Bestellung eines Jägers und „Wildschützen“ über Wald und Flur des Klosters bei Böseckendorf; beides zählte zweifellos zu seinen Tätigkeiten.72

67 UB Eichsfeld (Anm. 3), S. 300 – 301, Nr. 492; Urkundenbuch des Klosters Teistungenburg im Eichsfelde, bearb. von Julius Jaeger, I. Theil: Die Urkunden bis zum Jahre 1320, Halle 1878, ND in: Helmut Godehardt, Aus der Geschichte des ehemaligen Zisterzienserinnenklosters Teistungenburg, unter Mitarbeit von Manfred Conraths, Duderstadt 1999 (Zit.: UB Teistungenburg), S. 297 – 384, hier S. 305, Nr. 13. 68 UB Eichsfeld (Anm. 3), S. 227 – 229 Nr. 388; Reinhold, Mit Brief und Siegel (Anm. 36), S. 81 – 83 Nr. 10. 69 Egler, Beuren (Anm. 2), S. 228 (mit Quellen und Literaturbelegen). 70 UB Eichsfeld (Anm. 3), S. 157 – 158 Nr. 273. 71 Z.B. 10. Oktober 1312 (mit Siegel), 23. Februar 1513 (Ausfeld, Regesten [Anm. 4], S. 30 Nr. 77, S. 58 – 59 Nr. 194 (mit Siegel). 72 Stadtarchiv Duderstadt Urkunden Neue Folge Nr. 147.

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Gemeinsames Handeln mit der Kommunität, allerdings unter der Führung des Propstes, ist z. B. für Anrode bezeugt bei Schenkungen und Besitzerwerb, Tauschund Geldgeschäften sowie bei Streit- und Rechtsfragen. Die Zeugenreihe eröffnete – von wenigen Ausnahmen abgesehen – über zwei Jahrhunderte der Propst (Name); es folgten die Äbtissin (häufig Name) und der Konvent73, gelegentlich auch die Priorin (evtl. Name)74, als Variante: Propst und Nonnen/Kloster-Konvent/Kirche75. Der Name des Propstes fehlt in Jahren, da die Propstei nicht besetzt war, z. B. nach dem 8. Januar 1450 bis etwa Mitte 1475. In dieser Zeit handelte die Äbtissin in der Regel mit der Priorin und Küsterin sowie dem Konvent.76 Möglicherweise ist die Erstnennung der Äbtissin nach 1500 (Äbtissin, Propst, Konvent) dadurch selbstverständlich geworden; in der Amtszeit von David Böddener war der Propst wieder der Erstgenannte.77 Dieser war anscheinend kraft seiner Persönlichkeit und seines unermüdlichen Einsatzes für die weltlichen Geschäfte wie die geistlichen Belange der Zisterze und die Erfordernisse der Wallfahrt auf dem Hülfensberg an die Spitze ihrer Autoritäten gelangt. Dem Kloster Beuren hatten die Stifter 1238 die Gerichtsbarkeit, die der Propst ausüben sollte, übertragen. Jedoch hatten sie an ihren Verzicht eine Bedingung geknüpft. Sie dürfen sich künftig nur „in … civilibus eiusdem monasterii causis vel iudicio sanguinis aliquatenus immiscere“, wenn der Propst sie dazu auffordert.78 Die Ausübung der Gerichtsbarkeit wurde dem Propst dieser Abtei vom Generalvikariat empfohlen. Riepenhausen solle wegen der schlechten wirtschaftlichen Lage der Zisterze das Gericht häufiger abhalten und notfalls ein ,executivisches VerfahrenÐ gegen säumige Schuldner durchführen.79

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Z.B. 1270 bzw. zwischen 1276 und 1289 (UB Eichsfeld [Anm. 3], S. 400 Nr. 653; Ausfeld, Regesten [Anm. 4], S. 12 – 13 Nr. 19), S. 22 Nr. 51 (1301 mit Siegel des Propstes, der Äbtissin und des Konventes). 74 Z.B. 1311, 1381, 1382 (Ausfeld, Regesten [Anm. 4], S. 28 – 29 Nr. 72, S. 48 Nr. 144, 145). 75 Z.B. 1270, 1297 (UB Eichsfeld [Anm. 3], S. 314 Nr. 515, S. 475 – 476 Nr. 771), 1364, 1382, 1450 (Ausfeld, Regesten [Anm. 4], S. 43 Nr. 123, S. 48 Nr. 145, S. 54 Nr. 171; Beuren 1292 (UB Eichsfeld [Anm. 3], S. 422 – 423 Nr. 693). 76 Am 8. Januar 1450 hatte noch Propst Vogel mit der Äbtissin und dem Konvent eine Zinsquittung ausgestellt und bis 25. Januar 1475 tätigte die Äbtissin mit Konventualinnen einen Kaufvertrag, am 23. Juni 1475 ist der Propst Johannes von Jena im Vertragstext nicht genannt, beglaubigte jedoch mit einem Papiersiegel (Ausfeld, Regesten [Anm. 4], S. 54 Nr. 171, S. 55 Nr. 177, Nr. 178; vgl. weiter S. 57 Nr. 185 (1483), 1538, 1556 (ebd., S. 48 Nr. 145, S. 55 Nr. 178, S. 55 Nr. 185, S. 59 – 60 Nr. 198, S. 61 Nr. 204). 77 Ausfeld, Regesten (Anm. 4), S. 61 Nr. 205 (29. September 1556), S. 63 Nr. 216 (26. März 1573), S. 63 Nr. 218 (21. Juni 1578), S. 64 Nr. 220 (31. Juli 1591), S. 69 – 70 Nr. 252 (20. Mai 1604). 78 UB Eichsfeld (Anm. 3), S. 155 – 157 Nr. 271; Reinhold, Mit Brief und Siegel (Anm. 36), S. 79 – 80, 43 (Regest), 54, 55. 79 KA Heiligenstadt (Anm. 17), 281, 1, 27. September 1791.

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Die Klärung und Ordnung von Eigentums- und Lehnsverhältnissen, manchmal durch langjährige Prozesse, und die Verteidigung angefochtener Gerechtsame mit benachbarten Vögten beschäftigten den Propst von Anrode gegen Ende des 16. Jahrhunderts.80 Der Beurener Propst Wegerich war 1806 noch mit den Streitigkeiten, die seit den ersten drei Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts mit dem Amtmann auf dem Scharfenstein wegen der Vogtei schwelten, belastet.81 2. In der Agrar- und Finanzwirtschaft In der Aufsicht der Bewirtschaftung der Felder und der Lenkung des Einsatzes des Arbeitspersonals waren die Pröpste, denen die „Direction“ unterstand, unentbehrlich. Deshalb lehnte der Kommissar am 26. Juni 1762, obwohl die Querelen wegen des Weggangs des Propstes in Beuren andauerten, eine Abberufung des amtierenden Propstes ab. Denn dieser ist zur Zeit der Ernte „höchst nothwendig“82. Propst Nikolaus Jünemann wird attestiert, dass er sich „wie kaum einer“ mit großem Fleiß „um den Ackerbau, die Rechte und Gerechtsame des Klosters und die Ökonomie“ gekümmert hat.83 Für die Einholung der „vil Zinß“, die in Mühlhausen für das Kloster Anrode anfielen, begab sich Propst Luckart jährlich dorthin.84 Die Heberegister wurden anscheinend öfter nicht mit der erforderlichen Sorgfalt geführt und die Rechnungslegung gegenüber dem Kommissar unterlassen. Manchmal klagten Klöster deswegen über ihren Propst. Im März 1772 musste der Kommissar die Rechnungslegung anmahnen und auf die Verpflichtung dazu hinweisen.85 In die Kompetenz des Propstes fielen Entscheidungen, die neben dem ökonomischen Aspekt auch die Ordensdisziplin betrafen. Im Kloster Anrode z. B. gewährte er mit Beteiligung der Äbtissin und des Konventes einer Nonne eine persönliche Rente auf Lebenszeit.86

80 Zu dem ständigen Ringen mit dem Gleichensteiner Vogt wegen der klösterlichen Rechte, v. a. der Gerichtsbarkeit über die Dörfer Bickenriede und Bebendorf: Levin von Wintzingeroda-Knorr, Die Wüstungen des Eichsfeldes, Halle 1903, ND Duderstadt 1995, S. 356 – 365. 81 Dölle, Das ehemalige Zisterzienserinnenkloster Beuren (Anm. 17), S. 148, 155, 157, 241 – 243, 403; Günter Christ, Erzstift und Territorium Mainz, in: Friedhelm Jürgensmeier (Hrsg.), Handbuch der Mainzer Kirchengeschichte, 2. Bd. (Beiträge zur Mainzer Kirchengeschichte [BMKG] 6/2), Würzburg 1997, S. 18 – 444, hier S. 357 – 358, 389. 82 KA Heiligenstadt (Anm. 17), 281, 6 fol. 33v. 83 KA Heiligenstadt (Anm. 17), 281, 6 fol. 26v. 84 Thomas T. Müller, „Überhaupt mehr rauher Kriegsmann als Priester“. Der Anröder Propst Arnolt Luckart und der Bauernkrieg, in: Mühlhäuser Beiträge 26, 2003, S. 73 – 81, hier S. 74 – 75; Philipp Knieb, Der Bauernkrieg auf dem Eichsfelde (1525), in: Unser Eichsfeld 7, 1912, S. 65 – 105, hier S. 68. 85 KA Heiligenstadt (Anm. 17), 281, 2 fol. 17r – 24r. 86 Ausfeld, Regesten (Anm. 4), S. 40, Nr. 112 (7. Juli 1356).

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3. Im Landtag Schließlich oblag dem Propst die Vertretung bei Aufgaben, die mit der öffentlichrechtlichen Stellung des Klosters verbunden waren. Die Klöster waren ein eigener Landstand auf dem Landtag; sie hatten Sitz und Stimmrecht. Die Pröpste der Zisterzienserinnenkonvente Anrode, Beuren, Teistungenburg und des Benediktinerinnenklosters Zella nahmen mit den Äbten von Gerode und Reifenstein an den Sitzungen des Landtages teil. Dies spricht für die Qualität des Amtes, auch wenn der Vorsitz anscheinend nur den Äbten der beiden Mönchskonvente und nicht den Pröpsten der Frauenzisterzen zugestanden hat.87 4. In außergewöhnlichen Situationen Die Sorge des Propstes für die „exteriora“ zeigte sich auch in bedrohlichen und schwierigen Situationen. Er schützte nicht nur Hab und Gut, sondern auch die Nonnen. Propst Arnold Luckart von Anrode hatte vor dem Ansturm der Bauern im April 1525 die Wertsachen, Urkunden und Siegel des Klosters nach Heiligenstadt in Sicherheit gebracht. Die von den Aufständischen dem Kloster geraubten Glocken, die er nach der Schlacht von Frankenhausen in Mühlhausen fand, brachte er in die Abtei zurück.88 Propst Cyriakus Köhler von Teistungenburg (1631 – 1662) wandte während des dreißigjährigen Krieges durch geschicktes Handeln und Verhandeln wirtschaftliche Not vom Konvent ab und bewahrte die Nonnen davor, zu betteln und sicherte damit die Einhaltung der Klausur.89 Die Aufstellungen der Forderungen der Zisterzen Anrode und Teistungenburg an die Stadt Mühlhausen wegen der im Bauernkrieg den Klöstern verursachten Schäden durch Zerstörung und Raub beginnen mit den Namen der Erstverantwortlichen. In der Klageschrift Anrodes jedoch führt die Äbtissin die Aufzählung an, in jener von Teistungenburg der Propst.90 Ohne die Verantwortung des Propstes einzuschränken, war ein Zusammenwirken von Propst und Äbtissin bei der Verwaltung der Temporalia wünschenswert. In ökonomisch schwieriger Zeit wurde dem Propst vom Kommissariat sogar die Beratung mit der Äbtissin empfohlen.91 87

Karl Hartung, Die eichsfeldischen Klöster in der letzten Zeit ihres Bestehens und ihr Ende, in: Unser Eichsfeld 9, 1914, S. 26 – 45, S. 82 – 102, hier S. 82 – 83. 88 Görich, Geschichte (Anm. 4), S. 46, 48. 89 Godehardt, Aus der Geschichte (Anm. 67), S. 94 – 96, 100 – 102; Dölle, Das ehemalige Zisterzienserinnenkloster Beuren (Anm. 17), S. 199, 140. – Zuletzt: Egler, Teistungenburg (Anm. 2), S. 1463 – 1464. 90 Anrode: Äbtissin Luchtewald, die Priorin Uderstedt und der Propst Luckart mit dem Konvent; Teistungenburg: Propst Hogreff, Äbtissin Nesselrode, Priorin Mollers und der Konvent (Walther Peter Fuchs [Hrsg.], Akten zur Geschichte des Bauernkrieges in Mitteldeutschland, 2. Bd., Jena 1942, ND Leipzig 1964, S. 526, Nr. 1710a). – Beuren hatte nach 1519 bis 1553 keinen Propst (Egler, Beuren [Anm. 2], S. 257). 91 KA Heiligenstadt (Anm. 17), 281, 6 fol. 31v.

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V. Das Zueinander von Propst und Äbtissin Die Tätigkeit des Propstes konnte zum Besten des Klosters gereichen, wenn Äbtissin und Konvent mit ihm zusammenarbeiteten, sie miteinander ,regiertenÐ92. Als gemeinsame, einvernehmliche Regierung von Propst und Äbtissin wurde die Situation in Beuren nach der Wiederbegründung 1618 beschrieben. Wie weit diese Feststellung der Realität entsprach, bleibt offen. Aber solche Zusammenarbeit sollte der Idealfall sein, selbst wenn die Schwerpunkte des Wirkens unterschieden waren: der Propst verantwortlich für die Exteriora, die Äbtissin für den inneren Bereich der Zisterze.93 Allerdings hingen die Wirkmöglichkeit und deren Effizienz von manchen Faktoren ab. Zunächst von der Eignung des Propstes, die zwar gefordert, aber – wie sich in der Praxis herausstellte – nicht immer vorhanden war. In beiden Bereichen war für das Kloster Anrode – wie bereits angedeutet – David Böddener ein ausgesprochener Glücksfall.94 Aufgrund seines unermüdlichen, engagierten und zielgerichteten Wirkens während 35 Jahren gilt er als „Restaurator“, ,zweiter Gründer und RetterÐ der Zisterze. Günstige Urteile wurden über die Tätigkeit von Pröpsten auch bei Visitationen geäußert. Über den Teistungener Propst z. B. hieß es im Juli 1777, er führe die äußere Haushaltung bestens.95 Der Erfolg der Tätigkeit eines Propstes hing weiter von der Vertrautheit mit dem jeweiligen Kloster, seinen Insassen, seinen Interna und seinen ökonomischen Verhältnissen ab. Nicht selten schlugen daher Zisterzen die amtierenden Klosterkapläne für die Propstei vor. In Anrode z. B. wurden in dem knappen Jahrhundert von 1641 bis 1733 von zwölf Kaplänen sieben zu Pröpsten gewählt.96 Pröpste konnten mitunter in ihrem Wirken nicht reüssieren, weil ihr Handlungsspielraum eingeengt wurde. Denn starke und selbstbewusste Äbtissinnen oder eigenmächtig handelnde Nonnen beschränkten ihr Wirken auf geistliches Tun und bestritten den wirtschaftlichen Sektor in eigener Regie. Die Äbtissin Marina Ziegler von Teistungenburg (1583/93 – 1622) eröffnete 1614 dem erzbischöflichen Kommissar, dass sie in den vergangenen dreißig Jahren die Ökonomie geführt habe.97 Knapp 150 Jahre später musste der Erzbischof darauf hinweisen lassen, dass die Äbtissin 92

„regirt worden“: BA Erfurt Kopiar des Klosters Beuren (Anm. 14), fol. 46r – 46v. BA Erfurt Kopiar des Klosters Beuren (Anm. 14), fol. 46r – v. 94 Für das Folgende: Görich, Geschichte (Anm. 4), S. 61 – 71; Müller, „Propter admissam contumaciam“ (Anm. 15), S. 249 – 250. 95 KA Heiligenstadt (Anm. 17), 285, 9, 18. Juli 1777. 96 Egler, Anrode (Anm. 2), S. 90 mit Görich, Geschichte (Anm. 4), S. 98 – 100. Bei der Beurteilung des Johannes Wegerich wurde außer seinen übrigen Qualitäten angeführt, dass er aufgrund seiner zweijährigen Kaplanstätigkeit in Beuren von der Verfassung des Klosters und seiner Ökonomie „eine hinlängliche Wissenschaft erhalten“ habe (KA Heiligenstadt [Anm. 17], 281, 1, 5. Juli 1791). 97 StA Würzburg MRA Stifte und Klöster K 738/2686, 9. April 1614; KA Heiligenstadt (Anm. 17), 281, 6, fol. 27r – v. 93

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in Zukunft die Aufgaben des Propstes nicht usurpieren darf. Seine Mitteilung über die Zustimmung zur Einsetzung eines Propstes in demselben Kloster enthielt eine viel sagende Klausel. Die Genehmigung zur Institution erfolgt „dergestalten“, dass dem neuen Propst von Seiten der Äbtissin „kein Eingriff geschehe, sondern daß selbe ihn sein Ambt … ohngekränckt und ungeschmälert verwalten“ lasse.98 An den Konvent in Beuren erging ebenfalls die Mahnung, den Propst „in der Administration quoad temporalia“ weder einzuschränken noch sich in seine Funktionen einzumischen. Denn durch ihre Einmischung hatte die Äbtissin mit den Nonnen in der zurückliegenden Zeit das dringend notwendige Durchgreifen des Propstes zur Ordnung der Ökonomie verhindert, indem sie säumige Schuldner aus ihrem Freundes- und Bekanntenkreis vor der Exekution durch den Propst schützten.99 Bei Pröpsten, die ihrer Aufgabe tatsächlich nicht gewachsen waren, griff der Erzbischof oder sein Vertreter ein, wie 1476 oder 1760. Weil die anstößige Nachlässigkeit des Anröder Administrators Johannes von Jena (1475 – 1476) in Wahrnehmung seiner Aufgabe großen Verlust an klösterlichen Gütern verursachte („neglegentia aliqua … magno Dispendio bonorum eiusdem monasterii …“) und sich die wirtschaftliche Lage aufgrund von dessen schädlicher Verschwendung täglich verschlechtert hatte („calamitosa profusione in peius quotidie ruentem“), ordnete Erzbischof Diether von Isenburg (1475 – 1482) am 17. April 1476 eine Überprüfung der Klosterökonomie und – sollten die Vorwürfe berechtigt sein – eine Absetzung des Johannes an.100 Im Jahre 1760 hatte Kommissar Huth in demselben Kloster Propst Kaltwasser zur Resignation gezwungen, „weil er weder der Ökonomie nützlich administriere … noch er den einem Propst obliegenden und anvertrauten Funktionen nicht mehr fähig erachtet werden könne“101. In seinem Bericht über die Lage in der Abtei Beuren vom Jahre 1762 musste der Kommissar feststellen: Nicht dem Propst allein können Nachlässigkeit und Versäumnisse in der klösterlichen Verwaltung angelastet werden. Vielmehr ist für die wirtschaftliche Prosperität ein Zusammenwirken von Propst und Kommunität vonnöten.102 Es gab auch Fälle, in denen Äbtissinnen schützend vor ihre Pröpste traten, wie z. B. Äbtissin Cordula Maria Seligen (1630 – 1663) von Teistungenburg dies tat. Als das Kommissariat aufgrund von Klagen der von Westernhagen gegen Cyriakus Köhler etwa im Jahre 1636 diesem den Verzicht auf die Propstei nahe legte, widersetzte sich die Äbtissin. Ihre Begründung lautete, sie könne den Propst in der derzeitigen Auseinandersetzung mit den von Westernhagen nicht entbehren, „weil sie alle 98

KA Heiligenstadt (Anm. 17), 285, 6, 15. Juni 1761 mit 5. Juni 1761. KA Heiligenstadt (Anm. 17), 281, 6 fol. 31v, 27r. 100 StA Würzburg Mainzer Ingrossaturbücher 38, fol. 18v–19r. Vgl. Valentin Ferdinand Gudenus (Hrsg.), Codex diplomaticus anecdotorum res Moguntinas illustrantium 4, Frankfurt/ Leipzig 1758, S. 815; Görich, Geschichte (Anm. 4), S. 195, XIX. 101 Zitat nach Görich, Geschichte (Anm. 4), S. 86, aus KA Heiligenstadt (Anm. 17), 278, Nr. 1. Vgl. auch 281, 6 fol. 28r. 102 KA Heiligenstadt (Anm. 17), 281, 6 fol. 28r (Bericht vom 26. Juni 1762). 99

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ihre liegenden Güter … müssen mit Zank erhalten“ und „daß (sie) mit stetigen Streiten und Klagen das ihrige und Klosters Gerechtigkeit verteidigen müssen“.103 VI. Die Anerkennung des Propstes Dem Propst wurde entsprechend seiner Stellung Respekt und Anerkennung geschenkt. Z. B. dokumentiert die hervorgehobene Stellung des Propstes ein Schreiben Papst HonoriusÏ IV. (1285 – 1287) an das Kloster Anrode. Gruß und Segen gelten zuerst dem Propst, dann der Äbtissin und schließlich auch dem Konvent. Von der Kommunität bemerkt der Pontifex, dass sie gewohnheitsmäßig von einem Propst und einer Äbtissin geleitet wird.104 Der Erzbischof erkannte dem Propst eine besondere Stellung zu, wie aus der Konfirmationsurkunde des Klosters Anrode vom 2. Januar 1269 zu entnehmen ist.105 Bei den zu tätigenden Wahlen soll zuerst der Propst, anschließend die Äbtissin oder Magistra gewählt werden. Dann bestimmt er das Verhältnis des Konventes zum Propst. Gleichwie dieser ihm Gehorsam gelobt, sollen die Äbtissin bzw. die Magistra und der Konvent dem Propst Gehorsam versprechen und überhaupt in allem den gebührenden Respekt bezeugen („… statuimus, quod conventus … abbatissam etiam eligat vel magistram, que et totus conventus ipsi preposito similiter prestent obedienciam …“).106 Die Heranziehung zu Rechtsgeschäften außerhalb der Zisterze dürfte ebenfalls für eine Achtung, die den Pröpsten entgegengebracht wurde, sprechen, wie z. B. die Bezeugung eines Vergleichs durch den Propst von Teistungenburg.107 VII. Das Siegel des Propstes Entsprechend seiner Stellung und seinem Rang führte der Propst neben Äbtissin und Konvent ein eigenes Siegel. Diesem waren Merkmale eingeprägt, die meistens einen Bezug zum jeweiligen Inhaber hatten und das Siegel gleichsam individualisierten. Die frühen Wachssiegel weisen in der Regel eine Siegelumschrift mit dem Namen des Propstes und des Klosters, der mit Präposition oder im Genitiv angefügt ist, aus. Das Zentrum des Siegels war ausgefüllt mit figürlichen und symbolischen Darstellungen. Sie bezogen sich auf den Namens- oder Klosterpatron und bildeten 103 Zitiert nach Philipp Knieb, Zur Geschichte des Cisterzienserinnen-Klosters Teistungenburg, in: Unser Eichsfeld 12, 1917, S. 49 – 67, 100 – 123, hier S. 61. Vgl. Godehardt, Aus der Geschichte (Anm. 67), S. 125. 104 „… per praepositum et abbatissam soliti gubernari“ (5. April 1286: UB Eichsfeld [Anm. 3], S. 378 Nr. 620). 105 UB Eichsfeld (Anm. 3), S. 305 – 306 Nr. 500; Görich, Geschichte (Anm. 4), S. 186 – 187, VI. 106 UB Eichsfeld (Anm. 3), S. 305 – 306 Nr. 500, hier S. 306. 107 UB Eichsfeld (Anm. 3), S. 341 – 342 Nr. 558.

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diese entweder als Figur mit seinen Attributen ab oder nur die Attribute des Heiligen. Deutlich erkennbar sind diese Elemente z. B. in dem relativ gut erhaltenen Siegel des Anröder Propstes Johannes von Knorre (1289 – 1319) aus dem Jahre 1302.108 Es ist durch einen Querstrich zweigeteilt. In der unteren Hälfte ist eine kniende Gestalt mit einem Gegenstand in den Händen (Johannes mit Kreuz/Becher? – zu dieser Zeit noch Patron des Klosters und zugleich Namenspatron des Propstes) dargestellt. Von der rechts oben beginnenden, entlang des Randes nach links oben geführten Umschrift lässt sich entziffern: + IONIS PROPOSITI IN ANRODE. Das Siegel des Teistungener Propstes Konemund (1382 – 1401) von 1395 zeigt den Klosterpatron, den Hl. Petrus, mit seinen Attributen und trägt die übliche Umschrift SIGL: PPOSIT: TEISTUNGE:.109 Im Wachssiegel des Propstes Augustinus Hucke (1725 – 1737) von Anrode, datiert am 21. Juni 1735110, ist im oberen linken Drittel ein Andreaskreuz, ein Hinweis auf den Patron des Klosters seit 1359 und im unteren mittig ein flammendes Herz, das Attribut des heiligen Augustinus, des Namenspatrons des Propstes, abgebildet; im Randbereich ist ein kordelartiges Band eingeprägt. VIII. Schluss Nach den Vorgaben bei der Einsetzung in die Propstei hatte der Propst in den drei dargestellten nicht inkorporierten Zisterzienserinnenklöstern des Eichsfeldes eine wichtige Funktion. Mit der Verantwortung für die Spiritualia et Temporalia waren ihm zwei Betätigungsfelder vom Erzbischof zugewiesen. Die überlieferten Quellen lassen den umfangreichen Kreis seines Wirkens erkennen. Gleichzeitig erhellt aus den Urkunden, Gutachten und Berichten, ob und wie sich der Propst bei seinem Handeln an das dem Erzbischof und Kurfürsten als dem geistlichen und weltlichen Jurisdiktionsträger im Eid gegebene Versprechen gehalten hat und ob und wie seine Tätigkeit für die Zisterze von Nutzen war. Wie in jedem Beruf gab es unter den Pröpsten hervorragende Persönlichkeiten, die mit ihrer Eignung, ihrem Eifer und ihrem Einsatz das ihnen anvertraute Kloster ökonomisch und spirituell zur Blüte führten, wie ein Nikolaus Jünemann in Beuren und David Böddener in Anrode, oder sich zum Schutz der Nonnen Gefahren und Risiken aussetzten, wie Cyriakus Köhler von Teistungenburg. Es gab aber auch Pröpste, die ihrer Aufgabe nicht gewachsen waren und das Kloster fast in den Ruin führten, wie ein Johannes von Jena, oder eine merkwürdige Entwicklung nahmen, wie ein Arnold Luckart, der wegen seiner Aktivitäten im Bauern-

108 Ausführlich Egler, Anrode (Anm. 2), S. 111 (mit Fundortangabe). Vgl. Ausfeld, Regesten (Anm. 4), S. 23 Nr. 54. 109 Siehe Egler, Teistungenburg (Anm. 2), S. 1495 (mit Fundortangabe). 110 Egler, Anrode (Anm. 2), S. 112 (mit Fundortangabe).

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krieg charakterisiert wurde als „überhaupt mehr rauher Kriegsmann als Priester“111. Beide leisteten dem Kloster Anrode ihre Dienste nur etwa ein Jahr.112 ,Friede, Ruhe und EinigkeitÐ113 – diese herzustellen bzw. zu bewahren, beschwor Georg Gräff mit seinem Eid – herrschten in den Klöstern, in denen sich Propst, Äbtissin und Konvent gemeinsam in beiden Bereichen um das Wohl und Wohlergehen der Zisterze sorgten. In einem solchen Klima konnte der Wiederaufbau nach den Kriegen des 16. und 17. Jahrhunderts gelingen. Dass die Äbtissinnen der eichsfeldischen Klöster mit ihren Begleiterinnen sich am 21. Januar 1803 vom preußischen Kriegs- und Domänenrat von Bassewitz weiterhin die Verwaltung durch Pröpste erbaten, spricht wohl insgesamt zu Gunsten der Tätigkeit der Pröpste in den zurückliegenden rund 600 Jahren. Die überwiegende Zahl der Pröpste war bemüht, nach ,bestem Wissen und GewissenÐ zu tun, „was einem rechtschaffenen Praepositus zu thun wohl anstehet“.114

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Görich, Geschichte (Anm. 4), S. 50. Vgl. Müller, „Überhaupt mehr rauher Kriegsmann als Priester“ (Anm. 84), S. 73 – 81. 112 Vgl. Egler, Anrode (Anm. 2), S. 103. 113 Vgl. den Eid des Propstes Gräff: StA Würzburg MRA Stifte und Klöster K 738/2686, o. D. 114 KA Heiligenstadt 281, 1, 27. September 1791.

Streiflichter auf dem Weg zur Entwicklung eines kirchlichen Medienrechts Von Gerlinde Katzinger I. Von den Anfängen bis zur Erfindung des Buchdruckes Seit ihren Anfängen hat es die Kirche mit sozialen Kommunikationsmitteln wesentlich zu tun. Gemäß dem Verkündigungsauftrag des auferstandenen Herrn Jesus Christus haben die Apostel und ihre Helfer sowie ihre Nachfolger mündlich und schriftlich das Evangelium zu den Menschen und Völkern gebracht. Die Kirche weiß sich von ihrem Wesen her dem Verkündigungsdienst verpflichtet. Dies kommt im geltenden Recht des CIC/1983 in c. 7471 zum Tragen, in dem von einem „officium et ius nativum“ gesprochen wird. Seit apostolischer Zeit bedurfte es immer wieder disziplineller Regeln, um die Unversehrtheit der Frohen Botschaft und der kirchlichen Lehre sicherzustellen und zu bewahren. Bereits im Neuen Testament findet sich als Beispiel für den Umgang mit Schriften, die einen fragwürdigen Inhalt aufweisen, eine Erzählung von einer Bücherverbrennung.2 Allerdings wurde die Vernichtung dieser Schriften nicht von einer religiö1 C. 747 § 1: „Christus der Herr hat der Kirche das Glaubensgut anvertraut, damit sie unter dem Beistand des Heiligen Geistes die geoffenbarte Wahrheit heilig bewahrt, tiefer erforscht und treu verkündigt und auslegt; daher ist es ihre Pflicht und ihr angeborenes Recht, auch unter Einsatz der ihr eigenen sozialen Kommunikationsmittel, unabhängig von jeder menschlichen Gewalt, allen Völkern das Evangelium zu verkündigen.“ 2 Apg 19,19: „Viele andere, die sich mit Zauberkunst abgegeben hatten, brachten ihre Bücher herbei und verbrannten sie vor aller Augen.“ Magische Praktiken dürften bei den Christen in Ephesus zu dieser Zeit weit verbreitet gewesen sein. Bauernfeind interpretiert die Bücherverbrennung als eine verlorene Schlacht für die Götter und Dämonen, denen in den Zauberbüchern gehuldigt wird sowie als Sieg für die christliche Mission. Vgl. Otto Bauernfeind, Kommentar und Studien zur Apostelgeschichte (Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament 22), Tübingen 1980, S. 231 f; Jacob Jervell, Die Apostelgeschichte (Kritisch-exegetischer Kommentar über das Neue Testament 3), Göttingen 1998, S. 483 f.; Gottfried Schille, Die Apostelgeschichte des Lukas (Theologischer Handkommentar zum Neuen Testament 5), Berlin 31989; Öffentliche Bücherverbrennungen sind auch bei anderen antiken Autoren belegt (vgl. Liv 40, 29; Sueton Aug 31); Josef Zmijewski, Die Apostelgeschichte (Regensburger Neues Testament), Regensburg 1994, S. 695. Auch im Alten Testament wird die Verbrennung einer Schriftrolle beschrieben, die allerdings von einer völlig anderen Ausgangssituation ausgeht. Jojakims Verhalten in Jer 36 ist beispielhaft für das Bekämpfen und Vernichten missliebiger Gedanken und Überzeugungen. Statt sich einer inhaltlichen Auseinandersetzung mit unangenehmen Wahrheiten oder neuen Ideen zu stellen, wird der gefährliche Weg der Flucht bzw. Verweigerung einer konstruktiven

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sen oder weltlichen Autorität angeordnet: nach dem Bericht der Apostelgeschichte waren die Bücher von ihren Besitzern nach ihrer Bekehrung aus eigenem Antrieb verbrannt worden, ohne Auftrag oder Zwang seitens der kirchlichen Autorität. Sowohl von kirchlicher als auch von weltlicher Seite gab es im Laufe der Geschichte immer wieder teils massive Versuche, Einfluss auf das Kommunikationsgeschehen zu nehmen, um Macht zu sichern und zu erhalten.3 Als Motiv für solche Taten wurde häufig vorgegeben, die Bevölkerung vor Schaden bewahren zu wollen. So wurde zu diesem Zweck Predigern, Gesetzgebern und anderen einflussreichen Persönlichkeiten verboten, öffentlich zu sprechen. Das Schicksal solcher Persönlichkeiten war neben der Konfiszierung ihrer Bücher nicht selten die Verbannung oder sogar ihre Tötung. Seit Kaiser Konstantin wurde die Kirche unter dem Schutz des Staates zur Großkirche. Eine Folge der engen Verbindung von Kirche und Staat war, dass Andersgläubigen jede seriöse Auseinandersetzung mit Glaubensfragen abgesprochen wurde; sie wurden Atheisten und Gottesfeinden gleichgestellt. Nunmehr galt die Büchervernichtung als ein geeignetes Mittel zum wirksamen Kampf gegen Glaubensfeinde. Neben der Vernichtung wurden deren Schriften auch konfisziert, an geheimen Orten versteckt und so unzugänglich gemacht. Die meisten Christen hielten die Vernichtung von Büchern für ein erlaubtes Mittel, um die Reinheit der Glaubenslehre zu bewahren.4 Als erstes kirchliches Bücherverbot, das allgemeine Gültigkeit erlangte, gilt das Verbot der Schrift „Thalia“ des Arius, das auf dem Konzil von Nizäa5 verfügt worden war. Auf Befehl des Kaisers Konstantin mussten alle Schriften des Arius und seiner Freunde zum Verbrennen ausgeliefert werden. Wer die Preisgabe arianischer Schriften verweigerte, hatte die Todesstrafe zu befürchten.6 Dieses Vorgehen wurde als logische Fortsetzung jenes Verhaltens verstanden, das schon in der Apostelgeschichte verlangt wurde.7 Das Verbot und der Aufruf zur Vernichtung arianischer Schriften war wegweisend für den zukünftigen Umgang mit Schriftstücken, in denen häretiAuseinandersetzung gewählt. Mit diesem Frevel zog sich König Jojakim ein Strafgericht Jahwes zu. Vgl. Georg Fischer, Jeremia 26 – 52 (Herders Theologischer Kommentar zum Alten Testament), Freiburg/Basel/Wien 2005, S. 299. 3 So wurden z. B. in Rom Werke v. a. aus religiösen und religiös-politischen Motiven vernichtet. Das allgemeine Wohlergehen und die Grundlagen der Verfassung wurden immer dann als gefährdet erachtet, wenn die Religion der Vorfahren bedroht erschien. Aus diesem Grund sollten die Schriften neuer Kulte vernichtet werden. Vgl. Wolfgang Speyer, Büchervernichtung und Zensur des Geistes bei Heiden, Juden und Christen, Stuttgart 1981, S. 51. 4 Ebd., S. 142 f, S. 166. Vgl. Adolf Harnack, Geschichte der altchristlichen Literatur bis Eusebius. Die Chronologie der Literatur bis Irenäus nebst einleitenden Untersuchungen, Teil 2, 1. Bd., Leipzig 21958. 5 Vgl. Mansi II, S. 637 ff. (Nachdruck, Graz 1960). 6 Ebd., S. 919. Vgl. Carl Joseph von Hefele, Conciliengeschichte. Nach den Quellen bearbeitet, 1. Bd., Freiburg im Breisgau 1873, S. 319. 7 Vgl. Joseph Hilgers, Der Index der verbotenen Bücher, Freiburg im Breisgau 1904, S. 4.

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sche Lehren und unliebsames Gedankengut verbreitet wurden: auf den Konzilien wurden häretische Lehren verurteilt. In der Folge verboten die Kaiser die betreffenden Bücher und ordneten ihre Vernichtung an.8 So wurde die Büchervernichtung bei der Durchsetzung der Beschlüsse des vierten allgemeinen Konzils von Chalcedon 451 im Kampf gegen die Eutychianer und Monophysiten eingesetzt. In einem Gesetz aus dem Jahr 455, das von den Kaisern Valentinianus und Marcianus gegen die Anhänger von Apollinaris und Eutyches erlassen worden war, wurde verfügt, dass alle Schriften, die gegen das Konzil von Chalcedon gerichtet waren und Lehren dieser Irrlehrer enthielten, zu verbrennen seien. Wer diesem gesetzlichen Befehl nicht nachkam, wurde mit Verbannung bestraft.9 Diese Praxis findet sich auch auf der Synode von Konstantinopel 536, wo die Verbrennung der Bücher des Severus verfügt wurde. Die Vollziehung dieser Anordnung wurde von Kaiser Justinian unter Bezugnahme auf ältere kaiserliche Erlässe verfügt.10 Die genannten Bücherverbote wurden durch Zusammenwirken der kirchlichen und staatlichen Gewalt vollstreckt. Das erste rein kirchliche Bücherverbot findet sich im Zusammenhang mit dem Origenistenstreit. Auf einer Synode zu Alexandrien im Jahr 399, die unter dem Vorsitz von Bischof Theophilus von Alexandrien stattfand, wurde angeordnet, dass niemand die Bücher des Origenes lesen oder besitzen dürfe.11 Nach Berichten des Sulpicius Severus12 haben sich ägyptische Mönche diesem Verbot widersetzt, mit dem Argument, die Leser könnten selbst zwischen gut 8 Vgl. z. B. ein Verbot des Kaisers Arcadius aus dem Jahr 398: wer die Bücher der Eunomianer nicht abliefert, soll mit dem Tod bestraft werden. CTheod. 1 XVI 5, 1, 34. Im Anschluss an die Synode von Ephesus 431 ordnete Kaiser Theodosius 435 an, dass es niemandem gestattet sei, die Bücher des Nestorius zu besitzen, zu lesen oder abzuschreiben. Seine Bücher müssten gesammelt und verbrannt werden. CTheod 1 XVI 5, 1, 66. CIust I, 1, 3: § 1 „Deshalb befehlen Wir, dass Alles, was Porphyrius, von seinem Aberwitze getrieben, oder irgend ein Anderer gegen den Gottesdienst der Christen geschrieben, wo es auch vorgefunden würde, dem Feuer übergeben werden soll. Denn wir wollen, dass Alles, was geschrieben ist, um Gottes Zorn herbeizuführen und was fromme Gemüter verletzt, nicht einmal zur Kenntnis der Menschen gelangen soll.“ § 3 „… so befehlen Wir, dass die verfassten Bücher dieser Art, sie mögen aus der früheren oder gegenwärtigen Zeit sich herschreiben, vorzüglich aber die, welche von Nestorius sind, verbrannt und dem sichersten Untergang geweihet werden sollen, so dass sie zu keines Menschen Wissenschaft gelangen können, indem Diejenigen, welche solche Schriften oder Bücher zu besitzen oder zu lesen sich unterfangen, die Todesstrafe erwartet.“ Vgl. Paul Krueger, Corpus Iuris Civilis, 2. Bd., Berlin 1915, S. 5; Karl Eduard Otto u. a. (Hrsg.), Das Corpus Iuris Civilis (Romani), 5. Bd., Leipzig 1832 (Neudruck Aalen 1984), S. 14 f. 9 CIust I, 5, 8, 9. Vgl. Krueger, Corpus Iuris Civilis (Anm. 8), S. 52; Otto, Das Corpus Iuris Civilis (Anm. 8), S. 139 f.; Mansi VII, S. 519. 10 Mansi VIII., S. 1153. Vgl. NovIust 42, 1, 2, wo auf Anordnung Kaiser Justinians die Schriften des Severus von Antiochien vollständig durch Feuer vernichtet werden mussten. Das Abschreiben dieser Texte wurde mit dem Abschlagen der Hand bestraft. Vgl. Krueger, Corpus Iuris Civilis (Anm. 8), S. 265; Otto, Das Corpus Iuris Civilis (Anm. 8), 7. Bd., S. 262. 11 Mansi III, S. 980 ff. 12 Sulpicii Severi Dialog. I, 6, 7. Vgl. Feßler, Das kirchliche Bücherverbot, Wien 1858, S. 33.

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und schlecht unterscheiden und Schriften, die viel Wahres enthielten, dürften nicht wegen einiger unwahrer und häretischer Inhalte verdammt werden. Die Bischöfe ließen diese Ausführungen nicht gelten und entgegneten, dass es von der Kirche mehr als genug approbierte Bücher gäbe und es daher nicht nötig sei, die Lektüre häretischer Bücher zuzulassen.13 Als erster „Index librorum prohibitorum“ in der Kirchengeschichte gilt das sogenannte „Decretum Gelasianum de libris recipiendis et non recipiendis“14, das auch in das Decretum Gratiani Eingang gefunden hat.15 Dieses Werk, das fälschlich Papst Gelasius I. zugeschrieben wurde und heute zu den pseudogelasianischen Schriften zählt, wird ungefähr in das Jahr 496 datiert und wurde auf der römischen Synode zur Unterscheidung von authentischen und apokryphen Schriften erlassen. Zur juristischen Begründung für die Festlegung, welche Schriften als echt und welche als unecht zu qualifizieren seien, stützte sich der Verfasser auf den von Papst Damasus im Jahr 382 verkündeten Primat der römischen Kirche. Als echt wurden all jene Schriften qualifiziert, die vollständig den Richtlinien der katholischen Kirche entsprachen: vor allem die Konzilsbeschlüsse der vier ökumenischen Konzilien, die Werke der Kirchenväter bis zu Leo dem Großen, die Dekretalen der Päpste, Märtyrerakten, Mönchsviten, die Silvesterlegende und kirchliche Schriftsteller, wie z. B. Rufinus von Aquileia, Eusebius oder der Augustinus-Schüler Orosius. Im Anschluss an dieses Kapitel nennt das Dekret eine Vielzahl apokrypher Schriften, die als ungeeignet für christliche Augen und Ohren, für das Seelenheil gefährlich und daher als ketzerisch qualifiziert werden, so z. B. die Werke von Pelagius, Nestorius16 oder Acacius.17 Verwunderlich ist, dass der Verfasser auch die Werke vieler anerkannt rechtgläubiger Schriftsteller unter den häretischen nennt.18 Auch im Mittelalter existieren bereits vor der Erfindung des Buchdruckes Bücherverbote in großer Zahl – meist im Zusammenhang mit Prozessen, die wegen des Verdachts der Häresie begonnen wurden. Stellvertretend sollen hier nur einige bekannte

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Franz Heinrich Reusch, Der Index der verbotenen Bücher. Ein Beitrag zur Kirchen- und Literaturgeschichte, Bonn 1883 – 1885 (Neudruck Aalen 1967), 1. Bd., S. 11. 14 Vgl. Ernst von Dobschütz, Das Decretum Gelasianum de libris recipiendis et non recipiendis, Leipzig 1912. 15 Decretum Gratiani, D 15 c. 3. Vgl. Emil Friedberg (Hrsg.), Corpus Iuris Canonici, 1. u. 2. Bd., Graz 1959 (Nachdruck). 16 CIust L I, tit. 5, 6 verbietet es, die Bücher des Nestorius zu besitzen, zu lesen oder abzuschreiben. Vielmehr sollten diese sorgfältig aufgespürt und öffentlich verbrannt werden. Außerdem wurden Zusammenkünfte verboten, auf denen das Werk des Nestorius diskutiert werden sollte. 17 Vgl. Walter Ullmann, Gelasius I. (492 – 496), Stuttgart 1981, S. 243, S. 256 ff. 18 Deutlich wird die Fragwürdigkeit des Decretum Gelasianum v. a. auch daran, dass der Verfasser den Thascius Cyprian zu den verurteilten häretischen Schriftstellern zählt, während er den Caelius Cyprian ganz vorne unter den empfohlenen Autoren nennt, offenbar unwissend, dass beide Namen denselben Kirchenvater bezeichnen. Vgl. Dobschütz, Das Decretum Gelasianum (Anm. 14), S. 314; Ullmann, Gelasius I. (Anm. 17), S. 258 f.

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Namen wie Berengar von Tours, Abaelard, Scotus Eriugena, John Wiclif19 oder Jan Hus20 genannt werden. Zusätzlich zum Bücherverbot wurden häufig auch kirchliche Strafen wie Exkommunikation oder Klosterhaft, gemeinsam mit weltlichen Strafen wie Konfiszierung des Vermögens, Verhaftung oder Hinrichtung verhängt.21 Zu den berühmtesten Beispielen für Bücherverbote im Mittelalter zählt die sogenannte Abendmahlsbulle, die Bulla in coena Domini. So wurde jene Zusammenstellung von Exkommunikationen genannt, die von den Päpsten verhängt und jedes Jahr am Gründonnerstag feierlich verkündet worden waren. Über den Ursprung und die Entwicklung der Bulle herrschen unterschiedliche Auffassungen. Während manche Rechtshistoriker die älteste Fassung der Abendmahlsbulle auf Papst Gregor IX. in das Jahr 1229 zurückführen22, nehmen andere Autoren als ersten Verfasser Urban V.23 an, der im Jahr 1363 Exkommunikationsfälle, die sich der Papst zur Absolution reserviert hatte, zusammenfasste und daher eher als Redaktor denn als Autor zu qualifizieren ist.24 Die nachfolgenden Päpste haben die Bulla in coena Domini mehrfach modifiziert und ergänzt.25 Die letzte Redaktion der Bulle nahm Papst Urban VIII. mit der Konstitution „Pastoralis“ vom 1. Februar 1627 vor, mit der die Abendmahlsbulle ihre endgültige Form erhielt.26 Unter Papst Pius V. wurde die Abendmahlsbulle 1568 zum kirchlichen Strafgesetz erhoben und erhielt damit allgemeine Rechtsverbindlichkeit. Bis zu ihrer Derogation durch die Konstitution von Papst Pius IX. „Apostolicae sedis moderationi“27 vom 12. Oktober 1869 blieb sie in ihrer Form unverändert. 19 Seine Bücher wurden auf der Sommersynode am 16. Juni 1410 als häretisch beurteilt und vom Prager Erzbischof zur Verbrennung bestimmt. Die Verbrennung war in der päpstlichen Bulle nicht angeordnet worden. Vgl. Hefele, Conciliengeschichte (Anm. 6), Bd. 7, S. 41. 20 Seine Schriften wurden zwischen dem 21. und 24. Juni 1415 von der Synode verurteilt und deren Verbrennung angeordnet. Vgl. Mansi XXVII, S. 752 f.; Hefele, Conciliengeschichte (Anm. 6), 7. Bd., S. 186. 21 Ausführlich dazu Hilgers, Der Index (Anm. 7), S. 5 ff.; Reusch, Index (Anm. 13), 1. Bd., S. 14 ff. 22 Vgl. Peter Leisching, Abendmahlsbulle, in: LThK3 I, Sp. 35; Emil Göller, Die päpstliche Pönitentiarie von ihrem Ursprung bis zu ihrer Umgestaltung unter Pius V., 1. Bd., Teil 1, Rom 1907, S. 243. 23 Vgl. Ludwig Vones, Urban V. (1362 – 1370). Kirchenreform zwischen Kardinalskollegium, Kurie und Klientel (Päpste und Papsttum 28), Stuttgart 1998. 24 Vgl. Magnum bullarium romanum, tom. 3, pars 2, 325 ff.; Reusch, Index (Anm. 13), 1. Bd., S. 72. 25 Z. B. Julius II. 1510: ebd., 3. Bd., Teil 3, S. 319 ff.; Paul III. 1536: ebd., 4. Bd., Teil 1, S. 140 ff.; Gregor XIII. 1583: ebd., 4. Bd., Teil 4, S. 27 ff. 26 Ebd., 6. Bd., Teil 1, S. 32 f.; Vgl. Carl Mirbt, Quellen zur Geschichte des Papsttums und des römischen Katholizismus, Tübingen 1924, S. 369 – 371. 27 Mit dieser Apostolischen Konstitution wurde das kirchliche Strafrecht und v. a. die Zensuren latae sententiae neu festgelegt und die unübersichtliche Zahl der Zensuren, die in der Abendmahlsbulle enthalten waren, reduziert. Die verbliebenen Zensuren und die Absolutionsbefugnis wurden neu und klar umschrieben. Vgl. Hans Barion, Apostolicae Sedis moderationi, in: RGG3 I, S. 509 f.; Petrus Gasparri, Codicis Iuris Canonici Fontes, 3. Bd.,

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Neben verschiedensten anderen Tatbeständen enthielt die Bulla in coena Domini auch für die Lektüre häretischer und schismatischer Schriften die päpstlich reservierte Exkommunikation.28 Der Verstoß gegen diese Bestimmungen wurde mit der excommunicatio latae sententiae geahndet und zog nicht nur den Ausschluss von den Sakramenten und die Unfähigkeit, ein kirchliches Amt zu erlangen, nach sich, sondern auch den Ausschluss vom öffentlichen Gottesdienst, die Verweigerung eines kirchlichen Begräbnisses und den Verlust der Jurisdiktionsrechte. Ein Verstoß gegen das Bücherverbot, wie es die Abendmahlsbulle vorsah, musste folgende Elemente beinhalten:29 – Das inkriminierte Buch musste über die Religion handeln und eine Häresie enthalten. – Das Buch musste von einem Häretiker verfasst sein. Es genügte nicht, wenn ein Ungetaufter oder ein Katholik unwissentlich oder unvorsichtig eine Häresie verbreitet hatte. – Der Leser musste über diese Punkte Bescheid wissen. – Er musste das Buch ohne Erlaubnis des Apostolischen Stuhles lesen. – Er musste so viel lesen, dass der Tatbestand der Todsünde erfüllt war.30 Mit dem Aufkommen des Staatskirchentums formierte sich in vielen Staaten heftiger Widerstand gegen die Publikation der Abendmahlsbulle.31 Dieser Widerstand führte dazu, dass Papst Clemens XIV. seit dem Jahr 1770 auf die Publikation der Bulle verzichtete. Die innerkirchliche Weitergeltung der in der Bulle angedrohten Strafen sollte von dieser Maßnahme aber unberührt bleiben. Richard Strigl sieht hier zutreffend den ersten Riss und ein erstes Auseinanderklaffen zwischen dem rechtlichen Anspruch der Kirche auf den Vollzug der Strafgewalt und der praktischen Verwirklichung.32 Rom 1925, S. 24 – 31; Joseph Hollweck, Die kirchlichen Strafgesetze, Mainz 1899, S. 356 – 362. 28 Vgl. J. Diendorfer (Vorn. auch i. Autorenverz. abgekürzt), Bulla in Coena Domini, in: Wetzer-Welte2 II, Sp. 1477; Wilhelm Rees, Die Strafgewalt der Kirche. Das geltende kirchliche Strafrecht – dargestellt auf der Grundlage seiner Entwicklungsgeschichte, Berlin 1993, S. 147 – 151. 29 F. Lucii Ferraris, Prompta bibliotheca canonica, juridica, moralis, theologica nec non ascetica, polemica, rubricistica, historica, tom. 5, Petit-Montrouge 1854, S. 107 ff. 30 Über den Umfang gab es keine einheitliche Meinung. Ferraris vertrat die Ansicht, dass sich keine allgemeine Regel aufstellen lasse und Ansichten, die die Menge nach Zeilen oder Seiten festlegten, nicht haltbar waren. 31 In Neapel wurde z. B. die Publikation verboten. Bischöfen, die dieses Verbot missachteten, wurden die Temporalien gesperrt. Auch in Frankreich, Spanien, Portugal und anderen Ländern durfte die Bulle nicht publiziert werden. Vgl. Reusch, Index (Anm. 13), 1. Bd., S. 78 f.; Diendorfer, Bulla in Coena Domini (Anm. 28), Sp. 1474 – 1479. 32 Richard Adolf Strigl, Das Funktionsverhältnis zwischen kirchlicher Strafgewalt und Öffentlichkeit. Grundlagen, Wandlungen, Aufgaben (MThSt III. kan. Abt. 21), München 1965, S. 109.

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Abschließend kann mit Willibald Plöchl festgestellt werden, dass die Abendmahlsbulle, die von der Staatsgewalt als höchst gefährliches Instrument der Kurie bekämpft wurde, in ihrer Wirkung weit überschätzt worden war und für die Kurie bis ins 19. Jahrhundert überwiegend ein Instrument des kirchlichen Prestiges darstellte.33 II. Die Erfindung des Buchdruckes Im Jahre 1450 erfand Johannes Gutenberg die Kunst des Buchdruckes mit beweglichen Lettern.34 Mit seiner Erfindung schuf er die bedeutendste Grundlage für die Entwicklung und Verbreitung von Schriften. Dies sollte bis ins 20. Jahrhundert so bleiben. Durch den Buchdruck konnte jede Art der Information rasch und problemlos festgehalten und ebenso schnell kommuniziert werden. Vor dieser bahnbrechenden Erfindung wurden Bücher durch Abschreiben vervielfältigt, was nur eine geringe Auflage und Verbreitung, die zudem auf bestimmte Kreise beschränkt war, zuließ. Die Kunst des Buchdruckes führte zu einer starken Vereinfachung und Beschleunigung bei der Verbreitung von Büchern, Flugblättern und anderen Schriftstücken. Die kirchliche Autorität reagierte darauf mit einer verschärften Überwachung und Überprüfung der verbreiteten Druckwerke durch ihre Behörden. Die nachträgliche Zensur bereits erschienener Werke erschien den zuständigen Institutionen nicht mehr ausreichend und so wurde verstärkt das Kontrollmittel der Vorzensur eingesetzt. Bevor zu dieser Frage universalrechtlich geltende päpstliche Dekretalen erlassen wurden, existierten schon partikularrechtliche Verordnungen zum Zwecke der Kontrolle des Buchdrucks mit lokaler Geltung. Bekannt sind solche Verordnungen vor allem aus deutschen Bistümern und Universitäten. Zu nennen ist hier u. a. ein Dekret von Papst Sixtus IV.35 aus dem Jahr 1479, mit dem er den Rektor und Dekan der Universität Köln ermächtigte, gegen Drucker, Käufer und Leser häretischer Bücher 33 Plöchl V, S. 46 ff.: „Von heute gesehen wurde sie von den Zeitgenossen bei weitem überschätzt, von der Staatsgewalt als eines der gefährlichsten Instrumente der römischen Kurie bekämpft und vom literarischen Streitgespräch in einer Weise hochgespielt, wie sie es sich bei weitem nicht verdiente. Für die Aufklärung trug sie das Odium der Rebellion in sich. Für die Kurie war sie bis ins 19. Jahrhundert in erster Linie eine Frage des kirchenrechtlichen Prestiges, wobei der Realismus PiusÏ IX. 1869 dieses kirchenrechtliche Gespenst mit seiner Reformkonstitution ,Apostolicae Sedis moderationiÐ (1869) verscheuchte, die wenigen damals noch als bedeutungsvoll angesehenen Elemente auf ihren noch anwendbaren Wert reduzierte und damit die ,so berufene Bulle In Coena DominiÐ, wie sie Le Bret in seiner 1769 zum erstenmal erschienenen und damals viel gelesenen Schmähschrift genannt hatte, im wahrsten Sinne des Wortes in nichts auflöste.“ 34 Vgl. Stephan Füssel, Gutenberg und seine Wirkung, Frankfurt am Main 1999; ders., Johannes Gutenberg, Hamburg 22000; Albert Kapr, Johannes Gutenberg. Persönlichkeit und Leistung, München 1987; Leonhard Hoffmann, Die Gutenbergbibel. Eine Kosten- und Gewinnschätzung des ersten Buchdrucks auf der Grundlage zeitgenössischer Quellen, in: Historische Kommission des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels (Hrsg.), Archiv für Geschichte des Buchwesens, 39. Bd., Frankfurt am Main 1993, S. 255 – 319. 35 Ludwig Pastor, Geschichte der Päpste im Zeitalter der Renaissance von der Thronbesteigung PiusÏ II. bis zum Tode SixtusÏ IV., 2. Bd., Freiburg 1894, S. 427 ff.

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kirchliche Strafen zu verhängen und eine ständige kirchliche Zensur auszuüben.36 Diese Weisung wurde von Papst Alexander VI. bestätigt. Große Bedeutung und Berühmtheit unter den einschlägigen partikularrechtlichen Gesetzen erlangte das Zensuredikt des Mainzer Erzbischofs Berthold von Henneberg37 vom 10. Jänner 1486, mit dem er das neue „Massenmedium Buch“, das ja von Mainz seinen Ausgang genommen hatte, unter kirchliche Aufsicht stellen wollte: „Denn wer wird den Laien und ungelehrten Menschen und dem weiblichen Geschlecht, in deren Hände die Bücher der heiligen Wissenschaft fallen, das Verständnis verleihen, den wahren Sinn herauszufinden?“ – mit diesen Worten äußert er seine Sorge vor einem Missbrauch dieser neuen Kunst.38 Da die Buchdruckerkunst göttlichen Ursprungs (cum initium huius artis divinitus emerserit) und daher selbst eine göttliche Kunst sei (divina quaedam imprimendi ars), sah sich Erzbischof Berthold verpflichtet, diese göttliche Kunst, die aus seiner Bischofsstadt ihren Ausgang genommen hatte, vor Manipulation und kommerzieller Ausbeutung zu bewahren.39 Das Zensuredikt Bertholds von Henneberg richtete sich hauptsächlich gegen den Druck von Übersetzungen, die oftmals unzulänglich und missverständlich waren und teilweise auch unter einem falschen Namen erschienen. Zum „Schutz“ des Buchdruckes verfügte der Mainzer Erzbischof ein allgemeines Übersetzungsverbot der Bücher, unabhängig von ihrer inhaltlichen Ausrichtung. Ebenso war es verboten, übersetzte Werke zu verbreiten und zu erwerben. An den Universitäten der Städte Mainz und Erfurt wurden eigene Zensoren beauftragt, deren Aufgabe es war, die Bücher sowohl vor der Drucklegung als auch vor dem Verkauf zu überprüfen und bei positiv erfolgter Überprüfung durch einen Sichtvermerk freizugeben. Ziel dieser Kommission war es, die in die Landessprache übersetzten Werke auf wissenschaft-

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Dieter Werkmüller, Bücherkommissar, in: Adalbert Erler u. a. (Hrsg.), Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, 1. Bd., Berlin 1971, S. 527 ff.; http://parapluie.de/archiv/ china/vernunft/. 37 Berthold von Henneberg, 1484 – 21. Dezember 1504. Sein Einsatz auf dem Wormser Reichstag war wesentlich für das Zustandekommen des Landfriedens. Vgl. Franz Falk, Berthold von Henneberg, in: Wetzer-Welte2 II, Sp. 475 f.; Adolf Laufs, Berthold von Henneberg, in: Adalbert Erler u. a. (Hrsg.), Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, 2. Bd., Berlin 1978, S. 78; Alois Gerlich, Berthold von Henneberg, in: LexMA I, Sp. 2029 f.; Alfred Schröcker, unio atque concordia. Reichspolitik Bertholds von Henneberg 1484 bis 1504, Würzburg 1970 (maschinschriftliche Dissertation). 38 Instruktion für die Zensoren vom 10. Jänner 1486, in: Gudenus, Codex diplomaticus, 4. Bd., Frankfurt 1758, Nr. 223, S. 469; Fritz Hartung, Berthold von Henneberg, Kurfürst von Mainz, in: Historische Zeitschrift 103 (1909), S. 527 – 551, hier S. 533. 39 Franz Falk, Die Druckkunst im Dienste der Kirche zunächst in Deutschland bis zum Jahre 1520, in: Görresgesellschaft zur Pflege der Wissenschaft im katholischen Deutschland, Zweite Vereinsschrift für 1879, Köln 1879 (Nachdruck Amsterdam 1969), S. 3 – 108. Vgl. Franz Schneider, Pressefreiheit und politische Öffentlichkeit. Studien zur politischen Geschichte Deutschlands bis 1848 (Politica. Abhandlungen und Texte zur politischen Wissenschaft 24), Neuwied am Rhein/Berlin 1966, S. 16 f.

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liche Korrektheit zu überprüfen, um so der Geschäftemacherei einiger Buchdrucker begegnen zu können.40 Ein weiteres Beispiel für partikularrechtliche Verordnungen zur Kontrolle des Buchdrucks stellt das aus dem Jahr 1491 stammende Dekret des päpstlichen Legaten Nikolaus Franco dar, das für Venedig erlassen wurde und den Gläubigen unter Androhung von Exkommunikation und Geldstrafen verbot, „fortan Bücher, welche vom katholischen Glauben oder kirchlichen Dingen handeln, außer den gewöhnlichen, ohne ausdrückliche Erlaubnis des Bischofs oder Generalvicars des betreffenden Ortes [zu] drucken oder drucken [zu] lassen“41Als erstes päpstliches universalrechtliches „Mediendokument“ der Kirchengeschichte gilt die Konstitution „Inter Multiplices“42 von Papst Innozenz VIII. über „Die Kirche und die neu entstandene Buchdruckerkunst“ vom 17. November 1487, die an die gesamte Kirche gerichtet war. Die Konstitution beginnt mit einer Würdigung der Bedeutung des Buchdrucks bei der Verbreitung von wertvollen Informationen zu Kunst, Wissenschaft und den guten Sitten. Mehr noch aber stellte Papst Innozenz VIII. die Gefahren dieser neuen Erfindung, „wenn das, was sich als schädlich und der gesunden Lehre, den ehrbaren Sitten und vor allem der wahren Religion abträglich erweist, veröffentlicht und auf dem Weg des Schrifttums der Masse zur Kenntnis gebracht wird“ in den Mittelpunkt seiner Ausführungen. Um dieser Gefahr zu begegnen, führte der Papst sowohl die Präventiv- als auch die Repressivzensur ein und verlangte eine entsprechende Kontrolle über die Drucker, „damit sie nichts drucken, was als dem katholischen Glauben widersprechend erkannt ist, ihn gefährden oder wahrscheinlich unter den Gläubigen Ärgernis erregen könnte“43. Für die Zukunft verlangte er daher von den Buchdruckern unter Androhung der Tatstrafe der Exkommunikation und unter der Auflage von Geldstrafen, deren Höhe im Ermessen des Ortsordinarius lag, vor der Drucklegung die ausdrückliche Erlaubnis des Päpstlichen Stuhles bzw. des Ortsordinarius einzuholen. Zusätzlich wurden alle Bischöfe verpflichtet, von ihren Buchdruckern die Vorlage einer Liste mit all ihren gedruckten Büchern, Traktaten und sonstigen Schriften zu verlangen. Außerdem hatten sie alle Druckschriften, die von der zuständigen Autorität für pietätlos, Ärgernis erregend und dem wahren Glauben widersprechend erklärt wurden, abzuliefern. Für den Fall des Zuwiderhandelns drohten die Tatstrafe der Exkommunikation und Geldstrafen. Solcherart eingezogene Druckerzeugnisse sollten verbrannt werden. Weiters wurde es verboten, diese Druckerzeugnisse zu binden 40 Rolf Decot, Das Erzbistum im Zeitalter von Reichsreform – Reformation – Konfessionalisierung (1484 – 1514), in: Friedhelm Jürgensmeier (Hrsg.), Handbuch der Mainzer Kirchengeschichte. Neuzeit und Moderne, 3. Bd., Teil 1 (Beiträge zur Mainzer Kirchengeschichte 6), Würzburg 2002, S. 29. 41 Diendorfer, Büchercensur, in: Wetzer-Welte2 II, 1440; Reusch, Index (Anm. 13), S. 56 ff. 42 Arthur Utz/Brigitta von Galen (Hrsg.), Die katholische Sozialdoktrin in ihrer geschichtlichen Entfaltung. Eine Sammlung päpstlicher Dokumente vom 15. Jahrhundert bis in die Gegenwart, 2. Bd., Aachen 1976, S. 1525 – 1529. 43 Ebd., S. 1527.

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und aufzubewahren. Die Erzeuger der inkriminierten Druckschriften wurden auf ihre Motive hin überprüft und unter Häresieverdacht44 gestellt. Papst Innozenz VIII. hielt es sogar für notwendig, die Unterstützung der weltlichen Gewalt in Anspruch zu nehmen und sicherte ihr, „damit sie sich eifriger dieser Sache annehme“, die Hälfte der festgesetzten Strafgelder zu.45 Ausnahmen gab es nur für jene Buchdrucker, die ein apostolisches Indult vorweisen konnten, in dem vollständig, ausdrücklich und Wort für Wort solche Sonderzugeständnisse umschrieben waren. Papst Alexander VI. setzte diese Tradition fort und erließ am 1. Juni 1501 neuerlich eine partikularrechtliche Konstitution für die deutschen Provinzen46 mit dem gleichen Titel „Inter multiplices“. Sie hatte im Wesentlichen denselben Inhalt wie die gleichnamige Konstitution von Innozenz VIII. und befasste sich nahezu ausschließlich mit den Gefahren der neuen Erfindung für das kirchliche Wissensmonopol und deren Bekämpfung. Unter Androhung der Tatstrafe der Exkommunikation, verbunden mit einer Geldstrafe, wurde die Präventivzensur verordnet. Künftig mussten in den genannten Provinzen Köln, Mainz, Trier und Magdeburg die Drucker beim zuständigen Erzbischof, Generalvikar oder Offizial die Erlaubnis zum Druck einholen. Diese mussten vor Erteilung der Druckerlaubnis – die unentgeltlich gegeben wurde – Sachverständige konsultieren. Zusätzlich zur Präventivzensur wurden die Drucker aufgefordert, Verzeichnisse aller bereits gedruckten Bücher zur Überprüfung vorzulegen. Druckwerke, die der kirchlichen Überprüfung nicht standhielten, mussten unter Androhung der Tatstrafe der Exkommunikation und einer Geldstrafe abgeliefert und verbrannt werden. Die kirchliche Autorität war weiters verpflichtet, nachzuforschen, wer den Druck der inkriminierten Schriften und aus welchem Motiv heraus angeordnet hatte und unternahm es in der Folge, die fraglichen Personen und Institutionen auf ihre Rechtgläubigkeit hin zu überprüfen. Als Strafen wurden Exkommunikation, Suspension und Interdikt festgelegt, ohne die Möglichkeit eines Rechtsmittels. Als Hilfsorgan bei der Vollstreckung sollte die staatliche Gewalt in Anspruch genommen werden, gegen Abtretung der Hälfte der eingehobenen Geldstrafen. Das Problem der Verbreitung häretischer Bücher beschäftigte die Synodalen auch auf dem 5. Laterankonzil, das 1512 von Papst Julius II. einberufen wurde und 1513 vom neu gewählten Papst Leo X. fortgesetzt wurde. Auf der 10. Sitzung, die im Jahr 1515 tagte, wurde ausführlich die Sorge der Kirche über die Verbreitung schlechter Bücher zur Sprache gebracht. Die Ergebnisse wurden in der Konstitution „Inter sollicitudines“47, die für den Bereich der gesamten Kirche Geltung besaß und über den Druck und die Verbreitung der Bücher handelte, am 4. Mai 1515 veröffentlicht. Am 44

Vgl. Heinrich Flatten, Der Häresieverdacht im Codex Iuris Canonici, Amsterdam 1963. Utz/Galen, Die katholische Sozialdoktrin (Anm. 42), S. 1529. 46 In der Bulle werden besonders die Provinzen Köln, Mainz, Trier und Magdeburg genannt. Vgl. Reusch, Index (Anm. 13), 1. Bd., S. 55. 47 Magnum bullarium romanum. Bullarium privilegiorum ac diplomatum romanorum pontificum amplissima collectio, Bd. 3, Teil 3, Graz 1964, S. 409 f. (Nachdruck). 45

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Beginn steht zwar eine kurze lobende Erwähnung der Buchdruckerkunst, die durch die „Gunst des Himmels“48 erfunden, erhöht und vervollkommnet worden ist und das Studium der Wissenschaften und die Ausbildung der Gelehrten sehr erleichtert; überwiegend ist „Inter sollicitudines“ aber von Kritik über den Missbrauch der neuen Erfindung geprägt. Beklagt wird vor allem, dass die Buchdrucker Bücher drucken und verbreiten, die Irrtümer gegen den Glauben und Lehren, die der christlichen Religion widersprechen, enthalten. Um die Missstände in den Griff zu bekommen, verfügte Papst Leo X. mit Zustimmung des Konzils, dass vor einer geplanten Drucklegung eine kirchliche Approbation eingeholt werden müsse. Bücher und Schriften, die in Rom gedruckt werden sollten, mussten vom Vicarius Urbis49 und dem Magister Sacri Palatii überprüft werden. Nach sorgfältiger Prüfung musste bei einem positiven Befund die Druckerlaubnis ohne Zögern und unentgeltlich erteilt werden. Der unerlaubte Druck eines Buches wurde mit der Konfiszierung und dem Verbrennen der gesamten Auflage geahndet. Zusätzlich wurde eine Geldstrafe in der Höhe von 100 Dukaten und ein Verbot der Gewerbeausübung auf ein Jahr verhängt. Aus dem Inhalt der Konstitution „Inter sollicitudines“ wird deutlich, dass noch niemand abschätzen konnte, in welchem Ausmaß – vor allem im Hinblick auf die Auflagenhöhe – die neue Erfindung des Buchdruckes Auswirkungen auf die Verbreitung von Druckwerken haben würde. Vom Wirkungsbereich der Konstitution sollten alle Bücher und Druckwerke erfasst werden, nicht nur solche mit theologischem Inhalt. Diese Auslegung war aber von Anfang an umstritten.50 Offensichtlich haben sich die Verfasser von „Inter sollicitudines“ zu stark an der Vergangenheit orientiert, wo trotz eines gut entwickelten Kopiersystems die Bücher nur in wenigen Exemplaren vorhanden waren und einen sehr eingeschränkten Verbreitungskreis hatten. Dass durch den Buchdruck mit seinen technischen Möglichkeiten sowohl die Anzahl der Bücher als auch die Auflagenhöhe in einem nie gekannten Ausmaß ansteigen würde, war offensichtlich nicht bedacht worden. Umfassend und gezielt medienpolitisch wurden Druckwerke zum ersten Mal im Zeitalter der Reformation, die eindeutig auch als medienpolitisches Ereignis zu qualifizieren ist, eingesetzt.51 Nicht haltbar ist aber die lange Zeit vertretene Auffassung, 48

Ebd. Vgl. Hefele, Conciliengeschichte (Anm. 6), Bd. 8, S. 650. F. Lucii Ferraris, Prompta Biblioteca. Canonica, Iuridica, Moralis, Theologica, nec non Ascetica, Polemica, Rubricistica, Historica, Petit-Montrouge 1857, 7. Bd., S. 1177 ff. 50 In der Praxis zeigte sich aber, dass der Schwerpunkt der Zensur hauptsächlich auf theologischen Werken lag. Vgl. die Konstitution „Exsurge Domine“ vom 15. Juni 1520, mit der Papst Leo X. sämtliche Schriften Luthers – inklusive solcher, die erst erscheinen sollten – unter der Strafe der Exkommunikation verboten hatte. Vgl. Magnum bullarium romanum, Bd. 3, Teil 3, S. 487 ff.; Eisenhardt, Die kaiserliche Aufsicht über Buchdruck, Buchhandel und Presse im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation (1496 – 1806), S. 25; Plöchl V, S. 372. 51 Wolf bezeichnet die Reformation als medienpolitische Revolution. Vgl. Hubert Wolf, Zensur – Medienpolitik – Index, in: Andreas Holzem (Hrsg.), Normieren, Tradieren, Inszenieren. Das Christentum als Buchreligion, Darmstadt 2004, S. 304; ders., Index. Der Vatikan 49

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durch die Reformation sei die Initialzündung für das Grundrecht der Pressefreiheit erfolgt.52 Es ist unbestritten, dass die Reformation ein zentrales Ereignis für die Entwicklung der Religions- und Meinungsäußerungsfreiheit darstellt. Aber weder die Pressefreiheit noch die Freiheit der Religionsausübung können als unmittelbare Folge der Reformation qualifiziert werden. Die Forderung nach Meinungsäußerungsfreiheit und Religionsfreiheit diente in erster Linie der Verbreitung der eigenen Ideen und nicht der fundamentalen Sicherung der Grundrechte.53 Durch die Ereignisse der Reformation intensivierten sowohl die Kirche als auch die weltliche Macht ihren Widerstand gegen einschlägige Druckwerke. Sechs Jahre nach der Veröffentlichung von „Inter sollicitudines“ wurde diese Konstitution auf dem Reichstag zu Worms 1521 durch einen kaiserlichen Erlass Karls V. ergänzt, das sogenannte Wormser Edikt.54 Dieses Dokument war ein Ergebnis des Wormser Reichstages 1521 und stellte eine Ergänzung zur Bulle „Inter sollicitudines“ dar. Bekannt wurde dieser Erlass als Gesetz gegen Martin Luther und seine Anhänger; dass der zweite Teil des Dokuments ein eigenständiges Zensuredikt darstellt, das weit über die lutherische Frage hinausgeht, ein allgemeines Verbot aller Druckwerke, die sich gegen den Papst und die Lehre der Kirche wandten, enthält und damit grundsätzlich gegen die Freiheit der Presse55 gerichtet ist, wurde bisher in der Forschung nur wenig beachtet. Das Wormser Edikt, mit dem über Luther und seine Anhänger die Reichsacht verhängt wurde, nennt als Autor Kaiser Karl V.56 Inhaltlich ist das Edikt aber hauptsächund die verbotenen Bücher, München 2006, 15; Gottfried Maron, Katholische Reformation und Gegenreformation, in: TRE XVIII (1989), S. 45 – 72. 52 Vgl. z. B. Sebald Brendel, Betrachtungen über den Werth der Preßfreyheit, Bamberg 1815, S. 13 ff.; Walter Dillenz, Druckprivilegien und Drucker zwischen Kapitalismus und europäischem Religionsstreit, in: Robert Dittrich, Die Notwendigkeit des Urheberrechtsschutzes im Lichte seiner Geschichte (Österreichische Schriftenreihe zum gewerblichen Rechtsschutz, Urheber- und Medienrecht 9), Wien 1991, S. 46 – 58. 53 Schneider, Pressefreiheit und politische Öffentlichkeit (Anm. 39), S. 28 f. 54 Johann Friedrich Schannat/Joseph Hartzheim, Concilia Germaniae, Bd. 6, Köln 1765 (Neudruck Aalen 1982), S. 182 – 189. In deutscher Übersetzung Peter Fabisch/Erwin Iserloh (Hrsg.), Dokumente zur Causa Lutheri (1517 – 1521). Vom Augsburger Reichstag 1518 bis zum Wormser Edikt 1521, 2. Teil, Münster 1981, S. 510 – 545; Ernst Walder (Hrsg.), Kaiser, Reich und Reformation 1517 bis 1525, Bern 31966, S. 35 – 48. 55 Mit „Presse“ werden vor 1600 Bücher, Einblattdrucke, Flugblätter, Flugschriften, Sendbriefe etc. bezeichnet. Um 1600 entstehen periodische Schriften. Vgl. Schneider, Pressefreiheit und politische Öffentlichkeit (Anm. 39), S. 23. 56 In seiner Erklärung vom 19. April 1521 deklarierte sich der Kaiser als Verteidiger des katholischen Glaubens; als solcher müsse er gegen Luther und seine Schriften vorgehen. Unterzeichnet hat er das Edikt aber erst am 25. Mai 1521, nachdem der Reichstag schon beendet worden war. Bei der erstmaligen Vorlage des Dokuments hatte der Kaiser vorerst die Unterschrift noch verweigert. Mit Kaiser Karl V. begann auch eine neue Epoche im Hinblick auf die Zensur durch die Staatsmacht. Der Schutz der Religion wurde zum zentralen Inhalt staatlicher Vorschriften. Die Überwachung der Druckereien wurde sowohl geistlichen wie weltlichen Obrigkeiten übertragen. Vgl. Eisenhardt, Die kaiserliche Aufsicht über Buchdruck,

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lich vom damaligen Nuntius in Deutschland, Girolamo Leandro57, geprägt, vor allem die Einfügung eines eigenen „Pressegesetzes“ ist seiner Initiative zuzuschreiben. In den Vorlagen zum Wormser Edikt haben sich die Reichsstände gegen die Schriften Luthers gewandt und vorgeschlagen, gegen alle einzuschreiten, die die Schriften Luthers „drucken, feil haben, kaufen, verkaufen oder ihre Auslieferung zum Zweck der Verbrennung“ verweigern würden. Weiters sind als verboten genannt „veindts unnd schmachschrifften, wider unsern heyligen vater den Babst Preläten, Fürsten, Hohe schulen, unnd derselben Faculteten und ander Ersam personen, unnd was innhalltet, das, so sich von den guten sytten, und der heyligen Römischen kirchen abwendet“: eine Aussage, die die Erweiterung vom religiösen auf den weltlichen Geltungsbereich anzeigt.58 Die Behandlung der lutherischen Schriften war schon in der Verdammungsbulle vom 15. Juni 1520 geregelt worden: Bei der Strafe des Bannes und seiner Folgen, die vor allem im Verlust geistlicher Ämter, weltlicher Lehen und des kirchlichen Begräbnisses bestanden, wurde es verboten, die Schriften Luthers zu lesen, zu drucken, zu verteidigen oder weiter zu verbreiten. Sofort nach Veröffentlichung des päpstlichen Urteils sollten diese Schriften beschlagnahmt und in Gegenwart von Volk und Klerus feierlich verbrannt werden.59 Ein allgemeines Zensuredikt war im ersten Stadium der Verhandlungen noch nicht vorgelegen. Seine Entstehung lässt sich bis auf ein von Kaiser Karl V. mit dem Datum 28. September 1520 für den Bereich der Niederlande erlassenes Plakat zurückverfolgen. Mit diesem befahl Aleander die Konfiszierung und öffentliche Verbrennung häretischer und schismatischer Schriften60 Entscheidend für das Wormser Edikt in seiner endgültigen Form war der Entwurf vom 15. Februar 1521, in dem das Pressegesetz als eine über das Ketzergesetz hinausgehende Angelegenheit bezeichnet wurde.61Aleander hatte schon in seinen ersten Entwürfen eine weitgehende Unterdrückung der Presse angestrebt, die mit dem Wormser Edikt, das die geistliche Zensur für alle in Deutschland gedruckten Bücher, sonstige Schriften und auch Bilder verfügte, erreicht werden sollte.62 Kein Buch, das die Bibel oder Glaubensfragen Buchhandel und Presse im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation (1496 – 1806), S. 26 f. Vgl. Karl Brandi, Kaiser Karl V.. Werden und Schicksal einer Persönlichkeit und eines Weltreiches, München 1976, S. 102 – 109. 57 In der Literatur wird hauptsächlich der eingedeutschte Name Hieronymus Aleander verwendet. 58 Vgl. Paul Kalkoff, Die Entstehung des Wormser Edikts. Eine Geschichte des Wormser Reichstags vom Standpunkt der lutherischen Frage, Leipzig 1913, S. 1, S. 193; ders., Der Wormser Reichstag 1521. Biographische und quellenkritische Studien zur Reformationsgeschichte, München/Berlin 1922, S. 358 – 410; Schneider, Pressefreiheit und politische Öffentlichkeit (Anm. 39), S. 43. 59 Fabisch/Iserloh (Hrsg.), Dokumente zur Causa Lutheri (Anm. 54), S. 514; Kalkoff, Die Entstehung des Wormsers Edikts (Anm. 58), S. 15. 60 Ebd., S. 24. 61 Ebd., S. 92. 62 Walder, Kaiser, Reich und Reformation 1517 bis 1525 (Anm. 54), S. 46 f.

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– sei es auch nur am Rande – zum Thema hatte, durfte ohne Erlaubnis des zuständigen Bischofs, seines berufenen Stellvertreters, gedruckt werden. Diese sollten ihre Approbation nur auf der Grundlage eines Gutachtens einer benachbarten theologischen Fakultät erteilen.63 Schließlich wurde am Schluss des Edikts durch die scharfen Strafandrohungen die Druckerei im Allgemeinen auf die gleiche Ebene mit der Angelegenheit Martin Luthers gestellt.64 Das Wormser Edikt wurde in vielen deutschen Städten nicht verkündet und auch nicht vollzogen.65 Seit dem Augsburger Religionsfrieden 1555 wurden die päpstlichen Bücherverbote nur noch in den katholischen Territorien beachtet.66 Verordnungen über das Bücherwesen und Verzeichnisse verbotener Bücher aus dieser Zeit sind auch aus England, den Niederlanden, Spanien, Frankreich und Belgien bekannt.67 Heinrich VIII. erließ im Laufe seiner Regierung zahlreiche Edikte zur Kontrolle des Druckwesens, darunter neun Verzeichnisse von verbotenen Büchern, von denen das älteste um das Jahr 1526 veröffentlicht wurde.68 Hauptsächlich sollten mit diesen Edikten die englischen Gläubigen vor den „Häresien des Festlandes“ geschützt werden.

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Vgl. Kalkoff, Die Entstehung des Wormser Edikts (Anm. 58), S. 226. „… die materi des Luthers oder der druckerei betreffen in einichen weg …“ (Walder, Kaiser, Reich und Reformation 1517 bis 1525 [Anm. 54), S. 47). 65 In Frankfurt musste Karl V. dem Rat am 12. November das Edikt – allerdings in abgemilderter Form – noch einmal einschärfen, da die inkriminierten Bücher immer wieder kursierten und neu gedruckt wurden. Daher wurde an den Rat der Befehl gegeben, Drucker und Verleger zu verhaften und die Bücher zu Handen des Kaisers zu behalten. Die Verbrennung der Bücher wurde nicht mehr anzuordnen gewagt und die Drucker wurden nach Auferlegung der im Edikt vorgesehenen Strafen wieder freigelassen. Auch in Konstanz wurde das Edikt nie verkündet, da der Propst, der es vollziehen wollte, von den Bürgern aus der Stadt gejagt wurde. In Straßburg wurde der Druck lutherischer Bücher von der Geistlichkeit zwar verboten. Die Bücher wurden aber nicht eingezogen oder vernichtet, auch die Buchdrucker kümmerten sich nicht um das Edikt. Streng befolgt wurde das Wormser Edikt dagegen in Bayern. Vgl. Kalkoff, Die Entstehung des Wormser Edikts (Anm. 58), 282 f.; Reusch, Index (Anm. 13), 1. Bd., S. 81 f. 66 Vgl. Schannat/Hartzheim, Concilia Germaniae (Anm. 54), Bd. 6, S. 304. Provinzialkonzil 1536: Nach einer Anordnung des Kölner Erzbischofs Hermann von Wied durfte kein neues Buch mehr ohne vorherige Überprüfung durch eigens bestellte Kommissare gedruckt oder verkauft werden. Auch musste der Name des Druckers und des Druckortes angegeben werden. Zuwiderhandelnde sollten neben der Konfiszierung der Bücher nach den Gesetzen und der Augsburger Pragmatischen Konstitution bestraft werden. Vgl. ebd., S. 528, S. 592: Auf Provinzialsynoden in Mainz und Straßburg wurde 1549 im wesentlichen dieselbe Verordnung erlassen. 67 Eine detaillierte Behandlung dieser lokalen Verordnungen findet sich bei: Reusch, Index (Anm. 13), 1. Bd., S. 87 ff. 68 Es gilt als zweifelhaft, ob diese Verzeichnisse zu den Indices im klassischen Sinn gehören, da sie nicht als besondere Schriften erschienen sind und die Bücher völlig ungeordnet in diese Zusammenstellungen aufgenommen wurden. In den römischen Indices wurden die englischen Verzeichnisse nicht berücksichtigt. 64

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In den Niederlanden wirkten vor allem die Verbote Karls V. und seines Sohnes Philipps II., die im Anschluss an das Wormser Edikt erlassen wurden.69 Es durfte kein Buch ohne Erlaubnis des königlichen Rates gedruckt oder aus dem Ausland eingeführt werden. Alle Bücher bedurften einer königlichen Erlaubnis; bei solchen, die von kirchlichen Dingen handelten, musste um die Approbation des Bischofs oder seines Bevollmächtigten nachgesucht werden. Alle einschlägigen Verordnungen und auch die Bücherverbote erließ Karl V. allein kraft seiner landesherrlichen Gewalt. In seinen Anordnungen findet sich nirgends ein Hinweis auf die Konstitution „Inter sollicitudines“. Als Erfinder der Gattung „Index librorum prohibitorum“ sind nicht der Papst und seine Dikasterien, sondern die Universitäten von Paris und Löwen anzusehen. Das erste Verzeichnis verbotener Bücher, das wegen seines Aufbaus als „Index“ bezeichnet werden kann, wurde 1546 von der Theologischen Fakultät in Löwen zusammengestellt. Dieser Katalog wurde im Auftrag von Kaiser Karl V. verfasst und enthielt ein Verzeichnis von lateinischen, deutschen und französischen Bibelübersetzungen, ein alphabetisches Verzeichnis von lateinischen Büchern, ein weiteres Verzeichnis deutscher und französischer Schriften und eine Aufstellung von Büchern, die 1540 verboten worden waren. Hauptanliegen dieses Index, der sich in erster Linie gegen die Drucker richtete, war es, die Verbreitung und das Lesen unerlaubter Editionen der Heiligen Schrift zu unterbinden. Den Druckern wurde vor allem vorgeworfen, dass sie Kommentare und Glossen der Übersetzer so in den Grundtext einfügten, dass sie von diesem nicht mehr zu unterscheiden seien. 1549 veranlasste Karl V. erneut – diesmal aber nicht über die theologische Fakultät, sondern über die Universität Löwen –, ein neues Verzeichnis der zu verbietenden und der für den Gebrauch an Schulen geeigneten Bücher zusammenzustellen. Dieser Index wurde am 25. März 1550 in einer Versammlung der Universität definitiv festgestellt und vom Kaiser genehmigt.70 In Spanien kamen die meisten Verordnungen über das Bücherwesen zu dieser Zeit von der Inquisition. Der erste spanische Index war eine spanische Ausgabe des Löwener Index, der vom General-Inquisitor und späteren Erzbischof von Sevilla Fernando Vald¦s auf Weisung Kaiser Karls V. in Spanien publiziert werden musste. Durch einen Anhang71, in dem die bis dahin in Spanien verbotenen Bücher aufgeführt waren, wurde der Löwener Index an die spanischen Verhältnisse angepasst. Die spa69

Zur Vollziehung des Wormser Edikts wurde wiederholt zur Ablieferung und zum Verbrennen ketzerischer Bücher aufgefordert, unter Androhung drakonischer Strafen. Zeitgenössische Berichte erzählen von häufigen und massenhaften Bücherverbrennungen. 70 Vgl. Reusch, Index (Anm. 13), 1. Bd., S. 113 ff. 71 Im Anhang wurden folgende Werke verboten: Bibeln, die in die spanische oder eine andere Volkssprache übersetzt wurden, alle Gemälde, Figuren oder Bilder, durch die die heilige Jungfrau oder andere Heilige verunehrt oder verspottet werden, alle Bücher, in denen ketzerische Inhalte vermutet werden, Bücher mit nekromantischem Inhalt und alle Bücher, die in den letzten 25 Jahren ohne Angabe des Verfassers, Schreibers oder des Druckortes gedruckt oder geschrieben worden sind.

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nische Ausgabe des Löwener Index wurde auch von Papst Paul IV. als Grundlage bei der Erstellung des Römischen Index benutzt.72 III. Der Index der Inquisition Mit der Bulle „Licet ab initio“ vom 21. Juli 154273 rief Papst Paul III. die „Heilige Römische und Universale Inquisition“ ins Leben. Sie bestand aus einer Untersuchungskommission mit sechs Kardinälen und hatte die Aufgabe, als oberstes Inquisitionstribunal gegen Häresien zu ermitteln, zentral über die Reinheit des Glaubens zu wachen sowie Glaubensvergehen aller Art zu bestrafen. Auch wenn in dieser Bulle häretische Bücher und Schriftstücke nicht ausdrücklich erwähnt sind, betrachtete die neu gegründete Inquisition die Kontrolle des Drucks, des Verkaufs und des Vertriebs von Schriften als eine ihrer Hauptaufgaben. Dies ist ein wichtiger Hinweis dafür, dass die Arbeit der römischen Inquisition zu einem großen Teil medienpolitisch und medienrechtlich angelegt war. Die römische Inquisition muss als bürokratische Behörde betrachtet werden, die von der Kurie finanziell unabhängig war und über einen festen Mitarbeiterstab verfügte.74 Die Inquisition und später auch die Indexkongregation waren eingerichtet worden, um den Wissenstransfer und die Medienpolitik gezielt steuern zu können. Mit Hilfe der Zensur sollte eine weitestgehende Kontrolle über den Buchmarkt erreicht werden.75 Bestätigt wird dies durch die Inquisitionsprozesse des 16. Jahrhunderts, in denen der Besitz und das Lesen verbotener Bücher ein häufiger Anklagepunkt war.76 Diese Theorie wird durch das erste offizielle Edikt der römischen Inquisition vom 12. Juni 1543 gestützt, das an Buchhändler, Buchdrucker und Zollbeamte adressiert war und die Verbreitung häretischer Bücher und Broschüren, die in Rom und anderen italienischen Städten in Umlauf waren, eindämmen wollte. Buchdrucker und Buchhändler, die es wagten, solche Werke zu veröffentlichen und Zollbeamte, die sich weigerten, den Inquisitoren Listen mit den Titeln importierter Bücher vorzulegen, sollten mit hohen Geldstrafen, dem Verlust von Privilegien und des Arbeitsplatzes, mit Körperstrafen und der Tatstrafe der Exkommunikation bestraft werden. Für Wiederholungstäter waren im Edikt Berufsunfähigkeit und Verbannung als Strafen vorgesehen. Den Gläubigen wurde streng untersagt, die inkriminierten Bücher zu erwer72

Reusch, Index (Anm. 13), 1. Bd., S. 133. Magnum Bullarium Romanum, Bd. 4, Teil 1, S. 211 f. 74 Wolf, Index (Anm. 51), S. 24. 75 Wolf, Zensur – Medienpolitik – Index (Anm. 51), S. 301. 76 Julius III. widerrief in einer Bulle vom 29. April 1550 alle Ermächtigungen zum Lesen und Behalten lutherischer und häretischer oder sonst verdächtiger Bücher, die von seinen Vorgängern oder anderen Bevollmächtigten erteilt worden waren. Alle, die im Besitz einer solchen Erlaubnis waren, wurden verpflichtet, innerhalb von 60 Tagen solche Werke an die Inquisition abzuliefern. Vgl. Pastor, Geschichte der Päpste im Zeitalter der katholischen Reformation und Restauration. Julius III., Marcellus II. und Paul VI. (1550 – 1559), 6. Bd., S. 159; Reusch, Index (Anm. 13), 1. Bd., S. 171 f. 73

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ben, zu lesen und sie weiterzugeben. Indizierte Werke mussten unverzüglich den kirchlichen Behörden übergeben werden.77 IV. Das Konzil von Trient und der Index Papst Pauls IV. Fragen zur Bücherzensur und zu Bücherverboten stellten auch auf dem Konzil von Trient, das von 1545 bis 1563 tagte, ein zentrales Thema dar. In der vierten Sitzung des Trienter Konzils verabschiedeten die Konzilsväter am 8. April 154678 das „Decretum de editione et usu sacrorum librorum“79. Neben Bestimmungen über die Authentizität der Vulgata, über die Auslegung der Heiligen Schrift und das Verbot der missbräuchlichen Anwendung von Bibelzitaten wurden auch die Vorschriften des 5. Laterankonzils erneuert. Im Unterschied zu den Bestimmungen der Konstitution „Inter sollicitudines“, in der für alle Druckwerke – auch für solche, die keinen religiösen Inhalt hatten – vor der Drucklegung die Einholung einer kirchlichen Approbation verlangt wurde, legte der Konzilsbeschluss von Trient die Präventivzensur ausschließlich für Bücher fest, die von „heiligen Dingen“ handelten, und sah vor, dass vor dem Druck eine Druckerlaubnis des zuständigen Ordinarius oder des Ordensoberen eingeholt werden müsse.80 Es war außerdem verboten, Bücher mit religiösem Inhalt ohne den Namen des Verfassers zu drucken, drucken zu lassen, zu besitzen oder zu verkaufen. Für Zuwiderhandelnde galten dieselben Strafen wie in der Konstitution „Inter sollicitudines“: Exkommunikation und Geldstrafe. Die Zensurvorschriften für die profane Literatur wurden von den tridentinischen Bestimmungen nicht übernommen. Das Dekret dieser 4. Sitzung erscheint in seinen Formulierungen reichlich vage. Problematisch in der Anwendung war vor allem, dass die Konzilstheologen die Bücherzensur mit der Frage der Bibelauslegung vermischten. Insbesondere ließ das Dekret die Frage offen, ob die Bestimmungen nur eng auf die Heilige Schrift anzuwenden waren oder auch auf alle anderen Bücher mit religiösem bzw. theologischem Inhalt Anwendung hätten finden sollen. Wenn man zur Interpretation dieser Vorschrift das Wormser Edikt 1521 heranzieht, das wahrscheinlich als Vorlage für das tridentinische Dekret verwendet wurde und von „Schriften, welche, wenn auch nur nebenbei, von der Bibel oder dem katholischen Glauben handeln“ schreibt, so liegt die An77

Vgl. Jes¾s Mart‡nez de Bujanda, Die verschiedenen Epochen des Index (1550 – 1615), in: Hubert Wolf (Hrsg.), Inquisition, Index, Zensur. Wissenskulturen der Neuzeit im Widerstreit, Paderborn/München/Wien/Zürich 2001, S. 215 – 227. 78 Zur Vorbereitung und zum Verlauf der vierten Sitzung vgl. Hubert Jedin, Geschichte des Konzils von Trient. Die erste Trienter Tagungsperiode 1545/47, 2. Bd., Freiburg 1957, S. 42 – 82; Karl Eder, Die Geschichte der Kirche im Zeitalter des konfessionellen Absolutismus (1555 – 1648), Wien 1949, S. 120 – 122. 79 Mansi XXXIII, 22 f. Deutsche Übersetzung in: Wilhelm Smets, Des hochheiligen ökumenischen und allgemeinen Concils von Trient Canones und Beschlüsse, nebst den darauf bezüglichen päpstlichen Bullen und Verordnungen, Bielefeld 1854, S. 15 ff. 80 Vgl. Jedin, Geschichte (Anm. 78), 2. Bd., S. 57.

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nahme nahe, dass auch das Dekret der vierten Sitzung nicht allein über die Bibel und exegetische Literatur handelte, sondern alle theologischen Werke inkludierte. Diese Streitfrage wurde aber nie endgültig geklärt, was zur Folge hatte, dass die Vorschriften in den einzelnen Gebieten nicht konsequent angewendet wurden.81 Während der zweiten Unterbrechung des Konzils von Trient82 erschien der erste Index, der im Auftrag und unter der Aufsicht eines Papstes zusammengestellt wurde und der – im Gegensatz zu den vorhergehenden Verzeichnissen, die „catalogi“ genannt wurden – als erster die offizielle Bezeichnung „Index librorum prohibitorum“ trägt. Papst Paul IV., mit bürgerlichem Namen Gian Pietro Caraffa83, der von 1555 bis 1559 regierte, war bereits während seiner Zeit als Kardinal Mitglied und Vorsteher der Römischen Inquisition. In dieser Funktion betrachtete es der Papst als seine Hauptaufgabe, mit ganzer Kraft für die Reinerhaltung und den Schutz des wahren Glaubens einzutreten. Als einzig geeignetes Mittel zur Erreichung dieses Zieles erschienen ihm unbeugsame Strenge und drakonische Gewalt, wie sie von der Römischen Inquisition angewendet wurden. Sein Hauptaugenmerk richtete sich vor allem auf den Kampf gegen häretische Bücher. In einer Denkschrift, die Kardinal Caraffa an Papst Klemens VII. richtete, bezeichnete er neben schlechten Predigten und einem unsittlichen Lebenswandel der Kleriker vor allem häretische Bücher als eigentliche Quelle der Ketzerei und machte sich für ihre Vernichtung stark.84 Zu diesem Zweck beauftragte der spätere Papst Paul IV. die Inquisition mit der Erstellung eines Index. Im September 1557 wurde durch die kirchliche Behörde eine sehr umfangreiche Liste von häretischen Büchern präsentiert. Nach einem Bericht des damaligen Nuntius von Venedig, Navagero, soll Paul IV. damals befohlen haben, die inkriminierten Schriften nur nach und nach zu konfiszieren und zu vernichten, um den Buchhändlern nicht plötzlich einen allzu großen Schaden zuzufügen. Zwei Kardinäle wurden beauftragt, die Interessen der Buchhändler zu prüfen. Weniger schonend wird dagegen mit den Buchdruckern umgegangen. Im Anfang dieses Index ist ein Katalog von 61 Druckern enthalten, bei denen in der Vergangenheit bereits Werke verschiedener Häretiker erschienen waren. Bücher aus diesen Druckereien wurden grundsätzlich verboten, gleichgültig ob sie einen religiösen Inhalt hatten oder nicht. Auch der Verfasser oder die verwendete Sprache wurden nicht zu einer Überprüfung herangezogen. Aus der Liste der Verleger, die in diesem Katalog aufgezählt waren, geht deut81 So wurden z. B. weit verbreitete Gebets- und Erbauungsbücher häufig ohne Zensurvermerk herausgegeben. Stattdessen wurde häufig ein Druck- und Verbreitungsprivileg der weltlichen Landesherren verfügt. Damit sollten unbefugte Nachdrucke vermieden werden, was aber nicht sehr erfolgreich war. Vgl. Plöchl V, S. 374. 82 1552 – 1562. 83 Zum Werdegang Caraffas, vor allem zu seiner Rolle bei der Gründung des Theatinerordens siehe: Ludwig Pastor, Geschichte der Päpste im Zeitalter der Renaissance und der Glaubensspaltung von der Wahl Leos X. bis zum Tode KlemensÏ VII. (1513 – 1534), Bd. 4/2, S. 584 ff. 84 Ebd., S. 607; Pastor, Geschichte der Päpste (Anm. 83), 6. Bd., S. 519.

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lich hervor, dass dieser Index unter anderem auch das Ziel hatte, die Verleger von deutschsprachigen, protestantischen Autoren zu treffen.85 Ein erster Druck dieses Index erfolgte im Jahr 1557 durch den Kameraldrucker Antonius Bladus. Diese Ausgabe wurde aber nicht publiziert. Der Grund für die Zurückhaltung dieser Auflage ist nicht exakt bekannt.86 Wahrscheinlich wies dieser erste Druck auch Ungenauigkeiten und Druckfehler auf; auch dürfte diese Ausgabe in der Zusammenstellung der aufgenommenen Bücher nicht zufriedenstellend gewesen sein.87 Dies hatte zur Folge, dass im Jahr 1558 eine Neuauflage des Index vorbereitet wurde. Die Ergebnisse dieser Beratungen wurden am 21. Dezember 1558 veröffentlicht: In einem Breve zog Paul IV. alle bisher erteilten Ermächtigungen zum Lesen verbotener Bücher zurück. Ausnahmen waren nur für Generalinquisitoren und Kardinäle mit speziellem päpstlichem Mandat vorgesehen. Auch eine verbesserte Auflage des Index, die nach vielen Missfallensäußerungen aufgelegt worden war, rief heftige Kritik hervor, vor allem bei den Mitgliedern des Jesuitenordens.88 Eingeleitet wurde der neue Index mit einem Dekret der Inquisition, in dem den Gläubigen verboten wurde, mit den im Index genannten Büchern und auch mit solchen, die nur möglicherweise als ketzerisch zu betrachten sind, in Berührung zu kommen.89 Als Strafen wurden angedroht: die Entziehung aller Würden, Ämter und Benefizien, die künftige Unfähigkeit, Ämter und Benefizien zu erlangen, ewige Infamie sowie die Tatstrafe der Exkommunikation. 85

Wolf, Index (Anm. 51), S. 27 f. Da dieser Index nicht publiziert wurde, ist er auch nur in einem einzigen Exemplar in der British Library in London vorhanden und erhalten. Diese erste Fassung des Katalogs durfte nach den Forschungen von Wolf auf Weisung des Papstes nicht veröffentlicht werden, vermutlich, weil ein Werk Pauls IV. „Liber inscriptus Consilium de em¦danda Ecclesia“ (ein Reformgutachten zur Reorganisation der Römischen Kurie angesichts der Krise der Reformation) ebenfalls auf diesem Index stand. Offenbar verschonte der päpstliche Index auch Päpste nicht, wenn ihre Schriften der Prüfung nicht standgehalten hatten. Auch Reusch weist darauf hin, dass er kein Exemplar zur Verfügung hatte. Als sicher gilt, dass die Schriften von Erasmus und Machiavelli auf diesem Index standen. Vgl. Wolf, Index (Anm. 51), S. 26 f.; Reusch, Index (Anm. 13), 1. Bd., S. 258. 87 Zur Entstehung der verschiedenen Editionen siehe Hilgers, Der Index (Anm. 7), S. 490 ff.; Pastor, Geschichte (Anm. 83), S. 520; Stephan Ehses, Der „Internuntius Claudius“ in Raynalds Annalen zum Jahre 1541 und der Prozess der Inquisition gegen Morone, in: Römische Quartalschrift für christliche Altertumskunde und für Kirchengeschichte 17 (1903). 88 In Erscheinung getreten sind hier vor allem der damalige Assistent des Ordensgenerals, der spanische Jesuit Natalis, der sich bei der Inquisition um eine Milderung bemühte und der berühmte Jesuitenpater Petrus Canisius. Canisius wandte sich in mehreren Briefen gegen die übermäßige Strenge des Kataloges, der sich wegen seiner Härte nicht werde durchführen lassen und bezeichnete ihn wörtlich als „Stein des Anstoßes“. Vgl. Otto Braunsberger, Beati Canisii, Societatis Iesu, epistulae et acta, vol. 2, Freiburg im Breisgau 1898, S. 380. Zum Werk von Petrus Canisius siehe James Brodrick, Petrus Canisius, 1. Bd., Wien 1950; Burkhart Schneider (Hrsg.), Petrus Canisius. Briefe, Salzburg 1959; Diözese Innsbruck (Hrsg.), Petrus Canisius. Er bewegte den Erdteil, Innsbruck o. J. 89 Das Dekret ist abgedruckt in: Reusch, Index (Anm. 13), 1. Bd., S. 262 f. 86

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Der Index selbst unterschied drei Klassen von Büchern, die in alphabetischer Ordnung angeführt wurden. In der ersten Klasse werden die Namen jener Schriftsteller genannt, über die verfügt worden war, dass sie „ex professo“ geirrt haben. Der Umgang mit ihren Schriften wurde vollständig verboten; vom Index wurden auch solche Werke erfasst, die sich nicht mit Glaubensfragen auseinandersetzten.90 In der zweiten Klasse wurden die Namen solcher Schriftsteller zusammengestellt, von deren Gesamtwerk nur einzelne Titel verworfen wurden, die die Leser zu Ketzerei, Gottlosigkeit oder anderen Irrtümern verlocken sollten.91 Die dritte Klasse enthielt Werke, die von ungenannten Autoren verfasst worden waren. Dazu findet sich in diesem Abschnitt des Index noch ein Verzeichnis von 61 Druckern, in deren Werkstätten die Werke verschiedenster Häretiker verlegt worden waren, sowie im Anschluss an das „Decretum de editione et usu librorum sacrorum“ von Trient noch ein erweitertes Verbot all jener Schriften, die in den letzten vierzig Jahren ohne Angabe des Verfassers, des Druckers sowie von Zeit und Ort gedruckt worden waren. Von dieser Maßnahme waren auch Druckwerke ohne religiösen Inhalt erfasst.92 Wie weit die Bestimmungen dieses Index tatsächlich in die Praxis umgesetzt wurden, lässt sich nicht mehr exakt verfolgen.93 Paul IV. und die Inquisition achteten auf die strenge Befolgung der neuen Vorschriften; trotzdem ist anzunehmen, dass die Statuten nicht einmal in Rom in ihrer ganzen Strenge befolgt worden sind. Von der Pariser Universität Sorbonne und der spanischen Inquisition wurde der Index von Papst Paul IV. vollständig ignoriert.94 Nach dem Tode Papst Pauls IV. am 18. August 1559 erfuhr die Exekution des Index einen weiteren Einbruch. Der heftige Widerstand, auf den das Dekret vielerorts stieß, veranlasste seinen Nachfolger Papst Pius IV., das Werk seines Vorgängers zu modifizieren und zu mildern. Mit einer ersten Überarbeitung wurde der Generalinquisitor Kardinal Michele Ghislieri, der spätere Papst Pius V., beauftragt, der am 24. Juni 1561 eine „Moderatio indicis librorum“95 herausgab. Eine weitergehende

90 In der Überschrift ist hier die Rede von „Schriftstellern, von denen alle und jegliche Bücher und Schriften, die unter ihrem oder ihrer Anhänger Vornamen oder Zunamen geschrieben oder herausgegeben worden sind oder in Zukunft werden geschrieben oder herausgegeben, auch wenn sie gar nichts gegen die Religion oder über die Religion sagen.“ Bekannte Namen, die sich in der ersten Klasse finden, sind Erasmus von Rotterdam, Martin Luther, Jean Calvin und Philip Melanchthon. Vgl. Pastor, Geschichte (Anm. 83), 6. Bd., S. 521. 91 Darunter fallen Bücher, die Astrologie, Wahrsagerei oder ähnliche Themen behandeln. 92 Reusch, Index (Anm. 13), 1. Bd., S. 263 ff. 93 Ebd., S. 294 ff., wo Reusch detailliert auf die Umsetzung des Index eingeht. 94 Der spanische Generalinquisitor Vald¦s veröffentlichte 1559 einen selbständigen Index der verbotenen Bücher, der neben dem Index von Papst Paul IV. eine eigenständige Position einnimmt. 95 Reusch, Der Index der verbotenen Bücher (Anm. 13), 1. Bd., S. 299.

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Modifizierung und Milderung der Vorschriften Pauls IV. wurde auf dem Konzil von Trient, welches unter Papst Pius IV. fortgesetzt wurde, verfügt.96 Unter Papst Pius IV. (1559 – 1565) konnte das Konzil weitergeführt und abgeschlossen werden. Die vorangegangenen politischen Veränderungen und der Wechsel verschiedener Machthaber97 schufen sehr schwierige Bedingungen für die Wiederaufnahme und hinderten viele Bischöfe daran, nach Trient zu reisen. Unter diesen Verhältnissen wurden zuerst Fragen allgemeinerer Natur aufgegriffen, da man mit der Behandlung schwierigerer Sachverhalte noch bis zur Ankunft weiterer Bischöfe warten wollte. In der 18. Sitzung, die am 26. Februar 1562 gefeiert wurde, wiederholten die Konzilsväter die allgemeine Einladung zum Konzil und versprachen, die Sicherheit der Teilnehmer zu gewährleisten. Daneben beschlossen sie, ohne auf Einzelheiten einzugehen, die Bildung eines Ausschusses zur Indexreform98, der sich mit Problemen der Bekämpfung von Missbräuchen bei der Veröffentlichung von Büchern beschäftigen sollte. Über die Arbeitsweise und den Inhalt der Verhandlungen der Kommission gibt es nur wenige Informationen. Bekannt ist das Ergebnis: Die Mitglieder der Kommission entschieden schließlich, keinen neuen Index zu erstellen, sondern das Werk von Papst Paul IV. modifiziert und korrigiert beizubehalten und dieses durch allgemeine Regeln, die dem Index vorausgestellt werden sollten, zu ergänzen. Veröffentlicht wurde der Tridentinische Index mit den Indexregeln durch die Bulle „Dominici gregis custodie“ am 24. März 1564.99 Diese zehn Regeln waren als Leitfaden für all jene gedacht, die künftig mit der Bücherzensur und der Kontrolle der Presse betraut werden sollten:100 (1)

Das Bücherverbot sollte weiterhin für alle Bücher gelten, die vor dem Jahr 1515 entweder von einem Papst oder einem ökumenischen Konzil verurteilt worden waren, auch wenn diese nicht ausdrücklich im Index Erwähnung gefunden hatten.

(2)

Verboten wurden grundsätzlich alle Bücher – gleichgültig, welchen Titel oder Inhalt sie hatten – von „Erzketzern“, von denen folgende namentlich genannt wurden: Luther, Zwingli, Calvin, Balthasar Friedberg, Schwenkfeld.101 Die Bücher anderer Ketzer, so sie religiöse Themen behandelten, waren ebenfalls vom Index erfasst. Für die übrigen Schriftstücke bestand die Möglichkeit, nach einer Prüfung durch katholische Theologen die Genehmigung zu erlangen. Diesem Verfahren mussten sich auch Bücher mit katholischem Inhalt unterzie-

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Vgl. Ehses, Der „Internuntius Claudius“ (Anm. 87), S. 297. Zur Vorgeschichte der dritten Tagungsperiode siehe Pastor, Geschichte (Anm. 83), 7. Bd., S. 142 – 203. 98 Mansi XXXIII, S. 118; Smets, Canones und Beschlüsse (Anm. 79), S. 96. 99 Magnum bullarium romanum, 4. Bd., 2. Teil, S. 174 f. 100 Der Volltext findet sich in Mansi XXXIII, S. 228 ff.; D, S. 584 – 587; Smets, Canones und Beschlüsse, S. 223 ff. 101 In der Ausgabe von Heinrich Denzinger wird auf die Nennung der Namen verzichtet. 97

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hen, deren Autoren irgendwann einmal mit Irrlehren in Berührung gekommen waren, auch wenn diese wieder zur Rechtgläubigkeit zurückgekehrt waren. (3)

Die dritte Regel beschäftigte sich mit der Aufsicht über Übersetzungsarbeiten, wobei die Auflagen je nach Schriftart unterschieden wurden. Gesondert wurden Übersetzungen des Alten und des Neuen Testaments behandelt. Übersetzungen des Alten Testaments konnten nach dem Ermessen des Bischofs von gelehrten und frommen Männern angefertigt werden. Allerdings wurden solche Übersetzungen grundsätzlich nicht gerne gesehen und durften nur gemeinsam mit der Vulgata als Erläuterung und Hilfe zum besseren Verständnis benutzt werden, niemals aber anstelle des Originaltextes. Für Übersetzungen des Neuen Testaments waren strengere Regeln vorgesehen: Übersetzungen von einem Autor, der in der ersten Klasse des Index erfasst worden war, durften überhaupt nicht verwendet werden. Der allgemeinen Inquisition und den Theologischen Fakultäten wurde die Vollmacht gegeben, einzelnen Personen102 die Verwendung anderer Übersetzungen zu gestatten, allerdings mussten Anmerkungen, die den Übersetzungen beigefügt worden waren, besonders überprüft und im Verdachtsfall unterdrückt werden.

(4)

Die Lektüre der Bibel in den jeweiligen Landessprachen wurde von den Konzilsvätern insgesamt nur in äußerst engen Grenzen erlaubt103, auch wenn die Übersetzung von katholischen Verfassern angefertigt worden war. Die Entscheidungsgewalt über eine solche Leseerlaubnis, die schriftlich erteilt werden musste, lag in den Händen des zuständigen Bischofs bzw. Inquisitors. Mitunter erfuhr sogar das Dispensrecht der Bischöfe so drastische Einschränkungen, dass die Erlaubnis zum Lesen von Bibelübersetzungen nur noch vom Papst oder der Inquisition erlangt werden konnte. Bevor jemand die Erlaubnis erhielt, die Bibel in der Landessprache lesen zu dürfen, musste gesichert sein, dass sein Glaube und seine Frömmigkeit dadurch keinen Gefahren ausgesetzt waren. Dazu wurde der zuständige Pfarrer oder Beichtvater befragt. Wenn sich jemand des unerlaubten Lesens einer Bibelübersetzung strafbar machte, wurde ihm die Absolution solange verweigert, bis er die inkriminierten Bücher dem Ordinarius übergeben hatte. Auch Buchdrucker und Buchhändler, die jemandem ohne Erlaubnis Bibelübersetzungen aushändigten, zogen sich Strafen zu.104 102

Smets schreibt von „frommen und gelehrten Männern“. „Da es die Erfahrung offenbar zeigt, dass, wenn die heiligen Bücher allenthalben ohne Unterschied in der Landessprache zugelassen werden, daraus, durch die Vermessenheit der Menschen, mehr Nachteil als Nutzen entspringt; …“ 104 Im 18. Jahrhundert wurde ein neuer Weg, weg von der Einzeldispens versucht. Eine Bibelübersetzung, die aus einem konkreten Anlass genehmigt worden war, sollte nun generell für alle Laien als erlaubt angesehen werden. Diese weite Auslegung der vierten Trienter Indexregel wurde von Papst Benedikt XIV. 1757 übernommen, unter Papst Gregor XVI. 1836 wieder zurückgenommen. Erst Leo XIII. verfügte 1897, dass Bibelübersetzungen in einer Volkssprache dann erlaubt sein sollten, wenn sie vom Apostolischen Stuhl genehmigt oder unter Aufsicht der Bischof erschienen waren. Wolf, Index (Anm. 51), S 32. 103

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(5)

Sammelwerke, wie Wörterbücher, Konkordanzen, Inhaltsverzeichnisse u. ä., die von häretischen Autoren herausgegeben worden waren, mussten, bevor eine Leseerlaubnis erteilt wurde, von katholischen Theologen oder dem Inquisitor überprüft und, wenn nötig, der Zensur unterzogen werden.

(6)

Die gleichen Vorschriften, die für Bibelübersetzungen aufgestellt worden waren, sollten auch für solche Bücher Anwendung finden, die in der Landessprache verfasst waren und Streitpunkte zwischen Katholiken und Andersgläubigen, worunter speziell die Protestanten subsumiert wurden, beinhalteten. Die Letztentscheidung über die Zulässigkeit blieb beim Bischof bzw. Inquisitor. Katechismen, Glaubensbücher und ähnliche Werke durften in der Landessprache verfasst werden, wenn ihr Inhalt mit der Glaubenslehre übereinstimmte.

(7)

Streng verboten waren Bücher, deren Inhalt aus moralischer Sicht verwerflich erschien. Ihr Besitz musste von den Bischöfen nachdrücklich bestraft werden, wobei über Art und Ausmaß der Strafe keine näheren Angaben gemacht wurden. Alte Bücher von heidnischen Autoren blieben zwar gestattet105, durften aber auf keinen Fall Jugendlichen zur Kenntnis gebracht werden, d. h. ihre Verwendung war im Schulunterricht sowie für sonstige Unterweisung und Katechese streng verboten.

(8)

Bücher, deren Hauptinhalt als unbedenklich eingestuft wurde, die aber im Verdacht standen, einzelne häretische Passagen zu enthalten, mussten unter der Autorität der Generalinquisition von Theologen überprüft und, wenn nötig, zensuriert werden, bevor ihre Lektüre erlaubt werden konnte.

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Ausnahmslos verboten waren alle Bücher, die sich mit Magie, Wahrsagerei und sonstigen okkulten Phänomenen beschäftigten. Naturwissenschaftliche Werke, deren Erkenntnisse der Schifffahrt, der Landwirtschaft und der Pharmazie dienlich waren, wurden zugelassen.

(10) Abschließend wurde die Gültigkeit der Vorschriften, die auf der zehnten Sitzung des fünften Laterankonzils verabschiedet worden waren, neuerlich festgestellt: Alle Bücher mussten – unabhängig von ihrem Inhalt – einer Prüfung unterzogen werden. In Rom waren die dafür zuständigen Autoritäten der Kardinalvikar und der Magister sacri palatii. Außerhalb Roms war der Bischof die zuständige Instanz. Dieser konnte aber Personen, denen das Schriftstück bekannt war, mit dieser Aufgabe beauftragen. Ein authentisches und eigenhändig vom Autor signiertes Exemplar musste beim Zensor verbleiben. Die Prüfung der Werke geschah unentgeltlich, die schriftlich erteilte Genehmigung musste dem Buch beigegeben werden. Bischöfen und Inquisitoren wurde die Vollmacht zur Visitation von Bibliotheken und Druckereien übergeben. Zur Kontrolle mussten die Händler und Verkäufer Listen der käuflichen Bücher führen. Die Missachtung dieser Vorschriften hatte die Konfiszierung der Bücher und andere Strafen, die nach Maßgabe der Kontrollorgane verhängt werden sollten, 105

„… wegen der Eleganz und Eigentümlichkeit der Sprache …“

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zur Folge. Diese Strafen trafen sowohl die Händler als auch die Käufer. Bücher, die von auswärts in die Stadt gebracht wurden, mussten angezeigt werden, bevor sie gelesen, verliehen oder sonst wie in Umlauf gebracht wurden. Von dieser Vorschrift waren nur jene Werke ausgenommen, die der Allgemeinheit schon als erlaubt bekannt waren. Ausdrücklich wurden auch Erben und Testamentsvollstrecker diesen Anordnungen unterstellt, d. h. Bücher, die zum Nachlass gehörten, mussten ebenfalls den genannten Kontrollen unterzogen werden. Aber auch Werke, die bereits überprüft und von fraglichen Inhalten gereinigt worden waren, waren nicht völlig frei zugänglich. Es stand den Bischöfen bzw. den Inquisitoren frei, Bücher, die nach den Regeln von Trient zugelassen worden waren, zu verbieten, wenn es ihnen für eine bestimmte Provinz oder Diözese notwendig erschien. Abschließend wurden noch einmal alle Gläubigen ausdrücklich zur Einhaltung dieser Regeln verpflichtet und an die ausgesetzten Strafen erinnert: für die Lektüre von Büchern, die wegen Ketzerei oder des Verdachts der falschen Glaubenslehre verboten worden waren, wurde die Tatstrafe der Exkommunikation verhängt. Strafen für den Besitz und die Lektüre von Werken, die aus einem anderen Titel verboten worden waren, standen im Ermessen der Bischöfe. Auf jeden Fall kam die betreffende Person mit diesem Vergehen in den Stand der schweren Sünde. Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass die zentralen Schlüsselrollen bei der Anwendung des tridentinischen Index nicht mehr bei den Inquisitoren, sondern – als Folge einer gewissen Dezentralisierung und der Einsicht, dass von den Institutionen vor Ort eine bessere Kenntnis der Gegebenheiten und daraus folgend eine korrektere Beurteilung möglich war – nunmehr bei den Bischöfen und den theologischen Fakultäten lagen. Die Bischöfe erhielten nicht nur die Befugnis, Druckgenehmigungen für neue Bücher zu erteilen, sondern waren auch zuständig, Leseerlaubnisse für häretische Autoren, auch wenn diese kein religiöses Thema behandelten, zu gewähren und umgangssprachliche Bibelübersetzungen zu erlauben.106 Der ausgearbeitete Index wurde mit der Bulle „Dominici gregis“107 vom 24. März 1564 in Rom bestätigt und publiziert. Inhaltlich ist er als eine revidierte, verbesserte und gemilderte Ausgabe des Index von Papst Paul IV. zu qualifizieren. Die wesentliche Neuerung lag in den zehn Regeln zur Anwendung des Index, nicht im Index selbst, der mit seinem Vorgänger im Wesentlichen übereinstimmte. Mit dem tridentinischen Index wurde die Handhabung der kirchlichen Bücherzensur an die veränderten Zeitumstände angepasst. Statt der bisher geübten vollständigen Vernichtung der indizierten Werke richtete sich das Augenmerk auf die Gläubigen, denen bei Nichtbeachtung des Index mit Kirchenstrafen gedroht wurde. Auch auf die Inanspruchnahme der staatlichen Gewalt wurde verzichtet.

106 107

Vgl. Bujanda, Epochen (Anm. 77), S. 217 f. Mansi XXXIII, S. 226 – 227; Smets, Canones und Beschlüsse (Anm. 79), S. 227 – 229.

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V. Die Indexkongregation Im Anschluss an den tridentinischen Index wurde am 4. April 1571 die sogenannte Indexkongregation gegründet, die aus einem sechsköpfigen Kardinalskollegium hervorging, das vom Papst mit der Bücherzensur und der Erarbeitung eines neuen, strengeren Index beauftragt worden war. Mit der Einsetzung der Indexkongregation wollte Papst Pius V.108 ein wirksames Instrument zur Überwachung der gesamten Literatur, zur Zensur und zur laufenden Bearbeitung und Aktualisierung des Index schaffen. Durch die Gründung einer zentralen Institution sollte für die ganze Kirche eine einheitliche Vorgangsweise in Fragen der Zensur erreicht werden. Ein weiteres Motiv dürfte die Absicht von Pius V. gewesen sein, nach dem moderaten Vorgehen unter Papst Pius IV. wieder auf die strengere Linie des Index von 1559 umzuschwenken. Wenn auch die päpstliche Konstitution über die Errichtung der Indexkongregation nicht mehr erhalten ist, so lassen sich aus der Bulle „Sollicita ac provida“ Benedikts XIV. vom 9. Juli 1753109 eindeutige Rückschlüsse auf den Gründungszweck ziehen. Zu einer ständigen Einrichtung wurde die Indexkongregation von Papst Gregor XIII. am 13. September 1572 gemacht.110 Ihre volle Tätigkeit konnte die Indexkongregation erst zu Beginn des 17. Jahrhunderts aufnehmen, wobei dem päpstlichen Hoftheologen, dem Magister Sacri Palatii, eine wichtige Schlüsselrolle zukam.111 Ihre Aufgabe übte sie bis ins Jahr 1917 aus.112 Im Zuge der Promulgation des CIC/1917 löste Papst Benedikt XV. mit dem Motu Proprio „Alloquentes“ vom 25. März 1917113 die Indexkongregation auf und übertrug ihre Aufgaben unter der Bezeichnung „Sectio de Indice“ dem damaligen Heiligen Offizium, der späteren Glaubenskongregation.114

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Vgl. Klaus Ganzer, Pius V., in: LThK3 VIII, Sp. 325 f. Magnum bullarium romanum, Benedikt XIV., 4. Bd., S. 115 – 124. 110 „… Sicher ist, dass der h. Pius V. der erste Gründer der Congregation des Index ist, welche darauf die folgenden Päpste, Gregor XIII., Sixtus V. und Clemens VIII. bestätigt und mit verschiedenen Privilegien und Facultäten ausgerüstet haben. Ihre eigentliche und fast einzige Aufgabe ist, die Bücher zu untersuchen, über deren Verbot, Verbesserung oder Gestattung Beschluss zu fassen ist.“ (Übersetzung nach: Reusch, Index verbotener Bücher [Anm. 13], 1. Bd., S. 430.) 111 Zu den Beschäftigten bei dieser Kongregation vgl. Herman H. Schwedt, Die römischen Kongregationen der Inquisition und des Index: Die Personen (16. – 20. Jhdt.), in: Wolf, Inquisition, Index, Zensur (Anm. 77), S. 89 – 101. 112 Wolf, Index (Anm. 51), S. 36 ff. Zur Tätigkeit der Indexkongregation in den letzten hundert Jahren ihres Bestehens vgl. ders., Römische Inquisition und Indexkongregation. Grundlagenforschung 1814 – 1917, Paderborn 2005. 113 AAS 9 (1917), S. 167. 114 Vgl. c. 247 § 4 CIC/1917. Demnach war das Heilige Offizium als höchste Instanz für das gesamte kirchliche Bücherwesen zuständig. Zu prüfen und gegebenenfalls zu verbieten waren nicht nur angezeigte Bücher. Das Heilige Offizium war beauftragt, bei Bedarf von Amts wegen einzuschreiten und auch die Ordinarien im Sinne des c. 1397 CIC/1917 entsprechend zu instruieren. 109

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VI. Sollicita ac provida Die Verfahrensordnung „Sollicita ac provida“ vom 9. Juli 1753 zählt zu den bedeutendsten päpstlichen Konstitutionen, die zum Thema „Bücherzensur“ im Laufe der kirchlichen Rechtsgeschichte erlassen worden waren und stellt einen wesentlichen Meilenstein in der Entwicklung eines kirchlichen Medienrechts aus rechtsgeschichtlicher Sicht dar. Das Motiv für eine Neuordnung des kirchlichen Indexwesens und der Bücherzensur durch Papst Benedikt XIV. ist vor allem in zahlreichen Missständen zu finden, die im Laufe der Zeit bei dieser heiklen Tätigkeit eingerissen waren. Bis zur Inangriffnahme der Strukturierung des Zensurverfahrens durch „Sollicita ac provida“ wurde die Frage nach der geeigneten Form eines Zensurverfahrens weder von der Inquisition noch in der Indexkongregation einlässlich diskutiert. Theoretische verfahrensrechtliche Überlegungen zum einschlägigen Verfahren wurden nicht unternommen. Daher war der Ablauf eines Zensurverfahrens ausschließlich dem tatsächlichen Vorgehen der Behörde anheim gestellt, ohne einer vorgegebenen Verfahrensordnung folgen zu können. Neben diesen innerkirchlichen Missständen, die dringend einer Reform bedurften, war im Zuge der Aufklärung, die unter anderem auch die Ausbildung des Rechtes auf Meinungs- und Pressefreiheit zur Folge hatte, die Kritik an der Zensur gedruckter Medien im Allgemeinen und an der römischen Zensur im Besonderen immer vehementer geworden.115 Eine bedeutsame Quelle, die beste Einblicke in die Motive des Papstes und seine Reformvorschläge gibt, stellen die zahlreichen Briefe dar, die Papst Benedikt XIV. an seinen Freund, den Kardinal und französischen Staatsminister, Pierre Gu¦rin de Tencin116, schrieb, mit dem er in einem intensiven Briefkontakt stand und in denen immer wieder das Problem der römischen Bücherzensur zur Sprache kam. Papst Benedikt XIV., der selbst über eine fundierte kirchenrechtliche Ausbildung und Praxis verfügte, wusste aus eigener Erfahrung über die Missstände Bescheid, die im Zusammenhang mit der Bücherzensur immer wieder vorkamen. Auf der Basis dieser Erfahrungen war ihm eine grundlegende Neuordnung der Bücherzensur, die er nicht grundsätzlich ablehnte, aber von den zahlreichen negativen Auswüchsen reinigen wollte, schon zu Beginn seines Pontifikats ein dringliches Anliegen, für das er

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Wolf, Index (Anm. 51), S. 43 f. Kardinal de Tencin, geboren am 22. August 1679 oder 1680; von 1721 bis 1724 wirkte er als französischer Geschäftsträger in Rom und wurde 1724 Erzbischof von Embrun. Im Zusammenhang mit seinem Vorgehen in der Jansenistenfrage und als Dank für seine Dienste, die er Frankreich erwiesen hatte, wurde er im Jahr 1739 zum Kardinal kreiert und im Jahr 1742 zum Erzbischof von Lyon ernannt. Beim Konklave 1740 unterstützte er den Kandidaten Prosper Lambertini, der auch von Frankreich unterstützt wurde und aus diesem Konklave als Papst hervorging. In den Jahren 1742 – 1751 wirkte er in der französischen Regierung als Staatsminister, wo er v. a. mit Agenden der Außenpolitik befasst war. Vgl. Philippe Martin, Tencin, in: LThK3 IX, Sp. 1334; Franz Xaver Funk, Tencin, in: Wetzer-Welte2 XI, Sp. 1345 f. 116

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auch den Rat erfahrener Fachleute einholte.117 Als Hauptprobleme erkannte er die mitunter mangelhafte Ausbildung der Zensoren sowie die Auseinandersetzungen zwischen den unterschiedlichen Orden, namentlich den Dominikanern, die sich im Bereich der Bücherzensur bereits eine Art Monopolstellung erworben hatten, und den Jesuiten.118 Diesem Problem versuchte der Papst dadurch zu begegnen, dass bezüglich der Auswahl der Konsultoren vorgeschrieben wurde, dass diese sowohl aus dem Welt-, als auch aus dem Ordensklerus herangezogen werden mussten, um eine ausgewogene Zusammensetzung der Kollegien zu erreichen; die konkrete Auswahl der Kardinäle blieb dem Papst vorbehalten. Von den beteiligten Kardinälen und Mitarbeitern wurde hinreichende Kenntnis und Erfahrung in den unterschiedlichen theologischen Disziplinen verlangt, wie „Sollicita ac provida“ grundsätzlich hinsichtlich der Idoneitätskriterien für Relatoren, Zensoren und Konsultoren ein ausgesprochen hohes Anforderungsprofil vorgab.119 Dem Papst selbst war es ein besonderes Anliegen, bei der Beurteilung der angezeigten Bücher Objektivität und Milde walten zu lassen.120 Alle mit der Zensur befassten Personen wurden angehalten, soweit als möglich die Überlegungen und Gedankengänge des angezeigten Autors nachzuvollziehen und das kontextuelle Umfeld in die Überlegungen mit einzubeziehen. Fragwürdige Passagen mussten immer in einem möglichst guten Sinn interpretiert werden. Zur Erreichung dieser Objektivität wurde in „Sollicita ac provida“ ein mehrstufiges Verfahren eingeführt und festgelegt, dass zur Verurteilung eines katholischen Autors mehrere übereinstimmende Gutachten vorliegen mussten, um einseitige und voreingenommene Zensuren zu vermeiden. Wenn es möglich schien, sollten anhängige Fälle schon vor der Einleitung eines offiziellen Verfahrens geklärt werden, um eine Stigmatisierung eines Werkes und des Autors, die – unabhängig vom kon117

Vgl. Art. 7 „Sollicita ac provida“. Zu einer Eskalation dieses Konfliktes kam es, als von der spanischen Inquisition die ersten vierzehn Bände des Bollandistenwerks verboten worden waren, weil darin der Prophet Elias nicht als Stifter des Karmelitenordens anerkannt worden war. Die Jesuiten der flandrobelgischen Provinz reagierten auf dieses Verbot mit der Bitte an den Papst, künftig Angehörige des Dominikanerordens nicht mehr mit der Zensur von Büchern, die von Jesuiten verfasst worden waren, zu beauftragen. Vgl. Pastor, Geschichte (Anm. 83), 16. Bd., 1. Abteilung, S. 247; Bernard Joassart, Bollandisten, in: LThK3 II, Sp. 561 f. Der Papst musste zugestehen, dass sich die mit der Zensur betrauten Dominikaner oftmals den Vorwurf der Parteilichkeit und Gehässigkeit zuzogen; seinem Freund Tencin gegenüber beklagte er aber bereits in einem Brief vom 17. Juni 1744, dass die Jesuiten den Fall eines Einzelnen immer gleich zur Sache des ganzen Ordens machen würden. Vgl. Emilia Morelli, Le lettere de Benedetto XIV al Card. de Tencin 1740 – 1747, 1. Bd., Rom 1955, S. 176 – 178; Hans Paarhammer, „Sollicita ac provida“. Neuordnung von Lehrbeanstandung und Bücherzensur in der katholischen Kirche im 18. Jh., in: Andr¦ Gabriels/Heinrich Reinhardt (Hrsg.), Ministerium iustitiae (FS Heinemann), Essen 1985, S. 344. 119 §§ 3, 6, 13 „Sollicita ac provida“. Grundlagen waren die einschlägigen Bestimmungen des Konzils von Trient, sowie die Instruktion von Papst Clemens VIII. 120 Vgl. § 1 „Sollicita ac provida“. Vgl. § 17: Eine Prüfung eines vorgelegten Buches musste vorurteilsfrei und objektiv erfolgen sowie den in der Kirchengeschichte immer vorhanden gewesenen Pluralismus von Meinungen tolerieren, soweit dadurch nicht die Integrität des Glaubens und der guten Sitten verletzt würden. 118

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kreten Ergebnis – mit der Einleitung eines offiziellen Verfahrens fast unausweichlich verbunden war, zu vermeiden.121 Als großes Vorbild präsentiert Papst Benedikt XIV. in seiner Konstitution schließlich Thomas von Aquin, der als wahrer „probatus auctor“ gilt.122 Nach einer langen Vorbereitungszeit kam es am 9. Juli 1753 zur Promulgation der Konstitution „Sollicita ac provida“, die vier Jahre später mit dem Breve „Quae ad catholicae“, einem alphabetisch geordneten Verzeichnis von verbotenen Büchern vom 23. Dezember 1757, vervollständigt wurde. Mit dieser Konstitution wurde die bisher ungeregelte Vorgangsweise von einer Verfahrensordnung abgelöst, die Kriterien für die Beurteilung von Büchern vorgab, sowie die Qualifikation der Zensoren und den Gang des Verfahrens einlässlich regelte.123 Die Konstitution folgt folgendem Aufbau: Nach einer einlässlichen Präambel, die ausgehend von Papst Gelasius I. einen rechtshistorischen Bogen über die einschlägigen erlassenen Konstitutionen spannte, veranlasste „Sollicita ac provida“ in 27 Artikeln eine vollständige Neuordnung der Bücherzensur und der Beanstandung eines Autors. Mit „Sollicita ac provida“ versuchte der große Kanonistenpapst, in diesem heiklen Bereich ein maßvolles Vorgehen der zuständigen Organe zu erreichen. Grundprinzipien eines Verfahrens, wie Anhörungs- oder Verteidigungsrecht oder auch der Schutz des guten Namens, die heute selbstverständlich sind, mussten damals erst vorsichtig eingeführt werden. Papst Benedikt XIV. stand in seinem Denken hier an einer Schnittstelle. Einerseits war ihm die Arbeit der Indexkongregation, die ohne die Beachtung dieser Grundrechte vorging und allein den Blick auf die (eventuellen) Auswirkungen eines Schriftstückes für den Glauben richtete, vertraut und hatte in dieser Form auch seine Billigung. Für die Zukunft wollte er aber den alten Rechtsgrundsatz „et altera pars audiatur“ sowie grundlegende Autorenrechte, die bislang keine Rolle gespielt hatten, auch im Verfahren der Bücherzensur berücksichtigt wissen.124 VII. Officiorum ac munerum Nach der Konstitution „Sollicita ac provida“ kam es knapp 150 Jahre später erneut zu einer Neuregelung der kirchlichen Bücherzensur. Papst Leo XIII.125 erließ mit der

121 §§ 4 und 5 „Sollicita ac provida“. Vgl. §§ 9 und 10, wo vor allem das Gespräch mit dem betreffenden Autor vorgeschrieben und zukünftig die Wahrung des Anhörungsprinzips und des Verteidigungsrechts angemahnt wird. Ebenso wird auch der Schutz des guten Namens eingefordert. 122 § 24 „Sollicita ac provida“. 123 Heinrich Bangen, Die Römische Kurie, ihre gegenwärtige Zusammensetzung und ihr Geschäftsgang, Münster 1854, 135 ff. 124 Vgl. § 10 „Sollicita ac provida“. 125 Zur Person des Papstes vgl. Oskar Köhler, Leo XIII., in: LThK3 VI, Sp.828 ff.

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Konstitution „Officiorum ac munerum“ vom 25. Jänner 1897126 neuerlich ein Dokument zur Reform der Bücherzensur, wobei er ausdrücklich erklärte, dass alle einschlägigen Dekrete und Konstitutionen früherer Päpste und Konzilien aufgehoben seien, ausgenommen die Konstitution von Papst Benedikt XIV. „Sollicita ac provida“, die auch für die Zukunft Geltung behalten sollte. Zu den Ursachen, die zur Verfassung dieser Konstitution geführt hatten, sind die im 19. Jahrhundert stark ansteigende Zahl an Neuerscheinungen auf dem Büchermarkt, neu erstarkende glaubens- und kirchenfeindliche Strömungen, die als eine schwere Bedrohung der kirchlichen Identität und Integrität empfunden wurden, sowie innerkirchliche Auffassungsunterschiede bezüglich der Arbeitsweisen im Zusammenhang mit der Bücherzensur zu nennen.127 Mit der Apostolischen Konstitution „Officiorum ac munerum“ wurden die bisher geltenden Regeln zur Bücherzensur gründlich überprüft und die im Laufe der Zeit überalterten und unhaltbar gewordenen Rechtsnormen aktualisiert. Die Konstitution behandelt die Zensur und das Bücherverbot in zwei Titeln, die in 15 Kapitel mit insgesamt 49 Artikeln gegliedert sind. Das erste Kapitel widmet sich den verbotenen Büchern der Apostaten, Häretiker, Schismatiker und anderer Autoren auf der Basis der zweiten Indexregel des Konzils von Trient, die aber in den wesentlichen Bestandteilen adaptiert und gemildert wurde. Art. 1 bis 4 „Officiorum ac munerum“ enthielten ein Verbot für Bücher, die ein Gefahrenpotential für den Glauben darstellten. Im Gegensatz zu früheren Normen, die die Bücher bestimmter Autoren pauschal verurteilten, ohne auf den konkreten Inhalt zu achten, wurde nun verstärkt auf eine Prüfung des Inhalts abgestellt. Deshalb konnten in der Folge auch Werke von Akatholiken gestattet werden, deren Inhalt als objektiv und gerecht beurteilt wurde. Die Verwendung von Bibelübersetzungen in Latein oder einer anderen „toten Sprache“, die von Akatholiken angefertigt worden waren, wurde, wenn sie unverfälscht galten und auch in den Einleitungen und Fußnoten keine antikirchlichen Aussagen enthielten, zu wissenschaftlichen Zwecken gestattet.128 Bibelübersetzungen in die 126 Codicis Iuris Canonici Fontes, Bd. 3, S. 502 – 512. Vgl. Philipp Schneider, Die neuen Büchergesetze der Kirche. Ein Kommentar zur Bulle Officiorum ac munerum und zu den Decreta generalia de prohibitione et censura librorum, Mainz 1900. 127 Vor allem die französischen Bischöfe hatten sich für eine Adaptierung der Indexregeln und des Index selbst stark gemacht und für eine mildere Praxis bei der Ausübung der Zensur und der Verurteilung von Büchern katholischer Autoren plädiert. In die gleiche Richtung äußerten sich die deutschen Bischöfe, die sich ebenfalls für eine zeitgemäße Revision der Indexregeln einsetzten und vor der Veröffentlichung einer Zensur eine verpflichtende Anhörung des Ordinarius des betroffenen Autors verlangten. Vgl. Schneider, Die neuen Büchergesetze der Kirche (Anm. 126), S. 19 f. 128 Art. 5 und 6 „Officiorum ac munerum“. Vgl. die Enzyklika „Providentissimus Deus“ vom 18. November 1893 über die Bedeutung und Grundprinzipien der biblischen Exegese innerhalb der theologischen Wissenschaften. Papst Leo XIII. beschäftigte sich in dieser Enzyklika erstmals in der Kirchengeschichte ausschließlich mit biblischen Fragestellungen. Neben allgemeinen Aussagen zum Wert der Bibel enthält die Enzyklika Richtlinien für die Exegese und biblische Studien und behandelt auch die Autorität und Glaubwürdigkeit der

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sogenannten „vulgären“ bzw. einheimischen Sprachen blieben grundsätzlich verboten129 und durften nur für wissenschaftliche Forschungen herangezogen werden, wobei Art. 5 „Officiorum ac munerum“ strikt eingehalten werden musste.130 Ebenfalls ausgenommen waren solche Ausgaben, die vom Apostolischen Stuhl approbiert oder mit entsprechenden Anmerkungen und unter Aufsicht der Bischöfe herausgegeben worden waren. Neu in „Officiorum ac munerum“ aufgenommen wurde Art. 13. Mit Hilfe eines Druckverbotes sollte die Verbreitung von Privatoffenbarungen, Visionen und Privatandachten eingedämmt und unter Kontrolle gebracht werden. Einschlägige Publikationen durften ohne Approbation der zuständigen kirchlichen Autorität nicht gedruckt werden. Nicht von Art. 13 erfasst waren dagegen Berichte über Wundererfahrungen im Zusammenhang mit Selig- und Heiligsprechungsverfahren. Diese folgten eigenen Bestimmungen.131 „Officiorum ac munerum“ wird herkömmlich als „Büchergesetz“ eingeordnet; die Normen umfassten aber Medien in einem wesentlich weiteren Sinn, vor allem auch die Verbreitung von Bildern. Normzweck des Art. 15 war es, künftig den Druck von Bildern mit religiösen Inhalten von der bischöflichen Approbation abhängig zu machen. Normadressat von Art. 15 waren die Drucker und Verleger, nicht die Leser. Ein neues Problem, dem sich die Kirche zu stellen hatte, war der Umgang mit Zeitungen und Zeitschriften. „Officiorum ac munerum“ widmete sich den neuen Medien in Art. 21 und 22, vor allem jenen, die hauptsächlich von Attacken gegen Religion132 und Moral geprägt waren. Verboten wurden selbstverständlich das Abonnement und die Lektüre einschlägiger Druckerzeugnisse. Mit der Apostolischen Konstitution wurde ein positiv-rechtliches Verbot ausgesprochen und damit die Entscheidung über die Lektüre dieser Zeitschriften und Zeitungen der Verantwortung des Einzelnen entzogen. Den Bischöfen wurde besonders aufgetragen, über die Einhaltung des Verbotes zu wachen und den Gläubigen die Gefahren einer solchen Lektüre eindringlich vor Augen zu stellen. In welcher Form dieser Auftrag zu erfüllen war, wurde Bibel. Vgl. Codicis Iuris Canonici Fontes, Bd. 3, 410 – 428; Christoph Dohmen, Providentissimus Deus, in: LThK3 VIII, S. 672. 129 Ein geraffter Überblick der Geschichte des Bibellesens durch Laien in ihrer Muttersprache findet sich bei: Otto Schmid, Bibellesen der Laien, in: Wetzer-Welte2 II, Sp. 679 – 691. 130 Art. 8 „Officiorum ac munerum“ richtete sich v. a. gegen die Tätigkeit der sogenannten Bibelgesellschaften, die seit dem Ende des 17. Jahrhunderts von England ausgegangen waren und die Verbreitung der Bibel zum Zweck hatten. Unter Papst Pius VII. waren diese Bibelgesellschaften in den Jahren 1816 und 1817 verboten worden. Josef Hundhausen, Bibelgesellschaften, in: Wetzer-Welte2 II, Sp. 647 – 666. 131 Vgl. Benedikt XIV., De servorum Dei beatificatione et Beatorum canonizatione lib 2, cap 11, n. 6; Schneider, Die neuen Büchergesetze der Kirche (Anm. 126), S. 76 – 79. 132 Art. 21 ging hier von einem Begriff der Religion in einem weiten Sinn aus, der nicht auf die katholische Religion beschränkt war und Religion als solche als ein schutzwürdiges Gut betrachtete.

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nicht näher normiert. Zum Einsatz kamen Hirtenbriefe, Aufträge an die Seelsorger, diese Themen in der Predigt und Katechese aufzugreifen, sowie besondere partikularrechtliche Verbote. Art. 22 stellte mit einem Verbot für Katholiken und besonders für Priester, in den inkriminierten Schriften etwas zu veröffentlichen, eine – eigentlich selbstverständliche – Ergänzung zu Art. 21 dar. Als einzige Ausnahme sah der Art. 22 eine Veröffentlichung aus einer gerechten und vernünftigen Ursache an, wie z. B. der Widerruf einer ungerechtfertigten Anschuldigung oder die Korrektur einer Verleumdung, die sinnvollerweise im betreffenden Medium zu geschehen hatte. Die Erlaubnis, verbotene Druckwerke lesen oder aufbewahren zu dürfen, wurde nur unter engen Voraussetzungen gewährt. Für Bücher, die durch ein spezielles oder ein allgemeines Dekret verboten worden waren, konnten die entsprechenden Vollmachten ausschließlich vom Apostolischen Stuhl oder von delegierten Stellvertretern erteilt werden. Als zuständige Dikasterien benannte Art. 24 die Indexkongregation, das Heilige Offizium und die Propaganda-Kongregation für die Länder in ihrer Zuständigkeit. Für den Jurisdiktionsbereich der Stadt Rom war auch der Magister Sacri Palatii befugt, die entsprechende Vollmacht zu verleihen. Bischöfe und Priester mit „quasi-bischöflicher“ Jurisdiktion durften eine solche Erlaubnis nur in dringenden Fällen und für einzelne Bücher erteilen. Für diese Einzelfälle besaßen sie aber potestas ordinaria und mussten nicht erst delegiert werden.133 Vor Erteilung einer solchen Leseerlaubnis, die eng auszulegen war, musste selbstverständlich die Idoneität der betreffenden Person festgestellt werden. Die Konstitution forderte die Bischöfe ausdrücklich auf, mit ihrer Vollmacht in jeder Hinsicht maßvoll und zurückhaltend umzugehen, sowohl hinsichtlich der Personen, die in den „Genuss“ einer solchen Erlaubnis kommen sollten, als auch hinsichtlich der Motive, aus denen heraus eine solche Erlaubnis gewährt werden sollte. In Frage kamen hier vor allem wissenschaftliche Gründe sowie die Widerlegung von Irrtümern oder ungerechtfertigten Angriffen. An die Inhaber einer solchen Vollmacht wurde der Auftrag erteilt, hinsichtlich der Aufbewahrung der betreffenden Werke strengste Sorgfalt walten zu lassen. Den Abschluss des ersten Titels bildeten die Art. 27 bis 29, die auf der Basis der zehnten Indexregel des Konzils von Trient die Anzeigepflicht für schlechte Bücher normierten. Die bisher überwiegend praktizierte Präventivzensur, die von den Bestimmungen des fünften Laterankonzils und vom tridentinischen Index für alle Schriften, gleich welchen Inhalts, vorgeschrieben worden war, ließ sich angesichts der Fülle der neu erscheinenden Druckwerke nicht mehr durchführen und wurde in „Officiorum ac munerum“ weitgehend von der Repressivzensur abgelöst, durch die Einführung einer Verpflichtung zur Anzeige bei Werken mit fragwürdigem Inhalt. Erhalten blieb nach Art. 41 die Präventivzensur nach wie vor für alle jene

133 Für die deutschen und österreichischen Bischöfe wurde diese allgemeine Vollmacht in den Quinquennalfakultäten erteilt. Vgl. Schneider, Die neuen Büchergesetze der Kirche (Anm. 126), S. 103.

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Werke, die sich mit theologischen und einschlägigen philosophischen Inhalten134 befassten. Anlass zu verschiedenen Überlegungen gab die Unterscheidung in Bücher und Schriften, die in Art. 41 vorgenommen wurde, vor allem hinsichtlich der Frage, ob Zeitschriften und Zeitungen mit religiösem Inhalt135 von der Präventivzensur erfasst waren. Überwiegend kamen die Kommentatoren zur Ansicht, in diesem Fall von der Zensurfreiheit auszugehen. Begründet wurde diese Auffassung mit bisher geübten Gepflogenheiten, dem überwiegend religiös gebildeten Leserkreis, dem eine hinreichende Urteilsfähigkeit zugetraut wurde, sowie der Tatsache, dass Zeitschriften und Zeitungen nicht mit dem Wirkungsgrad und der Nachhaltigkeit eines Buches ausgestattet seien und dass überhaupt wegen der Fülle dieser Druckwerke eine Präventivzensur nicht mehr praktikabel sei.136 Neben der allgemeinen Pflicht aller Katholiken wurde eine besondere Amtspflicht für Nuntien, Apostolische Delegaten, Bischöfe und Universitätsrektoren zur Anzeige inkriminierter Werke statuiert. Als zuständige Behörden zur Entgegennahme der Anzeige fungierten die Bischöfe sowie die Index- und die Inquisitionskongregation. Hinsichtlich der Identität desjenigen, der ein Werk zur Anzeige brachte, waren die Behörden zu striktem Stillschweigen verpflichtet. Sehr kritisch ist hier anzumerken, dass dem hohen Schutz, der dem guten Namen des Anzeigers gewährt wurde, in der Konstitution kein entsprechender Schutz des guten Rufes des angezeigten Autors entgegenstand. Dieses Ungleichgewicht wird auch durch den Hinweis auf das hohe Gut der Reinhaltung des Glaubens und der Sittlichkeit sowie die hohen Anforderungen, die die Zensoren im Hinblick auf ihre Gewissenhaftigkeit und Überparteilichkeit zu erfüllen hatten,137 nicht ausgeglichen. Die Erstzuständigkeit zum Aussprechen eines Bücherverbotes wurde in die Hände der Bischöfe gelegt, die nach Art. 29 sowohl auch aus eigener Vollmacht als auch kraft päpstlicher Delegation handeln konnten. Die doppelte Jurisdiktion138, wie sie in Art. 29 „Officiorum ac munerum“ ausgestaltet ist, speist sich einerseits aus dem aufgehobenen Mandat Papst Leos XII. vom 26. März 1825, andererseits aus 134 Ausdrücklich genannt wurden in Art. 41 Werke mit bibeltheologischen, kirchengeschichtlichen, kirchenrechtlichen oder ethischen Inhalten. Weiters wird die sogenannte natürliche Theologie genannt. Dieser Begriff bezeichnete die philosophische Auseinandersetzung über das Wesen Gottes, seine Existenz und seine Eigenschaften. Werke, die sich mit anderen philosophischen Fragestellungen beschäftigten, unterlagen nicht der Präventivzensur. 135 Für Diözesangeistliche in der Leitung von Zeitschriften und Zeitungen, gleich welcher inhaltlichen Ausrichtung, sah Art. 42 verpflichtend die Erlaubnis des zuständigen Ordinarius vor. Bei Ordensleuten war Art. 36 anzuwenden, der sowohl die Erlaubnis des zuständigen Oberen als auch des Ordinarius vorsah. 136 Zur Untermauerung dieser Argumentation wurden Zeitschriften wie das Archiv für katholisches Kirchenrecht, der Katholik und die Stimmen aus Maria Laach genannt, die ohne formelle bischöfliche Approbation herausgegeben wurden. 137 Vgl. Art. 13 bis 17 „Sollicita ac provida“. 138 Zur Ausgestaltung der Jurisdiktion in vorkodikarischer Zeit vgl. Rudolf v. Scherer, Handbuch des Kirchenrechts, 1. Bd., Graz 1886, S. 403 ff.; Johannes Baptist Sägmüller, Lehrbuch des katholischen Kirchenrechts, 1. Bd., Freiburg im Breisgau 1914, S. 280 ff.

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dem apostolischen Schreiben „Inter multiplices“, das von Papst Pius IX. am 24. August 1864 erlassen wurde.139 Mit der doppelten Ausfaltung der bischöflichen Jurisdiktion sollte ein Umgehen der Zuständigkeit mit dem Hinweis auf die Exemtion verhindert werden. Gegen ein bischöfliches Bücherverbot, das iure ordinario erlassen worden war, sollte es grundsätzlich keine Möglichkeit geben, eine Exemtion einzuwenden. Wo eine solche aus besonderen Gründen geltend gemacht werden konnte, war der Bischof als päpstlicher Delegat befugt, ein entsprechendes Verbot auszusprechen.140 Ebenfalls in die Jurisdiktion der Ortsordinarien wurde gemäß Art. 35 die Präventivzensur all jener Bücher, die im Bereich der Diözese erscheinen sollten, gelegt, mit Ausnahme jener Werke, die in Art. 30 – 34 in die Zuständigkeit der Dikasterien des Apostolischen Stuhles gelegt worden waren. Ordensleute mussten neben der Erlaubnis des zuständigen Bischofs auch noch vom zuständigen Oberen die Erlaubnis zur Herausgabe ihres Werkes erwirken. Werke, die von den Zensoren als unbedenklich qualifiziert worden waren, hatten die bischöfliche Approbation zu erhalten. Diese Approbation wurde von den kirchlichen Behörden in drei Varianten erteilt: Mit der „approbatio definitiva“, wurde unwiderruflich festgestellt, dass das betreffende Werk in Übereinstimmung mit der kirchlichen Lehre steht. Durch eine „approbatio electiva“ wurde festgestellt, dass der Inhalt eines Buches nach dem derzeitigen Stand der Erkenntnis der Wahrheit am nächsten komme. Eine Approbation im uneigentlichen Sinn stellte die „approbatio permissiva“, das sogenannte „dimittatur“ dar, eine Feststellung der Indexkongregation, mit der einem Werk weder das Freisein von Irrtümern noch dessen Fehlerhaftigkeit zugesprochen wurde.141 Die Approbation musste schriftlich erteilt und im Werk abgedruckt werden. Wurde sie vom Bischof versagt, konnte dies nur unter Angabe der Gründe geschehen, die zu der Entscheidung geführt hatten. Dem Autor stand in diesem Fall ein Beschwerderecht an die nächsthöhere Instanz142 zu. Eine Approbation galt jeweils nur für eine konkrete Auflage. Neue Auflagen sowie Übersetzungen brauchten neuerlich eine Approbation, deren Erlangung von „Officiorum ac munerum“ in die Hände der Verleger und Drucker gelegt wurde.143 In der Regel wurde eine einfache Druckerlaubnis, das sogenannte „imprimatur“ erteilt: eine schriftliche Erklärung, dass in dem Werk nichts enthalten sei, was dem katholischen Glauben, den guten Sitten oder den kirchlichen Büchergesetzen widersprechen würde. Vielfach wurde das „imprimatur“ als eine bischöfliche Empfehlung eines bestimmten Buches bzw. als eine Bestätigung des wissenschaftlichen Wertes interpretiert, was den Intentionen des Gesetzgebers nicht entsprach. 139 140 141 142 143

ASS 30 (1897/98), S. 401 – 410. Schneider, Die neuen Büchergesetze der Kirche (Anm. 126), S. 110 – 114. Johannes Renninger, Approbation, in: Wetzer-Welte2 II, Sp. 1171 – 1174. In Frage kamen hier der Metropolit oder der Apostolische Stuhl. Art. 44.

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Den Abschluss von „Officiorum ac munerum“ bilden die strafrechtlichen Bestimmungen in Art. 47 bis 49. Auf der Grundlage der Konstitution Pius IX. „Apostolicae Sedis“ vom 12. Oktober 1869144 wurde das Lesen, Aufbewahren,145 Drucken146 und Verteidigen von häretischen und apostatischen Büchern147, wenn dies wissentlich und ohne Erlaubnis des Apostolischen Stuhles gepflegt wurde, mit der Tatstrafe der Exkommunikation belegt. Von der gleichen Strafe war der Druck der Heiligen Schrift und von Bibelkommentaren bedroht, wenn dies ohne Zustimmung des Bischofs geschah.148 Die Lossprechung von dieser Zensur war in besonderer Weise dem Apostolischen Stuhl vorbehalten. In diesem Fall genügte die allgemeine Vollmacht, von päpstlichen Zensuren zu absolvieren, nicht, es bedurfte einer besonderen Vollmacht. Ausgenommen waren Fälle von Todesgefahr und besonders dringende Fälle, in denen die Absolution wegen der Gefahr eines schweren Ärgernisses oder drohenden Ehrverlustes nicht aufgeschoben werden konnte. In diesen Fällen war der Beichtvater bevollmächtigt, die Absolution zu erteilen. Innerhalb eines Monats musste der Apostolische Stuhl davon informiert werden.149 „Officiorum ac munerum“ schließt in Art. 49 mit einer Ermessensnorm. Die Bischöfe werden ermächtigt, nicht nur einzelne Bücher zu verbieten, sondern auch die Übertreter der einschlägigen Gesetze je nach der Schwere ihres Verschuldens zu mahnen und angemessen zu bestrafen. Bei den Strafen, die gemäß Art. 49 verhängt werden können, handelt es sich um Spruchstrafen, die nicht schon mit dem Begehen der Tat eintreten. Intendiert waren von Art. 49 vor allem Disziplinarmaßnahmen, die vom Bischof über straffällig gewordene Personen verhängt werden konnten, wenn Korrekturmaßnahmen wie Ermahnung und Zurechtweisung erfolglos geblieben waren. 144

Codicis Iuris Canonici Fontes, Bd. 3, S. 24 – 31. Entscheidend für das Eintreten der Strafe war das Wissen des Betreffenden, dass das Buch von der Zensur erfasst war. Die Intention des Aufbewahrers war unerheblich, ebenso, ob er das Buch gelesen hatte oder nicht. Nach der Rechtsauffassung von Schmalzgrueber stellte das Aufbewahren verbotener Bücher an sich eine geringere Übertretung als das Lesen derselben dar und zog daher, wenn dies nur für kurze Zeit geschah, keine Zensur nach sich. Vgl. Franz Schmalzgrueber, Ius ecclesiasticum universum, tom 5, pars 1, tit. 7, nr. 42, Rom 1845. 146 Auch hier war das wissentliche Handeln eine absolut notwendige Voraussetzung. Setzer, Maschinisten und andere Mitarbeiter wurden daher in der Regel von der Zensur nicht erfasst, da sie sich mit den Inhalt eines Druckwerkes bei ihrer Arbeit kaum auseinandersetzten. Vgl. Schneider, Die neuen Büchergesetze der Kirche (Anm. 126), S. 173. 147 Nach einer Erklärung der Inquisitionskongregation vom 13. Jänner 1892 mussten Zeitschriften, die in Faszikel gebunden waren, unter den Begriff „Buch“ subsumiert werden. Diese Erklärung war notwendig geworden, da nach dem Rechtsgrundsatz „odiosa sunt restringenda“ Vorschriften des Strafrechts nur im engsten und strengen Sinne ausgelegt werden dürfen. Vgl. Philipp Schneider, Fontes iuris ecclesiastici novissimi, Regensburg 1895, S. 55. 148 Vgl. die Entscheidung der Inquisitionskongregation vom 22. Dezember 1880, wonach die Exkommunikation gemäß Art. 48 den Drucker, Verleger und Autor traf, nicht den Leser und Besitzer eines einschlägigen Buches. Siehe Schneider, Fontes (Anm. 147), S. 69. 149 Entscheidungen der Inquisitionskongregation vom 30. Juni 1886, 17. Juni 1891 und 19. August 1891. Vgl. Schneider, Fontes (Anm. 147), S. 75. 145

Streiflichter auf dem Weg zur Entwicklung eines kirchlichen Medienrechts

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VIII. Medienrechtliche Aspekte in den Normen des CIC/1917 Obwohl die Anfänge des Rundfunks in das ausgehende 19. Jahrhundert zurückreichen – zu nennen sind hier vor allem Guglielmo Marconi, Nikola Tesla und Alexander Stepanowitsch Popow – lag den Architekten und Baumeistern des CIC/1917 der Gedanke, dass Medien dieser Art im Dienste der Verkündigung und kirchlichen Berichterstattung einmal eine gewichtige Rolle zukommen könnte, die auch einer sorgfältigen rechtlichen Regelung bedürfe, noch völlig fern. Deshalb hat der Rundfunk im CIC/1917 noch überhaupt keinen Niederschlag gefunden. Die einzigen Medien, die in das kirchliche Gesetzbuch von 1917 Eingang gefunden haben, waren – in konsequenter Fortsetzung der bisherigen Regelungen – die Druckwerke. Die rechtlichen Normen beschäftigten sich ausschließlich – auch hier wurde die Geschichte konsequent fortgeschrieben – mit der Überwachung und Kontrolle der Schriften bis hin zu den rechtlichen Vorgaben zum Erlass von Bücherverboten. Rechtliche Regelungen, die einen konstruktiven Umgang mit Druckwerken und deren positiven Einsatz im Dienste der Verkündigung ermöglichen sollten, fehlten völlig. „Sollicita ac provida“ und „Officiorum ac munerum“ waren für das Entstehen des CIC/1917 bedeutende Rechtsquellen, was die Tatsache beweist, dass sie zur Gänze in die CIC-Fontes aufgenommen wurden.150 Ergänzend müssen in diesem Zusammenhang die Enzyklika von Papst Pius X. „Pascendi“ vom 8. September 1907151 und das Motuproprio „Sacrorum antistitum“ vom 1. September 1910152 genannt werden. Die Normen zur Zensur und zum Bücherverbot wurden im 4. Hauptteil „De magisterio ecclesiastico“ unter der Überschrift „De praevia censura librorum eorumque prohibitione“ in den cc. 1384 – 1405 CIC/1917 festgeschrieben.153 Während der CIC/1983 dann über die einschlägigen cc. 822 bis 832 die neutrale Überschrift „Soziale Kommunikationsmittel, insbesondere Bücher“ gesetzt hat, war im CIC/1917 mit der Überschrift „Von der vorhergehenden Zensur der Bücher und deren Verbot“ von vornherein eine negative Grundhaltung im Umgang mit Medien festgeschrieben. Aus inhaltlicher Sicht brachten die einschlägigen Normen des CIC/1917 kaum Neuerungen, sondern überwiegend eine Zusammenschau der bisher erlassenen Dokumente. Die Zensur als Kontrollinstrument blieb weiterhin in doppelter Weise ausgestaltet: sowohl als Präventivzensur für Druckwerke, die von Kirchenmitgliedern herausgegeben wurden154, als auch in der Form der Repressivzensur, die unabhängig 150

Im Anschluss an „Sollicita ac provida“ wurden auch die Indexregeln des Konzils von Trient sowie die Instruktion von Papst Clemens VIII. abgedruckt, obwohl diese Dokumente ausdrücklich von „Officiorum ac munerum“ außer Kraft gesetzt worden waren. Vgl. Codicis Iuris Canonici Fontes, Bd. 2, S. 414 – 422. 151 Ebd., Bd. 3, S. 690 – 724. 152 Ebd., S. 774 – 790. 153 Vgl. P. Gillet (kein Vorname angegeben), De censura librorum, in: Ius Pontificium 11 (1931), S. 56 – 61. 154 Vgl. c. 1384 § 1, wo der Begriff „fideles“ – Gläubige verwendet wurde. Der Begriff „Buch“ wurde in einem weiten Sinn verwendet und umfasste Broschüren, Zeitungen, Zeit-

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vom Verfasser ausgeübt wurde. In den cc. 1385 bis 1394 CIC/1917 wurde das Institut der Vorzensur näher ausgefaltet. Als zensurpflichtig galten die Ausgaben der Heiligen Schrift, sämtliche religiöse Schriftwerke und heilige Bilder, auch wenn sie nicht mit einem Text versehen waren.155 Zuständig für die Abwicklung der Zensur war der Ortsordinarius des Verfassers bzw. des Verlags- oder Druckortes. Ordensleute mussten zusätzlich noch die Erlaubnis ihres zuständigen höheren Oberen einholen.156 Als besonders sensibel wurden Druckwerke qualifiziert, die einen Zusammenhang mit einem schwebenden Selig- und Heiligsprechungsverfahren aufweisen konnten, weiters Ablassbücher, Sammlungen von Erlässen der Kardinalskongregationen, liturgische Bücher und Übersetzungen der Heiligen Schrift, weshalb in diesen Fällen die Zuständigkeit auf die Ebene des Heiligen Stuhles gehoben wurde.157 Für die Wahrnehmung der Zensur mussten von Amts wegen Zensoren bestellt werden. Die Auswahl der Personen war dem freien Ermessen des Bischofs anheim gestellt. Bezüglich der Idoneitätskriterien für dieses Amt enthielt c. 1393 § 3 nur allgemeine Vorgaben. Zum Einsatz sollten Diözesan- und Ordenspriester kommen, die sich bereits durch ausreichendes Alter, Gelehrsamkeit und Klugheit ausgezeichnet hatten. Bei der Zuweisung der zu prüfenden Literatur musste streng auf die Kompetenz des Zensors abgestellt werden, um ein ausgewogenes Urteil zu gewährleisten.158 Im Zensurverfahren galt das strenge Schriftlichkeitsprinzip: sowohl das Gutachten des Zensors als auch die Erlaubnis zur Veröffentlichung mussten schriftlich ausgestellt werden.159 schriften, Flugblätter und sonstige Druckwerke. Vgl. Vermeersch/Creusen, Epitome Iuris Canonici, Bd. 2, S. 502. 155 Vgl. das Monitum des Heiligen Stuhls vom 15. März 1923, wonach die Ortsordinarien auch über die Rezensionen von Schriften, Bildern und Statuen wachen sollten. Vgl. AAS 15 (1923), S. 152. Lichtbilder, Bildbände und Filme mit religiösem Inhalt wurden nach der Grundintention des CIC/1917 nicht unter c. 1385 n. 3 subsumiert. Manche Bistümer nützten in diesem Fall die Möglichkeiten des Partikularrechts, um diese Medien durch Diözesanverordnungen der kirchlichen Zensur zu unterwerfen. Vgl. Erlass des Generalvikariats von Osnabrück betreffend das Imprimatur für religiöse Lichtbilder, Bildbänder und Filme vom 4. März 1936. Erfasst waren Medien, die die katholische Lehre und das kirchliche Leben zum Inhalt hatten und in katholischen Pfarrkinos und Vereinsbildstellen aufgeführt werden sollten. Vgl. AfkKR 116 (1936), S. 173 – 174; Joseph Wenner, Lehrapostolat in Wort und Schrift, Paderborn 21953, S. 71. 156 C. 1385 § 2 i. V. m. c. 94. Die Verfasser und Verleger konnten frei entscheiden, bei welchem zuständigen Ortsordinarius. Wenn ein Ortsordinarius die Druckerlaubnis nicht gewährt hatte, musste bei der Vorlage des Ansuchens vor dem anderen zuständigen Ortsoberhirten der abschlägige Bescheid erwähnt werden (c. 44 § 1). 157 Zu den Details vgl. cc. 1387 bis 1391. 158 Erlass des Heiligen Offiziums vom 29. März 1941, in: AAS 33 (1941), S. 121. Vgl. Sollicita ac provida §§ 15 – 20. 159 Cc. 1393 § 4 und 1394 § 1. Sowohl Jone, Gesetzbuch der lateinischen Kirche. als auch Wenner, Lehrapostolat (Anm. 155), schreiben bei c. 1394 § 1 „sollen“, was nicht dem Originaltext entspricht.

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Mit der Erarbeitung sowie Redaktion des CIC/1917 ging auch ein Umbau in der Kurie einher. Die Indexkongregation, die seit 1571 bestanden hatte, wurde von Papst Benedikt XV. aufgelöst160 und die einschlägigen Fragen in die Zuständigkeit der Kongregation des Heiligen Offiziums übertragen.161 In den cc. 1395 bis 1405 CIC/ 1917 wurde die rechtliche Ausgestaltung der Repressivzensur festgelegt. Die cc. 1395 bis 1398 fixierten das Recht und die Pflicht der Kirche, Bücher aus einem gerechten Grund zu verbieten, unabhängig vom Autor. Die Zuständigkeit für dieses Vorgehen lag für den Bereich der Weltkirche bei der höchsten kirchlichen Autorität, dem Papst und dem allgemeinen Konzil. Repressivzensuren, die für den Bereich der Gesamtkirche erlassen worden waren, erstreckten sich auf den Bereich der katholischen Ostkirchen.162 Die Partikularkonzilien und Ortsordinarien waren für ihren Jurisdiktionsbereich mit dieser Kompetenz ausgestattet, die auch exemte Personen erfasste.163 Veröffentlicht wurden diese Zensuren in den Acta Apostolicae Sedis. Als Rechtsmittel gegen derartige Verbote sah der CIC die Rekursmöglichkeit beim Heiligen Stuhl vor, die aber nicht mit aufschiebender Wirkung ausgestattet war.164 Gegen ein Bücherverbot, das vom Heiligen Offizium erlassen worden war, war kein ordentliches Rechtsmittel vorgesehen; möglich war in diesem Fall eine „aperitio oris Papae“, eine Gegenvorstellung beim Papst.165 Die Anzeigepflicht der Gläubigen, wie sie c. 1397 festschrieb, war grundsätzlich an alle Gläubigen gerichtet; eine besondere Verpflichtung traf die päpstlichen Gesandten166, die Ortsoberhirten und die Rektoren der katholischen Universitäten. § 3, der auf der Basis von § 12 „Sollicita ac provida“ entstanden war, enthielt eine strenge Verpflichtung für die Adressaten einer Anzeige, die Namen derjenigen, die die Anzeige einbrachten, unbedingt geheim zu halten. Mens legislatoris dieser Vorschrift war der Schutz des Anzeigers vor Anfeindungen und eine gewisse Gewährleistung, dass der Pflicht zur Anzeige auch nachgekommen werden würde. Dem Vorwurf, dass mit solchen Normen in der Kirche Denunziation und Spitzelwesen gefördert werden, wurde das höhere Schutzgut der Reinhaltung der Glaubenslehre entgegengehalten. Eine solide Auseinandersetzung mit diesem berechtigten Argument wurde bedauerlicher Weise nicht geleistet.

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Motu Proprio „Alloquentes“ vom 25. März 1917, vgl. 1.5. Vgl. AAS 9 (1917), S. 167. C. 247 § 4 CIC/1917. 162 AAS 20 (1938), S. 195. 163 Vgl. c. 1405 § 2, der die Ortsordinarien und Seelsorger verpflichtete, die ihnen anvertrauten Gläubigen vor den Gefahren „schlechter Lektüre“ zu warnen. Vgl. Mörsdorf, Lehrbuch des Kirchenrechts, 2. Bd., S. 410. Gemäß c. 1395 § 3 waren im ordensinternen Bereich Äbte und höhere Obere berechtigt, gemeinsam mit dem Kapitel bzw. ihrem Rat aus gerechtem Grund Bücherverbote auszusprechen. Als Rechtsmittel stand in einem solchen Fall ein Rekurs bei der Religiosenkongregation gemäß c. 1601 offen. 164 C. 1395 § 2. 165 Mörsdorf, Lehrbuch des Kirchenrechts, Bd. 2, S. 410. 166 Vgl. c. 267 § 1 n. 2. 161

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Für besonders problematisch eingestufte Werke167 existierte gemäß c. 1399 ein Bücherverbot von Rechts wegen, dem keine Überprüfung voran ging.168 Befreiungen vom Bücherverbot, aber unter Wahrung der gebotenen Vorsicht, gab es ex lege für Kardinäle, Bischöfe und alle Ordinarien, weil diese als Träger des kirchlichen Lehramts auch über glaubens- und sittenfeindliche Strömungen Bescheid wissen mussten, sowie für all jene, die sich mit biblischen oder theologischen Studien beschäftigten.169 Neben der Befreiung ex lege enthielt c. 1402 eine Möglichkeit der Befreiung vom Bücherverbot durch Verwaltungsakt. Eine solche Erlaubnis konnte in dringenden Fällen und für einzelne Bücher gewährt werden. Die Zuständigkeit für diesen Rechtsakt lag bei den Ordinarien, die vom Gesetz angehalten waren, von dieser Vollmacht nur in ausgewählten Fällen Gebrauch zu machen.170 Die Verhängung eines Bücherverbotes hatte zur Folge, dass ein solches Buch ohne eine eigene Erlaubnis weder herausgegeben noch gelesen, aufbewahrt, übersetzt, verkauft oder durch Leihe bzw. Schenkung weitergegeben werden durfte, d. h. es war jeder Verfügungsgewalt entzogen. Ein einmal verbotenes Buch durfte erst wieder aufgelegt werden, wenn nach erfolgter Verbesserung eine Neuauflage erlaubt worden war.171 Das Verbot erging ausschließlich zu Lasten des Verfassers und Verlegers. Entschädigungsansprüche waren nicht vorgesehen. Die Missachtung eines solchen Bücherverbotes zog die dem Apostolischen Stuhl reservierte Exkommunikation nach sich; Autoren und Verleger, die Bücher der Heiligen Schrift oder Anmerkungen bzw. Kommentare in den Druck brachten, zogen sich die Exkommunikation ohne Reservation zu.172 IX. Zusammenfassung und Ausblick Die Einstellung der Kirche zu Medien – mit der faktischen Beschränkung auf Druckwerke – war bis ins 20. Jahrhundert von einem ausgeprägten „SchwarzWeiß-Denken“ geprägt, das eine differenzierte Beurteilung stark erschwerte. Kenn167 Gemäß c. 1399 waren davon erfasst: Bibelausgaben und Übersetzungen, die von Akatholiken erstellt worden waren, Werke mit häretischem und schismatischem Inhalt, Schriften, die sich vorsätzlich gegen die Religion und die guten Sitten richteten, alle Bücher von Nichtkatholiken mit religiösem Inhalt, wenn nicht gesichert war, dass diese nichts gegen den katholischen Glauben enthalten, Bücher, die sich mit Aberglauben und Okkultismus beschäftigten, Bücher mit obszönem Inhalt, liturgische Bücher, die nicht mit den vom Apostolischen Stuhl approbierten Ausgaben übereinstimmten, Drucke, die vom Apostolischen Stuhl widerrufene Ablässe verbreiteten, religiöse Bilder, die gegen den Geist und die Vorschriften der Kirche verstießen. 168 Vgl. Erklärung der Kongregation für die Ostkirchen, wonach c. 1399 auch für die Gläubigen eines orientalischen Ritus anzuwenden war. AAS 36 (1944), S. 25. 169 Cc. 1400, 1401. 170 Cc. 1402, 1403. 171 C. 1398 § 2 auf der Basis von „Sollicita ac provida“ § 9. 172 C. 2318 §§ 1 und 2.

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zeichnend war eine sehr negative und von Misstrauen gefärbte Grundeinstellung der Kirche zu Druckwerken allgemein und besonders zu religiösen Schriften; im Vordergrund stand die Furcht vor der Verbreitung von glaubensfeindlichen oder häretischen Werken. Die Qualifizierung der Bücher als gut oder schlecht lag allein in der Zuständigkeit der kirchlichen Autorität, den Gläubigen wurde eine selbständige Auseinandersetzung und Entscheidung weder zugetraut noch zugestanden. Diese Einschränkungen mündeten mitunter sogar in konkreten Verboten, sich mit Glaubensfragen zu beschäftigen und solche zu diskutieren.173 Der Glaube sollte hauptsächlich durch Predigt und Katechese verkündet und verbreitet werden und nicht über Medien, um eine möglichst umfassende Kontrolle der verkündeten Glaubensinhalte zu gewährleisten. Dieses Misstrauen richtete sich besonders gegen die Verbreitung von Bibeln und vor allem gegen Bibelübersetzungen.174 Das Denken der kirchlichen Autorität konzentrierte sich ausschließlich auf die missbräuchliche Verwendung der Medien und deren Verfolgung, was in den erlassenen Rechtsnormen deutlich zum Ausdruck gebracht wurde. Als adäquates Mittel erschien die Vernichtung der inkriminierten Schriften, meist verbunden mit einer strengen Bestrafung der Autoren, bis hin zur Todesstrafe. Nur vereinzelt wurde auf die Vernichtung solcher Werke verzichtet; dann wurden diese Schriften unter Verschluss genommen.175 Begründet wurde dieses Vorgehen mit dem göttlichen Auftrag, dass die Kirche von der Wahrheit Zeugnis zu geben habe, damit alle den wahren Gott erkennen können. Dieses Ziel sollte sowohl durch aktive Verkündigung der Botschaft als auch durch die Bekämpfung von Glaubensirrtümern und deren Verbreitung erreicht werden. Die Zensur wurde als Mittel zur Bewahrung des Glaubensgutes und zur Ermöglichung einer rechten Erziehung im Glauben angesehen, sowie als pädagogisches und moralisches Instrument.176

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C. 1 der Synode von Tarragona 1234: „… ne cuiquam laicae personae liceat publice vel privatim de fide catholica disputare; …“ Mansi XXIII, S. 329. 174 C. 5 der Synode von Oxford 1408: Die Lehrer der Grammatik und der freien Künste müssen ihren Unterricht nach der Lehre der Kirche ausrichten und dürfen ihre Schüler nicht über Glaubensfragen disputieren lassen. Ebd., vol. 26, S. 1037. Vgl. c. 14 des Konzils von Toulouse 1229, wo den Laien der Besitz des Alten und Neuen Testaments verboten wurde. Zulässig war nur der Besitz des Breviers und der Psalmen; diese durften allerdings nicht in die Landessprache übersetzt werden: „Prohibemus etiam, ne libros veteris testamenti aut novi, laici permittantur habere: nisi forte psalterium, vel breviarium pro Divinis officiis, aut horas beatae Mariae aliquis ex devotione habere velit. Sed ne praemissos libros habeant in vulgaris translatos, arctissime inhibemus.“ C. 2 der Synode von Tarragona 1234 untersagte es Laien wie Priestern, romanische Übersetzungen der Heiligen Schrift zu haben: „Item, statuitur, ne aliquis libros veteris vel novi testamenti in Romanico habeat. Et si aliquis habeat, infra octo dies post publicationem huiusmodi constitutionis a tempore sententiae, tradat eos loci episcopo comburendos, quod nisi fecerit, sive clericus fuerit, sive laicus, tamquam suspectus de haeresi quousque se purgaverit, habeatur.“ Mansi XXIII, S. 197, 329. C. 7 des Konzils von Oxford 1408 verbot, die Bibel ins Englische zu übersetzen und die Bibelübersetzung von John Wiclif zu verwenden. Ebd., vol. 26, S. 1038. 175 Vgl. c. 9 des 2. Konzils von Nizäa 7, 787, Mansi XIII, S. 429. 176 Schneider, Pressefreiheit und politische Öffentlichkeit (Anm. 39), S. 24 ff.

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Vor der Erfindung des Buchdruckes kannte die Kirche für die Überprüfung von Büchern kein standardisiertes Verfahren. Das rechtliche Instrument der Vorzensur war nur vereinzelt bekannt177 und wurde überwiegend an den Universitäten praktiziert. Die theologische Fakultät der Universität Paris verpflichtete ab dem Jahr 1366 alle Dozenten, die Vorlesungstexte durch den Kanzler und einen Professor der Theologie überprüfen zu lassen, bevor diese zum Verkauf angeboten wurden. Diese Verpflichtung wurde im Laufe des 14. Jahrhunderts von den meisten Universitäten übernommen.178 Systematisch wurde die Vorzensur erst mit der Erfindung des Buchdruckes, der die Erzeugung und Verbreitung von Druckschriften zum ersten Mal in der Geschichte in einem größeren Umfang ermöglichte, eingeführt.179 Die Angst, dass der Glaube durch die neuen technischen Möglichkeiten gefährdet werden könnte, war so stark, dass die positiven Aspekte des Buchdruckes und die Möglichkeiten eines positiven Einsatzes für die Verbreitung des Glaubens und die Katechese vorerst nur vereinzelt erkannt und genutzt wurden.180 Als positives Beispiel ist hier der erste Rektor der Hochschule Tübingen und Professor für kanonisches Recht, Johannes Nauclerus181, zu nennen. Durch die technischen Errungenschaften des Buchdruckes war die Vervielfältigung der Werke verschiedenster 177 Die ersten rechtlich fassbaren Ansätze einer Vorzensur finden sich im Partikularrecht des Franziskanerordens. 1260 tagte unter dem Vorsitz des heiligen Bonaventura ein Ordenskapitel, auf dem beschlossen wurde, dass ohne Überprüfung kein Ordensmitglied eine neue schriftliche Arbeit veröffentlichen dürfte. Zuständige Instanz für die Überprüfung war entweder der Generalminister oder der Provinzial mit den Definitoren des Provinzialkapitels. Verstöße gegen diese Vorschrift wurden mit dreitägigem Fasten bei Brot und Wasser und mit dem Verfall des Werkes geahndet. Vgl. Plöchl II, S. 455. Eine weitere Form der Vorzensur wurde an den Universitäten eingeführt. Das Motiv für diese Maßnahme war aber in erster Linie der Schutz der wissenschaftlichen und wirtschaftlichen Interessen der Universitäten. Aus dem Jahr 1275 existiert eine Vorschrift der Universität Paris, nach der nur solche Bücher und Schriften durch die Buchhändler verkauft werden durften, die mit den Originalmanuskripten übereinstimmten. Damit sollte der Handel mit Plagiaten und anderen fehlerhaften Schriften gebremst werden. Ebd., S. 455. 178 Ebd., S. 456. 179 Vgl. Heinrich Lackmann, Die kirchliche Bücherzensur nach geltendem kanonischem Recht, Köln/Greven 1962, S. 13 f. 180 Papst Paul IV. hatte die Errichtung einer Druckerei in Rom beabsichtigt gehabt. Dieses Projekt konnte erst unter Papst Gregor XIII. mit der Gründung der Mediceiischen Druckerei der orientalischen Sprachen im Jahre 1584 verwirklicht werden. Als eigentlicher Gründer der Vatikanischen Staatsdruckerei, die 1587 in Betrieb ging, gilt Papst Sixtus V. Vgl. Karl Eder, Die Geschichte der Kirche im Zeitalter des konfessionellen Absolutismus (1555 – 1648), Wien 1949, S. 205. 181 Nauclerus wurde um das Jahr 1430 in der Nähe von Tübingen geboren. 1477 wurde er Professor für kanonisches Recht und 1478 Kanzler der Universität Tübingen. Bekannt wurde er durch seine Chronik, das „Große Buch von Tübingen“, ein Sammelwerk für die ganze Weltgeschichte, das Nauclerus auf Wunsch Kaiser Maximilians I. verfasste. Dieses Werk stellte eine bedeutende Materialiensammlung von Geschichtsquellen des Mittelalters dar. Vgl. August Esser, Nauclerus, in: Wetzer-Welte2 IX , Sp. 48 f.

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Autoren, auch in mehreren Sprachen182, möglich geworden. Nauclerus erkannte diese Möglichkeit, Zeugnisse für den christlichen Glauben zu verbreiten, als so wertvoll, „… dass ich glauben möchte, der Welt sei dieses Geschenk durchaus von Gott gegeben“183. Den gleichen Weitblick bewies der Ulmer Dominikanermönch Felix Faber184, der in seiner Historia Suevorum zum Jahr 1459 schreibt, die Druckkunst sei von einem gewissen in Mainz erfunden worden und es gebe keine Kunst der Welt, welche würdiger, löblicher, nützlicher, ja göttlicher und heiliger sein könne.185 Eine vorsichtige Wende in der Einstellung zu und im Umgang mit Medien gelang der Kirche auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil, wo im Dekret über die sozialen Kommunikationsmittel „Inter mirifica“ zumindest ein positiver Ansatz spürbar ist. Zwar wird in der Einleitung von „Inter mirifica“ das Dekret als „Lückenbüßer“ und „Kompromiss zwischen zwei nicht in Einklang zu bringenden Tendenzen“ bezeichnet186 ; auch ist die Sorge vor der missbräuchlichen Verwendung der Medien allgegenwärtig. Dennoch wird in Art. 2 zumindest der wichtige Beitrag der Medien zur „Erholung und Bildung des Geistes“ und der Dienst der Medien bei der „Ausbreitung und Festigung des Gottesreiches“ gewürdigt. In der Folge setzte sich eine positivere Sicht in der Einschätzung der sozialen Kommunikationsmittel durch, wie z. B. das Dokument „Communio et progressio“187 und die Pastoralinstruktion „Aetatis novae“188 belegen. Ein positiv realistischer Umgang mit den Medien findet sich bei Papst Johannes Paul II., wenn er in seiner Enzyklika „Redemptoris missio“ schreibt: „Der erste Areopag der neuen Zeit ist die Welt der Kommunikation, die die Menschheit immer mehr eint und, wie man zu sagen pflegt, zu einem ,WeltdorfÐ macht. Die Massenmedien spielen eine derartig wichtige Rolle, dass sie für viele zum Hauptinstrument der Information und Bildung, der Führung und Beratung für individuelles, familiäres und soziales Verhalten geworden sind.“189

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Nauclerus spricht von Latein, Griechisch und Hebräisch. Falk, Druckkunst (Anm. 39), S. 6. 184 Vgl. Karl Schrödl, Felix Faber, in: Wetzer-Welte2 IV, Sp. 1166 f. 185 Falk, Druckkunst (Anm. 39), S. 6. 186 Karlheinz Schmidthüs, Einleitung und Kommentar zum Dekret über die sozialen Kommunikationsmittel, in: LThK, Das Zweite Vatikanische Konzil. Konstitutionen, Dekrete und Erklärungen, Freiburg/Basel/Wien 1986, Sp. 115. 187 Päpstliche Kommission für die Instrumente der sozialen Kommunikation, 23. Mai 1971. AAS 68 (1971), S. 655 – 656. 188 „Aetatis novae“ wurde anlässlich des 20. Jahrestages von „Communio et progressio“ am 22. Februar 1992 veröffentlicht. AAS 84 (1992), S. 454 – 455. 189 Nr. 37, in: AAS 83 (1991), S. 285. 183

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„Gott im globalen Dorf“ heißt ein Werk des ehemaligen Präsidenten des Päpstlichen Rates für soziale Kommunikationsmittel, John Patrick Foley.190 Wie weit die kirchliche Rechtsentwicklung diese umfassende Bedeutung der Kommunikation und der Mittel, derer sie sich bedient, für den Verkündigungsdienst aufgreift und eventuell mit der Entwicklung eines eigenen kirchlichen Medienrechts reagiert, bleibt abzuwarten.

190 John Patrick Foley, Gott im globalen Dorf. Erzbischof John P. Foley im Gespräch mit Ulrich Bobinger, Augsburg 2000.

System der kirchlichen Freiheit Zur Bestimmung des Verhältnisses von Kirche und Staat durch Clemens August von Droste-Hülshoff Von Norbert Witsch I. Einleitung In der bewegten Diskussion um die Verhältnisbestimmung von Kirche und Staat in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts nimmt der katholische Rechtsgelehrte Clemens August von Droste-Hülshoff (1793 – 1832), der an der Juristischen Fakultät der Universität Bonn von 1823 bis 1832 als Professor des Natur-, Kirchen- und Strafrechts gewirkt hat1, eine eigenständige und über seine Zeit hinausweisende Position im katholischen Raum ein. Man wird es wohl der Nähe Droste-Hülshoffs zu den Ideen seines Lehrers und Freundes sowie späteren Kollegen an der Bonner Universität, Georg Hermes (1775 – 1831), zuschreiben müssen, dass seine Rechtsphilosophie nach der kirchlichen Verurteilung der Schriften des Hermes im Jahr 1835 von den Vertretern der seitdem in Theologie und Kirche vorherrschenden Neuscholastik nicht mehr zur Kenntnis genommen wurde. Umso interessanter ist, dass im 20. Jahrhundert mit der Erklärung des II. Vatikanischen Konzils über die Religionsfreiheit Dignitatis Humanae eine bedeutsame Wandlung in der doktrinellen Grundlegung des Verhältnisses von Kirche und Staat erfolgte, die aufgrund ihrer ausdrücklichen Bezugnahme auf die neuzeitliche Freiheitsentwicklung wieder deutlich an die über ein Jahrhundert älteren Überlegungen Droste-Hülshoffs erinnert. Seit dem 19. Jahrhundert hatten Theologie und Lehramt zur Abwehr überzogener Eingriffskompetenzen der staatlichen Gewalt die Freiheit und Unabhängigkeit der Kirche gegenüber dem Staat „in einem betont institutionellen Sinne“2 definiert: Mit Rückgriff auf die im Jus Publicum Ecclesiasticum entwickelte societas perfecta-Lehre stellte man die Kirche dem Staat als eine souve1 Eine biographische Würdigung bieten Wilhelm Astrath, Clemens August von DrosteHülshoff. Kanonist in Bonn – Schüler und Verteidiger der Hermes-Schule, in: Heinrich J.F. Reinhard (Hrsg.), Theologia et Jus Canonicum (FS Heribert Heinemann), Essen 1995, S. 549 – 567; Erik Wolf, Art.: Droste zu Hülshoff, Clemens August Maria Antonius Aloysius Freiherr von, in: Neue Deutsche Biographie 4 (1959), S. 132 f.; Johann Wilhelm Joseph Braun, Biographische Mitteilungen über Herrn Clemens August von Droste–Hülshoff …, in: Zeitschrift für Philosophie und Katholische Theologie 1 (1832), H. 4, S. 1 – 32. 2 Aymans-Mörsdorf KanR, Bd. 1, S. 91.

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räne und diesem gleichberechtigte Gesellschaft mit einer eigenen Rechtsordnung gegenüber.3 Dieser Ansatz ändert sich durch Dignitatis humanae insofern grundlegend, als nun nicht mehr das Verhältnis zweier souveräner Gesellschaften zueinander, sondern das Recht der menschlichen Person auf religiöse Freiheit den Ausgangspunkt der Argumentation bildet: Das Konzil versteht dieses Recht als Ausdruck der Würde der menschlichen Person und damit als ein natürliches, im Wesen der Person selbst begründetes Recht (DH 2). Als solches kommt es den Menschen auch dann zu, wenn sie aufgrund ihrer Sozialnatur in Gemeinschaft miteinander handeln, so dass folglich der Kirche ebenfalls ein Recht auf (korporative) Religionsfreiheit zuzusprechen ist (DH 4). Sofern der Gegenstand dieses Rechts im Freisein von Zwang in religiösen Dingen besteht, bedeutet dies mit Blick auf das Kirche-Staat-Verhältnis: Die Kirche hat gegenüber dem Staat das Recht, ungehindert von der staatlichen Gewalt ihre religiöse Sendung zu verfolgen und die eigenen Angelegenheiten selbständig zu regeln, soweit dadurch die gerechten Erfordernisse der öffentlichen Ordnung nicht verletzt werden (DH 4 – 7). Die von der Würde der menschlichen Person und deren Grundrechten hergeleitete „Freiheit der Kirche“ bildet damit „das grundlegende Prinzip in den Beziehungen zwischen der Kirche und den öffentlichen Gewalten“ (DH 13). In diesem Sinn hat auch Droste-Hülshoff zu seiner Zeit versucht, die Frage nach dem Verhältnis von Kirche und Staat ausgehend von der Würde des Menschen und dessen unverlierbaren Freiheitsrechten zu beantworten. Seine – von ihm selbst als „System der kirchlichen Freiheit“4 charakterisierte – Position versteht er dabei als eine Alternative zum sogenannten „Koordinationssystem“ (KR 166) des Katholizismus, der oben bereits erwähnten staatskirchenrechtlichen Theorie, welche die Unabhängigkeit der Kirche gegenüber dem Staat dadurch zu sichern sucht, dass sie „beide Gewalten rechtlich gleichstellt, die Kirche völlig unabhängig auf kirchlichem, den Staat souverän auf staatlichem Gebiet“5. Zwar ist Droste in der Zielsetzung mit dieser Position einig, zu weit gehende Eingriffsrechte des Staates in Kirchenangelegenheiten zurückzuweisen, wie sie durch das sogenannte. „Territorial-System“ (KR 164) zugelassen wurden – „eine staatskirchenrechtl[iche] Theorie und Praxis, die in ihren verschiedenen Spielarten der territorialen Staatsgewalt die entscheidende Herr-

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Vgl. dazu Joseph Listl, Kirche und Staat in der neueren katholischen Kirchenrechtswissenschaft (Staatskirchenrechtliche Abhandlungen 7), Berlin 1978, S. 104 – 207. 4 Cl. A. v. Droste-Hülshoff, Grundsätze des gemeinen Kirchenrechts der Katholiken und Evangelischen, wie sie in Deutschland gelten, 1. Bd., Münster 21832, S. 173. – Dieser Band wird im Folgenden unter der Sigle „KR“ zitiert. In allen Zitaten wird die Orthographie an die heutigen Regeln angepasst. 5 Vgl. Hans Erich Feine, Kirchliche Rechtsgeschichte, 1. Bd.: Die katholische Kirche, Weimar 51972, S. 638. – Ein Vertreter dieses Koordinationsmodells war der katholische Gelehrte Joseph Görres, den Droste während seines Aufenthaltes in München kennenlernte (vgl. Braun, Biographische Mitteilungen [Anm. 1], S. 18).

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schaft über das Kirchenwesen einräumt“6. Gegenüber diesem System der Subordination der Kirche unter die staatliche Gewalt7 tritt er gemeinsam mit den Vertretern der Koordinationstheorie dafür ein, „dass die Kirche und der Staat gegenseitig voneinander unabhängig sind“ (KR 166). In der Begründung dieser Unabhängigkeit ist er aber in der „Hauptfrage, ob die Kirchengewalt und die Staatsgewalt kollegialisch nebeneinander bestehen“ mit den Vertretern der Koordinationstheorie uneinig: „Denn die Kirchengewalt ist nicht collega der Staatsgewalt; beide sind in ganz verschiedenen Sphären tätig und in diesen hat keine einen Kollegen“ (KR 173). Die Unabhängigkeit der Kirche gegenüber der staatlichen Gewalt lässt sich demnach adäquat nicht dadurch begründen, dass man die Kirche dem Staat als gleichberechtigte, souveräne Macht gegenüberstellt, sondern nur dadurch, dass man ihre Freiheitsrechte gegenüber dem Staat ausgehend von den naturrechtlich aufweisbaren Freiheitsrechten der menschlichen Person her begründet. Dieses „System der kirchlichen Freiheit“ soll im Folgenden vorgestellt werden. II. Rechtsphilosophische Grundlegung Droste-Hülshoff entwickelt seine Überlegungen zum Kirche-Staat-Verhältnis auf der Grundlage des Naturrechts. In einem ersten Schritt ist deshalb kurz auf diese naturrechtliche bzw. rechtsphilosophische Grundlegung einzugehen. 1. Begriff des Naturrechts Sein Verständnis des Naturrechts erläutert Droste in folgender Weise: Sofern man gemäß dem allgemeinen Sprachgebrauch unter dem Begriff des Rechts eine Befugnis des Menschen versteht, „nach eigener Wahl etwas zu tun oder zu lassen“, ohne daran von anderen mit Zwang gehindert zu werden, meint eben der Begriff des Naturrechts diejenige Befugnis zum Tun oder Lassen, die „dem Menschen bloß um seiner eigentümlichen Menschennatur willen und durch diese unmittelbar zusteht, ohne alle Rücksicht darauf, was ihm etwa von außen her faktisch als Recht möge eingeräumt … werden oder nicht“8. Das Naturrecht wird damit im Sinne einer im Wesen der menschlichen Person selbst begründeten Befugnis zum Tun oder Lassen verstanden und als solches allem durch positive Setzung hervorgebrachten Recht gegenübergestellt. Die Erkenntnis einer solchen Befugnis ist adäquat nur durch die Vernunft als 6 Martin Heckel, Art. Territorialsystem, in: EvStL3 II, Sp. 3600 – 3603, hier Sp. 3600; auch Christoph Link, Kirchliche Rechtsgeschichte. Kirche, Staat und Recht in der europäischen Geschichte von den Anfängen bis ins 21. Jahrhundert, München 2009, S. 102 f. 7 Vgl. dazu auch Martin Heckel, Die Neubestimmung des Verhältnisses von Staat und Kirche im 19. Jahrhundert, in: ders, Gesammelte Schriften. Staat. Kirche. Recht. Geschichte, 3. Bd., hrsg. v. Klaus Schlaich, Tübingen 1997, S. 441 – 470, hier S. 447 ff. 8 Cl. A. v. Droste-Hülshoff, Lehrbuch des Naturrechtes oder der Rechtsphilosophie, Bonn 2 1831, S. 3. Dieses Werk wird im Folgenden mit der Sigle „NR“ zitiert (zur Orthographie vgl. Anm. 4).

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das dem Menschen naturhaft eigene Erkenntnisvermögen möglich. Der Begriff des Naturrechts kann dabei nicht nur diese Befugnis selbst, sondern auch deren wissenschaftliche Erkenntnis bzw. die Lehre darüber, also die Rechtsphilosophie, bezeichnen (NR 5). Der vernünftige Nachweis eines solchen Naturrechts verlangt nach Droste ein Zweifaches: Zunächst ist nach dem Wesen der menschlichen Natur selbst zu fragen, um dann zu untersuchen, ob die (praktische) Vernunft aufgrund der Erkenntnis dieser Natur genötigt werde, dem Menschen ein um seiner eigentümlichen Natur willen zustehendes Recht zuzuerkennen. Auf diese Weise gelangt Droste zum höchsten Grundsatz des Naturrechts oder der höchsten Rechtsidee, die als solche die Grundlage und Norm aller weiteren naturrechtlichen Überlegungen bildet: Sie erlaubt, im Einzelnen über das Tun und Lassen zu entscheiden, das dem Menschen allein um seiner Natur willen zusteht, um von daher eine vernünftige Orientierung und Grundlage für die Regelung der tatsächlichen Rechtsverhältnisse zu bieten. – Mit dieser Konzeption bewegt sich Droste ganz auf der Linie des zeitgenössischen Verständnisses des Naturrechts als einer „Wissenschaft der Menschenrechte“ mit dem Ziel, neue, „liberale Modelle des Verhältnisses von Staat, Gesellschaft und Individuum“ zu entwerfen und zu begründen.9 2. Höchster Grundsatz des Naturrechts Ausgangspunkt der rechtsphilosophischen Überlegungen ist eine vernünftige Reflexion auf die eigentümliche Natur des Menschen. Dies ist in dem von Droste vorausgesetzten System der notwendigen Vernunftfunktionen oder „schaffenden Geistestätigkeiten“ (NR 46) der Aufgabenbereich der „erkennenden Vernunft“ bzw. der „theoretischen Philosophie“ (NR 15 f. 28). Vor aller übrigen Kreatur, so das Ergebnis der Überlegungen, zeichnet sich der Mensch exklusiv dadurch aus, dass er im Besitz einer geistigen Natur, d. h. – kurz gesagt – ein Wesen der Freiheit und Vernünftigkeit, ist. Der Begriff der Freiheit besagt, dass der Mensch zur Selbstbestimmung fähig ist, sich grundsätzlich also unabhängig von jeder Bestimmung von außen, ja sogar von der Macht der eigenen Sinnlichkeit zum Wollen eines ihm bewussten Zweckes zu bestimmen vermag. In seiner Vernünftigkeit besitzt er dazu das leitende Prinzip, vermöge dessen er die Zwecke seines Handelns selbst zu setzen vermag, um sie bewusst und frei zu verfolgen. Damit unterscheidet sich der Mensch nicht nur grundlegend von allen übrigen Wesen, sondern ist er diesen gegenüber auch unendlich erhaben. In den Vermögen der Vernünftigkeit und Freiheit ist insofern die „dem Menschen eigentümliche Würde“ begründet (NR 12; vgl. zum Ganzen NR 11 – 13). Im Weiteren stellt sich die Frage, ob dem Menschen aufgrund dieser eigentümlichen Natur ein bestimmtes Recht gebühre und ob ihm dieses durch die Vernunft auch 9 Diethelm Klippel, „Natürliches Kirchenrecht“. Das Verhältnis von Staat und Kirche im deutschen Naturrecht des 18. und 19. Jahrhunderts, in: Zeitschrift für Neuere Rechtsgeschichte 23 (2001), S. 35 – 51, hier S. 43 f.

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tatsächlich zugesprochen werde. Das Gebühren geht für Droste aus der Wesensbestimmung selbst unmittelbar gewiss hervor, denn mit Blick auf die ihm eigenen Vermögen der Freiheit und Vernünftigkeit kann der Mensch anders auch als Zweck oder Selbstzweck begriffen werden, d. h. als ein Wesen, dessen Sein und Tätigkeit „nicht nur um seiner selbst willen gewollt werden kann, sondern auch gewollt werden soll“. Als solchem gebührt ihm die Forderung, an seinem selbständigen Tun und Lassen nicht gehindert zu werden, sofern er anders eben nicht mehr als Zweck geachtet, sondern zu einem bloßen Mittel – „was eines anderen wegen ist und gewollt wird“ – herabgesetzt würde (NR 14). Diese dem Menschen aufgrund seiner Natur gebührende Forderung wird ihm durch die praktische Vernunft auch tatsächlich als Recht zugesprochen, wie Droste mit Blick auf das menschliche Selbstbewusstsein in mehreren Schritten darzulegen versucht. – So bedingt zunächst die durch die theoretische Vernunft erreichte Wesenserkenntnis des Menschen unmittelbar das sittliche Gebot der praktischen Vernunft, die Würde des Menschen als Selbstzweck „sowohl negativ als positiv zu achten“ – d. h. sie rein darzustellen und zu erhalten sowie jede Verringerung oder Entstellung von ihr abzuhalten (NR 28). Damit ist der Bereich der praktischen Vernunft, näherhin ihrer „pflichtdiktierenden und ratenden Funktion“ und damit der Moralphilosophie oder Sittenlehre, erreicht: Deren Gegenstand sind die menschlichen Handlungen, „insofern sie von der Vernunft als notwendig zur reinen Darstellung der Menschenwürde gefordert oder … angeraten“ werden (NR 53). Der pflichtdiktierenden ist die rechterkennende oder „rechtsprechende Funktion“ der praktischen Vernunft nachgeordnet, die erst im Fall einer Verletzung des sittlich Gebotenen aktiviert, also „das Rechtsgesetz auszusprechen“ veranlasst wird. Ihr Gegenstand sind die menschlichen Handlungen, „insofern die Vernunft sie vom Zwange anderer Menschen frei gibt oder nicht, also eine Verhinderung derselben wider den Willen des Handelnden verbietet oder zulässt“ (NR 53). – In dieser Hinsicht spricht nun die Vernunft dem Menschen durch ihren ersten und „allgemeinsten Ausspruch“ (NR 75) grundsätzlich ein zweifaches Recht, d. h. eine doppelte Befugnis zum Handeln, zu: Aufgrund seiner Menschennatur ist er zum einen berechtigt, alle ohne seine Einwilligung unternommenen Handlungen anderer Menschen, wodurch er nicht als Selbstzweck, sondern als Mittel behandelt und damit in seiner Menschenwürde verletzt wird, zurückzuweisen – und zwar notfalls auch mit Gewalt. Diese Ausübung von Gewalt ist sozusagen als ein Hindernis gegen die Hinderung seiner Freiheit durch Zwang gerechtfertigt. Einschlussweise ist er damit zum anderen jedoch auch berechtigt, auf jegliche Weise eigenmächtig zu sein und zu handeln, ohne daran durch Zwang gehindert zu werden, so lange durch sein Handeln kein anderer Mensch als Mittel behandelt wird, also sein Handeln nicht mit der Menschenwürde irgendeines anderen Menschen als Selbstzweck unvereinbar ist (vgl. NR 30 f). Die Wahrheit dieses doppelten Spruchs der rechtsprechenden Vernunft ist insofern unmittelbar evident, als dessen Leugnung notwendig einen Widerspruch zur vernünftigen Erkenntnis des Menschen als Selbstzweck darstellen würde. Der Mensch könnte sich diesem

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Ausspruch seiner praktischen Vernunft nicht widersetzen, ohne seine eigene Menschenwürde zu verleugnen. Mit diesem allgemeinsten Ausspruch der rechtsprechenden Vernunft ist für Droste der „höchste Grundsatz des Naturrechts“ (NR 63) erreicht, der „das gesamte Naturoder Vernunftrecht“ des Menschen konstituiert (NR 31) bzw. das „höchste und zugleich allgemeinste Prinzip ist für alle Wahrheiten über Recht und Unrecht“ (NR 63). Droste kann diesen Grundsatz anders auch in folgender Weise zusammenfassen: „Der Mensch darf vermöge seiner menschlichen Natur, und zwar als Selbstzweck, jede ohne seine Einwilligung unternommene Handlung jedes Anderen, wodurch er als Mittel behandelt wird (jeden Angriff), nötigenfalls mit Gewalt von sich abhalten, und darf also einschließlich auf jede Weise sein und handeln, solange er selbst nicht andere Menschen als Mittel behandelt.“ (NR 63)

Nach dem Naturrecht sind folglich alle Menschen, sofern sie gemäß dessen höchstem Grundsatz berechtigt sind, sich innerhalb bestimmter Grenzen zum Tun und Lassen selbst zu bestimmen, frei – und in dieser Freiheit, die ihnen gerade aufgrund ihrer Menschennatur zuzusprechen ist, auch gleich (NR 73). Dabei wird die eigene Freiheit lediglich durch die Freiheit aller übrigen beschränkt, sie muss zusammen mit der Freiheit aller anderen bestehen können. – Philosophisch lässt sich von daher die Idee des Rechts bzw. das „Recht als Idee“, sofern es im menschlichen Bewusstsein zunächst in Gestalt eines allgemeinen Prinzips auftritt, bestimmen als „die von der Vernunft uns zugesprochene Freiheit von fremdem Zwang in allem Sein und Handeln, wodurch niemand als Mittel behandelt wird“ (NR 63). Der höchste Grundsatz des Naturrechts bildet nun die Norm für die vernunftrechtliche Beurteilung allen menschlichen Seins und Handelns, anhand derer sich folglich entscheiden lässt, welches Sein und Handeln zum Recht des Menschen als Mensch gehört. Mithilfe dieser Norm ist deshalb auch die speziell in unserem Zusammenhang interessierende Frage zu beantworten, ob und inwieweit dem Menschen aufgrund seines Menschseins ein Recht auf religiöse Freiheit zuzuerkennen sei. III. Das natürliche Recht des Einzelnen auf freie Religionsausübung Neuzeitlich beim Individuum ansetzend versteht Droste Religion primär als subjektive Religiosität, d. h. als eine „bestimmte Gesinnung und Stimmung des Gemütes gegen Gott“, die als solche in einer „Erkenntnis Gottes und unseres Verhältnisses zu ihm“ begründet ist und sich in vielfältiger Weise durch Worte und Taten zum Ausdruck bringt – wobei rechtlich allein diese äußeren Ausdrucksformen von Belang sind.10 Die Frage nach der Religionsfreiheit stellt sich damit zunächst als Frage 10 Vgl. zum Begriff der Religion: NR 164.304; auch KR 10: Hier wird die christliche Religion als „die mit Freiheit angenommene und unterhaltene Stimmung des ganzen inneren Menschen“ beschrieben.

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nach dem Recht des Einzelnen auf freie Ausübung seiner Religion (individuelle Religionsfreiheit). Für Droste-Hülshoff hat gemäß dem höchsten Grundsatz des Naturrechts jeder Mensch das Recht auf freie Religionsausübung: Als sittliches Wesen oder Selbstzweck hat er das Recht, sowohl seine religiöse Überzeugung frei, d. h. ohne fremden Zwang, gemäß seiner eigenen Einsicht zu bilden wie auch ungestört „seiner eigenen religiösen Überzeugung im Tun und Lassen zu folgen“, solange er dabei keine Rechtsverletzung begeht, d. h. solange er seinerseits durch sein äußeres Handeln andere Menschen nicht in ihrer Freiheit und Würde als Selbstzweck verletzt (NR 163). Droste sieht in diesem Recht ein „unveräußerliches Recht“ des Menschen (ebd.), weil es gewissermaßen ein „Recht der Pflichterfüllung“ (NR 71) darstellt: Jedem Menschen, so die Argumentation, legt die Vernunft, sobald er entweder rein vernünftig oder vermittels einer Offenbarung zur Erkenntnis Gottes gelangt, die sittliche Pflicht auf, seinen Lebenswandel gemäß dieser Erkenntnis zu gestalten. Mit der Auferlegung dieser sittlich-religiösen Pflicht muss ihm die Vernunft jedoch auch das Recht der ungehinderten Erfüllung dieser Pflicht im äußeren Handeln zugestehen, will sie sich nicht selbst widersprechen.11 Dieses durch die Vernunft notwendig zugestandene Recht auf ungehinderte religiöse Pflichterfüllung ist insofern unveräußerlich, als der Verzicht darauf nicht nur für den Träger des Rechts sittlich unerlaubt wäre12, sondern mit Blick auf Dritte, die einen solchen Verzicht zuließen oder gar erzwängen, auch gegen den höchsten Rechtsgrundsatz verstieße: Damit würde das Bestehen eines anderen Menschen als Selbstzweck unmöglich gemacht.13 Das Recht auf freie Religionsausübung erstreckt sich, wie Droste ausdrücklich hervorhebt, grundsätzlich auf alle religiösen Überzeugungen unabhängig von deren Wahrheitswert. Es besteht demnach rechtlich eine „völlige Gleichheit und Freiheit aller, auch der verschiedensten, religiösen Überzeugungen und Handlungen“ (NR 163). Das ist insofern konsequent, als Droste dieses Recht in der Natur des Menschen als Selbstzweck und dem daraus abgeleiteten natürlichen Recht auf ein selbstbestimmtes Sein und Handeln, nicht aber in bestimmten Inhalten des religiösen Bewusstseins, begründet. Es geht um ein Recht der Person. Entsprechend bemisst sich die rechtliche Erlaubtheit religiöser Handlungen und Äußerungen – und damit das Recht, ihre Verhinderung durch fremden Zwang mit Gewalt zurückzuweisen – nicht an der Wahrheit der ihnen zugrundeliegenden Überzeugungen, sondern 11

Vgl. NR 163 f.; so auch bereits die Argumentation Drostes Habilitationsvortrag: Über das Naturrecht als eine Quelle des Kirchenrechts. Eine Vorlesung gehalten in der Aula der Rhein. Universität zu Bonn den 11. März 1822, Bonn 1822, S. 18. – Die Schrift wird im Folgenden unter der Sigle „Qu“ zitiert. 12 „Das Sittengesetz gebietet einem solchen sofort und jeden Augenblick, den Verzicht zurückzunehmen und die vermeintlich durch Verzicht aufgegebenen Rechte … ohne Weiteres wieder auszuüben.“ (NR 71 f.) 13 „Denn nach dem höchsten Rechtsgesetz gibt es kein Recht, jemand zu einer Unsittlichkeit aufzufordern, geschweige denn zu zwingen, da dies im vollsten Sinne des Wortes jemand als Mittel behandeln sein würde.“ (NR 72)

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einzig daran, ob sie äußerlich mit dem Bestehen anderer Menschen als Selbstzweck vereinbar sind oder nicht. In der Folge bedeutet das auch, dass ein Mensch sein natürliches Recht auf freie Ausübung der Religion nicht allein deshalb verliert, weil er in seiner religiösen Überzeugung irrt – oder anders: „auch der Irrtum hat ein Recht zu sein, innerhalb der vom Rechtsgesetz bestimmten Schranken“ (NR 306)14. Dem Recht des Einzelnen, seine religiöse Überzeugung äußerlich durch Wort und Tat ungehindert zu bekennen, entspricht auf Seiten aller anderen Menschen die „Rechtspflicht der Toleranz“: Diese fordert, das äußere Bekenntnis einer religiösen Gesinnung „zu respektieren, d. i. auf keine Weise zu verhindern oder auch nur zu verachten, solange dasselbe nicht zu einer Rechtsverletzung führt“ (NR 164). Für Droste ist Toleranz damit primär eine negative Pflicht, etwas nicht zu tun, nämlich ein rechtlich erlaubtes Handeln nicht zu stören oder zu verhindern. Als solche korrespondiert sie streng dem Recht auf freie Ausübung der Religion und hat wie dieses ihren Grund allein in der Würde des Menschen als Selbstzweck – unabhängig von dem Wahrheitswert der jeweils vertretenen religiösen Überzeugung. Die Rechtspflicht der Toleranz fordert deshalb nicht, das tolerierte Bekenntnis als wahr anzuerkennen (NR 167). Ebenso wenig schließt sie aus, Abweichungen und Irrtümer im religiösen Bekenntnis anderer zu kritisieren, sofern dies ohne „Verachtung der Person“ des Betreffenden und folglich ohne eine Verletzung seiner Würde geschieht (NR 164). Dem Indifferentismus ist damit in keiner Weise das Wort gesprochen. Nach dem höchsten Rechtsgesetz findet die Toleranz ihre Grenze jedoch da, wo das selbstbestimmte Sein und Handeln des einen mit der Würde irgendeines anderen Menschen als Selbstzweck nicht mehr vereinbar und damit rechtlich unerlaubt, d. h. zurückzuweisen ist. Dies gilt zunächst für alle Handlungen, die einen unmittelbaren Angriff auf die Würde eines anderen Menschen darstellen – im Weiteren aber auch für irreligiöse bzw. unmoralische Handlungen. Zu letzteren vertritt Droste folgende Position: An sich sind diese Handlungen zwar nicht sittlich, wohl aber rechtlich so lange als erlaubt anzusehen, wie sie in ihrer Wirkung ausschließlich auf die Person des Handelnden selbst – bzw. allein auf dessen Verhältnis zu Gott, das jeder rechtlichen Beurteilung grundsätzlich entzogen ist – beschränkt bleiben. Ihre Zurückweisung ist rechtlich jedoch erlaubt, sobald sie einen Angriff auf die Würde irgendeines anderen Menschen beinhalten (KR 34). Dies ist für Droste bereits dann der Fall, wenn solche Handlungen entweder durch die Macht des Beispiels unmündige Personen zu einem unmoralischen Verhalten bzw. zu „verwerflichen Gesinnungen und Handlungen gegen Gott“ verführen oder aufgrund ihrer Öffentlichkeit Anstoß erregen bzw. andere in ihrer religiösen Gesinnung beleidigen. Unter diesen Bedingungen stellen irreligiöse oder unmoralische Handlungen zumindest mittelbar einen Angriff auf das 14 „Man meint, in die Diskussionen vor ,Dignitatis humanaeÐ versetzt zu sein“ (Alexander Hollerbach, Das Verhältnis der katholischen Naturrechtslehre des 19. Jahrhunderts zur Geschichte der Rechtswissenschaft und Rechtsphilosophie, in: Albrecht Langner [Hrsg.], Theologie und Sozialethik im Spannungsfeld der Gesellschaft. Untersuchungen zur Ideengeschichte des deutschen Katholizismus im 19. Jahrhundert, München 1974, S. 113 – 133, hier S. 121).

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Recht anderer Menschen wie auch auf die „Sicherheit und Ordnung der Gesellschaft“ dar und sind insofern als „wahre Rechtsverletzungen“ zu qualifizieren und zurückzuweisen.15 Sind damit zunächst das Recht und die Grenzen individueller Religionsfreiheit dargelegt, bleibt weiter zu fragen, wie Droste von dort her das Recht der Kirche auf freie Existenz und Wirksamkeit, also das Recht auf korporative Religionsfreiheit, naturrechtlich herzuleiten vermag. IV. Das natürliche Recht der Kirche auf freie Existenz und Wirksamkeit Dem naturrechtlichen Korporationsdenken der Aufklärung folgend versteht Droste den Begriff der Kirche nicht im herkömmlichen theologischen Sinn als eine übernatürliche Stiftung Gottes, sondern als eine „Religionsgesellschaft“, d. h. als eine Gesamtheit von natürlichen Personen, die sich zur Verfolgung eines gemeinsamen Zweckes, näherhin „zur Erhaltung und Belebung der Religion“, zusammengeschlossen haben.16 Grundlage dieser Gesellschaft oder „moralischen Person“ ist ein ausdrückliches oder stillschweigendes Übereinkommen, das die Individuen zu einer bestimmten Tätigkeit zur Verfolgung dieses gemeinsamen Zweckes bleibend verpflichtet.17 Als „Religionsgesellschaft“ kommt die Kirche weiterhin nicht mehr nur in Gestalt einer einzigen Institution, sondern vielmehr in Gestalt einer Mehrzahl historisch gewachsener Konfessionen in den Blick. Entsprechend ist auch der Begriff der Kirche im Kontext der rechtsphilosophischen Reflexionen Drostes nur im Sinne eines Abstraktionsbegriffes zu verstehen, der diejenigen Wesenseigenschaften der Kirche umfasst, „worin alle christlichen Konfessionen über dieselbe einig sind“ (Qu 17). Als Kirche gilt demnach eine geordnete Gesellschaft zum Zweck der „Erzeugung, Erhaltung und Verbreitung der christlichen Religion durch die von Christus vorgetragene Lehre und die von ihm eingesetzten Heilsmittel“ (KR 31.215). – Rechtsphilosophisch stellt sich die Frage, inwieweit der Kirche in diesem Sinn ein Recht auf Existenz und freie Wirksamkeit zugesprochen werden kann. Dieses Recht weist Droste anhand des höchsten Grundsatzes des Naturrechts, ausgehend von den Freiheitsrechten des Individuums, unter einer doppelten Perspektive auf. Zunächst betrachtet er die Kirche insofern, als diese gleichsam das „Produkt einer eigenen Handlungsweise der Menschen“ darstellt (KR 29), also in ihrem äußeren Sein und Wirken auf ein selbstbestimmtes Handeln von Menschen zurückzufüh15 Vgl. zum Ganzen: NR 70.163; zum Begriff der Rechtsverletzung bei Droste auch: Martin Reulecke, Gleichheit und Strafrecht im deutschen Naturrecht des 18. und 19. Jahrhunderts, Tübingen 2007, S. 285. 16 NR 304. – Vgl. dazu auch Martin Heckel, Zur Entwicklung des deutschen Staatskirchenrechts von der Reformation bis zur Schwelle der Weimarer Verfassung, in: ders., Gesammelte Schriften. Staat. Kirche. Recht. Geschichte, hrsg. v. Klaus Schlaich, Bd. I, Tübingen 1989, S. 367 – 401, hier S. 383. 17 NR 162. Dazu Klippel, „Natürliches Kirchenrecht“ (Anm. 9), S. 44 f.

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ren ist. In dieser Hinsicht gilt: Der Mensch ist gemäß dem höchsten Grundsatz des Naturrechts frei, in jeder Weise eigenmächtig zu handeln, solange sein Handeln nicht mit der Freiheit und Würde irgendeines anderen Menschen als Selbstzweck unvereinbar ist. Folglich ist er auch befugt, um der Erhaltung und Verbreitung seiner Religion willen irgend eine kirchliche Gemeinschaft zu gründen oder einer schon bestehenden Kirchengemeinschaft beizutreten, „so lange nicht andere Menschen durch diese Gemeinschaft verhindert werden, als Selbstzwecke zu existieren“ – oder genauer: solange diese Gemeinschaft die Forderungen des Rechtsgesetzes an jede Gesellschaft oder moralische Person erfüllt (NR 305). Sie darf demnach „weder im Zweck noch in den Mitteln irgendetwas Ungerechtes oder auch nur Unsittliches“ enthalten, ihre Mitglieder also weder zu einer mittelbaren noch zu einer unmittelbaren Rechtsverletzung durch Angriff auf die Würde eines anderen Menschen verpflichten (KR 30). Innerhalb der damit gezogenen Grenzen hat folglich jede Kirche ein volles Recht auf freie Existenz und Wirksamkeit. – Darüber hinaus kann Droste die Kirche aber auch insofern in den Blick nehmen, als diese nicht nur ein Werk von Menschen, sondern in ihrer Existenz letztlich auf ein Wollen und Handeln des sich offenbarenden Gottes selbst zurückführen ist. In dieser Hinsicht gilt: Für „jedes vernünftige Geschöpf“, das von der Wahrheit dieser göttlichen Offenbarung überzeugt ist, besteht die unbedingte sittliche Pflicht und folglich auch ein „unveräußerliches Recht“, durch Eintritt in diese Kirche dem in der Offenbarung erkennbaren Willen Gottes zu entsprechen (KR 30 f; auch Qu 19; NR 306). Dabei sind, weil das göttliche Offenbarungshandeln in der Geschichte unterschiedlicher menschlicher Deutungen fähig ist, grundsätzlich auch verschiedene christliche Kirchen bzw. Konfessionen möglich, deren Mitglieder jeweils für sich ein unveräußerliches Recht auf Mitgliedschaft und Wirksamkeit in ihrer jeweiligen Kirche geltend machen können, so dass diese Kirchen, naturrechtlich geurteilt, alle das gleiche Existenzrecht besitzen18. Das Recht der Kirche auf freie Existenz und Wirksamkeit begründet Droste also nicht von deren übernatürlichem Status als göttlich gestifteter Institution her – dieser Anspruch wird ohnehin durch die Tatsache diskreditiert, dass er von mehreren, sich gegenseitig ausschließenden Konfessionen gleichzeitig erhoben wird –, sondern ausgehend von den individuellen Freiheitsrechten der menschlichen Person, wie sie durch das höchste Rechtsgesetz begründet und begrenzt werden: Aufgrund seines Selbstbestimmungsrechts als sittliches Wesen der Vernunft und Freiheit, dass sich zudem im Fall einer göttlichen Willensbekundung als sittlich unbedingt verpflichtet erfährt, hat der Mensch das natürliche Recht, „an der christlichen Kirche teil zu nehmen, sich äußerlich zu ihr zu bekennen und allen ihren Forderungen Genüge zu leisten“ (KR 31). Im Umkehrschluss bedeutet dies, weil es für Droste sachlich „dasselbe ist“ (KR 31; Qu 19), dass die Kirche als Gesellschaft oder moralische Person ein Recht auf freie Existenz und Wirksamkeit zur Verfolgung des ihr eigenen Zweckes hat. Sie ist insofern „nichts anderes … als eine durch das Rechtsgesetz eingeräumte besondere äußere Erscheinung der menschlichen Freiheit“. Damit ist sie berechtigt, 18

„Jede Kirche hat als solche … ein gleiches Recht“ (NR 311; auch KR 32 ff.).

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das Evangelium überall zu verkünden und ihren Gottesdienst zu feiern sowie weitere evangeliumsgemäße Mittel zur Erreichung ihres Zweckes zu gebrauchen – was unter anderem die Ausbildung einer eigenen kirchlichen Verfassung und die Möglichkeit einer eigenen Kirchengewalt einschließt (NR 306). Diesem Recht entspricht umgekehrt die Rechtspflicht aller übrigen Menschen, die Existenz der Kirche zu dulden bzw. sie in der Wirksamkeit zur Erreichung ihres Zwecks nicht zu hemmen (KR 32; Qu 20). – Damit ist auch auf das Verhältnis der Kirche zum Staat bzw. zur staatlichen Gewalt hingewiesen, auf das nun abschließend einzugehen ist. V. Das naturrechtlich begründete Verhältnis der Kirche zur staatlichen Gewalt Aus der Sicht des Naturrechts bestimmt Droste den Staat als die Vereinigung eines Volkes oder einer sonstigen Gesamtheit von Menschen, die gemeinsam für sich eine rechtsbestimmende Autorität anerkennen bzw. sich dieser unterwerfen (NR 223 f., 248 f.). Der vernünftig notwendige Zweck eines solchen Zusammenschlusses von Menschen unter einer gemeinsamen Autorität kann allein darin bestehen, „die Realisierung des allgemeinen Rechtsgesetzes der Vernunft oder den Schutz der durch jenes Rechtsgesetz dem Menschen eingeräumten äußeren Freiheit“ zu gewährleisten, dem Menschen also ein seiner Würde gemäßes Leben in Frieden und Wohlfahrt zur freien Selbstbestimmung zu ermöglichen.19 Um diesen Zweck zu erreichen, hat die staatliche Autorität die Befugnis, die Geltung des Rechtsgesetzes in ihrem Gebiet mit äußerem Zwang durchzusetzen. Sie ist verpflichtet und berechtigt, „zur Realisierung des Rechtsgesetzes und in Harmonie mit diesem“ das äußere Tun und Lassen der ihr unterstellten Menschen „zur Beförderung aller menschlichen Interessen“ zu bestimmen. Diese Befugnis ist die Staatsgewalt (NR 248 f.; KrR 5). Sie wird tätig in den Funktionen der Gesetzgebung und der Gesetzesanwendung – worunter Droste die Gerichtsbarkeit und die vollziehende Gewalt fasst – sowie in der Funktion der hoheitlichen Aufsicht, die jenen Funktionen unterstützend zugeordnet ist und vermöge welcher der Regent „über alle äußeren Handlungen im Staate ohne Ausnahme, wenn die Staatszwecke es erheischen, die notwendigen Erkundigungen einziehen“ darf.20 Die Frage nach dem Verhältnis von Staat und Kirche stellt sich unter dieser Perspektive genauer als die Frage nach dem – naturrechtlich begründeten – Verhältnis der Kirche zur staatlichen Gewalt: Welche Rechte und Rechtspflichten hat die Kirche

19 NR 240; vgl. auch: Cl. A. v. Droste-Hülshoff, Einleitung in das gemeine deutsche Kriminalrecht zum Gebrauch für akademische Vorlesungen, Bonn 1826, S. 5.10 (diese Schrift wird im Folgenden unter der Sigle „KrR“ zitiert), und Qu 20. – Dazu Jan Rolin, Der Ursprung des Staates. Die naturrechtlich-rechtsphilosophische Legitimation von Staat und Staatsgewalt im Deutschland des 18. und 19. Jahrhunderts (Grundlagen der Rechtsphilosophie 4), Tübingen 2005, S. 171 – 173. 20 NR 283 f.; zu den Gewaltfunktionen insgesamt: NR 276 ff.

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gegenüber der staatlichen Gewalt – inwieweit unterliegt sie in ihrer Tätigkeit dem Einfluss der staatlichen Gewalt bzw. ist sie dieser gegenüber unabhängig, frei? 1. Zurückweisung einer unzureichenden Verhältnisbestimmung Nach den Grundsätzen des Naturrechts ist zunächst eine Verhältnisbestimmung von Staat und Kirche zurückzuweisen, welche die Kirche in ihrer Existenz und Wirksamkeit ganz in Abhängigkeit von der staatlichen Gewalt sieht. Dies gilt nach DrosteHülshoff für das System des Staatskirchentums, das im aufgeklärten Absolutismus seine Vollendung fand. Die Zuordnung der Kirche zum Staat erfolgt hier dergestalt, dass der Kirche jede institutionelle Eigenständigkeit gegenüber dem Staat abgesprochen wird: Die Kirche gilt lediglich als eine „Anstalt des Staates“, ihre Aufgaben sind staatliche Aufgaben, mit der Folge, dass die Regelung aller kirchlichen Angelegenheiten in vollem Umfang zu den „wesentlichen Rechten der Staatsgewalt“ zählt. Dem weltlichen Souverän wird damit eine eigene „Kirchengewalt“ und also das Recht zugesprochen, „für alle Untertanen vorzuschreiben, dass und wie sie Mitglieder der Kirche sein sollen und was sie als solche zu tun und zu unterlassen haben“21. Droste bezeichnet dieses Modell auch als „Territorial-System, weil es von dem Grundsatz ausgeht, dass alles, was in einem Territorium geschieht, von der Staatsgewalt abhängig sei“ (KR 164). Dieses Modell der Zuordnung von Staat und Kirche ist nach Auffassung Drostes naturrechtlich insofern zurückzuweisen, als es eine unzulässige Ausdehnung der staatlichen Gewalt auf den religiös-sittlichen Bereich und damit eine Vermischung der sachlich zu unterscheidenden Bereiche „des Sittlichen und Religiösen mit dem Rechtlichen“ vornimmt, was letztlich zu einer „Verletzung der Urrechte des Menschen“ als eines Wesens der Sittlichkeit und Freiheit führen muss (KR 165). 2. Staatsgewalt und Kirchengewalt Von der Natur der Sache her sind vielmehr die staatliche und die kirchliche Gewalt nach Art, Inhalt und Zwecksetzung genau voneinander zu unterscheiden. Die Staatsgewalt ist eine „Rechts- und Zwangsgewalt“ (KR 165) und als solche die Befugnis des Staates, „den Grundsatz des Rechtes auszuführen“ (NR 308). Sie hat demnach ihren eigentümlichen Gegenstand im „Gebiet des Rechtes“ und ihren Zweck in der „Realisierung der Rechtsidee“ bzw. des „Rechtsgesetzes“ (KR 163; NR 309). Oder anders: Sie hat zu gewährleisten, dass im Herrschaftsbereich des Staates niemand an seinem selbstbestimmten Sein und Handeln durch Dritte gehindert wird, solange er nicht selbst äußerlich durch sein eigenes Sein und Handeln die Freiheitsrechte anderer verletzt. Der staatlichen Gewalt unterliegen deshalb im Staatsgebiet alle äußeren Handlungen von Menschen gegen andere Menschen, soweit sie zu Rechtsverletzungen unter den Handelnden führen können bzw. „insofern ein Erzwingen 21

Vgl. KR 161 – 163; auch NR 308 f.

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oder Verhindern oder Bestimmen derselben zur Realisierung des Rechtsgesetzes notwendig ist“ (NR 309). Dabei ist der Staat in der Realisierung des Rechtsgesetzes zum Gebrauch physischer Zwangsmittel befugt.22 Der Staat hat demnach die äußeren Bedingungen für ein selbstbestimmtes Leben seiner Bürger in Freiheit mit äußerem Zwang durchzusetzen, aber er kann nicht selbst nochmals die Freiheit bzw. die religiös-sittliche Selbstbestimmung seiner Bürger erzwingen, ohne sie gerade dadurch in ihrem Wesen zu verfehlen. Konkret: Er kann die Voraussetzungen dazu erzwingen, dass alle Bürger ihre Religion frei wählen und ausüben können, nicht aber, was genau die einzelnen glauben und wie sie religiös leben sollen, weil eben „religiöse Lehren und Handlungen an sich keine Rechtspflichten, sondern Sache der unveräußerlichen Freiheit sind“ (NR 310). Die Sorge um die rechte Religion kann deshalb nur die Aufgabe einer eigenen, von der Staatsgewalt zu unterscheidenden Gewalt der Kirche sein. Droste bestimmt diese Kirchengewalt als die der Kirche eigene Befugnis, „diejenigen Vorschriften zu geben und zu vollziehen, welche zur Erreichung des Kirchenzweckes notwendig oder nützlich sind“ (NR 315). Der Zweck der Kirchengewalt ist damit die „Realisierung der Religionsidee“ (KR 163). Die Religion aber hat wie die Sittlichkeit ihr Wesen und ihre Grundlage „in der freien, aus der Erkenntnis und dem Glauben hervorgehenden Selbstbestimmung“ des Menschen (KR 163). Die Kirche darf deshalb auf die Einhaltung religiöser Pflichten nur unter Verzicht auf allen äußeren Zwang allein mit Blick auf die – das Gewissen bindende – innere Einsicht und Überzeugung der Menschen hinwirken. Folglich stellt die kirchliche Gewalt eine gegenüber der staatlichen „ganz andere Gewalt“ dar (NR 308), deren formelle Funktionen der Gesetzgebung und Gesetzesanwendung nur in Analogie zu denen der Staatsgewalt verstanden werden können (NR 313, Anm. 2). Anders als das von ihm abgelehnte Subordinationsmodell, dem er eine mangelnde Unterscheidung bzw. falsche Zuordnung von staatlicher und kirchlicher Gewalt vorwirft, bringt damit Droste-Hülshoff die kirchliche und die staatliche Gewalt mit Blick auf die freie Ausübung der Religion in ein differenziertes Verhältnis gestufter Zuordnung zueinander. Der Staat ermöglicht die freie Ausübung der Religion, indem er kraft seiner Rechts- und Zwangsgewalt jede äußere Störung des religiösen Handelns zu verhindern hat. Er darf seine Zwangsgewalt jedoch nicht mehr im Bereich des Religiösen selbst ausüben. Als Zwangsgewalt zur Durchsetzung der Rechtsidee muss der ganz säkular verstandene Staat23 die Regelung der religiösen Inhalte vielmehr einer anderen – religiösen – Autorität überlassen. Die Ausübung der staatlichen Gewalt in ihrer freiheitsgewährenden wie – beschränkenden Funktion als „höchste Rechtsverteidigungsgewalt“ bildet insofern nur die Voraussetzung und den Rahmen für die Ausübung der Kirchengewalt; sie ist „nur eine Stufe zu dem, was die Kirche ist und wirkt“ (NR 310 f.). Dagegen erstreckt sich die Wirksamkeit der Kirche kraft ihrer eigenen, von der staatlichen wesentlich verschiedenen Gewalt auf die positive 22 23

Vgl. dazu im Einzelnen Drostes Kriminalrecht (Anm. 19). Die Staatsgewalt ist „keine Religionsgewalt“ (KR 162).

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Regelung der religiösen Angelegenheiten, soweit dies zur Verfolgung ihrer Zwecksetzung notwendig ist. Umgekehrt ist die Staatsgewalt in ihrem Bereich sowohl die höchste wie auch die einzig rechtmäßige Gewalt (KR 166) und damit allein befugt, das Rechtsgesetz zu verwirklichen. Für die Kirche heißt das nicht nur, dass sie auf das Wirken der Staatsgewalt als Voraussetzung ihrer eigenen freien Existenz und Wirksamkeit notwendig angewiesen bleibt – sie könnte sich darüber nur um den Preis, dass „alles Kirchliche in seinem Fundament zerstört“ würde, hinwegsetzen (NR 311) –, sondern auch, dass sie selbst in ihrem Handeln dem Einfluss der Staatsgewalt insoweit unterstellt bleibt, als dies zur Realisierung des Rechtsgesetzes im Staat und damit um des naturrechtlich notwendigen Staatszweckes willen geboten ist (vgl. NR 309). Damit stellt sich abschließend die Frage, wie angesichts dieser grundsätzlichen Aussagen das Verhältnis von Staat und Kirche im Einzelnen naturrechtlich korrekt zu bestimmen sei. 3. Natürliche Rechte und Rechtspflichten der Kirche gegenüber dem Staat Grundsätzlich gilt gemäß dem oben bereits Festgestellten: Als eine bestimmte Erscheinungsform der menschlichen Freiheit hat die Kirche ein natürliches Recht auf freie Existenz und Wirksamkeit im Staat innerhalb derjenigen Grenzen, die für alle im Staat bestehenden Gesellschaften gelten – d. h. sie ist in der Verfolgung ihrer eigenen Zwecke frei und unabhängig von der staatlichen Gewalt, solange sie „vermöge dieser Zwecke und der dafür gebrauchten Mittel weder das natürliche und das mit diesem vereinbare positive Rechtsgesetz noch das natürliche Sittengesetz“ verletzt, also im Staat als moralische Person zu bestehen vermag (KR 167). Konkret bedeutet dies, dass die Kirche einerseits „in der Regierung ihrer selbst“ (KR 172) grundsätzlich unabhängig von der staatlichen Gewalt ist. Sie hat das Recht, ihre „Kirchenangelegenheiten“ (NR 315), also alle zur Verfolgung ihrer religiösen Zwecksetzung erforderlichen Mittel und Maßnahmen, kraft eigener Gewalt selbständig zu regeln. Droste spricht ihr folglich gegenüber dem Staat das natürliche Recht auf Freiheit in der Lehre, in der kirchlichen Verfassung und Regierung, im Gottesdienst, in der Annahme und dem Ausschluss von Mitgliedern sowie im Erwerb und Gebrauch aller zur Erhaltung des kirchlichen Lebens notwendigen Mittel zu. Weiter hat sie das Recht auf Schutz ihrer freien Wirksamkeit durch den Staat: Dieser ist verpflichtet, von der Kirche jede gewaltsame Störung ihres rechtmäßigen Handelns abzuhalten – wobei jedoch die Inanspruchnahme staatlicher Zwangsmittel zur Durchsetzung und Erfüllung des kirchlichen Auftrags selbst ausgeschlossen ist. Im Fall einer Rechtsverletzung durch den Staat selbst hat die Kirche das allen Bürgern zustehende Recht, „in den nach den Staatsgesetzen bestehenden Wegen ihr Recht [zu] suchen“ (KR 174). Über diese natürlichen Rechte hinaus kann die staatliche Autorität der Kirche auf dem Weg der positiven Rechtsetzung weitere Rechte einräumen. Dabei ist jedoch allein der Staat und nicht die Kirche, mit der sich der Staat gleich-

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wohl abstimmen wird, zu einer solchen positiv-rechtlichen Erweiterung des StaatKirche-Verhältnisses in seinem Rechtsbereich befugt (zum Ganzen: KR 167 f.). Trotz dieser grundsätzlichen Freiheit in der Verfolgung ihrer eigenen Zwecke bleibt die Kirche andererseits jedoch auch der staatlichen Gewalt unterworfen. Droste begründet dies damit, dass die Mitglieder der Kirche zugleich immer auch Bürger eines bestimmten Staates sind. Als solche aber haben sie sowohl als einzelne wie auch in ihrer Gesamtheit dieselben Rechtspflichten gegenüber dem Staat wie alle übrigen Staatsbürger bzw. wie alle sonstigen „im Staate existierenden Korporationen …, welche nicht Staatsanstalten sind“ (KR 169). Weil also die Kirche durch ihre jeweiligen Mitglieder in eine bestimmte staatliche Gemeinschaft eingeordnet ist, kann sie ihre Freiheit niemals absolut, sondern immer nur innerhalb derjenigen „Schranken“ (NR 309) ausüben, wie sie auch für jede andere moralische Person im Staat gelten, d. h. wie sie durch das natürliche und das mit diesem vereinbare positive Rechtsgesetz des Staates sowie durch das natürliche Sittengesetz festgelegt werden (NR 309; KR 30.167). Dies gilt auch dann, wenn die Kirche als ganze in ihrer Ausdehnung größer ist als der jeweilige Staat, wenn sie also eine mehrere Staaten übergreifende Gemeinschaft von Gläubigen darstellt (NR 309 f.; KR 169). Diese Aussage der Abhängigkeit der Kirche von der staatlichen Gewalt vermittelt nun Droste nicht dadurch mit der gleichzeitigen Aussage ihrer grundsätzlichen Unabhängigkeit vom Staat, dass er unterschiedliche Sachbereiche kirchlicher Wirksamkeit unterscheidet – etwa einen Bereich der freier kirchlicher Selbstbestimmung unterliegenden, inneren oder rein geistlichen Angelegenheiten der Kirche von einem Bereich der staatlicher Mitwirkung unterliegenden, äußeren Angelegenheiten der Kirche. Vielmehr geht er von der Tatsache aus, dass die gesamte Wirksamkeit der als Gesellschaft oder Korporation verfassten Kirche notwendig durch „äußere“ – das Verhältnis der Menschen untereinander betreffende – Handlungen bedingt ist, wie etwa das Lehren, die Abhaltung von Gottesdiensten oder das gesellschaftliche Ordnen (KR 170). Diese äußeren Handlungen unterliegen als solche in unterschiedlicher Hinsicht sowohl dem kirchlichem wie dem staatlichen Rechtsbereich: Sie sind zunächst „an sich“ bzw. insofern von allem staatlichen Zwang frei, als sie sich unmittelbar auf die religiöse Zwecksetzung der Kirche selbst beziehen, also dem Bereich der sittlich-religiösen Selbstbestimmung des Menschen zuzurechnen sind. In dieser Hinsicht gilt, dass der Staat die Kirche niemals positiv zur Vornahme irgendeiner dieser religiösen Handlungen oder Äußerungen zwingen darf (KR 171; NR 310). Hier liegt also der eigene Rechtsbereich der Kirche. Zum anderen können dieselben äußeren Handlungen aber auch – etwa aufgrund von Irrtum oder durch böse Absicht einzelner Individuen (KR 170) – mit Rechtsverletzungen verbunden sein und weisen insofern über den Eigenbereich der Kirche hinaus in den Rechtsbereich des Staates. In dieser Hinsicht unterliegen sie der staatlichen Zwangsgewalt zur Durchsetzung des Rechtsgesetzes als dem notwendigen Staatszweck. Droste unterstellt deshalb die Handlungen der Kirche speziell in dieser letzten Hinsicht einer doppelten Einflussnahme durch die staatliche Gewalt: Zum einen besitzt der Staat „das in der Staatsgewalt liegende Recht der Aufsicht“ über alle äußeren Handlungen der Kirche.

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Droste zählt dazu das Recht auf „Vorlegung aller kirchlichen Grundsätze und Anordnungen“ sowie auf Bekanntmachung der kirchlichen Handlungen (KR 171) – freilich unter der doppelten Bedingung, dass diese Auskunft „für die [naturrechtlich] notwendigen Staatszwecke erforderlich“ und zugleich für die Kirche „physisch und moralisch möglich“ ist (KR 172). Zum anderen hat der Staat das Recht, der Kirche um des notwendigen Staatszweckes willen diejenigen Handlungen zu verbieten, die mit Rechtsverletzungen verbunden sind, weil sie gegen das Naturrecht oder das mit diesem vereinbare positive Recht des Staates verstoßen, oder weil sie als unsittliche Handlungen durch ihr Beispiel bzw. ihre Öffentlichkeit Anstoß erregen und damit ebenfalls als Rechtsverletzungen zu qualifizieren sind (KR 172 f.). Hinsichtlich dieser Schranken ihrer Freiheit ist die Kirche jedoch rechtlich jeder anderen Korporation im Staat gleichgestellt, d. h. sie unterliegt hier keiner über die allgemeinen Staatsgesetze hinausgehenden Sondergesetzgebung des Staates bzw. keiner über die allgemeine Vereinsaufsicht hinausgehenden, besonderen staatlichen Kirchenaufsicht. VI. Zusammenfassung In kritischer Absetzung von überzogenen Souveränitätsansprüchen der staatlichen Gewalt in Kirchenangelegenheiten, wie sie der – in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in den deutschen Staaten in einer „Spätblüte“24 stehende – Territorialismus vertritt, strebt Droste eine neue Verhältnisbestimmung von Kirche und Staat in Gestalt einer differenzierten Zuordnung beider Größen an. Ihm geht es weder um eine Subordination der Kirche unter die staatliche Gewalt, noch um eine Koordination zweier gleichberechtigter souveräner Mächte, sondern um ein System der Koexistenz der Kirche mit dem souveränen Staat in Freiheit. Dabei weist er in vielen seiner Ausführungen durchaus über seine eigene Zeit hinaus. Rechtsphilosophisch setzt er im Sinne der zeitgenössischen „Wissenschaft der Menschenrechte“ bei denjenigen Rechten an, die dem Menschen aufgrund seiner Personwürde eigen und als unveräußerliche Freiheitsrechte dem souveränen Staat vorgegeben sind. Zu diesen Rechten zählt er auch das Recht auf freie Religionsausübung im Sinn einer umfassenden Glaubensfreiheit. Diese schließt die Freiheit zur Bildung von Religionsgemeinschaften ohne staatliche Genehmigung ein. Die Kirche in ihrer gesellschaftlichen Verfasstheit gilt ihm unter dieser naturrechtlichen Perspektive folglich als eine bestimmte äußere Erscheinungsform der menschlichen Freiheit. Als solche verdankt sie ihre korporative Existenz und Freiheit nicht dem Staat und seinem öffentlichen Recht, sondern ist darin von diesem grundsätzlich unabhängig. Insbesondere besitzt sie eine eigene Gewalt zur Durchsetzung ihrer religiösen Zielsetzung, die ihr nicht vom Staat verliehen ist. Sie ist insofern befugt, ihre eigenen Angelegenheiten selbständig zu regeln. Dagegen kann für Droste der 24 Peter Landau, Die Entstehung des neueren Staatskirchenrechts in der deutschen Rechtswissenschaft der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in: ders., Grundlagen und Geschichte des evangelischen Kirchenrechts und des Staatskirchenrechts, Tübingen 2010, S. 385.

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Staat grundsätzlich keine Aufgaben aus dem Bereich von Religion und Kirche übernehmen, da dessen Zuständigkeitsbereich dem der Kirche gleichsam vorgelagert ist: Dessen vernünftig allein notwendiger Zweck ist die Durchsetzung des Rechtsgesetzes; die ihm dazu eigene Zwangsgewalt ist keine Religionsgewalt. Er steht folglich allen Religionsgemeinschaften in religiöser Neutralität gegenüber. Die Grenze zwischen dem staatlichen und dem kirchlichen Rechtsbereich ist damit deutlich gezogen – wobei Droste allerdings die Möglichkeit der Privilegierung einzelner Religionsgemeinschaften durch den Staat mit Blick auf deren gesellschaftliche Bedeutung durchaus offenlässt. Damit bleibt Raum für die spätere Entwicklung, die Möglichkeit der Zuerkennung des Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts an Religionsgemeinschaften. Mit diesen Überlegungen vermag Droste zunächst entgegen dem System der Subordination einen Raum der Freiheit und Unabhängigkeit der Kirche gegenüber der staatlichen Gewalt zu begründen. Umgekehrt hat jedoch die Kirche auch die Souveränität des Staates auf dessen Gebiet, der Durchsetzung des Rechtsgesetzes, anzuerkennen. Damit verbietet sich für Droste das auf katholischer Seite vertretene System der Koordination von kirchlicher und staatlicher Gewalt. Die Freiheit der Kirche findet ihre Schranken an dem für alle geltenden Rechtsgesetz und dem natürlichen Sittengesetz. Insofern bleibt sie in ihrer Wirksamkeit der Aufsicht der staatlichen Gewalt unterstellt und kann von dieser auch mit Zwang an der Vornahme bestimmter, mit Rechtsverletzungen verbundener Handlungen gehindert werden. – Insbesondere die Unterstellung der Kirche unter die staatliche Aufsicht hat nicht nur unter den katholischen Zeitgenossen Drostes Befremden ausgelöst25, sie zeigt sicher eine Verhaftetheit in überkommenen Denkstrukturen.26 Allerdings werden die Grenzen dieser Aufsicht von Droste sehr eng gezogen und sie schließen jeden Zwang des Staates auf die Kirche zur Vornahme religiöser Handlungen aus. Bei aller Bedingtheit seiner Position durch Denkformen seiner Zeit hat doch Droste insgesamt für den Katholizismus wesentliche Entwicklungen auf dem Gebiet des Kirche-Staat-Verhältnisses bereits vorweggenommen. Insofern gilt zu Recht: „… wäre man seiner Naturrechtslehre im deutschen Katholizismus gefolgt, so hätte vermutlich auch der liberale Flügel des politischen Katholizismus seine rechtsphilosophische Basis gehabt und eine auch theoretisch positive Zuwendung zu dem Gedanken des Verfassungsstaats mit Grundrechtsgewährleistungen finden können.“27

25 Droste nimmt darauf in KR 171 bezug. – Nicht zuletzt von hier leitet sich wohl auch die Einschätzung durch Engelbert Plassmann her, wonach Droste noch den älteren Systemen des Staatskirchentums zuzuordnen sei: ders., Staatskirchenrechtliche Grundgedanken der deutschen Kanonisten an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert, Freiburg u. a. 1968, S. 150. 26 Vgl. dazu auch Klippel, „Natürliches Kirchenrecht“ (Anm. 9), S. 47 f. 27 Hollerbach, Das Verhältnis (Anm. 14), 121.

Diözese und Erzdiözese nach dem endgültigen Anfall Salzburgs an Österreich Von Alfred Rinnerthaler I. Das Ende der politischen Turbulenzen Das erste Viertel des 19. Jahrhunderts kann sowohl politisch als auch kirchlich als die vermutlich ereignisreichste Zeit in der Salzburger Geschichte angesehen werden. Die diversen Besetzungen des Landes durch Frankreich, das Ende des Hochstifts Salzburg (1803), das kurze Intermezzo eines weltlichen Kurfürstentums (1803 – 1805), die ebenfalls kurze erste Zugehörigkeit Salzburgs zu Österreich (1806 – 1809) und der Anfall an Bayern (1810 – 1816) waren Stationen auf dem langen Weg bis zur endgültigen Vereinigung mit Österreich gewesen. Letztere kam nach langen, zähen Verhandlungen1 im Münchner Vertrag2 vom 14. April 1816 zustande. Bayern musste in diesem Vertrag unter anderem auf Salzburg im Austausch gegen die Pfalz verzichten, womit einem lang gehegten Wunsch Kaiser Franz I. und dessen dezidiertem Auftrag an Kanzler Metternich, ihm Salzburg zu verschaffen, entsprochen wurde. Wie sehr Bayern der Verlust Salzburgs und des Inn- und Hausruckviertels schmerzte, zeigt eine Reaktion des bayerischen Kronprinzen Ludwig, der für diese diplomatische Niederlage den bayerischen Unterhändler General Wrede verantwortlich machte, der offensichtlich „besser mit dem Degen als mit der Feder“ umzugehen verstand.3 Einen gewissen Erfolg konnte Bayern im Münchner Vertrag dennoch verbuchen, indem es Berchtesgaden und den sogenannten Rupertiwinkel, bestehend aus den Landkreisen Teisendorf, Waging, Tittmoning und Laufen, auch weiterhin behalten durfte. Am 22. April 1816 unterzeichnete Kaiser Franz I. das folgende Besitzergreifungspatent für die wiedergewonnenen Gebiete: „… Nachdem in Folge des ersten Artikels des in München am 14. April d. J. mit des Königs von Bayern Majestät durch die gegenseitig hierzu Bevollmächtigten abgeschlossenen 1 Zum diplomatischen Ringen um Salzburg zwischen Bayern und Österreich siehe Alfred Stefan Weiss, Salzburg als Objekt der Außenpolitik in Wien und München 1789 – 1816, in: Fritz Koller/Hermann Rumschöttl (Hrsg.), Vom Salzachkreis zur EuRegio. Bayern und Salzburg im 19. und 20. Jahrhundert, München/Salzburg 2006, S. 13 – 34. 2 Eine Abschrift dieses Traktates findet sich in: Archiv des Erzbistums Salzburg (AES) 1/ 20/5. 3 Hans Roth, Das bayerische Salzburg: Der Rupertiwinkel – Veränderungen einer Identität 1816-1945-1972, in: Koller/Rumschöttl, Salzachkreis (Anm. 1), S. 85 – 98, hier S. 86.

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Alfred Rinnerthaler Staatsvertrages: a) Die Theile des Hausruckviertls und das Innviertl, so wie selbe im Jahr 1809 von Oesterreich abgetretten worden sind; b) das tyrolische Amt Vils, c) das Herzogthum Salzburg, so wie es im Jahre 1809 von Oesterreich abgetretten worden ist, mit Ausnahme der Pfleggerichte und Aemter: Waging, Tittmaning, Teisendorf und Laufen, in soweit diese auf dem linken Ufer der Salzach und Saale gelegen sind (und welche Distrikte mit dem, was dazu gehört, der Krone Bayern verbleiben), unter Unsere Herrschaft zurückgekehrt sind: so nehmen Wir hiemit von diesen Provinzen, Distrikten und Gebiethen für Uns, Unsere Thronfolger und Erben auf ewige Zeiten feyerlichen Besitz und vereinigen sie mit den Gesammt-Staaten Unserer Monarchie. Indem Wir dieses Unserm Herzen erfreuliche Ereignis den sämmtlichen Einwohnern dieser Länder, insbesonders der Geistlichkeit, der Ritterschaft, dem Bürger- und Bauernstande, den Lehenleuten, Insassen und überhaupt einen Jeden, wessen Standes und Würden er seyn möge, hiemit öffentlich kund geben, behalten Wir Uns vor, den Zeitpunkt, wo Wir die Landeshuldigung aufnehmen werden, nachträglich festzusetzen, und versichern untereinst sämmtlichen Einwohnern Unseres kaiserlichen Schutzes und besonderer landesväterlichen Gnade.“4

Dieser theoretischen Besitzergreifung sollte am 1. Mai 1816 die praktische Inbesitznahme folgen. Noch vor der Erlassung des Besitzergreifungspatentes waren in Wien bereits einige wichtige Entscheidungen für die Zukunft Salzburgs gefallen. In einem Handschreiben an Finanzminister Graf Stadion vom 24. März 1816 hatte der Kaiser über die Stellung Salzburgs innerhalb der Donaumonarchie wie folgt entschieden: „Bei der bevorstehenden Wiedervereinigung der von Oberösterreich abgerissenen Bezirke des Landes ob der Enns und des Herzogtums Salzburg will Ich in keiner Hinsicht ein Provisorium eintreten lassen, sondern das zurückfallende Stück vom Hausruckviertel hat indessen beim Innviertel zu verbleiben und wird ebenso wie das Herzogtum Salzburg der Regierung zu Linz von Mir untergeordnet. …“5

In der Stadt Salzburg sollte nur ein Kreisamt verbleiben, das umgehend am 6. Juni 1816 eingerichtet wurde. Am 14. April hatte Freiherr von Lederer auch beantragt, dass das Ziller- und Brixenthal sowie Windisch-Matrei an Tirol anzugliedern seien. Die Wünsche der Tiroler gingen sogar deutlich weiter, indem sie verlangten, auch Lofer Tirol einzuverleiben. Am 20. April 1816 ernannte der Kaiser schließlich den Regierungspräsidenten von Oberösterreich, Bernhard Gottlieb Freiherrn von Hingenau, zum Übernahms- und Hofkommissär. Letzterem ist es zu verdanken, dass die Innsbrucker Wünsche einer Angliederung Lofers an Tirol fallengelassen werden mussten.6 Erst am 27. April erhielt Hingenau sein Ernennungsdekret mit den folgenden Instruktionen: 4 AES 1/20/5, Besitzergreifungspatent vom 22. April 1816, abgedruckt bei Georg Abdon Pichler, SalzburgÏs Landes-Geschichte, Salzburg 1861, S. 1018. 5 Zitiert nach Robert Landauer, Die Einverleibung Salzburgs durch Österreich 1816. Ein Kapitel aus Metternichs deutscher Politik, in: Mitteilungen der Gesellschaft für Salzburger Landeskunde (MGSLK), 73. Vereinsjahr 1933, S. 1 – 38, hier S. 34. 6 Landauer, Einverleibung (Anm. 5), S. 34 f.

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„Über sämtliche zur politischen Administration gehörige Beamte, welche von Bayern übernommen werden, hat sich der Übernahmskommissär eine genaue und gewissenhafte Charakteristik zu verschaffen und sie nach sorgfältiger Prüfung ihrer politischen Gesinnung, Fähigkeit und Moralität zu untergeordneten Anstellungen im Lande oder zur Übersetzung in andere Provinzen oder in den Ruhestand in Antrag zu bringen.“7

Schon am nächsten Tag, am 28. April, begab sich Hingenau nach Salzburg, um dort die faktische Übernahme vorzubereiten. Sein Amt wurde ihm dabei von den bayerischen Behörden sehr schwer gemacht, die ihn deutlich fühlen ließen, dass „sie nur mit größtem Widerwillen an die Abtretung dachten und auf keine Weise sich zu einer freundschaftlichen Mitwirkung herbeilassen wollten.“8 Mit dem 1. Mai 1816 war schließlich der Tag der faktischen Übergabe gekommen. Bereits um 8.30 Uhr war ein österreichisches Truppenkontingent vor der Stadt Salzburg eingetroffen, das in der Folge von bayerischen Kürassieren und Jägern empfangen und auf den Residenzplatz geleitet wurde. Um 9.00 Uhr wurde das bayerische Wappen von der Residenz abgenommen und durch das österreichische ersetzt. Anschließend versammelte sich die Beamtenschaft im Markus-Sittikussaal der Residenz. Dort hatte sich rechts neben dem Thronhimmel der General-Kreis-Kommissär Graf von Preysing und der Kreisdirektor von Miegg, links davon der k.k. Übernahmskommissär Freiherr von Hingenau aufgestellt. Zunächst hielt Preysing eine kurze Ansprache,9 in der er die Leistungen Bayerns für Salzburg nachdrücklich hervorhob. Danach verlas Kreisdirektor Miegg das bayerische Abtretungspatent,10 woraufhin die beiden vor dem Thron postierten bayerischen Schildwachen durch österreichische ersetzt wurden. Nachdem die bayerischen Beamten den Saal verlassen hatten, verlas ein Sekretär das kaiserliche Besitznahmepatent und Freiherr von Hingenau hielt ebenfalls eine kurze Rede. Es folgte ein „Hochamt und Te Deum laudamus“ im Dom mit anschließender Eidesleistung11 der anwesenden höheren Beamten 7

Landauer, Einverleibung (Anm. 5), S. 35. So ein Bericht Hingenaus vom 4. Mai 1816, hier zitiert nach Landauer, Einverleibung (Anm. 5), S. 36. 9 Die Rede findet man abgedruckt bei Pichler, Landes-Geschichte (Anm. 4), S. 1019 f. 10 Abgedruckt im Bayerischen Regierungsblatt 1816, Nr. 16. 11 AES 1/20/5, Eidesformular vom 1. Mai 1816: „Sie werden zu Gott dem Allmächtigen einen feyerlichen Eid schwören, und bey Ihrer Ehre geloben, dass Sie dem Allerdurchlauchtigsten Fürsten, unserem allergnädigsten Herrn Franz dem Ersten, Kaiser von Oesterreich, König zu Hungarn, Böhmen, der Lombardei und Venedig, von Dalmatien, Kroatien, Slavonien, Galizien und Ladomerien, Erzherzog von Oesterreich, Herzog von Lothringen, Salzburg, Steyer, Kärnthen, Krain, Ober- und Nieder-Schlesien, Großfürst in Siebenbürgen, Markgraf in Mähren, gefürsteter Graf von Habsburg und Tyrol etc. etc. und höchstdessen Nachfolgern treu und gewärtig seyn werden; dass Sie die Befehle, die Ihnen von der k.k. österreichisch.-Hofkommission, von den von Sr. k.k. Majestät aufgestellten Oberbehörden, und von Ihren Vorgesetzten zukommen werden, eifrig und gehorsam in Vollzug setzen, überhaupt die Pflichten ihres Amtes genau erfüllen, und die Ihnen anvertrauten Amtsgeheimnisse auf das strengste bewahren werden. Auch werden Sie schwören, dass Sie zu keiner geheimen Gesellschaft weder im In- noch im Ausland gehören, und dass, wenn Sie mit einer solchen geheimen Gesellschaft in Verbindung stehen, Sie sich sogleich davon lossagen werden. Wie mir anjetzt 8

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und Mitglieder des erzbischöflichen Konsistoriums in der Residenz. Der Tag der Übernahme wurde mit einer romantischen Beleuchtung der Stadt und einer Festvorstellung im Theater beschlossen.12 Ebenfalls noch am 1. Mai machte Hingenau eine kaiserliche Entschließung kund, mit der „die bestehenden gesetzlichen Vorschriften und Behörden bis auf weitere allerhöchste Anordnung bestättiget“ wurden.13 Den eigentlichen Höhepunkt der Übernahmsfeierlichkeiten sollte allerdings die „Landeshuldigung“ bilden, die für den 12. Juni 1816 angesetzt wurde. Zu diesem Anlass wollte der Kaiser bereits einige Tage vorher in Salzburg eintreffen. Die Abhaltung der Landeshuldigung war nicht nur für das Herzogtum Salzburg sondern auch für das Inn- und Hausruckviertel in der „alten Residenz“ in der Stadt Salzburg angesetzt. Der Ablauf dieser Feierlichkeit wurde minutiös geplant und geregelt. Um Reisekosten zu sparen und um nicht zu viele Bewohner „dieser Landestheile den häuslichen Geschäften zu entziehen“, wurde angeordnet, dass die „Huldigung von Seiten der Geistlichkeit durch ihre Vorsteher, und jene des Bürgerstandes durch aus ihrer Mitte selbst gewählte, und an Uns abgeordnete, Bevollmächtigte“ zu erfolgen habe. „Der Adel, die Grafen, Freyherrn, Ritter, Edlen, Lehensleute, Vasallen und Dominikal-Gutsbesitzer erscheinen, in so ferne die Mitglieder im Lande gegenwärtig, und Familienoberhäupter, oder großjährig sind, zur Eidesablegung sämmtlich in Person.“ Zugleich war vorgesehen, dass der Huldigungseid nicht nur von den Deputierten in der Salzburger Residenz geleistet werden sollte, sondern von allen Bewohnern der wiedergewonnenen Gebiete, ohne „Unterschied des Standes, Ranges und der Würde“. Diese Menschen hatten ihren Eid „in dem Hauptorte der Gemeinde an dem hiezu allgemein bestimmten Tage vor dem Gottesdienst mündlich abzulegen“. Zu diesem Zweck hatte sich die Bevölkerung im jeweiligen Gemeindehaus oder an einem „andern hiezu schicklichen Orte zu versammeln“. Dort war ihnen „Unsere in dem gegenwärtigen Patente ausgedrückte Willensmeinung wegen der Huldigung zu eröffnen, die Heiligkeit dieser Handlung so wie des Eides, den sie zu schwören haben, an das Herz zu legen, und ihnen alsdann die Huldigungs- nebst der EidesFormel bedachtsam vorzulesen, worauf der Eid von allen Anwesenden unter Aufhebung der rechten Hand und Ausstreckung der drey ersten Finger wohlbedächtlich nachzusprechen ist.“14 Geregelt wurden selbst Kleinigkeiten. So hatten die Beamten der „Ober- und Unterbehörden“ bei der Huldigung „in der Trauerkleidung“ zu erscheinen und in ebendieser auch ihre „Aufwartung bey Sr. K.K. Majestät“ zu machen.15 vorgetragen worden, und ich in allen wohl verstanden habe, dem soll und will ich jederzeit getreu und gehorsam nachkommen. So wahr mir Gott helfe.“ 12 Pichler, Landes-Geschichte (Anm. 4), S. 1019. 13 AES 1/20/5, Kundmachung des bevollmächtigten k.k. Hofkommissärs Bernhard Gottlieb Freyherr von Hingenau vom 1. Mai 1816. 14 AES 1/20/6, Kaiserliches Patent vom 28. Mai 1816, veröffentlicht in: K.K. Österreichisches Amts- und Intelligenz-Blatt von Salzburg, 10/1816 (v. 3. 6. 1816), S. 90 – 92. 15 AES 1/20/5, Hofkommissions-Dekret vom 30. Mai 1816 und Currende vom 31. Mai 1816.

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Am 7. Juni gegen 11.00 Uhr war es dann soweit, der Kaiser zog – von Innsbruck kommend, nachdem er bereits an der Landesgrenze von Landrichter Pfest, den Geistlichen und der Schuljugend des Landgerichts mit Gedichten und Gesang willkommen geheißen worden war – feierlich in die Stadt Salzburg ein: „Vom Walserberge bis zum Mirabellschlosse ist der Weg mit Bäumen, Triumphbögen und Girlanden geschmückt. Beim Neutor warten vier Munizipialräte. Zezi überreicht die Schlüssel und spricht Worte der Begrüßung. Beim Lyzeum stehen die Studenten unter einer Triumphpforte und singen, von Bläsern begleitet, einen lateinischen Gruß. Dann gehtÏs weiter, Husaren vor dem Wagen und hinter ihm bürgerliche Kavallerie, unter Glockenläuten und Kanonenschüssen, 101 an der Zahl, unter rauschender Musik und allgemeinem Jubel durch die Reihen des Militärs und der Bürgermiliz über Marktplatz und Brücke zum Schlosse Mirabell, wo an der Aufgangstreppe Mädchen in weißen Kleidern den Kaiser mit einem Gedichte (von Heinrich Brandstätter) und mit Myrthen- und Lorbeerkränzen erwarteten.“

Ob es sich dabei um das folgende, als gedrucktes Flugblatt verbreitete Gedicht handelte, kann nicht eindeutig beantwortet werden: 1. Vernimm auch unsern frommen Und feyerlichen Gruß! Durch uns ruft Dir „Willkommen!“ Des Landes Genius: Denn was die Aeltern sagen, Das lallt der Kinder Mund; Was Jener Herzen schlagen, Thun junge Lippen kund. 2. Du siehst in unsern Mienen Der Wahrheit Angesicht: Dir ewig treu zu dienen, Dieß ist, was jede spricht! Doch, wie sich Deine Treuen Hier alle, jung und alt, Des Wiedersehens freuen, Ist über Sprachgewalt. 3. Wir pflücken diese Myrthe Mit Himmelslust zum Kranz, Und flochten ihn zur Zierde Dem besten Kaiser Franz! O nimm, und nimm die Herzen Zugleich mit diesem hin, Und schau mit Vaterherzen Der Unterthanen Sinn! 4. So lang der Salzach Wellen Mit stets erneuter Fluth

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Alfred Rinnerthaler Sich hier im Ufer schwellen, In Adern wallt das Blut: Wird dieser Bürger Streben, Mit ältern im Verein, Beweise Dir zu geben Von Treue, heilig seyn. 5. Die Früchte, welche reifen, Die Du gezogen hast, Sie sollen rings sich häufen, Zum LohnÏ für Kronenlast! Und Deinen Herrscherwillen – Er ist gerecht und gut! – Gehorchend zu erfüllen, WeihÏ Jeder Kraft und Muth! 6. Und nach dem längsten Leben, Durch unsern Dank gerührt, Wird Gott Dich einst erheben Zum LohnÏ, der Dir gebührt. Wir wollenÏs zu erhalten Mit kindlichem GebethÏ Stets fromme Hände falten, Weil dieß durch Wolken geht.16

Während unter dem äußeren Tor Militär und Bürgermiliz defilierten, „wogt die Menge, Bauern mit Hausgewehren, Bauernmädchen mit Fahnen als Prangerinnen, Schulknaben mit Fahnen, Kränzen und Buschen, und drängt mit unbeschreiblichen Jubel unter Vivatrufen, Tücher- und Hüteschwenken bis an die Stiege heran. Der Kaiser betritt, von seinen Generälen umgeben, den Balkon, nimmt den Hut ab und dankt mehrmals nach allen Seiten. Tief verbeugt sich die Menge, während Prangerinnen und Schulknaben ihre Fahnen schwingen.“17

Nach diesem prunkvollen Einzug empfing der Kaiser im Schloss Mirabell eine Landesdeputation, der Domdechant Michael Graf von Spaur, der Abt von St. Peter Joseph Neumayr, Karl Graf von Arco, Gualbert Freiherr von Dücker und der Gemeinderat Anton Scharl angehörten. Diese überreichten Franz I. eine Petition, in der die folgenden „bisher heimlich genährten Wünsche“ vorgebracht wurden: 1. Einer der „durchlauchtigsten Sprosse des erhabenen Hauses Habsburg“ solle seine Residenz in der Stadt Salzburg wählen.

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AES 1/20/5, Die Schuljugend von Salzburg an Se. Majestät Franz den I., Kaiser von Oesterreich etc. etc., im Junius des Jahres 1816. 17 So die Schilderung bei Josef Karl Mayr, Kaiser Franz in Salzburg, in: MGSLK 96 (1956), S. 67 – 133, hier S. 92 f.

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2. Das Herzogtum Salzburg möge einer eigenen Landesregierung für würdig befunden und die ehemalige ständische Verfassung wiederhergestellt werden. 3. Auch für die Religion sei zu sorgen, indem ein neuer Bischof und Metropolit ernannt werde. 4. Zur Förderung der Wissenschaft möge die „vormals nicht ohne Ruhm bestandene Universität wieder allergnädigst“ errichtet werden. 5. Der wirtschaftlichen Not im Pinzgau solle durch eine Kultivierung (Trockenlegung) des „großen Mooses“ entgegengewirkt werden.18 Am nächsten Tag, also am 8. Juni, besuchte der Kaiser das Schloss Kleßheim, wo ihm der Landrichter Pfest die erst seit wenigen Wochen dort verlaufende Landesgrenze mit folgenden Worten zeigte: „Hier stehen E. Majestät an den Gränzen Ihres Landes, E. Majestät können Ihren Handschuh in das Land der Bayern hinüberwerfen.“ Von Kleßheim aus begab sich Franz I. nach Loig, wo er die römischen Ausgrabungen besichtigte. Über Schloss Leopoldskron, hier besuchte er dessen Besitzer Graf von Firmian, kehrte er schließlich in die Stadt zurück, um hier noch um 17.00 Uhr eine allgemeine Audienz zu halten.19 Auch für die nächsten Tage war ein dichtes Arbeits- und Besichtigungsprogramm angesetzt. So wurde am 9. Juni vom Kaiser der größte Teil des Tages im Kabinett gearbeitet und Audienzen abgehalten; um 17.00 Uhr fuhr er in die Winterresidenz. Für den 10. Juni war ein Besuch im Kapuzinerkloster vorgesehen; von dort wurde ein Teil des Kapuzinerberges erwandert. Es folgte ein Ritt auf die Festung und über den Mönchsberg. Am Nachmittag standen Schloss Montfort und Hellbrunn auf dem Programm.20Am Vormittag des 11. Juni beehrte der Herrscher einige Stiftungen und öffentliche Anstalten – wie das Alumnat, das Virgilianum, das Lodronisch-Rupertinische Kollegium, das Kapellhaus und Schullehrer-Seminar, die Frohnfeste, den Chiemseehof und das Lyceumsgebäude – mit seinem Besuch.21 Endlich war der 12. Juni, der Tag der Landeshuldigung gekommen. Das Läuten der großen Domglocke und 101 Kanonenschüsse eröffneten diesen „Tag der Wonne und des Jubels“. Die Militär- und Bürgerabteilungen bezogen die ihnen zugewiesenen Plätze und jene, die den Festzug begleiten sollten, stellten sich am Residenzplatz auf. Die „zur Huldigung Berufenen“ versammelten sich im Rittersaal der Residenz. Der Pontifikant (Domdechant Graf Michael von Spaur) mit der assistierenden Geistlichkeit, die Oberen der Zivil- und Militärbehörden, die Kämmerer, Geheimräte und „Ordens-Großkreuze“ formierten sich am Haupttor des Domes für das Eintreffen Seiner Majestät. Der Kaiser war schon vor 9 Uhr „incognito“ in die alte Residenz gekommen. Die Feierlichkeiten eröffnete ein Gottesdienst im Dom, wohin man 18 AES 1/29/7, Allerunterthänigste Vorstellung und Bitte einer Landesdeputation an Se. kaiserlich-königliche apostolische Majestät, ohne Datum. 19 Salzburger Zeitung 1816, Nr. 114 (v. 10. 6. 1816), S. 453. 20 Salzburger Zeitung 1816, Nr. 116 (v. 12. 6. 1816), S. 461. 21 Salzburger Zeitung 1816, Nr. 117 (v. 14. 6. 1816), S. 469.

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sich in einem geordneten Festzug begab. An der Spitze schritt eine „Abtheilung Bürger und eine Abtheilung des k.k. Militärs“, gefolgt von der k.k. Hofdienerschaft, den Deputierten der Städte und Märkte, den Deputierten der Stadt Salzburg, dem Adel und der Geistlichkeit, dem Obersthofmarschalls-Stellvertreter Graf von Wurmbrand mit dem Reichsschwert, dem Kaiser, begleitet von der k.k. Hofburgwache und 12 die k.k. Garde vertretenden Offiziere, dem k.k. Oberstkämmerer Graf von Wrbna, dem k.k. Hofkanzler Graf von Lazansky, dem General-Adjutanten F. M. L. von Kutschera und zwei k.k. Dienstkämmerern. Jeweils eine Abteilung des Militärs und der Bürgermiliz beschlossen diesen Festzug, der sich über den Domplatz direkt in die Domkirche begab. Am Eingang wurde der Kaiser von der dortigen Versammlung empfangen, vom Pontifikanten eingesegnet und von diesem zu dem „am Hochaltare unter einem Baldachin errichteten Bethschämmel“ begleitet. Daneben nahm der Obersthofmarschalls-Stellvertreter mit dem Reichsschwert Aufstellung. Die Oberhofämter, der Hofkanzler und die „Ordens-Großkreuze“ erhielten ebenfalls eigene Plätze im Altarraum zugewiesen.22 In derselben Ordnung kehrte man nach dem Gottesdienst in die Residenz zurück, wo die eigentliche Huldigung in einem Saal stattfand, über den sich in der Literatur unterschiedliche Angaben finden. Einmal ist vom Rittersaal23 die Rede, ein andermal vom Karabinierisaal24 bzw. vom Thronsaal25. Die Feierlichkeiten eröffnete zunächst Hofkanzler Graf Latschansky mit einer salbungsvollen Rede über das „Gefühl der Treue, Verehrung und nie verleugneten Loyalität“26. Ihm folgte als Redner der Kaiser selbst, der von seinem Thron herab die folgenden Worte an die im Saal Versammelten richtete: „Ereignisse, welchen keine menschliche Macht zu widerstehen vermochte, haben Euch auf kurze Zeit von Meinem Reiche, aber nie von Meinem Vaterherzen losgerissen. Die göttliche Vorsicht, die allein den Lauf der Weltereignisse lenket, hat Euch wieder unter meinen Scepter zurückgeführt, und mit Freude nehme ich Euch auf; denn Ich habe die Beweise der Anhänglichkeit und Treue, die Ihr Mir vor der Trennung von Meinem Reiche gegeben, in Meinem Herzen bewahrt. Sie sind Mir Bürgen Eures Benehmens in der Zukunft und gründen Mein Vertrauen auf Euch. Bekannt mit den Leiden, die als Folgen der auf ganz Europa schwer gelasteten Verhältnisse auch Euch getroffen, werde Ich die Mir von Gott verliehene Macht dazu verwenden, sie zu heilen, Euch die wohltätigen Früchte Meiner väterlichen Regierung fühlen lassen. Ich habe beschlossen, in dem Herzogthume Salzburg die vormals bestandene ständische Verfassung mit den Abänderungen, die die veränderten Zeitverhältnisse erfordern, wieder herzustellen; das Inn- und die Parzellen des Hausruckviertels unter jene Verfassung zurückzuführen, unter der sie vormals sich glücklich priesen; – das Ziller- und Brixenthal, so wie das Landgericht Vils dem Lande Tirol auf immerwährende Zeiten einzu22

So die gedruckte Festordnung für die Landeshuldigung am 12. Juni 1816 (AES 1/20/5). So Mayr, Kaiser Franz (Anm. 17), S. 74. 24 Pichler, Landes-Geschichte (Anm. 4), S. 1024. 25 So die Festordnung für die Landeshuldigung (Anm. 20). 26 Mayr, Kaiser Franz (Anm. 17), S. 75. Der volle Text ist abgedruckt in: Salzburger Zeitung 1816, Nr. 117 (v. 14. 6. 1816), S. 466. 23

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verleiben. Hiernach werdet Ihr eine Verwaltungsreform erhalten, die dem Zeitgeiste, Euren Bedürfnissen, der Beförderung Eures Wohlstandes, und dem Verbande, in den Ihr mit Meiner Gesammt-Monarchie tretet, angemessen ist. Ich rechne daher auf Euren Dank, und fordere, dass Ihr Meinen nur Euer Wohl beabsichtigten Anordnungen mit kindlichem Zutrauen Folge leistet. Erneuert nun durch die Leistung des Huldigungseides die Bande, die Euch in frühern glücklichen Zeiten treu und fest an Mein Haus knüpften, und bleibt Meiner kaiserl. und landesväterlichen Huld und Gnade versichert.“27

In Reaktion auf seine Rede versicherten je ein Vertreter des Herzogtums Salzburg sowie des Inn- und Hausruckviertels (der Besitzer der Herrschaft Aistersheim, Graf von Hohenfeld28) dem Kaiser den Dank und die Verehrung seiner neuen Untertanen. Als Repräsentant Salzburgs hielt Karl Graf von Firmian die folgende Ansprache: „Mit dem heutigen Tage, der für die Bewohner Salzburgs ewig denkwürdig bleibt, und womit eine neue Geschichtsepoche dieses Landes beginnt, ist uns endlich der schon längst ersehnte Augenblick erschienen, wo unser allgeliebter, weisester und gütigster Landesvater, Kaiser Franz der Gerechteste, sich in unserer Mitte befindet und wir des unaussprechlichen Glückes uns erfreuen dürfen, diesen erhabensten Monarchen mit lauter jubelnder Stimme zu huldigen, ihn als Vater der stets treuen Salzburger begrüßen zu können. Wer vermag jenes innige Gefühl auszudrücken, welches bei dieser höchst feierlichen Handlung die biedern Salzburger tief in dem Innersten ihrer Seele empfinden? Die hervorquellenden Freudenthränen sind die besten sichersten Bürgen hievon. Ewig wird der Tag, an welchem unser vielgeliebtester Landesfürst und Vater hier in unserer Mitte huldvollst in eigener Person unsere Erbhuldigung aufzunehmen geruhte, – in unsere und unser Nachkommen Herzen aufbewahrt bleiben! Er begründet das Wohl dieses Landes fest und auf immerwährende Zeiten. Allerdurchlauchtigster, allergnädigster Kaiser, König und Herr! Wir sind insgesammt nicht im Stande die freudige Überraschung auszudrücken, in welche uns Eurer Majestät allergnädigste Zusicherung soeben versetzt hat; allein wir werden die feierliche Verpflichtung mit Freuden ablegen, dass, wenn auch Salzburg seinem Umfange nach nur ein kleiner Theil des großen Kaiserreiches ist, dessen Bewohner doch an unverbrüchlicher Treue und herzlichster Anhänglichkeit an Eurer Majestät geheiligte Person und an das allerhöchste Kaiserhaus nicht übertroffen werden können, und vor den Augen der ganzen Welt dies zu bewähren bereit stehen.“29

Den eigentlichen Höhepunkt bildete die Verlesung des folgenden Huldigungseides durch Hofrat Baron von Metzburg und dessen Leistung durch die Anwesenden: „Wir geloben und schwören zu Gott dem Allmächtigen einen Eid für uns, und Kraft der uns ertheilten Vollmacht in die Seele der Comittenten, Eurer Majestät Franz dem Ersten, von Gottes Gnaden Kaiser von Oesterreich, König von Jerusalem, Ungarn, Böhmen, der Lombardei und Venedig, von Dalmatien, Kroatien, Slavonien, Galizien und Ladomerien; Erzherzoge von Oesterreich; Herzog von Lothringen, Salzburg, Steyer, Kärnthen, Krain, 27

Ansprache Kaiser Franz I. anlässlich der Landeshuldigung am 12. Juni 1816, abgedruckt in: Salzburger Zeitung 1816, Nr. 117 (v. 14. 6. 1816), S. 466 f. 28 Der Text seiner Rede ist abgedruckt in: Salzburger Zeitung 1816, Nr. 117 (v. 14. 6. 1816), S. 467 f. 29 Zitiert nach: Salzburger Zeitung 1816, Nr. 117 (v. 14. 6. 1816), S. 468.

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Alfred Rinnerthaler Ober- und Nieder-Schlesien; Großfürsten in Siebenbürgen; Markgrafen in Mähren; gefürstetem Grafen von Habsburg und Tyrol etc. etc. unsern allergnädigsten Landesfürsten, und Höchstihren rechtmäßigen Regierungs-Nachfolgern, getreu und gehorsam zu seyn. Eurer Majestät und des österreichischen Kaiserreiches Nutzen bey jeder Gelegenheit zu befördern, Nachtheil und Schaden aber, mit allen unsern Kräften zu verhindern, und uns jederzeit als getreue und gehorsame Unterthanen zu betragen. So wahr uns Gott helfe!“30

Unter dem Dröhnen von 50 Kanonenschüssen reichte der Kaiser den Anwesenden huldvoll seine rechte Hand zum Kuss, ehe ein feierliches Mahl mit geladenen Gästen, bei dem die Inhaber der Erbämter ihren Dienst am Tisch des Kaisers verrichteten, den Festakt beendete. Am Abend fand, wie zu solchen Anlässen üblich, eine festliche Theateraufführung und eine Beleuchtung der Stadt, vielleicht die brillanteste, die die Bewohner der Stadt Salzburg je gesehen hatten, statt. Beleuchtet wurden u. a. die Kapitelschwemme, der Lange Hof, das Neutor, der Mönchsstein, Zezis Lederfabrik, das Lyzealgebäude, das Bürgerspital, die Stadttrinkstube (am Waagplatz) und das Franziskanerkloster.31 Welchen tiefen Eindruck dieser Festakt auf die Augenzeugen machte, kann dem folgenden, im Salzburger Druckhaus Oberer veröffentlichten, Gedicht entnommen werden: „Aus Alpentriften kam der heißersehnte Kaiser – Der edle Menschenfreund, der gute Kaiser Franz. Ein Völkervater, Held, Tyrannenschrecken, Weiser – Umstrahlt Sein Antlitz von des Ruhmes Sphärenglanz. Das Völkchen Helfenburgs staunt ob der Zahl der Gäste, Die wogend strömen zu dem seltnen Götterfeste. Der Wonne Hochgefühl entglüht in jeder Brust, Und Greis und Jüngling theilt die hohe Himmelslust. Des Todes Engel ruht, des Krieges Donner schweigen; Nach Riesenschlachten tönt melodisch Sang und Klang. Durch alle Strassen jauchzt der Jugend muntrer Reigen, Kein Busen stöhnet mehr von herber Wehmuth Drang. Und Ehrensäulen sind emporgebaut zum Himmel – Hoch angestaunt von der Gaffenden Gewimmel – 30 Die Eidesformel findet sich in der Beilage zum kaiserlichen Patent vom 28. Mai 1816 (Anm. 14); abgedruckt auch in: K.K. Österreichisches Amts- und Intelligenz-Blatt von Salzburg, 10/1816 (vom 3. 6. 1816), Sp. 92 f. Für die übrigen Gemeinden (abgesehen von der Stadt Salzburg) wurden dieser Eidesformel jeweils ein kurzer Vorspann und ein Nachwort angefügt. Der Vorspann lautete: „Wir Endesunterzeichnete beurkunden hiermit, dass am 12. Junius l.J. von den sämmtlichen Mitgliedern der Gemeinde … der nachstehende Huldigungs-Eid abgelegt worden ist.“ Der Eidesformel nachgestellt war schließlich noch der Satz: „Zu dessen Bekräftigung wir die gegenwärtige Urkunde mit unserer Unterschrift und unserem Siegel versehen haben.“ – So das K.K. Österreichische Amts- und Intelligenz-Blatt, 10/1816 (v. 3. 6. 1816), Sp. 93. 31 Mayr, Kaiser Franz (Anm. 17), S. 97. Eine umfangreiche Schilderung des nächtlichen Beleuchtungsspektakels in der Stadt Salzburg findet man in der Salzburger Zeitung 1816, Nr. 119 (v. 17. 6. 1816), S. 477 – 482.

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Nach schwerer Leiden Druck, nach banger Schauernacht Scheint der ersehnte Tag in göttlich schöner Pracht. So wie die Sonne in des Mondes Silberscheibe Der Schatten GrauÏn zerstreut und mildes Licht ergießt; Ein junger Phönix nach in Glut versenktem Leibe Aus loher Asche keimt und durch den Aether schießt; So steigt für Helfenburg nach der Vergeltung Wage – Aus grausem Wettersturm – am Rand der Kummertage – Das schönste Morgenroth in neuer Wonne auf, Und pranget königlich in grauer Zeiten Lauf. Der Weihrauch-Duft erfüllt die Gott geweihten Hallen, Des Dankes Hymne schallt aus frommer Priester Mund. Des Weltalls Schöpfer gab einst so ein Wohlgefallen Am Opfer seines Knechts – des sanften Abels – kund. Wer sich noch jüngst aus Hass vom Vaterland getrennet, Wer sich zum edlen Stamm der Teutschen noch bekennet, Fühlt freudetrunken nur die hohe Völkerlust, Und ist des teutschen Stamms noch stolzer sich bewusst. Der neuen Schöpfung Kraft und wirkendes Bestreben Schlägt, Edelster Monarch! in regen Pulsen hier. Die LiebÏ zu Dir verjüngt der treuen Bürger Leben; Denn Alle weihen sie allein die Herzen Dir, Und innigst liebet Dich mit vollem HerzÏ und Munde – Mit Kindeszärtlichkeit – Europens Völkerrunde. Ja, setze Liebe nur die Weltbeherrscher ein – Das ganze Erdenrund, o Kaiser! wäre Dein. Mit neuem Schimmer glänzt die alte Kaiserkrone Von Austrien auf des Habsburger Enkels Haupt, Und Salzburg huldiget dem großen Fürstensohne, Den ein unglückliches Verhängnis ihm geraubt. Die wohlbewährte Treu und Liebe Deiner Treuen, Der Völker Eintracht muss Dich, Franz! unendlich freuen. Nach harter Prüfungszeit reich Deine Vaterhand Zur Rettung huldvoll hin dem schwer bedrängten Land. Doch, du Allvater! der des Schicksals Kette leitet, Der unsre Nieren prüft, des Herzens Schläge zählt, Und jetzt den Honigkelch, jetzt Wermuthtrank bereitet, Du, ohne dessen Wink kein Haar vom Scheitel fällt! HörÏ unsern frommen Wunsch, das kindlichheiße Flehen – LaßÏ uns noch lang das Haupt des besten Vaters sehen. Lohn Seine Güte Ihm mit deinem Gnadenblick. Schenk Ihm Gesundheit, Kraft, RuhÏ, Segen, Weisheit, Glück.“32 32 AES 1/20/5, Empfindungen eines deutschen Bürgers im Salzburgerlande am feyerlichen Huldigungs-Tage den 12. Juny 1816 als die Deputierten des Herzogthums Salzburg Seiner Kaiserlich-Königlichen Majestät Franz dem Ersten ihrem allergnädigsten Monarchen und Landesherrn vor dem Throne den Eid der Treue ablegten.

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Am nächsten Tag wurden die Feierlichkeiten mit einer prunkvollen Fronleichnamsprozession fortgesetzt, an der der Kaiser sogar persönlich und mit seinem Hofstaat teilnahm. Aus diesem Anlass hatte man eine eigene Ordnung für den Prozessionszug erlassen. Demnach ging die Schuljugend an der Spitze, ihr folgten die Zünfte, Bruderschaften, Studenten, die Kloster- und Pfarrgeistlichkeit, die k.k. Behörden, die Geistlichkeit von St. Peter, die k.k. Hofdienerschaft, die k.k. Kämmerer, die k.k. Geheimräte (mit Wachslichtern) und die Musik. Danach schritten der Pontifikant (der Passauer Weihbischof und inzwischen zum Erzbischof von Mailand ernannte Cajetan Graf von Gaisruck) mit dem assistierenden Klerus, unmittelbar vor Seiner Majestät dem Kaiser, den die „K:K: Gardensdienste vertretenden k.k. Officiers zu beyden Seiten“ begleiteten. Nach dem Kaiser folgten die obersten Hofämter und unmittelbar hinter diesen der Generaladjutant. Den Zug beschlossen je eine Abteilung des „kaiserlich königlichen Militärs“ und des „kaiserlich königlichen Bürger-Militärs“ sowie das übrige Volk.33 Laut Zeitzeugenberichten betete der Kaiser „sehr erbaulich und hielt ohne Schirm die Sonnenhitze aus“. Auch trug er eine „brennende Kerze in der Hand, zu beiden Seiten von Hofburgwachen aus Wien umgeben, deren Offiziere, zwölf an der Zahl, ihre Degen entblößt haben; die Plätze und Straßen, die der Zug passiert, sind mit Truppen belegt, die Verlesung der vier Evangelien wird jedes Mal von Generaldechargen und Kanonenschüssen vom Mönchsberg begleitet.“34 Am Nachmittag des 13. Juni wurde der Kaiser durch ein Spalier von Bürgergardisten vom Schloss Mirabell „unter lautem Jubel“ der Bevölkerung zur Eröffnung eines Preisschießens geleitet, dessen Abhaltung sich der Herrscher rund 5.000 fl kosten ließ. Dieses Preisschießen dauerte 10 Tage (bis zum 22. Juni), 800 Schützen nahmen daran teil, die insgesamt 3.500 Schuss abfeuerten. Der Kaiser beteiligte sich sogar persönlich am Schießen und konnte einen kleinen Gewinn in Höhe von 36 Kreuzern erzielen.35 Damit war allerdings der Höhepunkt der Ereignisse überschritten; bereits am nächsten Tag, also am 14. Juni, verließ der Herrscher mit seinem Gefolge um 6.00 Uhr früh – geleitet von 101 Kanonenschüssen – die Stadt Salzburg. Bevor der Kaiser das Herzogtum Salzburg in Richtung Wien verließ, führte ihn sein Weg noch nach Neumarkt. Dort hatten sich schon im Morgengrauen das „Bürger-Militär“ von Neumarkt und Seekirchen sowie die Landschützen vor dem Landgerichts-Gebäude aufgestellt. Der Marktplatz war mit fünf Triumphpforten geschmückt und quoll von dicht gedrängten Menschen über. Ab 6.45 Uhr kündeten ferne Böllerschüsse das Nahen des Regenten an, ehe dieser um 7.30 Uhr in Neumarkt eintraf. Der Landrichter, die Grafen von Ueberacker und von Thun, Vertreter der Geistlichkeit und die versammelte Schuljugend begrüßten den Landesfürst vor dem Gerichtsgebäude. Der Kaiser geruhte, „aus der Hand der 12jährigen Tochter 33

20/5). 34

So die gedruckte „Ordnung der Frommleichnams-Prozession im Jahre 1816“ (AES 1/

Mayr, Kaiser Franz (Anm. 17), S. 75. Mayr, Kaiser Franz (Anm. 17), S. 96, und Pichler, Landes-Geschichte (Anm. 4), S. 1025. 35

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des k.k. Landrichters ein für die Feier dieses Tages verfertigtes Gedicht huldvollst anzunehmen“: Sey hoch gegrüßt, getreuster, bester Vater Des Vaterlands! in Deiner Kinder Kreis. Dir, Deines Volks Erretter, Schild, Berather, Ward jedes Herz zum Siegespreis. Als schon die Willkühr neue Siegesmaale Auf deutscher Freiheit goldnem Grund gewann Da füllte Dein Gewicht des Rechtes Schaale, Und des Verderbers Macht zerrann. Da hielt die Tugend Deine Vatertriebe Dem FlehÏn der theuren Tochter abgewandt. Du sprachst: „Ein älteres Recht auf meine Liebe Besitzt mein deutsches Vaterland.“ Es dankt die Welt nur Deinem weisen Walten, Dass Deutschland eins im größten Kampfe blieb, Nicht Frankreich durch gewohnte Truggestalten Den Deutschen gegen Deutsche trieb. Du trugst Dein friedlich Herz in Kriegsgefahren, Dem Todesfest der Schlachten warst Du nahÏ. Unglaubliches begannst Du seit drei Jahren, Und was unmöglich schien – geschah. Geachtet glänzt am Thatenhimmel wieder Der deutsche Name. Wohlstand, Recht und Glück Bringt freundlich mit der goldnen Zeit der Liebe Die Freiheit Deinem Volk zurück. DÏrum bietet Dir auf allen Deinen Bahnen Das deutsche Volk des frohÏsten Dankes Kranz Und schreibt zum Namen deines großen Ahnen, Des ersten Rudolphs – Vater Franz. Und Deine frohen Unterthanen stimmen Stolz in den Jubel aller Deutschen ein, Und fühlen sich, so lang die Herzen glimmen, Im Glück und Unglück, Vater! Dein. O könnten wir Dir bald durch Thaten sagen, Dass Salzburgs Volk Dich unaussprechlich liebt, Die Herzen treu auf diesen Bergen schlagen, Wenn hier ein Franz Gesetze gibt. So blühe denn im Segen, Retter! Weiser! Zum Himmel flehen Mann und Greis und Kind: „Erhalte, Gott! uns lang den besten Kaiser, Damit wir lange glücklich sind!“36 36 AES 1/21/10, „Seiner Majestät dem allerdurchlauchtigsten, großmächtigsten Kaiser von Österreich, Könige von Jerusalem, Ungarn, Böhmen, der Lombardei und Venedig etc. etc.,

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Nach dieser Begrüßung fuhr der Wagen des Kaisers unter dem Donner eines Geschützes, dem Läuten aller Glocken, lautem Trompeten- und Posaunenschall sowie dem Jubel der Bevölkerung langsam durch das dichte Spalier der Bürger- und Landmiliz, um anschließend seine Reise – mit dem nächsten Etappenziel Vöcklabruck – fortzusetzen.37 II. Die Neuumschreibung der Diözesangrenzen So gespalten wie die Stimmung in der Bevölkerung war auch die Haltung der Geistlichkeit zu den geänderten politischen Verhältnissen. Diese schwankte zwischen Hoffen und Bangen. Das Bangen betraf vor allem die Frage, ob Salzburg auch zukünftig den Rang einer Erzdiözese – mit allen damit verbundenen Vorrechten – werde bewahren können und wie sich die Veränderungen der Landesgrenzen auf die Diözesangrenzen auswirken werden. Das Hoffen bezog sich auf den baldigen Erhalt eines neuen Bischofs sowie auf die Bewahrung der Diözesanrechte über die Seelsorgestationen des Inn- und Hausruckviertels. Eine erste wichtige Entscheidung fiel am 24. Juni 1816 mit der folgenden – keineswegs selbstverständlichen – Erklärung Kaiser Franz I.: „Salzburg soll Erzbistum und im Besitz seiner alten Vorrechte bleiben“.38 Diesem ersten folgte alsbald ein zweiter Schritt, indem der Kaiser am 29. August 1816 – ausgehend von der selbstherrlichen Auffassung, dass mit dem Anfall Salzburgs an Österreich das Wahlrecht bezüglich des Erzbischofs in ein landesfürstliches Ernennungsrecht übergegangen sei – den Lavanter Bischof Leopold Maximilian Graf von Firmian zum neuen Erzbischof von Salzburg ernannte. Nachdem man von diesem Vorgang die römische Kurie in Kenntnis gesetzt hatte, wollte sich diese damit jedoch nicht abfinden, weshalb Kardinalstaatssekretär Consalvi in einem vertraulichen Gespräch dem provisorischen Geschäftsträger an der österreichischen Botschaft in Rom, Anton Graf Apponyi de Nagy-Appony39, unmissverständlich zu verstehen gab, „dass dieser Ernennung einige nicht unbedeutende Schwierigkeiten im Wege stünden, worunter die auffallendste jene wäre, dass von jeher die Ernennung dieses Erzbischofs zu den Rechten des Kapitels von Salzburg gehört hätte. Bevor also das Kapitel in einer vorläufigen Übereinkunft auf dieses Recht Verzicht geleistet hätte, könne dasselbe von SeiFranz dem Ersten, dem großen Erretter Deutschlands, ihrem theuersten Landesvater, widmen dieses vergängliche Zeichen unvergänglicher Liebe bei Allerhöchstihrer erfreulichen Durchreise im Monate Junius 1816 die sämmtlichen Einwohner des k.k. Landgerichts Neumarkt bei Salzburg.“ 37 Salzburger Zeitung 1816, Nr. 120 (vom 18. Juni 1816), S. 485 f. 38 Zitiert nach Christian Greinz, Die Neugestaltung des Erzbistums Salzburg vor 100 Jahren, in: Die Heimat. Beilage zur Salzburger Chronik, Jahrg. 1918 (Nr. 17), S. 91. 39 Zu Graf Apponyi siehe Christian Steeb/Birgit Strimitzer, Österreichs diplomatische Vertreter am Heiligen Stuhl im Spiegel der k.(u.)k. Vatikanpolitik im 19. Jahrhundert, in: Hans Paarhammer/Alfred Rinnerthaler (Hrsg.), Österreich und der Heilige Stuhl im 19. und 20. Jahrhundert (Veröffentlichungen des Internationalen Forschungszentrums für Grundfragen der Wissenschaften Salzburg, N.F. 78), Frankfurt a. M. 2001, S. 35 – 63, hier S. 46 f.

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ner Heiligkeit nicht an Seine Majestät übertragen werden. Und auch hiezu wäre noch … eine vorhergehende Konvention mit dem heiligen Stuhl erforderlich“40. Aus diesem Grund verweigerte der Heilige Stuhl die Bestätigung der kaiserlichen Ernennung. Damit erlangte Firmian auch keine Jurisdiktionsgewalt über die Salzburger Diözese, was deren nunmehr bereits seit 1812 (Tod des Fürsterzbischofs Hieronymus Colloredo) bzw. 1814 (Ableben von Fürstbischof Siegmund Christoph von Zeil und Trauchburg) währenden bischofslosen Zustand, der zu großen seelsorglichen Problemen führte, weiter prolongierte. In der Folge drangen ständig Klagen aus Salzburg nach Wien, in denen dringend um Abhilfe gebeten wurde: Es mache sich bereits ein Priestermangel bemerkbar, niemand könne den Salzburger Alumnen die Priesterweihe erteilen. Klerus und Volk seien unzufrieden mit den herrschenden Verhältnissen, Irrlehren und Aberglauben (Pöschlianer und Manharter) im Vormarsch begriffen. Zur Beseitigung dieser Missstände beantragte die Hofkanzlei die Bestellung eines Administrators für Salzburg, bis der vom Kaiser ernannte Erzbischof Firmian die römische Bestätigung erhalten habe.41 Angesichts der „so bewandten Umstände“ ordnete der Kaiser am 9. Mai 1818 an, danach zu trachten, dass „Firmian bis zu seiner Präkonisierung als Administrator angestellt werde“42. Am 15. August 1818 meldete der österreichische Botschafter43 beim Heiligen Stuhl freudig aus Rom, dass der Papst antragsgemäß den Bischof von Lavant zum Administrator von Salzburg bestimmt habe. Wenige Tage später folgte dieser Meldung die offizielle Bestätigung durch Staatssekretär Consalvi und das päpstliche Breve für Firmian. Mit dieser Ernennung hatte der Wiener Hof die notwendige Zeit für intensive Verhandlungen mit dem Heiligen Stuhl über die Frage der Bischofsernennung in Salzburg und der damit in Zusammenhang stehenden Frage nach der Fortgeltung der besonderen Vorrechte der Salzburger Kirche gewonnen. Diese Verhandlungen mündeten in der am 16. Februar 1823 erfolgten kaiserlichen Nomination des Laibacher Bischofs Augustin Gruber44 zum künftigen Erzbischof von Salzburg. Am 17. April 1823 überreichte der österreichische Vatikanbotschafter Apponyi das diesbezügliche Präsentationsschreiben in Rom, das im November desselben Jahres die Präkonisierung Grubers bewirkte. 40 Hubert Bastgen, Die Neuerrichtung der Bistümer in Österreich nach der Säkularisation (Quellen und Forschungen zur Geschichte, Literatur und Sprache Österreichs und seiner Kronländer, XII), Wien 1914, S. 151. 41 Greinz, Neugestaltung (Anm. 38), S. 91 f. 42 Bastgen, Neuerrichtung (Anm. 40), S. 164. 43 Zu Fürst Alois von Kaunitz-Rietberg-Questenberg siehe Steeb/Strimitzer, Diplomatische Vertreter (Anm. 39), S. 47 – 50. 44 Zu Gruber siehe in jüngerer Zeit vor allem Peter Unkelbach, Augustin Gruber (1763 – 1835). Katechet, Staatsbeamter, Bischof und Metropolit im josephinischen Österreich, Limburg (Lahn)/Salzburg 1999, und Carl Gerold Fürst, Die Prozessakten des Informationsprozesses bezüglich der Ernennung und Versetzung des Bischofs von Laibach, Augustin Gruber, als ersten Erzbischof von Salzburg (1823) nach der Säkularisation des Erzstiftes, in: Ulrike Aichhorn/Alfred Rinnerthaler (Hrsg.), Scientia iuris et historia (Festschrift Putzer z. 65. Geb.), Egling an der Paar 2004, 1. Bd., S. 207 – 271.

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Die Grundsatzentscheidung des Kaisers zugunsten des Fortbestandes der Salzburger Diözese vom 24. Juni 1816 beinhaltete jedoch keine Garantie hinsichtlich der damaligen Diözesangrenzen. Diesbezüglich war allen Beteiligten aufgrund der Ereignisse in den vergangenen Jahren klar, dass sich die Diözesangrenzen an die politischen Grenzen anzupassen hätten. Dies bedeutete die Wahrscheinlichkeit von Einbußen an Jurisdiktionsgewalt über die an Bayern abgetretenen Gebiete des Rupertiwinkels, zugleich aber auch die Hoffnung, das Inn- und Hausruckviertel im eigenen Diözesanverband behalten zu können. 1. Die politische Grenze zu Bayern wurde Diözesangrenze Am 1. Juli 1816 übersandte das Generalvikariat Freising an das Salzburger Konsistorium die folgende Abschrift eines königlich-bayerischen Erlasses vom 16. Juni: „Da nach dem angenommenen und zwischen Unsern und dem Staate Sr. k.k. Majestät von Oesterreich bisher bereits durchgängig beobachteten Staatsgrundgesetze eine auswärtige geistliche Diözesangerichtsbarkeit so wenig über Unsere Unterthanen sich ausdehnen, als die geistliche Gerichsbarkeit Unsere inländischen Bisthümer über die Gränzen des Königsreichs sich erstrecken soll, so wollen Wir, dass der Verband Unserer bisher zu der Dioezes in Salzburg gehörigen Gebietstheile des Salzachkreises mit dieser Dioezes aufgehoben und dass dieselben der bischöfl. Dioezes zu Freysing zugetheilt werden, jedoch mit Ausnahme desjenigen vormal Passauer Dioezesan-Bezirkes, welchen in Folge Unserer Entschließung vom 24. May 1812 Art. III zur Dioezes Salzburg überwiesen wurde, und welcher an das Bisthum Passau zurückgegeben werden soll. Ihr habt dieses dem bischöfl. General-Vikariate Freysing zu dem Ende zu eröffnen, dass es die Jurisdiction über diese Distrikte, welche ihm gröstentheils schon früher untergeben waren, alsbald übernehme und sich die einschlägigen Akten von der erzbischöfl. Stelle in Salzburg extradiren lasse. Wir haben von gegenwärtiger Entschließung Unsere Gesandtschaft zu Wien u. zu Rom in Kenntniß gesetzt, um auch ihres Orts in Betref dieses Gegenstandes das geeignete einzuleiten. Hiernach habt ihr das weiters Geeignete zu verfügen.“45

Da ein Erlass des bayerischen Königs für das Salzburger Konsistorium nicht mehr bindend war, übersandte dieses das Schriftstück an die k.k. Kreisdirektion in Salzburg mit dem Ersuchen um entsprechende Direktiven. Von dort erging die Antwort, es bestehe kein Anstand, „dass von dem hochwürdig erzbischöflichen Konsistorium der am linken Saal- und Salzachufer gelegene Diözesan-Distrikt des ehemaligen Salzachkreises an das erzbischöfliche General-Vikariat Freysing delegirt werde. Es ist sonach das Geeignete in gewöhnlicher Weise zu verfügen“46. 45 AES 1/26/12, König Maximilian Joseph an das königlich-bayerische Generalkreiskommissariat des Salzachkreises, Erlass vom 16. Juni 1816. 46 AES 1/26/12, Die k.k. Kreisdirektion an das erzbischöfliche Konsistorium, Weisung vom 14. Juli 1816. Mit 18. Juli ist zudem eine persönliche Weisung von Freiherrn von Hingenau datiert, wonach „die Diözesan-Gerichtsbarkeit über die in der Frage begriffenen Districte an die benannten Bisthümer zu delegiren, und ihnen die erforderlichen Akte“ auszufolgen seien (Freiherr von Hingenau an das erzbischöfliche Konsistorium zu Salzburg, AES 1/ 26/12).

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In Befolgung dieser Weisung übertrug das Salzburger Ordinariat seine bisher über die Dekanalbezirke Berchtesgaden, Burghausen, Haslach, Laufen, Neuötting, Reichenhall, Teisendorf und Tittmoning ausgeübte Diözesan-Gerichtsbarkeit an das bischöfliche Ordinariat Freising. Diese Übertragung erfolgte zunächst nur provisorisch, da für eine definitive Übertragung eine Genehmigung des Apostolischen Stuhles erforderlich gewesen wäre. Ebenfalls provisorisch wurde die Jurisdiktionsgewalt über die Pfarren Haiming (Dekanat Burghausen), Eggstätten, Ering, Kirchberg, Kirchdorf, Münchham und Stubenberg mitsamt den Exposituren Erlach, Kien und Malching (alle Dekanat Neuötting, vormals Braunau) an das Ordinariat Passau zurückgegeben.47 Das Freisinger Ordinariat nahm die provisorische Übertragung der bischöflichen Jurisdiktionsrechte auch bereitwillig an, ersuchte jedoch die oberste Kirchenbehörde in Salzburg, „den betheiligten Klerus vor allem hievon in Kenntnis zu setzen, Ihn an uns gehörig anzuweisen, uns ein Verzeichnis sämtlicher Individuen zu geben und die einschlägigen Akten zu übersenden.“48 Von Salzburg aus war jedoch die Geistlichkeit in den abzutretenden Gebieten bereits am 20. Juli 1816 informiert und „in künftigen Diözesan-Angelegenheiten an das hochw. Ordinariat Freysing“ verwiesen worden. Was die Abgabe der Akten betraf, so vertrat man seitens des Salzburger Konsistoriums die Auffassung, dass wegen der einstweilen nur provisorisch erfolgten Abtretung der in Bayern gelegenen Diözesanteile es zunächst genügen müsse, „nur die neuen Acten, acta quasi currentia, zu extradiren“49. Bezüglich der endgültigen Abtretung der Salzburger Diözesanteile in Bayern begann es Ende des Jahres 1817 ernst zu werden. Mitte Dezember dieses Jahres richtete nämlich der königlich-bayerische Hofkommissär Carl Graf von Preysing ein Schreiben an das Konsistorium, in dem er von der päpstlichen Auffassung berichtete, wonach die einschlägige „kanonische Übung“ eingehalten werden müsse: Demnach habe Bayern das Salzburger erzbischöfliche Konsistorium formell „zu ersuchen, in Beziehung auf die Verhältnisse des in Baiern gelegenen Antheils der Salzburger Diözes und des ehemaligen Bisthums Chiemsee sowohl zur Separation jenes Diözesan-Antheiles, als zur Unterdrückung des Bisthums Chiemsee von der erzbischöflichen Stelle die Einwilligung zu gewinnen, welche Erklärung jedoch in lateinischer Sprache und an Seine päpstliche Heiligkeit gerichtet seyn sollte, damit sie zu Rom zur Hinterlegung ad acta consistorialia gesendet werden könne“50. Seitens des Salzburger Konsistoriums beteuerte man zwar die eigene Bereitwilligkeit, bedauerte jedoch, die gewünschte Erklärung nicht ausstellen zu können wegen Mangel der „erforderlichen Befugnis, Vollmacht und höherer Weisung.“ Eine solche Erklärung 47 AES 1/26/12, Das Ordinariat Salzburg an das Konsistorium der Diözese Freising, Schreiben vom 20. Juli 1816. 48 AES 1/26/12, Das Ordinariat Freising an das Salzburger Konsistorium, Antwortschreiben vom 29. Juli 1816. 49 AES 1/26/12, Gutachten vom 2. August 1816. 50 AES 1/26/12, Carl Graf von Preysing an das erzbischöfliche Konsistorium in Salzburg, Schreiben vom 14. Dezember 1817.

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könnte erst ausgestellt werden, wenn „der bereits ernannte Herr Erzbischof von Sr. Päpstl. Heiligkeit confirmiret, oder das Konsistorium, wie man nächstens erwartet, von der geeigneten Auctorität hiezu ermächtiget seye, und zugleich auch von der hohen Behörde in Wien die dießfalsige Weisung erhalten haben“ werde.51 Das bayerische Ersuchen und das eigene Antwortschreiben leitete man in der Folge an das k.k. Präsidium in Linz zur Kenntnisnahme weiter. Zugleich verlieh man der eigenen Überzeugung Ausdruck, „wie nothwendig es wäre, dass die … verheißene baldige Aufstellung einer mit der nöthigen geistlichen Jurisdiction versehenen Autorität in Erfüllung gehen möchte“52. Die Antwort erfolgte mit Datum vom 3. März 1818. Darin wurde mitgeteilt, dass die „k.k. geheime Hof- und Staats-Kanzley“ der königlich-bayerischen Gesandtschaft in Wien mitgeteilt habe, dass bezüglich der Ausstellung der verlangten Erklärung „der Zeitpunkt der wirklich erfolgten päpstl. Confirmation des neu ernannten Erzbischofs v. Salzburg abgewartet werden wolle, wo die Ausfertigung dieser Urkunde sodann ohne Anstand in hergebrachter Form werde bewerkstelliget werden können; bis dahin hat es bey der unter dem 20. July 1816 geschehenen provisorischen Cession unbedenklich sein Verbleiben“53. Als am 26. März 1818 der bayerische Hofkommissär Preysing erneut auf die Ausstellung der benötigten Urkunden drängte54, wurde er mit einer Abschrift der Weisung des Linzer Präsidiums auf einen späteren Zeitpunkt vertröstet. In der Folge wurde die ganze Angelegenheit von bayerischer Seite nicht mehr weiter betrieben, bis der Münchner Nuntius Francesco Serra Cassano (1818 – 1827) vom Papst mit der Vollziehung des bayerischen Konkordates von 181755 betraut wurde. Aus diesem Grund wandte er sich mittels Schreiben vom 5. Jänner 1822 an das Salzburger Konsistorium. Darin vertrat er die Auffassung, dass der am 30. August 1818 als Administrator von Salzburg ernannte Lavanter Bischof Leopold Maximilian Graf von Firmian aufgrund der ihm erteilten Vollmacht durchaus berechtigt sei, „die fraglichen Diözesan-Antheile definitive abzutretten“56. Auch dieses Schreiben leitete das Konsistorium an die staatlichen Behörden mit der Bitte um diesbezügliche „Verwaltungsbefehle“ weiter. Die Antwort durch die Regierung in Linz erging 51 AES 1/26/12, Das erzbischöfliche Konsistorium an die königl.-bayerische Hofkommission, Antwortschreiben vom 17. Dezember 1817. 52 AES 1/26/12, Das erzbischöfliche Konsistorium an das k.k. Präsidium in Linz, Mitteilung vom 17. Dezember 1817. 53 Zitiert aus einem am 23. Jänner 1822 im Konsistorium gehaltenen „Vortrag“ (AES 1/26/ 12). 54 AES 1/26/12, Carl Graf von Preysing an das erzbischöfliche Konsistorium in Salzburg, Schreiben vom 26. März 1818. 55 Hierzu siehe u. a.: Hans Ammerich, Das Bayerische Konkordat 1817, Weißenhorn 2000; Hermann von Sicherer, Staat und Kirche in Bayern: vom Regierungs-Antritt des Kurfürsten Maximilian Joseph IV. bis zur Erklärung von Tegernsee 1799 – 1821. Nach amtlichen Aktenstücken, München 1874. 56 So der „Vortrag“ vom 23. Jänner 1822 (Anm. 53).

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am 20. Oktober 1822. Darin verwies die Regierung auf ein Hofkanzleidekret vom 19. September, wonach der „Herr Fürsterzbischof zu Wien Graf Firmian als Administrator des Erzbisthums Salzburg die Beistimmung zur Abtrettung der geistl. Jurisdiktion des Erzbisthums Salzburg über die in Bayern liegenden salzburgl. DiözesanAntheile, wenn er hiezu berechtiget ist“ erteilen könne.57 Damit war der Weg geebnet für die am 14. Dezember 1822 erfolgte endgültige Abtretung der jenseits der Saalach-Salzach-Linie gelegenen Seelsorgestationen an das Erzbistum München-Freising.58 Die Abtretung der Salzburger Diözesanteile an Bayern machte natürlich auch einige Änderungen bezüglich der Dekanatsgrenzen erforderlich. So wurden die Pfarren St. Martin und Unken mit der „Regentie Kirchenthal“, die erst im Jahr 1812 in das Dekanat Reichenhall eingegliedert worden waren, nunmehr dem Dekanat Saalfelden unterstellt.59 Von Reichenhall musste zudem die Pfarre Großgmain an das Dekanat Bergheim abgegeben werden. Betroffen von den neuen Staatsgrenzen waren auch alle am rechten Salzachufer gelegenen, ehemals zu den Dekanaten Laufen und Burghausen gehörigen, Pfarren und Vikariate, die in der Folge der zum provisorischen Dekanat erhobenen Pfarre St. Georgen zugeteilt wurden. Diese Zuweisung erfolgte derart, „dass man den Dekanaten davon zu ihren Benehmen Kenntnis gab, und den Landgerichten Salzburg, Lofer und Wildshut auftrug, die fraglichen Pfarreyen von diesem abgeänderten Unterordnungs-Verhältnisse unverzüglich zu verständigen“60. Unschlüssig war man sich seitens der Kreisdirektion, was mit der Filiale St. Leonhard zu geschehen habe. Da sie von Berchtesgaden zu trennen war, sollte das erzbischöfliche Konsistorium vorschlagen, ob sie der Pfarre Grödig oder einer sonstigen Seelsorgestation zugeschlagen werden sollte. Diesbezüglich sprach sich das Konsistorium für eine Zuteilung zur Pfarre Grödig aus, „und zwar wie eher desto besser, um den Geldzug /: Sie ist eine Wallfahrtskirche, wo viele Messstipendien eingehen :/ nach Berchtesgaden abzuschneiden“61.

57 AES 1/26/12, Die k.k. Regierung Linz an das erzbischöfliche Konsistorium in Salzburg, Mitteilung vom 20. Oktober 1822. 58 Greinz, Neugestaltung (Anm. 38), S. 101. 59 So eine Currende des Saalfeldner Dechants Joseph Mayr vom 24. Juni 1816 (AES 1/26/ 12). 60 AES 1/26/11, Die k.k. Kreisdirektion in Salzburg an das erzbischöfliche Konsistorium, Weisung vom 9. Juni 1816. Zum Dekanat Laufen gehörten die Pfarren Dorfbeuern, Franking, St. Georgen, Lamprechtshausen, Moosdorf, Ostermieting und St. Pantaleon mit den Vikariaten Anthering und Nußdorf; zum Dekanat Burghausen die Pfarren Geretsberg, Gilgenberg, Hochburg, St. Radegund, Tarsdorf und Überaggern. 61 AES 1/26/11, Das erzbischöfliche Konsistorium an die k.k. Kreisdirektion in Salzburg, Antwortschreiben vom 11. Juni 1816.

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2. Der Tiroler Anteil der Erzdiözese Salzburg Klare Entscheidungen über die Diözesangrenzen waren auch im bayerisch-salzburgischen-tirolischen Grenzraum notwendig, da es hier sowohl zu politischen als auch zu kirchlichen Veränderungen gekommen war. Denn Bayern musste im Jahr 1814 nicht nur Vorarlberg sondern ebenso das Land Tirol an das österreichische Kaiserhaus zurückgeben. Dies hatte natürlich Auswirkungen auf die Diözesangrenzen zur Folge. So richtete das Salzburger Ordinariat am 27. Juli 1814 an die Diözese Brixen das Ersuchen, im Tiroler Unterland mit Ausnahme des Brixen- und Zillertales „die oberhirtliche Pastorierung einstweil bis auf weiters provisorisch zu übernehmen und auszuüben“62. Die kirchlichen Veränderungen betrafen das Salzburger Eigenbistum Chiemsee, in dem der letzte Bischof im Jahr 1808 auf sein Amt resigniert hatte, wodurch dieses Bistum zunächst de facto und 1817 im Bayerischen Konkordat auch de iure sein Ende fand.63 Für die dort gelegenen Seelsorgestationen war demnach ebenfalls eine Neuregelung ihrer diözesanen Zugehörigkeit fällig geworden. Im zeitlichen Zusammenhang mit der am 22. April 1816 erfolgten Unterzeichnung des Besitzergreifungspatentes durch Kaiser Franz I. und der faktischen Übernahme Salzburgs am 1. Mai 1816 traf man in Wien eine erste Entscheidung, wonach das Ziller- und Brixental sowie Windisch-Matrei politisch an Tirol angegliedert werden sollten. Das Salzburger Ordinariat stellte diesbezüglich jedoch klar, dass die in den Landgerichtsbezirken Hopfgarten und Zell liegenden Dekanate Brixen (im Tale), Fügen und Zell (im Zillertal) weiter im Salzburger Diözesanverband bleiben sollten.64 Die kirchliche Behörde konnte sich in dieser Angelegenheit auf eine Entscheidung der „hohen Hofkommission“ vom 12. Mai 1816 berufen. Zugleich trachtete man in Salzburg danach, die Seelsorge in den 1814 an das Ordinariat Brixen abgetretenen Seelsorgestationen – nach entsprechender staatlicher Genehmigung – wiederum zurückzuerlangen.65 Eine staatliche Entscheidung hielt man auch hinsichtlich der weiteren pastoralen Versorgung des ehemaligen Chiemseer-Diözesangebietes für nötig. Die Situation war dort deshalb problematisch, da das Chiemseer-Diözesangebiet ursprünglich im tirolisch-österreichischen, bayerischen und salzburgischen Grenzbereich gelegen war, weshalb der Jurisdiktionssprengel in drei Distrikte mit den folgenden Seelsorgestationen geteilt worden war: a) in den Tiroler Diözesandistrikt, beginnend beim Grenzpass Strub bis hin zur Pfarre Söll, wozu (1) die Dekanal- und bischöfliche Ta62

AES 1/26/24, Das erzbischöfliche Ordinariat Salzburg an das k.k. Gubernium, Bericht vom 22. Mai 1816. 63 Zur Geschichte des Bistums Chiemsee siehe u. a. Johannes Graf von Moy, Das Bistum Chiemsee, in: MGSLK 122 (1988), S. 1 – 48; ebenso Erwin Naimer, Das Bistum Chiemsee in der Neuzeit (Quellen und Darstellungen zur Geschichte der Stadt und des Landkreises Rosenheim 11), Rosenheim 1990. 64 AES 1/26/4, Das Ordinariat Salzburg an die Dekanate Brixen, Fügen und Zell, Mitteilung vom 15. Mai 1816. 65 Bericht vom 22. Mai 1816 (Anm. 62).

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felpfarre St. Johann mit der Expositur Oberndorf, dem Kurat-Benefizium Spital in der Weitenau, den Vikariaten Kitzbühel, Jochberg, Reith und Going sowie der Kuratie Aurach, (2) die Pfarre Söll mit den Vikariaten Ellmau, Scheffau und Niederau, (3) die Pfarre St. Ulrich am Pillersee mit den Vikariaten Fieberbrunn und Hochfilzen sowie der Expositur St. Jakob im Haus, und (4) die Pfarre Kirchdorf mit den Vikariaten Kössen, Schwendt, Reit im Winkl und Waidring sowie der Kaplanei am Passe Strub gehörten; b) in den Salzburger Diözesandistrikt, der das Brixental umfasste, mit der bischöflichen Tafelpfarre Brixen und den Vikariaten Hopfgarten, Kirchberg und Westendorf sowie dem Kurat-Benefizium Aschau; c) in den Bayerischen Diözesandistrikt, der den Bereich des Archidiakonats Herrenchiemsee umfasste, wozu (1) die Pfarre Chiemsee, (2) die Pfarre Aschau mit den Exposituren Bernau, Frasdorf und Sachrang, (3) die Pfarre Prien, (4) die Pfarre Grassau mit dem Vikariat Wössen und den Exposituren Übersee sowie Schleching, (5) die Pfarre Eggstätt mit der Expositur Endorf und (6) die Pfarre Söllhuben gehörten. Daneben besaß der Chiemseer Bischof noch die folgenden in der Salzburger Diözese gelegenen Patronatspfarren, nämlich Zell am See, Stuhlfelden, Bramberg und Bischofshofen.66 1807 wurde der Chiemseer Fürstbischof Sigmund Christoph Graf von Zeil gezwungen, die im Herzogtum Salzburg gelegenen Chiemseer Diözesananteile provisorisch an die Salzburger Kirche abzutreten und alle Jurisdiktionsgewalt hierüber an das erzbischöfliche Konsistorium zu delegieren. Zugleich musste er auch alle seine Rechte über den Bayerischen und den Tiroler Diözesandistrikt – da Tirol damals zu Bayern gehörte – an das bischöfliche Generalvikariat Freising abtreten, was mit 16. Juni 1808 geschah. Damit war das Bistum Chiemsee faktisch aufgelöst. Da Tirol und Vorarlberg 1814 sowie Salzburg 1816 an die Habsburger fielen, war eine Neuregelung der kirchlichen Verhältnisse in diesem Bereich unumgänglich notwendig geworden. Alle Salzburger und Tiroler Seelsorgestationen des Bistums Chiemsee, mit Ausnahme von Reit im Winkel, das bei Bayern verblieben war, gehörten fortan politisch zum Kronland Tirol. Ungeklärt waren zudem die kirchlichen Verhältnisse in Vorarlberg, wo bislang die nunmehr ausländischen Diözesen Chur, Augsburg und Konstanz Jurisdiktionsrechte ausgeübt hatten. Eine Vorentscheidung in diesen Fragen war Ende 1816 bzw. Anfang 1817 in Wien gefallen. Vorbehaltlich der päpstlichen Genehmigung fasste Kaiser Franz I. folgende Beschlüsse: „1. auf die definitive Abtrettung der Jurisdiction von den Ordinariaten Chur, Augsburg und Konstanz an Brixen; 2. von der Gurkischen Pfarre Nikolsdorf an das Bisthum Brixen, wohin sie ihrer Lage nach gehört; 3. a) auf die definitive Belassung des delegirten Salzburgischen Antheiles im Pusterthale (das Dekanat Lienz mit Windisch-Matrei – Anm. d. V.) beym Bisthume Brixen, b) auf die definitive Belassung des Chiemseer Antheiles bey Salzburg, c) auf die Herstellung der alten Gränzen zwischen den Diözesen Salzburg und Brixen im Unterinnkreise; 4. auf die Übertragung der freysingischen Lokatie Scharnitz nicht an Salzburg, sondern an Brixen.“

66 AES 1/26/24, Das erzbischöfliche Konsistorium von Salzburg an das k.k. Landesgubernium in Innsbruck, Antwortschreiben und Bericht vom 14. Dezember 1816.

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In Salzburg erhielt man auch die allerhöchste Erlaubnis, „dass die von Salzburg an Brixen delegirten Pfarren im Unterinnthale, da sie an die Diözes Salzburg zurückzufallen haben, ohne Verzug in die definitive Iurisdiction von Salzburg nach der alten, durch die Ziel (wohl richtig Ziller – Anm. d. V.) geschiedenen Gränze zurückgegeben werden dürfen.“67

In Brixen akzeptierte man die getroffenen Regelungen, gab jedoch zu bedenken, dass man den an Salzburg zu übertragenden Anteil von Freising selbst nur „potestate delegata“ erhalten habe, weshalb es notwendig sei, „die einstweilige provisorische Jurisdiction, bis die Sache mit Sr. Päpstlichen Heiligkeit ausgetragen seyn wird, von Freising selbst abzuverlangen“68. Das Salzburger Konsistorium war mit der in Wien getroffenen Entscheidung weniger glücklich. So beklagte Konsistorialrat Joseph Naupp ausdrücklich den Umstand, dass die „Hofkommission in ihren Anträgen an Se. Majestät für Brixen weit günstiger gestimmt gewesen sey, als für Salzburg“. Das Konsistorium sei bezüglich der Diözesanregulierung in Tirol auch nie von den staatlichen Behörden zu Rate gezogen oder angehört worden. Der Zuwachs an Gläubigen in Tirol sei nicht so bedeutend, „als es etwa scheinen möchte. Er beträgt nach Abzug der an Brixen abzutretenden 5.561 Seelen nur 35.956 u. der ganze Seelenstand in Tirol mit Einschluss der 2 alten Dekanate Brixen u. Zell und des Fügenschen Vikariats Hart 54.552. Rechnet man hiezu den neuesten Seelenstand des Herzogthumes Salzburg mit 136.376, so erreicht der Seelenstand der ganzen Salzburger Diözes noch nicht die Summe von 200.000, sondern nur von 190.928.“69

Aus diesem Grund wandte sich das Salzburger Ordinariat an jenes von Brixen mit dem Ersuchen, „wenigstens die 3 Orte Hippach, Finkenberg und Tux noch ferner bey Salzburg zu belassen“, da diese wegen ihrer Lage besser zur Diözese Salzburg passen würden, da sie mit Salzburger Orten in „eben demselben Hauptthale“ und in „eben demselben Landgerichte“ liegen.70 In der Folge verständigten die Salzburger sowohl die Bistümer Freising und Brixen als auch das Landesgubernium in Innsbruck von der eigenen Absicht, die „Diözesan-Jurisdiction im Unterinnthale u. im Leuckenthale mit dem Achten des künftigen Monaths März“ zu übernehmen.71 Das bischöfliche General-Vikariat Freising erklärte sich damit auch umgehend einverstanden, wies jedoch darauf hin, dass es diese Übertragung nur „einsweilen, und da wir als blos administrative Stelle keinen Diözes-Antheil zu veräußern ermächtiget sind, pro67

AES 1/26/24, Das Landesgubernium in Innsbruck, gez. Ferdinand Graf von Bissingen, an den Fürstbischof von Brixen, Carl Franz Graf von Lodron, Note vom 9. Jänner 1817. 68 AES 1/26/24, Das fürstbischöfliche Konsistorium von Brixen an das Landesgubernium in Innsbruck, Antwortschreiben vom 23. Jänner 1817. 69 AES 1/26/24, Gutachten von Konsistorialrat und Generalvisitator Joseph Naupp vom 2. Februar 1817. 70 AES 1/26/24, Das Ordinariat Salzburg an das Ordinariat Brixen, Ersuchen vom 5. Februar 1817. 71 AES 1/26/24, Das Salzburger Ordinariat an die Ordinariate von Freising und Brixen und das Landesgubernium in Innsbruck, Mitteilungen vom 15. Februar 1817.

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visorisch bis zu einer definitiven Verhandlung mit dem Kirchen-Oberhaupte“ vornehmen können.72 Auch in Brixen zeigte man sich mit dem 8. März als Datum der Abtretung der bisher verwalteten Gebiete an Salzburg einverstanden. Zugleich gab man aber unmissverständlich zu verstehen, dass man die „Dekanatspfarre Fügen sammt den Seelsorgsstationen Hippach, Finkenberg und Tux bey der Brixner Diözese behalten“ wolle und nicht gedenke, diese an Salzburg abzutreten.73 Der nunmehr endgültig gewordene Verlust der Dekanatspfarre Fügen zwang das Salzburger Konsistorium dazu, die Dekanatszugehörigkeit der bei Salzburg verbliebenen Seelsorgestationen aus diesem Sprengel neu zu regeln. Die Pfarren Rattenberg und Reith (im Alpbachtal), die Vikariate Alpbach und Hart und die Lokalkaplaneien Brixlegg und Bruck wurden in das Dekanat Kundl eingegliedert.74 Die staatliche Diözesanregulierung für Tirol und Vorarlberg wurde schließlich von Papst Pius VII. in seiner Bulle „Ex imposito“ vom 2. Mai 1818 bestätigt. Die bisher nur provisorische Übertragung von Jurisdiktionsgewalt erlangte dadurch definitiven Charakter. Für Salzburg beinhaltete diese Bulle die obersthirtliche Verfügung, „dass die Kirche von Salzburg, gegenwärtig ihres Hirten beraubt, innerhalb der Grenzen der Provinz Tirol außer den Pfarren wie die Ortschaften S. Joseph in Itter, (…), Sankt Rupert in Stumm, die Pfarren wie die Ortschaften Hl. Geist in Angath, (…), Hl. Nikolaus in Voldöpp, die zur alten, von Uns erst neulich aufgehobenen Diözese Freising gehörten; ebenso auf Pfarren oder Ortschaften wie Hl. Martin in Brixen, (…), Hl. Xystus in Niederau, die vordem zu der von Uns aufgehobenen Diözese Chiemsee gehörten: Gemeinsam mit den anderen vorgenannten Pfarren, die einst zur Diözese Freising gehörten, verleihen Wir sie derselben Salzburger Diözese auf Dauer ein und teilen sie ihr zu.“75

Die päpstliche Bulle war allerdings insofern unvollständig, als man auf eine Seelsorgestation völlig vergessen hatte. Es handelte sich dabei um eine im „Landgerichtsbezirke Schwatz entlegene Seelsorgestation in der sogenannten inneren Riß“. Von Salzburger Seite (auch des Apostolischen Administrators) aus war man nicht bereit, 72

AES 1/26/24, Das bischöfliche Generalvikariat Freising an das Ordinariat Salzburg, Antwortschreiben vom 24. Februar 1817. 73 AES 1/26/24, Das Konsistorium zu Brixen an das Salzburger Ordinariat, Antwortschreiben vom 23. Februar 1817. 74 AES 1/26/24, Das fürsterzbischöfliche Konsistorium von Salzburg an das k.k. Kreisamt, Anzeige vom 12. März 1817. 75 Eine Abschrift dieser Bulle findet man in AES 1/27 (Diözesangrenzen); den gedruckten Text in: Personalstand der Säkular- und Regular-Geistlichkeit des Erzbisthums Salzburg, Salzburg 1858, Anh. Nr. III, und in Magnum Bullarium Romanum, Continuatio Tom. 15, Romae 1853, S. 40 – 47; ebenso (mit deutscher Übersetzung) bei Peter Putzer, Die Rechtsgrundlagen für die Reorganisation der Erzdiözese Salzburg: Bulle 787 PiusÏ VII. vom 2. Mai 1818 „Ex imposito“. Bulle 82 LeosÏ XII. vom 7. März 1825 „Ubi primum“. Lateinischer Text und Übersetzung, in: Hans Paarhammer/Alfred Rinnerthaler (Hrsg.), Salzburg und der Heilige Stuhl im 19. und 20. Jahrhundert. Festgabe zum 75. Geburtstag von Erzbischof Georg Eder (Veröffentlichungen des Internationalen Forschungszentrums für Grundfragen der Wissenschaften Salzburg, NF 84), Frankfurt am Main 2003, S. 219 – 300.

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diese Seelsorgestation zu übernehmen. So hätte ein Priester in den Sommermonaten nur etwa 30 Personen, nämlich „Alpenhirten und Holzarbeiter“ zu betreuen gehabt. Formal argumentierte man dahingehend, dass unter den 58 der Salzburger Diözese zugeteilten Seelsorgestationen die „innere Riß“ nicht aufscheine und diese aufgrund ihrer Lage „geeigneter wäre, der Diözese Brixen einverleibt zu werden“.76Auch sei die „bischöfliche Jurisdiction über die nach Freysing gehörigen Seelsorgen in der Grafschaft Tirol provisorisch u. bis zur Verhandlung mit dem Kirchenoberhaupte bereits im Jahre 1814 an das Ordinariat Brixen, u. zwar selbst auf Requisition desselben, übertragen worden.“ Bis zu einer definitiven Entscheidung in dieser Sache erklärte sich das Freisinger Ordinariat „aus freundschaftlicher Gefälligkeit“ bereit, dem ehemaligen „in der Riß exponierten“ und nunmehr in Lenggries wirkenden Kuraten Johann Bapt. Gistl die Weisung zu erteilen, „gleichwohl noch einige Zeit lang auch die innere Riß aushilfsweise zu übernehmen.“77 Wem diese Seelsorgestation letztlich zugeteilt wurde, konnte in den Akten nicht eruiert werden, es gibt jedoch kaum einen Zweifel, dass dieses Gebiet der Diözese Brixen zugeschlagen wurde. 3. Die Grenzziehung zur Diözese Linz Im Jahr 1811 hatte die Salzburger Erzdiözese durch eine Entscheidung des königlich-bayerischen Generalkommissariats des Salzachkreises eine erhebliche Gebietserweiterung auf Kosten des Linzer Bischofs erfahren: „In Erwägung, dass der dem Salzachkreise einverleibte Theil des ehemaligen Inn- und Hausruckviertels gegenwärtig keinem Ordinariate untergeordnet ist, dass ferner die Uebereinstimmung der kirchlichen und politischen Gränzen als organisatorischer Grundsatz besteht, /: und dass die Ausgleichung der Diözesan-Verhältnisse zwischen den Ordinariaten Bamberg und Würzburg durch die beiden Generalvikariate nach den Landesgränzen ohne besondere Rücksprache mit dem päbstlichen Stuhle ebenfalls bereits vollzogen ist :/ in dieser Erwägung haben Se. Königliche Majestät zu befehlen geruht, dass die dem Salzachkreise zugefallenen Theile des Inn- und Hausruckviertels, welche vorhin der Diözese Linz angehörten, dem Ordinariatsbezirk von Salzburg einverleibt seyen.“78

76 AES 1/26/24, Das fürsterzbischöfliche Konsistorium in Salzburg an das k.k. LandesGubernium in Innsbruck, Mitteilung vom 16. Juni 1819. 77 AES 1/26/24, Das fürsterzbischöfliche Konsistorium in Salzburg an das k.k. Landesgubernium in Innsbruck, Bericht vom 14. Juli 1819. 78 AES 1/26/13, Das königliche Generalkommissariat des Salzachkreises an das erzbischöfliche Konsistorium in Salzburg, Anordnung vom 25. Februar 1811. Die genauen Grenzen der nunmehr zu Bayern gehörigen Gebiete des Inn- und von Teilen des Hausruckviertels waren zwischen Mitte Dezember 1809 und März 1810 von einer französisch-österreichischen Kommission vor Ort durch eine mittels eingeschlagenen Pfählen gezogene Linie festgelegt worden. – Das Innviertel, mit dem Hausruckviertel. Statistisch dargestellt am Anfang des Jahres 1810 und nach den Bestimmungen des Wiener Friedens vom 14. Oktober 1809. Mit der vollständigen politischen, kirchlichen und ständischen Topographie, Salzburg 1810, S. 4.

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Mit Schreiben vom 12. Juni 1811 erklärte sich das Linzer Ordinariat bereit, die genannten Diözesananteile an Salzburg zu delegieren.79 In Salzburg war man sich durchaus bewusst, dass die Übertragung der Jurisdiktionsgewalt nur provisorisch erfolgen konnte, „bis die ganze neue Organisation der Bistümer und Diözesen Sr. Päbstlichen Heiligkeit vollständig vorgelegt und allerhöchst derenselben Bestättigung hierüber eingeholet werden kann.“ Die Auffassung des königlich-bayerischen Generalkreiskommissariats, wonach dies ohne Zutun des Papstes geschehen könne, erachtete man als unzutreffend. Dennoch sollte alles und unverzüglich nach den staatlichen Wünschen geschehen, allerdings „seiner Zeit aber über das Ganze die päbstliche Genehmigung nachgeholet werden.“80 Den Umstand der Vakanz des erzbischöflichen Stuhles in Salzburg und das Faktum, dass der Papst über die vorgenannten Veränderungen der Diözesangrenzen bis dato noch keine Entscheidung getroffen hatte, nützte der Linzer Bischof Sigismund Ernst Graf von Hohenwart (Bischof von 1815 bis 1825) geschickt aus, um sich vom Kaiser im Jahr 1816 die geistliche Jurisdiktionshoheit über die 1811 verlorenen Gebiete zu erbitten. Mit Hofkanzleidekret vom 21. Juni 1816, Zl. 11566, wurde dahingehend entschieden, „dass Se. Majestät zu befehlen geruht haben zu veranlassen, dass dem Linzer Herrn Bischof, (…), die von ihm angesuchte Ausübung der Diözesan-Rechte in dem zurückerhaltenen ganzen Innviertel, sowie in den zurückgefallenen Theilen des Hausruckviertels wieder eingeräumt werde.“81 Interimistisch – eine Delegation des Linzer Bischofs lieferte hierfür die Rechtsgrundlage – durfte das Salzburger Konsistorium diese Rechte noch bis zum 14. Juli 1816 ausüben. Den 15. Juli hatte der Linzer Ordinarius jedoch als den Tag bestimmt, „an welchem er die Diözesan-Jurisdiction wieder selbst auszuüben anfangen werde.“82 Völlig widerspruchslos wollte man sich in Salzburg mit dem Verlust vor allem des Innviertels nicht abfinden. In einer mit 31. Jänner 1820 datierten Eingabe an die Regierung in Linz ersuchte das erzbischöfliche Konsistorium um „Wiedereinverleibung des österreichischen Innviertels mit der Salzburger Erzdiözese.“ Begründet wurde dieser Antrag unter anderem mit dem „auffallenden Abstand des dermaligen von dem früheren Zustande der Erzdiözes“ und den Schwierigkeiten der Seelsorge in einem Gebirgsland: „(…) Diesen Beschwerlichkeiten und Hindernissen kann durch die Vereinigung des Innviertels mit der Salzburger Diözese am schnellsten und leichtesten abgeholfen werden. Der hiesigen Diözesan-Geistlichkeit wird hiedurch eine günstige Aussicht auf eine bessere Zukunft 79

AES 1/26/13, Das Linzer Konsistorium an das fürsterzbischöfliche Ordinariat in Salzburg, Antwortschreiben vom 12. Juni 1811. 80 AES 1/26/13, Konsistorialprotokoll vom 26. Juni 1811. 81 Zitiert nach dem Artikel „Umgestaltung der Erzdiöcese Salzburg seit 100 Jahren“, in: Personalstand der Säcular- und Regular-Geistlichkeit des Erzbisthums Salzburg, Salzburg 1873, S. 175 – 194, hier S. 188. 82 AES 1/26 (Regulierung der Diözesan-Grenzen 1811 – 1822), Rundschreiben des Erzbischöflichen Konsistoriums an die Dekanate Braunau, Frankenmarkt, Kalham, Mattighofen, Moosbach, Ried, Rottenbach und Vöcklabruck vom 7. Juli 1816.

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eröffnet, und zugleich ihre Hoffnung belebt, ihrer geschwächten Gesundheit eher wieder aufhelfen zu können, und ihre Lebenstage nicht ganz in den entfernten Gebirgsfluchten verleben zu müssen.“83

In einer kaiserlichen Entschließung vom 4. August 1820 wurde jedoch unmissverständlich zum Ausdruck gebracht, „dass die Einverleibung des Innviertels mit der Salzburger-Diözes nicht statt finde“84. Mit den großen Gebietsverlusten im Inn- u. Hausruckviertel und der neuen Grenzziehung zu Bayern (wodurch allein 137 Seelsorgestationen an das Erzbistum München und Freising und einige Pfarren und Exposituren an das Bistum Passau gefallen waren) war Salzburg zu einer kleinen und wirtschaftlich wenig potenten Diözese herabgesunken. Durch den Zugewinn bzw. die weitere Belassung von 58 Seelsorgestationen in Tirol konnten die vorgenannten Verluste nicht annähernd ausgeglichen werden. III. Die Umstrukturierung des Metropolitanverbandes Metropolitansitz ist Salzburg schon seit dem Jahr 798. Aufgrund exzellenter Kontakte zum fränkischen Königshaus gelang es Bischof Arn(o) (785 – 821), der Salzburger Diözese eine herausragende Rolle unter den bayerischen Bistümern zu verschaffen. Auf Vorschlag des fränkischen Königs Karl des Großen empfing Arn am 20. April 798 aus der Hand Papst Leo III. das Pallium, als sichtbares Zeichen seiner neuen Würde als Oberhaupt der bayerischen Kirchenprovinz. Papst Leo benachrichtigte auch die nunmehrigen Suffragane (Alim von Säben/Brixen, Atto von Freising, Adalwin von Regensburg, Waltrich von Passau und Lintberg von Neuburg-Staffelsee) von der Erhebung Salzburgs zum Erzbistum. Wenn auch das Bistum Neuburg-Staffelsee bereits kurz nach 800 der Augsburger Diözese angegliedert und damit in die Kirchenprovinz Mainz einbezogen wurde, blieb Salzburg in der Folge für über ein Jahrtausend „das Haupt und Zentrum der bayerischen Kirche“85. Im Hochmittelalter zählte die Diözese Salzburg zu den größten deutschen Bistümern. Angesichts der Größe dieses seelsorglich zu betreuenden Gebietes und dessen schwieriger Geographie (so erstreckte sich die Diözese über das Gebiet des späteren Erzstifts hinaus weit in das Gebiet der Babenberger und später der Habsburger hinein) trachteten die Salzburger Bischöfe von jeher nach einer Entlastung, vor allem hinsichtlich der Diözesanteile südlich der Alpen. Zu diesem Zweck errichteten die Salzburger Bischöfe Eigenbistümer, insgesamt vier an der Zahl, nämlich Gurk

83 AES 1/26 (Regulierung der Diözesan-Grenzen 1811 – 1822), Ansuchen des erzbischöflichen Konsistoriums an die k.k. Regierung in Linz vom 31. Jänner 1820. 84 AES 1/26 (Regulierung der Diözesan-Grenzen 1811 – 1822), Mitteilung der Linzer Regierung an den Herrn Erzbischof von Salzburg Graf Firmian vom 21. August 1820. 85 Franz Ortner, Salzburgs Bischöfe in der Geschichte des Landes (696 – 2005) (Wissenschaft und Religion 12), Frankfurt am Main 2005, S. 51.

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1072, Chiemsee 1216, Seckau 1218 und Lavant 1226.86 Hinsichtlich der dort amtierenden Eigenbischöfe hatte der Salzburger Erzbischof das Recht, diese zu ernennen, zu bestätigen, sie zu konsekrieren und zu versetzen. Der Metropolitanverband umfasste nunmehr mit den bisherigen vier (Brixen, Freising, Regensburg und Passau) und den vier Salzburger Eigenbistümern insgesamt acht Suffraganbistümer. Das Verhältnis der Salzburger Metropoliten zu ihren Suffraganen ist durch die Jahrhunderte als überwiegend gut zu bezeichnen. Eine Ausnahme stellten diesbezüglich die Beziehungen zwischen Salzburg und Passau dar. Hier herrschte eine unübersehbare Rivalität, da Passau sich vom spätantiken Bischofssitz in Lorch (Laureacum) herleiten zu können glaubte, sich damit für älter als Salzburg hielt und selbst den Anspruch auf die Metropolitanwürde erhob. Ein jahrzehntelanger Streit wurde vom Papst am 23. November 1730 dahingehend entschieden, dass Passau aus dem Metropolitanverband ausgegliedert und direkt dem Apostolischen Stuhl unterstellt wurde.87 Nur wenn der Salzburger Erzbischof eine Provinzialsynode einberief, dann hatte auch der Bischof von Passau zu erscheinen. Dies war im Jahr 1770 zum letzten Mal der Fall gewesen.88 Eine Kompensation dieses Verlustes ergab sich durch die Landesbistumspläne des Hauses Habsburg. So plante Kaiser Joseph II. die Errichtung eines Bistums mit Sitz in Leoben. Dabei war er sich durchaus bewusst, dass es diesbezüglich zu Schwierigkeiten mit dem Heiligen Stuhl kommen könne. Daher suchte er mit dem Versprechen der „Bestättigung u. Consecrirung“ des Leobener Bischofs die Unterstützung des Salzburger Erzbischofs zu gewinnen, der unter Berufung auf seine alten Metropolitanrechte die Diözesanerrichtung vornehmen sollte. Rom war jedoch zunächst nicht bereit, ein derartiges Vorgehen zu akzeptieren.89 Gegenüber den folgenden Interven-

86 Zu den Salzburger Eigenbistümern siehe Wilhelmine Seidenschnur, Die Salzburger Eigenbistümer in ihrer reichs-, kirchen- und landesrechtlichen Stellung, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte. Kanonistische Abteilung 9 (1919), S. 177 – 287, und in jüngerer Zeit Alfred Rinnerthaler, Das Salzburger Privileg der freien Verleihung der Eigenbistümer Gurk, Chiemsee, Seckau und Lavant aus der Sicht kirchlicher und weltlicher Quellen, in: Paarhammer/Rinnerthaler, Salzburg und der Heilige Stuhl (Anm. 75), S. 301 – 366. Zum Ende der Eigenbistümer bzw. zum Ende der damit verbundenen besonderen Rechtsstellung der Salzburger Bischöfe siehe Alfred Rinnerthaler, Der CIC von 1917 und das Salzburger Privileg der freien Verleihung der Eigenbistümer, in: Hartmut Zapp/Andreas Weiß/ Stefan Korta (Hrsg.), Ius canonicum in oriente et occidente. Festschrift für Carl Gerold Fürst zum 70. Geburtstag (Adnotationes in ius canonicum 25), Frankfurt am Main 2003, S. 361 – 383. 87 So Schematismus der Diözesan-Geistlichkeit des Erzbisthums Salzburg auf das Jahr 1814, S. 4. 88 Johannes Neuhardt, 1200 Jahre Erzbistum Salzburg – ein Überblick, in: Domkapitel zu Salzburg (Hrsg.), 1200 Jahre Erzbistum Salzburg. Dom und Geschichte. Festschrift, Salzburg 1998, S. 53 – 58, hier S. 57. 89 So Kaunitz in einem Schreiben an die b.–ö. Hofkanzlei vom 16. Jänner 1786 betreffend Schwierigkeiten, die der staatskirchlichen Auffassung über das Recht der Errichtung neuer Diözesen ohne Zustimmung Roms entgegenstehen, abgedruckt in Ferdinand Maaß, Der Jo-

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tionen des Salzburger Erzbischofs und seines Domkapitels zeigte sich der Papst jedoch nachgiebig und betraute Hieronymus Graf Colloredo mit Breve vom 17. März 1786 mit der Errichtung dieses neuen Bistums und gestand ihm das Konfirmationsund Konsekrationsrecht zu: „(…) Tibi, Ven. Frater, non solum confirmandi consecrandique novum Leobinensem Episcopum, sed etiam ipsum hunc Episcopatum erigendi facultatem Auctoritate Apostolica concedimus, et indulgemus (…).“90

Die kanonische Errichtung des neuen Bistums erfolgte am 16. April 1786, wodurch der Metropolitansprengel von Salzburg um eine weitere Suffragandiözese erweitert wurde. Allerdings wurde dieses Bistum nur ein einziges Mal mit Bischof Alexander Franz Joseph Graf Engl von und zu Wagrein91 besetzt. Nach dem Tod von Bischof Engl wurde dieses Bistum zunächst von Seckau aus administriert, ehe es am 1. September 1859 völlig in der Diözese Seckau aufging.92 Mit der 1803 erfolgten Säkularisation des Erzstiftes Salzburg war auch die weitere Existenz der Diözese und Erzdiözese Salzburg in Frage gestellt. Diese von Wien ausgehenden Bestrebungen konnten jedoch vom damaligen Landesfürsten, dem vormaligen Großherzog von der Toskana Ferdinand, gerade noch abgewehrt werden. Die salzburgfeindlichen Bestrebungen des Wiener Hofes wurden erst wieder aktuell, nachdem Salzburg als Herzogtum erstmals an Österreich angeschlossen wurde (1806 – 1809). Der Erhalt des Metropolitansitzes ist vor allem dem zähen Beharren des greisen Fürsterzbischofs Hieronymus Colloredo zu verdanken, der sich entschlossen weigerte, auf sein Amt zu resignieren; ebenso dem dezidierten Wunsch des Papstes nach „Beibehaltung des Metropolitanranges für die uralte salzburgische Kathedrale“.93 sephinismus: Quellen zu seiner Geschichte in Österreich 1760 – 1790 (Fontes rerum Austriacarum. Diplomataria et acta 72), 2. Bd., Wien 1953, Nr. 233, S. 447 f. 90 Papst Pius VI. an Erzbischof Hieronymus Colloredo, Schreiben vom 17. März 1786 betreffend die Errichtung der Diözese sowie Confirmatio et Consecratio des neuen Bischofs von Leoben, in: Archivio Concistoriale, Congregatio Consistorialis, Acta 1787, Pars 1. 91 Siehe hierzu Gerhard Hartmann, Art. „Engl von und zu Wagrain, Alexander Franz Josef Graf“, in: Erwin Gatz (Hrsg.), Die Bischöfe der deutschsprachigen Länder 1785/1803 bis 1945. Ein biographisches Lexikon, Berlin 1983, S. 173 f. 92 Die rechtliche Grundlage lieferte ein Erlass des Kultus- und Unterrichtsministeriums vom 18. Oktober 1857, Zl. 19.787, in dem auf eine persönliche Entschließung des Kaisers vom 26. Oktober 1856 Bezug genommen wurde. Eine Neuordnung der Salzburger Kirchenprovinz wurde vom Papst am 20. Mai 1857 gutgeheißen (unter diesem Datum ergingen drei Dekrete der Konsistorialkongregation, deren Originale im Archiv der Erzdiözese Salzburg erliegen) und trat am 1. September 1859 in Kraft. 93 Zum spannenden Ringen um den Erhalt von Diözese und Erzdiözese Salzburg nach der Säkularisation siehe in jüngerer Zeit Alfred Rinnerthaler, Vom „Kirchenstaat“ zum „seelsorglichen Notstandsgebiet“ – die Bedeutung der Säkularisation für die Salzburger Kirche, in: Gerhard Ammerer/Alfred Stefan Weiß (Hrsg.), Die Säkularisation Salzburgs 1803. Voraussetzungen – Ereignisse – Folgen. Protokoll der Salzburger Tagung vom 19. – 21. Juni 2003, Frankfurt am Main 2005, S. 197 – 217.

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Neu gemischt wurden die Karten nach dem Anfall Salzburgs an Bayern im Jahr 1810. Vor allem das von Bayern und Österreich vertretene Territorialitätsprinzip machten Änderungen der Diözesangrenzen unabdingbar und stellten eine Gefahr für den bisherigen Metropolitanverband dar. Während die Diözesangrenzen rasch mit den politischen Grenzen in Übereinstimmung gebracht wurden, kam es hinsichtlich der Umgestaltung des Metropolitanverbandes zu Problemen. Wien hatte diesbezüglich die Initiative mit dem Plan ergriffen, die Salzburger Suffragane Leoben und Lavant aufzuheben und die Bistümer Seckau und Gurk der Metropolitanjurisdiktion des Wiener Erzbischofs zu unterstellen. Für dieses Vorhaben benötigte man allerdings eine päpstliche Genehmigung, die jedoch nicht erwirkt werden konnte, da sich Papst Pius VII. seit der im Jahr 1809 erfolgten Besetzung des Kirchenstaates in französischer Haft – zunächst in Savona und dann in Fontainebeau – befand.94 Da der Papst erst 1814 aus der Gefangenschaft nach Rom zurückkehrte und sich zu diesem Zeitpunkt bereits die Rückgabe Salzburgs an Österreich abzuzeichnen begann, unterblieben diese gravierenden Eingriffe in die Salzburger Metropolitanrechte und alles verblieb beim status quo. Dieser stellte sich wie folgt dar, dass sich nämlich die Salzburger Metropolitangerichtsbarkeit „über die Suffragan-Bistümer Passau, jedoch nur in Synodalibus, Regensburg, das aber zu einem Erzbistum erhoben wurde, Freysing, Brixen, Chiemsee, welches letztere im Jahre 1807 ganz aufgehört hat, dann die österreichischen Bistümer Gurk, Seckau, Lavant und Leoben“ erstreckte. Die damit verbundene Verletzung des Territorialprinzips stellte sich für Bayern als eher bedeutungslos dar, da von den österreichischen Suffraganen schon seit „unfürdenklichen Jahren keine Appellation mehr“ an die Salzburger Erzdiözese gekommen war. Die Rechte der Salzburger Erzbischöfe hatten sich auf „das ihnen zustehende ius nominationis, confirmationis et translationis dieser Suffragan-Bischöfe“ beschränkt.95 Neuerliche Unsicherheiten über die Zukunft der Salzburger Kirche entstanden durch die Übergabe Salzburgs von Bayern an Österreich im Jahr 1816. Wenn auch alle diesbezüglichen Sorgen durch die Grundsatzentscheidung des Kaisers vom 24. Juni 1816 und durch die Ernennung von Firmian zum Salzburger Erzbischof und später zum Apostolischen Administrator der Erzdiözese ausgeräumt wurden, konnte man sich über das weitere Schicksal der Salzburger Kirche – bedingt durch die großen Meinungsverschiedenheiten und diplomatischen Turbulenzen zwischen Wien und Rom – keineswegs völlig sicher sein. So hatte sich Staatsrat Martin von Lorenz im Jahr 1820 dafür ausgesprochen, dass Salzburg als Erzbistum zu be-

94 Gerlinde Quenzer (Übers.), Die illustrierte Geschichte der Päpste von Petrus bis Johannes Paul II., Zollikon 1980, S. 195 f. 95 AES 1/26/10, Das erzbischöfliche Konsistorium an das köngl. Generalkreiskommissariat des Salzachkreises, Bericht (die Diözesangrenzen betreffend) vom 12. Mai 1812. Zur damaligen Kirchenprovinz siehe Peter Pfister, Die kirchliche Neuordnung: Das Ende der bayerischen Kirchenprovinz mit dem Metropolitansitz in Salzburg, in: Koller/Rumschöttl, Salzachkreis (Anm. 1), S. 35 – 84, hier S. 69 – 74.

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stehen aufhören und Wien unterstellt werden sollte.96 Gegen dieses Gutachten bezog Staatskanzler Metternich vehement Stellung und sprach sich nachdrücklich für die Beibehaltung des status quo aus. Am 2. Juni 1822 traf der Kaiser die folgende Entscheidung: „Ich genehmige, dass hinsichtlich des Erzbistums Salzburg nach der Basis des Status quo – der aber im Wesentlichen nur das Wahlrecht des Domkapitels in Bezug des Erzbischofs und die Prärogativen dieses Letzteren zu Ernennung der Suffragane von Lavant, Seckau und im dritten Erledigungsfalle von Gurk, wie auch die Konfirmierung derselben und die Konfirmierung eines Bischofs von Leoben, wenn Ich oder meine Nachfolger dieses Bistum herzustellen und einen Bischof hiezu zu ernennen finden sollten, in sich zu begreifen hat – die Unterhandlungen mit dem päpstlichen Hofe fortgesetzt und tunlichst bald zu einem endlichen Resultate, welches meiner Bestätigung zu unterlegen ist, gebracht werden. Sie werden hierbei vorzüglich zu erwirken suchen, dass wenigstens die Wahl des ersten Erzbischofs und die Bildung und Ernennung des Domkapitels mit Beziehung des von Seiner Heiligkeit konfirmierten ersten Erzbischofs Mir überlassen werde, jedoch ohne Folgerung für die Hinkunft und unbeschadet des Status quo.“97

Die weiteren Verhandlungen mit Rom gestalteten sich nicht mehr allzu schwierig, da der Kaiser im Jänner 1822 den von ihm designierten Erzbischof und Apostolischen Administrator von Salzburg, Graf Firmian, zum Erzbischof von Wien ernannt hatte. Am 23. September 1822 fielen in Rom die wichtigsten Entscheidungen bezüglich des weiteren Schicksals der Salzburger Diözese und Erzdiözese. Der Papst suchte der Position des Wiener Hofes entgegen zu kommen, bedauerte jedoch, dem Wunsch Seiner Majestät, „für diesmal den Erzbischof zu ernennen, nicht erfüllen zu können, weil das Wahlrecht, das von dem Kapitel in der von den kirchlichen Gesetzen vorgeschriebenen Zeit nicht ausgeübt worden war, an den päpstlichen Stuhl gefallen sei. (…) Das Kapitel müsse für dieses erste Mal ausscheiden. Für dieses eine Mal aber das Nominationsrecht auf den Kaiser durch eine Bulle oder Breve zu übertragen, sei ungewöhnlich, auch nicht vorteilhaft. Das könne man viel einfacher machen. Der Kaiser soll einfach dem Heiligen Vater die Person nennen, die er auf den Salzburger Stuhl erhoben wissen wolle. Der Papst bestätigt diese sofort und ernennt sie. So würden die kirchlichen Gesetze, die durch das Devolutionsrecht wirksam wurden, am besten beobachtet.“98

Da sowohl die Staats- als auch Hofkanzlei diesem Kompromiss zustimmten, genehmigte der Kaiser am 17. Dezember 1822 das vorgeschlagene Prozedere.99 Am 16. Februar 1823 entschied sich der Kaiser für den Laibacher Bischof Augustin Gruber100 als künftiges Oberhaupt der Salzburger Kirche. Am 17. April überreich96

214. 97

Zum Gutachten von Staatsrat Lorenz siehe Bastgen, Neuerrichtung (Anm. 40), S. 208 –

Zitiert nach Bastgen, Neuerrichtung (Anm. 40), S. 218 f. Bastgen, Neuerrichtung (Anm. 40), S. 222. 99 Kaiserliche Weisung vom 17. Dezember 1822, abgedruckt bei Bastgen, Neuerrichtung (Anm. 40), S. 226. 100 Zu Gruber siehe Unkelbach, Augustin Gruber (Anm. 44). 98

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te man in Rom das diesbezügliche Präsentationsschreiben, das am 17. November die Präkonisation Grubers als Erzbischof von Salzburg bewirkte.101 Mit der Ernennung war ein weiterer wichtiger Schritt getan, der die Wiederherstellung geordneter kirchlicher Verhältnisse in Salzburg ermöglichte. Die Phase der Reorganisation des Erzbistums wurde abgeschlossen mit der Bulle „Ubi primum“ vom 7. März 1825. Im Zentrum dieser Bulle steht neben der Errichtung eines neuen Domkapitels für die Diözese Salzburg (mit dem Recht, eine eigene Satzung zu erlassen) und dessen finanzieller Ausstattung auch die Umschreibung des Salzburger Metropolitanverbandes: „§ 5. In der Absicht jedoch, dem Wunsch des vorher gerühmten Kaisers Franz zu willfahren, weisen Wir der vorgenannten Metropolitankirche von Salzburg als Suffraganbischofskirchen die zu Trient, Brixen, Gurk, Seckau, Lavant und Leoben zu und unterstellen sie alle in Zukunft dem Metropolitanrecht des Erzbischofs von Salzburg, doch unter der Maßgabe, dass unter Beachtung der Berühmtheit der Kathedralkirche von Trient ihr jeweiliger Vorsteher außer den übrigen Ehren, Vorrechten, Privilegien, Befreiungen und Rechten, die auch die anderen Kathedralen betreffen, als erster seinen Sitz hat und die Rechte und Vorzüge des ersten Suffraganen frei beanspruchen und auf Dauer sich ihrer erfreuen darf.“102

Damit war auch hinsichtlich des Metropolitansprengels das Territorialprinzip voll und ganz umgesetzt worden, die Jurisdiktionsgewalt des Salzburger Metropoliten erstreckte sich auf keine ausländischen Diözesen mehr. Zu diesem Zeitpunkt war auch der endgültige Verlust der ehemaligen bayerischen Suffragane längst klar gewesen. Die entscheidende Weichenstellung hatte diesbezüglich das Bayerische Konkordat vom 5. Juni 1817 vorgenommen, durch dessen Art. II die folgende Regelung getroffen worden war: „Der bischöfliche Sitz in Freising wird nach München verlegt, und zum Metropolitan-Sitze erhoben. Sein Sprengel bleibt der dermalige Umfang der Freisinger Diöces, und die Vorsteher dieser Kirche werden den Namen eines Erzbischofs von München und Freising führen. Diesem Erzbischofe werden die bischöflichen Kirchen von Augsburg, Passau und Regensburg, letztere mit Aufhebung ihrer Metropolitan-Eigenschaft, als Suffragan-Kirchen untergeordnet. Jedoch soll der jetzt lebende Bischof von Passau das Privilegium der Exemption auf seine Lebensdauer genießen.“103

Damit hatte Salzburg schon 1817 alle bayerischen Suffragane verloren und der alte bayerische Metropolitanverband unter Salzburger Führung war dadurch endgültig zerschlagen worden.

101 Die Akten des vorausgehenden Informativprozesses findet man abgedruckt bei Fürst, Die Prozessakten des Informativprozesses (Anm. 44). 102 Putzer, Rechtsgrundlagen (Anm. 75), S. 295 f. 103 Text des Bayerischen Konkordats in: Gesetzblatt für das Königreich Baiern 1818, S. 397 ff.; Regierungsblatt für das Königreich Baiern 1821, S. 803 ff.; http://www.verfassungen.de/de/by/bayern1818/bayern17-konkordat.htm (20. 06. 2008).

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IV. Die Behebung des seelsorglichen Notstandes in Salzburg Die Reformwut der Aufklärung im kirchlichen Bereich, der wiederholte Wechsel der politischen Machtverhältnisse, verbunden mit der wirtschaftlichen Ausplünderung des Landes, das jeder politischen Veränderung nachfolgende zurückhaltende Agieren der weltlichen Obrigkeit in Glaubens- und Sittenfragen, ein unübersehbar einsetzender Priestermangel (so konnte schon für die Jahre 1803 bis 1813 ein Rückgang registriert werden) und die seit 1812 bestehende Vakanz des erzbischöflichen Stuhles hatten bereits in bayerischer Zeit zu ersten Problemen in der Seelsorge geführt.104 Hatten schon die Bayern diese Probleme nicht wirklich in den Griff bekommen, so änderte sich daran auch nichts nach der Übergabe Salzburgs an Österreich. Zwar versuchte Kaiser Franz I. dem seelsorglichen Verfall gegenzusteuern, indem er den Fürstbischof von Lavant, Leopold Maximilian Graf von Firmian, am 29. August 1816 zum Erzbischof von Salzburg ernannte, jedoch fand diese selbstherrliche Entscheidung nicht die päpstliche Bestätigung. Wegen der fehlenden päpstlichen Konfirmation konnte der vom Kaiser gewünschte Erzbischof seine bischöflichen Funktionen in der Erzdiözese Salzburg nicht ausüben. Das erzbischöfliche Konsistorium beabsichtigte deshalb, die bischöflichen Funktionen durch den Bischof einer Nachbardiözese aushilfsweise besorgen zu lassen. Eine günstige Gelegenheit ergab sich anlässlich einer Wienreise des Bischofs von Trient, Emanuel Graf Thun, bei der er in Salzburg kurz Station machte. Bischof Thun erklärte sich gern bereit, auf der Rückreise „den hiesigen Alumnen die heiligen Weihen zu ertheilen“. Dieses Vorhaben scheiterte jedoch an den Einwänden des Wiener Nuntius Antonio Gabriel Severoli105 (1802 – 1816), der Thun dringend davon abriet, irgendwelche Weihehandlungen oder das Spenden der Firmung in Salzburg vorzunehmen.106 Bei seiner Rückkehr nach Salzburg lehnte Bischof Thun daher die Bitte um Vornahme von Weihehandlungen ausdrücklich mit der Begründung ab, „dass er dieser aus Mangel der nöthigen Jurisdiction nicht willfahren könnte“. Entsprechend den Weisungen des Wiener Nuntius erteilte er den Mitgliedern des Salzburger Kon104 Zu diesen Problemen siehe u. a. Rinnerthaler, Kirchenstaat (Anm. 93); ders., Salzburgs Kirche unter Bayern und Österreich, in: Friederike Zaisberger/Fritz Hörmann (Hrsg.), Frieden – Schützen 1809 – 2009. Franzosenkriege im Dreiländereck Bayern-Salzburg-Tirol 1792 – 1816, Golling-Werfen 2009, S. 383 – 398. 105 Zu Severoli siehe Donato Squicciarini, Die Apostolischen Nuntien in Wien, Vatikanstadt 1999, S. 211 – 214. 106 Der Nuntius begründete seine negative Haltung in einem Bericht an den Kardinalstaatssekretär mit seinem Zweifel, inwieweit die spirituelle Autorität in Salzburg rechtmäßig sei oder nicht (Archivio Vaticano, Segreteria di Stato, 1817, Rub. 247, Fasz. 2, 50r). In Salzburg glaubte man zu wissen, dass der Nuntius dem Trienter Bischof deshalb von der Ausübung aller Weihehandlungen in der Erzdiözese abgeraten habe, „weil das hiesige Metropolitankapitel es versehen habe, dem erzbischöfl. Konsistorium intra occiduum ‚ morte archiepiscopi das General-Vikariat ausdrücklich zu übertragen, mithin dieses, das Konsistorium nämlich, weder den Bischof von Trient noch einen anderen Bischof aus Abgang der hiezu erforderlichen Gewalt darum zu ersuchen befugt ist.“ (AES 1/20/10, Das erzbischöfliche Konsistorium an das Regierungs-Präsidium in Linz, Mitteilung vom 13. Juni 1817)

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sistoriums den Rat, „sich unmittelbar an den Päpstl. Stuhl zu wenden, und bey diesem das Anlangen zu stellen, dass das erzbischöfl. Konsistorium mittels förmlicher Uebertragung des General-Vikariats ermächtiget werde, einen benachbarten Bischof zur Ertheilung der heil. Weihen einzuladen und darum zu ersuchen“107. Die seelsorglichen Probleme wurden in der Folge immer größer, wie man einem damaligen Bericht entnehmen kann: „Mehrere Seelsorgsposten sind wirklich schon vacant, die nicht besetzt werden können, weil die zur Aussetzung in die Seelsorge bestimmten Cleriker aus Mangel eines Bischofs die Priesterweihe noch nicht erhalten haben. (…) Sollte aber dieser Zustand noch länger dauern, so ist es unvermeidlich, dass am Ende selbst der öffentliche Gottesdienst Abbruch leiden müsste, und sogar die theure Seelsorge gefährdet wäre. Die armen Gebirgsbewohner haben schon einige Mal um die Ausspendung des heil. Sakraments der Firmung gebethen, und man musste sie bisher immer nur mit Vertröstungen hinhalten.“108

Angesichts dieser Umstände sah sich das Salzburger Konsistorium schließlich doch genötigt, dem Rat Bischof Thuns zu folgen und an den Apostolischen Stuhl im Weg über das „k.k. hohe Ministerium in auswärtigen Geschäften“ das Gesuch zu richten, „dem hiesigen erzbischöflichen Konsistorium das General-Vikariat zu übertragen, wodurch es ermächtiget wird, einen benachbarten Herrn Bischof zu ersuchen, den Alumnen des hiesigen Seminariums die heiligen Weihen zu ertheilen, und in der Erzdiözes das heilige Sakrament der Firmung auszuspenden“109. Diesem Vorgehen stimmte auch der vom Kaiser designierte Salzburger Erzbischof Graf Firmian zu. Er bedauerte in diesem Zusammenhang ausdrücklich, dass er „wegen fortwährend mangelnder Amtsgewalt noch nichts Eigentliches zum Besten der Erzdiöse zu wirken vermag, und was die Ordinationen insbesondere betrift, meine dießfällige Verwendung den Diözesen Lavant, Sekau und Leoben zu leisten habe“. Auch er sah einen Ausweg nur darin, vom päpstlichen Stuhl „die Befugnis, Dimissorien ad ordines zu ertheilen“ einzuholen „bis zur völlig erfolgten kanonischen Besetzung des erzbischöflichen Sitzes“.110 Da die Erledigung des an den Papst gerichteten Gesuches auf sich warten ließ – wofür man den langwierigen „Geschäftsgang“ und die Einhaltung von zahlreichen „Formalitäten“ aber auch eine „Unbässlichkeit Sr. Päpstl. Heiligkeit“ bzw. die Möglichkeit, dass „vielleicht das dießortige Schreiben erst mit der anfangs Juny nach Rom abgeordneten k.k. Gesandschaft dahin abgegangen ist“, verantwortlich mach-

107 So die Schilderung der damaligen Ereignisse in einem Schreiben des erzbischöflichen Konsistoriums vom 7. Juli 1817 an den ehemaligen Weihbischof von Passau und nunmehr ernannten Erzbischof von Mailand, Cajetan Graf von Gaisruck (AES, 1/20/10). 108 AES 1/20/10, Das fürsterzbischöfliche Konsistorium an das „Ministerium in auswärtigen Geschäften“, Schreiben vom 9. Mai 1817. 109 Schreiben vom 9. Mai 1817 (Anm. 109). 110 AES 1/20/10, Fürstbischof Leopold Maximilian Graf von Thun an den Direktor des erzbischöflichen Konsistoriums in Salzburg, Schreiben vom 14. Mai 1817.

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te111 –, versuchte das Salzburger Konsistorium erneut einen benachbarten Bischof zur Vornahme der dringlich notwendigen Priesterweihen und zur Spendung der Firmung zu finden. Gedacht war diesmal an den ehemaligen Weihbischof von Passau und ernannten Erzbischof von Mailand, Cajetan Graf von Gaisruck, der sich schon in der bayerischen Zeit und anlässlich der Landeshuldigung im Jahr 1816 als Retter in der Not erwiesen und diverse bischöfliche Funktionen in Salzburg ausgeübt hatte. In dieser rechtlich heiklen Lage sah sich jedoch auch Gaisruck für „ausser stand gesetzt“, die von ihm erbetenen bischöflichen Aufgaben in Salzburg wahrzunehmen. Zwar zweifelte auch er nicht, dass der Heilige Stuhl das „General-Vikariat“ an das erzbischöfliche Konsistorium übertragen werde, jedoch hielt er es für durchaus denkbar, dass „bei dieser Verhandlung der gestellten Bitte nicht auch zugleich andere Äußerungen, oder Interims-Vorkehrungs-Facultäten von Seite des Römischen Hofes für die so verwaiste Salzburgische Metropolitan-Kirche beigefügt werden dürften“. Gaisruck vertrat deshalb die Auffassung, dass die päpstliche Entscheidung abgewartet werden sollte: „In einigen Wochen könnte die päpstliche förmliche Übertragung des General-Vikariats, wie sie erbetten worden, (…) ja doch erfolgen u. eintreffen, nach deren gefälligen Mitteilung ich alsdann eben so bereit seyn werde dem Ansinnen zu entsprechen, als es mir izt, dies selbst mit dem besten Willen u. frommer Sehnsucht, nicht thun zu können, sehr leid ist.“112

Wie berechtigt diese Vorsicht war, ergibt sich aus einem Schreiben des oberösterreichischen Regierungspräsidenten Freiherrn von Hingenau an das Salzburger Konsistorium. Darin teilte er nur kurz und bündig mit, dass der Kaiser entschieden habe, das Ersuchen des Salzburger Konsistoriums gar nicht an den Papst weiterzuleiten wegen „der zuversichtlichen Erwartung der baldigen kirchlichen Bestättigung des neu ernannten Erzbischofes Grafen v. Firmian“. Die „Aufstellung eines General-Vikariats“ habe der Herrscher „als überflüssig“ erachtet. Zugleich erteilte Hingenau dem Konsistorium einen schweren Rüffel, dass es den vom Gesetz vorgeschriebenen Amtsweg nicht eingehalten und sich direkt an das Ministerium in Wien mit seinem Anliegen gewandt hatte.113 Nachdem derart alle Hoffnungen auf eine baldige Lösung der Salzburger Probleme durch Rom geschwunden waren, sah sich das Konsistorium noch zusätzlich vom Regens des Priesterhauses, Sebastian Pichler, unter Druck gesetzt, der eine „möglichst baldige Abhaltung h. Weihen“ forderte. Nach seinen Schilderungen warteten drei Alumnen „bereits ein volles Studienjahr auf Erhaltung h. Weihen, indem sie bereits mit Schluss des Studienjahres 1816 ihre theolog. Studien vollendeten“. Zudem 111 AES 1/20/10, Das erzbischöfliche Konsistorium an den ernannten Erzbischof von Mailand, Schreiben vom 24. Juli 1817. 112 AES 1/20/10, Der Weih-Bischof von Derben und ernannte Erzbischof von Mailand Graf Cajetan von Gaisruck an das erzbischöfliche Konsistorium, Mitteilung vom 2. August 1817. 113 AES 1/20/10, Regierungspräsident Hingenau an das erzbischöfliche Konsistorium in Salzburg, Schreiben vom 28. Juli 1817.

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hätten in diesem Jahr weitere sechs Kandidaten ihr Studium abgeschlossen und warteten nunmehr ebenfalls auf den Empfang der Priesterweihe und ihre Anstellung in der Seelsorge. Die Nichterteilung der Weihe führte – so Pichler – zu zusätzlichen Kosten für das Priesterhaus und zu einem fühlbaren Mangel an Hilfspriestern in der Seelsorge.114 Von zwei Maßnahmen versprach sich das Salzburger Konsistorium eine rasche Abhilfe. Zum einen von jenem Bericht des k.k. Kreisamts Salzburg an das k.k. Landespräsidium in Linz, dem ein Verzeichnis aller in diesem Kreis vakanten Seelsorgeplätze115 angeschlossen war. In diesem wurde geschildert, dass zur „Providirung derselben (…) bereits auf alles gegriffen worden“ sei, „was nur immer an Individuen vorhanden ist, und die Noth an Mann hat in der That bereits nöthig gemacht, Leute zu wählen, von welchen sich wenig Ersprießliches erwarten lässt, und welche nicht zur selbständigen Cura animarum tauglich sind“. Geäußert wurde auch die Befürchtung, dass jede Gemeinde, „welche ohne Seelsorger bleibt, auch ohne allen Cultus seye, und da auch der Schulunterricht in mehrern solchen abgelegenen Vicariaten vom Seelsorger entweder ganz besorgt, oder doch geleitet wird, so wird auch dieser empfindlich darunter leiden. (…) Es werden unserm Lande um so mehr brauchbare, und bey dem grossen Mangel an Geistlichkeit sehr schätzbare Individuen dadurch entgehen, dass im Auslande sehr begierig Candidaten gesucht werden, und sie dort ohne alle Zögerung Aufnahme, Weihe und Anstellung erhalten“. Der k.k. Kämmerer, Regierungsrat und Kreishauptmann des Salzburger Kreises, Graf zu Welsperg-Raitenau, bekannte offen ein, dass dieses Problem sein „Ressort“ übersteige, und ersuchte um dringende Abhilfe durch Linz.116 In einer ersten Reaktion aus Linz wurde das Salzburger Konsistorium aufgefordert, umgehend zu berichten, „welche Hindernisse der Ausweihung der bereits absolvirten Alumnen im Wege stehen, und zugleich sich gutächtlich zu äußern, wie solche beseitiget werden können“117. Während die inhaltliche Darstellung der eigenen Probleme durch das Konsistorium nichts wirklich Neues beinhaltete, sah die kirchliche Behörde weiterhin in seinem Ansuchen an Rom das einzige Mittel, ehestmöglich die unhaltbaren Zustände in der eigenen Diözese zu beseitigen. Daher schlug man vor, dass das „erwähnte Schreiben auch dermal noch an Se. Päpstl. Heiligkeit erlassen würde, indem man versichert ist, dass Höchstdieselbe von der Nothwendigkeit der Sache überzeugt, der Bitte 114

AES 1/20/10, Der Regens des Priesterhauses Sebastian Pichler an das erzbischöfliche Konsistorium, Schreiben vom 28. August 1814. 115 Dazu zählten die Dompfarre und die Stadtpfarre zu St. Andrä, deren Wiederbesetzung bis zur Neuorganisation des Domkapitels aufgeschoben bleiben sollte; ebenso die Pfarren und Vikariate von Seekirchen, Obertrum, Seeham, St. Johannsspital, Saalbach in Glem, Taurach, Anthering, Unken und St. Nikola im österreichischen Laufen (heute: Oberndorf) sowie das Benefizium zu Radstadt. 116 AES 1/20/10, Der Kreishauptmann Graf zu Welsperg-Raitenau an das k.k. LandesPräsidium, Bericht vom 25. August 1817. 117 AES 1/20/10, Die Regierung in Linz an den Kreishauptmann in Salzburg, Weisung vom 2. September 1817.

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schnell und vollkommen zu willfahren nicht den mindesten Anstand nehmen werde, zumahl wenn durch eine nachdrückliche Empfehlung der dortigen k.k. Gesandtschaft dieser Sache ein Vorschub gegeben wird. Sobald das Konsistorium von Se. Päpstl. Heiligkeit, darin gar nicht zu zweifeln, mit der erforderlichen Gewalt versehen und kraft dieser einen fremden Bischof zur Ertheilung der heil. Weihen einzuladen und zu begwalten befugt ist, so ist der hl. Bischof von Derben Graf Gaisruck seiner Äußerung gemäß nicht ungeneigt, die hiesigen Alumni zu ordiniren.“118

Zum anderen hatte das Konsistorium aber noch einen weiteren Plan in der Schublade, den man jedoch zuerst dem ernannten Erzbischof von Salzburg, Graf Firmian, zur Kenntnis bringen wollte. Dieser bestand darin, dass „man nach Vorschrift des Conciliums von Trient cap. 16 sess. 24 de reform. den Bischof des ältesten Suffragan-Bistums von Salzburg, welches dermal Brixen ist, geziemend ersuche, den hiesigen Alumnen die heiligen Weihen zu erteilen, oder, falls dem hl. Fürstbischof von Brixen dieses zu beschwerlich fallen, oder die vielen ordinandi dahin zu schicken nicht rätlich befunden werden solle, es dem gedachten hl. Fürstbischof überlassen werde, hiezu einen anderen benachbarten hl. Bischof zu begwalten.“

Allerdings wollte man auf diesen Plan nur zurückgreifen, nachdem Erzbischof Firmian hierfür ausdrücklich seine Zustimmung gegeben habe. Als notwendig erachtete man auch eine Anfrage „bey der k.k. Regierung in Linz (…), um sich bey Hochderoselben nicht neuerdings verantwortlich zu machen“119. Graf Firmian zeigte sich mit diesem Vorschlag grundsätzlich einverstanden. Für ihn handelte es sich um einen „für das allgemeine Beste nicht zu verargenden Versuch“, wenn „sich nach Vorschrift des trientischen Kirchenrathes an den ältern der Herrn Sufragan-Bischöfe gewendet wird“. Dennoch gab er zu bedenken, „dass der Kardinal Salm, Fürstbischof von Gurk, in letzterer Eigenschaft eine Art iuris quaesiti zu besitzen glaubt, sede metropolitica aut impedita als vicarius generalis natus auftretten zu können. Es ist mir unbekannt, in wie fern dieses Recht, wovon ich mir durch besagten Herrn Kardinalen schon manches erzählen lassen musste, durch das Herkommen gegründet sey oder nicht, es ist nur mein innigster Wunsch, dass dem allgemeinen gegenwärtigen Drange auf eine Art abgeholfen werden möchte, die zu bestmöglicher allseitigen Beruhigung und Hindanhaltung jeder Verdrüßlichkeit gereichen möchte.“

Explizit bedauerte Firmian auch die Entscheidung des Wiener Hofes, das Salzburger Gesuch um Bestellung eines Generalvikars nicht nach Rom weitergeleitet zu haben. Und dies trotz des Faktums, dass er selbst die Weiterleitung gegenüber dem „Oberstkanzler“ ausdrücklich befürwortet und „den Wunsch dafür deutlich ausgesprochen“ hatte.120 118 AES 1/20/10, Das erzbischöfliche Konsistorium an das k.k. Landespräsidium in Linz, gutachterliche Stellungnahme vom 25. September 1817. 119 AES 1/20/10, Das erzbischöfliche Konsistorium an den ernannten Fürsterzbischof von Salzburg, Mitteilung und Anfrage vom 2. September 1817. 120 AES 1/20/10, Graf Firmian als ernannter Erzbischof von Salzburg an den Direktor des Konsistoriums, Antwortschreiben vom 23. September 1817.

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Von einem derartigen Recht des Gurker Bischofs wollte indessen das Salzburger Konsistorium nichts wissen: „Von dem Rechte, vermög welchen Se. Eminenz der Cardinal Fürst Salm in der Eigenschaft als Bischof von Gurk Sede metropolitica vacante aut impedita als Vivarius generalis natus einzuschreiten befugt zu seyn glaubt, ist zwar dem Consistorium auf überzeugende Weise nichts bekannt. Wenigstens ist in dem dießortigen Archive hievon kein Aktenstück vorfindig, und selbst in den Urkunden, die vom Bistum Gurk vorhanden und allda bekannt sind, geschieht von diesem Rechte keine Meldung. Sollte indessen Se. Eminenz der Kardinal seine rechtlichen Ansprüche ibi ubi behaupten können und diese zugleich geltend zu machen wissen, so würde Höchstderoselbe einstweilige Aushilfe bey wider Verhoffen allenfalls noch lange andauernden gegenwärtigen misslichen Zustande der Kirche Salzburg sehr erwünscht und willkommen seyn.“121

Die von Graf Firmian vorgebrachten Bedenken bewirkten immerhin, dass die Salzburger Konsistorialräte zunächst ihre Überlegungen bezüglich eines Herantretens an den Bischof des ältesten Suffragan-Bistums hintanstellten und erneut die Bestellung eines Generalvikars durch den Papst favorisierten. Zu diesem Zweck wandten sie sich um Unterstützung an den Regierungspräsidenten in Linz und schilderten ihm noch einmal die prekäre Situation in Salzburg. Seit ihrem letzten Bericht vom 15. September d. J. hätten sie wiederum mehrere für den Diözesanseelsorgedienst geeignete Kandidaten verloren. Zwei seien in ein Kloster eingetreten, einer habe eine Anstellung im Innsbrucker „Liceum“ erhalten, ein weiterer hoffe ebenfalls auf eine Anstellung in Innsbruck und ein fünfter sei krankheitsbedingt für längere Zeit für den Seelsorgedienst unfähig geworden. Und „was endlich die Verlegenheit noch mehr vergrößert, ist, dass überdies auch noch ein und der andere talentvolle Alumnus, der seine Studien vollendet und zur Seelsorge reif wäre, aber bloß aus Abgang der heiligen Weihen hiezu noch nicht verwendet werden könne, Miene mache, aus Missmuth über das lange Zuwarten das Seminar und die Diözes zu verlassen“122. Kaum waren diese Zeilen zu Papier gebracht worden, traf beim Konsistorium eine Mitteilung des Priesterhausregens Sebastian Pichler ein, wonach „der Alumnus Anton Lechleitner, ein geborener Tiroler, der schon im J. 1816 seine theologischen Studien mit Auszeichnung vollendet hat und bereits über ein Jahr auf Erhaltung der heil. Weihen vergebens wartet, fest entschlossen sey, aus dem hiesigen Seminar und der Diözes zu treten und in eine andere überzugehen, wo er sichere Hoffnung hat,

121 AES 1/20/10, Das erzbischöfliche Konsistorium an den ernannten Erzbischof von Salzburg, Stellungnahme vom 3. Oktober 1817. Wirklich sorgsam dürfte man jedoch nicht recherchiert haben, oder man wollte einfach von diesem Recht keine Notiz nehmen, da es sehr wohl aus dem Jahr 1216 eine Quelle gibt, die die Auffassung von Kardinal Salm stützt (siehe August von Jaksch, Die Gurker Geschichtsquellen von 864 – 1232 [Monumenta historica ducatus Carinthiae. Geschichtliche Denkmäler des Herzogthums Kärnten 1], Klagenfurt 1896, S. 348 – 350, und Rinnerthaler, Salzburger Privileg [Anm. 86], S. 326). 122 AES 1/20/10, Das Salzburger Konsistorium an das k.k. Präsidium in Linz, Bericht und Hilfeersuchen vom 3. November 1817.

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desto eher zu seinem Ziel zu kommen“123. Dieser ständige Aderlass veranlasste die oberste Salzburger Kirchenbehörde zu einer Ergänzung ihres Berichts vom selben Tag. Die Verhältnisse erschienen ihr unerträglich, da alle Personalressourcen schon längst ausgeschöpft worden waren und die schwierigen geographischen Verhältnisse eines Gebirgslandes eine Aushilfe durch benachbarte Seelsorger meist unmöglich machten. Der Verlust von jungen Theologen traf – nach den Ausführungen des Konsistoriums – die Salzburger Diözese deshalb besonders hart, „da die Neigung zu diesem Stande seit einiger Zeit ohnehin merklich abgenommen hat“. Im zunehmenden Mangel an Seelsorgern erkannte man eine generelle Gefahr für die Religion, die schleunigste Abhilfe erforderlich machte. Der Regierungspräsident konnte jedoch auf die beiden Schreiben aus Salzburg nur erwidern, dass er den Kaiser wiederholt über die Salzburger Probleme informiert habe und „daher in Kürze einer erwünschten Verfügung in dieser Hinsicht zuversichtlich entgegen gesehen werden könne. Das Konsistorium habe demnach die zum Empfang der heil. Weihen vorbereiteten Alumnen mit der Hoffnung auf eine baldige Erfüllung ihrer Wünsche zu vertrösten, und bis dahin alle thunlichen Vorkehrungen zu treffen, um die Seelsorge sowohl von gegenwärtigen als künftigen Nachtheilen zu bewahren.“124 Die Aufforderung, alle notwendigen Maßnahmen zum Schutz der Seelsorge zu treffen, ermutigte das Konsistorium, im März 1818 einen neuerlichen Vorstoß beim Linzer Regierungspräsidium zu wagen. Insgesamt waren es vier Vorschläge, die man als einzigen Ausweg aus „diesem Übelstande“ den weltlichen Behörden unterbreitete: „a. Wegen Aufstellung eines Generalvikars sich unmittelbar an den Päpstl. Stuhl zu wenden, oder b. dass nach Vorschrift des Concils von Trient der älteste Suffragan-Bischof einschreite, oder c. dass dem neu ernannten Erzbischofe, wie es bey dessen Vorfahrer dem Fürst-Erzbischof Hieronymus gepflogen wurde, von Se. Päpstl. Heiligkeit die administratio in Spiritualibus bis zu dessen wirklicher Confirmation provisorisch übertragen werde.“

Der vierte Vorschlag war völlig neu und bezog sich auf das Salzburger Domkapitel, „davon immer 7 – 8 Mitglieder sich hier gegenwärtig befinden, und zum Theil auch kirchliche Funktionen versehen, in die Ausübung der demselben vacante Sede archiepiscopati de iure zustehenden geistlichen Ordinariatsgerechtsame (…) restituiert werde. Es wird dieses um so leichter auszuführen seyn, als das erwähnte Domkapitel Inhalt allerhöchster Entschließung vom 3. Dez. 1806 quoad Spiritualia ohnehin in seiner bisherigen Verfassung zu verbleiben hatte. Nachdem aber dasselbe den gesetzlichen Termin, einen GeneralVikar zu ernennen, versäumt, und die ganze Zeit her keinen Akt der geistl. Ordinariats-Jurisdiction mehr ausgeübet, sondern sich auch in Spiritualibus et ecclesiasticis so viel als aufgelöst betrachtet hat, so wird nicht zu vermeiden seyn, dass wegen der Einsetzung desselben in die wirksame Ausübung seiner geistlichen Befugnisse entweder von dem Kapitel selbst /: dem es freylich schwer ankommen wird seine culpam zu bekennen :/ oder, was vom besse123

AES 1/20/10, Das Salzburger Konsistorium an das k.k. Präsidium in Linz, Berichtsergänzung vom 3. November 1817. 124 AES 1/20/10, Regierungspräsident Freiherr von Hingenau an das erzbischöfliche Konsistorium zu Salzburg, Erlass vom 29. November 1817.

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ren Erfolg seyn möchte, dass durch die päpstl. Nuntiatur in Wien oder durch die k.k. Gesandschaft in Rom bey Sr. Päpstl. Heiligkeit dießfalls angefragt und allerhöchst deroselben Bewilligung hiezu nachgesuchet werde.“125

Erneut gab es seitens der weltlichen Behörde keine Entscheidung zugunsten eines der vier Vorschläge. Vielmehr folgte als Reaktion eine weitere Vertröstung unter Hinweis auf ein Hofdekret, wonach „die Erledigung des von dieser Regierung erstatteten Berichts wegen Ertheilung der Weihen an die Salzburger Theologen in der Hauptsache nächstens folgen werde“. Zugleich erteilte das Regierungspräsidium dem Salzburger Konsistorium die Weisung, unverzüglich den Vorwurf aufzuklären, dass es „Alumnen in das Ausland entlassen würde“126. Die Antwort aus Salzburg erfolgte umgehend und vermochte die in der Weisung der staatlichen Behörde unterschwellig enthaltenen Vorwürfe eindeutig zu widerlegen und die Dringlichkeit der Weiheproblematik in Salzburg noch einmal deutlich zu machen: „Es tratten also seit zwey Jahren 10 Alumnen, die durch die politische Länder-Trennung Ausländer geworden sind, ins Ausland, als ihr Vaterland, zurück und 7 in eine andere inländische Diözes über. Mithin verlohr das hiesige Seminar und die Erzdiözes in dieser Zeitfrist 17 größtentheils sehr fähige und brauchbare Candidaten des geistl. Standes. Dermal besteht die Zahl der Alumnen aus 23 Köpfen, davon 5 ihre theologischen Studien bereits vollendet haben, und auf die zu erhaltenden heil. Weihen sehnsuchtsvoll warten; mit Ende dieses Studienjahres vollenden abermals 9 ihre theologischen Studien, von denen 6 erst müssen ausgeweihet werden. Uiberdieß bedürfe man für das Priesterhaus wenigstens noch 6 andere, so die heiligen Weihen mit dem Presbyterat erhalten sollten, um sowohl in der Priesterhauskirche als in dem annexen Pirglsteinkirchlein die für das Publicum eingeführten meistens gestifteten hl. Messen und gottesdienstlichen Verrichtungen täglich abhalten und versehen zu können. Im ganzen wären sohin 16 Alumnen zu Priester zu weihen.“127

Wenige Monate später zeichnete sich ein Silberstreif am Horizont ab. Anlass zur Hoffnung gab eine Nachricht des k.k. Regierungsrates von Zobel, der das Salzburger Konsistorium davon in Kenntnis setzte, dass der Bischof von Linz nunmehr gewillt wäre, „den hiesigen Alumnen und Conventualen des Klosters St. Peter die heil. Weihen zu ertheilen, aber zugleich versichert zu seyn wünschen, dass Se. Päpstliche Heiligkeit von den gegenwärtigen Verhältnissen des Erzbistums und der Verlegenheit, in der sich die Erzdiözes wegen so langer Entbehrung einer Ordination (…) befindet, unterrichtet sind.“ Diese Bedingung konnte man natürlich mithilfe der jüngsten Mitteilungen des Regierungspräsidiums in Linz leicht erfüllen. Das Salzburger Konsistorium ersuchte daher den Linzer Bischof, einen Weihetermin zu fixieren. Die Weihekandidaten würden zu diesem Zweck nach Linz reisen und mit bischöflicher Bewilligung „in dem dortigen (…) Seminar Logis und Kost gegen baare Bezahlung er125 AES 1/20/10, Das erzbischöfliche Konsistorium an das k.k. Regierungspräsidium in Linz, Vorschläge vom 26. März 1818. 126 AES 1/20/10, Das Regierungspräsidium in Linz an das erzbischöfliche Konsistorium, Antwortschreiben und Weisung vom 21. April 1818. 127 AES 1/20/10, Das erzbischöfliche Konsistorium an das Präsidium der k.k. Landesregierung in Linz, Bericht vom 27. April 1818.

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halten“. Zur Weihe stünden insgesamt 22 Kandidaten (19 Alumnen des Salzburger Priesterseminars und drei Konventualen des Klosters St. Peter) an. Von den Alumnen sollten 15 „die niederen Weihen, eben so viel das Subdiakonat, 16 das Diakonat und 15 das Presbyterat, und die drey fratres St. Petrenses das Subdiakonat, Diakonat und Presbyterat“ erhalten.128 Tatsächlich erklärte sich der Linzer Bischof bereit, den Salzburger Kandidaten die Weihe zu erteilen. Als Termin nannte er den 16. September für die niederen Weihen, den 17. September für die Subdiakonatsweihe, den 18. September für die Diakonatsweihe und den 19. September für die Priesterweihe. Zu diesem Zweck sollten die Weihekandidaten am 14. September in Linz eintreffen, wo sie im dortigen Priesterhaus Wohnung und Kost erhalten sollten.129 In Salzburg traf man die notwendigen Vorbereitungen, indem man die Abreise der Kandidaten für Samstag den 12. September 1818 festsetzte. Die Reise sollte auf dem Wasserweg erfolgen und unter der Leitung des Salzburger Priesterhausspirituals Simon Hoffer angetreten werden. An das Kreisamt richtete das erzbischöfliche Konsistorium ein Ansuchen, die anfallenden Kosten aus der Kasse des Priesterhauses begleichen zu dürfen, außer das Kreisamt würde es in die Wege leiten, „dass Se. k.k. Majestät diese Kosten zu übernehmen, und dem Priesterhause zu vergüten allergnädigst geruhen wollen, weil der Grund dieser Reise und der hierauf ergehenden Auslagen die hier noch fehlende Gelegenheit zur Erlangung der heil. Weihen ist“130. Kaum war alles für die Priesterweihe in Linz vorbereitet und fixiert worden, traf die folgende Nachricht des Regierungspräsidenten Freiherrn von Hingenau in Salzburg ein: „Zu Folge hohen Hofkanzleydekrets vom 30. August d.J. Nro. 17563 haben Se. Päbstliche Heiligkeit dem Verlangen Sr. k.k. Majestät willfahrend, um den geistlichen Bedürfnissen der Salzburger Diözese ohne Verzug zu Hülfe zu kommen, den Fürstbischof von Lavant Grafen v. Firmian zum Administrator des Erzbisthums Salzburg in Spiritualibus aufgestellt.“131

Diese Mitteilung stellte alle Weihevorbereitungen in Frage, da Hingenau diese Information auch dem Linzer Bischof zukommen ließ, der angesichts der geänderten Situation es „als einen Eingriff in die Rechte des von Sr. Heiligkeit ernannten Herrn Administrator des Erzbisthums Salzburg“ ansah, wenn er „Alumnen desselben und den Professen des löbl. Stiftes St. Peter die heiligen Weihen ertheilen würde“.132 128

AES 1/20/10, Das fürsterzbischöfliche Konsistorium an den Bischof von Linz, Ersuchen vom 29. August 1818. 129 AES 1/20/10, Der Bischof von Linz, Sigismund von Hohenwart, an das fürsterzbischöfliche Konsistorium in Salzburg, Mitteilung vom 31. August 1818. 130 AES 1/20/10, Das erzbischöfliche Konsistorium an das k.k. Kreisamt, Ersuchen vom 5. September 1818. 131 AES 1/20/10, Freiherr von Hingenau an das erzbischöfliche Konsistorium, Bekanntmachung und Weisung vom 4. September 1818. 132 AES /20/10, Der Bischof von Linz an das fürsterzbischöfliche Konsistorium, Schreiben vom 4. September 1818.

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In Salzburg war man über diese Entwicklung der Dinge bestürzt. Unter allen Umständen wollte man eine Absage der Linzer Weihetermine vermeiden, weshalb sich das Konsistorium umgehend an den neu ernannten Administrator mit der Bitte wandte, „den hl. Bischof zu Linz durch ein höchst eigenhändiges kurzes Schreiben um die Ordination der hiesigen Cleriker zu ersuchen. Hochdemselben die hiezu erwartete Vollmacht zu ertheilen und dieses Schreiben (…) gerades Wegs nach Linz zu schicken.“133 Zugleich setzte man den Linzer Bischof von diesem Schritt in Kenntnis und ersuchte ihn noch einmal dringend, die geplanten Weihen vorzunehmen. Das Konsistorium äußerte auch seine Überzeugung, dass „der ernannte Herr Erzbischof und Administrator der Ordination der hiesigen Diöcesan-Cleriker in Linz auf keine Weise entgegen ist, indem uns Höchstderselbe Selbst schon angewiesen hat, Euer Bischöfl. Gnaden darum gebührend zu ersuchen“134. Trotz der knappen Zeit dürften alle Schreiben rechtzeitig in Linz eingetroffen sein. Die Weihehandlungen fanden jedenfalls programmgemäß statt. Mit den 15 Neupriestern konnten die unbesetzten „Hilfspriester-Plätze“ besetzt und „einstweilen der dringendsten Noth abgeholfen“ werden.135 Schritt für Schritt wurden nunmehr auch die restlichen Probleme in der Salzburger Diözese angegangen. So bestellte der neu ernannte Administrator Graf Firmian den bisherigen Konsistorialdirektor Xaver Hochbichler zum Salzburger Generalvikar.136 Offen blieb damit nur mehr der Wunsch „mehrerer Gemeinden um die Ausspendung des heil. Sakraments der Firmung“. Das Konsistorium bat diesbezüglich den Administrator, hierfür „die Zeit und Weise gnädigst zu bestimmen“.137 Dieser Bitte wurde umgehend entsprochen. Der Bischof von Lavant und Administrator der Salzburger Erzdiözese ließ dem Salzburger Konsistorium nämlich mitteilen, dass er noch im Dezember für einen längeren Aufenthalt nach Salzburg kommen wolle: Er werde am 16. November von Klagenfurt nach Wien abreisen, wo er 133 AES 1/20/10, Das fürsterzbischöfliche Konsistorium an den ernannten Erzbischof und Administrator, Ersuchen vom 9. September 1818. 134 AES 1/20/10, Das fürsterzbischöfliche Konsistorium an den Bischof von Linz, Schreiben vom 9. September 1818. 135 AES 1/20/10, Das fürsterzbischöfliche Konsistorium an den ernannten Erzbischof und Administrator, Bericht vom 21. September 1818. 136 AES 1/20/10, Fürstbischof Firmian an Konsistorialdirektor Hochbichler, Ernennungsschreiben vom 10. September 1818. In diesem Schreiben teilte Firmian auch den zentralen Inhalt der päpstlichen Bestellungsurkunde mit: „Zufolge eines von dem Herrn Obersten Kanzler Grafen von Saurau mir zugekommenen ämtlichen Schreibens aus Wien vom 30. August d.J. und beygeschlossener vorläufiger Kopie eines späterhin im Original nachzutragenden Päbstlichen Breve wird mir von Sr. Heiligkeit, nach getroffenem Uebereinkommen mit Sr. K.K. Majestät einsweilen und bis die Verhandlungen über die künftigen Verhältnisse der Salzburger Kirche zum völligen Beschluss gediehen seyn werden, die Administration dieses Erzbisthumes in Spiritualibus, nebst fortwährender Beybehaltung des Bisthums Lavant, übertragen und zugleich die Vollmacht ertheilt, zum Behufe der Salzburger Diözese einen Vikarium für dieselbe, mit denen mir diesfalls erforderlich und nützlich scheinenden Fakultäten, aufzustellen.“ 137 Bericht vom 21. September 1818 (Anm. 135).

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„allenfalls bis 9. Dezember zu verbleiben, dann gerade den Weg über Linz nach Salzburg zu nehmen, und daselbst bis Helfte Juny sich aufzuhalten gedenke. Hierauf eine Visitationsund Firmungs-Reise in die verschiedenen Gebirgs-Gegenden bis in das Lungau vornehmen, und von dortaus wieder nach Kärnten zurückkehren werde. Um Pfingsten wollen Se. Hochfürstl. Gnaden hier in Salzburg firmen, und zugleich auch eine Priesterweihe vornehmen.“138

Waren derart die Firmungen in einem absehbaren Zeitraum gesichert und ein nächster Weihetermin in Aussicht genommen, so blieben im Wesentlichen noch zwei Wünsche offen, nämlich die nach einem von Rom bestätigten Erzbischof und nach einer Reorganisation des Domkapitels. Auf beide Ereignisse musste man allerdings noch einige Zeit warten, tobte doch hinter den Kulissen ein heftiger Kampf139 zwischen dem Kaiser und dem Papst um Macht und Einfluss im Erzbistum Salzburg. 1823 erhielt Salzburg mit Augustin Gruber das – von Kaiser und Papst akzeptierte – kirchliche Oberhaupt.140 Der letzte Schritt der Reorganisation der Erzdiözese Salzburg wurde mit der Bulle „Ubi primum“ vom 7. März 1825 gesetzt, die am 10. Juni 1826 das „Placetum Regium“ erhielt. Darin wurden die alten Rechte der Salzburger Kirche und insbesondere des Erzbischofs bestätigt, der Salzburger Metropolitansprengel neu umschrieben und ein neues, vierzehnköpfiges Domkapitel installiert und dotiert.141 Das Ringen um den Erhalt der Erzdiözese Salzburg und deren Reorganisation war damit zu einem positiven Abschluss gelangt.

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AES 1/20/10, Note vom 14. Oktober 1818 (gez. Rieger). Hierzu siehe Bastgen, Neuerrichtung (Anm. 40) und Rinnerthaler, Salzburger Privileg (Anm. 86), S. 329 – 342. 140 Siehe oben, Kap. II. 141 Siehe Kap. III in diesem Beitrag. 139

1918 und der politische Katholizismus Ein Fresko in Schwarz? Von Dieter A. Binder I. Etwas mehr als zehn Jahre vor dem Auseinanderbrechen der Monarchie erzielten die Christlichsozialen bei den ersten Wahlen auf Grundlage des allgemeinen und gleichen Wahlrechtes für Männer zum Reichsrat einen fulminanten Wahlerfolg, nachdem es zur weitgehenden Vereinigung mit den katholisch-konservativen Gruppen gekommen war und man über die katholischen Bauernbünde auch im ländlichen Raum fest verankert war. Letztlich hatte sich das radikal kleinbürgerliche und sozialreformatorische Programm Karl Luegers als attraktiv genug erwiesen, innerhalb des katholischen Milieus einen Alleinvertretungsanspruch durchzusetzen und sich als katholische Volkspartei zu etablieren.1 Durch die Integration in das „liberalistisch-kapitalistische Herrschaftssystem der Habsburgermonarchie … wandelte sich die vordem wenigstens im Ansatz sozialreformatorisch orientierte Partei des Wiener Kleinbürgertums zu einer konservativen Reichs-Partei des deutschsprachigen besitzenden katholischen Bauern- und Bürgertums“, die zwar auch in das Milieu der unselbständigen Handwerker eindringen konnte, jedoch innerhalb des immer noch wachsenden Potentials des Industrieproletariats weitgehend scheiterte.2 Eingebunden in die kaiserliche Regierung über die Minister aus ihren Reihen und in das Schattenkabinett des Thronfolgers Franz Ferdinand wurde aus der zeitweise beachtlich aggressiven Protestpartei eine Stütze der Macht und „Regierungsschutztruppe“.3 Im Gegensatz zur Sozialdemokratie definier-

1 Zur Geschichte der Christlichsozialen vgl. Helmut Wohnout, Middle-class Governmental Party and Secular Arm of the Catholic Church: The Christian Socials in Austria, in: Wolfram Kaiser/Helmut Wohnout (Ed.), Political Catholicism in Europe 1918 – 1945, London/New York 2004, S. 172 – 194; Anton Staudinger/Wolfgang C. Müller/Barbara Steininger, Die Christlichsoziale Partei, in: Emmerich T‚los/Herbert Dachs/Ernst Hanisch/Anton Staudinger (Hrsg.), Handbuch des politischen Systems Österreichs. Erste Republik 1918 – 1933, Wien 1995, S. 160 – 176; John W. Boyer, Culture and Political Crisis in Vienna. Christian Socialism in Power, 1897 – 1918, Chicago 1995; ders., Political Radicalism in Late Imperial Vienna. The Origins of the Christian Social Movement, 1848 – 1897, Chicago 1981. 2 Staudinger, Partei (Anm. 1), S. 160; Wohnout, Christian Socials (Anm. 1), S. 181 f. 3 Ernst Hanisch, Der lange Schatten des Staates. Österreichische Gesellschaftsgeschichte im 20. Jahrhundert, Wien 1994, S. 119.

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te man sich dezidiert nicht als „spezifische Berufspartei“4, sondern erhob Anspruch auf die Vertretung der „großstädtische[n] Bevölkerung“, der „Intelligenz“ und des „Bauernstand[es]“. Diesen Anspruch konnte man allerdings in urbanen Milieus gegen die deutschnationalliberale und sozialdemokratische Konkurrenz nur bedingt durchsetzen. Die markante Wahlniederlage in Wien 1911 und das Führungsvakuum, das durch den im Jahr davor erfolgten Tod Luegers sichtbar geworden war, führten zur Dezentralisierung der innerparteilichen Machtausübung. An die Stelle der Wiener Dominanz traten nun die Führungseliten der mehrheitlich deutschsprachigen Kronländer, die weitgehend auf ihre regionalen Interessen fixiert waren und so auch nicht ansatzweise an der Lösung der gesamtstaatlichen Krise mitwirken konnten. Parteiintern machte sich dafür ein „Rekatholisierungsprozess“5 bemerkbar, der neben den eher vage werdenden sozialpolitischen Anspruch als eigentliches ideologisches Ferment einen dogmatischen Katholizismus setzte, der zunehmend die Handschrift der integralistischen Hierarchie trug. Die kämpferischen Kapläne der Frühzeit der christlichsozialen Bewegung waren in die Jahre gekommen und wurden zunehmend empfänglich für wohlwollende Gesten der Bischöfe, über die der Weg zum Prälatentitel führte. Ihnen folgte bereitwillig das charakteristisch schmale Segment der katholischen Akademiker vor allem im Wiener Raum. Bei Kriegsbeginn war die Christlichsoziale Partei also eine verlässliche Stütze von Thron und Altar, der im November 1918 der Thron abhanden kommen sollte, zu dem man aber im Verlaufe des sich „ausweitende[n] Kriegsabsolutismus“ und den damit verknüpften „Maßnahmen gegen die Interessen der agrarischen und gewerblichen Bevölkerung, dem wichtigsten christlichsozialen Wählerpotential“, durch „rigorose Einberufungen zum Militärdienst“, durch „immer höhere Ablieferungsquoten“ bei den Agrarprodukten und, damit eng verknüpft, durch die „schonungslose Requirierungspraxis“ sowie durch die „zentrale staatlich beaufsichtigte Bewirtschaftung fast aller Grund- und Gebrauchsgüter“ vor allem außerhalb Wiens auf Distanz zu gehen begonnen hatte.6 Die dezentralen Kräfte, die seit der Niederlage von 1911 die Partei charakteristisch formten, verlagerten den „Schwerpunkt der Christlichsozialen von der Reichshauptstadt … auf die Länder, vom Kleinbürgertum zur konservativen Bauernschaft“ und ließen 1918 einen „Antagonismus zwischen der Wiener ,KerngruppeÐ, die zunehmend stark von der Persönlichkeit Ignaz Seipels geprägt war, … und den Bundesländerrepräsentanten“ sichtbar werden.7 4 Karl Lueger, Testament, zit. n. Ludwig Reichhold, Karl Lueger. Die soziale Wende in der Kommunalpolitik, Wien 1989 (Kurzbiographien. Karl von Vogelsang-Institut), S. 15. Mit dieser Formulierung wandte sich Lueger sichtlich gegen das Konzept der „Klasse“. 5 Hanisch, Schatten (Anm. 3), S. 119. 6 Staudinger, Partei (Anm. 1), S. 160 f. 7 Helmut Wohnout, Bürgerliche Regierungspartei und weltlicher Arm der katholischen Kirche. Die Christlichsozialen in Österreich 1918 – 1934, in: Michael Gehler/Wolfram Kaiser/

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Anfang Oktober 1918 unterstrich der Sprecher der Christlichsozialen bei einer Unterredung der Parteienvertreter mit Kaiser Karl in Schönbrunn, der Tiroler Landeshauptmann Josef Schraffl, noch das Bekenntnis zur monarchischen Regierungsform, während im Vollzugsausschuss der Provisorischen Nationalversammlung der Vorarlberger Jodok Fink, wie Schraffl Repräsentant der Bauernschaft, durchaus an der Hinwendung zur Republik, wie sie nun deutlicher von der Sozialdemokratie artikuliert worden war, mitwirkte. Als Kaiser Karl am 10. November den Wiener Erzbischof Gustav Kardinal Piffl ersuchte, auf den interimistischen Obmann der Christlichsozialen, den Prälaten Johann Nepomuk Hauser, einzuwirken, der Monarchie die Treue zu halten, hatte der langjährige Landeshauptmann von Oberösterreich und Nachfolger Finks im Vollzugsausschuss längst auf den Wandel in der Stimmungslage seiner bäuerlichen Wählerklientel reagiert und trat gegenüber seinem Parteifreund Prälat Ignaz Seipel, Sozialminister der letzten kaiserlichen Regierung, für eine Abdankung des Kaisers und damit für einen reibungslosen Übergang zur Republik ein. Seipel stieß mit dieser Forderung beim Wiener Kardinal, den er an diesem Tag aufsuchte, auf Widerstand. Zwischen der kaiserlichen Regierung und der sich etablierenden neuen politischen Macht pendelnd, entschied sich Seipel, der Kaiser Karl durchaus noch bei den künftigen Friedensverhandlungen einsetzen wollte, zur Strategie eines leisen Austritts Habsburgs aus der Geschichte. Während der Entwurf Karl Renners für das letzte kaiserliche Manifest eine klare Abdankung nach dem Vorbild des deutschen Kaisers formulierte, redigierte das kaiserliche Kabinett eine auf Seipel zurückgehende Variante.8 So akzeptierte Karl schließlich ohne Einschränkungen die künftige Entscheidung, „die Deutschösterreich über seine … Staatsform trifft“, und verband damit gleichzeitig den Verzicht „auf jeden Anteil an den Regierungsgeschäften“.9 Charles A. Gulick sieht darin ein „typisches Jesuitenstück“ des Prälaten10, da er in dieser weichen Formulierung die Basis für künftige Restaurationsbestrebungen zu erkennen meint. Klemperer wendet sich gegen diese Interpretation, da er eine spätere Argumentation Seipels aufnehmend festhält, dass „diese Formulierung … es den konservativen Kreisen ermöglicht“ hätte, „den Übergang von der Monarchie zur Republik zu bewältigen“.11 Zweifellos war zu diesem Zeitpunkt vor allem „in den christlichsozialen Kreisen in Wien noch eine gewisse Sympathie für die Habsburger und die monarchistische Staatsform“ vorhanden.12 Um die Einheit der Partei zu sichern, griff man auf ein Mittel zurück, das nur deshalb durchschlagend Erfolg versprechen konnte, weil man in Helmut Wohnout (Hrsg.), Christdemokratie in Europa im 20. Jahrhundert, Wien/Köln/Weimar 2001, Bd. 1, S. 182 f. 8 Klemens von Klemperer, Ignaz Seipel. Staatsmann einer Krisenzeit, Graz/Wien/Köln 1976, S. 79 f. 9 Kaiserliches Manifest vom 11. November 1918, zit. n. Christine Klusacek/Kurt Stimmer, Dokumente zur österreichischen Zeitgeschichte 1918 – 1928, Wien/München 1984, S. 40. 10 Charles A. Gulick, Österreich von Habsburg zu Hitler, Wien 1948, Bd. 1, S. 94. 11 Klemperer, Seipel (Anm. 8), S. 80. 12 Gulick, Österreich (Anm. 10), Bd. 1, S. 96.

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den Jahren seit Luegers Tod die Partei eben einem „Rekatholisierungsprozess“ unterworfen hatte. Nach Rücksprache mit der Parteiführung ließ Kardinal Friedrich Gustav Piffl den Klerus seiner Diözese wissen: „Inzwischen hat die provisorische Nationalversammlung Deutschösterreich als Republik erklärt. Über diese vollzogenen Tatsachen sind die Gläubigen entsprechend aufzuklären und zur unbedingten Treue gegenüber dem nun rechtmäßig bestehenden Staate Deutschösterreich zu ermahnen.“13 Seipels Taktik, dass nach der Entscheidung des Kaisers, die künftige Staatsform ohne Einschränkungen anzuerkennen, aus dem Verzicht „auf jeden Anteil den Staatsgeschäften“ de facto eine Abdankung wurde, ging damit auf. Piffls Vergatterung der Gläubigen „zur unbedingten Treue gegenüber dem nun rechtmäßig bestehenden Staate“ verhinderte vor allem im Großraum Wien eine Zerreißprobe der Christlichsozialen, da damit dem hier möglicherweise noch relativ starken Anteil an monarchistischen Gruppen jeder Rückhalt genommen worden war. Dieser entschiedene Schwenk der Kirchenleitung wurde noch ganz im Sinne einer praktischen Theologie ausgeweitet, indem der Kardinal festhielt, dass „für den künftigen Wahlkampf“ die „Parole ,Monarchie oder RepublikÐ … grundsätzlich zurückzustellen“ wäre.14 Piffls noch vierzehn Tage vorher ausgesprochene Parole „Gut und Blut für unseren Kaiser, Gut und Blut für unser Vaterland!“ war damit hinfällig; der Partei, aber vor allem dem jungen Staat blieb damit eine relevante monarchistische Fundamentalopposition erspart.15 In dieser Situation, in der der Übergang von der Monarchie zur Republik im Staatsrat nur mit drei Gegenstimmen akzeptiert und schließlich am 12. November in der Provisorischen Nationalversammlung einstimmig angenommen worden war, nachdem der spätere Bundespräsident Wilhelm Miklas ein erstes öffentliches Zeugnis seiner Flexibilität abgelegt hatte, galt Piffls Sorge ausschließlich der Sicherung des „Besitzstandes der Kirche“, den er durch den als antiklerikal empfundenen Laizismus der Sozialdemokraten gefährdet sah.16 Rigide reagierte man im christlichsozialen Umfeld, wenn man auf legitimistische Blockbildung in den eigenen Reihen stieß. Als 1922 im ohnehin schmalen Segment katholischer Studenten in Wien eine neue Korporation gestiftet wurde – ihre Anhänglichkeit an die abgetretene Dynastie brachte sie im Namen „Maximiliana“ zum Aus13

Schreiben Kardinal Piffls an den Klerus der Erzdiözese Wien vom 12. November 1918, zit. n. Walter Goldinger/Dieter A. Binder, Geschichte der Republik Österreich 1918 – 1938, Wien/München 1992, S. 24. 14 Schreiben Kardinal Piffls an den Klerus der Erzdiözese Wien vom 12. November 1918, zit. n. Goldinger/Binder, Geschichte (Anm. 13), S. 24 f. 15 Weder während der Ersten Republik noch im sogenannten „Ständestaat“ gelang es den weiterhin noch bestehenden legitimistischen Zirkeln, politisch gravierend Position zu beziehen. Vgl. dazu Helmut Wohnout, Das Traditionsreferat der Vaterländischen Front. Ein Beitrag über das Verhältnis der legitimistischen Bewegung zum autoritären Österreich 1933 – 1938, in: Österreich in Geschichte und Literatur 36 (1992), S. 65 – 82. 16 Eine vergleichbare Wende vollzog sein Nachfolger Theodor Innitzer angesichts der nationalsozialistischen Machtübernahme im März 1938; aus dem bedingungslosen Befürworter und Nutznießer des „autoritären“ Österreichs wurde im März der öffentlichkeitswirksame Kollaborateur der Nationalsozialisten.

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druck –, handelte der Wiener CV, eine verlässliche Stütze von Partei und Altar, ähnlich heftig, wie in den Jahren des universitären „Kulturkampfes“ die liberalen Bünde auf die sich formierenden katholischen Korporationen reagiert hatten. Man sprach dieser deklariert legitimistischen katholischen Korporation aus „Platzmangel und wegen der politischen Einstellung“ das Recht auf die Teilnahme am „Farbenbummel“ im Innenhof der Universität ab, nachdem dies zuvor vom Rektorat genehmigt worden war.17 Andererseits wird bei dieser Gründung noch ein weiteres Phänomen deutlich. Die Gründungsmitglieder kamen aus dem bildungs- und kleinbürgerlichen Milieu18 ; Repräsentanten der alten feudalen Schicht fehlten hier ebenso wie bei dem kurz danach gegründeten schlagenden legitimistischen Corps „Ottonia“. Seit dem Josephinismus befand sich die österreichische Aristokratie weitgehend im Rückzug ins Private, wobei dieser Prozess noch durch die Ausrufung der Republik beschleunigt wurde.19 Damit fehlten den legitimistischen Zirkeln für nennenswerte Aktivitäten aber die potentiellen Geldgeber und aussagekräftigen Frontmänner. Die von den Sozialdemokraten geforderte Trennung von Kirche und Staat reichte in die Gründungsphase der Partei zurück und wurde auf dem Parteitag von Hainfeld 1888/89 programmatisch definiert20, wobei man sich bei dieser Forderung durchaus im Einklang mit den Liberalen sah. Man formulierte die Religion als Privatsache und folgerte daraus konsequent ein konfessionsloses Schulwesen und die Einführung der

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Julius Brachetka, Zum 65. Geburtstag der KÖL Maximiliana, in: Gerhard Fritz/Gottfried Arnegger/Norbert Fürstenhofer (Hrsg.), Maximiliana. Zeichen des Widerstandes 1922 – 1987, Wien 1987, S. 11 – 13. 18 Von den elf Gründungsmitgliedern entstammten lediglich zwei, ein Geistlicher und ein pensionierter Oberst, nobilitierten Familien, doch gehört dieser „Bagatelladel“, der seit Franz I. treuen Staatsdienern und erfolgreichen Unternehmern in reichem Maße zukam, eindeutig zur sozialen Schicht des Bürgertums. 19 Zweifellos war der kleinbürgerliche Mief der Christlichsozialen nicht dazu angetan, dass dieses Milieu sich dort politisch ernsthaft engagierte. Jene Aristokraten, die sich schließlich innerhalb der unterschiedlichen Heimwehrformationen betätigten, waren weit weniger durch ihre familiäre Herkunft als vielmehr durch ihre Zugehörigkeit zur „Frontkämpfergeneration“ geprägt. Dieser spezifische Aktivismus tritt besonders deutlich bei Ernst Rüdiger Fürst von Starhemberg in Erscheinung, der nach dem Ende seiner Offizierslaufbahn in Innsbruck das Studium aufnahm, in Deutschland Freikorpskämpfer wurde, am „Marsch auf die Feldherrnhalle“, also an Hitlers Putschversuch in Bayern 1923, teilnahm, als Führer der Heimwehr entschiedener Repräsentant des Austrofaschismus wurde und schließlich als Angehöriger der französischen Luftwaffe am Kampf gegen Nazideutschland teilnehmen wollte. Erst mit der Flucht seiner Staffel vor den vorrückenden deutschen Armeespitzen 1940 nach England endete dieses Engagement. 20 Das Ergebnis des Hainfelder Parteitages, Die Prinzipien – Erklärung, Punkt 5: „Im Interesse der Zukunft der Arbeiterklasse ist der obligatorische, unentgeltliche und konfessionslose Unterricht in den Volks- und Fortbildungsschulen sowie unentgeltliche Zugänglichkeit sämtlicher höherer Lehranstalten unbedingt erforderlich, die notwendige Vorbedingung dazu ist die Trennung der Kirche vom Staate und die Erklärung der Religion als Privatsache.“ Zit. n. Klaus Berchtold, Österreichische Parteiprogramme 1868 bis 1966, Wien 1967, S. 137 – 144, hier S. 139.

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Zivilehe.21 Während sich der kämpferische Antiklerikalismus primär gegen die katholische Kirche richtete und seine organisatorische Basis im sozialdemokratisch verankerten Freidenkerbund fand22, wurde die Debatte noch aus Sicht der Kirche durch die Forderung nach Abschaffung des § 144 Strafgesetzbuch (Abtreibung) verschärft. Eherechtsreform, Schulpolitik und die Abtreibungsdiskussion definierten wesentliche Positionen des politischen Katholizismus während der Ersten Republik und fermentierten noch Positionen in der Zweiten Republik.23 Die katholische Hierarchie, die 1855 im Konkordat ihre völlig überzogenen Vorstellungen verwirklicht sah, erlebte die Kündigung des Konkordates in der liberalen Ära als „Existenzschock“ und fürchtete nun 1918/19 eine radikale Umsetzung der Trennung von Kirche und Staat. Die „Sever-Ehen“, also die Notzivilehen, die mit einem Kirchenaustritt verbunden waren, wurden als Kirchenkampfinstrumentarium interpretiert.24 In der sozialdemokratischen Forderung nach einer „freien Schule“ und im sozialdemokratischen Schulreformansatz sah man einzig deren Bestreben, die Kinder aus der „blinden Gläubigkeit“ von Schule und Elternhaus zu befreien, um der Kirche so das Fundament zu nehmen.25 Die medizinische, soziale und eugenische Indikationsdebatte der Sozialdemokratie26 wiederum berührte die katholische Kirche in einem tatsächlich fundamentalen Bereich, in dem sie nicht einmal ansatzweise einen Spielraum zu einem Kompromiss haben konnte. Letzteren Aspekt nahm die Sozialdemokratie Ende der 1920er Jahre selbst aus der politischen Debatte, um den „Kulturkampf“ nicht unnotwendigerweise zu verschärfen. Mit der Einführung der obligatorischen Zivilehe 1938 durch die nationalsozialistischen Machthaber wurde ein Schlussstrich unter die Debatte gezogen, die nach dem Mai 1945 nicht 21 Paul Michael Zulehner, Kirche und Austromarxismus. Eine Studie zur Problematik Kirche – Staat – Gesellschaft, Wien 1967. 22 Franz Sertl, Die Freidenkerbewegung in Österreich im Zwanzigsten Jahrhundert, Wien 1995. 23 Maximilian Liebmann, Österreich, in: Erwin Gatz (Hrsg.), Kirche und Katholizismus seit 1945. Bd. 1: Mittel-, West- und Nordeuropa, Paderborn/München/Wien 1998, S. 283 – 315; John W. Boyer, Political Catholicism in Austria, 1880 – 1960, in: Günter Bischof/Anton Pelinka/Hermann Denz (Ed.), Religion in Austria, New Brunswick/London 2005 (Contemporary Austrian Studies 13), S. 6 – 36. 24 Ulrike Harmat, Die Auseinandersetzungen um das Ehescheidungsrecht und die sog. „Sever-Ehen“ 1918 – 1938, phil. Diss Wien 1996. 25 Vgl. Maximilian Liebmann, Von der Dominanz der katholischen Kirche zu freien Kirchen im freien Staat – vom Wiener Kongress bis zur Gegenwart, in: Rudolf Leeb/Maximilian Liebmann/Georg Scheibelreiter/Peter G. Tropper, Geschichte des Christentums in Österreich. Von der Spätantike bis zur Gegenwart, Wien 2003, S. 361 – 456, hier S. 397 – 406. 26 Karin Lehner, Verpönte Eingriffe. Sozialdemokratische Reformbestrebungen zu den Abtreibungsbestimmungen in der Zwischenkriegszeit, Wien 1989; Doris Byer, Rassenhygiene und Wohlfahrtspflege. Zur Entstehung eines sozialdemokratischen Machtpositivs in Österreich bis 1934, Frankfurt a.M./New York 1988; Heinz Eberhard Gabriel/Wolfgang Neugebauer (Hrsg.), Vorreiter der Vernichtung? Eugenik, Rassenhygiene und Euthanasie in der österreichischen Diskussion vor 1938. Zur Geschichte der NS-Euthanasie in Wien III, Wien/ Köln/Weimar 2005.

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mehr nachhaltig aufgegriffen wurde.27 Mit dem Kompromiss in der Schulfrage 1926 stabilisierte man auch dieses Spektrum, wenngleich die Bischöfe nach dem Staatsstreich 1933 bei der Regierung des autoritären „Ständestaates“ intervenierten, das Schulwesen wiederum drastisch zu konfessionalisieren, was diese bereits im Frühjahr 1933 erledigte.28 Wiewohl der konfessionelle und kirchenkämpferische Hintergrund der Debatte längst historisiert und wohl auch weitgehend vergessen ist, reagieren bis in die Gegenwart einzelne katholische Lobbyisten und ÖVP-Schulpolitiker auf Schulreformvorschläge aus dem sozialdemokratischen Milieu in der Regel wie der Pawlowsche Hund: Schon beim leisesten Ton speichelt man ein und verneint kategorisch. Die Indikationslösung, wie sie schließlich in der Strafrechtsreform unter Bruno Kreisky Wirklichkeit wurde, beschäftigt die ÖVP im Gegensatz zur katholischen Kirche in der Gegenwart nicht mehr. Zweifellos aber bildete dieser Fragenkomplex, Reform des Eherechts, Schulreform und Abtreibungsdebatte, das Fundament für den Bruch der Koalition zwischen Sozialdemokraten und Christlichsozialen, während man in den großen Fragen der Verfassung und Sozialgesetzgebung durchaus kompromissfähig war. Nachdem die Christlichsozialen am 27. November 1918 in einer Kundgebung an die Parteimitglieder sich nochmals ausdrücklich zur republikanischen Staatsform und gegen die „Aufrichtung einer Parteidiktatur“ bekannt hatten29, präzisierte man im Wahlprogramm vom Dezember 1918 die Positionen.30 Dabei kam man den föderalistischen Vorstellungen in der Provinz sehr entgegen, indem man an der Spitze der Ausführungen über die künftige Gestaltung des Staates die Rechte der Länder und Gemeinden betonte, während man sich gleichzeitig gegen jeden „überflüssigen Zentralismus“ und für eine evolutionäre Entwicklung der Staatsgestaltung aussprach. Nach dem Schutz der Familie und der Jugend im Sinne des politischen Katholizismus forderte man als „deutsche Partei“ das Selbstbestimmungsrecht für alle deutschsprachigen Gebiete der untergegangenen Monarchie und den Zugang zur Adria. Neben der Hebung der „Pflege nationaler Sitte und Kultur“, der „physischen und moralischen Volksgesundheit“ und der expliziten Bekämpfung des „Geburtenrückganges, der Säuglingssterblichkeit, der Tuberkulose und der Geschlechtskrankheiten“ rief man zum „Abwehrkampf“ gegen die „Korruption und Herrschsucht jüdischer Kreise“ auf. Im Sinne des radikal antisemitischen Flügels um Anton Orel und Leopold Kunschak beschloss man diese Forderung mit einer Ausgrenzungsstrategie: „Als eigene Nation anerkannt sollen die Juden ihre Selbstbestimmung haben; die Herren des deutschen Volks dürfen sie nicht sein.“ Neben allgemeinen sozialen Sicherungsmaß27 Maximilian Liebmann, Die ÖVP im Spiegel der Bischofskonferenzakten von 1945 bis zur staatlichen Anerkennung des Konkordates, in: Robert Kriechbaumer/Franz Schausberger (Hrsg.), Volkspartei – Anspruch und Realität, Wien/Köln/Weimar 1995, S. 253 – 280. 28 Liebmann, Dominanz (Anm. 25), hier S. 413 – 417. 29 Kundgebung der Christlichsozialen an die Parteiangehörigen, Reichspost vom 27. November 1918, zit. n. Berchtold, Parteiprogramme (Anm. 20), S. 355. 30 Das Wahlprogramm der Christlichsozialen Partei, Reichspost vom 25. Dezember 1918, zit. n. Berchtold, Parteiprogramme (Anm. 20), S. 356 – 359.

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nahmen, die die Kriegsfolgen abfedern sollten, widmete man eigene kurze Abschnitte den Zielgruppen des Wahlkampfes. Im ländlichen Bereich ging es um die Förderung der Landwirtschaft, der „Erhaltung und Vermehrung des selbständigen Bauernstandes“ und im Hinblick auf die Kriegsheimkehrer und das ländliche Proletariat ansatzweise um die Enteignung von unproduktivem Großgrundbesitz als Basis für die „Ansiedlung landwirtschaftlicher Dienstboten“ zur Schaffung von „Heimstätten für die aus dem Felde heimgekehrten Krieger“ und „zur Stärkung des ländlichen Gemeinbesitzes“. Im Hinblick auf „Gewerbe- und Handelsstand“ zielte man auf eine Stärkung des „gewerblichen Mittelstandes“ und eine moderne Interessensvertretung. Der öffentlichen und privaten Beamtenschaft verhieß man Schutz vor einer „gänzlichen Proletarisierung“ und gegenüber der Arbeiterschaft betonte man den „Ausbau des Arbeitsschutzes und die Schaffung eines modernen Arbeitsrechtes“. Programmatisch forderte die Partei „die gesetzliche Festlegung der Höchstarbeitszeit und der Mindestlöhne; die Einführung der Alters-, Invaliden- und Arbeitslosenversicherung sowie die Witwen- und Waisenversorgung; die Ausdehnung der Versicherungspflicht für die land- und forstwirtschaftlichen Arbeiter; … die Einbeziehung der Dienstboten, der Heimarbeit und Hausindustrie in die soziale Gesetzgebung“. Ausgehend von einer städtischen Bodenreform appellierte man schließlich an eine „der Zeit entsprechende Wohnungspolitik“ der Kommunen. Angesichts der umworbenen neuen Wählergruppe der Frauen forderte man gleiche Bildungschancen wie für die Männer, den staatlichen Mutterschutz und Schutzbestimmungen für arbeitende Jugendliche und Frauen. Im Hinblick auf das Geschlechterverhältnis postulierte man den „Grundsatz: gleiche Entlohnung für gleiche Arbeit“. Nur „zähneknirschend“, wie Robert Kriechbaumer schreibt, akzeptierten Handel, Gewerbe und Industrie diese vom linken Flügel der Christlichsozialen kommenden Forderungen, die allerdings die „revolutionäre Stimmung auch von erheblichen Teilen der eigenen Basis“ kalmieren sollten.31 Nach den Wahlen zur konstituierenden Nationalversammlung positionierte sich der Klub der Christlichsozialen im Hinblick auf die Verfassungsgestaltung, wobei man dezent von bisherigen Positionen abging. Hieß es noch in der Kundgebung der Partei vom 27. November 1918, dass „in allen grundsätzlichen staatsrechtlichen, sozialen und kulturellen Fragen in unmittelbarer Volksabstimmung“ zu entscheiden wäre32, was ausdrücklich im Wahlprogramm wiederholt worden war33, so relativierte man im Aktionsprogramm34 diesen Passus. „Die Fälle, in denen die unmittelbare Volksabstimmung zu erfolgen haben wird, sind in den Verfassungen des Staates und der Länder genau zu umschreiben. Jedenfalls gehören dazu die endgültige Gut31 Robert Kriechbaumer, Die großen Erzählungen der Politik. Politische Kultur und Parteien in Österreich von der Jahrhundertwende bis 1945, Wien/Köln/Weimar 2001, S. 255. 32 Kundgebung (Anm. 29), S. 354. 33 Wahlprogramm (Anm. 30), S. 356. 34 Das Aktionsprogramm der Christlichsozialen Vereinigung vom 3. März 1919, Reichspost vom 28. Februar und vom 6. März 1919, zit. n. Berchtold, Parteiprogramme (Anm. 20), S. 359 – 363.

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heißung und jede Abänderung der Verfassungen, die Veränderung der Staats- und Landesgrenzen, die Genehmigung staats- und völkerrechtlicher Bündnisverträge und die vorzeitige Abberufung der obersten Vertretungskörper“. Vorwegnehmend sei angemerkt, dass diese plebiszitäre Euphorie im Herbst 1919 angesichts der pragmatischen Vorgehensweise Renners in Verbindung mit Hans Kelsen vom Tapet war.35 Reinhard Owerdieck kommt in seiner Analyse des Parteiendiskurses um die Verfassung zu dem prägnanten Schluss, dass die zeitgenössische Analyse durchaus richtig lag, wenn sie etwa Prälat Johann N. Hauser und seinem Kreis ein positives Gesprächsverhältnis zu den Sozialdemokraten attestierte.36 Mit „Hilfe des zunächst bei den Christlichsozialen noch dominierenden Bauernflügels war eine Verständigung zwischen den Koalitionsparteien vielfach gegen die Forderungen der Wiener Christlichsozialen erreicht worden. So etwa bei der Verfolgung von Kriegsverbrechen der Offiziere, bei der Abschaffung des Adelstitels sowie der Landesverweisung der Habsburger und der Beschlagnahmung ihres Vermögens, wenngleich die Verabschiedung des letzten Gesetzes bereits große Schwierigkeiten gemacht hatte“37. Die Diskussion um die Staatsform war innerhalb der Länder nach dem 16. Oktober seitens der Christlichsozialen pragmatisch und ohne weit ausufernde Diskussion erledigt worden. „Die Christlichsoziale Partei insgesamt band sich … in die Entwicklung der deutschösterreichischen Staatswerdung ein, ohne und damit auch gegen den Kaiser. Sie beteiligte sich an den Ausschüssen der Provisorischen Nationalversammlung, an der Konstituierung des noch unausgesprochen republikanischen Staates am 30. Oktober, am Staatsrat und an der Übernahme deutschösterreichischer Regierungsämter nach diesem 30. Oktober. Insbesondere war sie hauptsächlich verantwortlich an den sukzessiven Übernahmen der staatlichen Zentralverwaltung in die Befugnisse der überwiegend christlichsozial dominierten Landessozialversammlungen, und zwar aus realen, wirtschaftlichen, sozialen und politischen Notwendigkeiten, die auf die Stimmung der christlichsozialen Wählerschaft Bedacht nahmen.“38 II. In den Ländern des im Werden begriffenen Staates war die Situation äußerst unterschiedlich: Während im Westen, im ober- und niederösterreichischen Raum durchaus klare Strukturen und entsprechendes personelles Potential vorhanden war, war die Situation in der Steiermark äußerst kritisch. Die lang anhaltende Dominanz der Katholischkonservativen, das Auseinandertriften des deutsch- und des slo35 Georg Schmitz, Die Vorentwürfe Hans Kelsens für die österreichische Bundesverfassung, Wien 1981, S. 64 f. 36 Reinhard Owerdieck, Parteien und Verfassungsfrage in Österreich. Die Entstehung des Verfassungsprovisoriums der Ersten Republik 1918 – 1920, Wien/München 1987, S. 131 f. 37 Owerdieck, Parteien (Anm. 36), S. 132. 38 Anton Staudinger, Die christlichsozialen Abgeordneten und die Republik, in: Österreich November 1918. Die Entstehung der Ersten Republik, Wien/München 1986, S. 168 – 172, hier S. 172.

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wenischsprachigen Umfeldes, die weitgehende Reduktion auf den bäuerlichen Raum, die im „katholisch-konservativen Bauernverein für die Mittel- und Obersteiermark“39 des Bauern Franz Hagenhofer und in den „Bauernräten“ mündeten, die der Geistliche Josef Steinberger40 in der Oststeiermark zur Durchsetzung regionaler Sonderinteressen organisierte41, ließen eine Modernisierung kaum zu. Erst 1914 kam es zu einer „Christlichsozialen Parteileitung der Städte und Märkte“, nachdem ein solcher Ansatz unter Raimund Neunteufel um die Jahrhundertwende gescheitert war42, doch fehlte es weitgehend an entsprechendem Gewicht in den kleineren Städten und Märkten, während man in Graz ohnehin einer unüberwindbaren, als antiklerikal eingestuften Majorität von Deutschnationalen und Sozialdemokraten gegenüberstand. Dieses Kräfteverhältnis spiegelt die Etablierung des „Wohlfahrtsausschusses“ als eigentliche politische Zentrale in den letzten Tagen der Monarchie und am Beginn der Republik bzw. der provisorischen Landesversammlung am 6. November 1918. In beiden Gremien dominierten die Vertreter der Sozialdemokraten und der Deutschnationalen. Während Steinberger nunmehr in die Rolle des Landesparteisekretärs schlüpfte, kreierte man einen Parteiobmann aus der Retorte, der als Quereinsteiger keinerlei „Stallgeruch“ aufwies, wohl aber als Sohn bzw. Bruder des Vertrauensanwaltes des Diözesanbischofs das notwendige klerikale Vertrauen aufwies. Anton Rintelen zählte als Universitätsprofessor und als Kind des Grazer Bürgertums zu einem bis dahin im katholischen Lager kaum wahrnehmbaren Segment, dem erst die charakteristischen Merkmale der frühen christlichsozialen Akademikergeneration, die Zugehörigkeit zu katholischen Studentenverbindungen, im Wege von Ehrenmitgliedschaften nachgereicht werden mussten.43 Rintelen, der seine akademische Karriere an der Deutschen Universität Prag begonnen hatte, ehe er als Ordinarius für Zivilrecht an die Grazer Universität berufen wurde, hatte während des Krieges zwar im Militärgerichtswesen gleichsam „gedient“, war aber dadurch nicht genötigt, Graz zu verlassen. Er war also bestens mit der Situation vertraut, als er eine Partei übernahm, deren Organisation rudimentär, deren politische Strahlkraft weitgehend auf den ländlichen Raum beschränkt und deren politisches Gewicht innerhalb der 39

Vgl. Martin Moll, Politische Organisationen und öffentlicher Raum in der Steiermark, in: Helmut Rumpler/Peter Urbanitsch (Hrsg.), Die Habsburgermonarchie 1848 – 1918, Band VII/1: Politische Öffentlichkeit und Zivilgesellschaft. Vereine, Parteien und Interessensverbände als Träger der politischen Partizipation, Wien 2006, S. 397 – 449, hier S. 424. 40 Zur Person siehe Dieter A. Binder, Volksbildung und Politik. Am Beispiel Josef Steinbergers und seines Werkes St. Martin, in: Maximilian Liebmann/Dieter A. Binder (Hrsg.), Hanns Sassmann zum 60. Geburtstag. Festgabe des Hauses Styria, Graz/Wien/Köln 1984, S. 39 – 56. 41 Gerhard Pferschy, Steiermark, in: Erika Weinzierl/Kurt Skalnik (Hrsg.), Österreich 1918 – 1938. Geschichte der Ersten Republik, Graz/Wien/Köln 1983, Bd. 2, S. 939 – 960, hier S. 942. 42 Moll, Organisationen (Anm. 39), S. 424. 43 Zum Politiker Anton Rintelen siehe Dieter A. Binder, Anton Rintelen, in: Neue Deutsche Biographie XXI, Berlin 2003, S. 641 f.; zu dessen Vater siehe ders., Anton Rintelen d. Ä., in: Österreichisches Biographisches Lexikon IX, Wien 1988, S. 171.

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neuen politischen Körperschaften marginalisiert war. Hinzu kam die allgemeine politische Situation in einem Land, dessen Grenzen gegen Süden hin ungeklärt waren. So konzentrierte sich Rintelens Partei auf die Wahlen 1919, tief zerfurcht von der Sorge, dass die heimkehrenden Soldaten „marxistisches Gedankengut“ auch in den bäuerlichen Raum tragen könnten. Rintelens und Steinbergers Aufmerksamkeit, getragen von der organisatorischen Hilfe der katholischen Pfarrhäuser, konzentrierte sich nicht unerheblich auf die erstmals zu den Wahlen zugelassenen Frauen, da man in ihnen einen sicheren Schutz vor einer „Bolschewikisierung“ des Landes sah. Intuitiv griff man dabei die Sozialdemokraten an, weniger, weil man um die Stimmen der Arbeiter kämpfte, als vielmehr, weil man sich als die starke antimarxistische Kraft darzustellen suchte. Gleichzeitig kooperierte der am 6. November 1918 in der Provisorischen Landesversammlung zum stellvertretenden Landeshauptmann gewählte Rintelen mit dem Landeshauptmann, dem Deutschnationalen Wilhelm von Kaan, und dem Stellvertreter, der von den Sozialdemokraten nominiert worden war, Josef Pongratz. Auf dieser Ebene präsentierte sich die Christlichsoziale Partei mit pragmatischer Kompetenz, wobei Rintelens Charisma auch auf die Vertreter der anderen Parteien ausstrahlte und Hagenhofer mit den Vertretern der anderen Parteien lösungsorientiert zusammenarbeitete. Dieser Pragmatismus kulminierte in den Abwehrmaßnahmen gegenüber der Räteregierung Bela Kuns in Ungarn. Christlichsoziale und Sozialdemokraten rüsteten gemeinsam Arbeiter-, Bürger- und Bauernwehren auf, die im Eventualfall die äußerst instabile Volkswehr verstärken sollten.44 Rintelen, der letztlich eine Partei übernommen hatte, die noch nicht den voll ausgebildeten Habitus der Christlichsozialen besaß, nutzte das Verharren der Bauernvertreter in ihren Strukturen, um bereits in den ersten Monaten seiner Tätigkeit eine stille Koalition mit dem sich formierenden steirischen Heimatschutz zu schmieden, ohne diesen in die Partei zu integrieren. Er positionierte sich in Personalunion als christlichsozialer Parteiobmann und als oberster Mentor der heterogenen, aggressiv deutschnationalen und antimarxistischen Heimatschützer und etablierte damit jenes nahezu feudale System, das ihm den Namen „König Anton“ einbrachte. Nach dem Wahlsieg der Christlichsozialen 1919 zum Landeshauptmann gewählt, sah sich Rintelen einer komplexen politischen Situation gegenüber: Seine Partei stellte nur die Hälfte der Abgeordneten und vorausblickend musste er damit rechnen, dass diese relative Dominanz rückläufig sein könnte. So gesehen ist es verständlich, dass steirische Christlichsoziale Karl Renners Vorstellungen einer Verwaltungsreform, die demokratisch organisierte Kreisebenen zwischen Land und Gemeinden vorsah, bei einer entsprechenden Gestaltung der Kreise als eine Stärkung ihrer politischen Stellung im Lande sahen, während gerade die Vertreter der dominant christ-

44 Roland Schaffer, Die Volkswehr in der Steiermark, phil. Diss., Graz 2004; Anton Rintelen, Erinnerungen an Österreichs Weg. Versailles, Berchtesgaden, Großdeutschland, München 1941, S. 125 – 130.

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lichsozialen Länder darin eine „vollständige Atomisierung“ und eine „Zerreißung der Länder“ erblickten.45 Ein vergleichbares Bild boten die katholischen Kreise Tirols, wobei auch hier eine „charakteristische Divergenz“ zwischen Konservativen und Christlichsozialen über das Jahr 1918 hinaus zu beobachten war.46 Der in der Volkspartei – sie konstituierte sich durch den Zusammenschluss der Christlichsozialen mit den Konservativen am 27. Oktober 191847 – zusammengefasste politische Katholizismus, der das Land und die Landesregierung weitgehend dominierte, wies allerdings eine wesentlich engere Bindung zur Tiroler Heimwehr auf, die zwar offiziell erst 1920 gegründet wurde, aber bereits 1919 klar sichtbar werden sollte. Auch hier bildeten die Abwehrmaßnahmen im Hinblick auf das Räteexperiment in Bayern die Basis, wobei der dominante Heimwehrführer schließlich als Abgeordneter und als Landesrat Mandatar der Partei wurde, wenngleich innerhalb der Partei aus unterschiedlicher Perspektive heraus kontrapunktische Positionen eingenommen wurden.48 Die „soziale Fragmentierung“ Tirols „zwischen Adel, Klerus und Bauern“ und Vorarlbergs „zwischen Industriellen und Bauern“49, die aber auch Platz für eine spezifische Arbeiterbewegung innerhalb des katholischen Milieus ließ, wurde im politischen Alltagsgeschäft mit Hilfe des katholischen Appells und Selbstverständnisses überwunden und durch eine offen artikulierte Anti-Wien-Haltung stabilisiert, die zwar nicht den republikanischen Grundkonsens, wohl aber die Option im Hinblick auf den proklamierten Anschlusswillen des neuen Staates in Frage stellte.50 Aus dem alten Wahlspruch „Für Gott, Kaiser und Vaterland!“ wurde die Parole „Alles mit Gott für unser Volk!“. Der konservative, betont klerikale und markant monarchistische Flügel um Aemilian Schöpfer trat deutlich zugunsten des Bauernbundes in den Hintergrund, der weniger klerikal dominiert und primär wirtschaftlich orientiert war.51 In ihren Leitsätzen verwies die Volkspartei auf ihr Eintreten für den durch „den Krieg ruinierten Mittelstand“, bezog eine antiliberale und antikapitalistische Position, die auch entsprechend antisemitisch konnotiert war, und verband ihren Antimarxismus mit der Forderung nach einer „geistige[n] und wirtschaftliche[n] Hebung der Arbeiterschaft“.52 Während das liberal-deutschnationale Lager bei den Wahlen am 15. Juni 1919 nahezu marginalisiert worden war, positionierte sich die Volkspartei demonstrativ als eigenstän45 Georg Schmitz, Die verfassungsrechtliche Entwicklung, in: Studien und Forschungen aus dem Niederösterreichischen Institut für Landeskunde 39 (2007), S. 59 – 70, hier S. 67. 46 Hans Haas, Politische, kulturelle und wirtschaftliche Gruppierungen in Westösterreich (Oberösterreich, Salzburg, Tirol, Vorarlberg), in: Rumpler/Urbanitsch, Habsburgermonarchie (Anm. 39), S. 226 – 395, hier S. 344. 47 Richard Schober, Geschichte des Tiroler Landtages, Innsbruck 1984, S. 361. 48 Walter Wiltschegg, Die Heimwehr. Eine unwiderstehliche Volksbewegung?, Wien/ München 1985, S. 152. 49 Haas, Gruppierungen (Anm. 46), S. 344. 50 Josef Riedmann, Geschichte Tirols, Wien/München 1982, S. 221. 51 Schober, Geschichte (Anm. 47), S. 365. 52 Ebd.

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dige Tiroler Kraft gegen die Sozialdemokratie: Diese betonte den „unbedingten und uneingeschränkten Anschluss an die Deutschösterreichische Republik mit dem Fernziel des Eintrittes in das Deutsche Reich“, während die Volkspartei von einer völligen staatsrechtlichen Freiheit des Landes nach dem Erlöschen der Pragmatischen Sanktion ausging und darin ein „nicht unwesentliches Mittel im Kampfe um die föderalistischen Landesrechte“ sah.53 In Salzburg, wo das katholische Vereinswesen schon früh eine weitgehende Immunisierung der Bevölkerung gegen die Sozialdemokratie brachte, hatten sich um die Jahrhundertwende die Konservativen weitgehend mit den Christlichsozialen vereinigt, die primär vom Klerus und von ländlichen Besitzschichten getragen wurden.54 Das markante christlichsoziale Profil verdankte dieses Milieu zweifellos den breitgefächerten katholischen Arbeitervereinen, die überdies mit der christlichsozialen Arbeiterbewegung Wiens kooperierten. So gewann man ein durchaus markantes Profil, antiliberal, antikapitalistisch und antimarxistisch, das entsprechend auch antisemitisch argumentiert wurde. Schließlich fand man 1900 mit der Bildung des „Katholisch-konservativen Arbeiterverein[s] für das Kronland Salzburg“ bzw. ab 1903 als „Christlichsozialer Arbeiterverein“ jene organisatorische Festigkeit, die angesichts des sich profilierenden sozialdemokratischen Potentials nötig wurde. Der „Katholische Bauernbund“ bezog seinerseits Position innerhalb der österreichischen „Kulturkampffragen“, dem Ehe- und Schulwesen, und verknüpfte diese mit pragmatischer Standespolitik. Dennoch gelang es diesem Spektrum, im ländlichen Raum nicht nur die Bauern, sondern durchaus auch Bürger und ländliches Proletariat anzusprechen, eine „ländliche Solidarbindung von Kirche, Dorf und Talschaft politisch zu erneuern“55. Daneben etablierte sich im schmalen urbanen Milieu der „Christlichsoziale Verein“, der aber relativ bedeutungslos blieb. Diese Trägervereine, die wahlpolitische Aktionseinheiten bildeten, vereinigten sich erst am 7. Dezember 1918 unter Einschluss der katholischen Frauenorganisation zur „Christlichsozialen Partei für das Land Salzburg“. Die Kritik an den kriegswirtschaftlichen Maßnahmen hatte ab 1917 zu einer verschärften Kritik des staatlichen Zentralismus geführt; gleichsam aus den Erfahrungen der zentralen Lenkungsmaßnahmen, die man sozialistisch und antisemitisch markierte, argumentierte man 1918/19 entschieden für eine föderalistische Lösung innerhalb der neuen Verfassung.56 In Oberösterreich hatte sich der politische Katholizismus weitgehend selbständig formiert und als „Katholischer Volksverein“ unter Berücksichtigung der relativen 53

Richard Schober, Tiroler Demokratie und Parlamentarismus von den Anfängen bis zur Ersten Republik, in: Irmagrad Kathrein/Heinrich Kienberger/Richard Schober, Parlamentarismus in Tirol. Historische Einführung und die Landesgesetzgebung, Innsbruck 1988, S. 11 – 61, hier S. 44 f. 54 Haas, Gruppierungen (Anm. 46), S. 345. 55 Ebd., S. 349. 56 Vgl. Josef Lackner, Die Rolle der Christlichsozialen Partei bei der Bildung der Salzburger Landesregierung Herbst 1918, in: Salzburg. Geschichte und Politik 3/4, 1 (1991), S. 159 – 175.

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Stärke des katholischen Adels in diesem Lande eine deutlich gemäßigtere Position als die Wiener Christlichsozialen unter Lueger eingenommen.57 Ähnlich wie in der Steiermark lag die Stärke der Partei auf dem Land, während sie in Linz ein Schattendasein führte. Zur markanten Persönlichkeit des Überganges von der Monarchie zur Republik wurde Prälat Hauser, dem es als Landeshauptmann während des Weltkrieges gelang, nicht als „Erfüllungsgehilfe der Kriegsmaschinerie“ aufzutreten, sondern als Schutz vor „unerträglichen Belastungen“ wahrgenommen zu werden.58 So schaffte er 1918 problemlos den Übergang in den neuen Staat, den er nicht nur als Landeshauptmann von Oberösterreich, sondern auch als Klubobmann der Christlichsozialen im Reichsrat zu meistern hatte. Als entschiedener Befürworter der Wiedereinberufung des Reichsrates 1917 war er auch in den Augen der Sozialdemokraten eindeutig als Demokrat legitimiert. Hauser wiederum erkannte im Herbst 1918 in diesen jene politische Gruppierung, mit der „viel eher etwas … zu machen wäre, als mit den anderen“59. Während Seipel als kaiserlicher Minister noch Repräsentant der Monarchie war und im Sinne der Gesamtstaatlichkeit zu agieren hatte, erzwang Hauser innerhalb des Abgeordnetenklubs am 9. Oktober 1918 die grundsätzliche Teilnahme an den „Vorarbeiten für die Konstituierung Deutschösterreichs“60. In einer komplexen Doppelstrategie arbeitete er gemeinsam mit Jodok Fink auf den Übergang zur Republik hin, während er gleichzeitig bemüht war, sich selbst aus der Schusslinie zu bringen, da ihn das kaiserliche Milieu als entscheidenden Faktor innerhalb der Christlichsozialen und deren Richtungsdiskussion im Hinblick auf die künftige Gestaltung der Staatsform wahrnahm und mit Hilfe des Wiener Kardinals zu disziplinieren suchte.61 Nach dem Rücktritt Alois Prinz von und zu Liechtensteins als Parteiobmann, der damit gegen die rasche Akzeptanz der republikanischen Staatsform durch die Partei demonstrierte, übernahm Hauser kurzfristig diese Position, die er schließlich mit jener des Klubobmannes der Christlichsozialen nach den Wahlen im Frühjahr 1919 vereinigte. In dieser Konstellation setzte er gemeinsam mit Fink die Koalition mit den Sozialdemokraten und den Großdeutschen durch, ehe er nach dem Abschluss der Friedensverträge und der Bildung der Koalition mit den Sozialdemokraten am 23. Oktober 1919 seinen Rückzug auf die Landesebene einleitete. Damit kündigte sich die Rückkehr der „Wiener“ an, wiewohl noch Jodok Fink zum Klubobmann gewählt wurde. Allerdings stand ihm bereits Ignaz Seipel als Stellvertreter zur Seite. Am christlichsozialen Parteitag Ende Februar 1920 wurde schließlich Leopold Kunschak zum Parteiobmann gewählt, während Ignaz Seipel endgültig zum starken Mann geworden war, nachdem er zusammen mit Otto Bauer die zweite sozialdemo-

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Haas, Gruppierungen (Anm. 46), S. 351. Harry Slapnicka, Christlichsoziale in Oberösterreich. Vom Katholikenverein 1848 bis zum Ende der Christlichsozialen 1934, Linz 1984, S. 185. 59 Protokoll der Klubsitzung vom 1. Oktober 1918, zit. n. Staudinger, Die christlichsozialen Abgeordneten (Anm. 38), S. 170. 60 Staudinger, Die christlichsozialen Abgeordneten (Anm. 38), S. 171. 61 Slapnicka, Christlichsoziale (Anm. 61), S. 188. 58

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kratisch-christlichsoziale Koalition nach der Ratifizierung des Friedensvertrages ausgehandelt hatte.62 In der Herbsttagen 1918 nahmen die Abgeordneten des Erzherzogtums unter der Enns den Stimmungsumschwung innerhalb ihres Wählerpotentials als Grundlage für ihr Eintreten bei der Konstituierung der Republik. Der niederösterreichische Abgeordnete Josef Stöckler hielt am 21. Oktober 1918 eindringlich fest, dass eine Diskussion um die Frage der Staatsform überflüssig wäre, da im bäuerlichen Umfeld die Monarchie kein Thema wäre, denn die „Bauern kommen als Anarchisten nach Hause“63, während Kunschak nach Ausrufung der Republik „seine“ Arbeiterschaft erst in den letzten Tagen von der Monarchie abrücken ließ.64 Diese Divergenz spiegelt weit weniger die tatsächliche Stimmung der Arbeiterschaft als vielmehr die Stimmung innerhalb des Wiener christlichsozialen Milieus insgesamt. Innerhalb der Partei diente in der Folgezeit die Frage Monarchie oder Republik jenen Mandataren, die eine Zusammenarbeit mit der Sozialdemokratie dezidiert ablehnten, „als Diffamierungsstoff“ gegen jene Parteifreunde, die im „Herbst 1918 für die Republik eingetreten waren und auch später zur Zusammenarbeit mit der Sozialdemokratischen Partei tendierten“.65 Damit wäre Kunschaks Aussage als Immunisierungsstrategie einzuschätzen, die ihn und seinen unmittelbaren Vertretungsbereich als „leidende“ Pragmatiker und nicht als „Motoren“ der Republik präsentierte. „Christlich“ bzw. „christlichsozial“ waren, so Hans Peter Hye, „Attribute, die sich ab den neunziger Jahren in unzähligen Vereinsbezeichnungen fanden“ und „weniger eine besonders enge Bindung an Kirche und (hohen) Klerus als vielmehr an die von Lueger geführte Bewegung bzw. Partei“ meinten; es ging dabei weniger um eine „Spiritualisierung des Alltags … als vielmehr“ um die „antisemitische Gesinnung“, denn christlich meinte „nicht jüdisch“.66 Gleichsam diesen Befund für den niederösterreichischen und Wiener Raum am Ende des 19. Jahrhunderts unterstreichend gaben sich die Wiener Christlichsozialen am 15./16. November 1919 ein Parteiprogramm, das die Partei in der Einleitung als entschiedene Gegnerin des Klassenkampfes im Sinne einer „Volkspartei“ auf „christlicher, deutscher und antisemitischer Grundlage“ definierte.67 Als wesentliches neues Diskussionselement zielte dieses Parteiprogramm auf die Trennung des christlichsozialen ruralen Raumes von der sozialdemokratisch dominierten Großstadt Wien, wobei gleichzeitig ein „Minderheitenschutz“ für die Wiener christlichsozialen Anliegen eingefordert wurde. Bei den 62

Klemperer, Seipel (Anm. 8), S. 108. Klubsitzung vom 9. Oktober 1918 vormittags, zit. n. Staudinger, Die christlichsozialen Abgeordneten (Anm. 38), S. 171. 64 Klubsitzung vom 12. November 1918, zit. n. Staudinger, Die christlichsozialen Abgeordneten (Anm. 38), S. 172. 65 Staudinger, Die christlichsozialen Abgeordneten (Anm. 38), S. 172. 66 Hans Peter Heye, Vereine und politische Mobilisierung in Niederösterreich, in: Rumpler/Urbanitsch, Habsburgermonarchie (Anm. 39), S. 145 – 226, hier S. 193. 67 Das Parteiprogramm der Wiener Christlichsozialen 1919, Reichspost vom 18. November 1919, zit. n. Berchtold, Parteiprogramme (Anm. 20), S. 363 – 371, hier S. 363 f. 63

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Landtagswahlen vom 4. Mai 1919 waren die politischen Verhältnisse in den Rathäusern der Statutarstädte Wien und Wiener Neustadt umgekehrt worden, was auf der Ebene des Landes auch zu einer sozialdemokratischen Dominanz geführt hatte. Angesichts des machtvollen, von Josef Stöckler organisierten Aufmarsches der niederösterreichischen christlichsozialen Bauern in Wien am 29. Juni 1919 kam der in Saint-Germain-en-Laye befindliche Karl Renner zu der Überzeugung, dass die „Demokratie …, wenn sie nicht bloßer Schein sein soll, auf der Herrschaft der Arbeiter und Bauern beruhen“ müsste.68 Dies entsprang Renners Analyse des Wahlergebnisses vom Februar 1919, da er in diesem den klaren Wandel der Christlichsozialen von „einer unzuverlässigen und unklaren Mittelstandspartei mit ihren demagogischen Unberechenbarkeiten“ zu einer klaren „Klassenpartei der bäuerlichen Bevölkerung“ zu erkennen meinte.69 Daraus folgerte Renner die Notwendigkeit, nicht nur auf der Ebene des Gesamtstaates, sondern auch auf der zu schaffenden demokratischen Bezirksebene eine Koalition der Arbeiter und Bauern durchzusetzen. „Renner hat mit den Plänen für eine Verwaltungsreform in Niederösterreich, allerdings erfolglos, versucht, diese Koalition zustande zu bringen. Die Christlichsoziale Partei hätte sich dadurch zu einer unbedeutenden Kleinpartei entwickelt.“70 Im Zuge der Verfassungsdiskussion wurde durch die Teilung des Landes in zwei Bundesländer eine Regelung gefunden, die den Christlichsozialen im ländlichen Raum eine gesicherte Position bot, während die Sozialdemokraten die Metropole des untergegangenen Reiches zum „Roten Wien“ ausbauen konnten. Es ist dabei ziemlich gleichgültig, ob parteitaktisches Kalkül oder die Argumentation der westlichen Länder bei den Länderkonferenz im Februar und im April 1920, dass „nicht mehr als die Hälfte des Staatsvolkes … in einem Bundesland leben“71 sollte, den Ausschlag gab. Um 1900 formierten sich die Christlichsozialen in Westungarn, wobei sich aus der Katholischen Volkspartei 1905/07 die Orsz‚gos Kreszt¦ny Socialista P‚rt unter dem Prälaten Alexander Giesswein, der dem Domkapitel von Györ angehörte, und dem Soproner Stadtpfarrer Johannes Huber, einem gebürtigen Donnerskirchner, herausbildete.72 Huber war bereits vor 1900 mit einer eigenen, in Budapest herausgegebenen deutschsprachigen Zeitung, dem „Neue[n] kleine[n] Journal“ als Sprecher der

68 Brief Karl Renners an den christlichsozialen Abgeordneten Franze Parrer vom 6. Juli 1919, zit. n. Georg Schmitz, Karl Renners Briefe aus Saint Germain und ihre rechtspolitischen Folgen, Wien 1991, S. 68. 69 Karl Renner in einem Zeitungsinterview, Reichspost vom 1. März 1919, zit. nach Schmitz, Briefe (Anm. 68), S. 68. 70 Schmitz, Entwicklung (Anm. 45), S. 70. 71 Karl Gutkas, Niederösterreich, in: Weinzierl/Skalnik, Österreich (Anm. 41), S. 841 – 872 , hier S. 845; Karl Gutkas, Geschichte Niederösterreichs, Wien/München 1984, S. 249. 72 Gerald Schlag, Burgenland, in: Weinzierl/Skalnik, Österreich (Anm. 41), S. 764. Seltsamerweise geht Friedrich Gottas in seiner Analyse der Parteienentwicklung in den Ländern der ungarischen Krone nicht auf Westungarn ein. S. Friedrich Gottas, Vereine, Parteien und Interessensverbände der ungarländischen Deutschen, in: Rumpler/Urbanitsch, Öffentlichkeit (Anm. 39), S. 1205 – 1241.

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deutschen, katholischen Minderheit hervorgetreten.73 Diese westungarische Parteienbildung war, folgt man Gerald Schlag, in ihrer Aufwärtsentwicklung vor 1914 deutlich vom Wiener Einfluss geprägt.74 Trotz der Zäsur durch den Weltkrieg und die Rätediktatur wurde diese Gruppierung als Christlichsoziale Wirtschaftspartei (Kereszt¦ny Szoci‚lis Gazdas‚gi P‚rt) tragendes politisches Element in der Phase der Abtrennung Westungarns und der Eingliederung in Österreich. In ihrem Organ, dem „Christlich Ödenburger Tagblatt“ bekannte man sich zu „einem militanten Christentum, zum schärfsten Kampf gegen den Marxismus, zum Deutschtum und zu Ungarn“.75 Die Erfahrung des Räte-Regimes unter Bela Kun war in der aggressiven antimarxistischen Ausrichtung wohl prägender als anderswo und beeinflusste auch die negative Haltung gegenüber einem Anschluss Westungarns an Österreich, in dem die Linke eine führende Position inne hatte. Überdies, so meint Schlag, fühlte man sich „mitverantwortlich für das gesamte Deutschtum Ungarns und fürchtete, dass nach der Abtrennung des westungarischen Grenzstreifens die ungarländischen Deutschen geschwächt und, von einer neuen Magyarisierungswelle erfasst, politisch und kulturell untergehen würden“. Zu diesem Zeitpunkt formierten der Frauenkirchner Gregor Meidlinger und der Rechnitzer Franz Binder in Wien die „Burgenländische christlichsoziale Partei“, der sich prominente westungarische Christlichsoziale wie Michael Gangl, Johann Thullner, Alfred Ratz und Anton Schreiner anschlossen. Mit der endgültigen Angliederung des westungarischen Gebietes an Österreich Ende 1921 zogen sich die bewussten „Deutschungarn“ nach Ödenburg/Sopron zurück76, während sich die „Burgenländer“ mit den österreichischen Christlichsozialen vereinigten, wobei Spannungen zur Abspaltung der „Burgenländischen Volkspartei“ führten. Innerhalb der burgenländischen Kroaten orientierte sich das nördliche Siedlungsgebiet eher an Wien, vielfach der Ort der Arbeitstätigkeit, während sich die Intelligenz des Oberpullendorfer Raums eher für einen Verbleib bei Ungarn aussprach. Hier kam es im Herbst 1923 zur Gründung einer eigenen Partei, der „Hrvatska Stranka“, die bei den ersten Wahlen wenige Wochen später eine vernichtende Niederlage bezog und bei „wachsendem behördlichen Misstrauen ihre Agitation fortsetzte, bis sie 1927 durch ihre Fusion mit der Christlichsozialen Partei dieses Unbehagen zu bannen vermochte“77. Im Burgenland, das in wesentlichen Fragen nach dem bisherigen ungarischen Rechtssystem verwaltet wurde, kam es zu einer speziellen Variante des „Kulturkampfes“. Während das Eherecht, das die obligatorische Zivilehe vorsah, gegen das die Christlichsozialen sofort ankämpften, im Sinne der sozialdemokratischen und liberalen Kräfte war, bildete für diese das ungarische Schulrecht mit 73 Petronilla Ehrenpreis, Die „reichsweite“ Presse in der Habsburgermonarchie, in: Rumpler/Urbanitsch, Öffentlichkeit (Anm. 39), Bd. 2, S. 1715 – 1818, hier S. 1893. 74 Schlag, Burgenland (Anm. 72), S. 764. Allerdings findet man im breit angelegten Band über das Parteienwesen der Habsburgermonarchie (Rumpler/Urbanitsch, Öffentlichkeit [Anm. 39]) keinen Hinweis auf diese regionale Entwicklung. 75 Zit. n. Schlag, Burgenland (Anm. 72), S. 764. 76 August Ernst, Geschichte des Burgenlandes, Wien/München 1987, S. 204. 77 Ebd., S. 205.

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einer nahezu absoluten katholischen bzw. klerikalen Dominanz den Stein des Anstoßes.78 Während in Österreich seit dem Reichsvolksschulgesetz 1869 bereits 90 % der Pflichtschulen nichtkonfessionelle öffentliche Schulen waren, waren im Burgenland von 365 Volksschulen 232 in katholischer, 64 in evangelischer und sieben in jüdischer Trägerschaft.79 Trotz der Mehrheit der sozialdemokratischen und liberalen Parteien im Landtag verteidigten die Christlichsozialen ihre Position in der Schulfrage, die sie im Landtag nicht durchzusetzen vermochten, mit Hilfe des Unterrichtsministeriums und mit Hilfe der Seipelschen Interventionspolitik.80 Innerhalb des gesamten Spektrums der christlichsozialen Wählerrekrutierung im Burgenland mit seiner dominant agrarischen Struktur zeigte sich bereits am Beginn der Republik ein bemerkenswertes Phänomen – den Sozialdemokraten war sichtlich ein erheblicher Einbruch im ländlichen Raum gelungen. Während im Burgenland durchaus von einem Kopf-an-Kopf-Rennen der beiden großen Parteien gesprochen werden muss, zeigt die Situation im ebenfalls dominant agrarisch geformten Kärnten die Christlichsozialen in einer absoluten Minderheitensituation. „Die Schwäche der Christlichsozialen in Kärnten war atypisch, wenn man bedenkt, dass diese Partei bei den Wahlen in den anderen österreichischen Bundesländern zwischen 40 und 60 Prozent der Stimmen erzielte und sogar in Wien auf einen Anteil von über 30 Prozent kam.“81 Hatte dieses Spektrum noch bei den Reichsratswahlen 1907 25 Prozent der Stimmen und eines von zehn Mandaten erworben, so schaffte es 1911 den Sprung nicht mehr in den Reichsrat und erzielte 1921 nur mehr 18,3 Prozent. Zwischen 1869 und 1914 etablierte sich eine charakteristische katholische Vereinsstruktur, die im „Kärntner Blatt“ ein entsprechendes Publikationsorgan besaß, doch blieb man mit knapp vierzig Vereinen82 deutlich hinter den konkurrierenden politischen Milieus zurück. Zu keinem Zeitpunkt kam man auch nur ansatzweise an die sozialdemokratische Vereinsstruktur und schon gar nicht an das Netzwerk des deutschnationalen-liberalen Lagers heran.83 Als Sprachrohr der katholischen Kirche positionierten sich die katholischen Vereine gegen den Liberalismus, warnten vor der Gefahr einer Dechristianisierung der Bevölkerung und bezogen im slowenisch-katholischen Milieu Position gegen die „Verdeutschungs78 Charlotte Heidrich, Burgenländische Politik in der Ersten Republik. Deutschnationale Parteien und Verbände im Burgenland vom Zerfall der Habsburgermonarchie bis zum Beginn des autoritären Regimes (1918 – 1933), Wien/München 1982, S. 94 – 106. 79 Alfred Lang, Bildung, Wissenschaft und Forschung. Zwischen burgenländischer Schulschande und Europäischer Friedensuniversität, in: Elisabeth Deinhofer/Traude Horvath (Hrsg.), Grenzfall. Burgenland 1921 – 1991, Veleki Borisˇtof/Großwarasdorf 1991, S. 219 – 244, hier S. 221. 80 Schlag, Burgenland (Anm. 72), S. 768. 81 Hellwig Valentin, Der Sonderfall. Kärntner Zeitgeschichte 1918 – 2004, Klagenfurt/ Celovec – Lubljana/Laibach – Wien/Dunaj 2005, S. 61. 82 Avgusˇtin Malle, Vereine in Kärnten, in: Rumpler/Urbanitsch, Öffentlichkeit (Anm. 39), S. 451 – 501, hier S. 475; Werner Drobesch, Vereine und Verbände in Kärnten (1848 – 1938), Klagenfurt 1991, S. 61 f. 83 Malle, Vereine (Anm. 82), S. 482.

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sucht“.84 Prinzipiell zielten sie auf die Etablierung einer katholischen Volkspartei, wobei man sich primär als Repräsentant der bäuerlichen Bevölkerung sah. Die „Katholische Volkspartei“ allerdings blieb bei den Wahlgängen im späten 19. Jahrhundert traditionell erfolglos. Das gemeinsame Auftreten beider Volksgruppen im Volksverein endete 1890 durch die Bildung des „Katolisˇko-politicˇno in gospodarsko drusˇtvo za Slovence na Korosˇkem“, doch blieb man durchaus kooperationsbereit, und beide Gruppen vollzogen nun auch den Wandel vom katholisch-konservativen zum christlichsozialen Verein. Die Verdichtung des christlichsozialen Milieus führte in enger Verbindung mit dem aktivistischen Anteil des Kärntner Klerus zur Gründung der „Zentralkasse der landwirtschaftlichen Genossenschaften in Kärnten“, deren Zusammenbruch in der mehrheitlich antiklerikalen Öffentlichkeit als Ergebnis einer charakteristischen Mischung von Katholizismus und Korruption nicht ganz zu Unrecht interpretiert wurde85 und zu einem dramatischen Einbruch in der christlichsozialen Wählerschaft 1911 führte. Den Christlichsozialen war es nicht gelungen, über ihre traditionellen Gebiete im äußersten Westen und Osten des Landes nennenswerte weitere Gebiete zu erschließen. Außerhalb dieser Regionen konnten sie kaum im bäuerlichen Milieu Fuß fassen, da die Mehrheit der Bauern ihre politische Heimat im „Kärntner Bauernbund“ fand, aus dem der „Landbund“ hervorgehen sollte. Der „Christliche Bauernbund“, der 1914 seine Tätigkeit aufnahm, blieb daher nur ein schwächelnder Konkurrent, verschärfte aber wohl die Konfliktlinie zwischen der Interessensvertretung der Bauern und jenen der Landarbeiter, soweit diese nicht ohnehin zu den Sozialdemokraten tendierten. „Paradoxerweise waren die Christlichsozialen in den Städten, wo sie sich für Konsumenteninteressen einsetzten, stärker als am Land.“86 Während sich das katholische Milieu vor 1914 häufig einer stillen Koalition der Deutschnationalen mit den Sozialdemokraten gegenübersah, deren gemeinsame Basis in der Ablehnung des Klerikalismus und in liberalen Traditionen lag, attackier84

Ebd., S. 476. Paul Kayser und Karl Wohllandt, zwei Kapläne der Diözese Gurk, hatten 1901/02 Waisenhäuser gegründet, die auf dem Namen Kaysers ins Grundbuch eingetragen wurden. Um für diese und für eine 1903 errichtete Dienstboten- und Erziehungsanstalt die notwendigen Betriebsmittel zu erwirtschaften, kaufte Kayser landwirtschaftliche Liegenschaften auf und gründete gemeinsam mit Nikolaus von Palese die Holzhandelsgesellschaft „Palese und Kayser“. Statt des erhofften Gewinns musste Kayser die Liegenschaften mit überhöhten Krediten belasten, zu denen noch 1908 Bürgschaften des nicht mehr wirklich geschäftsfähigen Gurker Fürstbischofs, des St. Josefs-Verein, des Abtes von Tanzenberg und der Zentralkasse für einen Kredit in der Höhe von 1 300 000 Kronen kamen. Am 10. September 1910 kam es zum Konkurs der Firma und die Bürgschaften wurden schlagend. Kayser und Palese wurden wegen fahrlässiger Krida, Kayser zusätzlich wegen schweren Betrugs vor Gericht gestellt. Für Palese endete das Verfahren mit sechs Wochen strengen Arrests, für Kayser mit zwei Jahren schweren Kerkers. Der Fürstbischof haftete zum Glück nicht mit der fürstbischöflichen Mensa, er verlor aber sein Privatvermögen, während der Kärntner Klerus, die Bischöfe der österreichischen Reichshälfte und die öffentliche Hand die angeschlossenen Raiffeisenkassen retteten. Vgl. Gerlinde Katzinger, Balthasar Kaltner. Kanonist und (Erz-) Bischof an der Schwelle einer folgenschweren Wendezeit (1844 – 1918), Frankfurt a.M./Berlin/Bern 2007 (Wissenschaft und Religion 17), S. 72 f. 86 Valentin, Sonderfall (Anm. 81), S. 62. 85

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te man das Heraushalten aus dem nationalen Konflikt bzw. die relative Nähe zur slowenischen katholischen Bevölkerung als Verrat am Kärntner Deutschtum. Erst 1923 kam es auf der demonstrativen antimarxistischen Schiene zu einer Annäherung mit dem deutschnationalen Lager, die in der „national-bürgerlichen Einheitsliste“ gipfelte und den sozialdemokratischen Landeshauptmann zu Fall brachte.87 In der signifikanten Phase der Etablierung der Republik von 1918 bis 1920 war Kärnten angesichts der durch die offene Frage der Grenzziehung spezifischen Situation weitgehend vom politischen fraktionell geformten Diskurs abgemeldet, was wohl dazu beitrug, dass die „politische Zusammenarbeit …. besser als im übrigen Österreich“ in den 1920er Jahren zu funktionieren schien. Dieses relative ideologische Theoriedefizit, das wechselnde politische Kooperationen in den 1920er Jahren innerhalb der Landespolitik erleichterte, dürfte zweifellos den frühen Einbruch der Nationalsozialisten mit ihrem radikalen Habitus erleichtert haben.88 III. Anton Staudinger hat zu Recht darauf hingewiesen, dass der politische Katholizismus, wie er sich in den deutschsprachigen Kronländern der Monarchie ausgebildet hatte, auf drei Segmenten ruhte: auf der katholischen Hierarchie, auf den katholischen Vereinen und Organisationen sowie auf der Partei.89 Es wäre verfehlt, das Neben- und Miteinander dieser Segmente als statisches Konzept zu konzipieren. Historisch gesehen ist naturgemäß die katholische Hierarchie als erstes zu behandeln. Diese hatte mit der Durchsetzung des Konkordates 1855 unter Verkennung der Stabilität des Neoabsolutismus ein „anachronistisches Missgeschick“ produziert, um die zurückhaltende Formulierung des Kirchenhistorikers Maximilian Liebmann zu gebrauchen: „Es entsprach schlechthin nicht mehr der Zeit und belastete beinahe ein Jahrhundert lang das Verhältnis von Kirche und Staat in Österreich. Hierokratische Prinzipien hatten sich im Neoabsolutismus Österreichs durchgesetzt, und das Konkordat, als Bündnis zwischen Thron und Altar konzipiert, hatte den Thron dem Altar subordiniert. … Die überzogensten Bestimmungen fanden sich bei der Schul- und Ehefrage“90. Das Konkordat, von der Hierarchie als die endgültige Sicherung ihrer Position angesehen, war eine Provokation für das traditionelle josephinisch gesinnte Beamtentum, das gehobene Bürgertum und die Intellektuellen. Deren sofort einsetzende Kritik wurde seitens der Hierarchie und ihrer Propagandis87

Nach 1930 kann eine Annäherung zwischen den Kärntner Sozialdemokraten und Christlichsozialen beobachtet werden, da man sich in der Ablehnung des Nationalsozialismus traf; allerdings war dies zu diesem Zeitpunkt wohl auch keine wirklich mehrheitsfähige Position in diesem Bundesland. 88 Vgl. Dirk Hänisch, Die österreichischen NSDAP-Wähler. Eine empirische Analyse ihrer politischen Herkunft und ihres Sozialprofils, Wien/Köln/Weimar 1998. 89 Anton Staudinger, Christlichsoziale Partei, in: Erika Weinzierl/Kurt Skalnik, Österreich 1918 – 1938. Geschichte der Ersten Republik, Graz/Wien/Köln 1983, Bd. 1, S. 249 – 276. 90 Liebmann, Dominanz (Anm. 25), S. 377.

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ten als freimaurerisch-jüdisch-protestantische Verschwörung diffamiert. Diese kindisch anmutende Verschwörungstheorie91 konnte im Zuge der Demokratisierung der Monarchie die Aufhebung des Konkordats 1870 nicht verhindert. Die sich mit den Maigesetzen 1868 abzeichnende Wende wurde zum Ausgangspunkt für die Mobilisierung der katholischen Massen über Vereine und Organisationen. So lange dieses Milieu gleichsam katholisch-konservativ geprägt war, behielten die Bischöfe den direkten Zugriff und die Themenführerschaft. Eingebettet in die Debatte um die sich zuspitzenden sozialen Fragen entstand als zunächst konkurrierender, schließlich dominierender Faktor das Milieu der christlichsozialen Vereine. Diese waren weit weniger an einer „Spiritualisierung des Alltags“ als vielmehr an einer Durchsetzung ihrer sozialpolitischen Forderungen interessiert, die je nach Milieu eben die wirtschaftliche Situation der Bauern, der Kleinbürger oder der Arbeiter sichern oder verbessern sollten. Mit dem Wandel dieses sozialreformerischen Milieus zu einer konservativen Reichspartei, die nunmehr auf klassische antiliberale und antikapitalistische Konturen verzichten musste, setzte jene Krise ein, die den „Rekatholisierungsprozess“92 einleitete. Nutznießer waren die Bischöfe, die der Christlichsozialen Partei wohl auch deshalb lange kritisch distanziert gegenübergestanden waren, weil sie in Lueger und seinem Kreis selbstbewusst und unabhängig agierende Politiker sahen, die den Beichtstuhl als private Erleichterung und nicht als Ort der Befehlsausgabe verstanden. Die Rekatholisierung zielte darauf ab, die Parteiführung als verlässliche Speerspitze für die eigenen rein kirchlich definierten Anliegen wiederum unter Kontrolle zu stellen. In der Verfolgung dieses Konzeptes dünnte man schließlich ab den späten 1920er Jahren das blühende katholische Vereinsleben aus und setzte an dessen Stelle die vom italienischen Faschismus beeinflusste „Katholische Aktion“. Das Ziel der „Rekatholisierung“ war zweifellos die „Klerikalisierung“ der katholischen Laien. Damit stärkte man jenen Flügel innerhalb des christlichsozialen Milieus, der angesichts der schwindenden Fähigkeit zum Machterhalt den demokratischen Konsens in Frage stellte und offen für autoritäre Modelle wurde. Mit der Hierarchie teilte man schließlich eine offen gezeigte Ablehnung der Demokratie, da diese ja vor 1945 nicht zum Wertekanon der katholischen Kirche zählte. Das Fehlen einer eigenen effizienten Parteistruktur – hier changierte man zwischen der katholischen Vereinswelt und diözesanen Strukturen – erleichterte den Zugriff der Hierarchie.93 Der „Rekatholisierungsprozess“ ab 1911/12 oder vielmehr die

91 Freimaurer gab es in Österreich seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts ohnehin keine mehr, während die angesprochenen rassistisch und religiös definierten Gruppen weitgehend marginalisiert waren. 92 Hanisch, Schatten (Anm. 3), S. 119. 93 In der Zweiten Republik baute angesichts der relativen Absage an den politischen Katholizismus die Österreichische Volkspartei selbstverständlich einen eigenen effizienten Parteiapparat auf. In einzelnen Bundesländern kann man ab 1945 in Umkehr zur Struktur der Ersten Republik beobachten, dass nunmehr die ÖVP präzise die katholischen Laienfunktio-

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„Klerikalisierung“ der christlichsozialen Politik erreichte die führenden Mandatare vorerst nicht, da die Abgeordneten des christlichsozialen Klubs im Reichsrat 1918 noch aus den Wahlen von 1911 hervorgegangen waren. Die überwiegende Mehrheit der christlichsozialen Abgeordneten zur provisorischen Nationalversammlung kam aus dem „ländlich-agrarischen Raum“94, die im Gleichklang mit der Stimmung ihrer Wähler im Widerspruch zum Kriegsabsolutismus standen und in einer zunehmenden Skepsis gegenüber der Dynastie verharrten. Deren pragmatische Haltung korrespondierte mit dem Willen der Sozialdemokraten, aus der Konkursmasse der Doppelmonarchie die Republik Deutschösterreich zu bergen. Die drei Wiener Klubmitglieder konnten diese bäuerlich-demokratisch ausgerichtete Phalanx nicht mehr durchbrechen und beugten sich letztlich der normativen Kraft des Faktischen. Im Hintergrund positionierten sich aber bereits jene Parteigänger, die offen für die „Rekatholisierung“ der Partei waren, allen voran Ignaz Seipel.95 Als erstes markantes und wohl auch zutiefst problematisches Kampfziel, das parteiintern auch zu einer massiven Frontbildung gegenüber der Sozialdemokratie genutzt wurde, obwohl damit keinem grundsätzlichen politischen Bedürfnis der eigenen Klientel gedient war, muss die Kongrua-Debatte 1920/21 genannt werden. In der Frage der Klerikerbesoldung, der Kongrua, kannte Seipel keinen Kompromiss; die „deutliche ökonomische Besserstellung gegenüber der Monarchie“, von der man ja die staatliche Besoldung der Geistlichen übernommen hatte, hielt bis zum 1. Mai 1939 und belastete das Verhältnis zur Sozialdemokratie zutiefst.96 Aus Sicht der Hierarchie war dies eben der „Primat der Kirche vor christlich[sozial]er Parteipolitik“97.

näre innerhalb der Pfarrstrukturen und der tragenden Katholischen Aktion beobachtete und entsprechend markante Persönlichkeiten für die Partei auf allen Ebenen rekrutierte. 94 Staudinger, Partei (Anm. 1), S. 253. 95 Staudinger, Partei (Anm. 1), S. 253. 96 Liebmann, Dominanz (Anm. 25), S. 401. 97 Robert Prantner, Kreuz und weiße Nelke. Christlichsoziale und Kirche in der 1. Republik im Spiegel der Presse, Wien/Köln/Graz 1984, S. 20.

Die Überprüfung der endgültigen Urteile im Ehenichtigkeitsprozess und der Dispensreskripte von der geschlossenen, aber nicht vollzogenen Ehe gemäß Art. VII, § 4 des österreichischen Konkordats durch den Obersten Gerichtshof der Apostolischen Signatur in der Zeit vom 1. Mai 1934 bis zum 31. Juli 1938 Von Nikolaus Schöch I. Einführung Der Apostolische Stuhl wollte seit der Berufung Kardinals Eugenio Pacelli, des späteren Papstes Pius XII., zum Staatssekretär, die Ehefrage im Rahmen eines allumfassenden Konkordates bereinigen1. Kardinal Pacelli betrachtete die Ehefrage als wichtigste Materie und wünschte, dass der Staat der sakramentalen Eheschließung zivilrechtliche Wirkungen und der Kirche die exklusive Kompetenz über den Ehekonsens, die Ehehindernisse, die Eheschließungsform, die Wirkungen aus der Ehe und die Zuständigkeit für Eheprozesse gewähre.2 Kremsmair behauptet daher zu Recht: „Die Gründe, die zur Aufnahme von Konkordatsverhandlungen führten, müssen in der in Österreich spezifischen eherechtlichen Problematik gesehen werden“3, wobei auch die österreichische Regierung vor allem an der Regelung der Ehefrage interessiert war.4

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Vgl. Hugo Schwendenwein, Österreichisches Staatskirchenrecht (MK CIC, Beihefte 6), Essen 1992, S. 45. 2 Vgl. Josef Kremsmair, Geschichte des österreichischen Konkordates 1933/34 von den Anfängen bis zur Unterzeichnung, in: 60 Jahre Österreichisches Konkordat, hrsg. von Hans Paarhammer/Franz Pototschnig/Alfred Rinnerthaler (Veröffentlichungen des Internationalen Forschungszentrums für Grundfragen der Wissenschaften Salzburg, Neue Folge, Band 56), München 1994, S. 83. 3 Josef Kremsmair, Geschichte des österreichischen Konkordates (Anm. 2), S. 81. 4 „… da man zu einer Lösung des eherechtlichen Wirrwarrs kommen wollte. Dies war eindeutig das Ziel des Vizekanzlers Schober, der in der nachfolgenden Regierung auch das Außenministerium führte. Schober teilte im Februar 1931 offiziell dem Nuntius den Wunsch der österreichischen Bundesregierung mit, mit dem Apostolischen Stuhl in Konkordatsverhandlungen zu treten“ (Willibald Plöchl, Abschluß und Auflösung von Konkordaten. Die Rechtslage beim österreichischen Konkordat, in: ÖAKR 8 [1957], S. 16).

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Das Konkordat vom 5. Juni 1933 trat am 1. Mai 1934 in Kraft5 und brachte die Aufhebung des von der Kirche als diskriminierend empfundenen Katholikengesetzes von 18746 mit sich. In Bezug auf die Eheschließungsform und die Anerkennung der kirchlichen Ehegerichtsbarkeit für die Katholiken folgt das Österreichische Konkordat dem Vorbild des italienischen Konkordats von 1929.7 Ebenso wie für Italien erlangte Kardinal Pacelli die Einfügung einer Bestimmung über die Überprüfung der kirchlichen Urteile durch die Apostolische Signatur.8 Von 1934 – 1938 galt das Eherecht des Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuches neben dem Eherecht des CIC/1917, welches auf die in kanonischer Form geschlossenen Ehen Anwendung fand.9 Das Konkordat stellte damit das kirchliche Eherecht und die kirchliche Ehegerichtsbarkeit für die Katholiken wieder her, ohne allerdings, wie das Konkordat von 185510, für die Katholiken das weltliche Eherecht und die weltliche Ehegerichtsbarkeit gänzlich durch das kanonische Eherecht zu ersetzen. Die Möglichkeit der Notzivilehe für Katholiken blieb aufrecht: „Bei genauer Analyse des Konkordatstextes stellt sich nämlich heraus, dass er kein materielles Eherecht enthält und deshalb auch die Frage der Ehescheidung nach staatlichem Recht in keiner Weise präjudiziert. Es gibt keine einzige Konkordatsbestimmung, die dem staatlichen Gesetzgeber die Einführung der Ehescheidung für seinen Rechtsbereich verwehrt. Das Konkordat hindert also den staatlichen Gesetzgeber nicht daran, ein materielles Eherecht zu schaffen, das von den Konsequenzen des kanonischen Eherechts für den staatlichen Bereich abweicht.“11

5 Bundesstaat Österreich, Bundesgesetz vom 4. Mai 1934, betreffend die Vorschriften auf dem Gebiete des Eherechtes zur Durchführung des Konkordates zwischen dem Heiligen Stuhle und Österreich vom 5. Juni 1933, in: Bundesgesetzblatt (BGBl.) II. Teil, Nr. 8/1934. 6 Vgl. Kaiserreich Österreich: Franz Joseph I., Gesetz vom 7. Mai 1874, wodurch Bestimmungen zur Regelung der äußeren Rechtsverhältnisse der katholischen Kirche erlassen werden, in: Kaiserthum Österreich, Reichsgesetzblatt für die im Reichsrat vertretenen Königreiche und Länder (RGBl.), Nr. 50/1874; vgl. Hugo Schwendenwein, Österreichisches Staatskirchenrecht (Anm. 1), S. 38. 7 Konkret ging es vor allem um den Art. 34 der Lateranverträge zwischen dem Heiligen Stuhl und dem Königreich Italien (Heiliger Stuhl – Königreich Italien, Konkordat vom 11. Februar 1929, in: AAS 21 [1929], S. 290 – 291). 8 Vgl. Art. VII, § 4: „Die genannten Verfügungen und Urteile werden mit den diesbezüglichen Verfügungen des Obersten Gerichtshofs der Signatura Apostolica dem österreichischen Obersten Gerichtshof übersendet“ (Heiliger Stuhl – Bundesstaat Österreich, Konkordat vom 5. Juni 1933, in: AAS 26 [1934], S. 258 – 259; Josef Kremsmair, Geschichte des österreichischen Konkordates [Anm. 2], S. 98). 9 Vgl. Hugo Schwendenwein, Österreichisches Staatskirchenrecht (Anm. 1), Essen 1992, S. 20. 10 Vgl. Heiliger Stuhl – Kaiserreich Österreich: Konkordat vom 18. August 1855, in: Raccolta di concordati su materie ecclesiastiche tra la Santa Sede e le Autorit— civili, hrsg. von Angelo Mercati, Citt— del Vaticano 1954, Bd. I, S. 821 – 829; vgl. Richard Potz, Ist das Konkordat noch zeitgemäß?, in: ÖARR 53 (2006), S. 68 – 72. 11 Franz Pototschnig, Konkordat und Eherecht, in: 60 Jahre Österreichisches Konkordat, hrsg. von Hans Paarhammer/Franz Pototschnig/Alfred Rinnerthaler (Veröffentlichungen des

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Die Wahl zwischen der kirchlichen und der staatlichen Gerichtsbarkeit wurde den Parteien überlassen, im Grunde genommen aber die kirchliche Regelung bevorzugt.12 Wegen des im Burgenland zur Zeit des In-Kraft-Tretens des Konkordats aufgrund des Beschlusses des burgenländischen Landtags noch geltenden ungarischen Ehegesetzes von 189413, mit der Scheidungsmöglichkeit auch für in kanonischer Form geschlossene Ehen, sprach der Oberste Gerichtshof in seiner Erkenntnis vom 12. März 1935 die Vollscheidung einer dem burgenländischen Eherecht unterliegenden kirchlich geschlossenen Ehe aus.14 Im Anschluss an diese Erkenntnis wurde von der Österreichischen Regierung für das Burgenland ein Bundesgesetz „betreffend Vorschriften auf dem Gebiete des Eherechtes zur Durchführung des Konkordates zwischen dem Heiligen Stuhle und Österreich“15 erlassen. Art. I, § 7a dieses Gesetzes sieht vor: „Eine Lösung der Ehe durch die staatlichen Gerichte gemäß den §§ 75 bis 103 des im Burgenland geltenden ungarischen Gesetzesartikels XXXI vom Jahre 1894 oder die Abänderung des von Tisch und Bett trennenden Urteiles in ein Scheidungsurteil gemäß § 107 des bezogenen Gesetzesartikels findet bei kirchlichen Ehen nicht statt.“16

II. Die vom Bundesstaat Österreich für die Anerkennung der Urteile kirchlicher Gerichte festgelegten Voraussetzungen Die völkerrechtliche Grundlage für die Anerkennung der Urteile kirchlicher Gerichte im Nichtigkeitsprozess bildet Art. VII, §§ 1, 3 und 4 des Konkordates vom 5. Juni 193317:

Internationalen Forschungszentrums für Grundfragen der Wissenschaften Salzburg, Neue Folge, Band 56), München 1994, S. 440. 12 Vgl. Rudolf Köstler, Das österreichische Konkordats-Eherecht, Wien 1937, S. 1. 13 Vgl. Bundesstaat Österreich: Bundesministerium für Justiz, Verordnung vom 19. Dezember 1922, in: Bundesgesetzblatt Nr. 316/1922; Josef Kremsmair, Die Eherechtsreformversuche während der ersten Republik, in: Tradition – Wegweisung in die Zukunft, Festschrift für Johannes Mühlsteiger S.J. zum 75. Geburtstag, hrsg. von Konrad Breitsching/Wilhelm Rees (KStuT 46), Berlin 2001, S. 524. 14 Vgl. Franz Pototschnig, Konkordat und Eherecht (Anm. 11), S. 444. 15 Vgl. Bundesstaat Österreich, Bundesgesetz vom 17. April 1935, betreffend Vorschriften auf dem Gebiete des Eherechtes zur Durchführung des Konkordates zwischen dem Heiligen Stuhle und Österreich, in: BGBl., Nr. 134/1935. 16 Vgl. Bundesstaat Österreich, Bundesgesetz vom 17. April 1935 (Anm. 15); zum ungarischen Eherecht im Burgenland vgl. Bruno Primetshofer, Ehe und Konkordat. Die Grundlinien des österreichischen Konkordats-Eherechtes 1934 und das geltende österreichische Eherecht (Pontificia Universitas Lateranensis, Dissertatio ad lauream in iure canonico), Rom 1960, S. 28. 17 Vgl. Heiliger Stuhl – Republik Österreich, Konkordat vom 5. Juni 1933, in: AAS 26 (1934), S. 249 – 272, Art. VII, § 1; vgl. BGBl. Nr. 2/1934.

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„Die Republik Österreich erkennt den gemäß dem kanonischen Recht geschlossenen Ehen die bürgerlichen Rechtswirkungen zu.“18

Das Zusatzprotokoll zum Konkordat anerkennt den Vorbehalt der Trennung von Tisch und Bett zugunsten der staatlichen Gerichte: „Der Heilige Stuhl willigt ein, dass das Verfahren bezüglich der Trennung der Ehe von Tisch und Bett den staatlichen Gerichten zusteht.“19

Das Zusatzprotokoll sah eine Instruktion durch die österreichischen Bischöfe zur Anwendung des Art. VII vor: „Der Heilige Stuhl wird die Herausgabe einer Instruktion durch den österreichischen Episkopat veranlassen, die für alle Diözesen (Praelatura nullius) verbindlich sein wird.“20

Sie wurde erst am 25. November 1936 erlassen21, jedoch von der staatlichen Gesetzgebung, der sie teilweise widerspricht22, und von der Apostolischen Signatur nicht berücksichtigt. Das Bundesgesetz vom 4. Mai 193423 verlangt als Voraussetzung für die Vollstreckbarkeit kirchlicher Urteile in Österreich: (1) die Vollstreckbarkeitserklärung des Obersten Gerichtshofs24 für den Bundesstaat Österreich;

18 Heiliger Stuhl – Republik Österreich, Konkordat vom 5. Juni 1933, in: AAS 26 (1934), S. 258, Art. VII, § 1. 19 Heiliger Stuhl – Republik Österreich, Konkordat vom 5. Juni 1933, Zusatzprotokoll zu Art. VII, in: AAS 26 (1934), S. 277; vgl. Hugo Schwendenwein, Österreichisches Staatskirchenrecht (Anm. 1), S. 580. 20 Heiliger Stuhl – Republik Österreich, Zusatzprotokoll zum Art. VII des Konkordats vom 5. Juni 1933, in: AAS 26 (1934), S. 277; vgl. Hugo Schwendenwein, Österreichisches Staatskirchenrecht (Anm. 1), S. 580. 21 Österreichische Bischöfe, Österreichische Ehe-Instruktion vom 25. November 1936. Erlassen vom österreichischen Episkopat zur Durchführung des Art. VII des Konkordates vom 1. Mai 1934, Graz 1937; vgl. Marius Alma, Die Bestimmungen der österreichischen Eheinstruktion vom 25. November 1936 (Schriftenreihe des Korrespondenzblattes für den Katholischen Klerus 3), Wien 1937. Die Approbation des lateinischen Textes der Instruktion erfolgte durch ein Schreiben des Kardinal-Staatssekretärs Eugenio Pacelli vom 30. Juni 1936 (Nr. 2233/36) (vgl. Primetshofer, Ehe und Konkordat [Anm. 16], S. 27, Fn. 6 und S. 73, Fn. 22). 22 Art. 20 erstreckt die Zuständigkeit der kirchlichen Ehegerichte unter Verweis auf can. 1553, § 1, n. 2 und 1960 ff. CIC/1917 auf Eheangelegenheiten aller Getauften, also auch von Protestanten (vgl. Elisabeth Kandler-Mayr, Auswirkungen des neuen Eherechts von 1938 auf die Tätigkeit des Salzburger Diözesan- und Metropolitangerichts, in: Salzburger Miszellen. Gewidmet Hans Paarhammer, hrsg. von Stephan Haering/Josef Kandler, Salzburg 1996, S. 256). 23 Vgl. Bundesstaat Österreich, Bundesgesetz vom 4. Mai 1934 (Anm. 5). 24 Vgl. Bundesstaat Österreich, Bundesgesetz vom 4. Mai 1934 (Anm. 5), § 3 (1).

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(2) es muss sich um eine in kanonischer Form geschlossene Ehe handeln, die in Österreich bürgerliche Rechtswirkungen erlangt hat25; (3) während das Datum der Eheschließung und jenes des Urteils der ersten Instanz belanglos blieben, kam es darauf an, dass das Urteil zweiter Instanz erst nach InKraft-Treten des Konkordats ergangen war.26 Zu diesem Zeitpunkt bereits rechtskräftig abgeschlossene Ungültigkeitsverfahren können gemäß § 9 des Gesetzes vom 4. Mai 1934 nicht mehr berücksichtigt werden27: „Auf die vor dem Inkrafttreten des Konkordates geschlossenen kirchlichen Ehen, die mit der Eheschließung bürgerliche Rechtswirkungen erlangt haben und nicht durch rechtskräftiges staatliches Urteil für ungültig erklärt worden sind, finden die Vorschriften der §§ 3 bis 8 mit der Einschränkung Anwendung, dass bereits rechtskräftig abgeschlossene kirchliche Ungültigkeitsverfahren außer Betracht bleiben. Anhängige staatliche Ungültigkeitsverfahren werden nach den bisherigen Vorschriften fortgeführt.“28

(4) Beide Ehegatten müssen sich ausdrücklich in das kirchliche Verfahren eingelassen haben29. Die Zuständigkeit der kirchlichen Gerichte wird dadurch exklusiv, dass beide Partner die Erklärung unterschreiben, sich einem kirchlichen Nichtigkeitsprozess zu unterwerfen und dieser binnen drei Monaten nach der Erklärung tatsächlich anhängig wird30. Das Gesetz von 4. Mai 193431, § 3 (1c) legt den Wortlaut der von beiden Partnern zu unterschreibenden Streiteinlassung fest:

25 Vgl. Bundesstaat Österreich, Bundesgesetz vom 4. Mai 1934 (Anm. 5), § 3 (1); Oberster Gerichtshof, Beschluss vom 10. Dezember 1935, GZ. 1 Ob 746/25/2, in: Apostolische Signatur: Archiv, Prot. Nr. 22/935 E.C. Austria. 26 „Soweit der Sachverhalt ersichtlich ist, handelt es sich um eine Ehe, die vor dem Inkrafttreten des Konkordates geschlossen wurde, mit der die Eheschliessung bürgerliche Rechtswirkungen erlangt hat und nicht durch staatliches Urteil für ungültig erklärt worden ist. Dann finden auf die Ehe gemäß § 9 des Gesetzes vom 4. Mai 1934, Bgbl. II Nr. 8, die Vorschriften der §§ 3 – 8 des Gesetzes mit der Einschränkung Anwendung, dass bereits rechtskräftig abgeschlossene Ungültigkeitsverfahren außer Betracht bleiben. Die Einschränkung besagt, daß eine vor dem Inkrafttreten des Konkordates in Rechtskraft erwachsene kirchliche Entscheidung, die die Ungültigkeit der Ehe ausspricht, nicht gemäß § 3 des Gesetzes für vollstreckbar erklärt werden kann. Hingegen fehlt im Gesetz eine gleiche Einschränkung in der Richtung, dass auch eine vor dem Inkrafttreten des Konkordates ergangene kirchliche Verfügung über die Nachsicht von einer geschlossenen, aber nicht vollzogenen Ehe von der Vollstreckbarkeitserklärung nach § 4 des Gesetzes ausgeschlossen ist …“ (Bundesstaat Österreich: Bundeskanzleramt, Schreiben vom 25. Juli 1934 an die Landeshauptmannschaft für Oberösterreich, in: Prot. Nr. 13/935 E.C. Austria). 27 Vgl. Bundesstaat Österreich: Bundeskanzleramt, Schreiben vom 25. Juli 1934 (Anm. 26). 28 Bundesstaat Österreich, Bundesgesetz vom 4. Mai 1934 (Anm. 5), § 9. 29 Vgl. Bundesstaat Österreich, Bundesgesetz vom 4. Mai 1934 (Anm. 5), § 3 (1); Oberster Gerichtshof, Beschluss vom 10. Dezember 1935 (Anm. 25). 30 Bundesstaat Österreich, Bundesgesetz vom 4. Mai 1934 (Anm. 5), § 6 (2). 31 Vgl. Bundesstaat Österreich, Bundesgesetz vom 4. Mai 1934 (Anm. 5).

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Nikolaus Schöch „Ich nehme zur Kenntnis, dass durch diese meine Erklärung die kirchliche Entscheidung in der oben genannten Ehesache im Sinne des Ges. v. 4. Mai 1934, § 3, 1c, Bd. Ges. Bl. v. 7. Mai 1934, 6. Stück, staatliche Rechtswirksamkeit erlangt.“32

Es folgen das Datum sowie die Unterschriften beider Parteien und des Notars des kirchlichen Gerichts.33 (5) Das Urteil erster Instanz muss von einem in Österreich gelegenen kirchlichen Gericht erlassen worden sein34. Es könnte sich auch um ein negatives Urteil handeln, auf welches in zweiter Instanz ein affirmatives folgte, welches dann von der dritten Instanz bestätigt wurde. Es ist kein Problem, wenn das Urteil zweiter oder dritter Instanz von einem im Ausland gelegenen Gericht wie der Römischen Rota gefällt wurde.35 Mit der Vollstreckbarkeitserklärung erhält die kirchliche Entscheidung die Kraft eines inländischen staatlichen Urteiles über die Gültigkeit der Ehe. Für die Vollstreckbarkeitserklärung stellt es kein Hindernis dar, wenn die Ehe im Ausland geschlossen wurde oder einer oder gar beide Partner nicht österreichische Staatsbürger waren. Voraussetzung blieb jedoch, dass den im Ausland geschlossenen kirchlichen Ehen nach dem internationalen Privatrecht in Österreich bürgerliche Rechtswirkungen zukamen.36 So wurde das Dekret der Apostolischen Signatur vom 12. März 1936, welches die Übersendung des zweiten affirmativen Urteils in Bezug auf die am 9. Mai 1931 in der katholischen Kirche zu St. Josef in Schanghai (China) geschlossene Ehe anordnete, „gemäß dem § 3 des Bundesgesetzes vom 4. Mai 1934, betreffend Vorschriften auf dem Gebiete des Eherechtes zur Durchführung des Konkordates zwischen dem Heiligen Stuhle und Oesterreich vom 5. Juni 1933, BGBl. 1934, II. Teil, Nr. 2, für vollstreckbar erklärt (Bundesgesetz – BGBl. 1934, II. Teil, Nr. 8).“37 32 Metropolitangericht Wien, Erklärung im Sinne des Ges. v. 4. Mai 1934, § 3 [1c] wegen Streiteinlassung vom 17. Dezember 1935, von beiden Parteien unterschrieben und vom Notar des Gerichts gezeichnet, in: Prot. Nr. 66/937 E.C. Austria. 33 Vgl. Metropolitangericht Wien, Erklärung der Streiteinlassung vom 7. Oktober 1936 gemäß § 3 (1c) des Gesetzes vom 4. Mai 1934, von beiden Parteien unterschrieben und vom Notar des Gerichts beglaubigt, in: Prot. Nr. 102/938 E.C. Austria; Metropolitangericht Wien, Erklärung der Streiteinlassung vom 6. Februar 1936, in: Prot. Nr. 104/938 E.C. Austria. 34 Vgl. Bundesstaat Österreich, Bundesgesetz vom 4. Mai 1934 (Anm. 5), § 3 (1); Oberster Gerichtshof, Beschluss vom 10. Dezember 1935 (Anm. 25). 35 „Die endgültige Entscheidung der Sacra Romana Rota vom 13. Dezember 1935, P 2011/34, welche die Ungültigkeit der von A.E. und K. B., beide katholisch, am 15. Mai 1920 in der Stadtpfarrkirche K. geschlossenen Ehe wegen Zwang und Furcht gemäss canon 1087 des codex iuris canonici feststeht, wird für vollstreckbar erklärt“ (Oberster Gerichtshof, Beschluss vom 10. Dezember 1935 [Anm. 25]). 36 „Auf die im Ausland geschlossenen kirchlichen Ehen, denen nach dem internationalen Privatrecht bürgerliche Rechtswirkungen zukommen, sind die Vorschriften der §§ 3 bis 9 anzuwenden“ (Bundesstaat Österreich, Bundesgesetz vom 4. Mai 1934, Anm. 5, § 10). 37 Vgl. Oberster Gerichtshof, Beschluss vom 31. März 1936, GZ. 3 Ob 246/36/3, in: Prot. Nr. 37/936 E.C. Austria.

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Die Wirkung der Vollstreckbarerklärung durch den Österreichischen Obersten Gerichtshof besteht darin, dass die kirchliche Entscheidung die Kraft eines inländischen staatlichen Urteiles über die Ungültigkeit der Ehe erhält,38 welches der Ehe die bürgerlichen Rechtswirkungen aberkennt, sodass jene Rechtswirkungen eintreten, die nach staatlichem Recht mit der Nichtigerklärung einer Ehe verbunden sind39: „Damit erhält die kirchliche Entscheidung die Kraft eines inländischen staatlichen Urteils über die Ungültigkeit der Ehe.“40

III. Das Verfahren zur Vollstreckung von kirchlichen Gerichten gefällter affirmativer Urteile zweiter Instanz Häufig wurde der Antrag zur Gewährung bürgerlicher Wirkungen von beiden Partnern unterschrieben. Er konnte aber auch von einem allein gestellt werden, etwa wenn eine der Parteien aufgrund einer schweren Geisteskrankheit dazu nicht mehr fähig war.41 Wer simulierte, konnte weder eine Klageschrift einreichen noch bürgerliche Wirkungen beantragen. An seine Stelle trat der Kirchenanwalt. Allerdings konnte der simulierende Partner die Simulation beim kirchlichen Gericht zur Anzeige bringen, sodass der Kirchenanwalt die angegebenen Gründe aufnehmen und die Klageschrift präsentieren konnte. Selbstverständlich wurde der simulierende Partner gerichtlich vernommen. Im Allgemeinen reichten die Gerichte erster Instanz folgende Dokumente bei der Apostolischen Signatur ein: (1) Antrag; (2) authentische Kopie des Trauscheins; (3) ziviles Trennungsurteil von Tisch und Bett; (4) Heimatschein, der dem heutigen Staatsbürgerschaftsnachweis entspricht; (5) Erklärung der Streiteinlassung beider Parteien; (6) Akten des Verfahrens in erster und zweiter Instanz; (7) authentisches Exemplar des in erster Instanz ergangenen Urteils; (8) authentisches Exemplar des zweitinstanzlichen Urteils.42 Die Österreichischen Bischöfe erbaten von der Apostolischen Signatur die Erlaubnis, nur die Urteile, nicht jedoch die Akten ins Lateinische oder Italienische übersetzen zu müssen. Bezüglich der Akten bat Theodor Kardinal Innitzer im Namen der 38

Vgl. Bundesstaat Österreich, Bundesgesetz vom 4. Mai 1934 (Anm. 5), § 3 (2). Vgl. Bundesstaat Österreich, Bundesgesetz vom 4. Mai 1934 (Anm. 5), § 6 (4); vgl. Apostolische Signatur, Schreiben vom 20. November 1934 an Bischof Sigismund Waitz, in: Prot. Nr. 1/934 E.C. Austria. 40 Oberster Gerichtshof, Beschluss vom 29. Dezember 1936, GZ. 1 Ob 1163/36/3, in: 56/ 936 E.C. Austria. 41 Vgl. Diözese Linz: der Diözesanbischof, Schreiben an die Apostolische Signatur vom 12. Dezember 1935, in: Prot. Nr. 24/935 E.C. Austria. 42 Vgl. Diözese Linz: der Diözesanbischof, Schreiben vom 21. Dezember 1935 an die Apostolische Signatur, Prot. Nr. 5/935 E.C. Austria; Oberster Gerichtshof, Beschluss vom 10. Dezember 1935 (Anm. 25). 39

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österreichischen Bischöfe darum, dass auch ein deutsches Original mit einem lateinischen Summarium als ausreichend betrachtet werden konnte: „Concedatur benignissime, ut in casibus super memoratis acta processualia in lingua vernacula, sicuti in iudicio exarata, mitti possent ad Signaturam, addito tamen summario in lingua Latina conscripto.“43

Der Kardinal schlug zur Prüfung der Prozessakten in Rom die Anstellung eines Priesters vor, der sehr gut deutsch spricht und der die entsprechenden Akten prüft.44 Dadurch könnten die Kosten für die Übersetzung der oftmals umfangreichen Akten eingespart werden. Dies war zur Prüfung aller Akten auf korrekte Prozessführung ausreichend45 und die Apostolische Signatur gewährte es ohne die gewünschte Anstellung eines Priesters aus dem deutschsprachigen Raum mit folgender Klausel: „exemplar authenticum actorum processus in lingua latina vel in lingua vernacula si pars expensas translationis solvere non possit.“46

Häufig wurde der Antrag selbst in lateinischer Sprache verfasst.47 Der Diözesanbischof oder der Generalvikar48, manchmal auch der Kanzler des Ordinariats des Wohnsitzes der Parteien, fügte noch sein Votum hinzu und sandte den Antrag mit den erforderlichen Dokumenten und Akten meist an die Agentie beim Priesterkolleg Santa Maria dellÏAnima, die sie der Apostolischen Signatur übergab.49 Der Kirchenanwalt der Apostolische Signatur prüfte die Akten auf korrekte Prozessführung sowie die Urteile auf korrekte Entscheidungsfindung50 und verfasste

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Erzdiözese Wien: der Erzbischof, Schreiben vom 7. Juli 1934 an die Apostolische Signatur, in: Apostolische Signatur, Archiv I.R.M./934. 44 Vgl. Erzdiözese Wien: der Erzbischof, Schreiben vom 7. Juli 1934 (Anm. 43). 45 Vgl. Erzdiözese Wien: der Erzbischof, Schreiben vom 7. Juli 1934 (Anm. 43). 46 Diözese Linz: der Diözesanbischof, Schreiben an die Apostolische Signatur vom 13. Mai 1935, in: Prot. Nr. 5/935 E.C. Austria. 47 Vgl. Antrag der Klägerin an den Präfekten der Apostolischen Signatur um Zuerkennung der bürgerlichen Wirkungen vom 24. Juli 1934, in: Prot. Nr. 1/934 E.C. Austria: „… precor enixe istud Supremum Tribunal, ut acta processus iam ad istud Supremum Tribunal transmissa perspicere dignetur et attestationem de processu rite peracto ad supremum tribunal civile Italicum vel Austriacum, prout melius esse videtur, transmittat Ïper ottenere gli effetti civiliÏ.“ Dem Antrag war die Erklärung des königlich italienischen Konsulats in Innsbruck beigefügt, dass die Eheschließung im Trauungsbuch der Gemeinde Reggio Emilia im Königreich Italien registriert war. 48 Vgl. Erzdiözese Wien: der Generalvikar, Schreiben vom 21. Januar 1936, Prot. Nr. 30/ 936 E.C. Austria. 49 Vgl. Apostolische Administratur Innsbruck-Feldkirch: Der Offizial, Schreiben vom 26. November 1936 an die Agentie der Anima in Rom, in: Oberster Gerichtshof, Beschluss vom 10. Dezember 1935 (Anm. 25). 50 Vgl. „inspectis actis causae, ex quibus iuris normae servatae apparent“ (Apostolische Signatur, Dekret vom 28. Februar 1936, in: Prot. Nr. 31/936 E.C. Austria).

Die Überprüfung der endgültigen Urteile im Ehenichtigkeitsprozess

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sein Votum über das Verfahren in italienischer Sprache.51 Im Besonderen wurde dabei darauf geachtet, dass das affirmative Urteil der zweiten Instanz von niemandem angefochten wurde.52 Die Entscheidung über die Gewährung des Vollstreckungsdekrets fällte der Präfekt im Kongress. Als gesetzliche Grundlage bezog sich das Dekret auf den Art. 7, §§ 3 – 4 des Konkordats: „Nos … Praefectus Inspecta sententia definitiva tribunalis appellationis … inspectis actis causae, ex quibus iuris normae servatae apparent, inspecta conventione inita inter Sanctam Sedem et Rempublicam Austriacam (art. VII, N. 3, 4).“53

Staatliche Gesetze fanden keinerlei Erwähnung. Der Inhalt des Dekrets besteht nicht in der Vollstreckbarkeitserklärung, sondern in der Übersendung der Urteile an den Obersten Gerichtshof in Wien, damit dieser die bürgerlichen Wirkungen gewähre: „DECERNIMUS: sententia definitiva, de qua supra, et hoc Nostrum decretum in authentico exemplari mittantur ad Supremum Austriacae Reipublicae Tribunal, ut civiles sortiantur effectus.“54

Dem Dekret konnte auch eine Mahnung beigefügt worden sein: „Affirmative, seu sententiam esse transmittendam ad Supremum Austriae Tribunal ad effectum de quo agitur, graviter monito recurrente ne amplius civile attentet matrimonium, quamdiu ligatus maneat priore ecclesiastico matrimonio cum R., legitima uxore, sub poenis ad normam can. 2356 ob crimen bigamiae incurrendis.“55

Der Oberste Gerichtshof für den Bundesstaat Österreich verlieh dem zweiten konformen Urteil bürgerliche Wirkungen56 mit folgender oder ähnlicher Formulierung: „Die Entscheidung des Erzbischöflichen Ordinariates in Wien vom 3. August 1936, Ad Num. Prot. 28/936 D. und Nr. 212/7, die die Ungültigkeit der von F., katholisch, ledig, 51

Vgl. Apostolische Signatur: der Kirchenanwalt, Votum vom 26. Februar 1937, in: Prot. Nr. 65/937 E.C. Austria; Apostolische Signatur: der Kirchenanwalt, Votum vom 26. Januar 1936, in: Prot. Nr. 64/937 E.C. Austria. 52 Meist bestätigte der zuständige Ortsordinarius in seinem den Antrag begleitenden Schreiben, dass der Bandverteidiger keine Berufung eingelegt hat (Erzdiözese Wien: der Erzbischof, Schreiben vom 20. Dezember 1936 an die Apostolische Signatur, Prot. Nr. 64/937 E.C. Austria). 53 Apostolische Signatur, Dekret vom 31. Januar 1936, in: Prot. Nr. 24/935 E.C. Austria. 54 Apostolische Signatur, Dekret vom 31. Januar 1936, in: Prot. Nr. 24/935 E.C. Austria; vgl. Apostolische Signatur, Dekret vom 16. November 1935 Prot. Nr. 5/935 E.C. Austria; Apostolische Signatur, Dekret vom 7. Februar 1936, in: Prot. Nr. 20/935 E.C. Austria. 55 Apostolische Signatur, handschriftliche Hinzufügung unter das Votum des Referendars vom 30. Januar 1936, in: Prot. Nr. 20/935 E.C. Austria. 56 „Die kirchliche Entscheidung des Metropolitangerichtes der Erzdiözese Salzburg … wird für vollstreckbar erklärt“ (Oberster Gerichtshof, Beschluss vom 13. Mai 1936, 2 Ob 322/ 36/3, in: Prot. Nr. 32/936 E.C. Austria).

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und der von J., evangelisch, am 26. Februar 1921 in der katholischen Pfarrkirche in Lichtenthal in Wien geschlossenen Ehe wegen des Ehehindernisses des Ehebandes gemäß Can. 1069, § 1 des C.I.C. aussprach, wird für vollstreckbar erklärt. Mit dieser Vollstreckbarkeitserklärung erhält die kirchliche Entscheidung die Kraft eines inländischen Urteils.“57

Bei der Ablehnung der Vollstreckung des Dekrets der Apostolischen Signatur fügte der Oberste Gerichtshof eine ausführliche Begründung bei, während diese bei der Gewährung entfiel. Der Oberste Gerichtshof sandte ein Exemplar seines Beschlusses an die Apostolische Signatur, die übrigen Exemplare jedoch direkt an das Erstgericht58 : „Hievon beehrt sich der Oberste Gerichtshof in Wien den Obersten Gerichtshof der Signatura Apostolica mit dem Beifügen in Kenntnis zu setzen, dass die Parteien unmittelbar vom Obersten Gerichtshofe verständigt wurden.“59

Weiters sendet der Oberste Gerichtshof ein Exemplar seines Beschlusses zur Vollstreckbarkeit zusammen mit dem Dekret der Signatur an das kirchliche Gericht, welches das Urteil erster Instanz erlassen hatte. Ein weiteres Exemplar sandte der Oberste Gerichtshof an die Apostolische Signatur: „Bezugnehmend auf das dortige Dekret vom 16. November 1935, Prot. 5/935 beehrt man sich, eine Ausfertigung der hiergerichtlichen Vollstreckbarkeitsentscheidung zu übermitteln. Die Parteien werden im Wege des Diözesangerichts Linz verständigt.“60

Am 20. November 1934 übersandte die Apostolische Signatur den ersten Beschluss des Obersten Gerichtshofs vom 16. Oktober 193461 an den Wohnsitzordinarius.62 Später erfolgte dessen Benachrichtigung direkt durch den Obersten Gerichts57 „Die in dem Dekrete des Obersten Gerichtshofes der Signatura Apostolica vom 15. Juli 1936, Zahl Prot. 18/935 D, enthaltene kirchliche Entscheidung über die Ungültigkeit der am 15. Dezember 1921 in der Pfarrkirche zu Lieseregg geschlossenen Ehe zwischen M. und N., Urteil des Fürstbischöflichen Gurker Diözesangerichtes in Klagenfurt, bestätigt mit Urteil des Fürsterzbischöflichen Metropolitangerichtes in Salzburg, wird gemäss dem Art. VII, §§ 1, 3 und 4 des Konkordates, BGBl. II, Nr. 2/1934, und dem § 3 des Gesetzes vom 4. Mai 1934, BGBl. II, Nr. 8/1934, für vollstreckbar erklärt“ (Oberster Gerichtshof, Beschluss vom 23. September 1936, GZ. 1 Ob 803/36/2, Prot. Nr. 28/936 E.C. Austria; vgl. Bundesstaat Österreich, Bundesgesetz vom 4. Mai 1934 [Anm. 5]). 58 Vgl. Apostolische Signatur, Dekret vom 31. Januar 1936, in: Prot. Nr. 24/935 E.C. Austria. 59 Oberster Gerichtshof, Beschluss vom 31. Mai 1938, 2 Ob 652/36/12, in: Prot. Nr. 18/ 935 E.C. Austria. 60 Oberster Gerichtshof, Schreiben an die Apostolische Signatur vom 17. Dezember 1935, GZ. 2 Ob 894/35/2, Prot. Nr. 5/935 E.C. Austria; vgl. Oberster Gerichtshof, Beschluss vom 10. Dezember 1935 (Anm. 25); Oberster Gerichtshof, Schreiben an die Apostolische Signatur vom 19. Februar 1936, GZ. 2 Ob 40/36/2, Prot. Nr. 25/936 E.C. Austria. 61 Vgl. Apostolische Signatur, Schreiben an den Apostolischen Administrator von Innsbruck-Feldkirch vom 20. November 1934, mit dem der Beschluss des Obersten Gerichtshofs vom 16. Oktober 1934 (4 Ob 370/34 – 3) übermittelt wurde, in: Prot. Nr. 1/934 E.C. Austria. 62 Vgl. Apostolische Signatur, Schreiben vom 20. November 1934 an Bischof Sigismund Waitz, in: Prot. Nr. 1/934 E.C. Austria.

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hof. Manchmal verständigte der Ortsordinarius die Apostolische Signatur von dem im Tauf- und Trauungsbuch eingetragenen Vermerk.63 Die Apostolische Signatur sandte ihrerseits die im Original eingereichten Dokumente und Akten nach Abschluss des Anerkennungsverfahrens zurück an den Absender.64 IV. Die Korrektur von Verfahrensfehlern Verzögerungen bei der Bearbeitung der Ansuchen durch die Apostolische Signatur wurden meist durch die Anforderung fehlender Dokumente oder die Korrektur von Verfahrensfehlern verursacht. Da die Parteien darüber nicht immer informiert wurden, kam es zu an die Apostolische Signatur gerichteten Bittschreiben mit Angabe besonderer Dringlichkeitsgründe, wie etwa schwere Krankheit.65 Der Sekretär der Apostolischen Signatur antwortete in deutscher Sprache direkt den Parteien, sie sollten sich an das Gericht wenden, das mit der Korrektur von Verfahrensfehlern betraut war.66 Bei der Feststellung von Verfahrensfehlern, besonders derjenigen, welche die Nichtigkeit des Urteils zur Folge hatten, schrieb die Apostolische Signatur an den Moderator des Gerichts, dem der Fehler unterlaufen war, und erklärte auf minutiöse Art und Weise, wie der Fehler behoben werden könnte.67 Zu den am häufigsten von der Apostolischen Signatur festgestellten Mängeln gehört das Fehlen der Ladung der nichtklagenden Partei durch das Gericht der zweiten Instanz.68 So verständigte der Sekretär der Apostolischen Signatur mit Schreiben vom 29. August 1935 den Wiener Erzbischof davon, dass das vom Wiener Metropolitangericht in zweiter Instanz erlassene Urteil aus diesem Grund nichtig sei. Vor der Gewährung des Vollstreckungsdekrets durch die Apostolische Signatur ist die Heilung dieses Mangels erforderlich. Daher musste das Urteil der ersten Instanz vom Gericht der zweiten Instanz der nichtklagenden Partei notifiziert werden. Zugleich musste sie geladen werden, um am Verfahren in zweiter Instanz teilzunehmen. 63 Vgl. Apostolische Administratur Innsbruck: der Provikar, Schreiben vom 13. März 1935 an die Apostolische Signatur, in: Prot. Nr. 1/934 E.C. Austria. 64 Vgl. Diözese Linz: der Diözesanbischof, Schreiben vom 21. Dezember 1935 an die Apostolische Signatur, Prot. Nr. 5/935 E.C. Austria. 65 Vgl. Diözese Linz, Schreiben der Anstragstellerin an die Apostolische Signatur vom 25. Oktober 1935 und 8. November 1935, in: Prot. Nr. 5/935 E.C. Austria. 66 „Das Eheungültigkeitsurteil K.-F., in II. Instanz, ist nicht gültig, weil die Parteien nicht zitiert wurden“ (Apostolische Signatur, Schreiben in deutscher Sprache, ohne Datum, an die Antragstellerin, in: Prot. Nr. 5/935 E.C. Austria). 67 Vgl. Apostolische Signatur, Schreiben an den Moderator des zweitinstanzlichen Gerichts (Erzbischof von Wien), vom 29. August 1935, in: Prot. Nr. 5/935 E.C. Austria. 68 Es fehlte die Ladung des Nichtklägers durch das Salzburger Metropolitangericht (Apostolische Signatur, Schreiben an den Salzburger Erzbischof vom 18. Juni 1936, in: Prot. Nr. 18/935 E.C. Austria; Apostolische Signatur, Schreiben vom 30. Juli 1935 an den Erzbischof von Wien, Theodor Kardinal Innitzer, Prot. Nr. 19/935 E.C. Austria).

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War die in der Ladung festgelegte Zeit abgelaufen, ohne dass sie antwortete, konnte das Berufungsgericht das Urteil der ersten Instanz bestätigen und dadurch die Nichtigkeit des zweitinstanzlichen Urteils heilen. Wollte jedoch die Partei entweder persönlich oder durch einen legitim bestellten Prozessvertreter am Verfahren teilnehmen, so musste ein neues Verfahren in zweiter Instanz geführt und ein Urteil unter Berücksichtigung der eventuell vorgebrachten neuen Beweise und Argumente gefällt werden. Dieses Urteil war dann, gleich wie das Urteil der ersten Instanz, den Parteien und dem Bandverteidiger mitzuteilen. Stimmte es mit dem in erster Instanz erlassenen Urteil überein und legte niemand dagegen Berufung ein69, so wurde es nach Ablauf der Berufungsfrist rechtskräftig.70 Lag die Erklärung der nichtklagenden Partei vor, dass sie sich am Verfahren nicht beteiligen möchte, so wurde dies als ausreichend erachtet: „La citazione À attestata dalla dichiarazione delle parti… di non poter intervenire e di rimettersi alla giustizia del Tribunale.“71

War die nichtklagende Partei nicht auffindbar, so musste die sorgfältige Nachforschung belegt werden. In einem Fall wusste die nichtklagende Partei, dass ihr Mann in Santos in Brasilien lebte. Das österreichische Diözesangericht bat im Rechtshilfeverfahren das Diözesangericht von Santos um Mitteilung der Ladung an den Nichtkläger. Dieses antwortete am 12. Oktober 1932, dass er trotz sorgfältiger Nachforschung nicht gefunden werden konnte.72

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Oberster Gerichtshof, Beschluss vom 10. Dezember 1935 (Anm. 25). „Quum sententia, in causa de qua supra, quae ad obtinendos civiles effectus huic Nostro Tribunali missa est, nullitatis vitio laboret, eo quod in secunda instantia legitima desit citatio (cfr. can. 1894, n. 1), priusquam eius omologatio a Reipublicae Tribunali petatur, necesse est ut a vitio sanetur. Hoc autem ita fieri potest: I) Ante omnia sententia primi gradus a Tribunali appellationis communicanda erit parti conventae, simul cum citatione, ut, si velit, iudicio appellationis intersit, iuxta modum praescriptum in can. 1712. Haec citatio erit peremptoria, iuxta can. 1714; communicanda vero iuxta can. 1716, et sequentes. II) Tempore autem elapso in citatione praescripto, si pars citata contumax fuerit, tunc Tribunal sententiam latam confirmando, eam sanare poterit. III) Si vero pars citata, per se vel per procuratorem legitime constitutum, iudicio interesse velit, hoc instaurandum erit, et sententia ferenda iuxta argumenta vel documenta allata. IV) Haec sententia, eodem modo quo prior, partibus et S. Vinculi Defensori communicanda erit, et, si fuerit priori conformis, nec aliqua pars ab ea appellaverit, iuxta can. 1989 et 1903, elapso tempore a iure statuto, res pro iudicata habeatur, et sententia Nostro Tribunali mittatur ad effectus civiles a Supremo Reipublicae Tribunali obtinendos“ (Apostolische Signatur, Schreiben an den Moderator des zweitinstanzlichen Gerichts, den Erzbischof von Wien, vom 29. August 1935, in: Prot. Nr. 5/935 E.C. Austria). 71 Apostolische Signatur, handschriftliche Bemerkung auf dem Akt, ohne Datum und Unterschrift, in: Prot. Nr. 19/935 E.C. Austria. 72 „Noviter litteris rogatoriis diei 7 iulii 1932 Tribunal dioecesis Santos in auxilium vocatum est, ut iterum citet partem conventam juxta praescripta can. 1719; quod investigationibus accuratis die 12 octobris 1932 nuntiavit R. inde a mense julii non amplius commorari in Santos ejusque commorationis locum non esse notum“ (Diözese Gurk-Klagenfurt: der Offizial, Schreiben vom 5. Januar 1935 an die Apostolische Signatur, 18/935 E.C. Austria). 70

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In einigen Fällen wurde bei der Prüfung der Akten von der Apostolischen Signatur die fehlende Beteiligung des Bandverteidigers festgestellt. Sie verständigte daraufhin das Gericht, welches das Urteil ohne dessen Teilnahme gefällt hatte und fügte eine Anleitung zur Behebung des Fehlers bei: „Oportet igitur ut acta omnia illius processus S. Vinculi Defensori exhibeantur, et ab eo quaereatur quod in scriptis declaret utrum a processu iam expleto appellare velit ad superius Tribunal, an non. Si eius responsio negativa fuerit, ab eo subscribatur; deinde Decretum nullitatis illius matrimonii a priore iudice iterari oportet, et ad Nos mitti.“73

Auf die Anzeige eines solchen Mangels durch die Apostolische Signatur antwortete ein Gericht durch Übersendung der Erklärung des Bandverteidigers, er habe alle Akten eingesehen, sie für authentisch erklärt, und bestätigt, dass weder eine Dispens vom Ehehindernis noch eine Sanation nachträglich gewährt wurde. Er fügte noch hinzu, er hätte keine Absicht, gegen die affirmative Entscheidung erster Instanz zu berufen.74 Nach der Korrektur der Verfahrensfehler erklärte die Apostolische Signatur die in erster Instanz im Dokumentenverfahren ergangene Entscheidung für vollstreckbar.75 Auch der Oberste Gerichtshof erbat trotz Übersendung des zweiten konformen Urteils durch Dekret der Apostolischen Signatur manchmal alle Akten.76 Nach Prüfung des Verfahrens auf die Einhaltung rechtsstaatlicher Grundprinzipien gewährte er durch Beschluss des Vorsitzenden und der vier Räte in nicht-öffentlicher Sitzung die Vollstreckung.77 V. Die Nichtigerklärung von Ehen, die im Ausland bürgerliche Wirkungen erlangten Das erste Nichtigkeitsurteil eines kirchlichen Gerichts, welches nach In-KraftTreten des Konkordats bürgerliche Wirkungen erlangte, betraf eine Ehe, die am 1. Januar 1927 in der Pfarrkirche zu St. Jakob in Innsbruck geschlossen worden war. Diese Ehe hatte durch die Registrierung in der Stadtgemeinde Reggio Emilia am 24. Juni 1927 auch in Italien bürgerliche Wirkungen erlangt.78

73 Apostolische Signatur, Schreiben an den Salzburger Erzbischof Sigismund Waitz vom 31. Juli 1935, in: Prot. Nr. 17/935 E.C. Austria. 74 Metropolitangericht Salzburg: der Ehebandverteidiger, Erklärung vom 2. Oktober 1935, in: Prot. Nr. 17/935 E.C. Austria. 75 Vgl. Apostolische Signatur, Dekret vom 2. März 1936, in: Prot. Nr. 17/935 E.C. Austria. 76 Vgl. Diözese Gurk-Klagenfurt: der Offizial, Schreiben vom 6. Oktober 1936 an die Apostolische Signatur, Prot. Nr. 18/935 E.C. Austria. 77 „Der Oberste Gerichtshof in Wien hat durch den Senatspräsidenten … als Vorsitzenden und durch die Räte des Obersten Gerichtshofes… als Richter, in nicht öffentlicher Sitzung folgenden Beschluss gefasst“ (Oberster Gerichtshof, Beschluss vom 31. Mai 1938 [Anm. 59]). 78 Vgl. Regio Consolato Generale dÏItalia, Schreiben an die Apostolische Administratur Innsbruck vom 15. Juli 1934, in: Prot. Nr. 1/934 E.C. Austria.

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Mit Schreiben vom 6. Januar 1934 bat der damalige Apostolische Administrator von Innsbruck-Feldkirch, Sigismund Waitz, um die Gewährung der bürgerlichen Wirkungen der Nichtigerklärung durch die Gerichte Innsbruck und Salzburg im Königreich Italien gemäß Art. 34 des Italienischen Konkordats. Sobald die Ehenichtigkeit in Italien bürgerliche Wirkungen erlangt hatte, bestünde auf Grund des Internationalen Privatrechts kein Zweifel, dass dies auch in Österreich der Fall sein würde.79 Am 5. Juni 1933 wurde das Urteil des Metropolitangerichts Salzburg vom 12. Mai 1933, welches das affirmative Urteil des Gerichts der Apostolischen Administratur Innsbruck-Feldkirch bestätigte, als erstes Urteil aus Österreich der Apostolischen Signatur vorgelegt. Der Staatssekretär, Eugenio Kardinal Pacelli, informierte sie mit Schreiben vom 9. Juli 1934, dass sie mit der Bearbeitung dieses ersten Antrags beginnen könne80. Obwohl die Prozessakten bereits an die Apostolische Signatur gesandt worden waren, stellte nun die Klägerin am 24. Juli 1934 den Antrag um bürgerliche Wirkungen und bat, eine Bestätigung für korrekte Prozessführung an das zuständige staatliche Gericht in Österreich oder Italien zu senden, damit das zweite affirmative kirchliche Urteil bürgerliche Wirkungen in einem der beiden Länder erlange: „… precor enixe istud Supremum Signaturae Apostolicae Tribunal, ut acta processus iam ad istud Supremum Tribunal transmissa perspicere dignetur et attestationem de processu rite peracto ad supremum tribunal civile Italicum vel Austriacum, prout melius esse videtur, transmittat per ottenere gli effetti civili.“81

Dem Antrag wurden noch folgende Dokumente beigefügt: (1) Meldeschein der Gemeinde des Wohnsitzes der Klägerin in Tirol; (2) Trauschein der Trauungspfarre in Innsbruck; (3) Bestätigung des Königlichen Italienischen Generalkonsulats in Innsbruck über die Eintragung der Ehe im Ehebuch der Gemeinde des Wohnsitzes des beklagten Mannes im Königreich Italien.

79 „Infrascriptus Ordinarius Oenipontanus humiliter petit, ut istud Supremum Tribunal Signaturae Apostolicae adnexa acta processus nullitatis matrimonii R – M. ex capite vis et metus iuxta articulum 34 conventionis inter Sanctam Sedem et Italiae Regnum diei 11 Februarii 1929 examinare et deinde ad competens Tribunal Appellationis civile transmittere dignetur ad declarandum nullum esse matrimonium in casu etiam pro foro civili. Si nullum declaratum fuerit in regno Italiae, non est dubium quin etiam in territorio Austriaco nullum declaretur, quod actrix in causa valde desiderat, ut ad alias nuptias eidem oblatas transire possit“ (Apostolische Administratur Innsbruck-Feldkirch: der Apostolische Administrator, Schreiben vom 6. Januar 1934 an die Apostolische Signatur, in: Prot. Nr. 1/934 E.C. Austria). 80 „In conformit— a tali disposizioni concordatarie, nulla si oppone a che cotesto Supremo Tribunale possa dar corso agli atti relativi a cause matrimoniali che al pari di quelli che furono ora inviati dallÏAmministratore Apostolico di Innsbruck gli venissero in seguito rimessi dai competenti tribunali e dicasteri ecclesiastici“ (Staatssekretär: Eugenio Kard. Pacelli, Schreiben an die Apostolische Signatur vom 9. Juli 1934, Prot. Nr. 2093/34, Kopie im Archiv der Apostolischen Signatur I.R.M./934). 81 Vgl. Antrag der Klägerin vom 24. Juli 1934, in: Prot. Nr. 1/934 E.C. Austria.

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Die Apostolische Signatur entschied per Dekret die Übersendung des Antrags mit dem zweiten affirmativen Urteil an den Obersten Gerichtshof des Bundesstaates Österreich in Wien: „et hoc Tribunal sententiam suo decreto d.d. 1 Sept. 1934, Prot. 1/1934, confirmatam supremo Austriacae Reipublicae tribunali transmisit.“82

Der Oberste Gerichtshof gewährte die bürgerlichen Wirkungen für Österreich mit den Worten: „Der Oberste Gerichtshof des Bundesstaates Oesterreich hat in der Eheungültigkeitssache der Ehegatten W.R. und P. R., geb. M., in nichtöffentlicher Sitzung den Beschluss gefasst: Die Entscheidung des Obersten Gerichtshofs der Signatura Apostolica vom 1. September 1934, Prot. 1/1934, womit die Ungültigkeit der zu Innsbruck am 1. Jänner 1927 zwischen R. und M. geschlossenen Ehe ausgesprochen wird, wird für vollstreckbar erklärt.“83

In einem weiteren Fall waren beide Parteien italienische Staatsbürger. Die Klageschrift war beim Innsbrucker Gericht ratione contractus eingereicht worden. Die in Innsbruck im Jahr 1914 geschlossene Ehe galt nach dem bei ihrem Abschluss geltenden Gesetz sowohl für die Kirche als auch für den Staat. Der Offizial der Apostolischen Administratur Innsbruck-Feldkirch, der Selige Carl Lampert, sandte am 3. November 1936 das Urteil des ratione contractus zuständigen Gerichts der Apostolischen Administratur Innsbruck-Feldkirch sowie das vom Metropolitangericht Salzburg in zweiter Instanz gefällte Urteil an die Apostolische Signatur, mit der Bitte um Übersendung eines Bestätigungsdekrets an das kompetente Berufungsgericht in Italien: „transmittenda attestatione ad competens Appellationis Tribunal civile Italicum juxta tenorem Concordati inter Sanctam Sedem et Italiam initi die 11 februarii 1929 ad obtinendos effectus civiles necnon fide matrimonii ex qua elucet utramque partem esse civem regni Italici.“84

In seinem darauffolgenden Schreiben vom 26. November 1936 an die Agentie der Anima in Rom erklärte der Offizial der Apostolischen Administratur InnsbruckFeldkirch, dass die Trauung am 30. Juni 1914 in Innsbruck stattgefunden hatte und die Ehe deshalb in Österreich bürgerliche Wirkungen genoss, weshalb im Grunde das Ausführungsdekret für Österreich zu gewähren wäre.85 Der Offizial wies die 82

Apostolische Administratur Innsbruck-Feldkirch: der Provikar, Schreiben vom 13. März 1935 an den Staatssekretär, in: Prot. Nr. 1/934 E.C. Austria. 83 Vgl. Oberster Gerichtshof, Beschluss vom 16. Oktober 1934, 4 Ob 370/34 – 3, in: Prot. Nr. 1/934 E.C. Austria. 84 Auf dem Aktenordner findet sich die Notiz: „Si passi la presente pratica tra quelle austriache e si noti nel Protocollo delle pratiche italiane lÏavvenuto passaggio.“ (Apostolische Administratur Innsbruck-Feldkirch: der Offizial, Schreiben vom 3. November 1936 an die Apostolische Signatur, Prot. Nr. 61/937 E.C. Austria). 85 Vgl. Apostolische Administratur Innsbruck-Feldkirch: der Offizial, Schreiben vom 3. November 1936 an die Apostolische Signatur und Schreiben vom 26. November 1936 an die Agentie der Anima in Rom, in: Prot. Nr. 61/937 E.C. Austria.

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Signatur darauf hin, dass das königlich italienische Generalkonsulat in Innsbruck aber behauptet hätte, die Gültigkeit einer Ehe italienischer Staatsbürger könne lediglich ein italienisches Gericht beurteilen und es deshalb die Frage dem zuständigen Berufungsgericht in Trient unterbreitete.86 Beide Partner hatten ihren Wohnsitz in Italien. Der Kirchenanwalt der Signatur meinte: „Sembra invece al Sottoscritto che la pratica si debba svolgere presso il Supremo Tribunale austriaco, che non pu! ricusargli il riconoscimento degli effetti civili a sentenze emesse da tribunali ecclesiastici residenti in Austria e ordinare la trascrizione nei registri parrocchiali di Wilten, che trovasi tuttora in territorio austriaco. Ottenuta tale trascrizione le parti potranno, ove occorra, servirsene anche per regolare il loro stato civile in Italia, secondo le norme vigenti per tale materia nel campo del diritto civile e internazionale.“87

Die Apostolische Signatur gewährte am 8. Januar 1937 per Dekret die bürgerlichen Wirkungen für Österreich.88 Der Oberste Gerichtshof gewährte die Vollstreckbarkeitserklärung für Österreich am 20. April 1937.89 Die Apostolische Signatur schrieb an das staatliche Gericht erster Instanz in Rom: „matrimonio celebrato in una parrocchia che era ed À tuttora in territorio austriaco, i due Tribunali ecclesiastici che hanno giudicato in questa causa sono in Austria (Innsbruck e Salzburg), e lÏatto originale della celebrazione del matrimonio, a fianco del quale bisogna annotare la sentenza di nullit—, À quello che figura nei registri parrocchiali di Wilten …“90

Nach Gewährung der bürgerlichen Wirkungen in Österreich hätte eine einfache Korrektur des Personenstandes für Italien genügt: „Onde era facile alle parti interessate domandare alle Autorit— Austriache i documenti od estratti necessari per la rettifica del loro stato civile nel Regno dÏItalia.“91

Am 7. Juli 1937 beschloss die Apostolische Signatur die Gewährung eines Vollstreckungsdekrets gemäß Art 34, § 5 des italienischen Konkordats in italienischer Sprache mit der für Italien geltenden Protokollnummer 369/936C und dessen Übersendung an das Berufungsgericht in Trient für die Gewährung der bürgerlichen Wirkungen innerhalb Italiens:

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Vgl. Apostolische Administratur Innsbruck-Feldkirch: der Offizial, Schreiben vom 26. November 1936 an die Agentie der Anima in Rom, in: Prot. Nr. 61/937 E.C. Austria. 87 Vgl. Apostolische Signatur: der Kirchenanwalt, Gutachten ohne Datum mit der Protokollnummer 369/936, in: Prot. Nr. 61/937 E.C. Austria. 88 Apostolische Signatur, Anordnung des Sekretärs vom 7. Juli 1937, in: Prot. Nr. 61/937 E.C. Austria. 89 Vgl. Oberster Gerichtshof, Beschluss vom 20. April 1937, GZ. 2 Ob 27/37 – 7, in: Prot. Nr. 61/937 E.C. Austria. 90 Apostolische Signatur, Schreiben vom 8. Juli 1937 an die „Regia Procura presso il Tribunale Civile e Penale di Roma“, in: Prot. Nr. 61/937 E.C. Austria. 91 Apostolische Signatur, Schreiben vom 8. Juli 1937 (Anm. 90).

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„Si spedisca il decreto per gli effetti civili in Italia e si mandi alla R. Corte dÏAppello di Trento.“92

VI. Ablehnende Beschlüsse des Obersten Gerichtshofs Der Oberste Gerichtshof lehnte die Vollstreckung ab, wenn eine ausdrückliche Erklärung der nichtklagenden Partei vorlag, sich nicht auf das kirchliche Verfahren einzulassen. Dies hat Kardinal Innitzer in seinem zum Antrag des Klägers verfassten Begleitschreiben vom 17. Januar 1936 offen zugegeben und zugleich die Apostolische Signatur auf die Schwierigkeit aufmerksam gemacht: „Domina F. comparuit quidem coram Tribunali Eccles. Vindobonen., attamen responsiones non dedit et expressis verbis declaravit, se recusare Tribunal ecclesiasticum, tenore § 3, a linea 1 legis civilis Reipublicae Austriacae dd. 4. maii 1934 (B.G.Bl. nr. 8). Utrum decretum, quod in Supremo hoc Tribunali petitur, opportunum sit, difficillime dici potest, quia orator in mea dioecesi domicilium non habet.“93

Die Apostolische Signatur hat trotz der Bedenken des Ortsordinarius das im summarischen Verfahren wegen Hindernisses des Ehebandes gemäß can. 1990 ergangene Urteil94 für vollstreckbar erklärt. Der Oberste Gerichtshof erließ hingegen im Anschluss an die Übermittlung des Dekrets durch die Apostolische Signatur einen negativen Beschluss: „Die Entscheidung des Obersten Gerichtshofes der Signatura Apostolica vom 7. Februar 1936, Prot. 20/935, in der Eheungültigkeitssache des J.M. und der A.F. kann gemäß § 3, Abs. 1, lit. c des Bundesgesetzes vom 4. Mai 1934, BGBl. 8, nicht für vollstreckbar erklärt werden: aus der Entscheidung des Metropolitan- und Diözesangerichtes Wien vom 27. November 1935, Nr. 2327/27, geht nämlich hervor, dass F., ausdrücklich erklärt hat, sich in das kirchliche Verfahren nicht einzulassen.“95

Auch die fehlende Erklärung der Einlassung ins kirchliche Verfahren von Seiten einer96 oder gar beider Parteien, führte zu einem negativen Beschluss des Obersten Gerichtshofs: „da sich die Ehegatten in das kirchliche Verfahren nicht eingelassen haben (§ 3 [1] c des Bundesgesetzes vom 4. Mai 1934, Nr. 8, BGBl. I), was auch aus der gemäss § 1 (4) der Ver-

92

Apostolische Signatur: der Sekretär, Anmerkung vom 7. Juli 1937, in: Prot. Nr. 61/937 E.C. Austria. 93 Erzdiözese Wien: der Erzbischof, Schreiben vom 17. Januar 1936 an die Apostolische Signatur, in: Prot. Nr. 20/935 E.C. Austria. 94 Vgl. Apostolische Signatur, Dekret vom 7. Februar 1936, in: Prot. Nr. 20/935 E.C. Austria. 95 Oberster Gerichtshof, Beschluss vom 25. März 1936, GZ. 2 Ob 139/36/5, in: Prot. Nr. 20/935 E.C. Austria. 96 Vgl. Oberster Gerichtshof, Beschluss vom 31. Juli 1936, GZ. 3 Ob 599/36/3, in: Prot. Nr. 45/936 E.C. Austria.

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ordnung vom 8. Mai 1934, Nr. 13 BGBl. I eingeholten Mitteilung des Diözesangerichtes in Graz zu entnehmen ist.“97

Da im vorliegenden Fall gegen den Antragsteller aber ein Strafverfahren wegen Bigamie anhängig war, ordnete der Oberste Gerichtshof die Prüfung der Frage durch das Landesgericht Graz an „ob obiger Ehe die bürgerlichen Rechtswirkungen abzuerkennen sind“98. Die Antwort des Landesgerichts fehlt in den Akten der Apostolischen Signatur, allerdings findet sich ein später, am 31. Mai 1938 ergangener Beschluss des Obersten Gerichtshofs, der dem Dekret der Apostolischen Signatur vom 18. August 1937 bürgerliche Wirkungen verlieh.99 Die Mitteilung der kirchlichen Gerichtsbehörde, dass sich die nichtklagende Partei nur tatsächlich, nicht aber ausdrücklich in das kirchliche Verfahren eingelassen hat, wurde als unzureichend betrachtet. Nur wenn das Verfahren bereits zum Zeitpunkt des In-Kraft-Tretens des Konkordats anhängig war, genügte die Mitteilung des kirchlichen Gerichtes, dass sich beide Parteien tatsächlich in das kirchliche Verfahren eingelassen hatten. Für nach In-Kraft-Treten des Konkordats anhängig gewordene Verfahren ist hingegen eine ausdrückliche und persönliche mündliche oder schriftliche Erklärung der Streiteinlassung erforderlich.100 War die beklagte Partei zum Zeitpunkt der Einleitung des kirchlichen Verfahrens unbekannten Aufenthaltes, so prüfte der Oberste Gerichtshof nicht die Einhaltung der kanonischen, sondern der bürgerlichen Vorschriften: „Bei Ehegatten, die unbekannten Aufenthaltes sind, ist nach § 1/3 Verordnung vom 8. Mai 1934, BGBl. Nr. 13, anzunehmen, dass sie sich in das kirchliche Verfahren eingelassen

97 Oberster Gerichtshof, Beschluss vom 6. Oktober 1937, GZ. 3 Ob 683/37/4, in: Prot. Nr. 87/937 E.C. Austria. 98 Oberster Gerichtshof, Beschluss vom 6. Oktober 1937 (Anm. 97). 99 Apostolische Signatur, Dekret vom 18. August 1937 und Oberster Gerichtshof für das Land Österreich, Beschluss vom 31. Mai 1938, 3 Ob 299/38/9, in: Prot. Nr. 87/937 D., E.C. Austria. 100 Nach § 2 der Verordnung des Bundesministeriums für Justiz vom 8. Mai 1934, BGBl. Nr. 13, genügt die Mitteilung des kirchlichen Gerichtes, dass sich die Ehegatten in das kirchliche Verfahren tatsächlich eingelassen haben, nur für den Fall, dass das kirchliche Verfahren bereits zur Zeit des In-Kraft-Tretens des Konkordates anhängig war, was nach der Aktenlage hier nicht zutrifft: „Sonst, also auch im gegebenen Falle, ist nach §§ 1/1 und 4 der genannten Verordnung eine Mitteilung des kirchlichen Gerichtes des Inhaltes erforderlich, dass die Parteien ausdrücklich und persönlich (mündlich oder schriftlich) erklärt haben, sich in das kirchliche Verfahren einzulassen. Da nun nach dem eingangs Ausgeführten eine solche Mitteilung des kirchlichen Gerichtes nicht vorliegt, dieses vielmehr erklärt hat, dass die Parteien sich nicht ausdrücklich in das kirchliche Verfahren eingelassen haben, konnte im Sinne des Art. VII § 4 des Konkordates und § 3 (1) lit. c des Gesetzes vom 4. Mai 1934, BGBl. II 1934, Nr. 8 die kirchliche Ehescheidung nicht für vollstreckbar erklärt werden“ (Oberster Gerichtshof, Beschluss vom 5. Oktober 1937, GZ. 2 Ob 482/37/5, in: Prot. Nr. 77/937 E.C. Austria; vgl. Bundesstaat Österreich, Bundesgesetz vom 4. Mai 1934 [Anm. 5]).

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haben, wenn sie sich trotz einer in der amtlichen Landeszeitung veröffentlichten Aufforderung nicht binnen vier Wochen nach der Verlautbarung gemeldet haben.“101

Nach § 1, Abs. 4, muss das staatliche Gericht durch Anfrage prüfen, ob die Voraussetzungen für die Annahme gegeben sind, dass sich die Ehegatten in das kirchliche Verfahren eingelassen haben. Die Auskunft des kirchlichen Gerichts ist für das staatliche bindend. Im konkreten Fall war die Ladung gemäß can. 1720 durch ein Edikt erfolgt, welches vom 8. bis 17. Februar am Kundmachungsbrett des erzbischöflichen Ordinariats Wien öffentlich angeschlagen war. Dies entsprach zwar den kirchlichen nicht jedoch den staatlichen Vorschriften, nämlich der Veröffentlichung in der amtlichen Landeszeitung mit einer Frist von vier Wochen zur Meldung.102 Zuvor hatte der Oberste Gerichtshof über das Diözesangericht von der Apostolischen Signatur Akten erbeten und erhalten.103 Das Problem konnte durch nachträgliche Erfüllung der staatlichen Voraussetzungen gelöst werden, weshalb der Oberste Gerichtshof schließlich am 23. September 1936 die bürgerlichen Wirkungen gewährte.104 Die durch Gerichte der katholischen Kirche erfolgte Nichtigkeitserklärung einer Eheschließung von zwei Nichtkatholiken ist auch dann nicht vollstreckbar, wenn sie gemäß der von der jeweiligen nichtkatholischen Gemeinschaft vorgeschriebenen Form erfolgte: „Die Bestimmung des Art. VII des Konkordates zwischen dem Heiligen Stuhl und dem Bundesstaat Oesterreich betrifft nur, wie aus § 3, 1a und § 9 des Gesetzes vom 4. Mai 1934, BGBl. Nr. 8, hervorgeht, kirchliche Ehen; darunter werden nur diejenigen verstanden, welche gemäß § 1 des Gesetzes vor einem Priester der katholischen Kirche gemäß dem kanonischen Recht geschlossen wurden.“105

Ebenso lehnte der Oberste Gerichtshof die Vollstreckung dann ab, wenn es sich um eine in einer sonstigen nichtkatholischen Form, etwa in altkatholischer Form geschlossene Ehe handelte. In einem konkreten Fall war der geschiedene Nichtkläger am 3. April 1928 zur altkatholischen Kirche übergetreten106, während die Klägerin diesen Schritt am 27. September 1928 vorgenommen hatte. Die Trauung war in altkatholischer Form am 10. Oktober 1928 in Wien erfolgt. Nach dem Scheitern der Ehe kehrte die Frau am 24. Mai 1934 zur katholischen Kirche zurück und reichte die Kla-

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Vgl. Oberster Gerichtshof, Beschluss vom 10. Juni 1936, GZ. 1 Ob 310/36/5, in: Prot. Nr. 28/936 E.C. Austria. 102 Vgl. Oberster Gerichtshof, Beschluss vom 10. Juni 1936 (Anm. 101). 103 Vgl. Erzdiözese Wien: der Generalvikar, Schreiben an die Apostolische Signatur vom 20. April 1936, in: Prot. Nr. 28/936 E.C. Austria. 104 Oberster Gerichtshof, Beschluss vom 23. September 1936, in: Prot. Nr. 28/936 E.C. Austria. 105 Oberster Gerichtshof, Beschluss vom 17. Juli 1935, GZ. 1 Ob 512/35/2, in: Prot. Nr. 8/ 935 E.C. Austria. 106 Vgl. Oberster Gerichtshof, Schreiben an das Fürsterzbischöfliche Ordinariat Salzburg, 17. Juli 1935, 1 Ob 512/35/2, in: Prot. Nr. 8/935 E.C. Austria.

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geschrift beim Metropolitangericht Wien ein.107 Die Nichtigkeitserklärung erfolgte im Dokumentenverfahren wegen fehlender katholischer Eheschließungsform und wegen Hindernisses des Ehebandes. Wegen der nur vor dem altkatholischen Seelsorger erfolgten Trauung lehnte der Oberste Gerichtshof die Vollstreckung des Dekrets der Apostolischen Signatur ab.108 Auch in Bezug auf die Konfessionszugehörigkeit fanden die staatlichen Vorschriften Anwendung: „Zur Zeit der Eheschließung waren im vorliegenden Falle beide Ehewerber Angehörige der altkatholischen Religionsgemeinschaft, somit im Sinne der staatlichen Gesetze nicht Angehörige der römisch-katholischen Kirche. Die Eheschließung erfolgte entsprechend der Vorschrift des § 75 ABGB vor dem altkatholischen Pfarrer.“109

Der Oberste Gerichtshof folgte der staatlichen Gesetzgebung, wonach die altkatholische Religionsgemeinschaft als eine besondere, von der römisch-katholischen Kirche verschiedene Religionsgemeinschaft anzusehen war. „Die geschlossene Ehe kommt daher nicht als eine kirchliche Ehe im Sinne der Bestimmungen des Konkordates in Betracht. Es fehlen somit die Voraussetzungen für eine Vollstreckbarkeitserklärung der kirchlichen Entscheidung über die Ungültigkeit der Ehe.“110

In einem Fall hatte die Klägerin ihren Wohnsitz in München und der Nichtkläger in Wien. Der Offizial des Metropolitangerichts München übermittelte die Akten der ersten und zweiten Instanz zusammen mit dem vom Nichtkläger gestellten Antrag zur Gewährung bürgerlicher Wirkungen für Österreich an die Apostolische Signatur mit der Begründung: „… quia conventus et per consequens etiam uxor eius sunt subiecti Reipublicae Austriacae“111. Der Kläger beantragte bei der Apostolischen Signatur die bürgerlichen Wirkungen für Österreich, weshalb die Apostolische Signatur die Übersendung des zweiten übereinstimmenden Urteils an den Obersten Gerichtshof anordnete.112 Der österreichische Oberste Gerichtshof verweigerte am 12. März 1936 die Erteilung der bürgerlichen Wirkungen mit der Begründung, dass das erst-

107 Vgl. Oberster Gerichtshof, Schreiben an das Fürsterzbischöfliche Ordinariat Salzburg vom 17. Juli 1935 (Anm. 106). 108 Vgl. Oberster Gerichtshof, Schreiben an das Fürsterzbischöfliche Ordinariat Salzburg vom 17. Juli 1935 (Anm. 106). 109 Oberster Gerichtshof, Schreiben an das Fürsterzbischöfliche Ordinariat Salzburg vom 17. Juli 1935 (Anm. 106). 110 Oberster Gerichtshof, Schreiben an das Fürsterzbischöfliche Ordinariat Salzburg vom 17. Juli 1935 (Anm. 106). 111 Erzdiözese München-Freising: der Offizial, Schreiben vom 25. Mai 1935 an die Apostolische Signatur, in: Prot. Nr. 6/935 E.C. Austria. 112 Vgl. Apostolische Signatur, Dekret vom 28. Februar 1936, in: Prot. Nr. 6/935 E.C. Austria.

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instanzliche Urteil vom Diözesangericht Augsburg, also von einem ausländischen Gericht gefällt worden war113 : „Nach § 3, Abs. 1, lit. b des österreichischen Gesetzes vom 4. Mai 1934, BGBl. II, Nr. 8, kann eine kirchliche Entscheidung, welche die Ungültigkeit einer Ehe ausspricht, vom Obersten Gerichtshofe nur dann für vollstreckbar erklärt werden, wenn in erster Instanz ein in Österreich gelegenes kirchliches Gericht eingeschritten ist (§ 3 des Art. VII des Konkordates). Im vorliegenden Falle sind in erster und zweiter Instanz kirchliche Ehegerichte eingeschritten, deren Sitz sich im Deutschen Reiche befindet. Es musste daher die Erklärung der Vollstreckbarkeit ungeachtet des Umstandes abgelehnt werden, dass beide Ehegatten österreichische Staatsangehörige sind.“114

Die Tatsache, dass auch das zweitinstanzliche Urteil von einem ausländischen Gericht, nämlich vom Metropolitangericht München, gefällt worden war, spielte keine Rolle. In einem anderen Fall lehnte der Oberste Gerichtshof die Ausführung eines von einem kirchlichen Gericht erlassenen Urteils mit der Begründung ab, eine Vollstreckbarkeitserklärung sei nur für jene im Ausland geschlossenen Ehen möglich, welchen nach dem Internationalen Privatrecht in Österreich bürgerliche Rechtswirkungen zukommen, was nicht der Fall war: „Bürgerlich wirksam aber werden nur die kirchlichen Ehen, die das nach dem Internationalen Privatrechte sind, also nur die, die auch nach dem betreffenden Auslandsrechte kirchlich geschlossen werden können. Dies gilt nach § 9 DurchfG. auch hinsichtlich der vor dem 1. Mai 1934 geschlossenen kirchlichen Auslandsehen.“115

Für die Gültigkeit der Eheschließung in Deutschland ist das deutsche Bürgerliche Gesetzbuch maßgeblich. Die Parteien hatten zuvor die Ehe standesamtlich geschlossen. Die bloß kirchliche Eheschließung hat in Deutschland und daher nach dem Internationalen Privatrecht auch in Österreich keine bürgerlichen Rechtswirkungen, weshalb gemäß § 5, Abs. 1 des Durchführungsgesetzes von 1934116 von einer Vollstreckbarerklärung abzusehen war, da durch sie für den staatlichen Bereich keine Änderung des Rechtszustandes hervorgerufen würde.117

113 „Mit Urteil vom 27. März 1935 hat das bischöfliche Ehegericht Augsburg als Gericht zweiter Instanz die Entscheidung des erzbischöflichen Konsistoriums München und Freising vom 24. Dezember 1934 bestätigt, womit die Ungültigkeit der zwischen H. und E. am 24. Oktober 1935 bei St. Gabriel in München geschlossenen Ehe ausgesprochen wurde“ (Oberster Gerichtshof, Beschluss vom 12. März 1936, GZ. 1 Ob 190/36/1, in: Prot. Nr. 6/935 E.C. Austria). 114 Oberster Gerichtshof, Beschluss vom 12. März 1936 GZ. 1 Ob 190/36/1, in: Prot. Nr. 6/935 E.C. Austria. 115 Oberster Gerichtshof, Beschluss vom 23. November 1937, GZ. 1 Ob 1117/37/1, in: Prot. Nr. 92/937 E.C. Austria; vgl. Köstler, Das österreichische Konkordats-Eherecht (Anm. 12) , S. 123 und 126. 116 Vgl. Bundesstaat Österreich, Bundesgesetz vom 4. Mai 1934 (Anm. 5), § 5 (1). 117 Vgl. Oberster Gerichtshof, Beschluss vom 23. November 1937 (Anm. 115).

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Schließlich lehnte der Oberste Gerichtshof die Vollstreckung des durch die Signatur übermittelten zweitinstanzlichen Urteils ab, da die Ehe zuvor bereits von staatlichen Gerichten für nichtig erklärt worden war. Der Erlass des kirchlichen Vollstreckungsdekrets durch die Apostolische Signatur hätte auf der Unkenntnis der Tatsache beruht, dass die Ehe bereits durch Urteile des Oberlandesgerichts Wien und des Obersten Gerichtshofs für den Bundesstaat Österreich für ungültig erklärt worden war.118 Umgekehrt wurden die Voraussetzungen für die Vollstreckbarerklärung des mit dem Dekret der Apostolischen Signatur übermittelten zweiten konformen Urteils, dann als nicht gegeben betrachtet, wenn das kirchliche Gericht die rein standesamtliche Trauung der Partner für nichtig erklärt hatte, was dann der Fall sein konnte, wenn die Partner zum Zeitpunkt der Trauung der kanonischen Formpflicht nicht unterlagen. Als Begründung für die Ablehnung zog der Oberste Gerichtshof § 3 des Gesetzes vom 4. Mai 1934 heran, wonach die kirchliche Entscheidung nur für vollstreckbar erklärt werden kann, wenn sie eine kirchliche Ehe zum Gegenstand hat.119 Die Dekrete der Apostolischen Signatur zogen als gesetzliche Grundlage für ihre Entscheidungen lediglich Art. VII des Konkordats heran, d. h. berücksichtigten das vom Bundesstaat Österreich erlassene Ausführungsgesetz keineswegs: „inspectis actis causae, ex quibus iuris normae servatae apparent; inspecta conventione inita inter Sanctam Sedem et Rempublicam Austriacam (art. VII, §§ 3,4) …“120

VII. Das Verfahren zur Vollstreckung der vom Papst gewährten Eheauflösung wegen Nichtvollzugs Zunächst musste der Antrag um Gewährung des Vollstreckungsdekretes an die Apostolische Signatur gerichtet werden: „… ist jedoch zur staatlichen Anerkennung der Ehelösung und der Austragung in den Matrikenbüchern noch die Überprüfung der Akten seitens der Hw. Signatura Apostolica und die Weiterleitung an den Obersten Österreichischen Gerichtshof in Wien notwendig … damit erwirkt werde, dass die vom Hl. Vater gütigst gewährte Lösung der Ehe, im Sinne des Kon-

118 Vgl. Oberster Gerichtshof, Schreiben vom 14. April 1937 an die Apostolische Signatur, GZ. 1 Ob 289/37/3, in: Prot. Nr. 72/937 E.C. Austria. „Der Oberste Gerichtshof erklärt die in den §§ 3 und 4 bezeichneten kirchlichen Entscheidungen und Verfügungen in nicht öffentlicher Sitzung und ohne mündliche Verhandlung durch Beschluss für vollstreckbar. Von der Vollstreckbarerklärung ist abzusehen, wenn durch sie für den staatlichen Bereich keine Änderung des Rechtszustandes hervorgerufen würde. Sind Erhebungen notwendig, so hat der Senat sie anzuordnen und entweder selbst durchzuführen oder durch einen beauftragten oder ersuchten Richter durchführen zu lassen“ (Bundesstaat Österreich, Bundesgesetz vom 4. Mai 1934 [Anm. 5], § 5, 1). 119 Vgl. Oberster Gerichtshof, Beschluss vom 31. Juli 1936, GZ. 3 Ob 599/36/3, in: Prot. Nr. 45/936 E.C. Austria. 120 Apostolische Signatur, Dekret vom 24. August 1936, in: Prot. Nr. 28/936 E.C. Austria.

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kordates v. 3. Juni 1933 Art. VII § 4, auch vom Bundesstaat Österreich für den zivilen Rechtsbereich anerkannt wird.“121

Der Antrag konnte in deutscher Sprache gestellt werden und betraf die staatliche Anerkennung der Eheauflösung: „Die ergebenst Gerechtfertigte bittet, der Oberste kirchliche Gerichtshof der Signatura Apostolica in Rom möge erwirken, dass die vom Heiligen Vater gewährte Lösung meiner Ehe vom Bundesstaat Österreich auch für den zivilen Rechtsweg anerkannt werde.“122

Der Oberste Gerichtshof für Österreich gewährte nach Erhalt dieses Dekrets der Apostolischen Signatur dem päpstlichen Reskript der Eheauflösung wegen Nichtvollzugs problemlos die Vollstreckungserklärung, sofern es eine Ehe zum Gegenstand hatte, welche bürgerliche Rechtswirkungen erlangt hatte.123 Im Gegensatz zum Antrag auf Zuerkennung der bürgerlichen Wirkungen für das Urteil eines kirchlichen Gerichts, welches die affirmative Entscheidung erster Instanz bestätigte, wurde der Antrag auf Zuerkennung bürgerlicher Wirkungen für ein Dispensreskript wegen Nichtvollzugs häufig nur von einer Partei gestellt.124 Wurde der Antrag von beiden Parteien gestellt, wie es auch von der Apostolischen Signatur gewünscht war125, so traten die Wirkungen der einvernehmlichen Trennung ein. Nach Art. 4, (3) war die Gewährung der bürgerlichen Wirkungen auch auf Antrag nur einer der beiden Parteien hin möglich. Es traten dann die Wirkungen der auf Antrag nur einer Partei ausgesprochenen Trennung ein.126 Gleich ob der Antrag von einem oder von beiden Partnern gestellt wurde, wurde „die Ehe hinsichtlich ihrer bürgerlichen Rechtswirkungen als dem Bande nach ge-

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Diözese Graz Seckau, Schreiben des Antragstellers vom 19. Oktober 1934 an die Apostolische Signatur, in: Prot. Nr. 3/934 E.C. Austria. 122 Diözese Graz-Seckau, Schreiben der Antragstellerin vom 22. Oktober 1934 an die Apostolische Signatur in deutscher Sprache, Prot. Nr. 3/934 E.C. Austria. 123 „Die kirchliche Verfügung über die Nachsicht von einer geschlossenen, aber nicht vollzogenen Ehe hat der Oberste Gerichtshof für vollstreckbar zu erklären, wenn festgestellt ist, dass sie eine kirchliche Ehe zum Gegenstand hat, die bürgerliche Rechtswirkungen erlangt hat“ (Bundesstaat Österreich, Bundesgesetz vom 4. Mai 1934 [Anm. 5], § 4, 1). 124 Vgl. Antrag des Bittstellers an die Apostolische Signatur vom 11. Januar 1936, in: Prot. Nr. 27/936 E.C. Austria. 125 „Haec petitio ab utroque coniuge est subsignanda; eorum autem authenticae subscriptionis testari debet vel Cancellarius Episcopi, vel publicus Notarius …“ (Apostolische Signatur, Schreiben vom 11. Oktober 1934 an den Bischof von Graz, in: Prot. Nr. 3/934 E.C. Austria). 126 „Geht die Nachsicht von einer geschlossenen, aber nicht vollzogenen Ehe auf ein Ansuchen beider Ehegatten zurück, so treten die bürgerlichen Rechtswirkungen einer einverständlichen Trennung ein. Ist die Nachsicht auf Ansuchen der Ehegatten erteilt worden, so treten die bürgerlichen Rechtswirkungen einer Ehetrennung ein, die auf Verlangen eines Ehegatten ausgesprochen wurde. Die Entscheidung über die Frage des Verschuldens steht den staatlichen Gerichten zu, die über vermögensrechtliche Ansprüche zu entscheiden haben“ (Bundesstaat Österreich, Bundesgesetz vom 4. Mai 1934 siehe oben § 4, 3).

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trennt angesehen.“127 Diese Formulierung übernahm der Oberste Gerichtshof in seinen Beschlüssen.128 Es lag damit kein staatliches Scheidungsurteil vor, sondern lediglich die widerlegbare Rechtsvermutung der Scheidung.129 Die Aberkennung der bürgerlichen Rechtswirkungen war gleichbedeutend mit der staatlichen Ungültigkeit.130 Lediglich die Entscheidung über die Frage des Verschuldens und der vermögensrechtlichen Ansprüche blieb den staatlichen Gerichten vorbehalten.131 Die Kinder aus der für ungültig erklärten Ehe waren stets als eheliche Kinder anzusehen. Folgende Dokumente mussten an die Apostolische Signatur gesandt werden: (1) der meist in lateinischer Sprache verfasste und von einem oder beiden Partnern unterschriebene Antrag, deren Unterschriften vom Ordinariatskanzler bestätigt wurden132 ; (2) Heimatschein133, der dem heutigen Staatsbürgerschaftsnachweis entspricht; (3) Trauungsschein des Pfarramtes; (4) Urteil des staatlichen Gerichts der Trennung von Tisch und Bett134 ; (5) von der Kongregation für die Disziplin der Sakramente ausgefertigtes Reskript der vom Papst gewährten Dispens von der nichtvollzogenen Ehe; (6) Empfehlungsschreiben des Ortsordinarius des Wohnsitzes des Antragstellers in lateinischer Sprache135. Die Apostolische Signatur verlangte lediglich die Zusendung des Antrags der Parteien und ein authentisches Exemplar des von der Kongregation für den Gottesdienst und die Disziplin der Sakramente ausge-

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Bundesstaat Österreich, Bundesgesetz vom 4. Mai 1934 (Anm. 5), § 4 (2). Oberster Gerichtshof, Beschluss vom 21. Dezember 1936, GZ. 1 Ob 1080/36/3, in: Prot. Nr. 57/936 E.C. Austria. 129 Vgl. Primetshofer, Ehe und Konkordat (Anm. 16), S. 76 130 Vgl. Primetshofer, Ehe und Konkordat (Anm. 16), S. 78. 131 Vgl. Bundesstaat Österreich, Bundesgesetz vom 4. Mai 1934 (Anm. 5). 132 „Petitiones G. et M., ut nullitas sui matrimonii etiam a regimine civili Austriae admittatur, authentizatae a Cancellario Curiae Princ. Episcopalis Seccoviensis Graecii“ (Diözese Graz Seckau: der Generalvikar, Schreiben vom 25. Oktober 1934 an die Apostolische Signatur, in: Prot. Nr. 3/934 E.C. Austria). 133 Land Oberösterreich: Gemeinde Witzersdorf, Heimatschein Nr. 532 vom 29. Juni 1935, in: Prot. Nr. 15/935 E.C. Austria. 134 Bezirksgericht Lambach, Beschluss: „Scheidung von Tisch und Bett“ vom 25. Mai 1925, in: Prot. Nr. 7/935 E.C. Austria; Bezirksgericht Ottensheim, Abt. I, Beschluss: „Scheidung von Tisch und Bett“ vom 21. November 1924, in: Prot. Nr. 13/935 E.C. Austria. Der Ausdruck „Scheidung“ ist hier nicht im Sinne des geltenden Rechts zu verstehen. Es geht nicht um die Aufhebung des Ehebandes, sondern lediglich um die Aufhebung der Lebensgemeinschaft (vgl. Kandler-Mayr, Auswirkungen des neuen Eherechts von 1938 [Anm. 22], S. 257). 135 „Precibus annuens oratricis supra dictae exoptantis, ut vinculi matrimonialis dissolutio etiam in foro civili suum sortiatur effectum, Supremum istud Signaturae Apostolicae Tribunal enixe rogare audeo, ut ad mentem articuli VII, § 4, Concordati inter Sanctam Sedem Apostolicam et rempublicam Austriacam initi hanc causam persequi dignetur“ (Diözese Linz: der Diözesanbischof, Schreiben an die Apostolische Signatur vom 1. Oktober 1934, Prot. n. 2/934 E.C. Austria; vgl. Diözese Linz: der Diözesanbischof, Empfehlungsschreiben vom 14. November 1934 an die Apostolische Signatur, in: Prot. Nr. 7/935 E.C. Austria). 128

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stellten Dispensreskripts.136 Im Original gesandte Dokumente wurden nach Erlass des Dekrets von der Apostolischen Signatur wieder zurückgesandt.137 Die Abschriften nicht im Original gesandter Dokumente wurden vom Notar des Diözesangerichts beglaubigt. Im staatlichen Bereich vollstreckt werden kann ein Dispensreskript nur dann, wenn die Ehe nicht bereits durch ein in Österreich wirksames staatliches Urteil für ungültig erklärt worden ist. Was den Zeitpunkt der Ausfertigung betrifft, so sind auch ältere, vor In-Kraft-Treten erlassene Dispensreskripte, annehmbar.138 Die gesetzlich vorgesehene Einschränkung, dass eine vor dem In-Kraft-Treten des Konkordates in Rechtskraft erwachsene kirchliche Entscheidung, welche die Ungültigkeit der Ehe ausspricht, nicht gemäß § 3 des Gesetzes für vollstreckbar erklärt werden kann, betrifft nämlich lediglich Nichtigkeitserklärungen, nicht jedoch kirchliche Verfügungen über die Nachsicht von einer geschlossenen, aber nicht vollzogenen Ehe.139 Wird nämlich die kirchliche Nachsicht von der nicht vollzogenen Ehe gemäß Art. VII, § 4, des Konkordates dem Obersten Gerichtshof vorgelegt und von diesem für vollstreckbar erklärt, „so ist die Ehe gemäß § 4, Absatz 2, des Gesetzes vom 4. Mai 1934, Bgbl. II Nr. 8, mit der Vollstreckbarerklärung hinsichtlich ihrer bürgerlichen Rechtswirkungen – also für den staatlichen Bereich – als dem Band nach getrennt anzusehen. Es wird daher dann der Wiederverehelichung der L. staatlicherseits das Ehehindernis des Ehebandes nicht mehr entgegenstehen, so dass eine von ihr gemäß dem kanonischen Recht geschlossene Ehe mit Wirksamkeit für den staatlichen Bereich in das Trauungsbuch eingetragen werden kann und damit die nach staatlichem Recht mit dem Abschluss einer Ehe verbundenen Rechtswirkungen erlangen würde.“140

In einem konkreten Fall kam der im Jahre 1926 erteilten kirchlichen Nachsicht von der nicht vollzogenen Ehe keine staatliche Wirksamkeit zu. Einer Wiederverehelichung der L. stand demnach staatlicherseits das Ehehindernis des Ehebandes entgegen, eine dennoch von ihr gemäß dem kanonischen Recht geschlossene Ehe konnte in das Trauungsbuch nicht mit Wirksamkeit für den staatlichen Bereich eingetragen 136

„… ut Apostolicae Signaturae Tribunal obtinere civiles effectus valeat Apostolicae dispensationi a matrimonio, de quo supra, necesse est ut Nobis mittatur: (1) Authenticum exemplar dispensationis a Ssmo. concessae, per Sacram Congregationem Sacramentorum; (2) Petitio utriusque coniugis huic Supremo Tribunali, ut nullitas sui matrimonii etiam ab Austriaca Republica civiliter admittatur“ (Apostolische Signatur, Schreiben an den Bischof von Graz-Seckau vom 11. Oktober 1934, in: Prot. Nr. 3/934 E.C. Austria). 137 „Simul enixe petitur, ut transmissus fasciculus actorum, qui est exemplar unicum archivi tribunalis Seccoviensis, benignissime huc remittatur“ (Diözese Graz-Seckau: der Generalvikar, Schreiben vom 25. Oktober 1934 an die Apostolische Signatur, in: Prot. Nr. 3/934 E.C. Austria). 138 Oberster Gerichtshof, Beschluss vom 4. Februar 1936, GZ. 4 Ob 37/36/1 in: Prot. Nr. 27/936 E.C. Austria. 139 Vgl. Bundesstaat Österreich: Bundeskanzleramt, Schreiben vom 25. Juli 1934 (Anm. 26). 140 Bundesstaat Österreich: Bundeskanzleramt, Schreiben vom 25. Juli 1934 (Anm. 26).

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werden und daher bürgerliche Rechtswirkungen nicht erlangen.141 Daher wurde die kirchliche Nachsicht (so wurde das Auflösungsreskript im Sprachgebrauch des Obersten Gerichtshofs genannt) von der nicht vollzogenen Ehe gemäß Art. VII, § 4, des Konkordates dem Obersten Gerichtshof vorgelegt und von diesem für vollstreckbar erklärt, weshalb die Ehe mit der Vollstreckbarkeitserklärung hinsichtlich ihrer bürgerlichen Rechtswirkungen – also für den staatlichen Bereich – als dem Bande nach getrennt anzusehen war.142 Es stand daher der Wiederverehelichung staatlicherseits das Ehehindernis des Ehebandes nicht mehr entgegen, so dass eine von ihr gemäß dem kanonischen Recht geschlossene Ehe mit Wirksamkeit für den staatlichen Bereich in das Trauungsbuch eingetragen werden und damit die nach staatlichem Recht mit dem Abschluss einer Ehe verbundenen Rechtswirkungen eintreten konnten.143 Für die Vollstreckbarkeitserklärung stellte es kein Hindernis dar, wenn die Ehe durch einen Stellvertreter geschlossen worden war, was während des Ersten Weltkrieges keine Seltenheit darstellte.144 In ihren allgemein und knapp gefassten Dekreten nahm die Apostolische Signatur lediglich Bezug auf das Dispensreskript, und holte die Akten des vorausgehenden Verwaltungsverfahrens gar nicht ein, da diese bereits von der Sakramentenkongregation vor Gewährung des Reskripts geprüft worden waren.145 Der Text des Dekretes der Apostolischen Signatur lautete folgendermaßen: „Nos Henricus Gasparri Sanctae Romanae Ecclesiae Cardinalis Supremi Signaturae Apostolicae Tribunalis Praefectus inspecto decreto Sacrae Congregationis pro disciplina Sacramentorum, ex quo constat dispensationem a Ssmo. concessam fuisse super matrimonio rato et non consummato, celebrato inter A.E. et H.N., die 28 mensis ianuarii anni 1913, in ecclesia paroeciali loci vulgo P., inspecto art. VII, par. 3 et 4 Concordati inter Sanctam Sedem et Rempublicam Austriacam, decernimus: Sacrae Congregationis pro disciplina Sacramentorum decretum, et hoc Nostrum in authentico exemplari transmittantur Supremo

141 Vgl. Bundesstaat Österreich: Bundeskanzleramt, Schreiben vom 25. Juli 1934 (Anm. 26). 142 Vgl. Bundesstaat Österreich, Bundesgesetz vom 4. Mai 1934 (Anm. 5), § 4 (2). 143 Vgl. Bundesstaat Österreich: Bundeskanzleramt, Schreiben vom 25. Juli 1934 (Anm. 26); Oberster Gerichtshof, Beschluss vom 12. Mai 1936, 2 Ob 393/36/2, in: Prot. Nr. 43/936 E.C. Austria. 144 Vgl. Oberster Gerichtshof, Beschluss vom 5. Juli 1935 in: Prot. Nr. 11/935 E.C. Austria. 145 „Nos Henricus Gasparri Sanctae Romanae Ecclesiae Cardinalis Supremi Signaturae Apostolicae Tribunalis Praefectus inspecto decreto Sacrae Congregationis pro disciplina Sacramentorum, diei 14 mensis martii 1934, ex quo constat dispensationem a Ssmo. Domino Nostro PIO PP. XI concessam fuisse super matrimonio rato et non consummato, inito die 26 mensis septembris, anno 1921, inter M. et G. in ecclesia paroeciali B.M.V. in coelum Assumptae, Graecii (Officium Episcopale Secoviense in urbe Graz, Austriae) inspecto art. VII, n. 3 et 4 solemnis Conventionis inter Sanctam Sedem et Rempublicam Austriacam, decernimus …“ (Apostolische Signatur, Dekret vom 24. Juni 1935, in: Prot. Nr. 3/934 E.C. Austria).

Die Überprüfung der endgültigen Urteile im Ehenichtigkeitsprozess

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Austriacae Reipublicae Tribunali, ut civiles effectus concedantur ad Apostolicam dispensationem de qua supra.“146

Es folgte die Unterschrift des Präfekten und des Sekretärs. Für das Dekret zur Übersendung des Antrags und des päpstlichen Auflösungsreskripts wurde am 16. Juli 1935 erstmals ein vorgedrucktes Formular verwendet.147 Die Apostolische Signatur übersandte ihr Dekret und das Dispensreskript an den Obersten Gerichtshof148 : „Rescriptum Sacrae Congregationis pro disciplina Sacramentorum, de quo supra, et hoc Decretum in authentico exemplari mittantur ad Supremum Austriacae Reipublicae Tribunal, ut Apostolicae dispensationi civiles concedantur effectus.“149

Der Oberste Gerichtshof entschied auch bei Nichtvollzug durch einen in nicht-öffentlicher Sitzung unter dem Vorsitz des Senatspräsidenten und unter Teilnahme von vier Räten gefassten Beschluss: „die Nachsicht von der von A. und B. geschlossenen, aber nicht vollzogenen Ehe wird für vollstreckbar erklärt.“150

Der Beschluss des Obersten Gerichtshofs erwähnte sodann die bürgerlichen Wirkungen: „Mit dieser Vollstreckbarkeitserklärung wird die Ehe hinsichtlich ihrer bürgerlichen Rechtswirkungen als dem Bande nach getrennt angesehen. Hierdurch treten die bürgerlichen Rechtswirkungen einer Ehetrennung ein, die auf Verlangen eines Ehegatten ausgesprochen wurde. Der Entscheidung über die Frage des Verschuldens wird durch diesen Beschluss nicht vorgegriffen.“151

Der Oberste Gerichtshof sandte eine beglaubigte Abschrift seines Beschlusses an die Apostolische Signatur: „Hievon beehrt sich der Oberste Gerichtshof für den Bundesstaat Österreich den Obersten Gerichtshof der Signatura Apostolica mit dem Beifügen in Kenntnis zu setzen, dass die Parteien im Wege des erzbischöflichen Ordinariates in Wien verständigt werden.“152 146 Apostolische Signatur, Dekret vom 18. Juni 1935, in: Prot. Nr. 7/935 E.C. Austria; Apostolische Signatur, Dekret vom 22. Juni 1935, in: Prot. Nr. 10/935 E.C. Austria. 147 Vgl. Apostolische Signatur, Dekret vom 16. Juli 1935, in: Prot. Nr. 16/935 E.C. Austria. 148 Vgl. Apostolische Signatur, Dekret vom 10. Oktober 1934, in: Prot. Nr. 2/934 E.C. Austria. 149 Apostolische Signatur, Dekret vom 24. Juni 1935, in: Prot. Nr. 12/935 E.C. Austria. 150 Oberster Gerichtshof, Beschluss vom 2. Januar 1936, GZ. 2 Ob 512/35/5, in: Prot. Nr. 7/935 E.C. Austria; vgl. Apostolische Signatur, Dekret vom 22. Juni 1935, in: Prot. Nr. 10/ 935 E.C. Austria. 151 Oberster Gerichtshof, Beschluss vom 2. Januar 1936, GZ. 2 Ob 512/35/5, in: Prot. Nr. 7/935 E.C. Austria. 152 Oberster Gerichtshof, Beschluss vom 21. April 1936, GZ. 2 Ob 298/36/3, in: Prot. Nr. 35/936 E.C. Austria.

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Die Apostolische Signatur antwortete mit einem Dankschreiben und informierte zugleich darüber, dass sie den Beschluss des Obersten Gerichtshofs erhalten hatte: „decretum ab isto Supremo Reipublicae Tribunali accepimus, quo civiles tribuuntur effectus Dispensationi Apostolicae a matrimonio rato et non consummato inter …, dioecesis Secovien., idque Rev.mo Episcopo misimus, ut in archivo paroeciae, ubi matrimonium celebratum fuerat, itemque in archivo Curiae Episcopali diligenter asservetur.“153

Im Normalfall hatte der Oberste Gerichtshof selbst eine Abschrift seines Beschlusses dem Diözesangericht des Wohnsitzes mit der Bitte um Verständigung der Parteien zugesandt:154 „Der Oberste Gerichtshof beehrt sich, in ./1-./4 vier Ausfertigungen des bezüglichen Beschlusses behufs Verständigung der beiden Ehegatten und des erzbischöflichen Metropolitan- und Diözesangerichtes in Wien zu übermitteln.“155

Ein Exemplar des Beschlusses des Obersten Gerichtshofs wurde sowohl im Diözesanarchiv als auch im Archiv der Trauungspfarre aufbewahrt.156 Anfangs sandte die Apostolische Signatur eine Ausfertigung des Beschlusses des Obersten Gerichtshofs nach Erhalt zusammen mit einer Ausfertigung des Dekrets an den Ortsordinarius: „una cum his litteris decretum Tibi mittimus istius Supremi Reipublicae Tribunalis, quo Apostolicae Dispensationi super matrimonio rato et non consummato inter A.M. et P.G. (inito in ecclesia paroeciali B.M.V. in coelum Assumptae, Graecii, istius dioecesis) civiles tribuuntur effectus, ita ut etiam in foro laicali pro nullo haberi debeat.“157

Sinn und Zweck dieser Mitteilung war neben der Verständigung der Parteien die Eintragung in das Tauf- und Trauungsbuch sowie die sorgfältige Aufbewahrung der Dokumente im Diözesanarchiv.158

153 Apostolische Signatur, Schreiben an den Präsidenten des Obersten Gerichtshofs vom 7. September 1935, in: Prot. Nr. 3/934 E.C. Austria; vgl. Apostolische Signatur, Schreiben ohne Angabe des Datums an den Wiener Erzbischof, in: Prot. Nr. 12/935 E.C. Austria. 154 Vgl. Oberster Gerichtshof, Schreiben vom 2. Januar 1936 an die Apostolische Signatur, GZ. 2 Ob 512/35/5, in: Prot. Nr. 7/935 E.C. Austria. 155 Vgl. Oberster Gerichtshof, Beschluss vom 17. Juli 1935, GZ. 1 Ob 512/35/2, in: Prot. Nr. 8/935 E.C. Austria. 156 Vgl. Apostolische Signatur, Schreiben vom 21. September 1935 an den Bischof von Linz, in: Prot. Nr. 9/935 E.C. Austria. 157 Apostolische Signatur, Schreiben vom 7. September 1935 an den Bischof der Diözese Graz-Seckau, in: Prot. Nr. 3/934 E.C. Austria. 158 „Excellentia Tua curare velit ut hoc decretum partibus interesse habentibus communicetur, in libris paroeciae, in quibus matrimonium adnotatum fuerat, referatur, et in archivo Curiae Episcopali diligenter asservetur“ (Apostolische Signatur, Schreiben an den Bischof von Graz-Seckau vom 7. September 1935, in: Prot. Nr. 3/934 E.C. Austria).

Die Überprüfung der endgültigen Urteile im Ehenichtigkeitsprozess

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VIII. Negative Beschlüsse des Obersten Gerichtshofes zum Privilegium Paulinum Kardinalstaatssekreträr Pacelli erlangte die Erwähnung der staatlichen Anerkennung der Eheauflösung zugunsten des Glaubens aufgrund des Privilegium Paulinum im Zusatzprotokoll zu Art. VII mit dem Wortlaut159 : „Die Republik Österreich anerkennt auch die Zuständigkeit der kirchlichen Behörden zum Verfahren bezüglich des Privilegium Paulinum.“160

Nur zweimal wurde die Anerkennung einer durch das Privilegium Paulinum erfolgten Auflösung einer zwischen zwei Ungetauften geschlossenen Ehe bei der Apostolischen Signatur beantragt. In beiden Fällen handelte es sich um von Juden geschlossene standesamtliche Ehen. Der Antrag wurde an die Apostolische Signatur gestellt. Diese ordnete per Dekret dessen Übersendung zusammen mit dem Dekret des Ortsordinarius, welches die Auflösung der vor der Taufe geschlossenen Ehe durch eine nach der Taufe erfolgte Trauung feststellte, an den Obersten Gerichtshof an: „Inspecto decreto definitivo lato a Curia Archiepiscopali Vindobonensi die 16 martii 1936, quo solutum declaratur ex privilegio Paulino matrimonium inter S. et E., initum ritu iudaico in urbe Vindobona, die 23 iunii 1919, validumque edicitur matrimonium inter ipsum E. et K. initum catholico ritu in ecclesia paroeciali S.U. eiusdem Urbis; inspectis actis causae, ex quibus iuris normae servatae apparent; inspecta conventione inita inter Sanctam Sedem et Rempublicam Austriacam (art. VII, nn. 3 – 4); Decernimus: Decretum definitivum de quo supra esse in Lege canonica exsecutivum illudque una cum hoc Nostro decreto mittendum esse, in authentico exemplari, ad Supremum Austriacae Reipublicae Tribunal, ut civiles sortiatur effectus.“161

Nach Erhalt dieses Dekretes erließ der Oberste Gerichtshof am 12. Mai 1936 den Beschluss: „Das Dekret des Ordinariates Wien über die Auflösung der vor Magistrat geschlossenen Ehe gemäß Privilegium Paulinum wird nicht für vollstreckbar erklärt.“162

In der Begründung wird darauf verwiesen, dass das Konkordat selbst nur die Nichtigkeitserklärung der Ehe und die Auflösung der nicht vollzogenen Ehe als vollstreckbar anerkennt. Lediglich im Zusatzprotokoll zum Art. VII wird auch die Vollstreckbarkeitserklärung einer Verfügung nach dem Privilegium Paulinum anerkannt163, was allerdings im staatlichen Gesetz, das für den Obersten Gerichtshof maß159

Vgl. Kremsmair, Geschichte des österreichischen Konkordates (Anm. 2), S. 97. Heiliger Stuhl – Republik Österreich, Zusatzprotokoll zum Art. VII des Konkordats vom 5. Juni 1933, in: AAS 26 (1934), S. 277; Schwendenwein, Österreichisches Staatskirchenrecht (Anm. 1), S. 580. 161 Apostolische Signatur, Dekret vom 16. April 1936, in: Prot. Nr. 30/936 E.C. Austria. 162 Oberster Gerichtshof, Beschluss vom 12. Mai 1936, 3 Ob 348/36/2, in: Prot. Nr. 30/936 E.C. Austria. 163 Vgl. Oberster Gerichtshof, Beschluss vom 12. Mai 1936 (Anm. 162). 160

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geblich ist, nicht vorgesehen ist. Sie kann auch nicht in analoger Anwendung und unter freier Auslegung des Ausdruckes „Ungültigkeit“ der Ehe aus § 3 stattfinden, weil diese Ungültigerklärung den kirchlichen Gerichten nur dann zusteht, wenn es sich um eine kirchliche Ehe handelt. Während die katholische Kirche nur die zweite, in kanonischer Form geschlossene Ehe als gültig betrachtet, bleibt diese im staatlichen Bereich ohne Wirkung.164 Die Vollstreckbarkeit kann nicht gewährt werden, da die durch die in kanonischer Form geschlossene Ehe aufgelöste Vorehe keine kirchliche war. Kirchlicherseits wurde die standesamtliche Ehe nach der Taufe durch eine in kanonischer Form erfolgte Trauung gelöst. Vor der kirchlichen Trauung mit dem zweiten Partner hatte bereits der Zivilrichter die Trennung von Tisch und Bett ausgesprochen.165 Der zweite Antrag um Anerkennung der Eheauflösung aufgrund des Privilegium Paulinum stammt auch aus der Erzdiözese Wien und betrifft ebenso die Auflösung einer zwischen Juden geschlossenen standesamtlichen Ehe. Nach der Taufe eines der beiden Partner erfolgte die staatliche Trennung von Tisch und Bett und die kirchliche Trauung, durch welche das vorausgehende nicht-sakramentale Eheband aufgelöst wurde. Die Apostolische Signatur gewährte am 17. März 1936 folgendes Dekret: „Nos Henricus Gasparri Sanctae Romanae Ecclesiae Cardinalis Supremi Apostolicae Signaturae Tribunalis Praefectus inspecto decreto definitivo lato a Curia Archiepiscopali Vindobonensi die 4 martii 1936, quo solutum declaratur ex privilegio Paulino matrimonium inter R. et B., initum ritu iudaico in urbe Vindobona die 27 Octobris 1901, validumque edicitur matrimonium inter ipsum F.R. et M.L. initum catholico ritu in ecclesia parochiali S.A. eiusdem urbis.“166

Obwohl das Paulinische Privileg nur im Zusatzprotokoll und nicht im Konkordat selbst Erwähnung fand, wurde nur auf das Konkordat und nicht auf das Zusatzprotokoll verwiesen: „Inspecta conventione inita inter Sanctam Sedem et Rempublicam Austriacam (art. VII, nn. 3,4).“167

Auch diesen zweiten und letzten um staatliche Anerkennung des Paulinischen Privilegs erfolgten Antrag beantwortete der Oberste Gerichtshof am 21. April 1936 in nichtöffentlicher Sitzung negativ: „Die Entscheidung des Obersten Gerichtshofes der Signatura Apostolica vom 17. März 1936, Prot. D 35/936, in der Ehesache des R. und der B., kann nicht für vollstreckbar erklärt werden.“168

164

Vgl. Oberster Gerichtshof, Beschluss vom 12. Mai 1936 (Anm. 162). Vgl. Oberster Gerichtshof, Beschluss vom 12. Mai 1936 (Anm. 162). 166 Apostolische Signatur, Dekret vom 17. März 1936, in: Prot. Nr. 35/936 E.C. Austria. 167 Apostolische Signatur, Dekret vom 17. März 1936 (Anm. 166). 168 Oberster Gerichtshof, Beschluss vom 21. April 1936, GZ. 2 Ob 298/36/3, in: Prot. Nr. 35/936 E.C. Austria. 165

Die Überprüfung der endgültigen Urteile im Ehenichtigkeitsprozess

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In der Begründung wird als maßgeblich das Bundesgesetz vom 4. Mai 1934, Nr. 8 BGBl. zur Ausführung des Konkordats angegeben169, wonach vom Obersten Gerichtshof nur vollstreckbar erklärt werden können: (1) kirchliche Entscheidungen, welche die Ungültigkeit einer Ehe aussprechen (§ 3);170 (2) kirchliche Verfügungen über die Nachsicht von einer geschlossenen, aber nicht vollzogenen Ehe (§ 4).171 Für die Ablehnung der Anerkennung der durch das Paulinische Privileg erfolgten Auflösungen nennt der Oberste Gerichtshof konkret drei Gründe: (1) Bezüglich des Privilegium Paulinum enthält das staatliche Ausführungsgesetz zum Konkordat keine Bestimmung. Aus dem Zusatzprotokoll zu Art. VII (1) des Konkordates ergibt sich nur die Anerkennung der Zuständigkeit der kirchlichen Behörden zum Verfahren bezüglich des Privilegium Paulinum; (2) In diesem Verfahren kommt es zu keiner Entscheidung über die Ungültigkeit der Ehe. Es gibt weder ein Urteil, welches die Ehe für nichtig erklärt, noch ein Reskript, welches die Ehe auflöst. Die Auflösung der früheren Ehe tritt erst ein, wenn der zum Christentum übergetretene Ehegatte mit kirchlicher Bewilligung eine neue Ehe schließt. Im vorliegenden Falle wurde demnach die Auflösung der von R. mit B. am 27. Oktober 1901 vor dem Rabbiner in Wien geschlossenen Ehe: „nicht durch eine Entscheidung einer kirchlichen Behörde, sondern durch die Tatsache der Eingehung der neuen Ehe im Sinne des can. 1126 c.j.c. bewirkt. Es fehlt daher hier eine kirchliche Entscheidung oder Verfügung über die Ungültigkeit der im Jahre 1901 abgeschlossenen Ehe, die vollstreckbar erklärt werden könnte.“172

(3) „Der von R. am 16. Dezember 1935 abgeschlossenen neuen Ehe steht aber das Hindernis

nach § 2 (1) a des bezogenen Bundesgesetzes entgegen, sodass auch deswegen eine Vollstreckbarerklärung abzulehnen ist.“173

Das Durchführungsgesetz174 zum Konkordat erwähnt das Privilegium Paulinum nicht. Die herrschende Lehre kam jedoch darüber überein, dass das Verfahren zum Privilegium Paulinum zumindest ohne eine nachträgliche Ermächtigung des Obersten Gerichtshofs, keine bürgerlichen Wirkungen hervorrufen kann.175 169

Vgl. Oberster Gerichtshof, Beschluss vom 21. April 1936 (Anm. 168). Oberster Gerichtshof, Beschluss vom 21. April 1936 (Anm. 168). 171 Oberster Gerichtshof, Beschluss vom 21. April 1936 (Anm. 168). 172 Oberster Gerichtshof, Beschluss vom 21. April 1936 (Anm. 168). 173 Oberster Gerichtshof, Beschluss vom 21. April 1936 (Anm. 168). 174 Bundesstaat Österreich, Bundesgesetz vom 4. Mai 1934 (Anm. 5). 175 Vgl. Julius Bombiero-Kremenac, Über das österreichische Konkordat, in: AfkKR 114 (1934), S. 483; Johannes Hollnsteiner/Paul Hajek/Hermann Grimeisen, Das Konkordat in seiner kirchen- und staatsrechtlichen Bedeutung, unter besonderer Berücksichtigung der eherechtlichen Bestimmungen, Leipzig/Wien/Berlin 1934, S. 44; Rudolf Köstler, Das neue österreichische Konkordat, in: Zeitschrift für öffentliches Recht 15 (1936), S. 26; Primetshofer, Ehe und Konkordat (Anm. 16), S. 72. 170

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IX. Die letzten Beschlüsse des Obersten Gerichtshofs Mit dem sogenannten „Anschluss“ Österreichs durch das nationalsozialistische Deutschland vom 13. März 1938 endete die Gewährung der Vollstreckung durch den Obersten Gerichtshof des Landes Österreich keineswegs, sondern erst mit dem In-Kraft-Treten des Deutschen Ehegesetzes vom 6. Juli 1938 am 1. August 1938, welches für alle Staatsbürger die obligatorische Zivilehe mit Scheidungsmöglichkeit brachte. Die zuvor von staatlichen Gerichten ausgesprochene Trennung von Tisch und Bett wurde beseitigt,176 die Ehegerichtsbarkeit für Katholiken den weltlichen Gerichten überwiesen und Bestimmungen über die bedingte Zulässigkeit der Eheschließung vor weltlichen Behörden („Notzivilehe“) aufgehoben.177. Damit endete die Notzivilehe für die Ehen der Nichtkatholiken und jener Katholiken, die vom Pfarrer aufgrund eines vom Staat nicht anerkannten Hindernisses abgewiesen wurden.178 Zwischen dem Anschluss vom 13. März 1938 und dem In-Kraft-Treten des Ehegesetzes am 1. August 1938 wurden staatlicherseits vom Obersten Gerichtshof in Wien weitere Vollstreckungsbeschlüsse für von der Apostolischen Signatur übersandte kirchliche Urteile gewährt, allerdings die Angabe „Bundesstaat Österreich“ gestrichen.179 Bis zum In-Kraft-Treten des Ehegesetzes ordnete die Apostolische Signatur per Dekret noch die Übersendung an den Obersten Gerichtshof an, der jedoch ab dem 6. Juli 1938 keine Beschlüsse, nicht einmal der Ablehnung, fasste.180 176

Schwendenwein, Österreichisches Staatskirchenrecht (Anm. 1), S. 47. Vgl. Kaiserthum Österreich: Franz Joseph I., Gesetz vom 26. Mai 1868, wodurch die Vorschriften des zweiten Hauptstückes des allgemeinen bürgerl. Gesetzbuches über das Eherecht für Katholiken wieder hergestellt, die Gerichtsbarkeit in Ehesachen der Katholiken den weltlichen Gerichtsbehörden überwiesen und Bestimmungen über die bedingte Zulässigkeit der Eheschließung vor weltlichen Behörden erlassen werden, in: RGBl., Nr. 47/1868; Schwendenwein, Österreichisches Staatskirchenrecht (Anm. 1), S. 33. 178 Vgl. Schwendenwein, Österreichisches Staatskirchenrecht (Anm. 1), S. 34. 179 Vgl. Pototschnig, Konkordat und Eherecht (Anm. 11), S. 437; Apostolische Signatur, Dekret vom 16. März 1938 und Oberster Gerichtshof für das Land Österreich, Beschluss vom 28. April 1938, 2 Ob 239/38/4, in: Prot. Nr. 100/938 E.C. Austria; Apostolische Signatur, Dekret vom 5. Mai 1938 und Oberster Gerichtshof, Beschluss vom 18. Mai 1938, 2 Ob 36/38/ 3, in: Prot. Nr. 111/938 E.C. Austria; Apostolische Signatur, Dekret vom 3. Mai 1938 und Oberster Gerichtshof, Beschluss vom 31. Mai 1938, 2 Ob 357/38/3, in: Prot. Nr. 103/938 E.C. Austria; Apostolische Signatur, Dekret vom 21. Mai 1938 und Oberster Gerichtshof, Beschluss vom 8. Juni 1938, 3 Ob 394/38/3, in: Prot. Nr. 113/938 E.C. Austria; Apostolische Signatur, Dekret vom 7. März 1938 und Oberster Gerichtshof, Beschluss vom 14. Juni 1938, 3 Ob 219/38/3, in: Prot. Nr. 99/938 E.C. Austria; Apostolische Signatur, Dekret vom 7. März 1938 und Oberster Gerichtshof, Beschluss vom 21. Juni 1938, 1 Ob 253/38/3, in: Prot. Nr. 98/ 938 E.C. Austria; Apostolische Signatur, Dekret vom 23. Juni 1938 und Oberster Gerichtshof, Beschluss vom 5. Juli 1938, 2 Ob 455/38/3, in: Prot. Nr. 122/938 E.C. Austria. 180 Apostolische Signatur, Dekret vom 3. Mai 1938, kein Beschluss des Obersten Gerichtshofs, in: Prot. Nr. 104/938 E.C. Austria; Apostolische Signatur, Dekret vom 4. Mai 1938, kein Beschluss des Obersten Gerichtshofs, in: Prot. Nr. 105/938 E.C. Austria; Apostolische Signatur, Dekret vom 4. Mai 1938, kein Beschluss des Obersten Gerichtshofs, in: Prot. 177

Die Überprüfung der endgültigen Urteile im Ehenichtigkeitsprozess

181

Das letzte Dekret der Apostolischen Signatur erging nach Erlass, aber vor InKraft-Treten des Deutschen Ehegesetzes (1. August 1938), d. h. am 20. Juli 1938.181 X. Schluss 128 Anträge wurden zwischen dem In-Kraft-Treten des Konkordats am 1. Mai 1934 und dem In-Kraft-Treten des deutschen Ehegesetzes am 1. August 1938 an die Apostolische Signatur gestellt. Diese entschied nach Prüfung der Urteile und der Akten auf eventuelle Verfahrensfehler182 unter ausschließlicher Bezugnahme auf Art. VII, §§ 3 – 4 des Konkordats. Das Bundesgesetz vom 4. Mai 1934, betreffend Vorschriften auf dem Gebiete des Eherechtes zur Durchführung des Konkordates zwischen dem Heiligen Stuhle und Österreich, wurde in den Dekreten der Apostolischen Signatur nie erwähnt und auch in Bezug auf seinen einschränkenden Inhalt nicht zur Kenntnis genommen. Der Grund dafür liegt darin, dass das Zusatzprotokoll zum Art. VII des Konkordats eine Instruktion der Österreichischen Bischöfe zur Durchführung vorgesehen hatte, welcher der Staat durch Erlass des oben genannten Gesetzes zuvorkam. Die Instruktion der Österreichischen Bischöfe wurde erst zwei Jahre später, nämlich am 30. Juni 1936 erlassen und weder in einem Dekret der Apostolischen Signatur noch in einem Schreiben des Obersten Gerichtshofs erwähnt.183 Der Oberste Gerichtshof nahm das Durchführungs-Gesetz zur Richtschnur und verweigerte in einigen Fällen die Vollstreckung für: (1) Dekrete der bischöflichen Ordinariate, welche die zwischen Ungetauften geschlossenen Ehen gemäß dem Privilegium Paulinum als durch die nach der Taufe erfolgte Trauung in kanonischer Form für aufgelöst erklärten; (2) das zweite konforme Urteil, welches vor InKraft-Treten des Konkordats erlassen worden war; (3) erstinstanzliche Urteile, die von einem außerhalb des Staatsgebietes gelegenen kirchlichen Gericht gefällt worden waren, selbst wenn sie von einem in Österreich gelegenen Gericht bestätigt wurden. Die Staatsbürgerschaft wurde nur in einem Fall berücksichtigt, da die ApostoNr. 106/938 E.C. Austria; Apostolische Signatur, Dekret vom 19. Mai 1938 kein Beschluss des Obersten Gerichtshofs, in: Prot. Nr. 112/938 E.C. Austria; Apostolische Signatur, Dekret vom 11. Juni 1938, kein Beschluss des Obersten Gerichtshofs, in: Prot. Nr. 121/938 E.C. Austria; Apostolische Signatur, Dekret vom 22. Juni 1938, kein Beschluss des Obersten Gerichtshofs, in: Prot. Nr. 123/938 E.C. Austria; Apostolische Signatur, Dekret vom 30. Juni 1938, kein Beschluss des Obersten Gerichtshofs in: Prot. Nr. 125/938 E.C. Austria; Apostolische Signatur, Dekret vom 6. Juli 1938, kein Beschluss des Obersten Gerichtshofs, in: Prot. Nr. 126/938 E.C. Austria; Apostolische Signatur, Dekret vom 20. Juli 1938, kein Beschluss des Obersten Gerichtshofs, in: Prot. Nr. 128/938 E.C. Austria. 181 Vgl. Antrag vom 30. Juni 1938, Dekret der Apostolischen Signatur vom 20. Juli 1938, am selben Tag abgeschickt, kein Beschluss des Obersten Gerichtshofs, in: Prot. Nr. 127/938 E.C. Austria. 182 Von einer materiellrechtlichen Prüfung wurde grundsätzlich abgesehen (vgl. Primetshofer, Ehe und Konkordat [Anm. 16], S. 73). 183 Vgl. Johann Haring, Kommentar zur österreichischen Eheinstruktion, Innsbruck/Wien/ München 1937.

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lische Signatur ein Dekret zur Übersendung des Antrags an den Obersten Gerichtshof in Wien erließ, obwohl die Antragstellerin alternativ um die Vollstreckung entweder in Österreich oder Italien angesucht hatte und das italienische Konsulat in Innsbruck der Ansicht war, für italienische Staatsbürger könnten lediglich gemäß dem Konkordat zwischen dem Heiligen Stuhl und Italien bürgerliche Wirkungen erlangt werden.184 Auch wurde die gemäß staatlichem Ausführungsgesetz vor Einreichung der Klageschrift beim zuständigen kirchlichen Gericht zu erklärende Streiteinlassung vom Apostolischen Stuhl nicht geprüft, sondern die nach kanonischem Recht rechtmäßige Ladung des Nichtklägers als ausreichend betrachtet. Nur bei Nichtvollzugsverfahren hatte bereits das Ausführungsgesetz vom 4. Mai 1934 auf eine solche Erklärung der Streiteinlassung verzichtet und auch päpstlichen Auflösungsdekreten, welche vor dem In-Kraft-Treten des Konkordats ergangen waren, bürgerliche Wirkungen gewährt.

184 „Ottenuta la trascrizione le parti potranno, ove occorra, servirsene anche per regolare il loro stato civile in Italia, secondo le norme vigenti per tale materia nel campo del diritto civile e internazionale …“ (Apostolische Signatur: der Kirchenanwalt, Votum, prot. n. 369/936 E.C. Italia, im Archiv der Apostolischen Signatur unter prot. n. 61/937 E.C. Austria).

Il problema della sede vacante Sfide giuridico-canoniche allÏinizio degli anni 1950 Di P¦ter Erdo˝ I. Il problema LÏimpedimento della persona del vescovo diocesano ossia della “sede episcopale” À una situazione straordinaria, per la quale il diritto canonico cerca – da molti secoli – diverse soluzioni istituzionali. Il Codice di Diritto Canonico vigente, nel c. 413 stabilisce: “Mentre la sede À impedita, il governo della diocesi, se la Santa Sede non ha provveduto in altro modo, spetta al Vescovo coadiutore se cÏÀ; se questo manca o À impedito, spetta ad un Vescovo ausiliare o ad un Vicario generale o episcopale o ad un altro sacerdote, mantenendo lÏordine delle persone stabilito nellÏelenco che il Vescovo diocesano, dopo la presa di possesso della diocesi, deve compilare quanto prima; tale elenco, che deve essere comunicato al Metropolita, sia rinnovato almeno ogni tre anni e conservato sotto segreto dal cancelliere” (c. 413 § 1).

Rispetto alla normativa precedente, À una novit— in questo canone il fatto che il vescovo coadiutore ha sempre il diritto di successione (c. 403 § 3). Secondo il diritto vigente, il vescovo diocesano deve nominare il vescovo coadiutore a vicario generale (c. 406 § 1). UnÏaltra novit— nel canone À la menzione speciale del vescovo ausiliare. Secondo alcuni interpreti, in mancanza di vescovo coadiutore, il vescovo ausiliare, in caso di impedimento della sede, deve assumere il governo della diocesi, anche senza essere vicario generale. Quelli che affermano questo, fanno riferimento al c. 405 § 2, dove si dice espressamente che il vescovo coadiutore e il vescovo ausiliare rivestito di facolt— speciali (cf. c. 403 § 2), nel caso di impedimento, sostituiscono il vescovo diocesano. Secondo questi autori tale principio protebbe essere applicato, con unÏinterpretazione estensiva, anche ai vescovi ausiliari che non hanno facolt— speciali1. UnÏaltra novit— rispetto al Codex Iuris Canonici del 1917 À il fatto che il canone vigente parla anche di vicari episcopali. Questo ufficio non era conosciuto nel diritto universale precedente, essendo stato generalmente prodotto soltanto in seguito al decreto Christus Dominus (nr. 27) del Concilio Vaticano II. Nel presente articolo esaminiamo, quale fosse la condizione giuridica del governo dellÏarcidiocesi di Esztergom dopo lÏincarcerazione del Cardinale Jozsef Mindszenty (26 dicembre 1948) e 1 R. Walczak, Sede vacante come conseguenza della perdita di un ufficio ecclesiastico nel Codice di Diritto Canonico del 1983 (Pontificia Universitas Lateranensis, Institutum Utriusque Iuris, Theses ad Doctoratum in Iure Canonico), Roma 2008, p. 180.

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la morte del vicario generale J‚nos Drahos (15 giugno 1950), cioÀ in quale situazione giuridica si sia compiuta, subito dopo i funerali di J‚nos Drahos, il 17 giugno 1950 (tra le ore 12 e 13.152), quellÏelezione capitolare in base alla quale il vescovo ausiliare di Esztergom, Mons. Zolt‚n Meszl¦nyi ha assunto il governo pastorale della diocesi. Merita una speciale attenzione la valutazione propria di Zolt‚n Meszl¦nyi sulla situazione giuridica di quel momento, dato che questo vescovo ausiliare aveva la fama di eccellente canonista. Le risposte a queste domande, oltre a chiarire certi aspetti della storia ecclesiastica di Ungheria, possono dare un contributo concreto alla valutazione delle soluzioni che il diritto canonico offre per certe situazioni straordinarie. II. Il trattamento del problema dellÏimpedimento della sede episcopale nel CIC del 1917 e nella prassi successiva Tra le fonti del citato c. 413 del CIC vigente, lÏedizione pubblicata dalla Pontificia Commissione competente indica i canoni 427 e 429 del CIC del 1917, il numero 27 del decreto Christus Dominus del Concilio Vaticano II, nonch¦ la risposta nr. 3 del 25 gennaio 1954 della Sacra Congregazione della Propaganda Fede3. Nel momento dellÏelezione di Zolt‚n Meszl¦nyi, tra queste fonti, erano in vigore soltanto le disposizioni del CIC del 1917. Secondo il c. 429 del CIC/1917, se la sede episcopale, per la prigionia, per la relagazione o per lÏincapacit— del vescovo À impedita in tal modo che il vescovo non pu! contattare i suoi diocesani nemmeno per lettere, il governo della diocesi, a meno di diversa disposizione della Santa Sede, spetta al vicario generale del vescovo o ad un altro ecclesiastico, “delegato” dal vescovo stesso (CIC/1917 c. 429 § 1); il vescovo, per gravi ragioni, pu! “delegare” anche pi¾ persone, le quali si susseguono in questa funzione (ivi § 2). In mancanza di tali persone, o se sono impedite anchÏesse, spetta al capitolo della cattedrale il compito di scegliere un vicario il quale possa assumere il governo della diocesi con i poteri di un vicario capitolare (ivi § 3). Questa persona non viene chiamata dal canone “vicario capitolare”, ma si dice soltanto che egli ha le competenze che corrispondono allÏufficio del vicario capitolare. Il CIC/ 1917 infatti menziona il vicario capitolare come un funzionario da scegliere in caso di vacanza della sede episcopale (CIC/1917 c. 432 § 1). Colui che, secondo il canone citato, assume il governo della diocesi sede impedita, era obbligato ad informare la Santa Sede quanto prima sullÏimpedimento della sede e sullÏassunzione del governo pastorale (CIC/1917 c. 429 § 4). Poich¦ il can. 198 del CIC/1917 chiama il vicario capitolare espressamente ordinario e ordinario del luogo, anche quel vicario o “delegato” che governava la diocesi con gli stessi poteri durante lÏimpedimento della sede, era chiamato ordinario. Tra questi ultimi ordinari, quelli che non erano 2 Cf. ßllambiztons‚gi Szolg‚latok Tört¦neti Lev¦lt‚ra (Archivio Storico dei Servizi di Sicurezza dello Stato) (in seguito: ßBTL) 3.1.9. V-71165,34. 3 Pontificia Commissio Codici Iuris Canonici Authentice Interpretando, Codex Iuris Canonici auctoritate Ioannis Pauli PP. II promulgatus, fontium annotatione et indice analyticoalphabetico auctus, Citt— del Vaticano 1989, p. 117 – 118.

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n¦ vicari generali, n¦ vicari eletti dal capitolo, bens‡ sacerdoti o vescovi “delegati” dal vescovo per tali situazioni, erano chiamati generalmente “ordinari sostituti” (ordinarius substitutus)4. La definizione pi¾ precisa di questÏultima funzione e delle sue competenze si trovava in una disposizione rilasciata il 29 giugno 1948 della Santa Sede, documento che non figura per! nellÏedizione del CIC vigente che indica le fonti dei canoni attuali. Su questo documento ritorneremo pi¾ tardi. LÏedizione preparata dal Cardinale Pietro Gasparri del CIC/1917, in cui si indicano le fonti dei diversi canoni, elenca tra le fonti del c. 429 CIC/19175 alcuni testi che sono stati redatti a proposito di persecuzioni o altre circostanze drammatiche. Tali testi sono: a) Una disposizione di Bonifacio VIII che À stata assunta anche nel Liber Sextus (VI. 1.8.3) prescrive che, nel caso in cui il vescovo cada in prigonia dei pagani o degli scismatici, la diocesi non venga governata dal metropolita ma sia il capitolo ad assumere il governo sia spirituale che temporale della diocesi, come se la sede fosse vacante per la morte del vescovo. Tutto ci! deve durare soltanto finch¦ il vescovo non sia liberato o la Santa Sede non disponga diversamente. In tali casi, lo stesso capitolo deve rivolgersi quanto prima alla Santa Sede. Secondo questo stesso testo quindi la direzione della diocesi viene assunta dal capitolo come collegio. b) Questo provvedimento fu ripetuto, quanto alla sostanza, anche nella risposta dellÏ11 gennaio 1616 della Sacra Congregazione per i Vescovi e Regolari6. c) Il seguente provvedimento sullÏelenco delle fonti À un decreto del 3 maggio 1862 della stessa Congregazione7. Esso fu rilasciato dopo la caduta del Regno di Napoli (1860). Il 7 settembre 1860 infatti Garibaldi fece ingresso a Napoli. Il 17 dicembre 1860, i territori napoletani furono annessi al Regno di Sardegna. Poi, per mostrare una sempre pi¾ larga unit— italiana, il 13 febbraio 1861, Garibaldi e il re Vittorio Emanuele II fecero il loro ingresso solenne a Napoli8. Il decreto alla Santa Sede si dirige contro quei capitoli cattedrali, i quali hanno scelto vicari capitolari per sostituire i vescovi espulsi ma viventi, senza rispettare lÏautorit— dei “delegati” del vescovo. Il documento qualifica questi vicari capitolari come intrusi che hanno occupato illegittimamente il loro ufficio. Il decreto dichiara invalide queste elezioni. Dichiara inoltre invalidi tutti i provvedimenti di queste 4

Cf. per es. I. Tempfli, S‚rbýl ¦s napsug‚rbýl. Pakocs K‚roly püspöki helynök ¦lete ¦s kora: 1892-to˝ l 1966 (METEM Könyvek 36), [Budapest] 2002, p. 149. 5 Codex Iuris Canonici Pii X Pontificis Maximi iussu digestus Benedicti Papae XV auctoritate promulgatus, praefatione, fontium annotatione et indice analytico-alphabetico ab E.mo Petro Card. Gasparri auctus, Typ. Pol. Vat. 1974, p. 139 – 140. 6 Sacra Congregatio Episcoporum et Regularium, Messanen., 11 ian. 1616: CIC-Fontes/ 1917 IV, p. 728 – 729. 7 Sacra Congregatio Episcoporum et Regularium, Decr. 3 maii 1862: CIC-Fontes/1917 IV, p. 968 – 969. 8 A. Cappelli, Cronologia, Cronografia e Calendario Perpetuo, Milano 41978, p. 441.

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persone, e annuncia o infligge anche diverse pene ecclesiali contro tali “vicari capitolari” e contro quelli che li hanno eletti. In questa disposizione si vede chiaramente che le persone “delegate” dal vescovo per governare la diocesi – ovviamente per il caso di un suo eventuale impedimento – precedono il capitolo: se esiste tale delegato episcopale, il capitolo non pu! validamente scegliere alcun vicario capitolare. d) In unÏaltra situazione drammatica, il Beato Pio IX il 30 luglio 1864 rilasci! la lettera apostolica Ubi Urbaniano9. La disposizione pontificia nacque in seguito al fatto che dopo la sconfitta della rivoluzione nazionale polacca del 1863 il regime zarista aveva cercato di distruggere completamente la Chiesa cattolica, anzi – come dice il papa – di sterminare la religione cattolica in quel paese (ad catholicam religionem eodem in Regno … extirpandam)10. Il papa rimproverava al governo russo di voler costringere i cattolici a passare nello “scisma”, nonch¦ di aver violato o di non aver mai completamente messo in pratica lÏaccordo concluso con la Santa Sede, di esigere dai chierici un giuramento contrario al diritto divino, di eccitare il popolo alla rivolta contro i sacerdoti cattolici ecc. Il papa criticava anche il fatto che i religiosi cattolici venissero scacciati dalle loro case, che i conventi venissero trasformati in caserme, che i vescovi cattolici fossero allontanati dalle loro diocesi, e relegati, i greco-cattolici invece costretti con la forza ad abbandonare la comunione con Roma. In questa situazione lÏarcivescovo di Varsavia fu allontanato dalla sua diocesi e bandito, anzi lo Stato dichiar! di privare lÏarcivescovo dalla sua diocesi. Fu ordinato che nessuno della diocesi tenesse alcun contatto con lui. Fu dichiarato inoltre che per il governo della diocesi À sufficiente come amministratore il vicario generale, il quale era stato gi— nominato vescovo ausiliare dal papa. Pio IX protest! innanzitutto contro il fatto che lÏautorit— civile cercava di deporre arbitrariamente i vescovi e designare altri chierici per il governo delle diocesi. In seguito il papa invit! i sacerdoti e i fedeli a non obbedire allÏordine dello Zar, e continuare a considerare lÏarcivescovo Zygmunt Felin´ski11 come presule legittimo della diocesi di Varsavia. La lettera si rivolge poi al vicario generale sopra menzionato, Pawel Rzewuski. Il papa espresse la sua convinzione che egli avrebbe continuato a lavorare nella sua funzione di vicario generale e ubbidito allÏarcivescovo di Varsavia, il quale continuava ad essere il suo legittimo pastore12. Il punto essenziale della disposizione pontificia fu, da una parte, il fatto che lo Stato non pu! nominare di propria autorit— gli ordinari delle diocesi, e, dallÏaltra parte, il fatto che la sostituzione del vescovo impedito spetta al vicario generale, il cui ufficio – diversamente da quello che accade durante la vacanza della sede – non cessa ad esistere sede impedita. 9

Edizione per es.: CIC-Fontes/1917 II, p. 987 – 990. Ivi., p. 987. 11 Arcivescovo di Varsavia dal 6 gennaio 1862 fino al 15 marzo 1883, santo. ð stato canonizzato lÏ11 ottobre 2009. Cf. T. Fra˛cek, Felin´ski, Sigismondo, in Bibliotheca Sanctorum. Prima appendice, Roma 1987 (IV edizione 2004), p. 475 – 477. 12 CIC-Fontes/1917 II, p. 988. 10

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e) Il testo pi¾ recente elencato tra le fonti À la dichiarazione della Sacra Congregazione Concistoriale del 6 dicembre 1914 che si occupa dei casi occorsi durante la persecuzione dei cristiani in Messico13. In quel paese infatti quasi tutti i vescovi o altri ordinari locali furono allontanati con la forza dalla loro diocesi o, incarcerati o costretti alla fuga, impediti nel ritornarvi. In tali situazioni alcuni capitoli ritennero di dover scegliere un vicario capitolare. In alcune diocesi fu anche effettuata lÏelezione. Cos‡ “hanno sottratto illegittimamente il potere ordinario dal vicario generale del vescovo” (iniuste proinde sublata Vicario generali Episcopi qualibet ordinaria potestate)14. La Congregazione, su incarico di Papa Benedetto XV, dichiar! che in tal caso non vi À alcuna causa legittima per scegliere un vicario capitolare. Se qualcuno viene eletto, lÏelezione À invalida. La lettera conferm! invece che i vescovi diocesani, anche in tali casi, conservano il loro ufficio, e possono esercitarlo personalmente o attraverso i loro vicari generali, ovvero attraverso un altro sacerdote loro delegato; i vescovi sono anzi obbligati ad esercitare il proprio ufficio (integram subsistere Episcoporum auctoritatem quam ipsi, vel per Vicarium generalem vel per alium sacerdotem a se delegatum, exercere possunt ac debent)15. In questa dichiarazione si vedono gi— gli elementi essenziali del c. 429 CIC/1917: in caso di impedimento del vescovo, il vicario generale continua ad esercitare la sua funzione; il vescovo ha il diritto e il dovere – qualora questo sia ancora possibile – di “delegare” (anche) un altro sacerdote per la propria sostituzione. Se ci sono tali persone e non sono impedite anchÏesse, il capitolo non pu! scegliere validamente un vicario capitolare. Come abbiamo menzionato, il 29 giugno 1948 la Santa Sede rilasci! il documento Nominatio substitutorum sotto lÏautorit— di Papa Pio XII16. Secondo questa disposizione i vescovi dei paesi “comunisti” che a rischio di impedimento nellÏesercizio della loro giurisdizione dovevano “nominare quanto prima” due ordinari sostituti (ordinarius substitutus). In caso di arresto o di relegazione del vescovo, ovvero nel caso di un impedimento tale che da non permettergli di contattare la propria diocesi nemmeno attraverso lettere, in mancanza di vicari generali, questi sostituti dovevano assumere il governo della diocesi in modo tale che dopo lÏarresto del vescovo dovesse presentarsi – assumendo il governo – il primo candidato (“delegato”) del vescovo17. Egli doveva nominare subito (segretamente) un secondo successore al quale doveva svelare soltanto che il succesore immediato era gi— stato nominato, cioÀ che egli sarebbe stato il secondo. Se il primo ordinario sostituto che governava gi— la diocesi fosse stato anchÏegli impedito, gli sarebbe succeduto il secondo candidato del vescovo diocesano. Se fosse impedito anche questo secondo, sarebbe entrata in ufficio la 13 Sacra Congregatio Consistorialis, Declar. 6 dec. 1914; ed.: AAS 6 (1914), p. 698 = CIC-Fontes/1917 V, p. 62 – 63. 14 Ivi, p. 63. 15 Ivi. 16 Per il testo vedi: Tempfli, S‚rbýl ¦s napsug‚rbýl (nota 4), p. 963 – 969. 17 Tempfli, S‚rbýl ¦s napsug‚rbýl (nota 4), p. 149.

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persona assegnata dal primo ordinario sostituto e cos‡ via18. Se il vescovo impedito fosse morto, gli ordinari sostituti si sarebbero susseguiti secondo questo sistema, a condizione che lÏelezione legittima di un vicario capitolare, per le circostanze straordinarie, fosse ancora impossibile. Colui che assumeva cos‡ il governo della diocesi, doveva segnalare quanto prima lÏassunzione del governo alla Santa Sede (se ci! era possibile), e nominare anche un successore, il quale, nel caso di necessit—, potesse assumere il governo della diocesi come secondo, dopo quellÏordinario sostituto gi— nominato prima e che doveva seguire lÏordinario attuale. Tutti questi ordinari sostituti, secondo la disposizione della Santa Sede, avevano i diritti dei vescovi diocesani, ed erano provvisti anche di altre facolt— straordinarie, soprattutto riguardo allÏamministrazione dei sacramenti. Tali facolt— sono elencate dettagliatamente nel documento della Santa Sede. Gli ordinari sostituti potevano quindi compiere tutti gli atti che competono al vescovo diocesano ad eccezione di quelli che richiedono lÏordine episcopale, a meno che non fossero stati consacrati vescovi anchÏessi19. In base a tutto ci! possiamo concludere che gli ordinari sostituti non erano soltanto dei delegati, come dice il CIC/1917 c. 429, § 1 – 2, bens‡ esercitavano una potest— ordinaria di governo per la disposizione speciale della Santa Sede. SullÏorigine e sulla data di questa disposizione ritorneremo ancora. ð da osservare per! che, secondo lÏinterpretazione dellÏepoca dellÏufficio diocesano di Alba Julia, la quale viene espressa in un pro memoria di 14 pagine che si trova nellÏarchivio della stessa arcidiocesi, la giurisdizione degli ordinari sostituti assomigliava soprattutto “a quella degli amministratori apostolici nominati in modo stabile”20. Se la condizione giuridica dellÏordinario sostituto era tale, alcuni potevano pure pensare che, in caso di impedimento (per esempio di incarcerazione) dellÏordinario sostituto, la persona che seguiva sullÏelenco poteva assumere il governo diocesano, ma nel caso della sua liberazione dal carcere la giurisdizione del primo ordinario sostituto poteva forse “rinascere”, come nel caso della liberazione di un vescovo diocesano. Tale interpretazione si manifest! ripetutamente in Romania (specialmente in Transilvania). Quando 18

Ivi. Cf. Tempfli, S‚rbýl ¦s napsug‚rbýl (nota 4), p. 149 – 150. Si cita il testo latino del provvedimento della santa Sede in base ad una copia che si trova nella diocesi di Oradea: Tempfli, S‚rbýl ¦s napsug‚rbýl (nota 4), p. 149 – 150, nota 214 e p. 963 (appendice nr. 5): “Nominatio substitutorum. Episcopi residentiales duos sacerdotes quamprimum nominent, qui quum sedes ob Episcopi captivitatem, relegationem, exsilium aut inhabilitatem ita impedita sit, ut ne per Litteras quidem cum diocesanis libere communicare ipse possit, dioecesis regimen suscipiant, sibi invicem succedendo secundum ordinem ab ipsis episcopis statutum. Iidem sacerdotes episcopo mortuo, unus post alium succedent, quoties ob circumstantias electio Vicarii Capitularis ad normam Iuris impossibilis omnino evadat. Qui dioecesis regimen, ut supra, suscepit, quam primum, si id fieri possit, Apostolicam Sedem de assumpto munere certiorem reddendam curet et sacerdotem statim nominet, qui sua vice, alteri iam electo succedat Qui ita regimen obtinent, iisdem obligationibus tenentur, iisdem iuribus fruuntur ac episcopi residentiales et iis facultatibus extraordinariis gaudent, quae infra recensentur, exeptis iis, quae episcopalem characterem exigunt, et hoc ipsi careant.” 20 Tempfli, S‚rbýl ¦s napsug‚rbýl (nota 4), p. 150, nota 215. 19

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dopo lÏarresto del vescovo di Alba Julia, ßron M‚rton (21 giugno 1949) furono arrestati anche i due sacerdoti da lui indicati come ordinari sostituti, Alajos Boga il vicario generale, che era il primo di loro (fu arrestato nel maggio del 195021) e Imre S‚ndor, il secondo (fu arrestato il 10 marzo 195122), il terzo sullÏelenco, B¦la Gajd‚tsy, nominato da Alajos Boga per essere successore di Imre S‚ndor in caso di necessit—, non poteva assumere il governo della diocesi, perch¦, incarcerato contemporaneamente ad Imre S‚ndor23. Cos‡ il governo della diocesi di Alba Julia spettava sin dal 10 marzo 1951 ad Antal Jakab, il quale era stato nominato come riserva da Imre S‚ndor e stava sullÏelenco dopo B¦la Gajd‚tsy. Antal Jakab era un buon canonista e aveva conseguito il dottorato di diritto canonico a Roma alla Pontificia Universit— Lateranense24. Diversemente dagli ordinari sostituti precedenti i quali avevano assunto ancora pubblicamente il governo della diocesi, egli, dietro ordine della Santa Sede25, cominci! a governare segretamente. Secondo le ricerche di L‚szlo Virt, egli era il primo ordinario segreto, perch¦ i suoi predecessori erano in segreto mentre aspettavano, ma non quando assumevano il governo26. Nel momento dellÏentrata in ufficio di Antal Jakab sorse il problema di come si possa governare una diocesi che funziona pubblicamente, se deve rimanere in segreto la persona dellÏordinario. I membri del capitolo di Alba Julia che erano in libert— volevano scegliere un vicario capitolare affermando di non avere alcuna informazione su un ordinario sostituto. Tale elezione sarebbe stata possibile, secondo le fonti testÀ citate, se realmente non ci fosse stato in libert— n¦ un vicario generale, n¦ un altro ordinario sostituto (CIC/1917 c. 429 § 3). Per questo, Antal Jakab, per impedire lÏelezione invalida, rivel! davanti a loro la propria giurisdizione, ma sottoline! che “i suoi successori non avrebbero indicato in alcun modo il loro incarico davanti al capitolo”27. Dopo questo caso Antal Jakab aspettava gi— la sua imminente incarcerazione, la quale avvenne il 24 agosto 1951. Successivamente, il 3 settembre 1951, i membri del capitolo che non erano in carcere, incaricarono il canonico K‚roly Adorj‚n, che aveva buoni rapporti con le autorit— statali, di governare “a modo di un vicario capitolare” gli affari della diocesi. Tale incarico era invalido, come risulta dal CIC/1917 c. 429 § 3 e dal CIC/ 21

Mor‡ nel carcere di Sighetu Marmat¸iei il 14 settembre 1954, perch¦, soffrendo di diabete, non ricevette lÏassistenza medica necessaria – cf. L. Virt, Nyitott sz†vvel. M‚rton ßron erd¦lyi püspök ¦lete ¦s eszm¦i, Budapest 2002, p. 253. 22 Ivi. Mor‡ di freddo il 29 febbraio1956 nel carcere di Rimnicu Sarat, dove fu detenuto tenuto in cella di isolamento, senza alcun riscaldamento malgrado la temperatura di 30 gradi sotto zero – cf. Virt, Nyitott sz†vvel (nota 21), p. 254. 23 Mor‡ nel carcere di Aiud – cf. Virt, Nyitott sz†vvel (nota 21), p. 253 – 254. 24 Rimase in carcere tra il 24 agosto 1951 e il 16 aprile 1964. Papa Paolo VI il 23 dicembre 1971 lo nomin! vescovo coadiutore del vescovo diocesano ßron M‚rton con diritto di successione. Assunse il governo pastorale della diocesi di Alba Julia da ßron M‚rton il 2 aprile 1980. La sua rinuncia fu accettata il 14 marzo 1990, quando aveva gi— 81 anni. Mor‡ il 5 maggio 1993. 25 Cf. Virt, Nyitott sz†vvel (nota 21), p. 254. 26 Cf. Virt, Nyitott sz†vvel (nota 21), p. 254. 27 Ivi.

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1917 c. 6, 28, secondo il quale le norme che contengono la disciplina anitica, devono essere interpretate secondo il diritto precedente, specialmente secondo le fonti proprie del rispettivo canone. Nel nostro caso risulta decisiva la dichiarazione sopra citata della Congregazione Concistoriale del 16 dicembre 1914, la quale dice espressamente che in tali situazioni lÏelezione di un vicario capitolare À invalida. Dopo lÏarresto di Antal Jakab, infatti, in base alle nomine fatte da lui stesso, lÏordinario sostituto segreto era Mýzes M‚rton, e dopo di lui sullÏelenco della riserva stavano altre tre persone nellÏordine seguente: B¦la Kov‚cs, S‚ndor Szilveszter e L‚szlý Jakab. Nel gennaio 1952 arrestarono Mýzes M‚rton e anche le tre persone che figuravano sulla lista dei successori. Della quarta persona, Ferenc L¦sty‚n, nominato da Mýzes M‚rton, le autorit— non sapevano28. Poco dopo B¦la Kov‚cs fu liberato dal carcere, e restando sotto la sorveglianza della polizia, ha nomin! suo vicario generale – secondo le intenzioni delle autorit— statali – il canonico K‚roly Adorj‚n, uomo di fiducia dello Stato comunista. Sotto lÏaspetto del diritto canonico era chiara lÏinvalidit— di questa nomina, perch¦ B¦la Kov‚cs non poteva assumere il governo della diocesi nemmeno segretamente, essendo stato arrestato contemporamente a Mýzes M‚rton al quale avrebbe dovuto succedere. ð vero che sullÏelenco degli ordinari sostituti di riserva egli figurava al primo posto, ma dopo la sua liberazione la sua condizione di ordinario di riserva non era stata ripristinata29. Cos‡ egli non fu ordinario sostituto in nessun momento, perch¦ al tempo della sua liberazione cÏera gi— un ordinario sostituto in funzione (Ferenc L¦sty‚n). I canonici tuttavia potevano affermare di nuovo che non conoscevano nessun ordinario30. Lo stesso problema della somiglianza o dellÏequiparazione della condizione giuridica dellÏordinario sostituto con quella del vescovo diocesano o dellÏamministratore apostolico si present! in modo ancor pi¾ radicale, quando lÏordinario sostituto della diocesi Satu Mare, Lajos Czumbel31, il quale aveva assunto il governo della diocesi il 23 maggio 1950 (perch¦ il vescovo J‚nos Scheffler, anchÏegli eccellente canonista, era stato confinato), ed era stato poi arrestato il 10 marzo 1951, dopo anni di carcere, fu liberato lÏ8 febbraio 1956. Czumbel riassunse il governo della diocesi di Satu Mare il 10 febbraio 1956. Il 25 agosto 1956 invece un canonico di Satu Mare, K‚roly Pakocs mand! una relazione allÏarcivescovo Domenico Tardini, sostituto della Segreteria di Stato. In essa egli domand! se Lajos Czumbel era veramente lÏordinario legittimo della diocesi. K‚roly Pakocs infatti era il vicario generale del vescovo J‚nos Scheffler. Egli era stato processato gi— il 17 dicembre 1949. Dopo quella data, il 22 maggio 1950 fu deportato anche il vescovo Scheffler, il quale per! potÀ ancora trasmettere il governo della diocesi al primo ordinario sostituto che figurava 28

Ivi, p. 257. Ivi, p. 257. 30 Ivi, p. 258. 31 Studi! a Roma come alunno del Collegio Germanico-Ungarico, poi – a causa della guerra – continu! i suoi studi ad Innsbruck. Si À laure! in filosofia il 12 luglio 1916. Per il luogo e il tempo della sua formazione fu vicino a Zolt‚n Meszl¦nyi – cf. Tempfli, S‚rbýl ¦s napsug‚rbýl (nota 4), p. 1115. 29

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sullÏelenco, Lajos Czumbel, non sapendo se avrebbe potuto o meno governare la diocesi tramite lettere dal luogo dove lo avrebbero confinato. Nel frattempo, il 15 ottobre 1950 fu liberato il vicario generale K‚roly Pakocs. La notizia di questo fatto giunse anche al vescovo Scheffler con il quale i sacerdoti e i fedeli della diocesi potevano tenere i contatti sia per lettere sia di persona. Dopo questo fatto, il vescovo chiese per lettera al vicario K‚roly Pakocs di assumere il governo della diocesi di Satu Mare. Lajos Czumbel invece, forse non comprendendo lÏaspetto giuridico-canonico della questione, non obbed‡ alla lettera del vescovo ma volle continuare nel governo della diocesi affermando che lÏordinario sostituto si trovava in una posizione migliore rispetto a quella del vicario generale appena ritornato dal carcere. K‚roly Pakocs era convinto che lÏordinario sostituto potesse governare la diocesi, secondo il canone 429 CIC/1917, se erano impediti sia il vescovo che il vicario generale del vescovo, tuttavia, per la tranquillit— pubblica, san! i provvedimenti di Czumbel che secondo lui erano invalidi per i motivi sopra indicati. Successivamente, il 10 marzo 1951 fu incarcerato pure Lajos Czumbel. Poco dopo anche il vicario generale fu allontanato dal territorio della diocesi. Dopo la morte del vescovo J‚nos Scheffler, avvenuta il 12 marzo 1952, la situazione giuridica sembrava incerta a molti. Quando dopo molte vicissitudini, Lajos Czumbel, liberato nel 1956, senza consultare nessuno, ha riassunse il governo della diocesi, egli pens! che la giurisdizione dellÏordinario sostituto, dopo la liberazione dal carcere, si risvegliasse come quella del vescovo diocesano. In seguito a questo, il canonico K‚roly Pakocs chiese per lettera un consiglio giuridico al professore della Pontificia Universit— Urbaniana Gyula Magyary32. Il professore Magyary rispose che la giurisdizione dellÏordinario sostituto cessa nel momento in cui il vescovo o il vicario generale del vescovo, ovvero un successivo ordinario sostituto assume legitimamente il governo della diocesi33. Ma in quel momento K‚roly Pakocs – come abbiamo menzionato – aveva gi— dovuto domandare alla Santa Sede un chiarimento sulla situazione. LÏincertezza giuridica fu aggravata dalla circostanza che, in mancanza di un documento autentico, non si sapeva se la diocesi di Satu Mare e quella di Oradea fossero state canonicamente unite o meno. III. La situazione giuridica dellÏarcidiocesi di Esztergom dopo lÏarresto del Cardinale Mindszenty e dopo la morte del vicario generale J‚nos Drahos Dopo la morte del Cardinale Jusztini‚n Ser¦di avvenuta il 29 marzo 1945, il governo dellÏarcidiocesi di Esztergom pass! al canonico J‚nos Drahos che governava 32 Sulla sua persona vedi: P. Erdo˝ , Magyar k‚nonjog‚szok az Egyetemes Egyh‚z tört¦net¦ben, in Magyar Egyh‚ztört¦neti V‚zlatok. Regnum 18 (2006), p. 16 – 17. 33 “Jurisdictio ordinarii substituti exspirat in momento, quo ep[isco]pus vel vicarius eius generalis, vel subsequens ordinarius substitutus regimen dioecesanum suscepit” – si cita il riferimento della lettera di K‚roly Pakocs in Tempfli, S‚rbýl ¦s napsug‚rbýl (nota 4), p. 1021.

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come vicario capitolare34. Egli, tuttavia, a proposito di certi suoi provvedimenti fece riferimento a delle facolt— speciali provenienti dalla Santa Sede35. Dopo lÏentrata in ufficio di Jýzsef Mindszenty la situazione generale era ancora assai grave. Ma poich¦ il Codice del 1917 nel canone 429 non prescrive in modo assoluto la nomina degli ordinati sostituti per il caso dellÏeventuale impedimento della sede episcopale, ma la offre soltanto come possibilit—, non À sorprendente che dagli anni 1945 e 1946 non si conoscano documenti del Cardinale Mindszenty, nei quali nomina tali sostituti. Allo stesso tempo À certo che il nuovo primate stava sotto la stretta sorveglianza delle autorit— gi— molto presto. Sin dal 1946 si trovano delle relazioni regolari sulla sua persona nellÏArchivio Storico dei Servizi di Sicurezza dello Stato (ßBTL)36. Dal punto di vista della sorte del governo dellÏArcidiocesi negli anni succesivi risulta molto importante invece la copia di una lettera dattiloscritta, sulla quale si trova lÏabbreviazione pure dattiloscritta del nome del Cardinale Mindszenty (M.H.P.= Mindszenty Hercegprim‚s = Principe Primate Mindszenty). Sembra ovvio che la firma autografa di Mindszenty si trovasse soltanto sullÏoriginale della lettera. LÏesemplare che oggi si trova nellÏArchivio Storico dei Servizi risulta una copia fatta con carta carbone nellÏufficio diocesano e trasmessa da qualcuno alle autorit— statali gi— subito dopo la sua redazione. Il testo della lettera suona: Sotto il massimo segreto! Illustrissimo e Reverendissimo Signore, In base alla facolt— speciali ricevute dal Papa in caso di occupazione russa nomino Vostra Eccellenza al compito di assumere il governo dellÏarcidiocesi nel caso in cui la sede di Esztergom, per la mia prigionia, il mio arresto,la mia relegazione o la mia capacit— [recte: incapacit—] di agire subisse una tale violenza che non mi rendesse possibile tener libero contatto con i diocesani nemmeno per lettere. Nel caso della mia morte /vostra Signoria Reverendissima, e dopo di lei lÏEccellentissimo Signor Vescovo titolare Z. Lajos Meszl¦nyi/ sia il mio successore, se per le circostanze straordinarie dovute allÏoccupazione russa risulti pienamente impossibile lÏelezione canonica di un vicario capitolare. Vostra Eccellenza, dopo aver assunto nel senso sopra indicato il governo dellÏarcidiocesi deve darsi premura di avvisare quanto prima la Santa Sede sullÏassunzione dellÏufficio e nominare un sacerdote che la dovr— seguire dopo il secondo sostituto gi— nominato. Coloro che assumono il governo ecclesiale in questo modo, hanno gli stessi doveri e diritti dei vescovi diocesani, e sono provvisti dalle stesse facolt— straordinarie elencate sulla lista

34 In questa sua qualit— egli saluta il clero e i fedeli dellÏarcidiocesi nella sua lettera circolare del 31 marzo 1945 (Circulares Archidioecesanae, Strigonii 1945, 6: lettera circolare nr. II del 1945). 35 Circulares Archidioecesanae, Strigonii 1945, 19: lettera circolare nr. V, Prot. Nr. 479: “Ad notitiam Ven. Cleri profero me durante munere Vicarii Capitularis e speciali dispositione supremae ecclesiasticae auctoritatis ob extraordinarias circumstatias fflti posse omnibus facultatibus Episcopi residentialis propriis.” 36 Per es. ßBTL 3.2.4. K-384/2, 1 – 6 (24 settembre 1946); ivi 7 – 14 (24 settembre 1946 – 7 luglio 1948, ecc.).

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speciale nr. 6290/1944, eccezion fatta per quelle che richiedono lÏordine episcopale, se non siano vescovi consacrati. Se quellÏautorizzazione speciale, in base alla quale ho fatto il provvedimento sopra esposto, non fosse stata concessa dalla Santa Sede, + in base al Codice di Diritto Canonico do ogni facolt— alla vostra Signoria Reverendissima + comprenda anche la facolt— di permettere il possesso e la lettura dei libri proibiti, nonch¦ quella di sanare i matrimoni “in radice” secondo le norme vigenti. Per quello che concerne gli affari ecclesiastici nazionali, se per la brevit— del tempo cÏÀ qualche urgenza, vostra signoria pu! prendere decisioni adatte, se invece si ha il tempo necessario a disposizione, deve avvertire lÏarchivescovo di Kalocsa, il quale, convocando i presuli di Eger e di Sz¦kesfeh¦rv‚r, pu! decidere, insieme con la Signoria Vostra, quello che À necessario. Del resto … Esztergom, 12 giugno 1947 M.H.P.

Sulla stessa pagina viene aggiunta al testo una versione alternativa di alcune righe. La lettera stessa, nella sua forma sopra descritta, À indirizzata a J‚nos Drahos. La versione modificata con i testi alternativi si dirige chiaramente a Zolt‚n Meszl¦nyi: Eccellenza Reverendissima, /lÏillustrissimo e reverendissimo signor protonotario apostolico e mio vicario generale J‚nos Drahos, e dopo di lui la Vostra Eccellenza Reverendissima/ +se À impedito anche il mio illustrissimo e reverendissimo vicario generale nellÏesercizio della giurisdizione, per quel caso adesso nomino Vostra Eccellenza a mio vicario generale concedendo ogni facolt— secondo il Codice di Diritto Canonico+37.

Da questa lettera risulta chiaro che il sistema della costituzione degli ordinari sostituti stabilito nella disposizione Nominatio substitutorum del 29 giugno 1948 non fu una novit— assoluta, perchÀ la Santa Sede aveva concesso anche autorizzazioni analoghe almeno nella sostanza. Dal testo della lettera citata risulta che una tale autorizzazione era stata concessa gi— nel 1944. Il testo parla infatti di una facolt— pontificia concessa “per il caso dellÏoccupazione russa”. Lo stesso fatto consegue dal riferimento della lettera allÏelenco speciale nr. 6290/1944 che era naturalmente un documento della Santa Sede, perch¦ concedeva delle facolt— agli ordinari. Dalla lettera risulta inoltre che il Cardinale Mindszenty aveva incaricato segregamente degli ordinari sostituti gi— il 12 giugno 1947: in primo luogo il vicario generale J‚nos Drahos, al secondo posto il vescovo ausiliare Zolt‚n Meszl¦nyi. Differisce invece dal provedimento del 1948 della Santa Sede il fatto che il Cardinale Mindszenty nominasse Zolt‚n Meszl¦nyi al secondo posto come ordinario sostituto soltanto per il caso della propria morte, a condizione che lÏelezione di un vicario capitolare fosse 37 ßBTL 3.1.9. V-700/30, 1,2. Il testo che sta fra parentesi oblique, va sostituito con il testo che nellÏappendice sta tra simili parentesi, nella versione che era destinata al vescovo Zolt‚n Meszl¦nyi. Analogamente, la parte che si trova tra le due crocette (+), va sostituita con le parole, nella versione destinata al vescovo Meszl¦nyi, che stanno fra crocette nellÏappendice.

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impossibile. La lettera invece non disponeva che nel caso di semplice impedimento della sede, dopo Drahos avrebbe dovuto assumere il governo il vescovo Meszl¦nyi. Dopo lÏarresto di Mindszenty Drahos, govern! la diocesi come vicario generale, come risulta anche della sua lettera circolare nella quale comunica lÏassunzione del governo della diocesi38. Per accertare se J‚nos Drahos, dopo lÏarresto del Cardinale Mindszenty, abbia usato anche quelle facolt— speciali che competevano agli ordinari sostituti, sono necesarie ulteriori ricerche. In base al CIC/1917 c. 429 À comunque chiaro che, in caso di impedimento del vescovo, À il vicario generale che deve assumere il governo, e lÏordinario sostituto segue soltanto se ci! non À possibile. In ogni caso il vicario generale, in caso di impedimento del vescovo, non doveva rendere pubblica la propria qualit— di ordinario sostituto, perch¦ poteva svolgere il grosso dellÏattivit— di governo anche senza facolt— speciali. Per quegli atti che oltrepassavano la competenza ordinaria del vicario generale, bastava far riferimento allÏautorizzazione della Santa Sede, come fece J‚nos Drahos nel 194539. Nel momento dellÏarresto del Cardinale Mindszenty, alla fine del 1948, era gi— in vigore anche il documento Nominatio substitutorum, trasmesso dalla Nunziatura di Bucarest alle diocesi della Romania durante lÏautunno del 194840. DallÏUngheria invece fu espulso il Nunzio (Angelo Rotta) gi— nel 1945. Cos‡ i vescovi ungheresi non poterono ricevere indicazioni dalla rappresentanza della Santa Sede. Eppure À possibile che conoscessero il provvedimento Nominatio substitutorum, allora recente. In base a questi dati sembra possibile che o il Cardinale Mindszenty stesso prima del suo arresto41, o J‚nos Drahos, dopo aver assunto il governo della diocesi, abbia nominato al secondo posto dopo Zolt‚n Meszl¦nyi (per il caso della morte dellÏarcivescovo) o al primo posto dopo se stesso (per il caso in cui durante lÏimpedimento dellÏarcivescovo morisse o fosse impedito il vicario generale) un altro ordinario sostituto. Fino alla scoperta di ulteriori dati possiamo supporre con grande probabilit— che questa persona era il canonico K‚roly Gigler. Drahos infatti – bench¦ questo non sia stato pubblicato nelle circolari diocesane – nomin! Gigler a vicario generale sostituto. Il 5 giugno 1950, quando Drahos, moribondo, era gi— ricoverato in ospedale, Gigler pubblic! una breve lettera circolare con la firma “Dott. K‚roly Gigler v.[ice] vicario generale”42. Il canonico Gigler43 – contro alcune informazioni, se-

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Circulares Dioecesanae, Strigonii 1949, 2 (lettera circolare nr. I, Prot. Nr. 8914/1948). Circulares Archidioecesanae, Strigonii 1945, 19 (lettera circolare nr. V, Prot. Nr. 479). 40 Il 26 ottobre – cf. Tempfli, S‚rbýl ¦s napsug‚rbýl (nota 4), p. 149. 41 Una osservazione delle Memorie del Card. Mindszenty sembra far riferimento a questo; vedi infra nota 47. 42 Circulares Dioecesanae, Strigonii 1950 (pagina inserita senza numero!). 43 Era canonico del capitolo della cattedrale di Esztergom sin dal 22 aprile 1944, cf. M. Beke, Esztergomi kanonokok (1900–týl 1985) (Dissertationes Hungaricae ex historia Ecclesiae 10), Unterhaching 1989, p. 119. 39

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condo le quali il suo arresto À avvenuto soltanto nel luglio 195044 – era stato arrestato gi— prima del 17 luglio 1950, cioÀ prima dellÏelezione capitolare45. Con la morte di J‚nos Drahos, Zolt‚n Meszl¦nyi si trov! in una situazione molto strana. Da una parte egli sarebbe stato lÏordinario sostituto seguente, se il Cardinale Mindszenty fosse morto, e il capitolo non avesse potuto scegliere liberamente un vicario capitolare. DÏaltre parte poteva esserci un ordinario sostituto anche per il tempo dellÏimpedimento del Cardinale Mindszenty, appunto nella persona di K‚roly Gigler, il quale invece era gi— in prigione. Il capitolo evidentemente non sapeva di un altro ordinario sostituto nominato per il caso dellÏimpedimento della sede. Se avessero saputo di una tale persona, non avrebbero potuto procedere allÏelezione. Fu invece il vescovo Meszl¦nyi, il quale appunto il 16 giugno 1950, giorno precedente allÏelezione, in un colloquio con i canonici aveva fatto la proposta di estendere allÏintera diocesi la giurisdizione del vicario arcivescovile di Budapest, B¦la Witz, invece di procedere allÏelezioni46. IV. La valutazione propria di Zolt‚n Meszl¦nyi sul governo dellÏarcidiocesi durante lÏimpedimento del Cardinale Mindszenty Da quanto abbiamo finora detto sembra che Zolt‚n Meszl¦nyi non si considerasse come ordinario sostituto al quale spettava il governo dellÏarcidiocesi dopo la morte di Drahos. La lettera del 12 giugno 1947 del Cardinale Mindszenty, infatti, lo aveva previsto come secondo ordinario sostituto dopo Drahos soltanto per il caso della vacanza della sede e lÏimpossibilit— dellÏelezione capitolare. Se lÏincarico di Meszl¦nyi fosse stato valido anche per il caso dellÏimpedimento della sede, Meszl¦nyi non avrebbe potuto consentire allÏelezione di un vicario capitolare sede plena, perch¦ tale elezione sarebbe stata invalida. Non abbiamo alcuna informazione sullÏincarico di una ulteriore persona (oltre Gigler) come ordinario sostituto nominato dal primate Mindszenty o dal canonico Drahos. Va osservato per! che il Cardinale Mindszenty, nelle sue Memorie, fa un riferimento generale ad un tale fatto, e ci! deve riferirsi – in base al contesto – al novembre 1948. Egli scrive: “Ho provveduto anche sullÏordine in cui devono susseguirsi, dopo la mia incarcerazione, i membri di capitolo nella fun44 Cf. M. Beke, Az Esztergomi (Esztergom-Budapesti) Fo˝ egyh‚zmegye paps‚ga 1892 – 2006, Budapest 2008, p. 230. 45 Egy 1950. jfflnius 22-¦n kelt ügynöki jelent¦s p¦ld‚ul arrýl sz‚mol be, hogy a “kispaps‚g Dr. Giegler [sic!] letartýztat‚s‚t megel¦ged¦ssel vette tudom‚sul, mint olyant, ki Drahosnak volt a megb†zottja ¦s tan‚csadýja” (ßBTL 3.1.9. V-71165/31). Egy m‚sik jelent¦s az 1950. jfflnius 17-i esztergomi esem¦nyekro˝ l szýlva megjegyzi, hogy Czapik Gyula Meszl¦nyi Zolt‚n megv‚laszt‚sa kapcs‚n kijelentette: Megtört¦nhet, hogy Meszl¦nyivel is az fog tört¦nni, mint Giglerrel (vagyis elhurcolj‚k), vö. ßBTL 0 – 13.404/1. Egy 1950. jfflnius 22-¦n kelt ügynöki jelent¦s szerint “m‚r egy hete, hogy Giegler [sic!] letartýztat‚sa ýta a hivatali ügyeket nem int¦zi senki” (ßBTL 3.1.9. V-71165/27). Ezek szerint Giglert jfflnius 15-¦n, gyakorlatilag Drahos hal‚l‚val egyideju˝ leg tartýztatt‚k le. 46 A javaslatot ügynöki jelent¦s igazolja: ßBTL 0 – 13.405/1.

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zione di vicario generale”47. Se fosse stato in libert—, il 17 giugno 1950, qualcuno con tale incarico, sarebbe stato costretto a dichiarare la sua funzione di ordinario sostituto per impedire lÏelezione. Ci! avrebbe significato lÏarresto immediato. Questo pericolo era chiaro a tutti dopo la deportazione di K‚roly Gigler, avvenuta due giorni prima. Nessuno, invece, aveva svolto le funzioni di ordinario segreto in Ungheria fino a quella data. Anche in Romania fu Antal Jakab il primo ad assumere in segreto il governo di una diocesi latina il 10 marzo 1951. AnchÏegli scelse la via di svolgere clandestinamente le funzioni soltanto per ordine della Santa Sede. Eppure anchÏegli dovette successivamente rendere pubblica la sua qualit— di ordinario sostituto. A Esztergom quindi o non esisteva nessun ordinario sostituto a piede libero, o nessuno del capitolo – e cos‡ neanche il vescovo Meszl¦nyi – sapeva di una tale persona. Il vescovo Meszl¦nyi doveva avere la seguente valutazione giuridica sulla situazione: secondo il CIC/1917 c. 429 § 1 durante lÏimpedimento della sede, il vescovo diocesano viene sostituito dal vicario generale, e soltanto nel caso di mancanza o di impedimento del vicario generale lÏordinario sostituto assume il governo della diocesi. E poi, solo se manca o À impedito anche lÏordinario sostituto, il capitolo pu! scegliere validamente un vicario. Prima della promulgazione del decreto Christus Dominus del Concilio Vaticano II, il quale ha introdotto lÏufficio di vicario episcopale (nr. 27), in varie diocesi del mondo sono stati nominati pi¾ vicari generali. Questo era gi— proibito, in linea di massima, dal CIC/1917 c. 366 § 3, benchÀ fosse stata riconosciuta anche tale possibilit— per le grandi diocesi (ivi). Secondo i commentatori, dove cÏerano pi¾ vicari generali, questi dovevano svolgere le loro funzioni in solidum, cioÀ nel caso di necessit— ciascuno di loro era tenuto di compiere lÏintera funzione48. NellÏarcidiocesi di Esztergom, vi era un vicario generale nella citt— di Esztergom, nella curia arcidiocesana, ma anche a Budapest risiedeva un “vicario generale”, la giurisdizione del quale per! era limitata al territorio di quella citt—49. Questa 47 J. Mindszenty, Memorie, Milano 71991, p. 174 (“Diedi anche le mie ultime disposizioni. Precisai in quale ordine, dopo la mia incarcerazione, avrebbero dovuto succedersi i tre vicari generali designati dal capitolo del duomo”). Di questa disposizione non conosciamo un documento scritto. Secondo la gentile comunicazione del Rev. S‚ndor Kabar, parroco di Pilisszentl‚szlý, Mons. M‚ty‚s Erdo˝ s, gi— spirituale del Seminario di Esztergom, il quale ha partecipato alla trasmissione della disposizione del Card. Mindszenty, disse che il Cardinale aveva nominato ordinario sostituto, dopo il vicario generale J‚nos Drahos, il canonico K‚roly Gigler, e dopo di lui, al terzo posto, il vescovo Zolt‚n Meszl¦nyi. Tutto ci! fu disposto oralmente, probabilmente senza alcun documento scritto. 48 Cf. H. Jone, Gesetzbuch des kanonischen Rechtes. Erklärung der Kanones, I, Paderborn 1939, p. 298. 49 Tale situazione continu! nellÏarcidiocesi di Esztergom-Budapest dopo il 1993, con la differenza che, dopo il trasferimento della curia diocesana a Budapest, il vicario generale che risiedeva a Budapest, aveva ricevuto la sua nomina senza alcuna limitazione, mentre la competenza del vicario “generale” di Esztergom era limitata al territorio diocesano fuori di Budapest. Tale situazione fin‡, con la nomina del vicario “generale” di Esztergom Mons. Miklýs Beer a vescovo diocesano di V‚c, nel 2003. Dal 2003 lÏarcidiocesi di Esztergom-Budapest ha un solo vicario generale che risiede a Budapest. Nel giugno 1950, J‚nos Drahos era vicario generale per tutta lÏarcidiocesi (Schematismus venerabilis cleri Archidioecesis Strigoniensis

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limitazione territoriale invece rappresentava una certa anomalia giuridica. Secondo il tenore della sua nomina, anche il vicario di Budapest era vicario generale, ma soltanto in un senso speciale, non pieno. Se fosse stato giuridicamente a tutti gli effetti vicario generale, sarebbe stato obbligato, dopo la morte del vicario generale J‚nos Drahos, ad assumere il governo della diocesi. Ma non corrispondeva alla nozione codiciale di vicario generale (CIC/1917 c. 366 § 1; c. 368 § 2), se uno aveva ricevuto giurisdizione soltanto in una parte determinata della diocesi50. Per questo, Zolt‚n Meszl¦nyi propose lÏestensione della giurisdizione del vicario di Budapest, B¦la Witz51. Questo significa che egli teoricamente suppose che anche il vicario generale di Budapest era un vero vicario generale, per il quale lÏesercizio dellÏufficio non era possibile (o permesso) fuori della citt— di Budapest per una riserva di queste funzioni al vicario generale di Esztergom, fatta nel documento della sua nomina. Se invece il vescovo Meszl¦nyi avesse ritenuto B¦la Witz vero vicario generele, egli avrebbe dovuto protestare contro lÏelezione capitolare. Meszl¦nyi per! – almeno apertamente – non protest!. Il motivo di questo suo atteggiamento pu! essere il fatto che Witz avesse cessato di essere vicario generale gi— prima dellÏelezione. Ma il capitolo della cattedrale non era competente ad accettare una tale rinuncia. Diversamente dalla vacanza delle sede, quando il vicario generale perde automaticamente il suo ufficio (CIC/1917 c. 371) e il governo della diocesi passa provvisoriamente – secondo il diritto di allora – al capitolo (CIC/1917 c. 391 § 1), durante lÏimpedimento della sede il capitolo non governa nemmeno provvisoriamente la diocesi, ma pu! scegliere soltanto, nel caso di necessit—, un vicario. CioÀ, il vicario B¦la Witz non poteva rinunciare al suo ufficio davanti al capitolo, ossia il capitolo non era competente a liberarlo dallÏufficio accettando la rinuncia. Perci! i canonisti, con il vescovo Meszl¦nyi a capo, pensarono: nel caso del vicario di Budapest non À certo che il suo ufficio corrisponda a quello che il CIC/1917 c. 429 intende sotto il vicario generale, il quale deve avere competenza per tutta la diocesi. Anche il CIC/1917 c. 366 § 1 fa un accenno al fatto che il vicario generale deve aiutare il vescovo nel governo di tutta la diocesi. Nel caso di dubbio di diritto per!, non obbligano nemmeno le leggi inabilitanti od irritanti (CIC/1917 c. 15), cioÀ neppure la disposizione che prescrive lÏassunzione del governo diocesano da parte del vicario generale (CIC/1917 c. 429 § 1), se À giuridicamente dubbio che la persona in questione – B¦la Witz – sia da considerarsi come vicario generale, o meno. Cos‡ À comprensibilie che Zolt‚n Meszl¦nyi – secondo la relazione di un agente segreto – abbia parlato di B¦la Witz anche dopo il 14 giugno 1950 come di “vicario”52. CioÀ B¦la Witz rinunci! non alla sua funzione di vicario di Budapest, ma al risultato dellÏelezione capitolare che lo indicava a magpro anno 1947, Budapestini s.a., p. 23: “Vicarius archiepiscopalis pro toto territorio Archidioeceseos”), B¦la Witz invece era vicario “generale” nominato solo per il territorio del vicariato di Budapest (ivi: “Vicarius archiepiscopalis generalis in districtu vicariali archiepiscopali Budapestinensi”). 50 Jone, Gesetzbuch (nota 48), I, p. 298. 51 ßBTL O-13.405/1 (relazione di un agente). 52 ßBTL 3.1.9. V-71165/23.

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gioranza come vicario capitolare eletto. Questa rinuncia invece era possibile anche davani al capitolo. Il 17 giugno 1950 infatti, la prima elezione capitolare fu favorevole a B¦la Witz. Egli ricevette 8 voti su 11, ma non volle accettare la funzione di vicario capitolare, e “rinunci!” indicando come motivazione della rinuncia la sua malattia e la mancanza di esperienza53. La malattia e la mancanza della competenza professionale erano infatti tra le cause generalmente conosciute per la rinuncia allÏufficio (e cos‡ naturalmente anche per lÏelezione allÏufficio)54. Nel caso di B¦la Witz tuttavia, lÏargomento della mancata esperienza semba poco convincente, perch¦ egli aveva gi— lavorato come vicario di Budapest, sin dal 194455. Dopo questo, tutta la tensione e tutto il peso della situazione si aggravava sul vescovo Meszl¦nyi. Questo non sarebbe stata una prova leggera, nemmeno se le autorit— statali non fossero intervenute. Tale intervento per!, fu effettuato attraverso diversi canali. Il parrocco Lajos Bal‚zs, richiamandosi al padre Istv‚n Balogh e al Ministero degli Interni, rispettivamente al governo, comunic! che le autorit— desideravano decisamente lÏelezione di Miklýs Beresztýczy56. Anche lÏarcivescovo di Eger, Gyula Czapik e il vescovo greco-cattolico di Hajdffldorog, Miklýs Dud‚s sollecitarono lÏelezione di Beresztýczy. Dud‚s raccont! di aver parlato col Cardinal Mindszenty in carcere, e che il Cardinale gli aveva espresso il proprio desiderio di far eleggere il canonico Beresztýczy a vicario capitolare57. Il vescovo Meszl¦nyi invece, dichiar! nel capitolo prima dellÏelezione del vicario, dopo i funerali di J‚nos Drahos, che “ritiene strana la visita del vescovo Dud‚s presso il Primate (in carcere) ci! gi— per la seconda volta, perch¦, per quanto ne sapeva, Dud‚s e Mindszenty non erano strettamnte collegati”58. Meszl¦nyi aggiunse che non si deve prendere in considerazione un tale messaggio del Primate perch¦ cÏerano messaggi simili gi— in precedenza, e neache quelli erano stati considerati. Contro tali messaggi parlava anche quella lettera del Primate preparata prima del suo arresto, nella quale egli dichiarava che i sacerdoti non avrebbero dovuto prendere sul serio niente di quello che egli avrebbe eventualmente scritto dal carcere59. Cos‡ il capitolo non diede credito a questo messaggio. Le fonti recentemente pubblicate confermano che la preoccupazione del capitolo era pienamente giustificata60. Del resto, sarebbe stato anche giuridicamente assurdo che il capitolo scegliesse un vicario per lÏimpedimento del vescovo, in modo 53

ßBTL 3.1.9 V-71165/33. Questo principio viene espresso anche in un versetto mnemotecnico: “Debilis, ignarus, male conscius, irregularis, – Quem mala plebs odit, dans scandala cedere possit” – cf. D. M. Prümmer, Manuale Iuris Canonici, 6Friburgi Brisgoviae 1933, p. 115, q. 83, nota 7. 55 Beke, Az Esztergomi (Esztergom-Budapesti) Fo˝ egyh‚zmegye paps‚ga (nota 44), p. 812. 56 ßBTL O-13405/1, p. 2. 57 ßBTL 3.1.9. V-71165/33. 58 ßBTL 3.1.9. V-71165/34. 59 ßBTL O-13415/1, p. 4. 60 Cf. ß. Somorjai – T. Zinner, MajdÏ hal‚lra †t¦lve. Dokumentumok Mindszenty Jýzsef ¦lettört¦net¦hez, Budapest 2008, p. 106. 54

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che, nellÏelezione seguisse le indicazioni o le disposizioni rilasciate dal vescovo in questa sua condizione. Se il vescovo pu! comunicare la propria libera dichiarazione di volont— al capitolo, allora non À impedito (cf. CIC/1917 c. 429 § 1), e cos‡ non si pu! nemmeno eleggere un vicario capitolare. Abbiamo informazioni anche di unÏaltra obiezione del vescovo Meszl¦nyi, formulata nel capitolo prima delle elezioni. Per la pressione statale, per ottenere lÏelezione di Beresztýczy, egli dichiar! che la sessione del capitolo si trovava in una situazione poco chiara e inammissibile, perch¦ non vi era libert— di elezione. E cos‡ sorse la domanda se fosse possibile scegliere validamente61. Dato che B¦la Witz che aveva ricevuto in precedenza la maggioranza ma non aveva accettato lÏelezione, dichiar! che non era disposto ad accettare una sua eventuale elezione nemmeno negli scrutini successivi, il capitolo procedette di nuovo allÏelezione, “non prendendo in considerazione i messaggi provenienti dalle autorit— statali”62. Se il capitolo questa volta avesse eletto Beresztýczy, sarebbero state giustificate le preoccupazioni del vescovo Meszl¦nyi circa la validit— dellÏelezione, perch¦ il CIC/ 1917 c. 166 stabiliva che lÏelezione effettuata sotto la pressione di unÏingerenza laica, senza la dovuta libert—, era invalida. La disposizione del canone era ben conosciuta nel capitolo. Cos‡ fu eletto Zolt‚n Meszl¦nyi, il quale accett! il risultato dellÏelezione ed assunse la funzione di vicario capitolare, malgrado i pericoli ovvi, perch¦ la diocesi avesse un ordinario validamente incaricato. DallÏaltra parte, la Santa Sede (Sacra Congregatio Concilii) ribad‡ anche in un decreto del 29 giugno 1950 che lÏoccupazione di un ufficio ecclesiastico contro le leggi della Chiesa, per pressione statale, era invalida, e costituiva un reato nellÏordinamento canonico. Per tali casi, secondo il decreto, era prevista la scomunica latae sententiae riservata alla Santa Sede in modo speciale63. Questa disposizione della Santa Sede aveva un carattere generale e preventivo. Essa fu rilasciata certamente per diversi casi che si sono presentati nei paesi comunisti. Dopo aver accettato la funzione di vicario capitolare, e cominciato il lavoro in questo ufficio, Zolt‚n Meszl¦nyi fu deportato da casa sua il 29 giugno 1950. PotÀ quindi esercitare questo suo ministero soltanto per 12 giorni. Per il momento non abbiamo una conoscenza documentata sulla questione se egli in questo breve periodo abbia nominato o meno uno o pi¾ ordinari sostituti per il caso del suo impedimento. In ogni caso, il capitolo commosso per gli avvenimenti e numericamente ridotto (sia Gigler che Meszl¦nyi erano anche canonici), elesse il 5 luglio 1950 Miklýs Beresztýczy a “vicario capitolare”64. Se ci fu un ordinario sostituto incaricato da Meszl¦nyi, non rese pubblica questa sua funzione. Le legittimit— del governo dellÏarcidio61

ßBTL O-13514/1, p. 4. Ivi. 63 Sacra Congregatio Concilii, Decr. Catholica Ecclesia (De ecclesiasticis officiis et beneficiis canonice instituendis seu providendis), 29 junii 1950. 64 Egli comunic! questo nella sua lettera circolare diocesana del 22 luglio 1950: Circulares Dioecesanae, Strigonii 1950, 29 – 30 (lettera circolare nr. X). 62

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cesi da parte di Beresztýczy poteva essere messa in dubbio gi— per la mancata libert— dellÏelezione. Tutto ci! perse per! ogni importanza per il fatto che la Santa Sede dopo poco tempo (il 18 luglio 1950) nomin! Endre Hamvas amministratore aposolico dellÏArcidiocesi di Esztergom, accumulando questa funzione con il suo ufficio di vescovo diocesano di Csan‚d65. Endre Hamvas, gi— allÏinizio della sua prima lettera circolare pubblicata per lÏArcidiocesi Esztergom66, con la data del 18 ottobre 1950, riporta il testo latino intero del sopramenzionato decreto della Sacra Congregazione del Concilio del 29 giugno 1950. Con la nomina di Endre Hamvas perdeva il proprio ufficio ogni eventuale ordinario sostituto ed ogni vicario capitolare (anche se eventualmente validamente eletto), poich¦ sia il vicario generale sia queste altre persone potevano governare la diocesi durante lÏimpedimento del vescovo soltanto se la Sede Apostolica non aveva disposto diversamente (CIC/1917 c. 429 § 1). LÏesempio pi¾ tipico di una tale disposizione della Santa Sede era la nomina di un amministratore apostolico67. V. Conclusione Da quanto À stato detto, si danno le seguenti conclusioni: (1)

Anche in Ungheria si cominciavano a nominare degli ordinari sostituti. Ci! viene confermato dalla lettera del Cardinale Mindszenty testÀ citata.

(2)

Il Card. Mindszenty aveva nominato due ordinari sostituti gi— il 12 giugno 1947, cioÀ ancora prima della disposizione Nominatio susbtitutorum della Santa Sede rilasciata nel 1948. Il carattere della nomina differiva da quello che indicava questo documento della Santa Sede perch¦ la nomina dei sostituti vigeva soltanto per il caso della morte dellÏarcivescovo a condizione che il capitolo fosse incapace di agire. La lettera di Mindszenty aveva menzionato tuttavia anche il caso di prigionia e di incapacit— di agire dellÏarcivescovo. Ma per questo caso, soltanto il vicario generale era stato indicato come ordinario sostituto, e dopo di lui, al secondo posto non figurava nessuno. Dato che, secondo il diritto universale, durante lÏimpedimento del vescovo, il vicario generale doveva comunque governare la diocesi, il senso di questa parte della disposizione del primate poteva essere soltanto che il vicario generale in questo caso speciale possa esercitare dei diritti pi¾ ampi di quelli che gli competevano in base alla sua funzione di vicario generale. Il secondo capoverso della lettera di Mindszenty che fa riferimento al fatto che al suo posto il destinatario della lettera “secondo quanto À stato detto sopra, assume il governo dellÏarcidiocesi”, nel contesto si riferisce al caso della morte dellÏarcivescovo. Cos‡ si capisce che la lettera obbliga il vicario generale a nominare il quel caso un ulteriore sacerdote che potesse poi sostituire, se necessario, il “secondo gi— nominato”. Questo “se-

65 Meszl¦nyi Zolt‚n Lajos ¦letrajza, in: Al‚zatos szolg‚lat. Dr. Meszl¦nyi Zolt‚n Lajos szentbesz¦dei, össze‚ll†totta Tört¦n¦sz Bizotts‚g, Don Bosco Kiadý, Budapest 2007, p. 40. 66 Circulares Dioecesanae, Strigonii 1950, 31 (lettera circolare nr. XI, Prot. Nr. 4498). 67 Cf. per es. Jone, Gesetzbuch (nota 48), I, p. 341.

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condo gi— nominato” era Zolt‚n Meszl¦nyi, ma la sua nomina di secondo ordinario sostituto – per lÏestrema cautela o per lÏimperfezione tecnica della lettera – si riferiva soltanto al caso della morte di Mindszenty. (3)

Dalla lettera del Cardinale Mindszenty in cui nominava gli ordinari sostituti, si vede che il primate aveva dei dubbi circa la situazione giuridica precisa, perch¦ scrive “Se quellÏautorizzazione speciale, in base alla quale ho fatto il provvedimento sopra esposto, non fosse stata concessa dalla Santa Sede”.

(4)

Dal comportamento di Zolt‚n Meszl¦nyi risulta chiaro che egli, nel momento della morte di J‚nos Drahos, non si considerava ordinario sostituto, poich¦ altrimenti avrebbe dovuto protestare contro lÏorganizzazione dellÏelezione capitolare. In base alla lettera citata del Card. Mindszenty infatti, egli non poteva considerarsi ordinario sostituto, essendo stato nominato nella lettera soltanto per il caso della morte dellÏarcivescovo.

(5)

Zolt‚n Meszl¦nyi non poteva considerare il vicario di Budapest, B¦la Witz come vicario generale nel pieno senso canonico della parola, perci! – almeno in base ad un dubbio di diritto – non si sentiva obbligato a protestare contro lÏelezione a motivo della presenza di un “vicario” nella diocesi.

(6)

Il vescovo Meszl¦nyi protest! invece con pieno diritto contro lÏeventuale elezione di Miklýs Beresztýczy, perch¦ una tale elezione, per la fortissima pressione statale che non lasciava alcuno spazio per altre soluzioni, non sarebbe stata libera, e cos‡ neanche valida.

(7)

Il ruolo del vicario generale sostituto K‚roly Gigler, poteva essere probabilmente considerato come una funzione di ordinario sostituto. Una tale nomina Gigler poteva riceverla dal Primate stesso prima del 26 dicembre 1948 (data dellÏarresto del Cardinale). Anche J‚nos Drahos come vicario generale aveva il diritto di nominare Gigler ad ordinario sostituo, indipendentemente dalla lettera del 12 giugno 1947 del Cardinale Mindszenty. Tale diritto e compito era infatti previsto nella disposizione Nominatio substitutorum della Santa Sede del 1948. La funzione di K‚roly Gigler non poteva invece impedire lÏelezione capitolare, perch¦ egli fu arrestato prima dellÏelezione (precisamente il 15 giugno 1950).

(8)

Dopo lÏarresto del vescovo Meszl¦nyi, la continuazione legittima del governo diocesano corse un grave pericolo, ma la Santa Sede, con la nomina di Endre Hamvas ad amministratore apostolico, risolse la situazione. Da questa nomina si vede che la Santa Sede, anche sotto il pontificato di Pio XII, comp‡ grandi sforzi per assicurare il governo legittimo delle diocesi. Tali sforzi erano proprio necessari, poich¦ dove la Chiesa cattolica (almeno nel rito latino) poteva funzionare teoricamente in modo pubblico, riconosciuto da parte dello stato (cioÀ, non soltanto clandestinamente), sarebbe scaturita una tensione enorme ed una difficolt— tecnica, se si fosse dovuta tenere segreta lÏidentit— della persona riconosciuta dalla Santa Sede come ordinario di una organizzazione che funzi-

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onava pubblicamente. Per questo, la Santa Sede non richiese in Ungheria il funzionamento segreto degli ordinari sostituti. Essa non era neanche costretta a farlo, perch¦ diversi vescovi consacrati erano in libert— e governavano le loro diocesi, ma anche perch¦ le autorit— statali tolleravano la nomina – almeno di certe persone – ad amministratore apostolico. In Romania, allÏinizio degli anni Ï50 cÏerano momenti in cui nessun vescovo era in libert—, e cos‡, emerse lÏidea del governo ecclesastico segreto non soltanto a riguardo delle diocesi greco-cattoliche ufficialmente vietate dallo Stato, ma anche nel caso delle diocesi latine legalmente esistenti. Le persone degli ordinari sostituti, del resto segreti, furono per! registrate alla Nunziatura di Bucarest. Cos‡ almeno la nunziatura conosceva lÏdentit— degli ordinari nelle singole diocesi. Soltanto dopo la chiusura della nunziatura68 dal 1952 cominci! la vera incertezza giuridica, la quale ebbe per effetto che, malgrado la fedelt— eroica degli ordinari segreti, per esempio nella Diocesi latina di Alba Iulia “tra il dicembre del 1954 e il ritorno del vescovo ßron M‚rton nel marzo 1955 probabilmente non cÏera pi¾ nemmeno un ordinario segreto”69. Anche nella Diocesi di Satu Mare (Romania) si present! lÏincertezza giuridica circa la persona dellÏordinario nel caso di Lajos Czumbel (vedi sopra). (9)

In tutte queste situazioni era dÏimportanza decisiva la precisa preparazione giuridico-canonica, il rappresentante della quale nellÏArcidiocesi di Esztergom era proprio il vescovo Meszl¦nyi. Egli accett! la funzione di vicario capitolare per la quale poi fu arrestato e sofferse il martirio perch¦ solo cos‡ vedeva assicurato il governo canonicamente valido e legittimo della diocesi.

(10) LÏinsieme del sistema del diritto canonico non À completamente preparato allo stato di emergenza che pu! prodursi tra le circostanze della persecuzione o dellÏoppressione. Cos‡, in detereminate circostanze, À necessaria una competenza giuridico-canonica creativa e di altissimo livello per la soluzione dei problemi che si presentano70. *** Der vorliegende Beitrag reproduziert im Wesentlichen den Artikel des Verfassers, der in den Periodica de Re Canonica (99, 2010, S. 35 – 72) erschienen ist.

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Virt, Nyitott sz†vvel (nota 21), p. 253. Virt, Nyitott sz†vvel (nota 21), p. 260. 70 Cf. per es. P. Erdo˝ , Probleme der synodalen Organe mit Leitungsgewalt in der Kirche. Die Folgen der Untätigkeit der Bischofskonferenz im Bereich der Rechtssetzung, in: W. Rees (Hrsg.), Recht in Kirche und Staat (FS Joseph Listl 75), (KStuT 48), Berlin 2004, p. 155 – 161. 69

Erzbischof Andreas Rohracher (1892 – 1976) als Kanonist und Konzilsvater Ein Streifzug durch gedruckte und ungedruckte Quellen Von Martin Rehak Die kirchenhistorische Aufarbeitung des Zweiten Vatikanischen Konzils, insbesondere aus der Perspektive der Ortskirchen, ist heute noch vielfach ein Desiderat.1 Eine wichtige Quelle für diesbezügliche Forschungen sind, sofern zugänglich, die Nachlässe der Konzilsväter.2 Der folgende Beitrag setzt sich daher zum Ziel, unter Einbeziehung archivarischer Quellen aus den zahlreichen Facetten der Biographie und der Persönlichkeit Andreas Rohrachers vor allem den Kanonisten und Konzilsvater herauszustellen und näher zu betrachten. I. Zum Werdegang Rohrachers bis zur Ankündigung des Zweiten Vatikanischen Konzils Andreas Rohracher wurde am 31. Mai 1892 als fünftes von sechs Kindern der Eheleute Anna und Franz Rohracher in Lienz (Osttirol) geboren.3 Nach einer philo1 So die wohl einhellige Meinung der Referenten des internationalen Symposions „Das II. Vatikanische Konzil (1962 – 65). Stand und Perspektiven der kirchenhistorischen Forschung im deutschsprachigen Raum“, veranstaltet von Prof. Dr. Franz Xaver Bischof, München, am 18.–20. Februar 2010 in Schloss Fürstenried. Einige Bemerkungen dort über Erzbischof Andreas Rohracher haben Verfasser zu vorliegendem Aufsatz inspiriert. 2 Verfasser darf an dieser Stelle Frau Ordinariatskanzler Dr. Elisabeth Kandler-Mayr ebenso wie Herrn Dr. Thomas Mitterecker, Leiter des Archivs der Erzdiözese Salzburg, sowie dessen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern sehr herzlich für die Genehmigung der Einsichtnahme in die relevanten Aktenbestände und die ausgezeichnete Betreuung danken. Rohrachers Konzilsnachlass im Archiv des Erzbistums Salzburg [AES] umfasst insgesamt 17 Faszikel (teils mit weiteren Untermappen) aus den Beständen 19/6 bis 19/10, sortiert nach allgemeinem Material und Unterlagen zu einzelnen Schemata. In dieser Studie wurden nach einer weitergehenden Sichtung letztlich nur einzelne Dokumente der Bestände AES, 19/6, II. Vatikanisches Konzil und AES, 19/7, II. Vatikanisches Konzil, Sessionen ausgewertet. Der übliche Hinweis, dass der vorliegende Beitrag aus verschiedensten Gründen fragmentarischen Charakter hat und eine erschöpfende Untersuchung des gewählten Themas weder ersetzen kann noch will, bedarf daher keiner weiteren Erläuterung. 3 Die biographischen Grundinformationen sind entnommen aus Hans Spatzenegger, Art. Rohracher, in: Erwin Gatz (Hrsg.), Die Bischöfe der deutschsprachigen Länder: 1785/1803 bis 1945, Berlin 1983, S. 625 – 628; ders./Franz Ortner, Art. Rohracher, in: Erwin Gatz (Hrsg.), Die Bischöfe der deutschsprachigen Länder: 1945 – 2001, Berlin 2002, S. 484 – 487; ders.,

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sophisch-theologischen Ausbildung an der Lehranstalt des Klagenfurter Priesterseminars4 wurde Rohracher 1915 für das Bistum Gurk zum Priester geweiht. Während der Kaplanszeit wurde der Gurker Bischof Adam Hefter5 (1871 – 1970) sein Förderer, indem er ihn zunächst als Ordinariatssekretär und Subregens einsetzte und ihm weitere Universitätsstudien ermöglichte. Von 1919 – 1922 absolvierte Rohracher in Innsbruck ein theologisches Promotionsstudium.6 In den folgenden vier Jahren studierte Art. Rohracher, in: Neue deutsche Biographie [NDB], Bd. 22 (2005), S. 3 f.; Vgl. ferner Willibald M. Plöchl, Alterzbischof DDDr. Andreas Rohracher †, in: ÖAKR 27 (1976), S. 221 – 229; Alfred Rinnerthaler, Der letzte Salzburger Fürsterzbischof Andreas Rohracher – ein Mann des Ausgleichs, in: ÖAKR 41 (1992), S. 86 – 109; Peter Schernthaner, Andreas Rohracher. Erzbischof von Salzburg im Dritten Reich (Schriftenreihe des Erzbischof-RohracherStudienfonds 3), Salzburg 1994; Alfred Rinnerthaler, Andreas Rohracher (1943 – 1969). Salzburgs letzter Fürst, in: Peter F. Kramml/Alfred Stefan Weich, Lebensbilder Salzburger Erzbischöfe aus 12 Jahrhunderten (Schriften des Vereines Freunde der Salzburger Geschichte 24), Salzburg 1998, S. 221 – 242; Gerhard B. Winkler, Andreas Rohracher. Fürsterzbischof von Salzburg (1943 – 1969), der geborener [!] Legat des Heiligen Stuhles, in: Jan Mikrut (Hrsg.), Faszinierende Gestalten der Kirche Österreichs, Bd. 5, Wien 2002, S. 315 – 338. Auch der mit vorliegender Festschrift geehrte Jubilar hat sich in seinem Schrifttum mit Andreas Rohracher befasst, vgl. Hans Paarhammer, Die Gesetzgebung der Salzburger Erzbischöfe auf den Diözesansynoden des 20. Jahrhunderts, in: Hartmut Zapp/Andreas Weiß/ Stefan Korta (Hrsg.), Ius canonicum in Oriente et Occidente. Festschrift für Carl Gerold Fürst zum 70. Geburtstag (Adnotationes in Ius Canonicum 25), Frankfurt a.M. 2003, S. 311 – 328, hier S. 315 – 323; ders., Der Salzburger Kirchenbauverein und die ,Hirten im WiederaufbauÐ. Von Andreas Rohracher (1945) bis Alois Kothgasser, in: Renate Egger-Wenzel (Hrsg.), Geist und Feuer. Festschrift Alois Kothgasser, Innsbruck/Wien 2007, S. 615 – 640; ders., Die Diözesansynoden 1948, 1958 und 1968, in: Ernst Hintermaier/Alfred Rinnerthaler/Hans Spatzenegger (Hrsg.), Erzbischof Andreas Rohracher. Krieg Wiederaufbau Konzil, Salzburg 2010, S. 283 – 304. 4 Vgl. dazu Andreas Hornig, Das Klagenfurter Priesterseminar und dessen Lehranstalt von der Übernahme durch die Jesuiten bis zum Einmarsch Hitlers (1887 – 1938), Innsbruck (Univ.-Diplomarbeit) 1989. Hornig zufolge war die Lehranstalt zwischen 1887 und ca. 1910 sowie dann wieder nach dem Ersten Weltkrieg überwiegend von Jesuiten getragen; allerdings dürfte Rohrachers erster Lehrer des Kirchenrechts der Kärntner Slowene Gregorij Rozˇman (1883 – 1959), nachmals Bischof von Ljubljana, gewesen sein, vgl. ebd., S. 13 – 25, hier besonders S. 22. Zu Gregorij Rozˇman vgl. Helmut Rumpler, Katholische Kirche und Nationalitätenfrage in Kärnten. Die Bedeutung des Klagenfurter Priesterseminars für die Ausbildung des slowenischen Klerus (1848 – 1920), in: Südostdeutsches Archiv 30/31 (1987/88), S. 40 – 77, hier S. 68 – 73. 5 Zu ihm vgl. Jakob Obersteiner, Die Bischöfe von Gurk 1824 – 1979, Klagenfurt 1980, S. 161 – 202; Erwin Gatz, Art. Hefter, in: ders. (Hrsg.), Bischöfe 1785/1803 – 1945 (Anm. 3), S. 298 f. 6 Die Dissertation über „Das Hohepriestertum Jesu Xristi [!] nach Hebr. V,1 – 10 u. VII,1 – 28“ umfasst insgesamt 117 handgeschriebene Blätter; vgl. Digitalisat (gedruckt) in: AES, 343/ 16. Wie eine Durchsicht der exegetischen Arbeit ergibt, zeigt Rohracher im ersten Hauptteil der Arbeit, dass Jesus Christus wahrer Hohepriester ist, indem er die wesentlichen Erfordernisse dieses Amtes (Berufung von Gott, Mitleid mit den Sündern) erhebt und ihr Vorhandensein in der Person Jesu Christi nachweist. Der zweite Hauptteil behandelt die Wendung „jat± tµm t²nim Lekwis]dej“ (Hebr. 7,11) und analysiert die Erhabenheit des Priestertums Melchisedeks, wie sie sich aus dessen Person, aus dessen Handlungsweisen und aus der Referenz in

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er Kirchenrecht in Rom und Rechtswissenschaft in Wien. Ausweislich der archivarischen Aufzeichnungen des Priesterkollegs Santa Maria dellÏAnima in Rom gehörte Rohracher in den Studienjahren 1922 – 24 und 1926/27 dem Kolleg an und studierte am Päpstlichen Athenaeum SantÏApollinare (heute: Lateranuniversität).7 In Wien wurden Max Hussarek8 (1865 – 1935) und Rudolf Köstler9 (1878 – 1952) Rohrachers akademische Lehrer, über die er im Jahre 1949 rückblickend dem Köstler-Schüler Willibald M. Plöchl10 (1907 – 1984) anvertraut hat: „Das Kirchenrecht habe ich bei Max Hussarek und Rudolf Köstler an der Wiener Juristenfakultät gelernt.“11 Auf die Promotion zum Doktor beider Rechte im November 1926 in Wien folgte im Juli des darauffolgenden Jahr die römische Promotion zum Dr. iur. can.12 Ps. 110,4 ergibt. Das Literaturverzeichnis ist dreigeteilt in katholische Literatur des Altertums und Mittelalter (nach der Ausgabe von Jacques Paul Migne in der Patrologia Latina bzw. Patrologia Graeca); der Neuzeit; sowie protestantische Literatur. Die Arbeit ist gespickt mit griechischen Zitaten und gelegentlich auch hebräischen Wendungen. 7 Für die Recherchen im Priesterbuch des Kollegs gilt mein aufrichtiger und herzlicher Dank seinem derzeitigen Rektor, Herrn Dr. Franz Xaver Brandmayr. Zur Geschichte der Lateranuniversität vgl. Antonio Piolanti (Hrsg.), La Pontificia Universit— Lateranense. Profilo della sua storia, dei suoi maestri e dei suoi discepoli, Rom 1963. Aus den von verschiedenen Autoren verfassten Porträts der Professoren der kirchenrechtlichen Fakultät (vgl. ebd., S. 207 – 258) geht fast nie klar hervor, in welchem Zeitraum und mit welcher fachlichen Spezialisierung diese gelehrt haben, zumal da die meisten Professoren neben ihrer Lehrtätigkeit am Athenaeum Apollinare noch anderen Beschäftigungen in diversen Dikasterien der Römischen Kurie oder an anderen Universitäten nachgingen. Soweit jedoch ersichtlich, gehörten um die Mitte der 1920er Jahre Filippo Maroto CMF, Amleto Giovanni Cicognani, Alberto Canestri, Francesco S. DÏAmbrosio OFMConv, Virgilio Dalpiaz, Francesco Roberti sowie auf dem Lehrstuhl für Ius Publicum Ecclesiasticum Alfredo Ottaviani dem Lehrkörper der Fakultät an (hier nicht aufgelistet sind die Professoren für römisches und für Zivilrecht). Der Sammelband erwähnt in einem Kurzartikel von Jaroslav Polc auch Andreas Rohracher als berühmten Alumnen, vgl. ebd., S. 496. 8 Zu ihm vgl. Josef Kremsmair, Art. Hussarek, in: Stephan Haering/Heribert Schmitz (Hrsg.), Lexikon des Kirchenrechts [LexKR] (Lexikon für Theologie und Kirche kompakt), Freiburg/Basel/Wien 2004, Sp. 1097; Willibald M. Plöchl, Art. Hussarek v. Heinlein, in: NDB, Bd. 10 (1974), S. 86 f.; ders., Max Hussarek als akademischer Lehrer, in: ÖAKR 5 (1954), S. 78 – 91. 9 Zu ihm vgl. Nikolaus Grass, Rudolf Köstler und Ulrich Stutz, in: Winfried Aymans/ Anna Egler/Joseph Listl (Hrsg.), Fides et ius. Festschrift für Georg May zum 65. Geburtstag, Regensburg 1991, S. 363 – 387; Karl Schwarz, Art. Köstler, in: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon [BBKL] IV (1992), Sp. 291 f.; Bruno Primetshofer, Art. Köstler, in: LexKR (Anm. 8), Sp. 1109 f. 10 Zu ihm vgl. Peter Stockmann, Art. Plöchl, in: BBKL XXXIII (2004), Sp. 1111 – 1116; Josef Kremsmair, Art. Plöchl, in: LexKR (Anm. 8), Sp. 1137 f.; sowie die diversen Beiträge der Gedächtnisschrift „Willibald M. Plöchl zur 100. Wiederkehr seines Geburtstages“, in: ÖARR 54 (2007), S. 1 – 176. 11 Plöchl, Rohracher † (Anm. 3), S. 222. 12 Ob Rohracher eine juristische Dissertation verfasst hat, ist fraglich. Wie Herr Prof. Dr. Alfred Rinnerthaler freundlicherweise mitteilt, erhielt man das rechtswissenschaftliche Doktorat in Österreich bis zu den Achtzigerjahren des 20. Jahrhunderts durch ein System von mündlichen Prüfungen (drei kommissionelle Rigorosen mit jeweils vier bis fünf Fächern). Trotz beharrlicher telefonischer Anfragen bei der Lateranuniversität, die freundlicherweise

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Nach dessen Rückkehr in das Bistum machte sich Bischof Hefter die neu erworbenen Fachkenntnisse des dreifachen Doktors zunutze, indem er für Rohracher zunächst Verwendung als Rechtskonsulent im bischöflichen Ordinariat (1927 – 1931), als Studiendirektor an der Diözesanlehranstalt (ab 1927, seit 1931 Regens ebendort), als Ehebandverteidiger (ab 1929) und schließlich als Ordinariatskanzler (ab 1931) fand. 1933 wurde Rohracher zum Weihbischof konsekriert, 1938 übernahm er zusätzlich das Amt des Generalvikars sowie nach Hefters Resignation (1939) bis zur regulären Neubesetzung der Diözese (1945) das Amt des Kapitularvikars13. Eugenio Pacelli (1876 – 1958) war offenbar schon als Kardinalstaatssekretär auf Andreas Rohracher aufmerksam gemacht geworden.14 Denn als der frisch gewählte Papst Pius XII. (1939 – 1958) die Zeit bis zu seiner Krönungsfeier zu zwei Besprechungen vom 6./9. März 1939 mit den Kardinälen Adolf Bertram15 (1859 – 1945), Karl Joseph Schulte16 (1871 – 1941), Michael (von) Faulhaber17 (1869 – 1952) und Theodor Innitzer18 (1878 – 1955) nutzte und dabei auch Faulhabers Vorschlag erörtert wurde, Unterhändler des Vatikans für Konsultationen mit Hitler-Deutschland zu benennen, brachte Pius XII. von sich aus den Gurker Weihbischof ins Spiel. Rohracher wurde gemeinsam mit den Diözesanbischöfen von Berlin und Osnabrück, Konrad

Frau Giuseppina Camposarcuno übernommen hat, sind dortige Nachforschungen zu einer kirchenrechtlichen Doktorthese ebenfalls ohne positives Ergebnis geblieben. 13 Das Amt entspricht dem des Diözesanadministrators im geltenden Recht des CIC/1983. 14 Es ist wohl keine allzu kühne Vermutung, dass Pius XII. seine Informationen über Rohracher vom damaligen Rektor des Kollegs Santa Maria dellÏAnima, dem exzellenten „networker“ und Titularbischof Alois Hudal (1885 – 1963), bezogen hat. Hudal war von 1923 bis 1952 Rektor der Anima, Eugenio Pacelli in den 1930er Jahren ihr Kardinalprotektor und 1933 Hauptkonsekrator bei der Bischofsweihe Hudals. Das Verhältnis beider kühlte sich empfindlich ab, nachdem Hudal offen seine Sympathie für den Nationalsozialismus bekundet hatte. Vgl. zu alledem Georg May, Ludwig Kaas. Der Priester, der Politiker und der Gelehrte aus der Schule von Ulrich Stutz (KStuT 35), Bd. 3, Amsterdam 1982, S. 446 – 449; Dominik Burkard, Alois Hudal – ein Anti-Pacelli? Zur Diskussion um die Haltung des Vatikans gegenüber dem Nationalsozialismus, in: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte 59 (2007), S. 61 – 89, der S. 88 mit Anm. 98 darauf aufmerksam macht, dass Rolf Hochhuths Pacelli-Bild auf verzerrenden Schilderungen des über seine Absetzung verbitterten Hudal beruhen könnte; Karl-Joseph Hummel, Alois Hudal, Franz von Papen, Eugenio Pacelli. Neue Quellen aus dem Anima-Archiv, in: Thomas Brechenmacher (Hrsg.), Das Reichskonkordat 1933. Forschungsstand, Kontroversen, Dokumente (Veröffentlichungen der Kommission für Zeitgeschichte [Veröffentlichungen KfZG]. Reihe B: Forschungen 109), Paderborn u. a. 2007, S. 85 – 113. 15 Zu ihm vgl. Bernhard Stasiewski, Art. Bertram, in: Gatz (Hrsg.), Bischöfe 1785/1803 – 1945 (Anm. 3), S. 43 – 47, Erwin Gatz, Art. Bertram, in: LThK3 II (1994), Sp. 294 f. 16 Zu ihm vgl. Ulrich von Hehl, Art. Schulte, in: Gatz (Hrsg.), Bischöfe 1785/1803 – 1945 (Anm. 3), S. 680 – 682; ders., Art. Schulte, in: LThK3 IX (2000), Sp. 301. 17 Zu ihm vgl. Walter Ziegler, Art. Faulhaber, in: LThK3 III (1995), Sp. 1197; Ludwig Volk, Art. Faulhaber, in: Gatz (Hrsg.), Bischöfe 1945 – 2001 (Anm. 3), S. 377 – 382. 18 Zu ihm vgl. Maximilian Liebmann, Art. Innitzer, in: LThK3 V (1996), Sp. 513 f.; ders., Art. Innitzer, in: Gatz (Hrsg.), Bischöfe 1945 – 2001 (Anm. 3), S. 563 – 566.

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Graf von Preysing19 (1880 – 1950) und Hermann Wilhelm Berning20 (1877 – 1955), als österreichisches Mitglied dieser Kontaktgruppe vorgesehen.21 In den folgenden vier Jahren ergab sich eine regelmäßige Korrespondenz zwischen Pius XII. und Rohracher, der über die Lage der Kirche in Österreich und seine persönlichen Vorsprachen in Berlin berichtete.22 Der Papst hat anscheinend auch zuerst von Rohracher erfahren, dass man in Berlin Österreich als konkordatsfreien Raum betrachte, und hieraus die Schlussfolgerung gezogen, dass dann die Kirche in der Besetzung ihrer Ämter eigentlich völlig frei sein müsse.23 Zu alledem sei angemerkt, dass – jedenfalls nach Auffassung von Gerhard B. Winkler – Andreas Rohracher und Pius XII. auch in ihrer Wesensart einander sehr ähnlich gewesen sind: „Beide hatten sie etwas Aristokratisches an sich, Pacelli durch seine Familienbande und Rohracher durch seine Schwägerin, die ihn gelegentlich daran erinnern musste, dass er eigentlich ein ,FürstÐ im Legatenpurpur sei. Beide, Papst und Bischof, waren theologisch und juridisch hochgebildet, eigentlich geborene Rechtsgelehrte.“24

Es ist daher nicht verwunderlich, dass sich Rohrachers Name auf der vatikanischen Vorschlagsliste wiederfand, aus der im Februar 1943 das Salzburger Metropo19 Zu ihm vgl. Gotthard Klein, Art. Preysing, in: LThK3 VIII (1999), Sp. 556; Josef Pilvousek, Art. Preysing, in: Gatz (Hrsg.), Bischöfe 1945 – 2001 (Anm. 3), S. 88 – 92. 20 Zu ihm vgl. Wolfgang Seegrün, Art. Berning, in: LThK3 II (1994), Sp. 283 f.; KlemensAugust Recker/ders., Art. Berning, in: Gatz (Hrsg.), Bischöfe 1945 – 2001 (Anm. 3), S. 422 – 427. 21 Beide Konferenzen wurden wörtlich protokolliert, vgl. Abdruck in: Burkhart Schneider, Die Briefe PiusÏ XII. an die deutschen Bischöfe 1939 – 1944 (Veröffentlichungen KfZG, Reihe A: Quellen 4), Mainz 1966, S. 317 – 327, 330 – 340. Pius XII. bemerkte über Andreas Rohracher wörtlich: „Ich habe sehr viel Gutes gehört vom Weihbischof von Klagenfurt. Wenn er schließlich auch nur Weihbischof ist …“ (ebd., S. 327); „Er ist doch sehr empfohlen worden“ (ebd., S. 339). Vgl. dazu auch Spatzenegger, Art. Rohracher (Anm. 3), S. 626; Bernd Heim, Braune Bischöfe fürÏs Reich? Das Verhältnis von katholischer Kirche und totalitärem Staat dargestellt anhand der Bischofsernennungen im nationalsozialistischen Deutschland, Bamberg (Univ.Diss.) 2007, S. 466; Guido Treffler, Ferne Nähe? Die Verbindungen zwischen Erzbischof Andreas Rohracher und den Münchener Erzbischöfen Michael von Faulhaber, Joseph Wendel und Julius Döpfner, in: Hintermaier/Rinnerthaler/Spatzenegger (Hrsg.), Erzbischof Andreas Rohracher (Anm. 3), S. 439 – 462, hier S. 441. 22 Vgl. Schreiben Pius XII. an Rohracher vom 23. 11. 1939; 06. 03. 1940; 07. 08. 1940; 14. 05. 1941; 15. 10. 1942; 17. 02. 1943, abgedruckt in: Schneider, Briefe (Anm. 21), S. 38 f.; 63; 97 – 99; 139 – 141; 198 – 201; 224 – 255. Vgl. ferner Erika Weinzierl, Das Wirken Erzbischof Rohrachers, in: Hans Spatzenegger (Hrsg.), In memoriam Andreas Rohracher. Reden und Artikel über das Leben und Wirken des Salzburger Erzbischofs (Schriftenreihe des Erzbischof Rohracher-Studienfonds 1), Salzburg 1977, S. 24 – 35, hier S. 26 – 29. 23 Vgl. Schreiben Pius XII. an Rohracher vom 07. 08. 1940, abgedruckt in: Schneider, Briefe (Anm. 21), S. 97 – 99, hier S. 98. 24 Gerhard B. Winkler, Erzbischof Rohracher als „Ordensreformer“?, in: Hintermaier/ Rinnerthaler/Spatzenegger (Hrsg.), Erzbischof Andreas Rohracher (Anm. 3), S. 305 – 317.

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litankapitel nach einer über einjährigen Vakanz ihn zum neuen Fürsterzbischof25 von Salzburg wählte.26 In den Jahren nach dem Krieg widmete sich Rohracher dem materiellen und geistigen Wiederaufbau, indem er karitative Projekte ebenso förderte wie neue Formen der Verkündigung (u. a. Brautleuteseminare, Laienkatecheten). Außerdem erhielt er 1946 den Auftrag, in allen österreichischen Klöstern und Ordenshäusern eine Apostolische Visitation durchzuführen.27 Als Papst Johannes XIII. (1958 – 1963) am 25. Januar 1959 für viele überraschend die Einberufung eines Ökumenischen Konzils ankündigte,28 scheint dies den damals bereits im 67. Lebensjahr stehenden Rohracher mit neuem Schwung erfüllt zu haben.

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Rohracher hat diesen Titel 1951 auf Geheiß Roms abgelegt, vgl. dazu Konsistorialkongregation, Dekret Attentis dispositionibus vom 12. 05. 1951, in: AAS 43 (1951), S. 480; ferner Sebastian Ritter, Andreas Rohracher. Sein Weg vom Fürsterzbischof bis zum Bischof des 2. Vatikanischen Konzils, in: Spatzenegger (Hrsg.), In memoriam (Anm. 22), S. 13 – 23, hier S. 16 – 18. 26 Vgl. zur Rechtslage Peter Putzer, Von der Reichskirche zum Ternavorschlag. Bemerkungen zur Geschichte des Bischofswahlrechts des Salzburger Metropolitankapitels, in: Hans Paarhammer/Franz Pototschnig/Alfred Rinnerthaler (Hrsg.), 60 Jahre Österreichisches Konkordat (Veröffentlichungen des Internationalen Forschungszentrums für Grundlagen der Wissenschaften Salzburg [Veröffentlichungen IFZ-Salzburg]. Neue Folge 56), München 1994, S. 315 – 337; Johannes Hirnsperger, Das Bischofswahlrecht des Salzburger Metropolitankapitels. Überlegungen zu Art. 4 des Österreichischen Konkordats 1933/34, in: ebd., S. 339 – 361. Zu den Hintergründen der langen Vakanz, bedingt durch unterschiedliche Auffassungen zwischen Staat und Kirche bezüglich einer etwaigen Beachtung des deutschen Reichskonkordats, vgl. Schernthaner, Erzbischof (Anm. 3), S. 23 – 27. Wie Heim, Braune Bischöfe? (Anm. 21), S. 669 f., vermutet, könnte sich der Vatikan bei der Vorlage seiner Dreierliste von der Überlegung leiten haben lassen, dass man den kirchenpolitisch wichtigen Salzburger Erzbischofsstuhl mit einem jungen, profilierten Mann besetzen müsse, um so für einen verschärften Kirchenkampf gewappnet zu sein, wie er nach einem endgültigen Kriegssieg Hitlers – der Anfang November 1942 scheinbar die Schlacht um Stalingrad gewonnen hatte – drohte. 27 Vgl. dazu eingehend Gerhard B. Winkler, Die Apostolische Visitation der österreichischen Stifte durch Fürsterzbischof Andreas Rohracher von 1946 – 1953, in: Hans Paarhammer/ Alfred Rinnerthaler (Hrsg.), Österreich und der Heilige Stuhl im 19. und 20. Jahrhundert (Veröffentlichungen IFZ-Salzburg, Neue Folge 78), Frankfurt a.M. 2001, S. 337 – 399; ders., „Ordensreformer“? (Anm. 24), S. 305 – 317. 28 Vgl. dazu auch die Entwürfe der Ansprache des Papstes im Konsistorium bei Alberto Melloni, “Questa festiva ricorrenza”. Prodromi e preparazione del discorso di annuncio del Vaticano II (25 gennaio 1959), in: Rivista di Storia e Letteratura religiosa 28 (1992), S. 607 – 643; der synoptisch angeordnete Text der Ansprache in drei verschiedenen Fassungen: ebd., S. 632 – 643.

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II. Aktivitäten während der Vorbereitungsphase des Konzils 1. Rohrachers Haltung gegenüber der Liturgischen Bewegung Dem Anliegen der Liturgischen Bewegung stand Andreas Rohracher sehr aufgeschlossen gegenüber und schien gedanklich den gesamtkirchlichen Vorgaben stets einen Schritt voraus zu sein. Noch in der Liturgieenzyklika Mediator Dei von 1947 hatte sich Papst Pius XII. gegenüber der liturgischen Bewegung teils wohlwollend, teils aber auch reserviert bis kritisch geäußert, und jedenfalls jede nichtautorisierte Verwendung der Volkssprache in der Liturgie abgelehnt.29 Ein erster Schritt hin zu einer umfassenden Liturgiereform erfolgte in den Jahren 1951 bzw. 1955, als der Papst die Feier der Liturgie der Osternacht bzw. der Karwoche in erneuerter Form gestattete. Als 1954 ein offener Konflikt um Messgesang in deutscher Sprache zwischen dem Linzer Koadjutor Franz Sales Zauner30 (1904 – 1994) und römischen Kurienprälaten ausbrach, wandte sich der Bischof mit Schreiben vom 2. Dezember 1954 unmittelbar an den Heiligen Vater und bat eindringlich darum, die bisherigen Zugeständnisse nicht zurückzunehmen.31 „Eine direkte Antwort aus Rom hat Zauner nie erhalten. Es wird jedoch [von P. Robert Leiber SJ, einem engen Mitarbeiter des Papstes] berichtet, daß Pius XII. das Schreiben des Linzer Bischofs immer wieder gelesen habe.“32 1956 hat der Papst dann die Liturgische Bewegung als „Vorübergang [frz.: passage; lat.: transitus] des Heiligen Geistes in seiner Kirche“33 gewürdigt. Wie so manche

29 Vgl. Pius XII., Enzyklika Mediator Dei vom 20. 11. 1947, in: AAS 39 (1947), S. 521 – 595, hier besonders S. 544: „Non desunt siquidem, qui in augusto peragendo Eucharistiae Sacrificio vulgari lingua utantur …“; im Weiteren rühmte der Papst zur Verteidigung der lateinischen Liturgiesprache diese einerseits als Zeichen der Einheit und als Arznei gegen eine Verderbnis der Lehre, andererseits beklagte er eine liturgische Unmündigkeit und Inkompetenz der einfachen Gläubigen, an der auch eine volkssprachliche Liturgie nichts ändern könne. 30 Margit Lengauer, Franz (von Sales) Zauner, in: Rudolf Zinnhobler (Hrsg.), Die Bischöfe von Linz, Linz 1985, S. 319 – 367; Rudolf Zinnhobler, Art. Zauner, in: Gatz (Hrsg.), Bischöfe 1945 – 2001 (Anm. 3), S. 330 – 332. 31 Vgl. Rudolf Zinnhobler, Bischof Franz S. Zauners Appell vom 2. Dezember 1954 an Papst Pius XII. in Fragen der Volksliturgie, in: Neues Archiv für die Geschichte der Diözese Linz 13 (1999/2000), S. 12 – 21 (Abdruck des Schreibens ebd., S. 15 – 21). 32 Rudolf Zinnhobler, Von Linz nach Rom – Ein Weg zur liturgischen Erneuerung durch das Zweite Vatikanische Konzil, in: Paarhammer/Rinnerthaler (Hrsg.), Konkordat (Anm. 26), S. 311 – 336, hier S. 329. Zu Robert Leiber vgl. Horst Mühleisen, Art. Leiber, in: Bernd Ottnad, Badische Biographien. Neue Folge, Bd. 2, Stuttgart 1987, S. 183 f. 33 Vgl. Pius XII., Ansprache an die Teilnehmer des Internationalen pastoralliturgischen Kongresses in Assisi 1956, in: AAS 48 (1956), S. 711 – 725, hier S. 712: „Le mouvement liturgique est apparu ainsi comme un signe des dispositions providentielles de Dieu sur le temps pr¦sent, comme un passage du Saint-Esprit dans son Eglise, pour rapprocher davantage les hommes des mystÀres de la foi et des richesses de la gr–ce, qui d¦coulent de la participation active des fidÀles — la vie liturgique.“ Zu den theologischen Implikationen der Vokabel „transitus“ vgl. auch Ex. 12,11 (Vulgata).

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Äußerung PiusÏ XII. ist auch diese Aussage später eingeflossen in die Dokumente des Zweiten Vatikanums34, hier näherhin in Art. 43 Liturgiekonstitution.35 Im Erzbistum Salzburg freilich durfte, wie Bruno Regner berichtet, von der Diözesanjugend im „Bergheim am Radstädter Tauern … bereits vor 1951 … mit Erlaubnis des Herrn Erzbischofs die Osternacht – allerdings noch ohne Messe – gefeiert werden.“36 Dass Rohracher außerdem schon vor dem Konzil mit der Verwendung der Volkssprache in der Liturgie sympathisierte, erhellt aus folgender Episode aus dem Jahre 1959:37 Als der Wiener Erzbischof Franz König38 (1905 – 2004) in Rom darum 34 Zur hierfür grundlegenden Arbeitsweise der vorbereitenden Kommissionen äußerte sich seinerzeit sehr kritisch Hubert Jedin, vgl. Historisches Archiv des Erzbistums Köln, NF 33, Schreiben Jedin an Luthe vom 08. 01. 1962, hier zitiert aus Norbert Trippen, Josef Kardinal Frings (1887 – 1978). II. Sein Wirken für die Weltkirche und seine letzten Bischofsjahre (Veröffentlichungen der KfZG. Reihe B: Forschungen 104), Paderborn u. a. 2005, S. 232: „Es erscheint mir … methodisch bedenklich, dass in den Anmerkungen häufig Ansprachen PiusÏ XII. auf gleicher Ebene und mit gleicher Autorität wie Enzykliken zitiert werden. Ansprachen sind zwar auch Ausübung des ordentlichen Lehramts, sind aber doch auf bestimmte Gelegenheiten und bestimmte Personenkreise zugeschnitten und nicht in dem Grade vorbereitet wie Enzykliken. Ich halte es nicht für richtig, dass sich das Ökumenische Konzil expressis verbis ihrer als lehramtlicher Quellen bedient.“ Weitaus günstiger urteilt hierüber nunmehr Benedikt XVI., Ansprache an die Teilnehmer des Kongresses „Das Erbe des Lehramts PiusÏ XII. und das II. Vatikanische Konzil“ vom 08. 11. 2008, in: http://www.vatican.va/holy_father/benedict_xvi/speeches/2008/november/ documents/hf_ben-xvi_spe_20081108_congresso-pioxii_ge.html (16. 06. 2011), die italienische Originalfassung auch abgedruckt in: Philippe Chenaux (Hrsg.), LÏeredit— del magistero di Pio XII, Vatikanstadt 2010, S. 347 – 351, der ausführt: „[PiusÏ XII.] schrieb jede Ansprache mit größter Sorgfalt, wobei er jeden Satz und jedes Wort abwog, bevor er es öffentlich aussprach. Er studierte aufmerksam die verschiedenen Sachverhalte und hatte die Gewohnheit, sich mit herausragenden Experten zu beraten … . Deshalb ist das Erbe des Lehramtes PiusÏ XII. vom Zweiten Vatikanischen Konzil gesammelt und den nachfolgenden christlichen Generationen neu vorgelegt worden. … [In den Konzilsdokumenten] taucht über zweihundert Mal der Name Pius XII. auf. Das heißt: Mit Ausnahme der Heiligen Schrift ist dieser Papst die am häufigsten zitierte maßgebliche Quelle. Man weiß außerdem, daß die den Dokumenten angefügten Anmerkungen im allgemeinen nicht bloße erklärende Hinweise sind, sondern daß in ihnen oft wesentliche Bestandteile der Konzilstexte enthalten sind; sie sind nicht nur Anmerkungen zur Bekräftigung dessen, was im Text gesagt wurde, sondern sie bieten einen Interpretationsschlüssel dafür.“ Zum Arbeitsstil PiusÏ XII. bei der Vorbereitung von Reden und Ansprachen vgl. auch Pascalina Lehnert, Ich durfte ihm dienen: Erinnerungen an Papst Pius XII., Würzburg 51983, S. 82 – 84. 35 Vgl. dazu auch Rudolf Pacik, „Wie ein Hindurchgehen des Heiligen Geistes durch seine Kirche“. Wichtige Stationen in der Geschichte der Liturgischen Bewegung, in: Egger-Wenzel (Hrsg.), Geist und Feuer (Anm. 3), S. 433 – 455. 36 Bruno Regner, Erneuerung der Liturgie, in: Franz Simmerstädter/Hans Widrich (Hrsg.), Diener Jesu Christi. Festschrift zum fünfzigjährigen Priesterjubiläum des Erzbischofs von Salzburg Dr. Andreas Rohracher, Salzburg 1965, S. 105 – 109, hier S. 107. 37 Vgl. Annemarie Fenzl, Erzbischof Andreas Rohrachers Beziehungen und Verbindungen zu Kardinal Franz König, in: Hintermaier/Rinnerthaler/Spatzenegger (Hrsg.), Erzbischof Andreas Rohracher (Anm. 3), S. 463 – 493, hier S. 464 f.

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bat, die Lesungen der Karliturgie – wie schon in den deutschen Diözesen erlaubt – in der Volkssprache zu verkünden, und abschlägig verbeschieden wurde, kommentierte dies der Salzburger Amtskollege mit den Worten: „Wenn auch die Antwort des Staatssekretariats Sr. Heiligkeit negativ war, bleibt es doch wertvoll, daß ein Versuch in dieser Richtung unternommen wurde.“39

Es verwundert daher nicht, dass Rohracher dieses Thema in seinem consilium et votum, seinem Vorschlag betreffend die vom Konzil zu behandelnden Themen, erneut aufgegriffen hat (vgl. dazu II.3.). 2. Die Entdeckung der Ökumene Die Vorbereitungsphase des Zweiten Vatikanischen Konzils ist zugleich eine Phase des ökumenischen Aufbruchs der katholischen Kirche. In seiner Enzyklika Ad Petri Cathedram vom 29. Juni 1959, die der offiziellen Ankündigung des Konzils diente, wies Papst Johannes XXIII. (1958 – 1963) nachdrücklich darauf hin, dass das Konzil zugleich eine Einladung an die getrennten Brüder und Schwestern im Glauben sei, die kirchliche Einheit zu suchen und zu finden.40 Zu diesem Zweck wurde 1960 das „Sekretariat zur Förderung der Einheit der Christen“41 unter der Leitung des deutschen Kardinals Augustin Bea42 (1881 – 1968) errichtet, das in der Folge beispielsweise die Teilnahme nichtkatholischer Christen als Beobachter am Konzil organisiert hat. Auch in theologischen Fachpublikationen43 wurde das Konzil als Chance dafür gesehen, dass die getrennten Christen in der vom Konzil vorgelegten katholischen Lehre ihre eigenen Glaubensüberzeugungen wiedererkennen mögen – oder um es mit den Worten des Papstes zu sagen: dass sie „begreifen, daß Unser liebevoller

38 Zu ihm vgl. Erika Weinzierl/Johann Weissensteiner, Art. König, in: Gatz (Hrsg.), Bischöfe 1945 – 2001 (Anm. 3), S. 570 – 576. 39 AES 19/4, Bischöfe, Korrespondenzen 1946 – 1968, Schreiben vom 05. 05. 1959, hier zitiert aus: Fenzl, Beziehungen (Anm. 37), S. 465 mit Anm. 2. 40 Vgl. Johannes XXIII., Enzyklika Ad Petri cathedram vom 29. 06. 1959, in: AAS 51 (1959), S. 497 – 531, hier S. 510 – 518; dt. Übersetzung in: HK 13 (1958/59), S. 538 – 548, hier S. 542 – 545. 41 Vgl. Johannes XXIII., Motu Proprio Superno Dei nutu vom 05. 06. 1960, in: AAS 52 (1960), S. 433 – 437; dt. Übersetzung in: Ferdinand Römer, Das 21. Ökumenische Konzil, Würzburg 1962, S. 75 – 78. 42 Zu ihm vgl. Stjepan Schmidt, Augustin Bea. Der Kardinal der Einheit, Graz/Köln/Wien 1989; Heinz-Albert Raem, Art. Bea, in: LThK3 II (1994), Sp. 105 f. 43 Vgl. Charles Boyer, Christliche Einheit und ökumenische Bewegung. Die Situation vor dem Zweiten Vatikanischen Konzil, Aschaffenburg 1960; Hans Küng, Konzil und Wiedervereinigung. Erneuerung als Ruf in die Einheit, Wien/Freiburg/Basel 1960; Cornelius A Rijk, Das Zweite Vatikanische Konzil und die Wiedervereinigung im Glauben, Essen 1961; Augustin Bea, Die Bedeutung des 2. Vatikanischen Konzils für die Einheit der Christen, in: StdZ 170 (1961/62), S. 241 – 258; ders., Die Einheit der Christen. Probleme und Prinzipien – Hindernisse und Mittel – Verwirklichungen und Aussichten, Freiburg/Basel/Wien 1963.

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Aufruf zur Einheit der Kirche [sie] nicht dazu einlädt, in ein fremdes Haus zu kommen, sondern in das gemeinsame Haus, in das Haus des Vaters.“44 Andreas Rohracher war bis dahin nicht gerade als Ökumeniker in Erscheinung getreten.45 Als jedoch mit Schreiben vom 18. Juni 1959 der Präsident der Pontificia Commissio Antepraeparatoria, Kardinal Domenico Tardini46 (1888 – 1961), den Weltepiskopat einlud, in aller Freiheit dem Konzil Verhandlungsgegenstände vorzuschlagen47, griff Rohracher jenen ökumenischen Impuls ohne Zögern auf. Mit einem Schreiben vom 14. Juli 1959 wandte er sich an den Luzerner Privatgelehrten Otto Karrer48 (1888 – 1976) und forderte ihn dazu auf, zu einer vertraulichen Unterredung nach Salzburg zu kommen: „Da ich weiß, daß sich Herr Professor so eingehend mit der Unionsfrage beschäftigen und daher die größten augenblicklichen Nöte in dieser Hinsicht kennen, wäre ich Ihnen recht verbunden, wenn Sie mir für meine Antwort nach Rom einige Hinweise geben wollten. Selbstverständlich ist die ganze Sache streng vertraulich und bitte auch Sie, von diesem Briefe niemandem gegenüber Gebrauch zu machen. Werden Herr Professor im Laufe des

44 Johannes XXIII., Enzyklika Ad Petri cathedram (Anm. 40), S. 515 („Animadvertite, precamur, cum vos ad unitatem Ecclesiae amantissime advocamus, non vos in alienam, sed in propriam, sed in communem paternamque domum invitari“), hier in dt. Übersetzung zitiert aus: HK 13 (1958/59), S. 544. 45 Vgl. dazu Alfred Rinnerthaler, Ökumenische Impressionen aus der Amtszeit von Erzbischof Rohracher, in: Hintermaier/ders./Spatzenegger (Hrsg), Erzbischof Andreas Rohracher (Anm. 3), S. 331 – 379, hier besonders S. 331 – 347. Was das Verhältnis zum Protestantismus anbetrifft, sind die Parallelen bemerkenswert zwischen der Weigerung Rohrachers im Frühjahr 1958, den Autobahnabschnitt Salzburg-Mondsee gemeinsam mit einem evangelischen Religionsdiener einzuweihen (vgl. dazu ebd., S. 345), und dem „Fall Ochsenfurt“ aus dem Jahre 1953, der ebenfalls in Politik und Presse aufmerksam registriert worden war und das ökumenische Problembewusstsein des damaligen Würzburger Bischofs Julius Döpfner nachhaltig geprägt hat (vgl. dazu Klaus Wittstadt, Julius Kardinal Döpfner [1913 – 1976]. Anwalt Gottes und der Menschen, München 2001, S. 98 – 102). Was das Verhältnis zur Orthodoxie anbetrifft, ist daran zu erinnern, dass sich Rohracher seit 1950 um eine Wiederbelebung des Ostkirchenhilfswerks Catholica Unio am Standort Salzburg kümmerte. Vgl. dazu eingehend Rinnerthaler, Ökumenische Impressionen, S. 350 – 355. 46 Zu ihm vgl. Josef Gelmi, Art. Tardini, in: LThK3 IX (2000), Sp. 1267. 47 Vgl. AES 19/6, II. Vatikanisches Konzil, Schreiben (Prot. Nr. I C/59 – 1173) Tardini an Rohracher vom 18. 06. 1959. 48 Zu ihm vgl. Wolfdietrich von Kloeden, Art. Karrer, in: BBKL III (1992), Sp. 1184 – 1188; Viktor Conzemius, Art. Karrer, in: LThK3 V (1996), Sp. 1265. Karrer war auch aufgrund seiner eigenen Biographie – 1923 während einer persönlichen Krise überstürzter Austritt aus dem Jesuitenorden und Eintritt in die Evangelisch-Lutherische Kirche in Bayern, wenige Wochen später Wiederversöhnung mit der katholischen Kirche (und 1967 auch mit der Gesellschaft Jesu) – als einer der Ökumene-Experten seiner Zeit angesehen; vgl. dazu auch Otto Karrer, Um die Einheit der Christen, Die Petrusfrage – ein Gespräch mit Emil Brunner, Oskar Cullmann, Hans von Campenhausen, Frankfurt a.M. 1953; Maximilian Roesle/Oskar Cullmann (Hrsg.), Begegnung der Christen. Studien evangelischer und katholischer Theologen (FS Otto Karrer 70), Frankfurt a.M. 1959.

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Sommers nach Salzburg kommen? Ich gedenke unmittelbar nach den Hochschulwochen meinen Urlaub anzutreten.“49

Ob Karrer überhaupt auf diese etwas unvermittelte Aufforderung zu einem Besuch in Salzburg reagiert hat, ist aus der dortigen archivalischen Überlieferung nicht ersichtlich; jedoch scheint weder ein Antwortschreiben eingegangen zu sein, noch ist Rohracher schlussendlich in seiner Eingabe an die Vor-vorbereitende Kommission auf diese Thematik zu sprechen gekommen. 3. Die Eingabe an die Vor-vorbereitende Kommission Der bereits erwähnten Aufforderung Kardinal Tardinis, Themenvorschläge und Wünsche für das Konzil zu benennen, kam Erzbischof Rohracher mit Schreiben vom 6. Januar 1960 nach.50 Seine Eingabe ist in sechs Punkte gegliedert und lässt mit ihrer knappen, präzisen Sprache den Kirchenrechtler als Verfasser erkennen. Kaum zu übersehen ist die hohe praktische Relevanz der formulierten Desiderata; dass im Hintergrund konkrete eigene Erfahrungen des Salzburger Erzbischof stehen, die bei ihm den Wunsch nach einer Änderung und Verbesserung der Rechtslage reifen ließen, kann man vermuten. Inhaltlich betrifft die Eingabe die Rechtsstellung der Diözesanbischöfe (Punkte 1 bis 3), das Ordensrecht (Punkte 2 und 4), sowie Fragen der liturgischen Disziplin (Punkte 5 und 6).51 Was die Rechtsstellung der Diözesanbischöfe anbelangt, erbat sich Rohracher zum einen eine genaue Bestimmung ihrer Rechte im Verhältnis zu Befugnissen 49 AES, 19/6, II. Vatikanisches Konzil, Schreiben Rohracher an Karrer vom 14. 07. 1959 (Abschrift). 50 Vgl. Abdruck in: ActDocVat II, Series I, Vol. II, Pars I, S. 63; handschriftliche Entwürfe und Abschrift in: AES 19/6, II. Vatikanisches Konzil, Abschrift Schreiben Rohracher an Tardini vom 06. 01. 1960; ebd. auch: Schreiben (Prot. Nr. I C/59 – 1173) Tardini an Rohracher vom 18. 06. 1959; Empfangsbestätigung (Prot. Nr. 1 C/59 – 1173a) Felici an Rohracher vom 01. 02. 1960. Hinsichtlich der Haltung des übrigen österreichischen Episkopats am Vorabend des Konzils vgl. Rudolf Zinnhobler, Österreich und das Zweite Vatikanum, in: Hubert Wolf/Claus Arnold, Die deutschsprachigen Länder und das II. Vatikanum, Paderborn u. a. 2000, S. 103 – 132, hier besonders S. 103 – 108; Klaus Wittstadt, Die Erwartungen der österreichischen Bischöfe an das Zweite Vatikanische Konzil nach ihren Consilia et Vota, in: Wolfgang Weiß (Hrsg.), Aus der Dynamik des Geistes, Würzburg 2004, S. 200 – 212. 51 Rohrachers Eingabe hat folgenden Wortlaut: „1. Definitio iurium episcoporum residentialium comparate tum cum Curia Romana eiusque S. Congregationibus tum cum Nuntiis Apostolicis. 2. Nova circumscriptio exemptionis Religiosorum relate ad episcopos ita ut episcopi praesertim in iis, quae curam animarum attinent, magis incurrere possint in dispositiones Superiorum maiorum vel hi saltem teneantur audire episcoporum vota. 3. Modus procedendi in remotione parochorum inamovibilium laxetur, cum hodierna praxis nimis diuturna sit et curae animarum hac ex causa non raro noceat. 4. Normae de clausura novae in C.I.C. recipiantur. 5. In celebranda liturgia usus linguae vernaculae, praesertim in parte doctrinaria Missae (Oratio, lectiones) magis concedatur. 6. Poenae ecclesiasticae contra cremationem corporum statutae abrogentur, quia semper fere crematio stipuletur e rationibus fidei non infestis.“

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der Römischen Kurie und der Apostolischen Nuntien. Zum anderen wünschte er sich eine Neuordnung der Exemption der Orden von der bischöflichen Jurisdiktion, das heißt ¢ insbesondere in Angelegenheiten der Seelsorge ¢ weitergehende Kompetenzen der Diözesanbischöfe gegenüber den Höheren Oberen (zumindest in Form eines verpflichtenden Anhörungsrechts zugunsten der Bischöfe).52 Im dritten Punkt sprach Rohracher an, dass das Verfahren zur Amtsenthebung eines parochus inamovibilis vereinfacht werden müsse.53 Es mag dahinstehen, ob sich Rohrachers Bitte, die neuen Normen über die Klausur in den CIC aufzunehmen,54 verallgemeinern lässt zu dem Postulat einer kirchlichen Rechtskultur, die wichtige Materien nicht außerhalb des Kodex regelt. Hinsichtlich der liturgischen Disziplin setzte sich Rohracher für eine Lockerung des Verbots der Feuerbestattung sowie für eine weitergehende Gestattung der Volkssprache in der Liturgie ein. Dabei lässt die Freigabe der Volkssprache besonders für die lehrhaften Teile der Messe das Anliegen erkennen, die Liturgie selbst in den Dienst der Glaubensverkündigung zu stellen.55 In einem ersten Entwurf hatte Rohracher ursprünglich noch einen Vorschlag zur Abschaffung des Benefizienwesens alter Prägung nebst einer zentralisierten Priesterbesoldung vorgesehen.56 Es ist nicht ersichtlich, warum er dieses Desiderat letztlich doch nicht vorgebracht hat. 52 Dieser Punkt dürfte sich nicht zuletzt Rohrachers Erfahrungen als Apostolischer Visitator verdanken, wo er sich infolge seines Reformeifers mannigfaltiger Kritik ausgesetzt sah, zumal da er offenbar mit der Attitüde auftrat, der „Stellvertreter des Heiligen Vaters in Klosterangelegenheiten“ zu sein – so jedenfalls der Seckauer Benediktiner Maurus Neuhold, hier zitiert aus Winkler, Visitation (Anm. 27), hier S. 342 u. 346 mit Fn. 29. Vgl. dazu auch ders., „Ordensreformer“? (Anm. 27), S. 308, der zusammenfassend bemerkt, dass Rohracher sich in der Auseinandersetzung mit den Orden und Stiften „auf eine kanonistische Spitzfindigkeit zurückzog, die nicht ganz seinem Niveau entsprach: Der Papst sei kraft seiner Vollgewalt über die Kirche auch der höchste Ordensobere. Der Apostolische Visitator nehme als solcher daher am Amtscharisma des Papstes teil und habe dementsprechend zu handeln. Er hätte besser sagen sollen, er arbeite eng mit angesehenen und reformfreudigen Klostervorstehern zusammen, die aus der Erfahrung des klösterlichen Alltags die Praktikabilität von Satzungen und Regeln besser ermessen könnten.“ Zu Maurus Neuhold OSB vgl. Ägidius Kolb (Hrsg.), Bibliographie der deutschsprachigen Benediktiner 1880 – 1980 (Studien und Mitteilungen zur Geschichte des Benediktinerordens und seiner Zweige. Ergänzungsreihe 29), Bd. 1, St. Ottilien 1985, S. 310. 53 Zur damaligen Rechtslage siehe cc. 2147 – 2156 CIC/1917. Zu den (fehlenden) rechtsgeschichtlichen Wurzeln des Versetzungsrechts vgl. ferner Heinrich M. Gietl, Die zwangsweise Versetzung der Benefiziaten in der Lehre der mittelalterlichen Kanonisten von Gratian bis Hostiensis, in: ders./Georg Pfeilschifter (Hrsg.), Festgabe Alois Knöpfler zur Vollendung des 70. Lebensjahres gewidmet, Freiburg 1917, S. 110 – 118. 54 Rohracher bezieht sich offenbar auf Pius XII., Apostolische Konstitution Sponsa Christi vom 21. 11. 1950, in: AAS 43 (1951), S. 5 – 24, dort Art. IV (ebd., S. 16 f.). 55 Vgl. zum Ganzen auch oben II.1. und unten IV.1. 56 Vgl. AES 19/6, II. Vatikanisches Konzil, Entwurf Schreiben Rohracher an Tardini (undatiert). Die ursprüngliche Formulierung hierzu lautete: „4. Ius beneficiarum inovaliore [?] indigere videtur in quantum pauci beneficiarii magno reditu gaudent plurimi autem parvis emolumentis contenti esse debent. Justior videtur talis ordination, qua omnes beneficium a copia communi sustentatur, fructus beneficiorum autem communiter administrantur, sed in

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4. Rohrachers Erwartungen an die Ekklesiologie des Konzils Am 16. April 1961 äußerte sich der Salzburger Erzbischof in einem Vortrag vor dem Katholischen Akademikerverband in Salzburg zu seinen Erwartungen an das Konzil.57 Vom Konzil – so Rohracher – dürfe man sich keine dogmatische Definition erwarten, die der Vereinigung mit der getrennten Christenheit entgegenstehen könnte. Vielmehr sei mit einer Weiterentwicklung der Lehre des Erstens Vatikanums zu rechnen, insbesondere hinsichtlich der Rolle der Bischöfe. Die Kirche – so Rohracher weiter – sei keine absolute Monarchie, sondern episkopal verfasst: „Der Papst ist nicht über der Kirche und den Bischöfen wie ein Cäsar oder Sonnenkönig, sondern wie Petrus ein Bruder unter Brüdern, wohl der Erste, mit der Vollgewalt Ausgestattete, aber jeder Bischof trägt mit die Verantwortung für die ganze Kirche.“58

Wegen des Priestermangels – ein Topos, der ohne Frage beinahe so alt wie die Kirche selbst ist (vgl. nur Mt. 9,37 f. = Lk. 10,2) – sei das Laienapostolat zu stärken. Dabei verband Rohracher die Feststellung, dass „beamtete Priester heute zu vielen Kreisen keinen Zugang“59 mehr hätten, mit einem Tadel an jenem Teil des Klerus, der „den Laien zum Teil immer noch nicht ihre Bedeutung zugestehen wolle.“60 Über die Bischöfe, so Rohracher weiter, könnten auch Laien ihre Wünsche an das Konzil herantragen; nach dem Konzil werde die Stunde der Laien schlagen, da sie zu seiner Umsetzung gebraucht werden. Neben Fragen der Lehre – so Rohracher abschließend – sei aber genauso auch die Erneuerung des christlichen Lebens ein wesentliches Ziel aller Konzilien gewesen: „Weil das Menschliche mit dem Göttlichen nie Schritt halten könne, sei die Kirche immer deformiert und habe daher immer reformiert werden müssen.“61

Offenbar sind diese Äußerungen auch in Rom aufmerksam registriert worden.62

bonum respectivi beneficii elocentur.“ Dies hat Rohracher, um eine möglichst gute Formulierung ringend, handschriftlich korrigiert zu: „4. Ius beneficiarum inovaliore [?] indigere videtur quoad perceptionem fructuum. Suadendam est administratio bonorum communi per curiam dioecesanam, quae singulis beneficiariis attribuit, quae ad ipsos pertinent. Nam una ex parte numerus beneficiorum de die in diem minuitur aliae autem ex parte beneficiarii generalim non gaudent dexteritate administrandi ita ut beneficio quasi nullum emolumentum recipient; praeclara beneficia etiam cum magnis praediis vix competuntur.“ 57 Vgl. KNA – Pressedienst, Nr. 76 vom 17. 04. 1961, Meldung Nr. 195. Eine ausführliche Zusammenfassung in italienischer Sprache auch in: Giovanni Caprile (a cura di), Il Concilio Vaticano II. Cronache del Concilio Vaticano II edite da „La Civil— Cattolica“, Bd. I/2: Annunzio e preparazione 1961 – 1962, Rom 1966, S. 130 f. 58 Zitiert aus: KNA – Pressedienst, Nr. 76 vom 17. 04. 1961, Meldung Nr. 195. 59 Zitiert aus: KNA – Pressedienst, Nr. 76 vom 17. 04. 1961, Meldung Nr. 195. 60 KNA – Pressedienst, Nr. 76 vom 17. 04. 1961, Meldung Nr. 195. 61 KNA – Pressedienst, Nr. 76 vom 17. 04. 1961, Meldung Nr. 195. 62 Vgl. Caprile, Cronache (Anm. 57), S. 130 f.

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III. Andreas Rohracher als Konzilsvater 1. Kontakte zu anderen Konzilsvätern Während des Zweiten Vatikanischen Konzils hat das Thema Ökumene weiterhin zu den Interessensschwerpunkten Rohrachers gezählt. Im Spiegel seines Konzilsnachlasses zeigt sich dies beispielsweise darin, dass Rohracher einer Einladung Kardinal Beas zu einer Begegnung am 15. Oktober 1962 zwischen Konzilsvätern und nichtkatholischen Konzilsbeobachtern gefolgt ist und sich anschließend ausführliche Notizen hierüber gemacht hat.63 Umgekehrt hat der Salzburger Erzbischof aber auch Kardinal Bea als Festredner für die Salzburger Hochschulwochen des Jahres 1963 gewonnen; am Rande dieser Veranstaltung kam es zu einem „Konzil en miniature“ (Ren¦ Marcic), einer informellen ökumenischen Begegnung, an der neben den Katholiken Bea und Rohracher der griechisch-orthodoxe Metropolit Chrysostomus Tsiter64 (1903 – 1995), der evangelische Altbischof Wilhelm Stählin65 (1883 – 1975), und ein Vertreter der Baptisten teilnahmen.66 Kardinal Bea seinerseits wandte sich mit Schreiben vom 19. April 1964 an Rohracher, um (wie von anderen Bischöfen auch?) mit Blick auf eine anonyme Denkschrift dessen Meinung bezüglich „der Behandlung konvertierter evangelischer Pastoren, die Priester werden möchten“67 zu erfragen. In seinem Antwortschreiben teilte Rohracher mit, dass „schon vor dem Konzil bei Besprechungen über die Wiedervereinigung mit den Protestanten bei uns der Gedanke ausgesprochen u. vertreten 63

Vgl. AES, 19/6, II. Vatikanisches Konzil, Handschriftliche Aufzeichnungen (undatiert). Die Dankansprache von Prof. Dr. Edmund Schlink im Namen der eingeladenen Beobachter und Gäste ist dokumentiert in: KNA. Sonderdienst Zweites Vatikanisches Konzil, Nr. 24 vom 16. 10. 1962, Bl. 5. 64 Zu ihm vgl. Alja Payer, Metropolit Chrysostomus Tsiter zum Gedenken, in: Der christliche Osten 50 (1995), S. 216 f.; Ekkart Sauser, Art. Tsiter, in: BBKL XII (1997), Sp. 670 f. 65 Zu ihm vgl. Ulrich Schwab, Art. Stählin, in: BBKL X (1995), Sp. 1115 – 1120; Heinz Schütte, Art. Stählin, in: LThK3 IX (2000), Sp. 920. 66 Vgl. Hans Spatzenegger, Erzbischof Andreas Rohracher und die Ökumene, in: ders., In memoriam (Anm. 22), S. 36 – 48, hier S. 40; Rinnerthaler, Ökumenische Impressionen (Anm. 45), S. 361. Ren¦ Marcic war damals Chefredakteur der Salzburger Nachrichten; zu dem Zitat aus der Ausgabe vom 13. 08. 1963 vgl. ebd. 67 AES, 19/6, II. Vatikanisches Konzil, Schreiben Bea an Rohracher vom 19. 04. 1964. Dem Schreiben Beas beigefügt war eine anonyme, maschinenschriftliche Denkschrift im Umfange von drei Seiten, deren Verfasser die Dispens vom Zölibat zugunsten konvertierter Pastoren problematisiert, da dies „die Hochschätzung des Zölibats vermindern könnte“. Als Lösung wird die „Möglichkeit eines eigenen Ritus“ angedacht. So blieben den Konvertiten „viele Schwierigkeiten psychologischer Art erspart“ und bei größeren Zahlen ließe sich sogar an eine eigene Hierarchie denken. Der anonyme Verfasser, der offenbar die Verhältnisse in Deutschland vor Augen hat, erklärt weiter: „Der Grundsatz ,Vielheit in der EinheitÐ würde damit kräftig betont und in konkreter Weise gezeigt, daß die Kirche bereit ist, den Forderungen der getrennten Brüder auch auf dem Gebiet der Liturgie und der Jurisdiktion entgegenzukommen.“

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wurde, daß die Errichtung einer Art Patriarchat ein für beide Teile gangbarer Weg wäre. So wäre es möglich, daß die Protestanten ihren eigenen Ritus, ihre eigene Sprache, ihre eigene Disziplin, ihre eigene[n] Frömmigkeitsformen behalten, bei voller Einigk[eit] im Glauben mit uns.“68 Rohracher befürwortete die übersandten Darlegungen grundsätzlich. Demnach könnte „bei wenig zahlreichen Konversionen … der Ritus auf die Konvertierenden beschränkt w[erden] unter Ausschluss der nach der Konversion geborenen Kinder.“69 Bei größeren Konvertitenzahlen sollte an ein eigenes kirchliches Oberhaupt, im Falle der Konversion von Volksmassen an ein eigenes Patriarchat gedacht werden. „Auf diese Weise könnten die Schwierigkeiten kirchenrechtlicher u[nd] psychologischer Natur bei voller Wahrung des Glaubens überwunden werden.“70 Wie bereits Guido Treffler näher untersucht hat, hat sich im Umfeld des Konzils kein enger Kontakt zwischen Rohracher und seinem Amtskollegen aus dem benachbarten Erzbistum München und Freising, Kardinal Julius Döpfner, der zentralen Persönlichkeit unter den deutschsprachigen Konzilsvätern, ergeben.71 Aus der Perspektive des Döpfner-Nachlasses wirkt Rohracher wie ein höflicher, aber passiver Empfänger der vom Münchener Kardinal organisierten Vorbereitungen des deutschsprachigen Episkopats auf die Konzilssitzungen (u. a. Konferenz in München am 5./6. Februar 1963; in Fulda am 26.–28. August 1963).72 Dass Döpfner erwogen hat, im Sommer 1963 eine Vorbereitungskonferenz in Salzburg zu veranstalten, lag wohl in erster Linie an der Überlegung, dass dieser Tagungsort auch für eventuelle Teilnehmer aus den angrenzenden (damals so genannten) Ostblockstaaten günstig gelegen gewesen wäre.73 Lediglich Rohrachers Kommentar betreffend die Verlegung 68

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AES, 19/6, II. Vatikanisches Konzil, Antwortentwurf Rohracher an Bea vom 05. 05. AES, 19/6, II. Vatikanisches Konzil, Antwortentwurf Rohracher an Bea vom 05. 05. AES, 19/6, II. Vatikanisches Konzil, Antwortentwurf Rohracher an Bea vom 05. 05.

Vgl. dazu Treffler, Ferne Nähe? (Anm. 21), S. 447 – 449. Vgl. dazu im Einzelnen EAM, Konzilsakten Döpfner, Korrespondenz mit Konzilsvätern, 0102 – 115: Rundschreiben Döpfner vom 16. 02. 1963; 0102 – 131: Schreiben Rohracher an Erzbischöfliches Sekretariat vom 23. 02. 1963; 0102 – 255: Rundschreiben Defregger vom 14. 06. 1963; 0102 – 266: Schreiben Rohracher an Defregger vom 21. 06. 1963; 0102 – 351: Rundschreiben Döpfner vom 07. 09. 1963; 0102 – 369: Schreiben Rohracher an Erzbischöfliches Sekretariat vom 20. 09. 1963; 0102 – 399: Rundschreiben Döpfner vom 13. 01. 1964; 0102 – 406: Schreiben Rohracher an Hempfer vom 16. 01. 1964; 0102 – 521: Rundschreiben Döpfner vom 11. 07. 1964; 0102 – 529: Schreiben Rohracher an Erzbischöfliches Sekretariat vom 15. 07. 1964; 0102 – 567: Schreiben Rohracher an Erzbischöfliches Sekretariat vom 01. 09. 1964; 0102 – 597: Schreiben Rohracher an Erzbischöfliches Sekretariat vom 3. 03. 1965. 73 Vgl. Erzbischöfliches Archiv München [EAM], Konzilsakten Döpfner, Korrespondenz mit Konzilsvätern, 0102 – 210: Schreiben Döpfner an König vom 20. 05. 1963: „Wenn es gelingt, die Konferenz in Salzburg zu halten (ich muß mich mit dort erst noch in Verbindung setzen), können vielleicht auch Beobachter aus den Ostländern kommen.“ 72

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einer bereits anberaumten Konferenz wegen des Konklaves von 1963 lässt erkennen, dass er diese Arbeit der Vorbereitung durchaus geschätzt hat: „So verständlich es ist, daß die Konferenz in Innsbruck wegen des Heimgangs unseres Heiligen Vaters abgesagt werden mußte, sosehr bedauere ich es auch, daß die Aussprache zum angesagten Termin unterbleiben muß.“74

Ähnlich distanziert scheint der Kontakt zu Johannes Hoeck OSB75 (1902 – 1995), dem Abt der oberbayerischen Benediktinerabtei Scheyern, gewesen sein. Hoeck fungierte unter den deutschsprachigen Konzilsvätern als Relator für das Ostkirchenschema. In dieser Eigenschaft übersandte er mit Schreiben vom 6. 09. 1963 einen Fragebogen zu diesem Schema, nachdem es auf der Fuldaer Konferenz offenbar aus Zeitgründen nicht hatte behandelt werden können; Rohracher hat diesen Fragebogen mit Schreiben vom 18. 09. 1963 zurückgesandt.76 2. Redebeiträge und schriftliche Eingaben a) Unterstützung des deutschsprachig-skandinavischen Episkopats Andreas Rohracher hat darauf verzichtet, in der Konzilsaula selbst das Wort zu ergreifen. Wie jedoch sowohl die Konzilsakten als auch das archivarische Material in seinem Konzilsnachlass belegen, hat der Salzburger Erzbischof an diversen Arbeitstreffen des deutschsprachigen (und skandinavischen) Episkopats teilgenommen und begegnet in der Folge auch als namentlicher Unterstützer der auf diesen Treffen vorbereiteten Reden bzw. als Mitunterzeichner von schriftlichen Animadversionen anderer Konzilsväter. Die fraglichen Vorgänge seien hier stichwortartig vorgestellt: ¢ Teilnahme an der Versammlung deutschsprachiger Konzilsväter am 26./27. August 1963 in Fulda; Bezug: Rede von Kardinal Joseph Frings77 (1887 – 1978) im Namen von 66 weiteren Konzilsvätern in der 37. Generalkongregation zum Kirchenschema.78 ¢ Teilnahme an einer Beratung der deutschsprachigen Konzilsväter am 7. Oktober 1963; Bezüge: (1) Rede des Apostolischen Administrators Paul Rusch79 (1903 – Tatsächlich lud Döpfner dann zunächst für den 03.–05. 07. 1963 nach Innsbruck ein, vgl. ebd., 0102 – 225: Rundschreiben Döpfner vom 24. 05. 1963. 74 EAM, Konzilsakten Döpfner, Korrespondenz mit Konzilsvätern, 0102 – 266: Schreiben Rohracher an Defregger vom 21. 06. 1963. 75 Zu ihm vgl. http://www.orden-online.de/wissen/h/hoeck-johannes/ (22. 06. 2011). 76 Vgl. AES, 19/6, II. Vatikanisches Konzil, Rundschreiben Hoeck vom 06. 09. 1963 mit rückseitiger Abschrift Antwortschreiben Rohracher an Hoeck vom 18. 09. 1963. 77 Zu ihm vgl. Norbert Trippen, Art. Frings, in: LThK3 IV (1995), Sp. 159; ders., Frings II. (Anm. 34); Eduard Hegel, Art. Frings, in: Gatz (Hrsg.), Bischöfe 1945 – 2001 (Anm. 3), S. 287 – 290. 78 Vgl. ActSynVat II/1, S. 343 – 346, hier S. 346. 79 Zu ihm vgl. Josef Gelmi, Art. Rusch, in: LThK3 VIII (1999), Sp. 1370; ders., Art. Rusch, in: Gatz (Hrsg.), Bischöfe 1945 – 2001 (Anm. 3), S. 273 – 276.

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1986) in der 46. Generalkongregation zum Problem der Kollegialität der Bischöfe;80 (2) Rede von Bischof Joseph Höffner81 (1906 – 1987) in der 47. Generalkongregation zum Verhältnis zwischen potestas-Lehre und der Lehre von den tria munera, sowie zum Verhältnis von Papst und Bischofskollegium;82 (3) Relatio von Bischof Joseph Schröffer83 (1903 – 1983) in der 51. Generalversammlung zum Thema: Volk Gottes, Hierarchie, Laien.84 ¢ Teilnahme an einer Beratung am 14. Oktober 1963; Bezüge: (1) Schriftliche Stellungnahme von Bischof Franz Hengsbach85 (1910 – 1991) zu Kapitel IV des Kirchenschemas;86 (2) Rede von Kardinal Julius Döpfner87 (1913 – 1976) in der 57. Generalkongregation zum selben Thema.88 ¢ Unterstützung der Rede von Kardinal Döpfner in der 81. Generalkongregation im Namen von 90 Vätern zu Kapitel VIII des Kirchenschemas.89 ¢ Unterstützung der Wortmeldung von Kardinal Döpfner in der 91. Generalkongregation zum Offenbarungsschema.90

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Vgl. ActSynVat II/2, S. 477 – 479, hier S. 478. Zu ihm vgl. Norbert Trippen, Art. Höffner, in, LThK3 V (1996), Sp. 198; Erwin Gatz, Art. Höffner, in: ders. (Hrsg.), Bischöfe 1945 – 2001 (Anm. 3), S. 290 – 295. 82 Vgl. ActSynVat II/2, S. 522 – 524, hier S. 524. In dieser Rede wies Höffner darauf hin, dass die Lehre von den tria munera Christi erst im 18. Jahrhundert von lutherischen Theologen übernommen worden sei, wobei er sich auf Joseph Fuchs, Magisterium, Ministerium, Regimen. Vom Ursprung einer ekklesiologischen Trilogie, Bonn 1941, bezog (vgl. dazu auch Klaus Mörsdorf, Heilige Gewalt, in: Karl Rahner/Adolf Darlap [Hrsg.], Sacramentum Mundi. Theologisches Lexikon für die Praxis, Bd. 2, Freiburg/Basel/Wien 1968, Sp. 582 – 597, hier Sp. 585 f.; auch in: Winfried Aymans/Karl-Theodor Geringer/Heribert Schmitz [Hrsg.], Klaus Mörsdorf. Schriften zum Kanonischen Recht, Paderborn u. a. 1989, S. 203 – 215, hier S. 205 f.). Höffner bemängelte ferner, dass in der Formulierung des Schemas der Papst eher als Gegenüber zum Bischofskollegium erscheine, während er doch in Wahrheit dessen integrierendes Haupt sei. Die Wendung „dummodo Caput collegii eos ad actionem collegialem invitet, vel saltem Episcoporum dispersorum unitatem actionem approbet vel libere recipiat, ita ut verus actus collegialis efficiatur“ solle daher durch die Formulierung „dummodo vere sit actus totius collegii una cum capite suo“ ersetzt werden. 83 Zu ihm vgl. Ernst Reiter, Art. Schröffer, in: LThK3 IX (2000), Sp. 270 f.; Ludwig Brandl, Art. Schröffer, in: Gatz (Hrsg.), Bischöfe 1945 – 2001 (Anm. 3), S. 156 – 159. 84 Vgl. ActSynVat II/3, S. 70 – 74, hier S. 73. 85 Zu ihm vgl. Erwin Gatz, Art. Hengsbach, in: LThK3 IV (1995), Sp. 1421; Erwin Gatz, Art. Hengsbach, in: ders. (Hrsg.), Bischöfe 1945 – 2001 (Anm. 3), S. 192 – 198. 86 Vgl. dazu ActSynVat II/4, S. 214 – 216, hier S. 216. 87 Zu ihm vgl. Klaus Wittstadt, Art. Döpfner, in: LThK3 III (1995), Sp. 336 f.; ders., Döpfner (Anm. 45); Anton Landersdorfer, Art. Döpfner, in: Gatz (Hrsg.), Bischöfe 1945 – 2001 (Anm. 3), S. 386 – 394. 88 Vgl. ActSynVat II/3, S. 603 – 616, hier S. 611. 89 Vgl. ActSynVat III/1, S. 449 – 452, hier S. 451. 90 Vgl. ActSynVat III/3, S. 145 – 150, hier S. 149. 81

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¢ Unterstützung der Rede von Weihbischof Eduard Schick91 (1906 – 2000) in der 94. Generalkongregation zum Offenbarungsschema.92 ¢ Unterstützung der Rede von Weihbischof Heinrich Tenhumberg93 (1915 – 1979) zum Schema über das Laienapostolat.94 ¢ Unterstützung des Monitums von Kardinal Döpfner in der 105. Generalkongregation zum Schema über die Kirche in der heutigen Welt.95 ¢ Unterstützung der schriftlichen Stellungnahme von Mitgliedern des deutschsprachigen und skandinavischen Episkopats zum Schema De Institutione Sacerdotali.96 ¢ Mitunterzeichnung der schriftlichen Stellungnahme der Konferenz der deutschsprachige und skandinavischen Bischofskonferenz zum Schema voti De matrimonii sacramento.97 ¢ Unterstützung der Rede von Kardinal Döpfner in der 133. Generalkongregation zum Schema über die Kirche in der heutigen Welt.98 ¢ Teilnahme an einer Versammlung von Konzilsvätern am 27. September 1965; Bezug: Rede von Bischof Höffner in der 141. Generalkongregation zum Schema über die Kirche in der heutigen Welt (hier: Kapitel III, Teil II).99 ¢ Unterstützung der Rede von Kardinal Döpfner in der 150. Generalkongregation zum Schema de ministerio et vita presbyterorum.100 b) Schriftliche Eingabe zur Empfehlung der Catholica Unio Während der Intersessio zwischen der zweiten und dritten Sitzungsperiode verfasste Andreas Rohracher eine schriftliche Eingabe101 zum Schema über den Ökume91

Zu ihm vgl. Werner Kathrein, Art. Schick, in: LThK3 IX (2000), Sp. 137; Redaktion, Art. Schick, Eduard, in: Gatz (Hrsg.), Bischöfe 1945 – 2001 (Anm. 3), S. 229 – 231. 92 Vgl. ActSynVat III/3, S. 309 – 311, hier S. 311. 93 Zu ihm vgl. Wilhelm Damberg, Art. Tenhumberg, in: LThK3 IX (2000), Sp. 1335; ders., Art. Tenhumberg, in: Gatz (Hrsg.), Bischöfe 1945 – 2001 (Anm. 3), S. 411 – 414. 94 Vgl. ActSynVat III/4, S. 91 – 94, hier S. 94. 95 Vgl. ActSynVat III/5, S. 228 – 232, hier S. 231. 96 Vgl. ActSynVat III/8, S. 940 – 952, hier S. 952. 97 Vgl. ActSynVat III/8, 1172; Rohracher hatte zuvor allerdings bereits eine eigene Animadversion gefertigt und nach Rom übersandt, vgl. dazu unten III.2.c). 98 Vgl. ActSynVat IV/2, S. 28 – 33, hier S. 30. 99 Vgl. ActSynVat IV/3, S. 288 – 291, hier S. 291. 100 Vgl. ActSynVat IV/4, S. 764 – 777, hier S. 767. 101 ActSynVat III/3, S. 737; die Eingabe hat folgenden Wortlaut: „In discussione cap. II schematis de Oecumenismo agebatur in secunda sessione ss. Concilii Oecumenici Vaticani II. de oecumenica instructione n. 9). Patres conciliares persuasi erant non tantum pastoribus et sacerdotibus praestandam esse cognitionem et praeparationem unitatis christianorum, sed

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nismus. Er brach dabei eine Lanze für die Catholica Unio102 und schlug vor, dieses Werk entweder im Konzilsdokument selbst oder zumindest in einem Direktorium hierzu zu empfehlen. c) Rohrachers Stellungnahme zum Schema voti De matrimonii sacramento Zum Schema voti De matrimonii sacramento hat Rohracher eine ausführliche, in mehrfacher Hinsicht bemerkenswerte eigene Animadversion verfasst.103 Rohracher unterstützte dabei ausdrücklich die im Schema vorgeschlagene Definition der Ehe als ein „sacrum amoris foedus … a Deo institutum“104, wobei er zugleich kritisierte, dass die von den „probati auctores“ Pietro Gasparri, Felix M. Capello und Felipe Aguirre (in: Wernz/Vidal) verteidigte Sicht der Ehe als Vertrag eine „petitio principii“ sei. Unter Bezugnahme auf die Enzyklika Casti connubii105 Papst PiusÏ XI. (1922 – 1939) sprach er sich außerdem für eine Aufgabe des Konzepts der Partialsimulation und für die absolute Ungültigkeit bedingter Eheschließungen aus. Ergänzend zu diesen Kernpunkten seiner Animadversion hat Rohracher darüber hinaus weitere Vorschläge zur Reform des Ehe- und Eheprozessrechts unterbreitet und dazu – soweit ersichtlich als einziger unter den Konzilsvätern – auch konkrete Neuformulierungen etlicher eherechtlicher Kanones im Kodex des kanonischen Rechts empfohlen.106 3. Rohracher als Richter im „Konzilsgericht“ Mit dem Motu Proprio Appropinquante Concilio vom 6. August 1962107 erließ Papst Johannes XXIII. das so genannte Regolamento, also die Ordnung für die etiam omnes et singuli fideles de hac re esse responsabiles. Ad quem finem assequendum incumbit opus S. Congregationis pro Ecclesia Orientali, quod dicitur ÐCatholica UnioÏ, cuius statuta die 18. ian. 1939 approbata sunt. Cum autem hoc opus multis in nationibus novi et veteris mundi sit diffusum, plures edat periodicos et plurima habeat membra, utile esse videtur, ut Ss. Concilium aut in constitutione de Oecumenismo aut in Directorio edendo huius operis mentem faciat ipsumque commendet.“ 102 Vgl. dazu Rinnerthaler, Ökumenische Impressionen (Anm. 45), hier S. 350 – 355. 103 ActSynVat III/8, S. 747 – 750. 104 Vgl. ActSynVat III/8, S. 467 – 475, hier S. 465: „Matrimonium iam inde ab humani generis exordio ut sacrum amoris foedus ad dignam hominum propagationem sacramque vitae legem utendam a Deo institutum, Christus Dominus ad sacramenti dignitatem ita exevit ut mirablili modo particeps fieret sanctitatis et firmitatis sui Novi et Aeterni Foederis cum Ecclesia (cf. Eph 5,32).“ 105 Veröffentlicht in: AAS 22 (1930), S. 539 – 592. 106 Für eine ausführliche Darstellung der Animadversion Rohrachers zum Schema voti De matrimonii sacramento, bei der auch möglichen Traditionslinien seiner Kritik am Vertragscharakter der Ehe nachgegangen wird, siehe Martin Rehak, Ehe als „sacrum amoris foedus … a Deo institutum“. Die Vorschläge des Salzburger Erzbischofs Andreas Rohracher zur Reform des kirchlichen Eherechts, in: AfkKR 179 (2010), S. 412 – 467. 107 Vgl. AAS 54 (1962), S. 609 – 611, das „Regolamento“ (eigentlich: Ordo Concilii Oecumenici Vaticani II Celebrandi) ebd., S. 612 – 631; ebenso in: OssRom 102 (1962), Nr. 203

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Feier des Zweiten Vatikanischen Ökumenischen Konzils. Gemäß Art. 8 Regolamento wurde ein Verwaltungsgerichtshof (Tribunale Amministrativo, Konzilsgericht) eingerichtet, dem es zukam, „sepositis iuris sollemnitatibus“ „quaestiones … de Concilii disciplina, de excusationibus et de querelis“ zu klären.108 Zum Präsidenten des Konzilsgerichts bestellte der Papst Francesco Roberti109 (1889 – 1977), den damaligen Kardinalpräfekten des Obersten Gerichtshofs der Apostolischen Signatur. In der 12. Generalversammlung am 5. November 1962 wurden – korrekt sortiert nach den Bestimmungen über die Präzedenz (vgl. Art. 24 Regolamento) – vom Generalsekretär des Konzils, Pericle Felici110 (1911 – 1982), die Namen der weiteren zehn Richter bekanntgegeben:111 Die Kardinäle Carlo Chiarlo112 (1881 – 1964), Francesco Morano (1872 – 1968) und William Theodore Heard (1884 – 1973), sowie die (Erz-)Bischöfe Andreas Rohracher, Floyd Lawrence Begin (1902 – 1977), Edmund Nowicki113 (1900 – 1971), Johannes Pohlschneider114 vom 06. 09. 1962, S. 1 (Motu Proprio), S. 1 f. (ital. Zusammenfassung des Regolamento); dt. Übersetzung der Geschäftsordnung in: KNA. Sonderdienst Zweites Vatikanisches Konzil, Nr. 17 vom 11. 10. 1962, Bl. 1 – 19; Zweites Vatikanisches Konzil (Hrsg.), 1. Sitzungsperiode. Dokumente Texte Kommentare (Fromms Taschenbücher „Zeitnahes Christentum“ 27), Osnabrück 1963, S. 170 – 187. 108 Vgl. im Einzelnen Art. 8 Regolamento, hier in dt. Übersetzung zitiert aus Zweites Vatikanisches Konzil (Hrsg.), 1. Sitzungsperiode (Anm. 107), hier S. 172: „Art. 8 – Zusammensetzung des Verwaltungsgerichtshofs. § 1. Vom Papst wird ein besonderer Gerichtshof errichtet, der über Fragen der Disziplin des Konzils, über Entschuldigungen und über Klagen entscheidet. § 2. Im Verwaltungsgerichtshof führt ein vom Papst ernannter Kardinal den Vorsitz. Ferner gehören ihm zehn ebenfalls vom Papst ernannte Konzilsväter an. § 3. Die Entscheidungen des Verwaltungsgerichtshofs werden turnusgemäß von je drei Mitgliedern gefällt. Im Falle einer Berufung entscheiden sämtliche Mitglieder gemeinsam (vgl. Art. 39 § 3). § 4. Der Verwaltungsgerichtshof fällt seine Entscheidungen unter Ausschluß aller Rechtsformalitäten nur im Blick auf die Wahrheit der Dinge. § 5. Dem Verwaltungsgerichtshof assistiert ein Notar oder, wenn erforderlich, ein Promotor des Konzils.“ Art. 39 § 3 Regolamento bestimmte weiter: „Der Verwaltungsgerichtshof fällt seine Entscheidungen mit absoluter Mehrheit.“ (ebd., S. 181). 109 Zu ihm vgl. Pietro Palazzini, Commemorazione del cardinale Francesco Roberti, in: Apollinaris 51 (1978), S. 5 – 15; Elmar Güthoff, Art. Roberti, in: LexKR (Anm. 8), Sp. 1144. Die Ernennung zum Präsidenten des Konzilsgerichts wurde mitgeteilt in: OssRom 102 (1962), Nr. 203 vom 06. 09. 1962, S. 2. 110 Zu ihm vgl. Franz Kalde, Art. Felici, in: LThK3 III (1995), Sp. 1215. 111 Vgl. ActSynVat I/1, S. 12; I/2, S. 105. Soweit im Folgenden keine sonstige Literatur zu einzelnen Personen angegeben ist, sind die biographischen Daten der Datenbank www.catholic-hierarchy.org entnommen. 112 Zu ihm vgl. Dante Pasquinelli, Art. Card. Carlo Chiarlo, in: Piolanti (Hrsg.), Pontificia Universit— Lateranense (Anm. 7), S. 443 f. 113 Zu ihm vgl. Stanisław Bogdanowicz, Edmund Nowicki (1900 – 1971), in: Stefan Samerski (Hrsg.), Das Bistum Danzig in Lebensbildern. Ordinarien, Weihbischöfe, Generalvikare, Apostolische Visitatoren 1922/25 bis 2000 (Religions- und Kulturgeschichte in Ostmittel- und Südosteuropa 3), Münster/Hamburg/London 2003, S. 91 – 104. 114 Zu ihm vgl. August Brecher, Bischof einer Wendezeit der Kirche. Dr. Dr. Johannes Pohlschneider 1899 – 1981, Aachen 1997; ders., Art. Pohlschneider, in: LThK3 VIII (1999),

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(1899 – 1981), Eugenio Beitia Aldazabal (1902 – 1985), Johannes Vonderach115 (1916 – 1994) und Francis James Furey116 (1905 – 1979). Eine Geschichte der weithin unbekannten117 Einrichtung des Konzilsgerichts lässt sich anhand der Archivalien im Nachlass Rohracher schon deshalb nicht schreiben, weil Rohracher gemäß dem Regolamento turnusmäßig nur an bestimmten Sitzungen teilgenommen haben dürfte. Ausweislich der archivierten Ladungsschreiben waren dies insgesamt fünf Sitzungen, die am 30. November 1962, 30. November 1963, 12. Oktober 1964, 25. Oktober 1965 und 3. Dezember 1965 stattfanden.118 Dabei ist die Überlieferungslage im Salzburger Archiv hinsichtlich der ersten Sitzung vom 30. November 1962 am günstigsten, nachdem sich dort ein fünfseitiges, gedrucktes Sitzungsprotokoll in italienischer Sprache findet. Ansonsten kann man den Ladungsschreiben, die zumeist etwa eine Woche vor der anberaumten Sitzung ergingen, zumindest die jeweilige Tagesordnung entnehmen. Zu einzelnen Sitzungen finden sich auch stichwortartige handschriftliche Notizen Rohrachers. Die Verhandlungen vor dem Konzilsgericht spiegeln ausschnittsweise und komprimiert einen Teil der theologischen und kirchenpolitischen Streitigkeiten wider, die auf dem Konzil zwischen konservativen und progressiven Kräften ausgetragen wurden: a) Zur ersten Sitzung des Konzilsgerichts An der zweistündigen Sitzung vom 30. November 1962119 haben ausweislich des Sitzungsprotokolls mit Ausnahme des krankheitsbedingt verhinderten Bischofs AlSp. 370; Erwin Gatz, Art. Pohlschneider, in: ders. (Hrsg.), Bischöfe 1945 – 2001 (Anm. 3), S. 41 – 43. 115 Zu ihm vgl. Franz Stampfli, „Iter para tutum“, in: SKZ 162 (1994), S. 96 f.; Michael Durst, Art. Vonderach, in: LThK3 X (2001), Sp. 886; Franz Xaver Bischof, Art. Vonderach, in: Gatz (Hrsg.), Bischöfe 1945 – 2001 (Anm. 3), S. 124 f. 116 Zu ihm vgl. Edward J. Loch, Art. Furey, Francis James, in: The Handbook of Texas Online, http://www.tshaonline.org/handbook/online/articles/ffu30 (01. 06. 2011). 117 Das Konzilsgericht wird in der Konzilsgeschichte von Giuseppe Alberigo (dt. Ausgabe: Klaus Wittstadt/Günther Wassilowski) nicht im Sachregister verzeichnet. In diesem Zusammenhang fällt auch auf, dass die diversen Erwähnungen dieses Konzilsorgans in den Einzelbeiträgen terminologisch nicht vereinheitlicht wurden (vgl. etwa Joseph A. Komonchak, Bd. IV, S. 35: „Konzilstribunal“; Luis Antonio G. Tagle, Bd. IV, S. 454: „administratives Schiedsgericht“; Gilles Routhier, Bd. V, S. 134: „Verwaltungsrat“; Mauro Velati, Bd. V, S. 242: „Schiedsstelle“; „Verwaltungsgerichtshof“; S. 244: „Tribunal“). 118 Vgl. AES, 19/6, II. Vatikanisches Konzil, Schreiben (Prot.-Nr. 71/63 TA) Roberti an Rohracher vom 23. 11. 1963 (zur Sitzung vom 30. 11. 1963); 19/7, II. Vatikanisches Konzil. Sessionen, Schreiben (Prot.-Nr. 43/62 TA) Roberti an Rohracher vom 26. 11. 1962 (zur Sitzung vom 30. 11. 1962); Schreiben (Prot.-Nr. 105/64 T.A.) Roberti an Rohracher vom 05. 10. 1964 (zur Sitzung vom 12. 10. 1964); Schreiben (Prot.-Nr. 162/65 T/A) Roberti an Rohracher vom 16. 10. 1965 (zur Sitzung vom 25. 10.1965); Schreiben (Prot.-Nr. 183/65 TA) Roberti an Rohracher vom 30. 11. 1965 (zur Sitzung vom 3. 12. 1965). 119 Vgl. dazu AES, 19/7, II. Vatikanisches Konzil. Sessionen, Sitzungsprotokoll; Schreiben (Prot.-Nr. 43/62 TA) Roberti an Rohracher vom 26. 11. 1962, mit folgender handschrift-

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dazabal Beitia alle übrigen Mitglieder des Konzilsgerichts teilgenommen. Die Sitzung wurde mit dem Adsumus-Gebet eröffnet. Danach erfolgte eine kurze Begrüßung seitens des Präsidenten, Kardinal Francesco Roberti, und die Verständigung auf Italienisch als Sitzungssprache. Anschließend teilte Roberti die Anfragen mit, die bislang beim Konzilsgericht eingegangen waren: Kardinal Andr¦ Jullien120 (1882 – 1964), vormals Dekan der Römischen Rota (1944 – 1958), hatte die Frage aufgeworfen, ob bei Abstimmungen gemäß c. 101 § 1 Nr. 1 CIC/1917121 auf eine Zweidrittelmehrheit der gültigen Stimmen, nicht hingegen aller abgegebenen Stimmen abzustellen sei.122 In der Auseinandersetzung um die von der Vorbereitenden Kommission offenbar gekürzte Fassung des Liturgieschemas hatte Kardinal Alfredo Ottaviani123 (1890 – 1979) in der 10. Generalkongregation vom 30. Oktober 1962 erklärt, dass das vorliegende Schema neue Vorschläge enthalte, die in der Zentralkommission keine Mehrheit gefunden hatten.124 Diese Behauptung erachtete der Peritus Annibale Bugnini CM125 (1912 – 1982) für unzutreffend und verlangte eine öffentliche Klarstellung.126 Ein gewisser Massimiliano Pasini hatte sich in zwei Schreiben mit einer Anfrage bezüglich des Schlussgebets der Messe bzw. mit einer Bitte um Bewahrung der lateinischen Liturgiesprache an die Kardinäle Giuseppe Siri127 (1906 – 1989) bzw. Giacomo Lercaro128 (1891 – 1976) gewandt.129 Mehrere Konzilsväter schließlich hatten eine Nichtigerklärung der Abstimmung vom 20. November über das Offenbarungsschema beantragt.130

licher Notiz Rohrachers auf der Rückseite: „30. XI. 62. 1. Computatio suffragiorum. art 39,1 can. 111,1 praesentium 2. lingua – latina 3. formulatio: 4. Interruptio schem. de fontibus art 60,3“. 120 Zu ihm vgl. Ernesto Fiore, Art. Card. Andrea Jullien, in: Piolanti (Hrsg.), Pontificia Universit— Lateranense (Anm. 7), S. 453 – 455. 121 Die Norm lautet auszugsweise: „Nisi aliud expresse iure communi aut particulari statutum fuerit, id vim iuris habet, quod, demptis suffragiis nullis, placuerit parti absolute maiori eorum qui suffragium ferunt, …“ 122 Vgl. AES, 19/7, II. Vatikanisches Konzil. Sessionen, Sitzungsprotokoll. 123 Zu ihm vgl. Wolfgang F. Rothe, Art. Ottaviani, in: LexKR (Anm. 8), Sp. 1124 f. 124 Vgl. ActSynVat I/2, S. 18 – 21, hier S. 18; zum Unmut etlicher Konzilsväter wegen verschiedener Fassungen des Schemas vgl. auch Ralph M. Wiltgen, Der Rhein fließt in den Tiber. Eine Geschichte des Zweiten Vatikanischen Konzils, Feldkirch 1988, S. 25 – 29. 125 Zu ihm vgl. Reiner Kaczynski, Art. Bugnini, in: LThK3 II (1994), Sp. 772. 126 Vgl. AES, 19/7, II. Vatikanisches Konzil. Sessionen, Sitzungsprotokoll. 127 Zu ihm vgl. Josef Gelmi, Art. Siri, in: LThK3 IX (2000), Sp. 630 f. 128 Zu ihm vgl. Giuseppe Alberigo, Art. Lercaro, in: LThK3 VI (1997), Sp. 845. 129 Vgl. AES, 19/7, II. Vatikanisches Konzil. Sessionen, Sitzungsprotokoll. 130 Vgl. AES, 19/7, II. Vatikanisches Konzil. Sessionen, Sitzungsprotokoll.

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Wie das Sitzungsprotokoll weiter festhält131, kamen die versammelten Konzilsväter überein, sich angesichts des nahenden Endes der ersten Sitzungsperiode nicht zu vertagen, sondern die aufgeworfenen Fragen unverzüglich zu untersuchen. Dazu verlas Vincenzo Carbone, der dem Konzilsgericht zugeordnete Konzilssekretär, jeweils die relevanten Dokumente. Bezüglich der Briefe von Herrn Pasini kam man zu dem einstimmigen Urteil, dass hierüber zu befinden nicht in die Zuständigkeit des Konzilsgerichts falle. Bezüglich des Anliegens von Peritus Bugnini ließ Roberti zunächst die Intervention von Kardinal Carlo Confalonieri132 (1893 – 1986), dem Vorsitzenden der Unterkommission für Verbesserungen, während der 12. Generalkongregation am 5. November 1962 vorlesen, in welcher letzterer die Verantwortung für die Veränderungen am Liturgieschema übernommen hatte.133 Die Konzilsrichter urteilten einstimmig, dass damit dem Anliegen Bugninis bereits hinreichend Rechnung getragen worden sei. Bezüglich der von Kardinal Jullien aufgeworfenen Rechtsfrage kam das Konzilsgericht zu der Entscheidung, dass es tatsächlich gemäß Art. 39 § 1 Regolamento134 grundsätzlich auf eine Zweidrittelmehrheit aller abgegebenen Stimmen ankomme, mithin ungültige Stimmen also wie Nein-Stimmen zählen. Zur Begründung wurde entscheidend darauf verwiesen, dass c. 101 § 1 Nr. 1 CIC/1917 selbst eine Öffnungsklausel („Nisi aliud expresse iure communi auf particulari statutum fuerit“) für abweichendes Sonderrecht enthält. b) Zum Abbruch der Debatte über das Offenbarungsschema Bereits in den ersten Sitzungen des Konzils hatte sich abgezeichnet, dass das unter der Verantwortung der Suprema S. Congregatio S. Officii (heute: Kongregation für die Glaubenslehre) erarbeitete Schema De fontibus revelationis bei einer großen Mehrheit der Konzilsväter keine Zustimmung finden würde.135 Daher verständigte

131

koll. 132

Vgl. zum Folgenden AES, 19/7, II. Vatikanisches Konzil. Sessionen, Sitzungsproto-

Zu ihm vgl. Paolo Igino Cecchetti, Art. Card. Carlo Confalonieri, in: Piolanti (Hrsg.), Pontificia Universit— Lateranense (Anm. 7), S. 444 f.; Josef Gelmi, Art. Confalonieri, in: LThK3 II (1994), Sp. 1293. 133 Vgl. ActSynVat I/2, S. 106 – 108; Wiltgen, Geschichte (Anm. 124), S. 29; Mathijs Lamberigts, Die Liturgiedebatte, in: Giuseppe Alberigo/Klaus Wittstadt (Hrsg.), Geschichte des Zweiten Vatikanischen Konzils (1959 – 1965), Bd. 2: Das Konzil auf dem Weg zu sich selbst. Erste Sitzungsperiode und Intersessio Oktober 1962 – September 1963, Mainz/Leuven 2000, S. 129 – 199, hier S. 157. 134 Die Norm lautet: „Ad constituendam maioritatem in Sessionibus publicis, in Congregationibus generalibus et in Commissionibus conciliaribus requiruntur duae tertiae partes suffragiorum Patrum praesentium, exceptis electionibus, pro quibus applicatur C.I.C. can. 101 § 1, I8, et nisi aliud a Summo Pontifice statutum fuerit.“ 135 Vgl. zum Folgenden ActSynVat I/3, S. 220 – 223; ferner Manfred Plate, Weltereignis Konzil. Darstellung – Sinn – Ergebnis, Freiburg u. a. 1966, S. 123 – 127; Wiltgen, Geschichte (Anm. 124), S. 47 – 52; Giuseppe Ruggieri, Der erste Konflikt in Fragen der Lehre, in: Alberigo/ Wittstadt (Anm. 133), Bd. 2, S. 273 – 314, hier besonders S. 308 f.

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sich der Präsidialrat136 des Konzils am Abend des 19. November 1962 darauf, am folgenden Tag in der Konzilsaula über einen Abbruch der Diskussion über dieses Schema abstimmen zu lassen. Dieser Vorschlag zielte auf die Vorbereitung eines neuen Schemas. In Ausführung dieses Präsidiumsbeschlusses legte Generalsekretär Felici daraufhin in der 23. Generalversammlung vom 20. November 1962 den Vätern folgende Abstimmungsfrage vor: „An disceptatio de schemate constitutionis dogmaticae de fontibus revelationis interrumpenda sit.“137 Diese Frage war sowohl in formaler als auch in inhaltlicher Hinsicht problematisch: Zum einen wurde das von der Geschäftsordnung des Konzils her übliche Prozedere auf den Kopf gestellt. Denn wie Joseph Ratzinger zutreffend analysiert hat, „war … an diesem Tage die Abstimmungsfrage so gestellt, daß die Entscheidung zunächst verdunkelt wurde. Normal wäre es gewesen, das Schema zur Annahme vorzulegen; dazu hätte es zwei Drittel aller Stimmen benötigt und ein qualifiziertes Drittel hätte zu seiner Ablehnung genügt. Statt dessen wurde gefragt, wer für die Absetzung des Schemas sei; jetzt mußten die Gegner des Textes zwei Drittel der Stimmen aufbringen und ein gutes Drittel genügte, um die Vorlage zu retten.“138

Zum anderen wurde von Felici der tiefere Sinn dieser Abstimmung nicht ausdrücklich offengelegt. Nachdem die Untersekretäre Felicis Ansage in verschiedenen Sprachen wiederholt hatten, ergriff daher Kardinal Ernesto Ruffini139 (1888 – 1967), ein Mitglied des Präsidialrats, das Wort und erklärte, dass ein Abbruch der Debatte nicht die Vertagung weiterer Beratungen über das vorliegende Schema bezwecke, sondern der Erarbeitung eines gänzlich neuen Schemas diene.140 136 Dem Präsidialrat gehörten an die Kardinäle EugÀne Tisserant (zugleich Dekan des Kardinalskollegiums, Rom), Achille Li¦nart (Lille/Mission de France), Ignace Gabriel Tappouni (Antiochia), Norman Thomas Gilroy (Sydney), Francis Joseph Spellman (New York), Enrique Pl‚ y Deniel (Toledo), Joseph Frings (Köln), Ernesto Ruffini (Palermo), Antonio Caggiano (Buenos Aires) und Bernard Jan Alfrink (Utrecht); vgl. Mitteilung in: OssRom 102 (1962), Nr. 203 vom 06. 09. 1962, S. 2. 137 Die Abstimmungsfrage wurde anschließend von den Untersekretären in französischer, spanischer, englischer, deutscher und arabischer Sprache sowie schließlich nochmals vom Generalsekretär auf Latein wiederholt. Dabei wurde auch unmissverständlich klargestellt, dass „placet“ für Abbruch steht, „non placet“ für Fortsetzung der Diskussion. Vgl. ActSynVat I/3, S. 220 – 222. 138 Joseph Ratzinger, Die erste Sitzungsperiode des Zweiten Vatikanischen Konzils. Ein Rückblick, Köln 1963, S. 48 f.; Vgl. dazu auch Art. 60 § 3 Regolamento: „Secretarius generalis singulas emendationes legit; atque de unaquaque admittenda vel reicienda Patres schedula suffragium ferunt verbis placet vel non placet.“ Diese Bestimmung insinuiert klar, dass eine Zurückweisung mit non placet zum Ausdruck zu bringen ist. 139 Zu ihm vgl. Giuseppe Petralia, Il Cardinale Ernesto Ruffini, arcivescovo di Palermo, Vatikanstadt 1989. 140 ActSynVat I/3, 223: „Aliis verbis ,interrumpaturÐ significat ,renoveturÐ, ,reficiaturÐ. Hic est sensus, nempe: Placet, significat de hoc schemate numquam verbum esse … in futuro, de isto eodem schemate. ,InterrumpaturÐ non est ad tempus, sed significat de renovatione schematis. Non agitur de differenda discussione, circa idem schema, sed agitur de schemate reformando. …“

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Zu diesem Zeitpunkt freilich hatte die Abstimmung wohl schon begonnen. Die Konfusion in der Konzilsaula lässt sich daran ermessen, dass elf Minuten später Felici erneut die Konzilsväter um Aufmerksamkeit bat, ein weiteres Mal die Abstimmungsfrage in formaler Hinsicht erläuterte und diejenigen Väter, die ihren Stimmzettel irrig ausgefüllt hatten, aufforderte, sich einen neuen geben zu lassen. Einige Minuten später wurde das weitere Tagesprogramm wieder aufgenommen. Die Abstimmung ergab 1368 Ja-Stimmen zu 822 Nein-Stimmen; die für eine Absetzung des Schemas (scheinbar?) erforderliche Zweidrittelmehrheit war damit verfehlt. Die Mehrheit der Konzilsväter war konsterniert, ja für manche schien das Konzil gescheitert, ehe es richtig begonnen hatte. In dieser Situation griff Papst Johannes XXIII. befriedend ein und verfügte – wie am darauffolgenden Tage offiziell zu Beginn der Sitzung verkündet wurde – die Aufstellung einer gemischten Kommission unter gemeinsamer Federführung der Kardinäle Alfredo Ottaviani und Augustin Bea, die ein neues Offenbarungsschema erarbeitete. Das Konzilsgericht seinerseits kam, was die Beschwerden gegen Modus und Gültigkeit der Abstimmung anbelangt, zu der äußerst salomonischen Entscheidung, dass sich die Angelegenheit aufgrund der Intervention des Heiligen Vaters vom 21. November 1962 erledigt habe.141 c) Zur Causa Reuß & Nordhues ./. Felici Der Tagesordnungspunkt Nr. 2 der Sitzung des Konzilsgerichts vom 12. Oktober 1964 galt der Aufarbeitung eines Vorfalls, der sich am 25. November 1963 ereignet hatte. An jenem Tage stand die Abstimmung über das Schema über die sozialen Kommunikationsmittel auf der Agenda des Konzils.142 Das Schema war während der ersten Sitzungsperiode vorgestellt worden und die Konzilsväter hatten formale Mängel (Länge, Wiederholungen) und inhaltliche Verbesserungsmöglichkeiten gerügt. In der zweiten Sitzungsperiode wurde das überarbeitete Schema am 11. November 1963 verteilt und für den 14. November eine kapitelweise Abstimmung anberaumt. In diesen Tagen bemerkten zunehmend mehr Beobachter, Periti und Konzilsväter, dass „der neue kürzere Text die Schwachstellen des alten behalten hätte: Banalität, Moralismus, unbedeutender Platz für die Laien“143. Die Moderatoren konnten sich 141

Vgl. AES, 19/7, II. Vatikanisches Konzil. Sessionen, Sitzungsprotokoll. Vgl. Joseph Famer¦e, Bischöfe und Bistümer (5.–15. November 1963), in: Alberigo/ Wittstadt (Hrsg.), Geschichte (Anm. 133), Bd. 3: Das mündige Konzil. Zweite Sitzungsperiode und Intersessio. September 1963 – September 1964, Mainz/Leuven 2002, S. 139 – 222, hier S. 206 – 222; das Verfahren erwähnt auch Joseph A. Komonchak, Unterwegs zu einer Ekklesiologie der Gemeinschaft, in: Giuseppe Alberigo/Günther Wassilowski (Hrsg.), Geschichte (Anm. 133), Bd. 4: Die Kirche als Gemeinschaft. September 1964 – September 1965, Mainz/Leuven 2006, S. 1 – 108, hier S. 35 mit Anm. 97. 143 Famer¦e, Bischöfe (Anm. 142), S. 210 (im Anschluss an den Konzilsperitus Ren¦ Laurentin). 142

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freilich nicht zu einer Verschiebung der Abstimmung verstehen und das Schema erhielt bei der kapitelweisen Abstimmung eine Zustimmung von rund 95 % der Konzilsväter (placet iuxta modum-Stimmen mitgezählt). Über das gesamte Schema (mit eingearbeiteten modi) sollte dann am 25. November 1963 nochmals abgestimmt werden. Um bei dieser Gelegenheit doch noch eine gründlichere Überarbeitung des Schemas zu erzwingen, riefen auf Initiative des argentinischen Peritus Jorge M. Mejia (*1923) 25 Konzilsväter zu einem negativen Votum auf. Ein entsprechendes Flugblatt144 mit dem Aufruf und den Namen seiner Unterstützer verteilten nun an dem besagten Tage die deutschen Weihbischöfe Josef M. Reuß145 (1906 – 1985) und Paul Heinrich Nordhues146 (1915 – 2004) an die in die Konzilsaula strömenden Väter. Als Generalsekretär Felici dies bemerkte, kam es – die Berichte über den Vorfall widersprechen sich im Detail – möglicherweise sogar zu einem Handgemenge zwischen ihm und Reuß, jedenfalls aber zu Beschwerden bei den Moderatoren und bei Kardinaldekan EugÀne Tisserant147 (1884 – 1972), dem Dekan des Präsidialrates. Dieser wiederum thematisierte den Vorfall während der anschließenden Generalversammlung ausdrücklich und verurteilte „die Verteilung der Petition, weil sie die Freiheit und Ruhe des Konzils störe und deshalb seiner unwürdig sei“148. Dass die Angelegenheit in der Folge anscheinend in zwei Instanzen149 im Konzilsgericht verhandelt wurde, liegt wohl daran, dass ihr von den Beteiligten eine grundsätzliche Bedeutung beigemessen wurde: Wie weit reichen die bürgerlichen Freiheiten der Konzilsväter, d. h. mit welchen Mitteln dürfen sie die Stimmabgabe anderer Konzilsväter beeinflussen? Und warum war einige Wochen zuvor nicht eingeschritten worden, als etwa der Peritus Karlo Balicˇ OFM150 (1899 – 1977) oder Kurienbischof Dino Staffa151 (1906 – 1977) ihrerseits Denkschriften verteilt hatten? 144

Vgl. Faksimile des Flugblatts in: Xavier Rynne [Francis X. Murphy], Briefe aus dem Vatikan. Die zweite Sitzungsperiode des Zweiten Vatikanischen Konzils, 29. September – 4. Dezember 1963, Köln 1964, S. 288. 145 Zu ihm vgl. Friedhelm Jürgensmeier, Art. Reuss, in: LThK3 VIII (1999), Sp. 1141 f.; ders. Art. Reuß, in: Gatz (Hrsg.), Bischöfe 1945 – 2001 (Anm. 3), S. 362 f. Zum Vorgang vgl. auch EAM, Konzilsakten Döpfner, Korrespondenz mit Konzilsvätern, 0102 – 385, Schreiben Reuß an Döpfner vom 19. 11. 1963; 0102 – 389, Schreiben Reuß an Döpfner vom 01. 12. 1963, worin Reuß betont, dass er bislang alles versucht habe, um – ungeachtet des ihm angetanen Unrechts – den Mantel des Schweigens über die Vorgänge zu breiten und auch das Tribunal nicht angerufen habe. 146 Zu ihm vgl. Reinhard Marx, Art. Nordhues, in: LThK3 XI (2001), Sp. 200 f.; HansJürgen Brandt, Art. Nordhues, in: Gatz (Hrsg.), Bischöfe 1945 – 2001 (Anm. 3), S. 442 f. 147 Zu ihm vgl. Johannes Kreuzenbeck, Art. Tisserant, in: BBKL XX (2002), Sp. 1463 – 1466. 148 FamerÀe, Bischöfe (Anm. 142), S. 216 f.; vgl. auch ActSynVat II/6, S. 17. 149 Vgl. AES, 19/7, II. Vatikanisches Konzil. Sessionen, Schreiben (Prot.Nr. 105/64 T.A.) Roberti an Rohracher vom 5. 10. 1964 („ricorso“); Notiz Rohracher vom 12. 10. 1964 („Rekurs“). 150 Zu ihm vgl. Bernd Goebel, Art. Balic´, in: BBKL XXII (2003), Sp. 47 – 52. 151 Zu ihm vgl. Zenon Grocholewski, Vita e attivit— del Card. Dino Staffa, in: Apollinaris 51 (1978), S. 203 – 242.

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Mit Schreiben vom 16. November 1964 wurde Rohracher eine Kopie der handschriftlich niedergelegten Entscheidung des Ponens in dieser Sache, Kardinal William T. Heard, zugeleitet: Auch hier konnte das Gericht ein hartes Sachurteil vermeiden, da der Rekurs offensichtlich doch noch zurückgezogen worden war.152 d) Zum Ringen um das III. Kapitel des Kirchenschemas Betreffend die Sitzung des Konzilsgerichts vom 12. Oktober 1964 hat sich Rohracher noch folgende handschriftlichen Vermerke gemacht: „2.) Segni; III. Cap. De eccl. an Moderatores. 3.) Laraone [!]: Propaganda für Abstimmung.“153 Der Bezug dieser Notizen war bislang nicht mit Gewissheit zu klären.154 Vermutlich stehen die fraglichen Eingaben an das Konzilsgericht im Zusammenhang mit jenem Ergebnis einer Vorbesprechung der Moderatoren am 10. September 1964 hinsichtlich des Modus der Abstimmungen über das Kirchenschema, wonach

152 Vgl. AES, 19/7, II. Vatikanisches Konzil. Sessionen, Schreiben (Prot.-Nr. 135/64 TA) Roberti an Rohracher vom 16. 11. 1964; Dekret Heard vom 07. 11. 1964. Die Entscheidung vom 07. 11. 1964, abgefasst auf Briefpapier mit dem Wappen des Kardinals, besticht durch ihre Kürze: „Cum recursui renuntiaverint querelantes causa finita est et acta in archivo ponentur.“ 153 AES, 19/7, II. Vatikanisches Konzil. Sessionen, Fasz. Vaticanum II, Notiz Rohracher vom 12. 10. 1964. 154 Das Stichwort „Segni“ dürfte sich auf Luigi Carli (1914 – 1986), Bischof von Segni (1957 – 1973), beziehen. Das Stichwort „Laraone“ dürfte Kurienkardinal Arcadio M. Larraona Saralegui CMF (1887 – 1973) meinen, der im September 1964 eine bemerkenswerte Opposition des Kirchenschemas entfaltete. Auf sein Betreiben wurde am 13. September 1964, somit buchstäblich am Vorabend der Eröffnung der dritten Sitzungsperiode, eine Denkschrift („Nota riservata“) bezüglich des Streitthemas Kollegialität der Bischöfe unmittelbar an Papst Paul VI. (1963 – 1978) übergeben. Als klar war, dass gemäß dem Plan der Moderatoren ohne erneute Debatte über das dritte Kapitel des Kirchenschemas abgestimmt werden würde, wandte sich Kardinal Larraona mit weiteren Schreiben vom 20. bzw. 21 September 1964 erneut unmittelbar an den Papst und legte ihm nahe, die Vorbereitung eines neuen, pastoralen (d. h. die unter den Konzilsvätern strittigen Fragen ausklammernden) Schemas ins Auge zu fassen, falls das Abstimmungsergebnis an einer überwältigenden Unterstützung des derzeitigen Schemas zweifeln ließe. Vgl. zu diesen Vorgängen Evangelista Vilanova, Die Intersessio (1963 – 1964), in: Alberigo/Wittstadt (Hrsg.), Geschichte, Bd. 3 (Anm. 142), S. 401 – 572, hier S. 492 – 494; Komonchak, Ekklesiologie (Anm. 142), S. 77 – 84; zu Arcadio Larraona vgl. Pietro Tocanel, In honorem Arcadii Larraona S.R.E. Cardinalis, in: Apollinaris 35 (1962), S. 3 – 6; Josef Gelmi, Art. Larraona, in: LThK3 VI (1997), Sp. 653; die Schreiben Larraonas an den Papst sind abgedruckt bei Giovanni Caprile, Contribuito alla storia della „nota explicative praevia“, in: Giuseppe Camadini (Hrsg.), Paolo VI e i problemi ecclesiologici al concilio. Colloquio internazionale di studio, Brescia 19-20-21 settembre 1986 (Pubblicazioni dellÏIstituto Paolo VI 7), Brescia 1989, S. 587 – 697, hier S. 596 – 603 (Denkschrift), S. 619 – 623 (Schreiben 20./ 21. 09. 1964); dt. Übersetzung der Denkschrift in: Marcel Lefebvre, Ich klage das Konzil an!, Stuttgart 2009, S. 59 – 71 (dort die Denkschrift unerklärlicherweise auf den 18. 10. 1964 datiert); unter diesem Datum hat Papst Paul VI. an Kardinal Larraona geantwortet, vgl. Abdruck in: Caprile, Contribuito, S. 632 – 635; dt. Übersetzung in: Lefebvre, Ich klage an!, S. 72 – 76).

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den Suffragien über dessen drittes Kapitel nur noch Relationen vorausgehen sollten, ohne dass erneut eine inhaltliche Debatte hierüber eröffnet würde.155 Hiergegen opponierten die Gegner der Kollegialität, indem sie am 18. September 1964 auf dem Petersplatz entsprechende Handzettel verteilten, mit welchen zu einer Abstimmung mit non placet aufgerufen wurde.156 Der Text soll von drei Italienern geschrieben worden sein und war auch schon „einen Tag zuvor bei einem Treffen der italienischen Bischofskonferenz verteilt worden …, bei dem Carli diese negativen Voten zusammen mit einem placet iuxta modum für das ganz Kapitel eindringlich nahegelegt hatte“157. Zuvor waren im Zusammenhang mit dem Abstimmungsmodus auch noch die Konzilskommission für die Glaubenslehre und Generalsekretär Felici aneinandergeraten:158 Die Kommission war – in Umsetzung des besagten Beschlusses der Moderatoren – kurzfristig gebeten worden, in drei Relationen zum sakramentalen Charakter des Bischofsamts, zur Kollegialität und zum Diakonat vorzutragen, ferner in einer vierten Relation die Positionen der Konzilsminorität hierzu zusammenzufassen. Noch ehe die Kommission die vier Berichte aufeinander abgestimmt hatte, ließ Felici sie drucken, wobei der ablehnende Bericht an vierter Stelle platziert wurde und so den falschen Eindruck von Uneinigkeit innerhalb der Kommission erweckte. Die Kommission erwog diverse Protestappelle und konnte schließlich die Moderatoren dazu bewegen, dass die vier Berichte in der 84. Generalkongregation in umgekehrter Reihenfolge vorgetragen wurden.159 e) Zu verfahrenstechnischen Manövern während der vierten Sitzungsperiode Um Bestrebungen zum Durchbruch zu verhelfen, das Schema über die christliche Erziehung kurz vor der abschließenden Abstimmung noch zu verbessern, wandten sich mehrere Väter160 mit einem Bittschreiben an das Konzilsgericht, „es möge bei einigen umstrittenen Punkten des Schemas noch Zustimmung iuxta modum gestattet werden“161. 155 Vgl. zu den Einzelheiten des Abstimmungsplans ActSynVat III/1, 395 – 417; ferner Komonchak, Ekklesiologie (Anm. 142), S. 44 – 47. 156 Vgl. Komonchak, Ekklesiologie (Anm. 142), S. 83. 157 Komonchak, Ekklesiologie (Anm. 142), S. 86. 158 Vgl. Komonchak, Ekklesiologie (Anm. 142), S. 84 f. 159 Vgl. dazu auch ActSynVat III/2, S. 193 – 218. 160 Vgl. dazu auch AES, 19/7, II. Vatikanisches Konzil. Sessionen, Schreiben (Prot.Nr. 149/65 T/A) Carbone an Rohracher nebst Schreiben Silva Henr†quez u. a. an Roberti vom 11. 10. 1965 (Kopie); das Schreiben von Silva Henr†quez u. a. auch abgedruckt in: ActSynVat VI/4, S. 558 f. 161 Mauro Velati, Die Vervollständigung der Tagesordnung des Konzils, in: Alberigo/ Wassilowski (Hrsg.), Geschichte (Anm. 142), Bd. 5: Ein Konzil des Übergangs. September – Dezember 1965, Ostfildern/Leuven 2008, S. 215 – 321, hier S. 242.

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Über die weitere Entwicklung berichtet Mauro Velati: „Vor Beginn der Sitzung [vom 13. Oktober 1965] diskutieren die Moderatoren noch über diese Frage. Döpfner nimmt eine entschiedene Haltung ein: Der Rekurs wird abgelehnt, um nicht im Blick auf die nächste Abstimmung über das Schema über die Offenbarung einen Präzedenzfall zu schaffen. Die Schiedsstelle wird den bei ihm eingereichten Antrag erst in den folgenden Wochen (am 25. Oktober) prüfen und zu einem negativen Bescheid gelangen. Was die Bischöfe beantragt hätten, liege ,außerhalb der Kompetenz des TribunalsÐ, ja es widerspreche den Normen der Geschäftsordnung des Konzils.“162

Einen ähnlich gelagerten Vorschlag hatten mit Schreiben vom 8. Oktober 1965 einige Bischöfe des Coetus Internationalis Patrum hinsichtlich des Schemas über die Religionsfreiheit aufgebracht: Über das Schema sollte nicht kapitel-, sondern abschnittsweise abgestimmt werden, damit – so die vorgeschobene Begründung – die Konzilsväter ihre Änderungswünsche besser artikulieren könnten.163 Luigi M. Carli (1914 – 1986), der Bischof von Segni und einer der Mitunterzeichner der Eingabe vom 8. Oktober 1965, hatte bereits zuvor mit einer undatierten, auf liniertem Schreibpapier in lateinischer Sprache formulierten Eingabe an das Konzilsgericht Beschwerde gegen die „subitaneam votationem“ über das Libertas-Schema geführt, weil die Väter dadurch keine Zeit gehabt hätten, sich die Sache zu überlegen.164 Mit einem weiteren Schreiben vom 28. September 1965 – diesmal auf seinem eigenem Briefpapier und in italienischer Sprache – bat er freilich darum, die eingelegte Beschwerde noch etwas zurückzuhalten, da die Hoffnung bestehe, dass an die Väter ein neuer Text verteilt werde.165 f) Würdigung der Streitentscheidungen des Konzilsgerichts Soweit das insgesamt spärliche Material in Rohrachers Konzilsnachlass ein Urteil hierüber erlaubt, hat das Konzilsgericht strikt jenen Grundsatz richterlichen Handelns beobachtet, stets nur im Rahmen der eigenen Zuständigkeit tätig zu werden (vgl. dazu auch c. 1609 § 1 CIC/1917). Dementsprechend waren Eingaben, die nicht auf eine Auslegung, sondern auf eine Änderung der Geschäftsordnung des Konzils abzielten, von vorneherein zum Scheitern verurteilt. Außerdem hat sich das Kon-

162 Velati, Tagesordnung (Anm. 161), S. 244. Der Wortlaut der Entscheidung des Konzilsgerichts abgedruckt in: ActSynVat VI/4, S. 560. 163 Vgl. AES, 19/7, II. Vatikanisches Konzil. Sessionen, Schreiben Lefebvre u. a. an Roberti vom 08. 10. 1965 (Kopie); ferner Gilles Routhier, Das begonnene Werk zu Ende führen, in: Alberigo/Wassilowski (Hrsg.), Geschichte, Bd. 5 (Anm. 161), S. 57 – 213, hier S. 134 f. mit Anm. 265. Routhier bezieht sich hier auf den Nachlass von Konzilsrichter Furey. 164 AES, 19/7, II. Vatikanisches Konzil. Sessionen, Eingabe Carli an Konzilsgericht (Kopie). 165 AES, 19/7, II. Vatikanisches Konzil. Sessionen, Schreiben Carli an Roberti vom 28. 09. 1965 (Kopie).

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zilsgericht anscheinend meisterlich auf die Kunst verstanden, eine gütliche Beilegung der aufgetretenen Streitigkeiten herbeizuführen.166 4. Rohracher als Prokurator für Altbischof Hefter Während des Zweiten Vatikanischen Konzils fungierte Rohracher auch als Prokurator des schwer kranken Altbischofs von Gurk. In dieser Eigenschaft hat er diverse Konzilsdokumente für Hefter mitunterzeichnet.167 Außerdem hat er namens und im Auftrage seines alten Mentors eine schriftliche Eingabe zum Schema über Leben und Dienst der Priester gemacht und die Einrichtung eines speziellen Beichtvaters für Priester, der diesen bei monatlichen Rekollektionen die Beichte abnimmt, angeregt.168 5. Sonstige allgemeine Beobachtungen Am 9. Oktober 1963 war Andreas Rohracher berufen, zum Beginn der 44. Generalkongregation die Missa de Spiritu Sancto zu feiern. Zweifelsohne Ausdruck seiner Sympathie für die Anliegen des Ordensstandes ist Rohrachers Unterschrift auf eine Eingabe vom Sommer 1964, mit welcher sich rund 500 Konzilsväter dafür stark machten, im Kirchenschema zum einen die Aussagen über die allgemeine Berufung zur Heiligkeit und über den Ordensstand möglichst nicht in ein und dasselbe Kapitel zu packen, und zum anderen wichtige Passagen aus einer einschlägigen Ansprache Papst Pauls VI. (1963 – 1978) vom 23. Mai 1964 in das Schema einzubeziehen.169 166

Vgl. dazu auch c. 1925 §§ 1 – 2 CIC/1917; c. 1446 § 2 CIC. Vgl. ActSynVat III/8, S. 905; IV/5, S. 670; IV/6, S. 683. 168 Vgl. ActSynVat III/4, S. 603: „Cum sim procurator pro exc.mo ac rev.mo arch. tit. Adamo Hefter liceat mihi proponere mandatum quod mihi iteratim dedit. Nempe urgere ut in singulis dioecesibus constituatur confessarius pro sacerdotibus, qui in conventibus mensilibus, in quibus sacerdotes peragunt recollectionem menstruam, praesto sit presbyteris ad confessions audiendas. Archiepiscopus Adam Hefter, qui hoc anno celebravit diem 70 suae ordinationis et 50 suae nominationis in episcopum, ex magna sua experientia persuasus est, talem occasionem confitendi optimos fructus sacerdotibus afferre. Fortasse est possibile, ut hoc consilium veneratissime archiepiscopi inseratur directorio post Concilium redigendo.“ 169 Vgl. ActSynVat III/1, S. 788 – 792, hier S. 791; vgl. ferner zu den Hintergründen Komonchak, Ekklesiologie (Anm. 142), S. 54 – 57. Komonchak zufolge ist das so genannte „Sekretariat der Bischöfe“ als Initiator dieser Eingabe anzusehen; es ist also eher zufällig, dass unter den Unterzeichnern auch einige prominente Mitglieder des Coetus Internationalis Patrum begegnen. Soweit ersichtlich, war Rohracher der einzige deutschsprachige Mitunterzeichner, der selbst keinem Orden angehörte. Den konkreten Anstoß zur Unterschriftsleistung könnte Josef Calasanz Rosenhammer OFM (1900 – 2003), ein gebürtiger Österreicher und damals Apostolischer Vikar in Chiquitos, Bolivien, gegeben haben. Wie Herr Prälat Dr. Johann Reißmeier (Salzburg) dem Verfasser erzählt hat, haben sich Rohracher und Rosenhammer, begünstigt durch die alphabetische Nähe ihrer Nachnamen, auf dem Konzil angefreundet; aus dieser Freundschaft entstand nach dem 167

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Erzbischof Andreas Rohracher hat alle 16 Konzilsdokumente mit seiner Unterschrift mitgetragen.170 IV. Umsetzung und Weiterführung konziliarer Impulse 1. Allgemeines Der archivarische Nachlass Rohrachers legt Zeugnis von seinen Bemühungen ab, durch Predigten und Vorträge die Arbeit und die Ergebnisse des Zweiten Vatikanischen Konzils den Gläubigen seines Erzbistums nahezubringen.171 Einer systematischen, strukturierten Umsetzung des Konzils in das Leben der ihm anvertrauten Teilkirche sollte des Weiteren die Diözesansynode von 1968 dienen, die für Rohracher nur die schlechtere Alternative zu einer österreichischen Nationalsynode gewesen ist.172 Einen Versuch gelebter Ökumene stellt Rohrachers Vergebungsbitte für die Vertreibung der salzburgischen Protestanten im Jahre 1732 dar, die er in seiner Ansprache bei einem Empfang anlässlich der Amtseinführung des evangelischen Superintendenten Emil Sturm äußerte.173 Rohracher erntete für diese Geste viel Zustimmung, aber auch manches Unverständnis. In Sachen Liturgiereform hat sich Rohracher weder hinsichtlich deren Notwendigkeit noch hinsichtlich deren Schwierigkeit irgendwelchen Illusionen hingegeben, sondern in seinen Predigten und Ansprachen seine Überzeugung nicht verhehlt, dass seit dem Tridentinum die

Konzil die Bistumspartnerschaft der Erzdiözese Salzburg mit der heutigen Diözese San Ignacio de Valesco. 170 Vgl. ActSynVat II/6, S. 441 (Konstitution über die hl. Liturgie Sacrosanctum Concilium); S. 507 (Dekrete Inter mirifica); III/8, S. 861 (Dogmatische Konstitution Lumen Gentium, Dekrete Orientalium Ecclesiarum; Unitatis redintegratio); IV/5, S. 623 (Dekrete Nostra Aetate; Gravissimum educationis; Optatam totius; Perfectae caritatis; Christus Dominus); IV/ 6, S. 635 (Dogmatische Konstitution Dei Verbum; Dekret Apostolicam Actuositatem); IV/7, S. 807 (Dekrete Dignitatis humanae; Ad gentes; Presbyterorum ordinis; Pastorale Konstitution Gaudium et spes). 171 Vgl. dazu auch Gerlinde Katzinger, Erzbischof Andreas Rohracher und das II. Vatikanische Konzil, in: Hintermaier/Rinnerthaler/Spatzenegger (Hrsg.), Erzbischof Andreas Rohracher (Anm. 3), S. 419 – 437, mit zahlreichen in AES, 19/6, II. Vatikanisches Konzil allgemein. Predigten, überlieferten Originalzitaten. 172 Vgl. dazu Carl Holböck, Die Salzburger Diözesansynode 1968, in: Ulrich Mosiek/ Hartmut Zapp (Hrsg.), Ius et salus animarum. Festschrift für Bernhard Panzram (Sammlung Rombach, NF 15), Freiburg 1972, S. 379 – 391; Paarhammer, Gesetzgebung (Anm. 3), hier S. 321 – 323; ders., Diözesansynoden (Anm. 3), hier S. 293 – 303. 173 Die Ansprache ist abgedruckt in: Hans Widrich (Hrsg.), Andreas Rohracher – Kirche in der Welt. Predigten, Ansprachen und Kommentare des Erzbischofs von Salzburg, Wien 1969, S. 46 f.; vgl. dazu auch Spatzenegger, Ökumene (Anm. 66), S. 35; Rinnerthaler, Ökumenische Impressionen (Anm. 45), S. 367 – 369.

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„Kirche … in einer gewissen Starre [verharrt]. Jugendfrische ist eine notwendige Aufgabe der Zukunft, daher braucht es auch eine Reform der Liturgie“174 ; „Änderungen sind mühsam wie der Umbau eines Hauses. Es bringt Staub, Schmutz und Unordnung, aber wenn es fertig ist, freut man sich und ist glücklich.“175

In der nachkonziliaren Rezeption und Umsetzung der Liturgiekonstitution hat Rohracher darüber hinaus die Problematik gesehen, wie der gesellschaftliche Wandel die Anziehungskraft der Liturgie schmälert.176 2. „Pastoraldogmatische“ Erwägungen zur Kollegialität in der Ortskirche In einem Beitrag für eine theologische Fachzeitschrift177 hat Rohracher noch einmal die „Studien, Beratungen und Diskussionen über das III. Kapitel der Constitutio dogmatica de Ecclesia“ reflektiert. Er erinnert daran, dass sich das Konzil in der „Frage der Kollegialität der Bischöfe untereinander und der Bischöfe mit dem Papst“ „auf die uralte Disziplin [beruft], der gemäß die auf dem ganzen Erdkreis bestellten Bischöfe untereinander und mit dem römischen Bischof Gemeinschaft hielten ,in vinculo unitatis, caritatis et pacisГ. Weiter führt er aus, dass so wie im Kollegium der zwölf Apostel Petrus eine besondere Stellung innehatte, auch der römische Bischof als dessen Nachfolger eine besondere Stellung im Bischofskollegium innehat. Dadurch spiegele das Bischofskollegium gleichermaßen „die Vielheit und Universalität des Gottesvolkes“, da es einerseits aus vielen Bischöfen besteht, die andererseits unter einem Haupt vereint sind. Den einzelnen Bischöfen ist dabei die Mitsorge für die Gesamtkirche anvertraut, insofern sie „die Glaubenseinheit und die der ganzen Kirche gemeinsame Ordnung fördern und schützen“, während es umgekehrt der Gemeinschaft der Bischöfe obliegt, dem einzelnen Bischof in „den anderen Kirchen, besonders den benachbarten und bedürftigeren, gerne brüderliche Hilfe zu leisten“. 174 AES, 19/6, II. Vatikanisches Konzil allgemein. Predigten, hier zitiert aus Katzinger, Konzil (Anm. 171), S. 425 mit Anm. 44. 175 AES, 19/6, II. Vatikanisches Konzil allgemein. Predigten, hier zitiert aus Katzinger, Konzil (Anm. 171), S. 426 mit Anm. 45. 176 Katzinger, Konzil (Anm. 171), S. 431, weist im Anschluss an Rohracher insoweit auf folgende Problemfelder hin: Verschiebung des Lebensrhythmus in die Abendstunden ./. Frühmesse; Konzentrationsfähigkeit und konkurrierende Bildungs- und Freizeitangebote ./. Gottesdienstdauer; moderne Medien ./. Qualität der Predigt. Als wichtiges Mittel zur Wahrung der Attraktivität des Gottesdienstes hat Rohracher den persönlichen Kontakt zwischen Pfarrer und Gemeinde angesehen; dies hatte bereits Bischof Hefter seinen Priestern gepredigt, vgl. Pastoralschreiben an den Klerus vom 14. 04. 1929, hier zitiert aus Obersteiner, Bischöfe (Anm. 5), S. 174: „Der gute Hirte muß die Schäflein wieder suchen gehen, sie kennenlernen und Einblick gewinnen in die persönlichen Verhältnisse … Der Hausbesuch ist die strengste Berufspflicht aller Seelsorger“ – was selbstredend überschaubare, wohnortnahe Strukturen voraussetzt. 177 Vgl. Andreas Rohracher, Das Prinzip der Kollegialität in der Kirche, in: ThPQ 113 (1965), S. 313 – 318. Daraus auch die folgenden wörtlichen Zitate; Kursivsetzungen wie dort.

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Nach dieser allgemeinen Exegese der Kirchenkonstitution entfaltet Rohracher den Gedanken, dass diese Kollegialität „auch in den Teilkirchen, in den Diözesen, … zwischen Bischof und Priestern [herrschen muss]“. Dies begründet Rohracher (dogmatisch, nicht soziologisch) aus dem Befund, dass sich Kirche als Heilszeichen zuvörderst in der ortskirchlichen Feier der Eucharistie verwirklicht. Dabei sieht Rohracher – ausgehend von der Ekklesiologie des Ignatius von Antiochia – den Bischof als Zentrum der christlichen Gemeinde, der allerdings (in Analogie zum Apostelkollegium) den Rat und die Hilfe des Presbyteriums in Anspruch nimmt. Dazu erinnert er an den stadtrömischen Brauch, wonach der Bischof das so genannte Fermentum an die Priester der Titelkirchen übersendet; und an den noch im 4. Jahrhundert bezeugten mailändischen Brauch, die sonntägliche Eucharistie nur in der (für alle Mailänder Christen viel zu kleinen) Bischofskirche zu feiern. Im Anschluss an ein ausführliches Zitat aus LG 28 stellt Rohracher daher fest, dass der Priester „die pastoralen Probleme nicht als Einzelgänger in Angriff nehmen [darf], sondern in Zusammenarbeit mit den anderen Priestern und dem Bischof.“ Das Wesen des priesterlichen Dienstes ist es also, Mitarbeiter des Bischofs zu sein. Beinahe beschwörend fasst Rohracher seine Überlegungen zum gemeinsamen Apostolat von Bischof und Presbyterium so zusammen: „Diese kollegiale Zusammenarbeit der Priester mit dem Bischof fordert Demut, fordert Verstehen des anderen, fordert Konzilianz und Anpassung. Der Priester muß ein Feind des Individualismus sein, darf sich nicht auf seine eigenen Probleme beschränken, die angesichts der Probleme seiner Diözese und der Universalkirche klein sind. Wie Brüder derselben Familie müssen die Priester mit dem Bischof einmütig zusammenarbeiten.“

3. Die Idee eines „Patriarchats für die evangelischen Christen“ Auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil hatte sich Abt Johannes Hoeck OSB am 19. Oktober 1964 in einer leidenschaftlichen Rede für die Einrichtung neuer Patriarchate ausgesprochen.178 Diese bzw. ähnliche Überlegungen sind im Umfeld des Konzils mit unterschiedlicher Deutlichkeit und Dringlichkeit auch von anderen Theologen aufgegriffen bzw. angestellt worden.179 Andreas Rohracher hat in Anwen178

Vgl. ActSynVat III/5, S. 72 – 75; vgl. ferner die eingehende Analyse von Ferdinand Gahbauer, Die Patriarchalstruktur als Angelpunkt der Wiedervereinigung, in: ders. (Hrsg.), Primum regnum Dei. Festgabe für Abt Johannes Hoeck, Ettal 1987, S. 37 – 201. 179 Vgl. Klaus Mörsdorf, Patriarch und Bischof im neuen ostkirchlichen Recht, in: Roesle/ Cullmann, Studien (Anm. 48), S. 463 – 478, hier S. 466 f., auch in: Aymans/Geringer/Schmitz (Hrsg.), Schriften (Anm. 82), S. 629 – 644, hier S. 632 f.: „Gegenüber den Kirchen des Ostens ist aber die Abgrenzung von patriarchaler und päpstlicher Gewalt von entscheidender Bedeutung. Man wird sogar sagen dürfen, daß die ekklesiologische Funktion des obersten Hirtenamtes der Kirche erst in der Abgrenzung zu dem patriarchalen Hirtenamt rein in Erscheinung tritt. Aufgaben und Befugnisse, die in der Lateinischen Kirche dem Papst zukommen, werden für die östlichen Kirchen zwischen Papst und Patriarchen geteilt. Das im neuen Verfassungsrecht der Ostkirche festgelegte Zusammenspiel zwischen päpstlicher und patriarchaler Gewalt wird daher die Lehre vom päpstlichen Primat, die bisher einseitig vom Bild der Lateinischen Kirche aus gesehen wurde, in ein neues Licht rücken“; Joseph Ratzinger, Kon-

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dung dieses Gedankens auf die Verhältnisse in den deutschsprachigen Ländern eine kirchenrechtliche Konkretisierung versucht und angeregt, die Institution der Patriarchate auch für die Wiedervereinigung mit den aus der Reformation hervorgegangen kirchlichen Gemeinschaften – Rohracher selbst spricht unbefangen von „reformatorischen Kirchen“ – fruchtbar zu machen. Einen entsprechenden Vorschlag machte der Salzburger Erzbischof zunächst im März 1965 im Salzburger Presseclub.180 Die deutsche Illustrierte „Feuerreiter“ griff für ihre Ausgabe Nr. 16 vom 1. August 1965 dieses Thema in einem Interview auf.181 Das Interview erfolgte schriftlich und Rohracher hat sich bei der Formulierung seiner Antworten auch eingehend mit dem Salzburger Dogmatiker Ferdinand Holböck182 (1913 – 2002) beraten.183 Rohracher führte aus, dass die Errichtung eines derartigen evangelisch-katholischen Patriarchats für geschlossene, territorial umrissene Landeskirchen in Frage komme. Dabei sah er eine „weitgehende Verwaltungsautonomie“ gegenüber der römischen Kurie als das eigentliche Charakteristikum der katholischen Patriarchate an und äußerte sich zuversichtlich, dass bei einer gewissen Unabhängigkeit hinsichtlich krete Formen bischöflicher Kollegialität, in: Johann Christoph Hampe, Ende der Gegenreformation? Das Konzil – Dokumente und Deutung, Stuttgart 1964, S. 155 – 163, hier besonders S. 156 – 159: „Im Papst ist sodann auch das Amt des Patriarchen des Abendlandes, d. h. der lateinischen Kirche verwirklicht. Auf dieser Ebene ist Rom prinzipiell mit den andern alten Patriarchaten gleichrangig … Wichtig ist, dabei zu bedenken, daß eine Reihe von Funktionen, die wir heute gewöhnlich als Ausfluß des Primats ansehen, sich ursprünglich als Ergebnis der patriarchalen Würde verstanden, so das Recht der liturgischen Gesetzgebung, der Mitwirkung bei Ein- und Absetzung von Bischöfen und ähnliche Befugnisse auf der Ebene der kirchlichen Disziplin. …. Diesen drei Ämtern des Papstes – Bischof von Rom, Patriarch des Abendlandes und Träger des eigentlichen Petrusamtes – entsprechen nun auch die Funktionen der Kurie, die dementsprechend gleichfalls in einer Dreistufung gesehen werden müssen. … [Man sollte auch] bedenken, daß der größere Teil der kurialen Dienste gar nicht dem Primat, sondern den ursprünglich patriarchalen Aufgaben und somit einer Funktion kirchlichen Rechtes zugeordnet ist. Dann kommt man ganz ungezwungen von dem verengten Blick auf das Problem der Kurienreform los und kann die Erneuerungsmöglichkeiten in einem weit umfassenderen Rahmen verstehen. Es gilt nach dem Gesagten, die miteinander vermengten Bereiche – römische Orts-Kirche und Gesamtkirche, Primat und Patriarchat – ohne Verletzung des Primats zu entflechten und den Organismus der Ortskirchen wieder lebensfähig zu machen sowie das lateinische Patriarchat in seiner gegenwärtigen Extension aufzulösen und durch eine Mehrzahl patriarchaler Räume zu ersetzen. Unter ,patriarchalen RäumenÐ sind dabei nicht etwa neue Patriarchate zu verstehen, gegen deren Bildung vieles spricht, sondern Regionen, deren Selbständigkeit ungefähr derjenigen der früheren Patriarchate entsprechen sollte, deren Leitung aber bei der jeweiligen Bischofskonferenz liegen könnte …“; ders., Das Neue Volk Gottes, Entwürfe zur Ekklesiologie, Düsseldorf 21970, S. 142; ungefähr auf dieser Linie liegt auch die von Kardinal Bea an Rohracher weitergeleitete anonyme Denkschrift (vgl. dazu oben 3.1 mit Anm. 67). 180 Vgl. Rinnerthaler, Ökumenische Impressionen (Anm. 45), S. 362. 181 Das Interview ist auch abgedruckt in: Widrich (Hrsg.), Predigten, Ansprachen und Kommentare (Anm. 173), S. 35 – 38; von dort auch die nachfolgenden wörtlichen Zitate. 182 Zu ihm vgl. Peter H. Görg, Art. Holböck, in: BBKL XXVII (2007), Sp. 693 – 697. 183 Vgl. Rinnerthaler, Ökumenische Impressionen (Anm. 45), S. 363.

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Verwaltung, Liturgie184 und Disziplin185 für die Protestanten „ein altes Gravamen beseitigt wäre“. Abschließend betonte Rohracher, dass die kirchenrechtliche Einheit nur aus der Einheit im Glauben erwachsen könne: „Die unabdingbare Voraussetzung für die Verwirklichung eines evangelisch-katholischen Patriarchats ist die Einigung im Glauben. Ist diese gegeben, könnte die disziplinäre, rituelle, administrative Tradition der evangelischen Kirche in das Sonderrecht eines evangelisch-katholischen Patriarchats überführt werden.“

Wie Alfred Rinnerthaler zusammenfassend festgestellt hat, waren die Reaktionen auf diesen Vorstoß „zwar nicht völlig unerwartet, aber überraschten durch ihre Zahl, Heftigkeit und Kontroversalität“186, wobei quer durch die Konfessionen „die Palette der Äußerungen von höflichem Interesse über begeisterte Zustimmung bis zur ausdrücklichen Ablehnung reichte“187. Im heutigen Rückblick scheint das Urteil gerechtfertigt, dass Rohrachers kühne Idee kein nachhaltiges Echo gefunden hat. Jedenfalls hat der Apostolische Stuhl für diejenigen anglikanischen Christen, die in geschlossenen Gruppen auf sichtbare Weise die Einheit der einen Kirche wiedergewinnen möchten, unlängst einen anderen Weg beschritten: Die gemäß der Apostolischen Konstitution Anglicanorum Coetibus vom 4. November 2009188 errichteten Personalordinariate unterstehen unmittelbar der päpstlichen Jurisdiktion, die vom Ordinarius stellvertretend ausgeübt wird (vgl. Art. V lit. b Anglicanorum Coetibus). Da in den Personalordinariaten (nur) die geistlichen, liturgischen und pastoralen Traditionen der Anglikanischen Gemeinschaft lebendig gehalten werden sollen, wird zwar für den gesamten Bereich der Liturgie die Weiterverwendung der bislang gebrauchten liturgischen Bücher nebst der darin verkörperten anglikanischen Tradition gestattet.189 Eine weitergehende, 184 Insoweit sprach sich Rohracher „nach erfolgten wesentlichen Ergänzungen (in Richtung auf die Eucharistiefeier als Vergegenwärtigung des Kreuzesopfers)“ für eine Beibehaltung der protestantischen Gottesdienstformen und insbesondere der Praxis der Kommunion unter beiden Gestalten aus. 185 Insoweit streifte Rohracher kurz das Thema Zölibat (nebst der Frage nach einem Weiheempfang nach einem Rituswechsel), äußerte sich zur Beibehaltung oder Übernahme von Festen und Frömmigkeitsformen, und gestand einem evangelisch-katholischen Patriarchat auch ohne weiteres eine eigene, nicht scholastisch geprägte Theologie zu. 186 Rinnerthaler, Ökumenische Impressionen (Anm. 45), S. 365. 187 Rinnerthaler, Ökumenische Impressionen (Anm. 45), S. 365. 188 Vgl. Benedikt XVI., Apostolische Konstitution Anglicanorum Coetibus vom 04. 09. 2009, in: AAS 101 (2009), S. 985 – 990; dt. Übersetzung in: AfkKR 178 (2009), S. 550 – 555. 189 Zu der heiklen dogmatischen Frage, ob auch für die Spendung sakramentaler Weihen die liturgischen Bücher aus der anglikanischen Tradition Verwendung finden können bzw. dürfen, äußern sich – soweit ersichtlich – weder die Apostolische Konstitution noch die Ergänzenden Normen der Glaubenskongregation (AAS 101 [2009], S. 991 – 996; dt. Übersetzung in: AfkKR 178 [2009], S. 555 – 560). Zu beachten ist jedenfalls der Approbationsvorbehalt in Art. III Anglicanorum Coetibus. Praktisch wird sich dieses Problem in absehbarer Zeit voraussichtlich sowieso nicht stellen, nachdem einstweilen wohl keine Bischöfe, sondern Priester zu Ordinarien bestellt werden, so dass die Weihen für Kleriker des Personalordinariats

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vom Kirchenrecht der lateinischen Kirche womöglich abweichende genuin anglikanische Sonderdisziplin wird hingegen grundsätzlich nicht gewährt190, wobei freilich die Zulassung verheirateter Männer zu den heiligen Weihen bei Bedarf vom Papst als Einzelfallentscheidung erbeten werden kann. Dass diese Personalordinariate irgendwann einmal – vielleicht nach einer erfolgreichen Union mit der Anglikanischen Kirche als ganzer – in die relative Autonomie einer katholischen Rituskirche bzw. Kirche eigenen Rechts entlassen werden könnten, ist nicht absehbar. 4. Die Revision des Kirchenrechts Andreas Rohracher, der sich nach seiner Resignation 1969 nach Altötting zurückzog, wo er am 6. August 1976 verstarb, hat den Abschluss der konziliaren Revisionsarbeiten am Kodex des Kanonischen Rechts nicht mehr erlebt. Allerdings ist zu beobachten, dass einige seiner Wünsche an das Zweite Vatikanische Konzil bzw. an eine Revision des Kirchenrechts während und nach dem Konzil tatsächlich Berücksichtigung und Umsetzung gefunden haben:191 Was auch immer Rohracher unter einer definitio der Rechte der Diözesanbischöfe gegenüber den Befugnissen der Römischen Kurie und der Päpstlichen Legaten verstanden hat (möglicherweise einen enumerativen Katalog?) – das revidierte Kirchenrecht hat ihm diesen Wunsch so nicht erfüllt. Die Apostolischen Konstitutionen Regimini Ecclesiae universae192 vom 15. August 1967 und Pastor Bonus193 vom 29. Juni 1988 enthalten keinen derartigen Katalog der jeweiligen Kompetenzen. In ohnehin wohl von den örtlichen Diözesanbischöfen (oder von römischen Kurienbischöfen) und damit naheliegenderweise im Römischen Ritus zu spenden sind. 190 Anderer Ansicht Matthias Pulte, Von Summorum Pontificum bis Anglicanorum Coetibus. Gesetzgebungstendenzen im Pontifikat Benedikts XVI., in: AfkKR 179 (2010), S. 3 – 18 hier S. 14: „Die Konstitution umfasst 13 Artikel, die den bisherigen 22 Riten der katholischen Kirche tatsächlich einen neuen Ritus hinzufügen. Unter Ritus verstehen wir hier … nicht nur eine Form die Liturgie der Kirche zu feiern, sondern eine bestimmte Gemeinschaft, die, hierarchisch geordnet, ihr eigenes Patrimonium bewahrt.“ 191 Vgl. allgemein – und mit Ausnahme der Untersuchungen von Hollerbach und Schmitz überwiegend programmatisch – zur nachkonziliaren Revision des Kirchenrechts Hans Heimerl, Das Kirchenrecht im neuen Kirchenbild, in: Karl Siepen/Joseph Weitzel/Paul Wirth (Hrsg.), Ecclesia et Ius. Festgabe für Audomar Scheuermann zum 60. Geburtstag, München/ Paderborn/Wien 1968, S. 1 – 24; Benno Löbmann, Die Bedeutung des Zweiten Vatikanischen Konzils für die Reform des Kirchenrechts, in: Audomar Scheuermann/Georg May (Hrsg.), Ius Sacrum. Klaus Mörsdorf zum 60. Geburtstag, München/Paderborn/Wien 1969, S. 83 – 98; Wilhelm Bertrams, Die Bedeutung des 2. Vatikanischen Konzils für das Kirchenrecht, in: ÖAKR 23 (1972), 125 – 162; Alexander Hollerbach, Neuere Entwicklungen des katholischen Kirchenrechts (Schriftenreihe der Juristischen Studiengesellschaft Karlsruhe 118), Karlsruhe 1974; Heribert Schmitz, Tendenzen nachkonziliarer Gesetzgebung, in: AfkKR 146 (1977), S. 381 – 419. 192 In: AAS 59 (1967), S. 885 – 928; zur Kurienreform vgl. auch Ulrich Mosiek, Verfassungsrecht der Lateinischen Kirche, Bd. 2: Struktur der Kirche im überdiözesanen Bereich (rombach hochschul paperback 88), Freiburg 1978, S. 60 – 72. 193 In: AAS 80 (1988), S. 841 – 943.

Erzbischof Andreas Rohracher als Kanonist und Konzilsvater

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der Arenga von Pastor Bonus wird lediglich ausgeführt, dass die Römische Kurie im Dienste des Papstes, der Gesamtkirche und dadurch mittelbar auch der Teilkirchen stehe, und dass sie stellvertretend aufgrund der ihr vom Papst verliehenen Vollmacht handelt.194 Die einschlägigen Artt. 26 f. Pastor Bonus, welche die Beziehungen zwischen der Römischen Kurie und den Teilkirchen rechtlich gestalten, beschränken sich auf die Forderung nach einem intensiven Informationsaustausch. Ähnliches ist für das Verhältnis der Diözesanbischöfe zu den Nuntien zu sagen: Die nachkonziliare Gesetzgebung, mit welcher Art. 9 des Dekrets Christus Dominus umgesetzt werden sollte, ist weithin als Enttäuschung empfunden worden.195 Tatsächlich ist von c. 269 § 1 CIC/1917 zu c. 364 Nr. 2 CIC keine Änderung der Rechtslage erkennbar; die Legaten haben sich demnach auf eine beratende Tätigkeit zu beschränken und dürfen nicht in die Jurisdiktion der Ortsordinarien bzw. der Bischöfe eingreifen. Die Exemtion der Orden wurde auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil näher erörtert und im Dekret Christus Dominus über die Hirtenaufgabe der Bischöfe der Grundsatz formuliert, dass Ordensangehörige bei Verwendung in der diözesanen Seelsorge und in äußeren Apostolatswerken der Aufsicht der Bischöfe unterstehen (vgl. Artt. 34 f. Christus Dominus). Diese Weisung ist in c. 678 § 1 CIC in das geltende Kirchenrecht übernommen worden. Der pio-benediktinische Kodex unterstellte zwar in c. 500 § 1 CIC/1917 auch Ordensleute grundsätzlich den Ortsordinarien und kannte auch eine beschränkte, eher subsidiär zu nennende Jurisdiktion der Bischöfe über die Orden (vgl. cc. 612, 616, 618, 619 CIC/1917) bzw. inhaltlich genau fixierte Visitationsrechte (vgl. cc. 512, 1382, 1491 CIC/1917), betonte jedoch in erster Linie – soweit verliehen – das Privileg der Exemtion der Religiosen (vgl. c. 615 CIC/1917).196 Die vom alten Kirchenrecht wertgeschätzte Stabilität des Pfarrers in seinem Amt hatte die unangenehme Nebenwirkung, dass die so genannten unwiderruflichen Pfarrer (parochi inamovibiles)197 nur in einem aufwändigen Prozedere abberufen werden 194

Vgl. Johannes Paul II., AK Pastor Bonus (Anm. 193), hier S. 849 – 851 (Nrn. 7 f.). Vgl. einerseits Art. 9 Dekret Christus Dominus; andererseits Paul VI., Motu Proprio Sollicitudo omnium Ecclesiarum vom 24. 06. 1969, in: AAS 61 (1969), S. 473 – 484; Klaus Ganzer/Heribert Schmitz, Motuproprio über die Aufgaben der Legaten des römischen Papstes (NKD 21), Trier 1970; Hollerbach, Entwicklungen (Anm. 191), S. 24 – 27. 196 Vgl. zur Rechtslage gem. CIC/1917 Bruno Primetshofer, Ordensrecht. Auf der Grundlage der nachkonziliaren Rechtsentwicklung unter Berücksichtigung des staatlichen Rechts Österreichs, der Bundesrepublik Deutschland und der Schweiz (rombach hochschul paperback 89), Freiburg 21979, S. 288 – 295; zur kirchenrechtlichen Umsetzung der Vorgabe des Bischofsdekrets vgl. auch Paul VI., Motu Proprio Ecclesiae sanctae vom 06. 08. 1966, in: AAS 58 (1966), S. 757 – 787, hier S. 770 (Nr. 25); Audomar Scheuermann, Die Ausführungsbestimmungen zu den Konzilsweisungen für die Ordensleute, in: Karl Siepen (Hrsg.), Das Konzil und die Orden. Die Lehre des II. Vatikanischen Konzils über den Ordensstand, Köln 1967, S. 110 – 138, hier S. 122 – 138; Heribert Schmitz, Apostolat der Ordensinstitute unter der Autorität des Diözesanbischofs. Zur Spannung zwischen c. 68 § 1 und c. 683 § 1 CIC, in: AfkKR 169 (2000), S. 35 – 83. 197 Vgl. dazu c. 454 § 2 CIC/1917. 195

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konnten.198 Insoweit hat bereits das Dekret Christus Dominus eine Erleichterung geschaffen, als es die Unterscheidung zwischen absetzbaren und unabsetzbaren Pfarrern beseitigt hat (vgl. Art. 31,3 Christus Dominus). In der Folge war das Absetzungsverfahren nach den Bestimmungen über die absetzbaren Pfarrer durchzuführen (vgl. cc. 2157 – 2161 CIC/1917).199 Der wesentliche Unterschied beider Verfahren bestand darin, dass bei unabsetzbaren Pfarrern gegen das Amtsenthebungsdekret ein Einspruch statthaft war, während dieses Dekret bei absetzbaren Pfarrern mit Erlass sofort rechtskräftig wurde. In beiden Fällen freilich konnte gegen das endgültige Dekret des Bischofs Beschwerde beim Apostolischen Stuhl geführt werden. Der CIC/1983 hat das vereinfachte Amtsenthebungsverfahren, bei welchem das Dekret des Bischofs sofort rechtskräftig wird und ein Einspruch auf Diözesanebene nicht statthaft ist, beibehalten (vgl. cc. 1740—1747 CIC). Das Konzil hatte sich im Dekret Perfectae Caritatis über die zeitgemäße Erneuerung des Ordenslebens auch der Frage der Klausur angenommen und in Art. 16 Perfectae Caritatis an der päpstlichen Klausur nur für Nonnen des rein beschaulichen Lebens festgehalten.200 Für die übrigen Orden wurde die Regelung dem Eigenrecht überlassen. Diese Reformanweisung wurde mit c. 667 CIC in geltendes Recht überführt. Das rechtspolitische Anliegen Rohrachers, das (zwecks Förderung von Ordensreformen) auf eine ausdrückliche Verankerung der erst von Papst Pius XII. eingeführten clausura pontificia minor – also einer im Benehmen mit der Religiosenkongregation auf dem Dispenswege gelockerten päpstlichen Klausur – im kodikarischen Recht abzielte, wurde so im Ergebnis sogar überboten. In der Frage der Leichenverbrennung hatte das Heilige Offizium bereits im Jahre 1963 eine Kehrtwende eingeleitet, indem es mit Instruktion vom 5. Juli 1963 feststellte, dass Leichenverbrennung kein intrinsisches Übel darstelle und ein kirchliches Begräbnis daher nur dann zu versagen sei, wenn feststeht, dass diese Begräbnisme198 Vgl. dazu cc. 2147 – 2156 CIC/1917: Der Ordinarius musste zunächst das Vorliegen eines schweren Grundes für die Abberufung mit zwei Prüfern erörtern, anschließend den Betroffenen zum Amtsverzicht einladen. Bestritt der Pfarrer den Absetzungsgrund, musste sein Vorbringen erneut mit den genannten Prüfern erörtert werden. Wurde danach das Abberufungsdekret aufrechterhalten, konnte der Pfarrer hiergegen Rekurs beim Bischof einlegen, der anschließend unter Einschaltung zweier Pfarrer als Konsultoren über den Rekurs zu entscheiden hatte. Ebenso konnte ein inamovibler Pfarrer vom Ordinarius nur kraft einer Spezialvollmacht des Apostolischen Stuhls versetzt werden, vgl. c. 2163 § 1 CIC/1917. 199 Vgl. dazu auch Paul VI., Motu Proprio Ecclesiae Sanctae (Anm. 196), hier S. 768 f. (Nr. 20); Heribert Schmitz, Amtsenthebung und Versetzung der Pfarrer. Verbesserungsvorschläge zum Entwurf der CIC-Reformkommission, in: AfkKR 146 (1977), S. 129 – 140. 200 Zur kirchenrechtlichen Umsetzung der Vorgaben des Dekrets über das Ordensleben vgl. Kongregation für die Ordensleute und Säkularinstitute, Instruktion Venite Seorsum vom 15. 08. 1969, in: AAS 61 (1969), S. 674 – 690; dazu Hugo Schwendenwein, Gitter und Scheidewand, in: ThPQ 118 (1970), S. 364 – 367; Emmanuel von Severus, Instruktion über das beschauliche Leben und die Klausur der Nonnenklöster (NKD 23), Trier 1970. Zur Abschaffung der „kleinen päpstlichen Klausur“ vgl. Scheuermann, Ausführungsbestimmungen (Anm. 196), S. 121.

Erzbischof Andreas Rohracher als Kanonist und Konzilsvater

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thode aus glaubenswidrigen bzw. kirchenfeindlichen Motiven heraus gewählt wurde.201 Dies ist auch die heutige Rechtslage, vgl. c. 1184 § 1 Nr. 2 CIC. Vergleicht man so das reformierte Kirchenrecht mit dem consilium et votum Rohrachers, lässt sich insgesamt feststellen, dass Rohracher mit seinen Anliegen ganz überwiegend durchgedrungen ist. Damit ist noch nicht behauptet, dass sich die Entwicklung des Kirchenrechts in den fraglichen Punkten maßgeblich oder gar ausschließlich der Eingabe und Initiative Rohrachers verdanke.202 Umgekehrt ist freilich zu bemerken, dass Rohracher offenbar ein ausgesprochen gutes Judiz dafür besaß, was anfangs der 1960er Jahre in der kirchlichen Disziplin ebenso dringend wie mit Aussicht auf Verwirklichung als änderungsbedürftig anzusehen war. V. Fazit In der Person Andreas Rohrachers begegnet der keineswegs typische Fall eines Bischofs, der nicht nur über eine gediegene kirchenrechtliche Bildung verfügte, sondern auch die Ehre und Arbeit hatte, an einem Ökumenischen Konzil teilzunehmen. Auf diese illustre Kombination wollte die vorliegende Studie aufmerksam machen. Im Konzil konnte Rohracher seine besondere fachliche Begabung als Kirchenrechtler vortrefflich einbringen, wie seine Tätigkeit im Konzilsgericht, die kanonistische Färbung seiner Eingabe an die Vor-vorbereitende Kommission und seine Animadversion zum Schema über das Ehesakrament belegen. Davon abgesehen ist er im Konzil unauffällig geblieben.203 Auf diese Weise ist er trotz jener hohen Stellung und Verantwortung in der bzw. für die Kirche, die ihm zweifelsohne stets vor Augen stand, zugleich jener geistlichen Identität treu geblieben, die er in seinem Wahlspruch so umschrieben hatte: Der Bischof ist in allem „Diener Jesu Christi“. 201 Vgl. Suprema Sancta Congregatio S. Officii, Instruktion De cadaverum crematione vom 05. 07. 1963, in: AAS 56 (1964), S. 822 f. 202 Für ein diesbezügliches Urteil wären umfangreiche weitere Untersuchungen nötig, die jenseits der Ziele dieses Beitrags liegen. 203 Tatsache ist zunächst, dass Rohracher offenbar nicht das Bedürfnis hatte, durch Wortmeldungen auf sich selbst oder auf bestimmte, vielleicht eher partikuläre Anliegen aufmerksam zu machen. Über tiefere Gründe hierfür kann hier nur spekuliert werden. Vielleicht erachtete er ein exponiertes Auftreten als unvereinbar mit seinem Amt als Konzilsrichter; vielleicht scheute er einen offenen Dissens mit Studienkollegen und akademischen Lehrern aus seiner Zeit am Athenaeum S. Apollinare; und vielleicht haben auch Strategie und Taktik innerhalb der deutschsprachig-skandinavischen Gruppe der Konzilsväter ihren Anteil an diesem Befund: Denn zum einen geriet Rohracher innerhalb dieser Gruppe nicht in die Rolle eines „Schema-Paten“, also eines internen Relators für ein bestimmtes Schema (die genaue Aufschlüsselung der Hintergründe, warum jeweils bestimmte Konzilsväter zu dieser Aufgabe kamen, wäre wohl eine eigene Untersuchung wert); und, teils als Folge hieraus, mag es der deutschsprachig-skandinavischen Gruppe auch unklug erschienen sein, Mitbrüder in der Konzilsaula sprechen zu lassen, die weder Spezialisten für das jeweilige Schema waren noch sich jenes Bonus an Ansehen und Einfluss erfreuten, der in der Konzilsaula mit der Kardinalswürde verbunden war.

II. Katholische Theologie

Schutz der Menschenrechte und Volksidentität im Lehramt von Papst Johannes Paul II.* Von Libero Gerosa Der außerordentliche Einsatz von Papst Johannes Paul II. für die Verbreitung und den Schutz der Menschenrechte ist allen bekannt. Ebenso wird allgemein anerkannt, dass „genau dieses Thema“ eine absolut zentrale Konstante seines päpstlichen Lehramts darstellt. Im Buch „Perch¦ À santo“1 unterstreicht dies ebenso der Postulator des Seligsprechungsverfahrens. Somit wäre es töricht zu behaupten, in einer einzigen Abhandlung eine wissenschaftlich zufriedenstellende Analyse dieser Lehre darlegen zu können. Hier soll ausschließlich einer ihrer originellsten und innovativsten Aspekte beleuchtet werden: Der Pontifex polnischer Herkunft enthüllt und unterstreicht nämlich die inhärente und vitale Verbindung zwischen dem Schutz der Menschenrechte und dem Bewahren der Identität jeder einzelnen Nation. Und dann kann man dies ausgehend von seiner Dichtung „Gedanken über ,VaterlandГ2 tun. Sicher sind die hermeneutischen Kriterien für die Interpretation eines lyrischen Werkes von denjenigen für die Auslegung der lehramtlichen Schriften eines Papstes zu unterscheiden. Jedoch ist es nicht illegitim, auf diesen Text, der aus der Zeit vor seiner Wahl auf die Cathedra Petri in Rom stammt, zurückzugreifen. Aus drei Gründen ist es sogar ratsam. Zuallererst haben Gedichte für jede Generation einen unersetzlichen Stellenwert in jenem Prozess der Ethos-Erarbeitung, durch welchen die Menschen sich den fundamentalen Wahrheiten der Ethik nähern.3 * Übersetzung aus dem Italienischen: Arianna Maineri Luterbacher. 1 Vgl. Slawomir Oder/Saverio Gaeta, Perch¦ À Santo, Milano 2010, S. 108. 2 Die erste italienische Übersetzung dieser Dichtung, welche im Jahre 1974 in polnischer Sprache veröffentlicht wurde, befindet sich in: Karol Wojtiła, Il sapore del pane, hrsg. von Aleksandra Kurczab/Margherita Guidacci, Citt— del Vaticano 1979, S. 124 f.; dasselbe Gedicht wurde später erneut in italienischer Sprache publiziert in: Giovanni Paolo II, Opere Letterarie – Poesie e drammi, Citt— del Vaticano 1993, S. 151 f. Für eine literarische und philosophische Analyse dieses Gedichts vgl. Stanisław Grygiel, Quel pezzo di terra … (una riflessione su „Pensando Patria“ e „Stanisław“), in: Karl Wojtyła, Filosofo, teologo, poeta. Atti del 18 Colloquio internazionale del pensiero cristiano, Organizzato da ISTRA - Istituto di studi per la transizione, Citt— del Vaticano 1984, S. 333 – 344. 3 Vgl. Rocco Buttiglione, Il pensiero di Karol Wojtyła, Milano 1982, S. 266.

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Zweitens gilt dieses Prinzip ganz besonders für den Philosophen und Dichter Karol Wojtyła, denn seine philosophischen Hauptwerke werden fast gleichzeitig mit seinen schönsten Gedichten veröffentlicht: Der erste Traktat in philosophischer Anthropologie „Liebe und Verantwortung“ erscheint sogar im selben Jahr (1960) wie das poetische Drama „Des Goldschmieds Werkstatt“. Einige Jahre vor dem Hauptwerk „Person und Akt“ (1969) wird das Gedicht „Der Steinbruch“ (1965) fertig gestellt. Schließlich dokumentieren all diese Werke mit einer außerordentlichen diskursiven Einheitlichkeit und blendenden logischen Stringenz, dass die Grundkategorien der thomistischen Metaphysik ausgehend von einer phänomenologischen Reflexion über die ethische Erfahrung der Person wiedergewonnen werden können. Dieser intellektuelle Vorgang ist von großer Bedeutung für Juristen und Kanonisten4 und kann im bekannten Axiom „ens et bonum convertuntur“5 zusammengefasst werden. Er stellt die Substanz jenes unumgänglichen kulturellen Hintergrundes dar, den man beachten muss, um die soziale und juristische Lehre von Papst Johannes Paul II. vollumfänglich verstehen zu können. I. Erinnerung, Identität und Person 1. Die wichtigsten Elemente einer originalen Lebenserfahrung Folgendes schrieb und rezitierte der damalige Kardinal und Erzbischof von Krakau im Gedicht „Gedanken über ,VaterlandГ (1974): „Wenn ich ,VaterlandÐ denke, drücke ich mich selbst aus, ich tauche meine Wurzeln ein, Stimme des Herzens, geheime Grenze, die sich von mir aus zu den anderen verbreitet, um alle zu umarmen, bis zur tiefsten Vergangenheit eines jeden: Hieraus tauche ich auf… wenn ich ,VaterlandÐ denke, als läge in mir ein Schatz verborgen. Ich frage mich, wie ich ihn anwachsen lassen kann, wie ich den Raum ausweiten kann, den er ausfüllt.“6

In dieser Strophe beeindrucken einige äußerst faszinierende Binome, anhand derer Wojtyła seine Erfahrung von Heimat beschreibt: „drücke ich mich selbst aus“ (ich tauche auf) und „ich tauche meine Wurzeln ein“, die „tiefste Vergangenheit eines jeden“ als „Schatz“, der „anwachsen“ soll in seiner Eigenschaft als „geheime Grenze, die sich von mir aus zu den anderen verbreitet“, die Heimat als „Stimme des Herzens“ und gleichzeitig „Raum“, den es „auszuweiten“ gilt. Es handelt sich um Vorhergehendes, das schwer befrachtet ist mit organischem und originalem Erlebten. Später wird es in philosophischen Konzepten ausgedrückt, 4 Hierbei handelt es sich um die maßgebliche Einschätzung von Zenon Grocholewski, La filosofia del diritto di Giovanni Paolo II, in: Apollinaris 64 (1991), S. 521 – 548. 5 Vgl. dazu Buttiglione, Pensiero (Anm. 3), S. 89 – 100. 6 Giovanni Paolo II, Opere Letterarie (Anm. 2), S. 151 f. (übers. aus dem Italienischen).

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die wirklich fundamental sind, um die Soziallehre von Papst Johannes II. vollständig verstehen zu können. Folgt man diesem Vorhergehenden, das in den anderen Strophen um die Metapher des „Flusses“ und um das Symbol der „Erde“ ergänzt wird, ist leicht zu ahnen, wie Wojtyła das „Vaterland“ in jener Sprache und Kultur sieht, dank derer ein bestimmtes Land zur „humanen Subjektivität“ wird. Wie in anderen Gedichten, vor allem „Osternacht 1966“ ermahnt, flucht und lobt Wojtyla also nicht. Er beschreibt ganz einfach, „zeigt den Wandel der Herzen, die schonungslose Vertiefung der eigenen persönlichen Wirklichkeit, welche die ehrlich gelebte Existenz gebietet“7. Seine ganze poetische Tätigkeit ist „eine Poesie des Gewissens, welche den Wandel des Lebens beschreibt“. Sie hebt hervor, wie „die gesamte Geschichte die Zeit ist, welche dem Menschen zur Verfügung steht, um Bewusstsein über die Gabe der Erde zu erlangen, und damit sich die Impulse, welche sein Fleisch und Blut bilden, in einem gemäß der Wahrheit geordneten Leben ausdrücken. Dies ist der Lebenssinn jedes Einzelnen sowie jener der Nationen.“8 Die inhärente und vitale Verbindung zwischen Einzelperson und Vaterland taucht im Bewusstsein der menschlichen Person auf und wird im poetischen Werk Wojtyłas bezeugt. Sie stellt das Geheimnis des epochalen Einflusses dar, welchen die Soziallehre des polnischen Papstes später weltweit erlangt hat. Der Postulator des Seligsprechungsverfahrens fasst dies wie folgt treffend zusammen: „Es ist unbestritten, dass Johannes Paul II. die Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts einschneidend beeinflusst hat. Vor allem hat er es allerdings getan, indem er die Hauptrolle der menschlichen Person betonte und indem er ihren Wert verteidigte. Dieses Erinnern an die Würde jedes Menschen stellte ein wertvolles Element der Zusammengehörigkeit dar. Darauf stützte sich zum Beispiel die samtene Revolution in der Tschechoslowakei und die Bewährung der Solidarnosc-Bewegung in Polen, die Gläubige wie Nichtgläubige umfasste. Alle fanden in der Kirche den Raum der Freiheit.“9

Anders gesagt, verschließt die sakrale Verehrung seines Herkunfts- und Vaterlandes das Herz des Papstes nicht. Vielmehr öffnet sie es für die Umarmung aller, gerade weil es sich nach seiner Erfahrung bei Kirche und Vaterland um Räume handelt, wo das Bewusstsein über die unantastbare Würde jedes Menschen bewahrt und entwickelt werden. Für die Nach-Achtundsechziger sind dies nicht unmittelbar nachvollziehbare Gedanken. Denn diese Generationen verwechseln gewöhnlich sowohl innerhalb wie auch außerhalb der Kirche „Autorität“ mit „Autoritarismus“, „Vaterland“ mit „Nationalismus“. Nicht zufällig widmet Papst Johannes Paul II. ein ganzes Kapitel seines wunderbaren Gespräche-Buches „Erinnerung und Identität“10 der Erklärung der Begriffe Vaterland, Nation und Staat. In diesem Zusammenhang nimmt 7

Buttiglione, Pensiero (Anm. 3), S. 276 (übers. aus dem Italienischen). Ebd., S. 275 (übers. aus dem Italienischen). 9 Oder/Gaeta, Perch¦ À Santo (Anm. 1), S. 108 (übers. aus dem Italienischen). 10 Johannes Paul II., Erinnerung und Identität: Gespräche an der Schwelle zwischen den Jahrtausenden, Augsburg 2005, S. 79 – 115. 8

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er auch mehrere Strophen seines Gedichts „Gedanken über ,VaterlandГ wieder auf und kommentiert sie. Gerade aus diesem Grund lohnt es sich, den Text als Grundlage oder hermeneutischen Schlüssel heran zu ziehen für die Relektüre einiger zentraler Klärungen, die die Glaubenslehre betreffen, welche Johannes Paul II. in seinen lehramtlichen Schriften getätigt hat. Es handelt sich um die Erörterungen zur inhärenten Verbindung zwischen den Begriffen „Vaterland“, „Identität der Völker“ und „Schutz der Menschenrechte“. 2. Die wichtigsten Elemente der lehramtlichen Bestätigung Der Vorstellung von „Vaterland“ von Papst Johannes Paul II. sind die ideologischen, nationalistischen Abartigkeiten des 19. und 20. Jahrhunderts völlig fremd. Dies ist in seinem Vortrag vom 2. Juni 1980 vor der UNESCO deutlich zu spüren. Darin unterstreicht er völlig ehrfurchtslos und in betrübter Strenge, wie die Polinnen und Polen das Verständnis des eigenen „Vaterlandes“, also des geistigen Vermächtnisses sowie der Kultur, die sie von ihren Ahnen bekommen hatten, stets beibehielten. Dieser Sinn versiegte selbst dann nicht, als ihnen ihr Land genommen, die Nation zerstückelt und Polen sogar von den Landkarten Europas gestrichen wurde.11 Dies bedeutet, dass für den Pontifex der Begriff des „Vaterlandes“ mit der Wirklichkeit des „Vaters“ (pater) und damit auch mit jener des Erbes (patrimonium) verbunden ist. „Vaterland“ meint dann die Gesamtheit jener materiellen Güter und geistigen Werte, aus welchen sich die Kultur einer bestimmten Nation zusammensetzt, ihre historische Erinnerung. Oft halten die Völker alles, was diese Geschichte ausmacht, im weitesten Sinne als Erzählungen fest, denen sie verschiedene Dokumentformen geben, literarische wie auch juristische. Dank dieser Dokumente verwirklicht sich „eine Kommunikation zwischen den Personen, die einer tieferen Erkenntnis der Wahrheit und damit der Vertiefung und Konsolidierung der jeweiligen Identitäten dient“12. Gerade deshalb gilt in der Soziallehre von Johannes Paul II. das „Vaterland“, analog zur „Familie“, als eine jener Wirklichkeiten oder „natürlichen Gesellschaften“, welche unersetzbar sind, also „nicht das Ergebnis bloßer Konvention“13 sind. Somit gehört das Vaterland direkt zur sozialen Dimension des Menschen und kann nicht durch den Staat ersetzt werden. In der genannten Rede vor der UNESCO präzisiert Papst Johannes Paul II. diesen Gedanken wie folgt: „Der Mensch lebt ein authentisch menschliches Leben dank der Kultur … Die Nation existiert durch die Kultur und für die Kultur. Und gerade aus diesem Grunde ist sie die große Erzieherin der Menschen, damit diese in der Gemeinschaft mehr sein können.“14

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Ebd., S. 82. Ebd., S. 102. Ebd., S. 94. Ebd., S. 111 – 112.

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In dieser sozialen Lehre über das Vaterland treten einerseits die Spuren der persönlichen Erfahrung des Mannes Wojtyła klar zutage. Andererseits werden auch jene biblischen Grundlagen für die Theologie der Nation deutlich, wie sie bereits in der Lehre des Konzils durch „Lumen Gentium“ zum Ausdruck kam: „Zum neuen Gottesvolk werden alle Menschen gerufen… In allen Völkern der Erde wohnt also dieses eine Gottesvolk, da es aus ihnen allen seine Bürger nimmt, Bürger eines Reiches freilich nicht irdischer, sondern himmlischer Natur.“ (LG 13)

Dank der Veröffentlichung seiner ersten Enzyklika „Redemptor hominis“ (1979), in der Papst Johannes Paul II. das Evangelium als „die Prophetie über den Menschen“ und den Menschen als „Sendung der Kirche“15 darstellt, wird allerdings deutlicher oder zumindest leichter erahnbar, dass diese Erklärung der inhärenten Verbindung zwischen der Wirklichkeit des Vaterlands und dem Geheimnis der Person nicht ausschließlich für die Christinnen und Christen gilt. Vielmehr trifft sie auf alle Menschen zu, denn sie ist die Konsequenz der Glaubensgewissheit, welche das Zweite Vatikanische Konzil bekannt gegeben hatte und auch Johannes Paul II. in allen seinen apostolischen Reisen verkündete: „Tatsächlich klärt sich nur im Geheimnis des fleischgewordenen Wortes das Geheimnis des Menschen wahrhaft auf.“ (GS 22) „Denn er, der Sohn Gottes, hat sich in seiner Menschwerdung gewissermaßen mit jedem Menschen vereinigt.“ (GS 22)

Damit hat er dem Menschen eine absolut unantastbare Würde verliehen. Dieser Begriff der Würde jeder einzelnen menschlichen Person ist grundlegend, sowohl für das Verständnis des Begriffs des Vaterlands, als auch für die Rechte des Arbeiters und damit auch für die gesamte Soziallehre der Kirche. Denn der Mensch kommt vor dem Bürger und die Menschenrechte können nicht auf die Bürgerrechte zurückgeführt werden, sondern sind ihre Grundlage und ihr unabdingbarer Bezugspunkt. Johannes Paul II. drückt sich in seiner Enzyklika sehr deutlich aus: „Das Wesen des Staates als politischer Gemeinschaft besteht darin, dass die Gesellschaft, die ihn bildet, das Volk, Herr seines eigenen Geschickes ist… Gerade wegen dieser Voraussetzungen, die der objektiven ethischen Ordnung angehören, können die Rechte der staatlichen Gewalt nicht anders verstanden werden als auf der Grundlage der Achtung der objektiven und unverletzlichen Menschenrechte. Jenes Gemeinwohl, dem die Autorität im Staate dient, ist nur dann voll verwirklicht, wenn alle Bürger ihrer Rechte sicher sind. Andernfalls endet man beim Zusammenbruch der Gesellschaft, gelangt man zum Widerstand der Bürger gegen die Autorität oder zu einem Zustand der Unterdrückung, der Einschüchterung, der Gewalt, des Terrors, wovon uns die Totalitarismen unseres Jahrhunderts zahlreiche Beispiele gegeben haben. Auf diese Weise berührt das Prinzip der Menschenrechte zutiefst den Bereich der sozialen Gerechtigkeit und wird zum Maßstab für ihre grundlegende Überprüfung im Leben der politischen Institutionen.“ (RH 17, 6 und 7) 15

Vgl. ebd., S. 146 – 149.

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Weiter hebt Johannes Paul II. in der Enzyklika „Laborem Exercens“ (1981) hervor: „Dass der Arbeitende nicht nur das geschuldete Entgelt für seine Arbeit erwartet, sondern auch, dass im Produktionsprozess selbst die Möglichkeit erwogen werde, dass er bei seiner Arbeit – auch bei Gemeinschaftseigentum – gleichzeitig das Bewusstsein haben könne, im eigenen Bereich zu arbeiten. Dieses Bewusstsein wird in ihm ausgelöscht bei einem System übermäßiger bürokratischer Zentralisierung, wo sich der Arbeitnehmer eher als Rädchen in einem von oben bewegten Mechanismus vorkommt und sich – aus mehr als einem Grund – eher als bloßes Produktionsmittel denn als echtes Subjekt der Arbeit fühlt, das mit Eigeninitiative begabt ist. Die Lehre der Kirche hat immer die sichere und tiefe Überzeugung zum Ausdruck gebracht, dass die menschliche Arbeit nicht nur mit der Wirtschaft zu tun hat, sondern auch und vor allem personale Werte mitbetrifft. Die volle Achtung dieser personalen Werte gereicht gerade dem Wirtschaftssystem selbst und dem Produktionsprozess zum Vorteil.“ (LE 15)

Die Menschenrechte, die aus der Arbeit hervorgehen, stehen also im weiteren Zusammenhang der Grundrechte der menschlichen Person sowie der natürlichen Gesellschaften (Familie und Vaterland). Letztere können auch im aktuellen Globalisierungsprozess nicht unbeachtet bleiben. Zu Recht erinnert die Zeitung „LÐOsservatore Romano“ aus Anlass des 5. Todestages von Papst Johannes Paul II., dass seine Warnung an die Vereinten Nationen dramatische Aktualität und Gültigkeit bewahrt hat: „Wo die Rechte der Nation verhöhnt werden, können die Menschenrechte nicht eingehalten werden.“16 Höchst aktuell bleibt auch seine Einladung, alles Mögliche dafür zu tun, „dass der Mensch seine tiefste menschliche Identität mit der Zugehörigkeit zu einer Nation verbindet und seine Arbeit auch als eine … Mehrung des Gemeinwohls, … der Güter der ganzen Menschheitsfamilie [versteht]“ (LE 10,3). Diese Einladung wird sicher nicht umgesetzt, wenn die Politik ihre Kontrolle über die Wirtschaft aufgibt. Denn Globalisierungsexperten haben in ihren Analysen beobachtet, dass „der Markt nicht in der Lage ist, sich selbst zumutbare und humane Spielregeln zu geben“17, und diese Wahrheit zu ignorieren kann nur zu verheerenden Zuständen für das Leben des Einzelnen, der Familie sowie für das zivile Zusammenleben führen: „Die Flexibilität braucht Regeln. Eine der künftigen Aufgaben der Soziallehre wird darin bestehen, diese Regeln in einem ausgewogenen Gleichgewicht von Rechten und Pflichten, von Freiheit und Verantwortung, festzulegen. Johannes Paul II. hat bereits zu dieser Reflexionslinie hingeführt. Sie bedarf nun weiterer Präzisierungen und einer organischen konzeptuellen Anordnung.“18

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Bernard Lecompte, Un Papa controcorrente. Giovanni Paolo II a cinque anni dalla morte, in: OssRom 29 – 30 marzo 2010, S. 4. 17 Giorgio Campanini, La dottrina sociale della Chiesa: le acquisizioni e le nuove sfide, Bologna 2007, S. 104 (übers. aus dem Italienischen). 18 Ebd., S. 104.

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Sowohl die Mahnung an die Nationen als auch jene an die Arbeitgeber19 können im Dienst der Wahrung der Menschenrechte unter zwei Bedingungen wirksam werden: (1) Es müssen sich alle politischen Realitäten, einschließlich der großen Demokratien, bemühen um „eine … ständige Revision der Programme, Systeme und Regime …, die unter diesem einzigen grundlegenden Gesichtspunkt zu geschehen hat, dem Wohl des Menschen, das heißt der Person in der Gesellschaft; dieses muss als Grundfaktor des Gemeinwohls das wesentliche Kriterium für alle Programme, Systeme und Regime bilden. Andernfalls ist das menschliche Leben, auch in Friedenszeiten, zu verschiedenen Leiden verdammt; gleichzeitig damit entwickeln sich verschiedene Formen von Vorherrschaft, von Totalitarismus, Neokolonialismus, Imperialismus, die auch das Zusammenleben zwischen den Nationen gefährden. Es ist in der Tat eine bezeichnende Tatsache, die mehrmals durch die Erfahrungen der Geschichte bestätigt worden ist, dass nämlich die Verletzung der Menschenrechte mit der Verletzung der Rechte der Nation Hand in Hand geht; mit ihr ist der Mensch ja durch organische Bande wie mit einer großen Familie verbunden.“ (RH 17,4)

(2) Alle Staaten müssen in ihren Verfassungen nicht nur das Recht auf Religionsund Gewissensfreiheit verankern, sie müssen auch damit aufhören, ausschließlich jene Position als politisch gültig zu erachten, „nach der nur der Atheismus das Bürgerrecht im öffentlichen und sozialen Leben besitzt, während die gläubigen Menschen fast aus Prinzip kaum geduldet oder als Bürger zweiter Klasse behandelt werden oder sogar – was auch schon geschehen ist – der Bürgerrechte völlig beraubt sind.“ (RH 17,8)

II. Konsequenzen für das Staatskirchenrecht Die Lektionen von Johannes Paul II. in Anthropologie, Philosophie und Theologie über die Person in der Gemeinschaft und über die inhärente Verbindung zwischen dem Schutz der Menschenrechte und Volksidentität haben sowohl auf ethischer wie auf juristischer Ebene enorme Konsequenzen. Hier muss man sich darauf beschränken, einige der wichtigsten Folgen dieser Lehre für das Staatskirchenrecht darzulegen. Dabei betrachten wir sie als mögliche Koordinaten, innerhalb derer künftig nach und nach die Umwandlung dieser wissenschaftlichen Disziplin entwickelt wird. In den letzten Jahrzehnten hat sich in vielen europäischen Ländern das Studium des staatlichen Rechts, die christlichen Kirchen betreffend, allmählich in ein vergleichendes Religionsrecht gewandelt. Es handelt sich also um eine Disziplin, welche das staatliche Recht betreffend Kirchen und Religionsgemeinschaften erörtert und dabei die vergleichende Analyse in den Mittelpunkt stellt. Der Grund dafür ist einfach: Gerade durch den fortlaufenden Niedergang der christlichen Kirchen und den Einzug neuer Religionen, welche einen starken identitätsbildenden Charakter in sich 19 Zur Bedeutung dieser Unterscheidung vgl. Nr. 17 der Enzyklika „Laborem exercens“ von Johannes Paul II.

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bergen, z. B. des Islam, sind die Mängel in der traditionellen Ausrichtung dieser Disziplin deutlicher zu Tage getreten. Diese erlebte einen Aufschwung, gerade als man sie irrtümlicherweise in die Vergangenheit verbannen wollte. Eine Erneuerung ihres epistemologischen sowie methodologischen Statuts20 ist absolut notwendig, um den Gesetzgebern zur gerechten Lösung aktueller Probleme geeignete konzeptuelle Instrumente de iure condendo bieten zu können. Nun ist es für alle augenfällig, dass die Religionszugehörigkeit nicht als rein private Angelegenheit betrachtet werden kann, denn jede Religion – und nicht nur der Islam – ist wieder zu einem der wichtigsten kulturellen sowie sozialen Identifikationsfaktoren geworden, sowohl auf persönlicher wie auf kollektiver Ebene. So ist in allen Analysen das vergleichende mit dem fundativen Moment zwingend zu verbinden, denn die starke Verwurzelung der einzelnen juristischen Institutionen und normativen Modelle in der kulturellen und religiösen Geschichte jedes einzelnen europäischen Landes sowie in der Geschichte der zivilen Identität seiner Bürger ist unbestreitbar. Gerade auf dieser Ebene erweisen sich die neuen Koordinaten, welche das Lehramt von Johannes Paul II. setzt, von großem Interesse und letztlich als unabdingbar für eine korrekte Entwicklung des Staatskirchenrechts. 1. Die Religionsfreiheit und die anderen Menschenrechte Das Zweite Vatikanische Konzil bekräftigte in der Erklärung Dignitatis humanae vom 7. Dezember 1965 über die Religionsfreiheit auf feierliche Weise zwei wichtige Prinzipien: (1) Dieses Recht bedeutet, dass alle menschlichen Personen aufgrund ihrer unantastbaren Würde „frei sein müssen von jedem Zwang sowohl von Seiten Einzelner wie gesellschaftlicher Gruppen, wie jeglicher menschlichen Gewalt, so dass in religiösen Dingen niemand gezwungen wird, gegen sein Gewissen zu handeln, noch daran gehindert wird, privat und öffentlich, als einzelner oder in Verbindung mit anderen – innerhalb der gebührenden Grenzen – nach seinem Gewissen zu handeln.“ (DH 2,1) (2) „Die Freiheit als Freisein vom Zwang in religiösen Dingen, die den Einzelnen zukommt, muss ihnen auch zuerkannt werden, wenn sie in Gemeinschaft handeln. Denn die Sozialnatur des Menschen wie auch der Religion selbst verlangt religiöse Gemeinschaften.“ (DH 4,1)

In der Erörterung dieser konziliaren Prinzipien hält Papst Johannes Paul II. fest: (1) „Die Beschränkung der Religionsfreiheit und deren Verletzung stehen im Gegensatz zur Würde des Menschen und zu seinen objektiven Rechten.“ (RH 17.8) (2) Diese Rechte zu schützen impliziert für den Staat zwingend auch „die Achtung der Rechte der Religion und des Wirkens der Kirche. Wir beanspruchen kein Privileg, son20 Zur Notwendigkeit, die juristischen Instrumente des traditionellen Staatskirchenrechts umzugestalten vgl. Libero Gerosa, LÏidentit— laica dei cittadini europei: inconciliabile con il monismo islamico?, Soveria Mannelli 2009, S. 9 – 14; Giuseppe Dalla Torre/Paolo Cavana, Conoscere il diritto ecclesiastico, Roma 2006, S. 181.

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dern die Achtung eines elementaren Rechtes. Die Verwirklichung dieses Rechtes ist eine der grundlegenden Proben für den wahren Fortschritt des Menschen in einem jeden Regime, in jeder Gesellschaft, in jedem System und in jeder Lage.“ (RH 17.9)

Der „von weit her gekommene“ Papst weiß jedoch sehr gut, dass die Förderung und der Schutz der Menschenrechte nichts gemeinsam hat mit den verschiedenen Formen von „Konfessionalismus“ und „religiöser Intoleranz“. Gerade deshalb hat er wiederholt vor den Gefahren gewarnt, die aus jeglicher Verwechslung zwischen der religiösen und der politischen Sphäre hervorgehen: „Besonders heikel sind die Situationen, wo eine eigentlich religiöse Bestimmung Gesetz des Staates wird oder werden soll, ohne dass dabei der Unterscheidung zwischen den Kompetenzen der Religion und jenen der politischen Gesellschaft gebührend Rechnung getragen wird. Die Gleichsetzung von religiösem und staatlichem Gesetz kann die Religionsfreiheit in der Tat unterdrücken und sogar andere unveräußerliche Menschenrechte einschränken oder verweigern.“21

Das Recht auf Gewissensfreiheit – und damit auf Religionsfreiheit – gründet in der ontologischen Würde der menschlichen Person, und nicht in einer vermeintlichen Gleichheit zwischen Religionen und Kulturen!22 Diese feste Überzeugung führt Johannes Paul II. dazu, wiederholt die folgenden drei inhärenten Zusammenhänge zu unterstreichen: (1) die Verbindung zwischen der individuellen Religionsfreiheit und dem Respekt der religiösen Gemeinschaften; (2) der Zusammenhang zwischen dem Recht auf Religionsfreiheit und allen anderen Menschenrechten; (3) die Verbindung zwischen dem Schutz der Menschenrechte und dem Gemeinwohl einer Zivilgesellschaft. Letztere spielt eine absolut entscheidende Rolle. 2. Schutz der Menschenrechte und Gemeinwohl Im pluralistischen Kontext des heutigen Europas, wo in derselben Zivilgesellschaft viele Völker und zahlreiche nicht-christliche Religionen vertreten sind, ist es offensichtlicher denn je, dass das so genannte „Gemeinwohl“ nicht mehr aus der reinen Summe der besonderen Güter jedes einzelnen sozialen Subjekts bestehen kann. Vielmehr handelt es sich um etwas Zusätzliches und Anderes, das notwendigerweise auch die primären Güter des Rechts und der Freiheit umfasst, einschließlich der religiösen Freiheit. So scheint die Definition von „Gemeinwohl“, welche das Zweite Vatikanische Konzil in Gaudium et Spes (Nr. 26) festhielt, aktueller denn je. Sie wird auch im Kompendium der Soziallehre der Kirche bei der Nr. 164 wieder21 Johannes Paul II., Botschaft zum Weltfriedenstag 1991: „Wenn du den Frieden willst, achte das Gewissen jedes Menschen“, dt. Übersetzung in: Dokumentationsarchiv zur Katholischen Soziallehre (DAKS) der Österreichischen Kommission Iustitia et Pax, konsultiert am 30. 10. 2010 unter http://iupax.at/images/Dokumente/pdf_Weltfriedenstag/weltfriedenstag% 201991.pdf. 22 Vgl. dazu Kongregation für die Glaubenslehre, Lehrmäßige Note zu einigen Fragen über den Einsatz und das Verhalten der Katholiken im politischen Leben, 24. November 2002, Nr. 8.

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gegeben. Demnach meint „Gemeinwohl“ folgendes: „Die Gesamtheit jener Bedingungen des gesellschaftlichen Lebens, die sowohl den Gruppen, als auch deren einzelnen Gliedern ein volleres und leichteres Erreichen der eigenen Vollendung ermöglichen“ (GS 26). Gemäß dieser Definition leitet sich das Gemeinwohl eindeutig und zwingend vom fundamentalen Prinzip der Würde, Einheit und Gleichheit aller menschlichen Personen ab, welches in der gesamten sozialen Lehre von Papst Johannes Paul II. eine überaus zentrale Rolle einnimmt.23 Dieses Prinzip sollte in der Verfassung jedes Staates rezipiert und verankert werden, um das Gemeinwohl aller Bürger wirksam verwirklichen zu können. Dies bedingt jedoch, dass zwei weitere Prinzipien durch die Verfassung geschützt werden: (1) „Dem Gemeinwohl muss in umfassender Weise gedient werden: nicht unter dem eingeschränkten Blickwinkel von Teilvorteilen, die daraus gezogen werden können, sondern auf der Grundlage einer Logik, die auf eine denkbar breite Übernahme von Verantwortung abzielt.“ (Nr. 167 des Kompendiums) (2) „Die Träger der Regierungsverantwortung [sind] verpflichtet, das Gemeinwohl ihres Landes nicht nur nach den Maßgaben der Mehrheit, sondern unter dem Blickwinkel des tatsächlichen Wohls aller Mitglieder der Zivilgemeinschaft, also auch der Minderheiten, zu interpretieren.“ (Nr. 169 des Kompendiums)

Die konkrete Umsetzung dieser drei grundlegenden Verfassungsprinzipien (Gleichheit aller menschlichen Personen, Gemeinwohl einer Zivilgesellschaft, Macht im Dienste des objektiven Gemeinwohls) ist im pluralistischen Europa der heutigen Zeit nicht ohne die wirksame und vollständige Religionsfreiheit zu erreichen. Ganz im Gegenteil gibt es ohne den Schutz dieser Freiheit auf individueller und kollektiver Ebene kein objektives Gemeinwohl. Keineswegs entkräftet also das Konzil in seiner Aussage bezüglich der Religionsfreiheit als konstitutives Element des Gemeinwohls einer Zivilgesellschaft die Lehre des großen Laienphilosophen Aristoteles. Vielmehr ergänzt es auf bedeutende Art und Weise seine Ausführungen darüber, dass die Möglichkeit, den eigentlichen Sinn von Gemeinwohl zu erfassen, erst gegeben ist, wenn es an das umfassende oder integrale Wohl jeder menschlichen Person zurückgebunden ist. Dies stellt einen regelrechten „Merkspruch“ in der gesamten anthropologischen Lehre des Philosophen Wojtyła und von Papst Johannes Papst II. dar.24 So bemerkt der heutige Staatssekretär Kardinal Tarcisio Bertone unter Bezugnahme auf das vom griechischen Philosophen verwendete Bild: „… das gemeinschaftliche Leben von Menschen ist etwas deutlich Anderes als das bloße Zusammensein auf einer Weide, was die Eigenheit von Tieren ist. Beim Weiden frisst jedes Tier für sich und versucht – soweit es ihm gelingt – den anderen Nahrung wegzunehmen. In der menschlichen Gesellschaft hingegen kann das Gemeinwohl nur unter Mitwir-

23 Vgl. dazu: Päpstlicher Rat für Gerechtigkeit und Frieden, Kompendium der Soziallehre der Kirche, Freiburg i. Br. 2006, Nr. 164. 24 Dazu vgl. Grocholewski, La filosofia (Anm. 4), S. 536.

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kung aller erreicht werden. Vor allem aber kann das Wohl des Einzelnen nicht verzehrt (also genossen) werden, wenn die Anderen nicht auch daran teilhaben.“25

3. Gemeinwohl einer Zivilgesellschaft und rationales Naturrecht Indem Papst Johannes Paul II. den inhärenten Zusammenhang zwischen dem Gemeinwohl einer Zivilgesellschaft und dem umfassenden Wohl der einzelnen menschlichen Personen hervorhebt, legt er das Fundament dafür, dass sein Nachfolger, Papst Benedikt XVI.26, in seinem Lehramt ausdrücklich und wiederholt den relativistischen Begriff der menschlichen Person anprangern kann. Eine derartige Sicht auf den Menschen zeitigt weitreichende Mängel, wenn es darum geht, seine primären und grundlegenden Rechte zu rechtfertigen, zu fördern und zu schützen. Papst Johannes Paul II. betrachtet also die Gemeinschaft als konstitutive Größe für die menschliche Person und somit die Solidarität als ständige Anlage, um jedem Menschen, als Mitglied einer bestimmten, auf das Erarbeiten des Gemeinwohls ausgerichteten Gemeinschaft, den ihm zustehenden Teil zu erhalten und zu realisieren. Gerade aus dieser Überzeugung heraus hegt Papst Johannes Paul II. also keine Zweifel über die Rolle, welche das Naturrecht in der Grundlegung und dem Schutz der Menschenrechte spielen muss. Sicherlich ist es auch ihm bekannt, dass nicht nur das Naturrecht als Doktrin, sondern der Begriff von Naturrecht selbst seit längerer Zeit stufenweise an den Rand gedrängt und verworfen wurde, vor allem durch die philosophisch-juristischen Strömungen des Historismus und Positivismus.27 Ihre Wurzeln hat diese Ablehnung einerseits in der Auffassung, dass das Recht nicht von der Natur abhängt, sondern ausschließlich vom autonomen menschlichen Willen (Kant). Andererseits gründet sie in der Überzeugung, dass diese Autonomie nichts anderes ausdrückt als den reinen praktischen Willen des Menschen (Rousseau). Dank dem neueren juristischen Relativismus äußert sich diese Ablehnung in der gesamten westlichen Welt derzeit in der Form der weit verbreiteten Meinung, wonach es das von der Natur begründete Gute oder Böse nicht mehr gibt, sondern alles „gemäß den Zeiten und Orten“28 legitim oder illegitim ist. Diesen Kritikern und Gegnern muss man jedoch umgehend entgegenhalten, dass das Naturrecht nicht mit dem Jusnaturalismus verwechselt werden darf, sei er theistischer oder laizistischer Art. Denn ein aufmerksames Studium des Kerntextes der Lehre von Hugo Grotius, welcher einhellig als Initiator der naturrechtlichen Schule anerkannt wird, erlaubt es festzustellen, dass ihm jegliche Form von Fun25

Tarcisio Bertone, LÏetica del bene comune nella dottrina sociale della Chiesa, Citt— del Vaticano 2007, S. 30 – 31 (übers. aus dem Italienischen). 26 Dazu vgl. Gerosa, LÏidentit— laica (Anm. 20) S. 61 – 65. 27 Dazu vgl. Jacques Maritain, Nove lezioni sulla legge naturale, hrsg. von Francesco Viola, Milano 1985, S. 62 und S. 120 f.; über den Zusammenhang zwischen Menschenrechten und Naturrecht vgl. auch Reginaldo Pizzorni, Diritto, etica e religione. Il fondamento metafisico del diritto secondo Tommaso dÏAquino, Bologna 2006, v. a. S. 413 – 446. 28 Benedetto Croce, Filosofia della pratica, Bari 61950, S. 326, hier zitiert nach: Pizzorni, Diritto (Anm. 27), S. 216.

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damentalismus ganz einfach fremd ist, sei dieser nun religiöser oder laizistischer Art. Ausgangspunkte für GrotiusÐ Lehre sind sowohl das aristotelische und ciceronische Argument der natürlichen Geselligkeit des Menschen, als auch jenes von Thomas von Aquin, welcher das Fundament der Rechtsordnung nicht im Willen, sondern in der Vernunft Gottes sah. Auf diesem Hintergrund entwickelt Grotius seine Lehre bezüglich der aus ihrem Inneren rationalen Essenz des Naturrechts. In ähnlicher Weise wie die mathematischen oder geometrischen Wahrheiten kann dieses Recht weder von einer politischen Autorität und nicht einmal von Gott, dem Urheber der Natur, modifiziert werden. Um die Unwillkürlichkeit der naturrechtlichen Normen zu unterstreichen, verwendet Grotius darum im berühmten Passus aus seinen Prolegomena zu De iure belli ac pacis mathematische Ausdrücke wie „So wenig also Gott es bewirken kann, dass zweimal zwei nicht vier sind […]“ oder auch geometrische Vergleiche wie „die Summe der drei Winkel eines Dreiecks sind zwei rechten gleich, nicht weil es jemandem so gefällt (und sei es Gott): sie gründet in der Natur des Dreiecks (später wird präzisiert: euklidisch), etsi Deus non esset“29. Hatte dieser Satz ursprünglich einen konkreten Sinn für das gesamte zivile Leben, so verkam er zur abgegriffenen Formel, als im Laufe des 20. Jahrhunderts die Übereinstimmung zwischen Inhalten der öffentlichen Ethik und solchen der christlichen Moral nach und nach verschwand. Dennoch bewahrt der Kern von GrotiusÐ Lehre über die fundative Rolle des rationalen Naturrechts seine Gültigkeit und höchste Aktualität, sowohl für christliche Gläubige oder Anhänger anderer Religionen, als auch für Nichtgläubige oder Agnostiker30, vor allem im Hinblick auf die Universalisierung und den wirksamen Schutz der Menschenrechte. Im Hinblick auf die Errichtung des Gemeinwohls jeder Zivilgesellschaft als auch auf die Erlangung eines dauerhaften Friedens unter allen Völkern kann es hingegen entscheidend sein, die Stellung des rationalen Naturrechts auf politischer und juristischer Ebene auf korrekte Weise wiederzugewinnen. Dies gilt gerade für eine geschichtliche Periode wie die heutige, da in den großen Demokratien die Tendenz vorzuherrschen scheint, jegliche Erweiterung der so genannten Individualrechte des Bürgers31 anzuerkennen. Der Vater der liberalen Demokratien hatte dies bereits vor geraumer Zeit vorausgesehen, als er sagte: „Sehe ich also, dass irgendeiner Macht das Recht und die Befugnis, alles zu tun, eingeräumt wird, nenne man sie Volk oder König, Demokratie oder Aristokratie, werde sie in einer Mon-

29 V. Mathieu, Le radici romane-cristiane dellÏEuropa e lÏidea di laicit—, in: Francesco dÐ÷gostino/Fabio Macioce (Hrsg.), Il destino dellÏEuropa. LÏanima europea e la sua ambiguit—, Siena 2006, S. 19 – 32, hier S. 29 (übers. aus dem Italienischen). 30 Zur Inkonsistenz der Gegenargumente zum rationalen Naturrecht in den verschiedenen kulturellen und religiösen Bereichen vgl. L. Gerosa, LÏidentit— laica (Anm. 20), S. 65 – 68. 31 Der Analyse dieser als alarmierend eingestuften Tendenz ist ein ganzes Kapitel gewidmet in: R. Fisichella, Identit— dissolta. Il Cristianesimo, lingua madre dellÏEuropa, Milano 2009, S. 95 – 112.

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archie oder in einer Republik ausgeübt, so sage ich: hier ist der Keim zur Tyrannei, und ich trachte, unter anderen Gesetzen zu leben.“32

Bei der Nr. 46 seiner Enzyklika Centesimus Annus bezeichnet dies Johannes Paul II. als eine der empfindlichsten Grenzen der Demokratien am Anfang des dritten Jahrtausends: „Eine Demokratie ohne Werte verwandelt sich, wie die Geschichte beweist, leicht in einen offenen oder hinterhältigen Totalitarismus.“

Er mahnt an, dass „eine wahre Demokratie nur in einem Rechtsstaat und auf der Grundlage einer richtigen Auffassung vom Menschen möglich [ist]“, und wenn das souveräne Volk nicht der Versuchung erliegt, die Wahrheit bezüglich der Menschenrechte als eine simple „Variable“ zu erachten, die „von der Mehrheit bestimmt“ und damit auch den „unterschiedlichen politischen Gleichgewicht[en]“ ausgesetzt ist (CA 46).33 4. Universalisierung der Menschenrechte und Friede unter den Völkern Im Bereich der Förderung und des Schutzes der Menschenrechte werden Einforderungen, welche nicht in der Wahrheit, oder – wenn man so will – in der objektiven Gegebenheit des rationalen Naturrechts gründen, früher oder später eine Schwächung der Menschenrechte und ihrer Universalisierung bewirken, lange vor ihrer kompletten Umsetzung. Auf der Soziallehre von Papst Johannes Paul II. aufbauend, gibt es heute bereits Stimmen, die sachdienlich fragen, ob „es nicht an der Zeit ist, von den Menschenrechten her weiter zu blicken und ebenso die Rechte der Völker anzuerkennen. Wenn der Mensch Rechte besitzt, müssen auch die Völker solche haben, denn sie bilden sich auf der Basis gemeinsamer und geteilter Werte, die eine klar definierte Identität konstituieren. Die Anerkennung dieser Rechte muss die international verbriefte Verpflichtung für die Staaten mit sich bringen, sie auch einzuhalten … [damit] jener consensus omnium gentium erreicht wird, der jeder internationalen juristischen Ordnung zu Grunde liegt und welcher bereits seit der Antike als ius gentium geachtet wurde“34.

Ohne die Rückgewinnung der inhärenten Verbindung zwischen den Menschenrechten und den Völkerrechten, welche das Lehramt von Johannes Paul II. beleuchtet hat, wird der Weltfrieden eine Chimäre bleiben, den Bemühungen der internationalen Organisationen zum Trotz. Bereits Papst Johannes XXIII. betonte in seiner memorablen Enzyklika „Mater et Magistra“: „die gegenseitigen menschlichen Verbindlichkeiten setzen die rechte Bindung des menschlichen Gewissens an Gott voraus“; deshalb ist 32 Alexis de Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika (1835 – 40), München 21984 (Deutsche Übersetzung), S. 291. 33 Für den offiziellen Text der Enzyklika vgl. AAS 83 (1991), S. 793 – 867. Für einen kurzen Kommentar vgl. S. Rylko, Introduzione alla XXIV Assemblea plenaria del pontificio Consiglio per i laici: testimoni di Cristo nella comunit— politica, Roma 20 – 22 maggio (2010), in den noch zu veröffentlichenden Akten der Tagung. 34 Fisichella, Identit— (Anm. 31), S. 99.

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es notwendig, dass alle Menschen „ihre Würde als Geschöpfe, und als Kinder Gottes … erkennen“ (MM 215)35. Darüber hinaus müssen die Christen, wie bereits der Friedensmönch Thomas Merton auf prophetische Art und Weise betonte, „in allen Dingen, bei der Arbeit, in den sozialen Kontakten und im politischen Leben“ so handeln, „als wären die Gerechtigkeit und das objektive Recht für sie lebensnotwendige und grundlegende Tatsachen und nicht bloß tröstende Ideen“36. III. Abschließende Bemerkungen Das Evangelium hat der christlichen Auffassung von Vaterland eine eschatologische Dimension verliehen, ohne ihren zeitlichen Gehalt in geringstem Maße zu verringern. Auch Papst Johannes Paul II. weiß aus seiner persönlichen Erfahrung und aufgrund der polnischen Geschichte, „wie sehr der Gedanke an die ewige Heimat die Bereitschaft, der irdischen Heimat zu dienen, begünstigt hat“37. Gemäß der Lehre des Zweiten Vatikanischen Konzils sollte diese Erfahrung für jeden Christen stets emblematischen Charakter haben, denn „zum neuen Gottesvolk werden alle Menschen gerufen“ (LG 13,1)38: „In allen Völkern der Erde wohnt also dieses eine Gottesvolk, da es aus ihnen allen seine Bürger nimmt, Bürger eines Reiches freilich nicht irdischer, sondern himmlischer Natur. 35 Giovanni XXIII, Enzyklika „Mater et Magistra“, in: Bundesverband der Kath. Arbeitnehmer-Bewegung Deutschlands (Hrsg.), Texte zur katholischen Soziallehre, Köln 71989, S. 268. 36 Thomas Merton, La pace nellÏera postcristiana, Magnano 2005, S. 237 (übers. aus dem Italienischen). 37 Johannes Paul II., Erinnerung (Anm. 10), S. 86. 38 Dies ist das „Incipit“ der Nr. 13 von „Lumen Gentium“, welche vollumfänglich der Beschreibung des einen, universalen, d. h. sich über die gesamte Welt und alle Jahrhunderte erstreckenden Gottesvolkes gewidmet ist. Die Anmerkungen zu diesem Paragraphen verweisen auf zahlreiche Texte der Kirchenväter, und es lohnt sich, hier den emblematischsten zu zitieren, nämlich Nr. 5 des Briefes an Diognet: „Denn die Christen sind weder durch Heimat noch durch Sprache und Sitten von den übrigen Menschen verschieden. Sie bewohnen nirgendwo eigene Städte, bedienen sich keiner abweichenden Sprache und führen auch kein absonderliches Leben. Keineswegs durch einen Einfall oder durch den Scharfsinn vorwitziger Menschen ist diese ihre Lehre aufgebracht worden und sie vertreten auch keine menschliche Schulweisheit wie andere. Sie bewohnen Städte von Griechen und Nichtgriechen, wie es einem jeden das Schicksal beschieden hat, und fügen sich der Landessitte in Kleidung, Nahrung und in der sonstigen Lebensart, legen aber dabei einen wunderbaren und anerkanntermaßen überraschenden Wandel in ihrem bürgerlichen Leben an den Tag. Sie bewohnen jeder sein Vaterland, aber nur wie Beisassen; sie beteiligen sich an allem wie Bürger und lassen sich alles gefallen wie Fremde; jede Fremde ist ihnen Vaterland und jedes Vaterland eine Fremde.“ [Hervorhebung durch den Autor] Quelle: http://www.unifr.ch/bkv/kapitel79 – 4.htm. Die Website [konsultiert am 01. 11. 2010] zitiert das Werk: Frühchristliche Apologeten und Märtyrerakten Band I. Aus dem Griechischen und Lateinischen übersetzt von Dr. Kaspar Julius (Aristides); Dr. Gerhard Rauschen (Justin, Diognet); Dr. Richard Cornelius Kukula (Tatian); P. Anselm Eberhard (Athenagoras), Bibliothek der Kirchenväter, 1. Reihe, Bd. 12, München 1913.

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Alle über den Erdkreis hin verstreuten Gläubigen stehen mit den übrigen im Heiligen Geiste in Gemeinschaft, und so weiß ,der, welcher zu Rom wohnt, dass die Inder seine Glieder sindÐ.“ (LG 13,2)

Diese Präsenz der Kirche in jedem Volk der Erde hat einerseits zur Folge, dass „alle Nationen in ihr [der Kirche] das gleiche Bürgerrecht“39 haben. Andererseits ermöglicht sie jedem christlichen Bürger, in seinem irdischen Vaterland Sauerteig zur Bewahrung des Erbes jener Rechte und Pflichten zu sein, welche es auf konstitutive Art und Weise auszeichnen. So bestätigte auch Papst Benedikt XVI. in seinem Interview, das er Journalisten während des Flugs nach Lissabon am 11. Mai 2010 gewährte: „Ein Volk, das sein Wissen über seine eigene Wahrheit aufgibt, geht in den Labyrinthen der Zeit und der Geschichte verloren, ohne klar umrissene Werte und ohne tiefere, klar benannte Zwecke.“40

Dies stellt wiederum eine lehramtliche Bestätigung der profunden Wahrheit dar, welche in der Dichtung „Gedanken über ,VaterlandГ von Karol Wojtyła enthalten ist: „Schwach ist das Volk, wenn es in die Niederlage einwilligt, wenn es vergisst, dass es berufen ist, wachsam zu sein …“41

Die Pflicht „wachsam zu sein“ obliegt zuerst jedem christlichen Bürger. Er ist dazu berufen, die Wahrheit des Evangeliums in seiner gesamten sozialen Tätigkeit zu bezeugen, selbst wenn noch heute – wie vor zweitausend Jahren – die höchste Form des Zeugnisses das Martyrium bleibt.42 Es ist von grundlegender Bedeutung, sich daran zu erinnern – gerade in einer Epoche wie der heutigen, in der die Menschenrechte weit davon entfernt sind, universal gefördert und geschützt zu werden, und mit ihnen jene der Nationen. Das Zweite Vatikanische Konzil selbst erinnert alle Gläubigen daran, wenn es bekräftigt, dass sie sich „in jeder zeitlichen Angelegenheit vom christlichen Gewissen führen lassen müssen“, und sie sollen genau „unterscheiden lernen zwischen den Rechten und Pflichten, die sie haben“ (LG 36,4). Möglicherweise rührt die heutige, dramatische Verwechslung von Menschenrechten mit Forderungen, die durch rein individualistische Begehren diktiert werden, 39

Johannes Paul II., Erinnerung (Anm. 10), S. 97. Benedikt XVI., Che questa fede diventi vita. Intervista (11. Mai 2010), in: Tracce, Juni 2010, S. 2 (übers. aus dem Italienischen); über das nötige rationale, metaphysische Fundament (logos) einer universellen Friedensethik (ethos) vgl. J. Ratzinger, Fede, Verit—, Tolleranza. Il cristianesimo e le religioni del mondo, Siena 2003, S. 191 – 192. 41 Johannes Paul II., Erinnerung (Anm. 10), S. 100. 42 Während der ersten christlichen Jahrhunderte „war der echte Soldat der Märtyrer“ (Merton, La pace [Anm. 36], S. 236). Doch auch heute bedarf es eines vergleichbaren Mutes und Freiheit, um zu bezeugen, dass die einst der unantastbaren Würde der menschlichen Person zugeschriebenen Rechte „bedingungslos“ (also keinerlei Kompromissen unterworfen) sind sowie „disymmetrisch“ (also auch für jene gelten, welche sie verneinen). Von einem „Zeugnis“ spricht in diesem Zusammenhang auch Francesco dÐAgostino, Il diritto come problema teologico ed altri saggi di filosofia e teologia del diritto, Torino 1997, S. 28. 40

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auch daher, dass die christlichen Bürger ihrer Pflicht zu wenig nachkommen, darüber zu wachen, dass die Inhalte der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, welche im Jahre 1948 von der Generalversammlung der Vereinten Nationen verabschiedet wurde, umgesetzt werden. So erscheint in der Tat die Frage berechtigt, ob sich noch jemand an den normativen Inhalt des Artikels 29 derselben Erklärung erinnert, welche wörtlich verlautbart: „Jeder hat Pflichten gegenüber der Gemeinschaft, in der allein die freie und volle Entfaltung seiner Persönlichkeit möglich ist.“43

Im Lichte der Lehre von Johannes Paul II. über den inhärenten Zusammenhang zwischen dem Schutz der Menschenrechte und Volksidentität stellt sich jedoch für die Christen unserer Zeit eine andere Frage mit dramatischer Dringlichkeit: Wenn die Hauptaufgabe des Zweiten Vatikanischen Konzils darin bestand, allen Christen dabei zu helfen, „den Glauben zur Lebenserfahrung“44 zu machen durch die Annahme eines „Verhaltens der Verantwortung“ in jedem Bereich der menschlichen Existenz, vor allem in der Familie, in der Kultur und in der Politik – auf welche Weise zeigt sich dies alles heute noch in der Zivilgesellschaft? Denn durch ein verantwortungsvolles Verhalten muss sich nicht nur das kirchliche Leben auszeichnen, sondern auch das zivile Leben jedes Gläubigen. Denn die Konzilsväter erklärten: „In Liebe gegenüber ihrer Nation und in treuer Erfüllung ihrer bürgerlichen Aufgaben sollen die Katholiken sich verpflichtet wissen, das wahre Gemeinwohl zu fördern und das Gewicht ihrer Meinung stark zu machen, damit die staatliche Gewalt gerecht ausgeübt wird und die Gesetze der sittlichen Ordnung und dem Gemeinwohl entsprechen.“ (AA 14,1)

Gewiss steht gemäß der Soziallehre von Papst Johannes Paul II. nicht eine konfessionell geprägte politische Präsenz der Katholiken im Fokus dieses Engagements, sondern das Bemühen, den Schutz und die Förderung der Rechte der menschlichen Person so umfassend wie möglich zu verwirklichen.45 So macht er in seiner Botschaft für den XV. Weltfriedenstag (1. Januar 1982) deutlich:

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Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, Art. 29 § 1. Um vollständig zu verstehen, welche Wichtigkeit und Bedeutung Papst Johannes Paul II. dem Zweiten Vatikanischen Konzil beimisst, bleibt der wichtigste Bezugstext das von ihm noch während seiner Zeit als Erzbischof von Krakau im Jahre 1972 geschriebene Buch. Es wurde von Magdalena Franciszka Kujawska ins Italienische übersetzt und trägt den Titel: Alle fonti del rinnovamento, Citt— del Vaticano 1981. Eine umfassende Analyse diese Werks findet sich in: Buttiglione, Pensiero (Anm.3), S. 207 – 264. Zur Bedeutung der Umsetzung des Zweiten Vatikanischen Konzils als Schlüsselargument auch im programmatischen Diskurs von Papst Johannes Paul II. vgl. Stanisław Dziwisz, Una vita con Karol, Milano 2007, S. 63 – 64. 45 Der gesamte dritte Teil des Werks „Alle fonti del rinnovamento“ ist der Bildung der Verhaltensweisen gewidmet, durch die der christliche Glaube, welcher durch das Zweite Vatikanischen Konzil erneuert wurde, in den verschiedenen Lebensbereichen konkret ausgedrückt werden kann; für eine kritische Analyse vgl. Buttiglione, Pensiero (Anm. 3), S. 248 – 264, hier S. 258. 44

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„Die bedingungslose und effektive Einhaltung der unabdingbaren und veränderlichen Rechte eines jeden ist die conditio sine qua non, damit in einer Gesellschaft der Frieden herrsche.“46

Gerade deshalb ist es nicht gewagt, diese Erörterungen über die Art und Weise, wie Johannes Paul II. seine Lehre über die inhärenten Verbindungen zwischen dem Schutz der Menschenrechte und Volksidentität entwickelt hat, mit einer Einschätzung eines maßgebenden Vertreters der laizistischen Kultur, des Kirchenexperten Carlo Cardia, abzuschließen: „Heute können wir sagen, dass Johannes Paul II. derjenige Papst war, der am Meisten mit seiner Nation, Polen, verbunden war, sowie jener, der am Meisten zum Wandel der Welt beigetragen hat.“47

Dies sehen wir in der Tatsache bestätigt, dass Johannes Paul II. die konstitutiven Eigenschaften der originären, universellen Erfahrung eines jeden Menschen, der frei ist von jeglichen ideologischen Zwängen, mit äußerster Klarheit in der eigenen Erfahrung wahrnimmt: „Ich bin Sohn einer Nation, welche die gewaltigsten Erfahrungen der Geschichte erlebt hat – einer Nation, die von ihren Nachbarn mehrmals zum Tode verurteilt wurde, die jedoch überlebt hat und sie selbst geblieben ist. Sie hat ihre Identität beibehalten und trotz der Teilungen und der ausländischen Besatzungen ihre nationale Eigenständigkeit bewahrt, indem sie sich nicht auf die Mittel der physischen Kraft stützte, sondern allein auf ihre Kultur. Diese Kultur hat sich im Bedarfsfall als machtvoller erwiesen als alle anderen Kräfte. Was ich hier in Bezug auf das Recht der Nation auf das Fundament der Kultur für ihre Zukunft sage, ist keineswegs der Reflex eines ,NationalismusÐ, sondern spiegelt ein konstantes Element der menschlichen Erfahrung und der humanistischen Perspektiven der Entwicklung des Menschen wider. Es gibt eine grundlegende Eigenständigkeit der Gesellschaft, die sich in der Kultur der Nation offenbart. Es handelt sich um die Eigenständigkeit, durch die zugleich der Mensch in höchstem Maße eigenständig ist.“48

46 Johannes Paul II., La pace dono di Dio affidata agli uomini (Nr. 9), in: La Pace nella parola di Giovanni Paolo II 1978 – 1982, Collana Magistero 76, Roma/Milano 1982, S. 122 – 140, hier S. 132 (übers. aus dem Italienischen). 47 Carlo Cardia, Karol Wojtyla. Vittoria e tramonto, Donzelli 1994, S. 9. 48 Johannes Paul II., Erinnerung (Anm. 10), S. 112; dieser grundlegende Text für das hier erörterte Thema entspricht der Nr. 14 des Vortrages, der veröffentlicht ist in: Insegnamenti di Giovanni Paolo II, Vol. III/1, Citt— del Vaticano 1980, S. 1647 – 1648.

Menschenrechte in der Kirche – ein Schutz vor Machtmissbrauch* Von Adrian Loretan „Der Streit darüber, ob Menschenrechte überhaupt in der Kirche einen Platz haben, [ist] bis heute noch nicht ausgestanden“1, wie Norbert Brieskorn zu Recht zusammenfasst. Ausgehend davon und vor dem Hintergrund der Missbrauchsfälle der vergangenen Jahre, soll der vorliegende Aufsatz folgenden Fragen nachgehen: Könnte die Geltung von Menschenrechten in der Kirche Machtmissbrauch verhindern? Könnten Menschenrechte den Machtmissbrauch einschränken oder zumindest dazu beitragen, bei der Aufarbeitung von Machtmissbrauch den Opfern zu helfen? I. Theoretischer Teil: Haben Menschenrechte in der Kirche einen Platz? 1. Rechtsphilosophische und rechtstheologische Grundlagendiskussion In Weiterführung von Hegels und Kants Ansätzen ist zu betonen, dass Freiheit und Institution keine Gegensätze, sondern eher Komplementärbegriffe sind. Das bedeutet freilich auch, dass Institution nur als Institution der Freiheit legitimiert werden kann. Es ist ihre Aufgabe, Freiheit zu stimulieren, sie zu schützen und zu stützen. An dieser ihrer Funktion muss sie immer wieder neu kritisch gemessen werden. „In diesem Horizont müsste Kirche als Institution der christlichen Freiheit verstanden werden. Versteht man die Kirche als Institution der christlichen Freiheit, dann ist es ihre Aufgabe, nach innen wie nach außen für die Menschenrechte als Voraussetzung christlicher Freiheit einzutreten“2, so Kardinal Walter Kasper. Es ist damit aufgezeigt, wie Kirche nicht als „klerikale Theokratie“3, sondern als Institution * Dieser Aufsatz basiert auf Vorträgen zum Thema, die an der Theologischen Fakultät der Universität Innsbruck (22. 4. 2010) und an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Potsdam (9. 6. 2010) gehalten wurden. 1 Norbert Brieskorn, Menschenrechte und Kirche, in: StdZ 217 (1999), S. 3 – 14, hier S. 12. 2 Walter Kasper, Theologische Bestimmung der Menschenrechte im neuzeitlichen Bewusstsein von Freiheit und Geschichte, in: Johannes Schwartländer (Hrsg.), Modernes Freiheitsethos und christlicher Glaube. Beiträge zur juristischen, philosophischen und theologischen Bestimmung der Menschenrechte, München 1981, S. 285 – 302, hier S. 301 f. 3 Ebd., S. 301.

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der Freiheit gedacht werden muss. Dieses Denken verlangt allerdings „theologische Zivilcourage“ von den religiösen Menschen, wie Johann Baptist Metz unterstreicht.4 In der Diskussion um die Rechtstheologie in der römisch-katholischen Kirchenrechtswissenschaft treten solche rechtsphilosophische Überlegungen gegenüber der nachkonziliaren theologischen Akzentuierung deutlich in den Hintergrund. Meine Bedenken gegenüber dieser Entwicklung richten sich nicht gegen klare rechtstheologische Grundlagen der Kirchenrechtswissenschaft, sondern gegen bestimmte Theologien des Kirchenrechts, die in Konkurrenz zum Anspruch rechtsphilosophischer bzw. rechtswissenschaftlicher Reflexion geraten. Ich zitiere ein Beispiel: „Im Gegensatz zur staatlichen Gemeinschaft könne der Christ […] gar nicht erst in ein Spannungsfeld zur kirchlichen ,communioÐ, ja zur institutionell vermittelten Kirchlichkeit überhaupt, geraten. Denn sein Christsein sei ihm ja ausschließlich und unmittelbar durch seine vorgängige Bezogenheit auf die kirchliche Gemeinschaft und deren ,geistliche VollmachtÐ [sacra potestas] vermittelt“5, so die theologische Abwehr der Forderungen, die das säkulare Menschenrechtsethos an die Kirche als Institution richtet. „Die Gerechtigkeit, so scheint es, ist dem Vokabular des Kanonisten abhanden gekommen, zerrieben zwischen den Mühlsteinen einer legalistischen Praxis und einer spiritualistischen Rechtstheorie.“6 Eine Kirche, die derart die Gemeinschaft hervorhebt und durch die Weihe „Heilige Gewalt“ (sacra potestas) vermittelt, verharmlost das Phänomen des Machtmissbrauchs in der Kirche.7 Maßnahmen zur Förderung der Eigenverantwortung oder zur Verstärkung der Rechtsschutzeinrichtungen geraten dadurch unter Verdacht. Die Moralisierung des Kirchenrechts, die nicht zwischen personalem Glauben und dessen moralischen Anforderungen und den Grundrechten der Kirchenmitglieder gegenüber den kirchlichen Institutionen unterscheidet, trägt zudem zur Aushöhlung des Rechtsbegriffs in der Kirche bei. Konflikte zwischen Mitgliedern der Kirche und den religiösen Institutionen können dann nur in Formen paternalistischer Fürsorge gelöst werden, da keine Freiheit gewährenden Grundrechte vorhanden sind und entsprechende rechtliche Verfahren nur rudimentär ausgestaltet sind.8 Dieser die Grundrechte in Teilbereichen 4

Vgl. Henning Klingen, Wer steht für die unschuldigen Opfer ein? Ein Gespräch mit Johann Baptist Metz, in: Orientierung 72 (2008), S. 148 – 150, hier S. 150. 5 Eva Maria Maier, Communio versus Gerechtigkeit?, in: ÖARR 52 (2005), S. 63 – 87, hier S. 78. 6 Ebd., S. 63. 7 Vgl. Concilium 24 (1988), Heft 3 zum Thema: Macht in der Kirche. 8 Z. B. hat das Verfahren vor der Kongregation für die Glaubenslehre zum Ziel festzustellen, ob eine bestimmte Lehre mit der regula fidei, also mit der geoffenbarten und vom Lehramt der Kirche vorgelegten Lehre, übereinstimmt. Werner Böckenförde hat vorgeschlagen, dass dieses Verfahren zu einem förmlichen Strafverfahren umgebaut wird. „Ein förmliches Strafverfahren wird der Subjektstellung des Betroffenen besser gerecht als ein Lehrverfahren […] In einem gerichtlichen Strafverfahren wären zwingende Prozessvorschriften zu beachten, ein Verteidiger zu bestellen, Akteneinsicht zu gewähren. Und das Wichtigste: Fragestellung und Beweislast änderten sich. Denn nicht, ob eine Lehre der regula fidei entspricht, wäre zu prüfen, sondern, ob sie der regula fidei widerspricht, wäre zu prüfen […], und das

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ausschaltende religiöse Rechtsbegriff fördert nicht Vertrauen und Akzeptanz der Kirchenmitglieder in ihre eigene Rechtskultur. Das Zurückdrängen der Rechtsphilosophie durch diese Form der Rechtstheologie verdrängt auch die große rechtsphilosophische Tradition des Naturrechts und damit verbunden unter anderem den Gesetzesbegriff des Thomas von Aquin. Anders der baptistische Pfarrer Martin Luther King: Im Gefängnis hat er sich an den Gesetzesbegriff von Thomas erinnert. Für King war ein „gerechtes Gesetz ein von Menschen gemachter Kodex, der mit dem moralischen Gesetz und dem Gesetz Gottes übereinstimmt. Ein ungerechtes Gesetz ist ein Kodex, der nicht mit dem moralischen Gesetz harmonisiert. Um es in den Worten des heiligen Thomas von Aquin zu sagen, ein ungerechtes Gesetz ist ein Gesetz von Menschen, das nicht in der Ewigkeit und im natürlichen Recht verwurzelt ist. Jedes Gesetz, das die menschliche Person entwürdigt, ist ungerecht. Alle Rassentrennungsgesetze sind ungerecht, weil die Rassentrennung die menschliche Seele verzerrt und die Persönlichkeit beschädigt“, so zitiert bei John Rawls, dem wohl wichtigsten Gerechtigkeitstheoretiker des 20. Jahrhunderts.9 2. Lehramtliche Beiträge Die Kirchenrechtswissenschaft hat den Auftrag zu studieren, wie die Grundrechte in der Kirche aussehen könnten: Menschenwürde und Grundrechte gelten nicht nur in der Weltgemeinschaft (communitas hominum), sondern auch in der kirchlichen Glaubensgemeinschaft (communio ecclesialis), da die Grundrechte des Christen als ihr Fundament die menschlichen Grundrechte fordern, so Johannes Paul II.10 Er hat der Kirchenrechtswissenschaft die schwere Aufgabe („arduum sane opus“) gestellt, die Grundrechte der Christen unter dem Anspruch der „wahren Würde der menschlichen Person“, die auch die Menschenrechte umfasst, zu bestimmen. Er sieht die Achtung der Menschenwürde auch dem Kirchenrecht grundlegend aufgegeben. Die Päpstliche Kommission Justitia et Pax schreibt dazu in ihrem Dokument „Die Kirche und die Menschenrechte“: Die in der Gottesebenbildlichkeit begründete Menschenwürde und ihr Menschenrechtsgehalt gelte nicht kraft hierarchischer Zustimmung, sondern sei kraft ihres Vernunftnaturrechtswesens der Kirche auch in

Lehramt wäre gehalten, den Widerspruch aufzuweisen.“ Werner Böckenförde, Menschenrechte in der Kirche? Vortrag am Fachbereich Katholische Theologie der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster vom 3. 5. 1982, S. 31 f. 9 Aus dem Abs. 14 des „Letter from Birmingham Jail“ von Martin Luther King, April 1963, zitiert bei John Rawls, Politischer Liberalismus, 1998, S. 357, Anm. 39. 10 „[…] id quod tanto magis necessarium est, quia eadem iura Christianorum uti fundamentum suum postulant primaria hominis iura.“ Text des Papstes auf dem 4. Internationalen Kongress für Kirchenrecht 1980: Johannes Paul II., Die Grundrechte des Christen in Kirche und Gesellschaft, in: Eugenio Corecco u. a. (Hrsg.), Akten des IV. Internationalen Kongresses für Kirchenrecht, Freiburg i. Ue. 1981, S. XXXII – XXXIII.

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ihrem eigenen Bereich aufgegeben. Deshalb seien „Grundrechte innerhalb ihrer eigenen Organisation“11 zu achten und anzuerkennen. Weiter formuliert das Zweite Vatikanische Konzil mit demselben Menschenrechtsethos: Es gebe „in Christus und in der Kirche keine Ungleichheit aufgrund von Rasse und Volkszugehörigkeit, sozialer Stellung oder Geschlecht“ (LG 32). Daher müsse „jede Form einer Diskriminierung […] beseitigt werden, da sie dem Plan Gottes widerspricht“ (GS 29). Und Johannes XXIII. formulierte kurz vor seinem Tod sein Glaubensbekenntnis in Erinnerung an seine Menschenrechtsenzyklika „Pacem in terris“: „Mehr denn je, bestimmt mehr als in den letzten Jahren, sind wir heute darauf ausgerichtet, dem Menschen als solchem zu dienen, nicht bloß den Katholiken, darauf ausgerichtet, in erster Linie und überall die Rechte der menschlichen Person und nicht nur diejenigen der katholischen Kirche zu verteidigen.“12

Das Lehramt kennt also eine lange Tradition der naturrechtlichen Argumentation und seit 1963 mit „Pacem in terris“ eine Weiterführung in der menschenrechtlichen Argumentation. 3. Sind Menschenrechte in den Kirchen verantwortbar? „So unzweifelbar der Gedanke der Menschenrechte sich [u. a.] unter christlichem Einfluss entwickelt hat, so unzweifelbar ist zugleich, dass er gegen erheblichen kirchlichen Widerstand durchgesetzt werden musste.“13 Wolfgang Hubers Aussage weist auf eine der Hauptschwierigkeiten des Grundrechtsdiskurses in der Kirche hin: Lassen sich Glaubenswahrheiten einerseits und subjektive, am neuzeitlichen Autonomiebegriff orientierte Freiheitsrechte andererseits in den Kirchenordnungen verbinden?14 Sind Menschenrechte in der Kirche theologisch überhaupt zu verantworten?

11 Justitia et Pax, Die Kirche und die Menschenrechte. Ein Arbeitspapier der Päpstlichen Kommission Justitia et Pax, in: dies., Entwicklung und Frieden 1975 (dt: München 1977), Nr. 60 – 62, vgl. Nr. 92. 12 Johannes XXIII. [Ohne Titel], in: Orientierung 52 (1988), S. 109, oder in: Ludwig Kaufmann/Nikolaus Klein (Hrsg.), Johannes XXIII., Prophetie im Vermächtnis, Brig 1990, Titelseite. 13 Wolfgang Huber, Menschenrechte – Christenrechte, in: Landeskirchenvorstand im Auftrag der Synode der evangelisch-reformierten Kirche in Nordwestdeutschland (Hrsg.), Recht nach Gottes Wort. Menschenrechte und Grundrechte in Gesellschaft und Kirche, Neukirchen 1989, S. 82 – 99, hier S. 82. 14 Vgl. Felix Hafner, Kirchen im Kontext der Grund- und Menschenrechte, Freiburg i. Ue. 1992, S. 174.

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a) Aus sozialwissenschaftlicher Sicht Die großen Kirchen sind auf Grund ihrer Organisationsstruktur als potentiell grundrechtsgefährdende Macht dem Staat durchaus vergleichbar. Denn zur Erreichung ihrer ideellen Ziele müssen auch sie materielle, soziale und politische Interessen vertreten, was Machtausübung mit sich bringt, Machtkonflikte in sich birgt und Machtmissbrauch nicht ausschließt. Es ist deshalb förderlich, „dass die Rechte der Personen in geeigneter Weise umschrieben und sichergestellt werden. Dies bringt mit sich, dass die Ausübung der [heiligen] Gewalt deutlicher als Dienst erscheint, ihre Anwendung besser gesichert und ihr Missbrauch ausgeschlossen wird“15, so die katholischen Bischöfe auf der Bischofssynode von 1967. Grundrechte können zwar nicht den Missbrauch der „heiligen Gewalt“ ausschließen. Sie sind aber ein klares Instrument gegen den Machtmissbrauch in der Kirche. Damit dieser Machtmissbrauch hier nicht als etwas rein Theoretisches erscheint, erinnere ich an die sexuellen Übergriffe von religiösen Machtträgern, Priestern und Pastoren in den Kirchen. „Für das Erzbistum Boston wird laut Staatsanwaltschaft von über 1000 Fällen sexuellen Missbrauchs seit 1940 ausgegangen.“16 Hätte die katholische Kirche die innerkirchlichen Grundrechte wirklich so ausgebaut, wie es die Bischöfe 1967 gefordert hatten17, so hätte sie sich im wörtlichen Sinne einiges ersparen können. Jetzt bietet allein das Erzbistum Boston den mutmaßlichen Opfern sexuellen Missbrauchs durch Priester umgerechnet rund 74 Millionen Franken Schadenersatz an.18 Das ist erst der Anfang: Die finanziellen Entschädigungen an die Opfer werden die katholische Kirche noch sehr teuer zu stehen kommen. In Irland wurde ein Gremium eingesetzt, das über die Entschädigungen an die Opfer des institutionellen Missbrauchs entscheidet. „2741 Entschädigungszahlungen sind bereits geleistet worden. Sie betragen durchschnittlich gut 63 000 Euro. Das Maximum – das bisher nur einmal gewährt wurde – liegt bei 300 000 Euro. Wenn aufgrund dieser Angaben die zu erwartende Gesamtsumme errechnet wird, ergibt sich ein Mittelbedarf von knapp einer Milliarde Euro. Zusammen mit den Anwaltskosten dürfte die Rechnung

15

Praefatio, Vorrede zum CIC/1983, Lateinisch – deutsche Ausgabe, 5., neu gest. u. verb. Aufl., Kevelaer 2001, S. XXXVII. 16 Erzbistum Boston bietet Schadenersatz an, in: SKZ 171 (2003), S. 584. 17 Vgl. CIC/1983, Praefatio (Anm. 15), S. XXXVII. 18 Vgl. Erzbistum Boston bietet Schadenersatz an (Anm. 16), S. 584. Vgl. Myriam Wijlens, Bischöfe und Ordensoberen und ihre Aufgabe hinsichtlich sexuellen Missbrauchs in der Kirche, in: Herbert Ulonska/Michael Rainer (Hrsg.), Sexualisierte Gewalt im Schutz der Kirchenmauern. Anstösse zur differenzierten (Selbst-)Wahrnehmung, Münster 2003, S. 163 – 187.

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dereinst 1.3 Milliarden Euro betragen.“19 In den USA haben die Opferklagen Diözesen in den Ruin getrieben. Das Kirchenrecht müsste daher aus sozialwissenschaftlicher Sicht die Gläubigen vor Machtmissbrauch schützen und könnte dies am wirkungsvollsten mittels durchsetzbarer Menschenrechte bzw. Grundrechte gewährleisten. Daher bedarf es aus sozialwissenschaftlicher Sicht der Menschenrechte in den Kirchen. b) Aus rechtsphilosophischer Sicht Machtmissbrauch sowohl in Kirche als auch im Staat geschah häufig im Namen der religiösen Wahrheit. Immanuel Kant versuchte in seiner Philosophie, Situationen des – politischen und religiösen – Zwangs und der Gewalt zu Gunsten von Vernunft und Recht zu überwinden. „Ähnlich wie jeder Mensch mit der Verkehrung der Grundsätze sittlichen Handelns den Fall Adams existentiell wiederholt, so lastet auch auf jeder religiösen Institution eine Art von ,ErbschuldÐ, nämlich der Hang zur eigenen Verabsolutierung.“20 Kant warnt vor den sich im Besitz der Wahrheit Wissenden. Aus Sicht der Kirchenmitglieder bedeutet dies, dass sie nicht nur dem Staat, sondern auch der Kirche eine „Magna Charta“ der Menschenrechte abringen müssen. c) Aus theologischer Sicht aa) Sozialethische Anerkennung der Menschenrechte Vor allem angesichts des Aufkommens totalitärer Staaten im 20. Jahrhundert erkannten die Kirchen zunehmend ihre Aufgabe, für Menschenwürde und Menschenrechte einzutreten. Doch der Übergang der Kirchen zu einer positiven Bewertung der Menschenrechte blieb lange Zeit ohne zureichende theologische Begründung. So begann die theologische Reflexion über die Menschenrechte in den 1960er Jahren im Anschluss an die Enzyklika „Pacem in terris“ (1963) von Johannes XXIII. Eine theologische Begründung liefert das Zweite Vatikanische Konzil: „Da alle Menschen […] nach Gottes Bild geschaffen sind, […] muss die grundlegende Gleichheit aller Menschen immer mehr zur Anerkennung gebracht werden. […] Jede Form einer Diskriminierung in den gesellschaftlichen und kulturellen Grundrechten der Person […] muss überwunden und beseitigt werden, da sie dem Plan Got19 Martin Alioth, Irlands qualvolle Suche nach der Wahrheit. Zahlreiche Missbrauchsopfer bereits entschädigt – Mangelnde Offenheit bei der kirchlichen Führung, in: Neue Zürcher Zeitung vom 19. März 2010, Nr. 65, S. 3. 20 Odilo Noti, Religion und Gewalt. Eine theologisch interessierte Erinnerung an Immanuel Kant, in: Dietmar Mieth/Ren¦ Pahud de Mortanges (Hrsg.), Recht – Ethik – Religion. Der Spannungsbogen für aktuelle Fragen, historische Vorgaben und bleibende Probleme, Bundesrichter Giusep Nay zu Ehren, Luzern 2002, S. 134 – 145, hier S. 143.

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tes widerspricht“ (GS 29). Der Einsatz für die Menschenrechte ist deshalb nicht eine nur philosophisch begründete Pflicht, sondern gehört konstitutiv zum Zeugnis des Evangeliums. Der Evangelist Johannes zeigt dies auf eindrückliche Weise. Er schreibt beim letzten Abendmahl: Jesus „stand vom Mahl auf, legte sein Gewand ab und umgürtete sich mit einem Leinentuch. Dann goss er Wasser in eine Schüssel und begann den Jüngern die Füße zu waschen und mit dem Leinentuch abzutrocknen“ (Joh 13,4 – 5). Darum nennen sich Machtträger in Kirche und Staat „Diener“. „Diener aller Diener“ ist ein Ehrentitel des Papstes. Diener heißt auf Lateinisch „minister“ und wird heute noch in sehr vielen Staaten als Titel für die Regierenden verwendet. Aber Diener einer Institution sollte sich ein Machtträger nur nennen, wenn er auch die grundlegenden Rechte der Mitglieder anerkennt. Macht in Kirche und Staat soll damit als Dienst an der Gemeinschaft verstanden werden. Bekanntlich kann Macht jedoch auch für persönliche Ziele missbraucht werden. Eine Institution, die wie die katholische Kirche eine Milliarde Euro in Irland als Wiedergutmachung für Machtmissbrauch an die Opfer sexueller Gewalt ihrer Dienstträger zu bezahlen hat, wird sich überlegen müssen, ob dies in der Tat nur Einzelfälle sind – 35 000 Beschwerden nur in Irland21 – oder ob es auch strukturelle Probleme in dieser Institution gibt. Damit Macht in der Kirche vermehrt als Dienst an der Gemeinschaft im Sinne des Evangeliums verstanden würde, haben die Bischöfe 1967 verlangt, dass die Menschenrechte auch in der Kirche gewährt werden müssen. Ein Mittel gegen den Machtmissbrauch sahen die Bischöfe in den Menschenrechten bzw. den Grundrechten, die von allen Mitgliedern vor kirchlichen Gerichten eingeklagt werden können. Der CIC 1983 spricht heute allerdings nur an einer Stelle von „iura fundamentalia“, von Grundrechten, nämlich im c. 747 § 2. Hier beansprucht die Kirche, „sittliche Grundsätze auch über die soziale Ordnung zu verkündigen, … insoweit die Grundrechte der menschlichen Person … dies erfordern“. Mit anderen Worten, die Kirche will bei der Weiterführung der Menschenrechtsdiskussion mitreden. Will eine Institution für die Menschenrechte nach außen glaubwürdig auftreten, steht sie vor der Frage, wie sie selbst die Menschenrechte nach innen anwendet. Wer Menschenrechte nach außen predigt, aber Menschenrechte in der eigenen Organisation nicht umsetzt, hat ein Glaubwürdigkeitsproblem. bb) Ist die Glaubwürdigkeit der Kirche ohne Menschenrechte denkbar? Im heutigen Westeuropa ist die Kirchenzugehörigkeit immer mehr eine subjektive Entscheidung. Je größer aber der Graben zwischen kirchlichem Recht und allgemei-

21

Eine Übersicht zum „Missbrauch weltweit“ vgl. profil 16 vom 19. April 2010, S. 80.

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nem Rechtsbewusstsein ist, umso eher ist die Frage erlaubt, „ob die Kirchen überhaupt noch Tradierungsfähigkeit besitzen“22. Für den ehemaligen Präsidenten des Rates der Evangelischen Kirchen Deutschlands23, Wolfgang Huber, setzt ein glaubwürdiges Eintreten der Kirchen für die Menschenrechte in der Gesellschaft „eine Klärung der Frage voraus, ob und in welchem Umfang und welcher Transformation derartige Rechte auch innerhalb der Kirche selbst Gültigkeit beanspruchen können“24. Der Kirchenrechtler Papst Paul VI. hat unmissverständlich festgestellt, dass der Einsatz der Kirche für die Menschenrechte eine dauernde Selbstprüfung und Reinigung ihres eigenen Lebens, ihrer Gesetze, Institutionen und Handlungsweisen verlangt.25 Er regte die Prüfung der Frage an, „ob es angezeigt sei, ein gemeinsames und grundlegendes Gesetzbuch (Codex fundamentalis) zu schaffen, das das Verfassungsrecht der Kirche (ius constitutivum Ecclesiae) enthalte“.26 cc) Innerkirchliche Menschenrechtsgeltung Wie können Menschenrechte für den innerkirchlichen Bereich adaptiert werden? Dafür bedarf es auch theologischer Grundlagen, die im Folgenden skizziert werden. (1) Im evangelischen Bereich Einen eigentlichen Katalog von Grundrechten in der Kirche, der als Vorbild für (evangelische und reformierte) Kirchen gelten kann, hat Wolfgang Huber ausgearbeitet. Aber auch andere Kirchen werden um diesen Grundrechtskatalog nicht herumkommen, wenn eine theologisch und rechtlich differenzierte Grundrechtsdiskussion in der entsprechenden Kirche entfaltet werden soll.27

22 Dagmar Stuer-Flieser, „Grundrechte“ im Codex Iuris Canonici von 1983 im Vergleich mit dem deutschen Grundgesetz. Eine exemplarische Untersuchung anhand der Wissenschaftsfreiheit, Baden-Baden 1999, S. 92. 23 Em. Bischof der Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg/Schlesische Oberlausitz. 24 Wolfgang Huber, Grundrechte in der Kirche, in: Gerhard Rau/Hans-Richard Reuter/ Klaus Schlaich (Hrsg.), Das Recht in der Kirche, 1. Bd., Gütersloh 1997, S. 518 – 544, hier S. 528. 25 Vgl. Papst Paul VI., Botschaft über Menschenrechte und Versöhnung, aus Anlass der Bischofssynode von 1974, deutsche Übersetzung in: HK 28 (1974), S. 624. 26 Winfried Aymans, Das Projekt einer Lex Ecclesiae Fundamentalis, in: Joseph Listl/ Hubert Müller/Heribert Schmitz (Hrsg.), Grundriss des nachkonziliaren Kirchenrechts, Regensburg 1979, S. 39 – 51, bes. S. 40 – 41. Vgl. Winfried Aymans, Das Projekt einer Lex Ecclesiae Fundamentalis, in: HdbKathKR1, S. 65 – 71. 27 Vgl. Huber, Grundrechte in der Kirche (Anm. 24), S. 518 – 544, hier S. 537 – 544.

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(2) Im katholischen Bereich Im Gegensatz zum vorkonziliaren Verständnis von Kirche als Gemeinschaft der Ungleichen (societas inaequalis) betont das Zweite Vatikanische Konzil die vera aequalitas, die wahre Gleichheit der Gläubigen.28 Über diese Gleichheit rückte der gemeinsame rechtliche Grundstatus aller Gläubigen in den Vordergrund und damit verbunden die Frage nach der verfahrensmäßigen Sicherung der Grundrechte. Die Bischofssynode von 1967 approbierte zehn Leitsätze zur Revision des neuen Gesetzbuches der katholischen Kirche. Diese Leitsätze forderten unter anderem den Schutz der Menschenrechte und der Christenrechte sowie die verfahrensmäßige Sicherstellung des Schutzes der subjektiven Rechte in der Kirche. Das neue Kirchenverständnis29 mündete fast „zwangsläufig in die Anerkennung von Fundamentalrechten innerhalb der kirchlichen Rechtsordnung“30. Auch das von Papst Paul VI. angeregte Projekt der Lex Ecclesiae Fundamentalis zeugt von dem Bemühen, Grundrechte auch in der Kirche zu verwirklichen. Dagegen wurde u. a. eingewandt, dass die Gewährleistung von Freiheit in der katholischen Kirche an der Verpflichtung gegenüber der Wahrheit ihre Grenze habe, für deren Beachtung das kirchliche Lehramt eine besondere Verantwortung trage. „Eine befriedigende theologische Antwort auf die neuzeitliche Freiheitsproblematik ist … nur im Rahmen einer umfassenden Theologie der Freiheit möglich.“31 Da heute „jedoch der CIC 1983 von einem ,schrankenlosen Vorbehalt zugunsten der kirchlichen AutoritätÐ ausgeht, kann von Grundrechten in einem strikten Sinn nicht die Rede sein; denn deren Wesen besteht darin, dass sie der Ausübung von amtlicher Autorität Schranken setzen“32. 4. Theologische Rechtsbegründungen im Zeichen der Freiheit a) Der säkulare Personenbegriff Der säkulare Personenbegriff hat eine eigene theologische Tradition, die über Jahrhunderte von den Kirchen selbst übersehen wurde. Das Wissen um die Würde jedes einzelnen Menschen unabhängig von Volkszugehörigkeit, sozialer Stellung oder Geschlecht ist in der Bibel verankert, wie die alte Taufformel belegt, die Paulus schon vorfand: „Es gibt nicht mehr Juden und Griechen, nicht Sklaven und Freie, 28

Vgl. LG 32, vgl. auch c. 208 CIC/1983. Vgl. Eva-Maria Faber, Das II. Vatikanische Konzil und die Entdeckung des Volkes Gottes (I), in: SKZ 178 (2010) S. 76 – 79; dies., Das II. Vatikanische Konzil und die Entdeckung des Volkes Gottes (II), in: SKZ 178 (2010), S. 105 f. und S. 111 – 113. 30 Felix Hafner, Kirchen im Kontext der Grund- und Menschenrechte, Freiburg i. Ue. 1992, S. 189. 31 Vgl. Walter Kasper, Wahrheit und Freiheit. Die „Erklärung über die Religionsfreiheit“ des II. Vatikanischen Konzils, Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-historische Klasse, Heidelberg 1988, S. 5 – 41, hier S. 38. 32 Huber, Grundrechte in der Kirche (Anm. 24), S. 531. 29

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nicht Mann und Frau; denn ihr alle seid einer in Christus.“33 Die Würde jedes einzelnen Menschen ist in der Gottebenbildlichkeit begründet: „Als Abbild Gottes schuf er ihn. Als Mann und Frau schuf er sie“ (Gen 1,27). Die Gleichheitsforderung dieser biblischen Texte ist aber vom Rechtsinstitut der Menschenrechte noch weit entfernt, wie der Rechtsphilosoph Otfried Höffe anmerkt.34 Denn die allen Menschen gemeinsame Würde wurde weder in der Spätantike noch im Mittelalter zum Orientierungspunkt für die kirchliche oder die politische Ordnung. Bis in die Neuzeit hinein unterschied der Personenbegriff des westlichen Rechtsdenkens zwischen zwei Gruppen: den Getauften und den Nichtgetauften. So war die menschliche Würde und damit das Person-Sein weithin das Privileg der Christen. Häretiker, Juden und Heiden konnten auf diese Würde und die damit verbundenen Personenrechte keinen Anspruch erheben. Judenpogrome, Kriege und Hexenverbrennungen waren die Folge. Durch Impulse der naturrechtlichen Spätscholastik, des Humanismus, der Reformation und der Aufklärung kam es zu einer Wende im Menschenbild. Nun trat der Gedanke in den Vordergrund, dass alle Menschen, nicht nur die Christen, über gleiche Würde und Personenrechte verfügen. Jeder Mensch erhielt damit das Recht, seine Religion selbst zu wählen. Insofern stand die Religionsfreiheit von Anfang an im Zentrum des neuzeitlichen Menschenrechtsdenkens. b) Die neuzeitliche Freiheitsidee in der Kirche Die neuzeitliche Freiheitsidee – verstanden als Autonomie des Menschen im Zeichen sittlich verantworteter Willensbestimmung – wird vom Wiener Rechtsphilosophen Gerhard Luf auch für die Rechtsordnung der Kirche fruchtbar gemacht.35 Freiheit im Sinne der Aufklärung bedeutet keineswegs Bindungslosigkeit. Es geht vielmehr darum, die Fremdbestimmung abzuschütteln und diese durch Bindung zu ersetzen, die aus Einsicht erfolgt. So wird in den modernen Ekklesiologien die Freiheit betont. Karl Rahner meinte, dass in der katholischen Kirche seit dem Apostel Paulus nicht mehr oft von der Freiheit des Christen die Rede gewesen sei. Der vergessene Freiheitsbegriff hat jedoch seit den 50er Jahren wieder Einzug gehalten. Seither gilt der Ruf zur christlichen Freiheit im Anschluss an Paulus (Röm 8,21; Gal 5,1) als Kurzformel der christlichen Botschaft (Walter Kasper) oder es wird „der christliche Glaube als Philosophie der Freiheit“ bezeichnet (Joseph Ratzinger). Diesen Freiheitsaspekt bedenkt der Kirchenrechtler Peter Krämer: Kirchliches Recht ist legitim, sofern es das Recht auf religiöse Freiheit zur Geltung bringt. „In der Kirche wird es immer legitimerweise ein 33

Gal 3,28; vgl. LG 32 und c. 208 CIC/1983. Vgl. Otfried Höffe, Vernunft und Recht. Bausteine zu einem interkulturellen Rechtsdiskurs, Frankfurt a. M. 1996, S. 101 – 102. 35 Vgl. Gerhard Luf, Rechtsphilosophische Grundlagen des Kirchenrechts, in: HdbKathKR1, S. 24 – 32. 34

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polares Spannungsverhältnis im Gegenüber von Individuum und kirchlicher Gemeinschaft geben müssen. Communio ist nicht Identität.“36 Die Spannung kann individualistisch (zu Lasten der Gemeinschaft) oder kollektivistisch (zu Lasten des Individuums) aufgelöst werden. Beides ist für die kirchliche Communio ungesund.37 aa) Individuelle Verwirklichung von Freiheit Die Würde des Menschen verlangt, dass er personal, von innen her bewegt und nicht unter bloß äußerem Zwang handelt.38 Papst Paul VI. verfügte, dass allen Gläubigen die notwendige Entscheidungsfreiheit eingeräumt wird, damit das geistliche Leben aus der eigenen Gewissensverantwortung erwachsen kann und nicht durch Rechtsvorschriften erzwungen wird. Er bezeichnete es als die vornehmste Aufgabe des Kirchenrechts, dass es einen Raum wahrer Freiheit ermöglicht.39 bb) Gemeinschaftliche Verwirklichung der Freiheit Die neuzeitliche Freiheitsidee hat ihre gemeinschaftsbezogene Ausfaltung in der Entwicklung zum demokratischen Verfassungsstaat erfahren. Davon sieht Joseph Kardinal Ratzinger das Leben der Kirche in der Gegenwart wesentlich mitgeprägt. Er wertet die Versuche einer so genannten Demokratisierung der Kirche als die konkrete Weise, wie sich das Ringen um Freiheit in der Kirche heute abspielt.40 Nach Vaticanum II hat das Recht der Kirche nicht nur das Recht der Wahrheit (geistliche Autorität), sondern auch das Recht des Subjekts, das Recht der persönlichen Würde der Getauften (Menschenrechte in der Kirche) zu schützen. Diese neuzeitliche Gestalt des Kirchenrechts wäre zugleich eine christlichere Gestalt des kirchlichen Rechts. Das Kirchenrecht wird verstanden als Funktion der Wahrheit und der Freiheit.

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Peter Krämer, Menschenrechte – Christenrechte. Das neue Kirchenrecht auf dem Prüfstand, in: Andr¦ Gabriels/Heinrich J.F. Reinhardt (Hrsg.), Ministerium Iustitiae (FS Heribert Heinemann), Essen 1985, S. 169 – 177, hier S. 172. 37 Kirchliche Gemeinschaft zielt darauf hin, eine tiefere Gemeinschaft der Menschen mit Gott und untereinander zu ermöglichen (LG 1). Die Kirche lebt aus der Gemeinschaft in Wort und Sakrament, was am deutlichsten in der Feier der Eucharistie bezeugt wird. Die Gemeinde feiert mit dem gekreuzigten und auferstandenen Jesus Christus. Kirchliches Recht ist legitim, wenn es der Verwirklichung eines lebendigen Glaubensvollzuges dient und dazu beiträgt, den Gehalt des Glaubens zu schützen. 38 Vgl. GS 17. 39 Vgl. lat. in: AAS 69 (1977), S. 211 ff. 40 Vgl. Joseph Ratzinger, Freiheit und Bindung, in: Eugenio Corecco (Hrsg.), Die Grundrechte des Christen in Kirche und Gesellschaft, Freiburg i. Ue. 1981, S. 40. Vgl. ders., Demokratisierung der Kirche?, in: ders. u. a., Demokratie in der Kirche. Möglichkeiten und Grenzen, München 22005, S. 7 – 46.

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II. Praktischer Teil: Eine Form des Machtmissbrauchs (sexuelle Gewalt) – Rechtliches Vorgehen bei sexueller Gewalt in der Kirche 1. Das Zusammenwirken von staatlichem und kirchlichem Recht Mit den Fällen von sexueller Gewalt in der Kirche sind auch viele rechtliche Fragen aufgebrochen: Wie soll man angemessen auf die Verdachtsfälle von sexuellen und anderen gewalttätigen Übergriffen und auf Machtmissbrauch von kirchlichen Amtspersonen reagieren? Wie ist das Versagen der kirchlichen Personalverantwortlichen rechtlich zu bewerten? Einige von ihnen haben einen Täter an eine andere Stelle versetzt und haben so die Möglichkeit von Übergriffen auf weitere Kinder in Kauf genommen. Wie können die Grundrechte der Opfer besser gewährleistet werden? Sexuelle Gewalt in der Kirche ist ein Tatbestand, der für das kirchliche wie auch für das staatliche Strafrecht relevant ist. a) Entwicklung der kirchenrechtlichen Sanktionen bei sexueller Gewalt 1962: Die Rechtsnorm „Crimen sollicitationis“ (deutsch: Das Verbrechen der Verführung) von 1922 wird von Kardinal Ottaviani überarbeitet. Die Instruktion vom März 1962 wird geheim gehalten und den Ortsbischöfen zugesandt. 1983: Der CIC übernimmt vom CIC/1917 die Umschreibung des sexuellen Fehlverhaltens von Klerikern als Verstoß gegen das Sechste Gebot (c. 1395 §2). 30. April 2001: Der päpstliche Erlass „Sacramentorum sanctitatis tutela“ (Der Schutz der Heiligkeit der Sakramente) legt fest, dass Sexualdelikte von Priestern fortan in die Zuständigkeit der Glaubenskongregation fallen. Sexueller Missbrauch wird den schwerwiegenden Vergehen, den „delicta graviora“, zugeordnet. Priester können aus dem Klerikerstand entlassen werden. Die Verjährungsfrist wird auf 10 Jahre nach Vollendung des 18. Lebensjahres des Opfers festgesetzt. 18. Mai 2001: Der Präfekt der Glaubenskongregation, Joseph Kardinal Ratzinger, erläutert den Bischöfen die neue Rechtslage mit dem Schreiben „De delictis gravioribus“. Der Text wird ausschließlich in lateinischer Sprache publiziert. Es werden etwa 3000 Beschuldigungen wegen sexueller Übertretungen von Diözesan- und Ordenspriestern gemeldet. 2002: Die US-Bischofskonferenz verabschiedet strengere Richtlinien: Die NullToleranz-Politik beinhaltet u. a. eine Verlängerung der Verjährungsfrist und einen Laisierungs-Automatismus nach erwiesenem Missbrauch. Mit Genehmigung des Apostolischen Stuhls werden die neuen Richtlinien im Dezember 2002 Partikularrecht für die Kirche in den USA. 7. November 2002: Johannes Paul II. erteilt der Glaubenskongregation die Vollmacht, in begründeten Ausnahmen von der Verjährungsfrist abzusehen, um auch Altfälle behandeln zu können.

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12. April 2010: Der Apostolische Stuhl hat die 2003 verfassten Richtlinien über sexuellen Missbrauch von Minderjährigen ins Internet gestellt. Danach gilt: Anzuwendendes Recht ist das Motuproprio „Sacramentorum sanctitatis tutela“41 vom 30. April 2001 in Verbindung mit dem CIC/1983. Gemäß dem Presseamt des Apostolischen Stuhls entspricht die Veröffentlichung dem von Benedikt XVI. ausgedrückten Wunsch „absoluter Transparenz“42. Der Apostolische Stuhl veröffentlicht eine „Verstehenshilfe“ für die Vorgehensweise der Glaubenskongregation bei Missbrauchsvorwürfen. 15. Juli 2010: Die Strafnormen der Römischen Glaubenskongregation für die Bekämpfung der sexuellen Gewalt in der Kirche werden erstmals komplett veröffentlicht. Dazu gehören die in Teilen überarbeiteten „Normae de gravioribus delictis“ (Normen über schwerwiegende Straftaten). Darin wird u. a. die Verjährungsfrist von 10 auf 20 Jahre nach Erreichen der Volljährigkeit des Opfers erhöht. Zudem werden die bisherigen Bestimmungen zur Kinderpornographie und zu sexuellem Missbrauch von Erwachsenen mit geistiger Behinderung präzisiert. Für die Behandlung von Missbrauchsfällen sind beschleunigte Verfahren vorgesehen. Diese Normen enthalten keine grundlegenden Neuerungen, sondern spiegeln weitgehend die Praxis der Glaubenskongregation wider. Neu ist vor allem, dass die Normen im Internet veröffentlicht wurden.43 Durch die Publikation wolle man die bisherige Vorgehensweise der Glaubenskongregation gesetzlich verankern und öffentlich machen, um Transparenz, Klarheit und Rechtssicherheit zu schaffen, ganz im Gegensatz zum Jahr 2001, als das päpstliche Dekret „Sacramentorum sanctitatis tutela“ überhaupt nicht öffentlich zugänglich und später lange nur in lateinischer Sprache verfügbar war. Auch das Schreiben „De delictis gravioribus“ von Joseph Kardinal Ratzinger, das die Ausführungsbestimmungen des Erlasses erläuterte, wurde nur in Latein publiziert. Ohnehin war darin nur ein Teil der Ausführungsbestimmungen enthalten. Mit den jetzt überarbeiteten Normen sind die Ausführungsbestimmungen für die Ahndung von Missbrauchsfällen erstmals vollständig publiziert. Bisher stützte sich die Glaubenskongregation auf nicht veröffentlichte päpstliche Vollmachten und interne Vorgaben. Auch für die zügige Entlassung eines Priesters aus dem Klerikerstand schreiben die neuen Regeln die bisherige Praxis der Glaubenskongregation erstmals gesetzlich fest. Demnach kann diese Behörde diese schwerste Strafe des Kirchenrechts auch ohne Gerichtsverfahren auf dem Verwaltungsweg verhängen. Zudem kann ein Miss41 Die Glaubenskongregation hat eine Revision einiger Artikel des Motu Proprio unternommen, um das MP von 2001 im Licht besonderer Vollmachten zu aktualisieren. Die vorgeschlagenen Änderungen, die zur Diskussion stehen, werden die genannten Vorgehensweisen nicht ändern. 42 Nikos Tzermias, Anleitung gegen Missbräuche. Der Vatikan veröffentlicht Richtlinien aus dem Jahre 2003, in: Neue Zürcher Zeitung vom 13. April 2010, S. 5. 43 http://www.oecumene.radiovaticana.org/ted/Articolo.asp?c=408942, abgefragt am 23. Juli 2010, 15:07. Vgl. auch: Einige der neuen Strafnormen im Wortlaut, in: Presseagentur KIPA vom 15. Juli 2010.

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brauchsfall auch direkt dem Papst vorgelegt werden, der einen Priester ebenfalls ohne Gerichtsverfahren von dessen Vollmachten entheben kann. Die neuen Normen beziehen sich nicht nur auf Missbrauchsfälle, sondern betreffen auch schwerwiegende Straftaten gegen Glaube und Sakramente. Neu ist auch die gestärkte Stellung der Glaubenskongregation als Gerichtsbehörde in diesen Verfahren, obwohl fast alle Missbrauchsverfahren nach eingehender Prüfung an die Ortskirchen zurückgegeben werden. Diese können nach den neuen Bestimmungen auch Laien in die Kirchengerichte berufen. Die Urteile der Glaubenskongregation als Oberstes Apostolisches Gericht unterliegen nicht der Approbation durch den Papst. „Sie hat damit in diesem begrenzten Teilbereich von Rechts wegen fast wieder so viel Durchschlagskraft wie einst die Römische Inquisitionsbehörde.“44 Die Frage stellt sich: Wäre diese vollständige Publikation der Normen und Ausführungsbestimmungen auch erfolgt ohne äußeren Druck durch die US-amerikanischen45 und englischen46 staatlichen Gerichtsfälle? Den Verbrechen der Kinderschändung, derer sich Kleriker schuldig machten, wollte schon Joseph Kardinal Ratzinger als Präfekt der Glaubenskongregation deutlich entgegentreten. Deshalb führte er 2001 die Pflicht der Bischöfe ein, Missbrauchsfälle umgehend der Glaubenskongregation zu melden. Diese sicherte sich schon damals das Recht, über solche Schandtaten als oberstes Gericht selber zu urteilen. „Damit sollte sichergestellt werden, dass die in vielen Diözesen aufgetretene Praxis des Wegschauens und Vertuschens [wie z. B. in Irland] aufhört. Bald nach seiner Wahl zum Papst disziplinierte Benedikt XVI. den Gründer der Kongregation Legionäre Christi, den mexikanischen Priester Marcial Maciel, einen Kinderschänder und mehrfachen Vater, der jahrzehntelang von Würdenträgern im Vatikan bis hinauf zu Johannes Paul II. gefördert und geschützt worden war.“47 Die kirchlichen Verfahren, wie sie die 200348 und 2010 verfassten Richtlinien über sexuellen Missbrauch von Minderjährigen umschreiben, sehen wie folgt aus:

44 Thomas Jansen, Klar und umfassend. Nach Skandalen präzisiert der Vatikan die Missbrauchsnormen, in: SKZ 178 (2010), S. 537 – 538, hier S. 538. 45 Vgl. Anm. 57. 46 Vgl. Patrick Bahners, Vatikan contra Völkerrecht. Der Papst auf der Anklagebank, in: FAZ, 13. April 2010. 47 Anton Christen, Vernunft, Glaube und Missverständnisse, in: Neue Zürcher Zeitung vom 17. April 2010, S. 23. „Bei seinen Reisen in die USA und Australien traf er sich mit Missbrauchsopfern, in Amerika verteidigte er 2008 laut und deutlich seine Politik der Nulltoleranz („Wer pädophil ist, kann kein Priester sein“). … Benedikt ist auch der erste Papst, der dem Verbrechen des sexuellen Missbrauchs und dessen Bekämpfung einen eigenen Hirtenbrief gewidmet hat.“ 48 Vgl. deutsche Übersetzung des englischen Textes im Internet von KIPA (Presseagentur) vom 13. April 2010.

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aa) Vorbereitende Maßnahmen Die Ortsdiözese untersucht alle Hinweise auf sexuellen Missbrauch eines Minderjährigen durch einen Kleriker. Wenn die Beschuldigung den Anschein von Wahrheit besitzt, wird der Fall der Glaubenskongregation übermittelt. Der Ortsbischof übermittelt alle nötigen Informationen und äußert seine Meinung sowie die kurz- und langfristig anzuwendenden Maßnahmen. Der Bischof kann zusätzlich Vorsichtsmaßnahmen treffen, um die Gemeinschaft einschließlich der Opfer zu schützen. Der Bischof besitzt die Vollmacht, die Tätigkeiten jedes beliebigen Priesters seiner Diözese einzuschränken, um sicherzustellen, dass Kindern kein weiteres Leid geschieht. bb) Von der Glaubenskongregation autorisierte Vorgehensweise Die Glaubenskongregation kann den Ortsbischof ermächtigen, ein gerichtliches Strafverfahren vor einem örtlichen Kirchengericht oder ein außergerichtliches Strafverfahren vor einem Beauftragten des Ortsbischofs und zwei Beisitzern zu führen. Einen für schuldig befundenen Kleriker können sowohl das gerichtliche wie das außergerichtliche Strafverfahren zu verschiedenen kanonischen Strafen verurteilen. Die härteste darunter ist die Entlassung aus dem Klerikerstand, d. h. vereinfachend gesagt Berufsverbot als Kleriker. Die Frage des Schadenersatzes kann direkt in diesem Verfahren angegangen werden. Der Angeklagte hat das Recht, gegen die Verurteilung zu einer kanonischen Strafe Rekurs bei der Glaubenskongregation einzulegen. Der Entscheid der Kardinalsmitglieder der Glaubenskongregation ist endgültig. Jede Berufung in einem gerichtlichen Strafverfahren wird ebenfalls bei einem Gericht der Glaubenskongregation eingelegt. Wenn ein ziviles Gericht den Priester des sexuellen Missbrauchs von Minderjährigen für schuldig befunden hat oder die Beweislast im kirchlichen Gericht erdrückend ist, kann die Glaubenskongregation entscheiden, den Fall direkt vor den Papst zu bringen, mit der Bitte, der Papst möge ein Dekret zur Entlassung aus dem Klerikerstand von Amts wegen erlassen. Gegen ein solches päpstliches Dekret sind keine kanonischen Rechtsmittel möglich. Die Glaubenskongregation bringt vor den Papst auch Anträge angeklagter Priester, die um Dispens von den Verpflichtungen des Priesteramts bitten. Der Papst gewährt diese Bitten um des Wohles der Kirche willen (,pro bono EcclesiaeÐ). Die Glaubenskongregation ermächtigt den Ortsbischof, ein Dekret auszustellen, das den öffentlichen Dienst eines angeklagten Priesters verbietet oder einschränkt, der seine Vergehen einräumt und einwilligt, ein Leben in Gebet und Buße zu führen. Solche Dekrete sind mit einem Strafgebot bewehrt, das für den Fall der Übertretung weitere kanonische Strafen androht, die Entlassung aus dem Klerikerstand nicht ausge-

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schlossen. Gegen solche Dekrete ist eine Verwaltungsbeschwerde bei der Glaubenskongregation49 möglich. Die Entscheidung der Glaubenskongregation ist endgültig. Unter Umständen können sich auch Personen schuldig machen, die zwar nicht selbst einen Missbrauch begangen haben, aber durch Unterlassung solchen möglich machten.50 Allgemein muss festgestellt werden, dass es bei der Verhängung von Strafen einen großen Ermessensspielraum gibt. Es ist für die Rechtssicherheit somit wünschenswert, dass die Gesamtkirche und die Bischofskonferenzen klare Vorgehensweisen und Sanktionen festlegen, wenn ein Verdacht des Missbrauchs besteht. Dabei muss auch die Zusammenarbeit mit der staatlichen Strafverfolgungsbehörde gesucht werden: „In Sachen Kindesmissbrauch war das Kirchenrecht, ohne Anstoß von außen und als separate Disziplin, nicht in der Lage, zufrieden stellende Antworten auf das Problem zu geben. Es brauchte dazu dringend die indirekte Hilfe des staatlichen Rechts und der öffentlichen Meinung“, so Rik Torfs51, langjähriger Dekan der Kanonistischen Fakultät in Löwen.52 Wie oben ausgeführt, gibt es 35 000 Beschwerden wegen sexuellen Übergriffs allein in Irland. Der Glaubenskongregation sind bis heute nur ca. 3000 Fälle weltweit gemeldet worden. Die Leitsätze der Bischofssynode von 1967 forderten den Schutz der Menschenrechte und der Christenrechte sowie die verfahrensmäßige Sicherstellung des Schutzes der subjektiven Rechte in der Kirche. Das neue Kirchenverständnis mündete fast „zwangsläufig in die Anerkennung von Fundamentalrechten53 innerhalb der kirchlichen Rechtsordnung“54. Dennoch wurden die Grundrechte in einer der letzten Überarbeitungen des CIC/1983 wieder verworfen. Das Fehlen eines Grundrechtskatalo-

49 Im staatlichen Recht waren in der Schweiz bis in die 50er Jahre meist nur im strafrechtlichen und zivilrechtlichen Bereich unabhängige Gerichte als Prüfungsinstanz vorgesehen. Die verwaltungsrechtliche, also staatliche Tätigkeit konnte nur durch verwaltungsinterne Beschwerden in Frage gestellt werden, was oft zu Willkür und Selbstherrlichkeit führte. Erst mit der Einführung der Verwaltungsgerichte als externe, unabhängige Gerichtsinstanzen wurden die Rechtsstaatlichkeit und damit auch die Einhaltung der Verfassungsgrundsätze inkl. Menschenrechte sichergestellt. So die Auskunft des em. Präsidenten des Verwaltungsgerichts des Kantons Luzern Eduart Wüest. Eine Parallele zu den aufgezeigten Vorgängen in der Kirche dürfte wohl nicht übersehen werden. 50 Vgl. c. 1389. 51 Rik Torfs, Klerikaler Kindsmissbrauch und das Zusammenwirken von staatlichem und kirchlichem Recht, in: Concilium, August 2004, Nr. 3 (zum Thema: Struktureller Verrat. Sexueller Missbrauch in der Kirche), S. 344 – 354, hier S. 344 f. 52 Schwierigkeiten in der rechtlichen Bewältigung der sexuellen Gewalt in Familie und Gesellschaft hat auch der deutsche Rechtsstaat, vgl. die Sendung „Sexobjekt Kind. Dokumentation von Sebastian Bellwinkel“ in der ARD von Montag, 19. April 2010. 53 Vgl. Winfried Aymans, Das Projekt einer Lex Ecclesiae Fundamentalis, in: HdbkathKR1, S. 65 – 71. 54 Felix Hafner, Kirchen im Kontext der Grund- und Menschenrechte, Freiburg i.Ue. 1992, S. 189.

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ges in der Kirche wird nun in seinen Folgen ganz praktisch sichtbar. Die Opfer haben in der Kirche keinen Grundrechtskatalog, auf den sie sich stützen könnten. b) Zusammenwirken der Kirche mit den staatlichen Strafrechtsbehörden „Staatliches Recht, das die Anzeige von Verbrechen bei den zuständigen Behörden betrifft, soll immer befolgt werden“, so die 2010 veröffentlichten Richtlinien aus dem Jahre 2003. Der Satz besagt lediglich, dass das jeweilige nationale Recht einzuhalten ist, nicht aber, dass immer eine Anzeige zu erfolgen habe. Wie der Strafverfolger der Glaubenskongregation, Monsignore Charles Scicluna, Mitte März 2010 in einem Interview der katholischen Zeitung ,AvvenireÐ sagte, besteht eine solche staatliche Anzeigepflicht erst in ein paar angelsächsischen Ländern sowie in Frankreich. Allerdings würden die Bischöfe in anderen Ländern zumindest ermuntert, die Opfer zu Anzeigen zu bewegen.55 Wird der Missbrauch nur innerkirchlich verfolgt und der Täter nicht vor einem staatlichen Gericht angezeigt, wie dies wohl in der Mehrheit der Länder geschieht, ist der Rechtsschutz der Opfer zu wenig gewährleistet. In der Schweiz ist der Opferschutz kantonal geregelt, und die meisten Kantone sehen eine Anzeigepflicht lediglich für staatliche Funktionsträger vor. „Eine Anzeigepflicht besteht damit nur für Funktionäre öffentlich-rechtlicher Kirchgemeinden, in der Regel jedoch nicht für einen Priester, eine kirchliche Meldestelle oder einen Bischof“56, so Adrian von Kaenel, Leiter der Expertenkommission der Schweizer Bischöfe „Sexuelle Übergriffe in der Pastoral“. Gemäß Schweizer Strafrecht ist also ein Personalverantwortlicher der Kirche rechtlich nicht verpflichtet, bei sexuellen Übergriffen die Staatsanwaltschaft einzuschalten. Anders ist es in den USA und in Frankreich. Hier wurde der Bischof von Bayeux, Pierre Pican, zu einer Freiheitsstrafe von drei Monaten auf Bewährung verurteilt. Man warf ihm vor, das Vergehen eines Priesters aus seiner Diözese an Minderjährigen den staatlichen Behörden nicht angezeigt zu haben. Nach der Versetzung eines Priesters kam es wieder zu Missbrauchshandlungen an Kindern. Das Gericht von Caen entschied klar zugunsten des Opferschutzes. Bischof Pican, der die Fakten, wenn auch nicht in allen Einzelheiten, kannte, hätte diese den staatlichen Behörden melden müssen. Amtlich begründete Schweigepflicht könne nicht als Entschuldigung für die Nichtanzeige eines Priesters, der Kindesmissbrauch begangen hatte, vorgebracht werden, so das Gericht.57 55

Vgl. Tzermias, Anleitung gegen Missbräuche (Anm. 42), S. 5. Bischofskonferenz: Vatikanische Richtlinien werden eingehalten. KIPA-Meldung vom 12. 4. 2010. 57 Aufsehen erregte der Entscheid des Obersten Gerichtshofes in Washington im Juni 2010, auf eine Berufung des Vatikans nicht einzugehen. Dem Vatikan wurde von einem Missbrauchsopfer aus den 60er Jahren vorgeworfen, einen Priester weiterhin beschäftigt zu 56

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Die Leitlinien der Deutschen Bischofskonferenz von 2002 legen fest, dass in erwiesenen Fällen sexuellen Missbrauchs dem Priester zur Selbstanzeige geraten oder aber die Staatsanwaltschaft direkt informiert wird. Noch deutlicher sind die bayrischen Bischöfe, die eine allgemeine Meldepflicht aller Verdachtsfälle verfügt haben. Dieses Vorgehen der bayrischen Bischöfe ist zu bevorzugen. Staatliches Recht erfordert immer deutlicher eine ausnahmslos alle Bürgerinnen und Bürger erfassende Geltung der Menschenrechte sowie ein Minimum an Rechtsgrundsätzen für alle Gruppen, die Teil der Gesellschaft sind, einschließlich der Religionsgemeinschaften.58 Dies verlangt von den Religionsgemeinschaften, die eigenen Rechtsbestimmungen den allgemein geltenden staatlichen Menschenrechts-Maßstäben anzugleichen. In Belgien und den Niederlanden fanden neu eingeführte partikularrechtliche Normen einen guten Kompromiss: Solange ein staatliches Verfahren hängig ist, wird das innerkirchliche Verfahren ausgesetzt. Damit wird jede Gefahr einer ,parallelen GerichtsbarkeitÐ automatisch ausgeschlossen. Hat jedoch das staatliche Gericht ein Urteil gefällt, kann die Kirche ihr internes Verfahren fortsetzen. Das kirchliche Gericht kann z. B. einer vom staatlichen Gericht bereits verhängten Strafe eine Kirchenstrafe hinzufügen. Und selbst wenn der Priester vom staatlichen Gericht freigesprochen wurde, ist er damit nicht auch schon in den Augen der Kirche unschuldig, da der Katalog kirchenrechtlicher Delikte andere Tatbestände enthält als das staatliche Recht. c) Lösungsansätze für die Schweizer Bischofskonferenz Die Schweizerische Bischofskonferenz hat im Jahr 2002 ein Fachgremium „Sexuelle Übergriffe in der Pastoral“ als neutrale Anlaufstelle geschaffen. Die große Mehrheit der Missbrauchsfälle in der Schweiz, die dem Fachgremium bisher gemeldet wurden, ist äußerlich eher nicht von so schwerer Natur wie in den Kirchen von Irland, den USA und Afrika. Die von Januar bis Mai 2010 gemeldeten 104 Opfer stammen aus den vergangenen 60 Jahren. Die Selbstverpflichtung, jeden Missbrauchsverdacht der Staatsanwaltschaft zu melden, wie dies die bayrischen Bischöfe tun, wurde auch von den Schweizer Bischöfen übernommen. Die Schweizer Bischofskonferenz formulierte den Abschnitt über die Zusammenarbeit mit den staatlichen Behörden neu: haben, obwohl gegen ihn bereits Missbrauchsvorwürfe erhoben worden waren. Ein US-Bundesrichter stellte daraufhin fest, dass der Vatikan dafür als Arbeitgeber zivilrechtlich belangt werden könne, und hob in diesem Fall die Immunität auf, wogegen der Vatikan Berufung einlegte. Der Oberste Gerichtshof bestätigte durch die Nichtannahme des Falls indirekt das Vorgehen des Bundesrichters. Der Vatikan kann somit in den USA im Zusammenhang mit Missbrauchsvorwürfen gegen einen Priester zivilrechtlich zur Verantwortung gezogen werden. (Neue Zürcher Zeitung Online, abgefragt am 28. Juni 2010, 18:51) 58 Vgl. Adrian Loretan, Religionen im Kontext der Menschenrechte, Zürich 2010.

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„Der bisher gültige Text war zu wenig klar und eindeutig formuliert. Er heißt jetzt wie folgt (Abs. 5.3.): ,5.3.1. Grundsatz: Die Bestimmungen des staatlichen Rechts über die Anzeige bei den Strafverfolgungsbehörden sind einzuhalten. Die Bischöfe arbeiten mit den staatlichen Untersuchungsbehörden, Gerichten, Sozialdiensten und Beratungsstellen zusammen. 5.3.2. Für die Strafanzeige gilt:

• Das Opfer ist in jedem Fall auf die Möglichkeit einer Strafanzeige nach staatlichem Recht hinzuweisen.

• Der Täter wird, falls es die Umstände angezeigt erscheinen lassen, zu einer Selbstanzeige aufgefordert.

• Die kirchlichen Amtsträger erheben bei einem rechtsgenügenden Verdacht Anzeige bei

den staatlichen Strafverfolgungsorganen, außer wenn das betroffene Opfer oder dessen Vertreter dagegen Einspruch erhebt. Eine Strafanzeige muss in jedem Fall erstattet werden, wenn sich die nahe Gefahr von pädophilen Wiederholungstaten nicht auf andere Weise bekämpfen lässt.

Bei der Feststellung, ob ein rechtsgenügender Verdacht vorliegt, stützt sich der zuständige Bischof auf die Beurteilung seines diözesanen Fachgremiums, dem unabhängige Experten angehören.Г59

Die Ortskirchen der Schweiz erkennen damit den maßgeblichen Einfluss staatlicher Gerichte unumwunden an. Diese Anerkennung unterstützt auch den Rechtsschutz der Opfer, da kirchliche Gerichte nicht in gleichem Maß die Rechte der Opfer zu schützen vermögen. Denn man sollte nicht den Opfern die ganze Last der Beweisführung auferlegen. Man kann nicht von den Schwächsten verlangen, dass sie sich allein dem Täter stellen. 2. Nötige Reformen Meine kirchenrechtliche und staatskirchenrechtliche Argumentation zum Themenbereich sexuelle Gewalt in der Kirche geht davon aus, dass die Opfer in die Mitte gestellt werden und dass zukünftige Missbräuche verhindert werden. Aus dieser Perspektive kritisiere ich auch das geltende Kirchenrecht, weil es auf Täter fixiert ist und für die Vertuschung der Fälle von sexueller Gewalt viel Ermessensspielraum lässt, was aus der Perspektive der Opfer nicht akzeptabel ist. Zudem wird der Glaubenskongregation nur ein Bruchteil der Fälle gemeldet. Frank Urbaniok, der Leiter des Psychiatrisch-Psychologischen Dienstes im Zürcher Justizvollzug, geht noch einen Schritt weiter: „Aus ihrer Glaubenshaltung heraus fokussiert die Kirche zu stark auf Schuld, Einsicht und Vergebung. Das ist generell bei Straftaten, vor allem aber im Falle der sexuellen Ausbeutung 59 Mediencommuniqu¦ der 288. Ordentlichen Versammlung der Schweizerischen Bischofskonferenz vom 31. Mai bis 2. Juni 2010, das von der Presseagentur KIPA dokumentiert wurde.

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naiv. Wichtig ist nicht die Schuld in der Vergangenheit, sondern das Risiko des Täters, in der Zukunft wieder rückfällig zu werden.“60 Oft diskutiert wurde in diesem Kontext auch, ob es einen direkten kausalen Zusammenhang zwischen Zölibat und Kindsmissbrauch gibt. Dazu Frank Urbaniok: „Den Zölibat als Ursache für die sexuellen Übergriffe in der Kirche zu sehen wäre zu kurz gegriffen. Grundsätzlich muss zwischen verschiedenen Gruppen von Personen, die sexuelle Missbrauchshandlungen an Minderjährigen vornehmen, unterschieden werden. Da sind einerseits die KernPädosexuellen, die von frühester Jugend an auf präpubertäre Kinder ausgerichtet sind. Dann gibt es die Kompensations-Pädosexuellen, die nicht grundsätzlich auf Kinder stehen, aber mangels Möglichkeiten, Sexualität mit Erwachsenen zu leben, auf Minderjährige ausweichen. Und schließlich sind noch die Personen zu nennen, die dissozial sind und sich nehmen, was sie brauchen, wo und wann auch immer. Für den kirchlichen Bereich wichtig sind sicher die Pädosexuellen, die sich von einem Umfeld angezogen fühlen, wo sie den Kontakt mit Kindern in einer sehr geschützten Situation pflegen können. Und dann vor allem die Kompensationstäter, bei denen sich die Sexualität auf Grund des Zölibats bei Minderjährigen Bahn bricht.“61

Es besteht zudem ein klarer Zusammenhang zwischen Pflichtzölibat und Priestermangel. Solange die Personalauswahl für das Priestertum hauptsächlich an der Frage Zölibat gemessen wird, bleibt ein kleiner Kreis von auszuwählenden Männern. Der Priestermangel macht die Kirche somit abhängig von den wenigen zölibatären Männern. Das entscheidende Auswahlkriterium für leitende Ämter in der Kirche ist der Zölibat. Es stellt sich die Frage, ob der Pflichtzölibat als entscheidendes Auswahlkriterium in der heutigen Welt richtig ist. Im Übrigen kennt die katholische Kirche seit Jahrhunderten verheiratete Priester in fast allen der einundzwanzig unierten Kirchen.62 Mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil hat sich die theologische Bewertung der Ehe grundlegend geändert. Die Glaubensaussage der katholischen und orthodoxen Theologie, dass die Ehe ein Sakrament ist, deutet an, dass die Ehe ein geistlicher Weg der erfahrbaren Annäherung an die Leben spendende Wirklichkeit Gottes ist. Man sollte den Text des Konzils über die theologische Wertschätzung der Ehe (GS 47 – 52) wieder genauer studieren.63 Der Innsbrucker Theologe Karl Rahner möchte diesen Text über die Ehe als „einen der schönsten Texte des Konzils begrüßen“64. Denn er kennt die diskriminierenden kirchlichen und theologischen Stellung60

„Auf Reue und Vergebung zu setzen ist naiv“, in: forum. Pfarrblatt der Katholischen Kirche im Kanton Zürich Nr. 9, 2010, S. 6. 61 Ebd. 62 Nur in zwei Kirchen kennt sie die verheirateten Priester nicht. Genau genommen nur in einer, da diese Kirche auseinandergebrochen war. 63 Vgl. Adrian Loretan, Braucht es zum Glück eine kirchliche Heirat? Theologische Argumente für eine kirchliche Eheschliessung in säkularer Gesellschaft, in: DPM 15/16 (2008/ 2009), S. 141¢171. 64 Karl Rahner/Herbert Vorgrimler, Kleines Konzilskompendium, Freiburg i. Br. 1966, S. 436.

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nahmen über die Ehe und die Frauen früherer Jahrhunderte, die damit definitiv überwunden sein sollten. Würde man die Koppelung von Priesteramt und Pflichtzölibat aufgeben, hätte das zur Folge, dass der Kreis der Interessenten fürs Priesteramt sich vergrößert. Ich zitiere den Psychologen Wunibald Müller, der auch Ordensleute und Priester betreut: „Von einer Priesterschaft, die zölibatäre und verheiratete Priester einschließt, ginge eine positive Wirkung aus: weil dann der ganze Bereich der Intimität selbstverständlicher innerhalb der Priesterschaft anwesend wäre, und weil damit ein eindeutiges Ja zur Sexualität zum Ausdruck käme. Will die Kirche diese schwere Krise für sich fruchtbar machen, muss sie die Sexualität, auch die Sexualität in ihren eigenen Reihen, aus der Dunkelkammer herausholen, wo sie oft ein unwürdiges Leben fristet. Dann kann sie sich auch im kirchlichen Bereich entfalten und als wunderbares Geschenk Gottes gewürdigt und erfahren werden.“65

3. Schlussplädoyer Die Auseinandersetzung mit den zahlreichen Missbrauchsfällen hat gezeigt, dass ein dringender Bedarf an einem klar definierten Grundrechtskatalog auch in der Kirche besteht. Eine Kirche, welche die Menschenrechte nach außen predigt, wird auch nach innen danach gemessen werden. Um Opfern sexueller Gewalt angemessen begegnen zu können, wird die Kirche weiter ihre innerkirchlich geltenden Rechtsprinzipien den staatlichen Anforderungen angleichen. Das kirchliche Strafrecht darf nicht beanspruchen, an die Stelle staatlicher Gerichtsbarkeit zu treten. Begeht ein Priester einen sexuellen Missbrauch mit Minderjährigen, riskiert er zwei Strafverfahren: ein kirchliches, das ihn den Klerikerstand kosten kann, und ein weltliches, das ihn eventuell ins Gefängnis bringt. Will die Kirche das Vertrauen ihrer Mitglieder wieder gewinnen, wird sie sich selber mindestens so strenge Maßstäbe geben müssen wie die öffentlichen Schulen. Wenn Eltern ihre Kinder einem Priester anvertrauen, müssen sie sich darauf verlassen können, dass es sich dabei um eine Person handelt, die des Vertrauens wert ist. Zuletzt muss sich nämlich auch die Kirche wieder vermehrt bewusst werden, wem das größte Interesse Jesu Christi galt: nicht den Mächtigen in Kirche und Welt, sondern den Kindern, den Ausgestoßenen und den Schwächsten in der Gesellschaft: „Was ihr für einen meiner geringsten Brüder [und Schwestern] getan habt, das habt ihr mir getan“ (Mt 25,40). Rechtlich heißt dies, dass die Grundrechtsdiskussion in der katholischen Kirche, die von Papst Paul VI. und der Bischofssynode 1967 angestoßen wurde, wieder aufgegriffen werden muss. Eine Kirche mit einem Menschenrechtskatalog ist eine Kirche, die weiß, mit wem sich der Gekreuzigte identifizierte: mit den Opfern. 65

Wunibald Müller, in: Süddeutsche Zeitung vom 6. Oktober 2010.

Handeln für die Zukunft der Schöpfung – Eine Herausforderung für Kirche, Staat und Gesellschaft Von Gertraud Putz Im Mai 2010 wurden die Ergebnisse des UNO-Berichts Global Biodiversity 3 veröffentlicht, der aufzeigt, dass die biologische Vielfalt in einer noch nie da gewesenen Geschwindigkeit zurück geht. Anfang August 2010 gab es die bisher größte Ölkatastrophe im Golf von Mexiko. Was für atombefürwortende Politiker unmöglich war ist in Fukushima/Japan am 11. März 2011 eingetreten. Die Illusion von sicheren Atomkraftwerken gibt es nicht mehr. Das UN-Sekretariat für Katastrophenvorsorge hat im Jänner 2011 mitgeteilt, dass im Jahr 2010 bei 373 Naturkatastrophen 297.000 Menschen ums Leben gekommen sind und 208 Millionen Menschen in Mitleidenschaft gezogen wurden. Viele dieser Katastrophen sind vom Menschen mit verursacht. I. Ethische und politische Leitidee der Nachhaltigkeit oder Retinität (Vernetzung) 1. Zur Diskussion um Nachhaltigkeit 1992 fand in Rio die 2. Konferenz der UNO über Umwelt und Entwicklung statt. Das neue Leitbild: Wirtschaft soll ökologisch, ökonomisch, sozial und global sein. 178 Staaten haben die Deklaration „Agenda 21“ verabschiedet, wo erstmals der Begriff „nachhaltiger Konsum“ verwendet wird, und sie haben sich verpflichtet, die Umsetzung von konkreten Handlungsempfehlungen für Nachhaltigkeit auf allen Ebenen durchzusetzen. „Das Nachhaltigkeitsprinzip umschreibt das Bemühen der Weltgemeinschaft, allen Ländern und Völkern gleiche Entwicklungsmöglichkeiten zu eröffnen und dabei ausdrücklich auch die Interessen nachfolgender Generationen zu berücksichtigen. Diese Interessen schließen insbesondere den Erhalt der natürlichen Lebensgrundlagen ein, sodass nachhaltige Entwicklung als globales Politikziel nach einer Trendwende im Umwelt- und Ressourcenverbrauch der Weltwirtschaft sowie im allgemeinen Konsumverhalten verlangt.“1

1 Herbert Prybil, Nachhaltigkeit und katholische Sozialverkündigung, in: Helmut Renöckl/Stjepan Baloban (Hrsg.), Jetzt die Zukunft gestalten! Sozialethische Perspektiven, Wien/Würzburg 2010, S. 128.

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Nachhaltigkeit ist ein Schlagwort des 21. Jahrhunderts, dem Inhalt nach geht es aber auf das 16. Jahrhundert zurück. „Dem Holznotstand … suchte man mit Verordnungen zu begegnen, die nur so viele Bäume abzuholzen erlaubten wie neu gepflanzt wurde. Begrifflich findet sich der Terminus ,nachhaltigÐ erstmals 1713 in einer forstwirtschaftlichen Regel. … In forstwirtschaftlichen Regeln des 19. Jahrhunderts wird Nachhaltigkeit nicht primär als passives Begrenzungsprinzip verstanden, sondern als optimale Anpflanzung und Pflege der zum jeweiligen Boden passenden Bäume in robusten Mischkulturen. … Auch unabhängig von der Forstwirtschaft fand und findet der Begriff Verwendung zur Beurteilung von Zuständen in ganzheitlicher Perspektive als Grundlage für langfristig optimiertes und wirksames Handeln.“2

Der Sozialethiker Markus Vogt fasst die Regeln der zirkulären Ökonomie zusammen: „1. Von nachwachsenden Ressourcen darf nicht mehr verbraucht werden, als die Natur regeneriert. 2. Es dürfen nicht mehr Rest- oder Schadstoffe in die Natur abgegeben werden, als die ökologischen Systeme verarbeiten können. 3. Der Verbrauch nicht nachwachsender Rohstoffe muss durch die Nutzung erneuerbarer Ressourcen ersetzt werden, die auch künftigen Generationen gleiche Wohlstandschancen ermöglichen. 4. Die Umsätze von Energien und Stoffen müssen auf ein risikoarmes Niveau abgesenkt werden. 5. Die Eingriffstiefe in ökologische Systeme ist so gering wie möglich zu halten, um ihnen genügend Raum und Zeit für die notwendigen Anpassungsprozesse zu lassen.“3

Die UN-Kommission für Umwelt und Frieden formulierte 1987: „Nachhaltigkeit … ist eine Form des Fortschritts, die den Bedürfnissen der heutigen Generation entspricht, ohne die Möglichkeiten zukünftiger Generationen zu gefährden, ihre eigenen Bedürfnisse zu befriedigen.“4

Das Prinzip der Nachhaltigkeit ist heute fester Bestandteil der Sozialethik. Erstmals wurde 2002 auf der Vollversammlung des Rates der Europäischen Bischofskonferenzen von einer zeitgemäßen Schöpfungsverantwortung gesprochen. Da heißt es: „Das Prinzip der Nachhaltigkeit verdient seinen festen Platz in der christlichen Sozialethik, denn es eröffnet eine neue Qualität des Dialogs zwischen Kirche, Politik und Gesellschaft. Es fordert beispielhaftes Handeln in der Lebens- und Wirtschaftsweise der einzelnen Christen, in der kirchlichen Verwaltung sowie in der politischen Mitverantwortung für entsprechende Reformen der Weltwirtschaft.“5

2 Markus Vogt, Die Zukunft beginnt jetzt! Dimensionen der Nachhaltigkeit, in: Renöckl/ Baloban, Jetzt die Zukunft gestalten (Anm. 1), S. 11 f. 3 Markus Vogt, Der Zukunft Heimat geben. Pfarrgemeinden im Agenda-21-Prozess, München 1999, S. 10. 4 Günter Wilhelms, Christliche Sozialethik, Paderborn 2010, S. 124. 5 Markus Vogt, Beredtes Schweigen. Zu den ökologischen Aspekten der neuen Sozialenzyklika, in: Amos International 3 (2009) 3, S. 27 – 35, hier S. 32.

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Es geht um die Verknüpfung von drei normativen Grundelementen: „1. Die Entdeckung der Natur bzw. der natürlichen Lebensbedingungen des Menschen als sozialethisch relevante Größe. 2. Die Vernetzung der ökologischen, ökonomischen und sozialen Problemfelder der Gesellschaft und 3. Die Berücksichtigung der Forderungen internationaler Gerechtigkeit.“6

2. Die Katholische Kirche und das Konzept der Nachhaltigkeit Kirche und Staat dienen dem gleichen Menschen, und „je mehr und besser sie rechtes Zusammenwirken miteinander pflegen“7 können sie diesen Dienst zum Wohl aller wirksam leisten. Wenn wir heute nach den Zeichen der Zeit suchen, so werden wir sehr schnell mit den Folgen des Klimawandels konfrontiert. Die deutschen Bischöfe schreiben dazu 2006: „Angesichts der ethischen Tragweite und der Gefahr der Verletzung christlicher und humaner Grundwerte gehört der Klimawandel zu den Fragestellungen, zu denen wir als Kirche nicht schweigen dürfen. Wir sind zur Stellungnahme und zum Handeln aufgefordert.“8

In seiner Weltfriedensbotschaft „Frieden mit Gott dem Schöpfer, Frieden mit der ganzen Schöpfung“ (1990) verknüpft Johannes Paul II. den Frieden mit der ökologischen Problematik. So sagt er: „Das Recht auf eine gesicherte Umwelt ist ein Recht, das in eine den heutigen Erfordernissen angepasste Charta der Menschenrechte aufgenommen werden muss.“9 Sein Leitkonzept ist das der „,ökologischen HumanitätÐ, das die Würde des Menschen in den Mittelpunkt stellt und diese durch die Begriffe ,Respekt vor dem LebenÐ ,ArbeitÐ und ,VerantwortungÐ in den Kontext der Schöpfung stellt“10. In der Sozialenzyklika „Centesimus annus“ (1991) wird erstmals der Begriff „Humanökologie“ verwendet und mit Sozialökologie verknüpft. Dabei liegt der Akzent darauf, „Fragen der ökologischen Ethik von kulturellen Zusammenhängen her und im Blick auf die Verteidigung der Würde des Menschen … anzugehen.“11 In der Enzyklika „Evangelium vitae“ (1995) wird die Zerstörung des ökologischen Gleichgewichts als Kultur des Todes bezeichnet (Nr. 10). Papst Benedikt XVI. äußert sich immer wieder zu Umweltfragen. In der Enzyklika „Caritas in veritate“ (2009) steht in der Nr. 48, dass der Mensch die natürliche 6

Werner Veit, Nachhaltigkeit, in: Marianne Heimbach-Steins (Hrsg.), Christliche Sozialethik. Ein Lehrbuch, Bd. 1, Regensburg 2004, S. 303. 7 Die Pastoralkonstitution Gaudium et spes, Nr. 76. 8 Die deutschen Bischöfe, Der Klimawandel. Brennpunkt globaler, intergenerationeller und ökologischer Gerechtigkeit, Sept. 2006, Nr. 5. 9 Johannes Paul II., Botschaft zum Weltfriedenstag 1990, Nr. 9, http://www.iupax.at/index.php/liste-friedensbotschaften/87-1990-botschaft-zur-feier-des-weltfriedenstages-papst-jo hannes-paul-ii.html (30. 5. 2011). 10 Markus Vogt, Prinzip Nachhaltigkeit. Ein Entwurf aus theologisch-ethischer Perspektive, München 2009, S. 184. 11 Vogt, Prinzip Nachhaltigkeit (Anm. 10), S. 183.

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Umwelt durch die Kultur deutet und bildet. Ein Auftrag an uns ist die Verantwortung gegenüber den künftigen Generationen, den Armen und der ganzen Menschheit wahrzunehmen. Demnach sind „Menschenschutz und Naturschutz sowie Sozial- und Umweltpolitik als eine Einheit zu verstehen.“12 In seiner Botschaft zum Weltfriedenstag 2010 sagte er: „Die Kirche trägt Verantwortung für die Schöpfung und ist sich bewusst, dass sie diese auch auf politischer Ebene ausüben muß, um die Erde, das Wasser und die Luft als Gaben Gottes, des Schöpfers, für alle zu bewahren und vor allem um den Menschen vor der Gefahr der Selbstzerstörung zu schützen. Die Schädigung der Natur hängt nämlich eng mit der Kultur zusammen, die das Zusammenleben der Menschen prägt; denn wenn in der Gesellschaft die ,HumanökologieÐ respektiert wird, profitiert davon auch die Umweltökologie.“13

Im Juni 2009 erschien das Wort des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland zur globalen Finanzmarkt- und Wirtschaftskrise mit dem Titel „Wie ein Riss in einer hohen Mauer“14. Es ist ein Plädoyer für ein nachhaltiges und zukunftsfähiges Wirtschaften. Bischof Wolfgang Huber, der Vorsitzende des Rates, schreibt im Vorwort: „Es ist an der Zeit, globale Rahmenbedingungen für ein soziales und nachhaltiges Wirtschaften weltweit zu vereinbaren und die dafür nötigen Regelungen durchzusetzen.“ (S. 6)

Eine soziale, ökologische, globale und nachhaltige Marktwirtschaft braucht aber Freiheit in Verantwortung als ethisches Fundament. Dazu braucht es für eine globale Rahmenordnung Ziele. Angeführt werden: „Eine Wirtschaft, die den Menschen heute dient, ohne die Lebensgrundlagen zukünftiger Generationen zu zerstören, sowie eine Welt- Gesellschaft, die die Verbesserung der Situation ihrer ärmsten und schwächsten Mitglieder zur ihrer vorrangigen Aufgabe macht, und schließlich ein Finanzsystem, das sich in den Dienst dieser Aufgabe stellt.“ (S. 18)

1997 fand in Graz die 2. Europäische Ökumenische Versammlung statt. Die Schöpfungsverantwortung auf allen Ebenen wird als wesentliche Dimension des kirchlichen Lebens gesehen. Da heißt es: „1.1. Wir empfehlen den Kirchen, die Bewahrung der Schöpfung als Bestandteil des kirchlichen Lebens auf all seinen Stufen zu betrachten und zu fördern. … 1.2. Wir empfehlen den Kirchen, die Entwicklung eines Lebensstils zu fördern, der an den Kriterien der Nachhaltigkeit und sozialer Gerechtigkeit ausgerichtet ist, und alle Bestrebungen zu unterstützen, die auf eine Wirtschaft abzielen, die den gleichen Maßstäben genügt. … 1.3. Wir empfehlen den Kirchen, sich dem Agenda-21-Prozess anzuschließen und ihn mit dem ökumenischen

12

Vogt, Beredtes Schweigen (Anm. 5), S. 34. Benedikt XVI. Botschaft zum Weltfriedenstag 2010, Nr. 12, http://www.vatican.va/ holy_father/benedict_xvi/messages/peace/documents/hf_ben-xvi_mes_20091208_xliii-worldday-peace_ge.html (30. 5. 2011). 14 Vgl. Evangelische Kirche Deutschland (Hrsg.), Wie ein Riss in einer hohen Mauer, Wort des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland zur globalen Finanzmarkt- und Wirtschaftskrise, Hannover 2009. 13

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bzw. konziliaren Prozess für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung zu verbinden.“15

Im Kapitel 8 des Sozialwortes des Ökumenischen Rates der Kirchen in Österreich (2003)16 geht es um die Zukunftsfähigkeit und die Verantwortung in der Schöpfung. Der Mensch als Ebenbild Gottes ist nicht der Herrscher, sondern der Verwalter, der Diener der Schöpfung (vgl. Nr. 285). Gefordert wird ein Umdenkprozess in Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und in den Kirchen selbst. Es wird darauf hingewiesen, dass derzeit weltweit das Konsum- und Produktionsvolumen weit höher liegt als die Erde verkraften kann. Die Folge: Schädigung der Lebensgrundlagen. Wir in den westlichen Industrieländern leben bereits auf Kosten des Südens und der künftigen Generationen. Für die wohlhabenderen Menschen und Länder werden die Fragen gestellt: „Wie viel ist genug? Wie erzeugen wir das, was wir benötigen möglichst Umwelt- und Ressourcenschonend?“ (Nr. 291)

Es wird eine zukunftsfähige Politik gefordert, die entscheidende Maßnahmen setzt wie „höhere Energieeffizienz, den Umstieg zu erneuerbaren Energien, teilweise Konsumverzicht, fairer Handel, Marktpreise, die entsprechend dem Verursacherprinzip auch die ökologischen Kosten wiederspiegeln, sinnvolle Verkehrskonzepte für Transit und Vorrang für öffentlichen Verkehr, sowie eine ökologische Steuerreform.“ (Nr. 292)

Erreicht werden muss auch eine höhere Verbindlichkeit bei internationalen Umweltund Menschenrechtsabkommen (vgl. Nr. 293). Um das alles zu bewerkstelligen bedarf es eines gesamtgesellschaftlichen Konsenses. Eine Politik zur Nachhaltigkeit bedeutet den Wechsel von Kurzfristigkeit zu mittel- und langfristigen Strategien. Politik und Kirchen haben die Möglichkeit durch Bewusstseinsbildung und politisches Engagement in der Öffentlichkeit Bereitschaft zu wecken und „die Rahmenbedingungen für Wirtschaft und Gesellschaft ökologisch und damit zukunftsfähig zu verändern“ (Nr. 296). II. Internationale Herausforderungen Zur „dritten Generation“ der Menschenrechte, sie gehört dem Völkerrecht an, werden gezählt: Das Recht auf eine gesunde, d. h. lebenswerte Umwelt, das Konzept, dass die Natur ein gemeinsames Erbe der Menschheit ist und das Menschenrecht auf Entwicklung. In der Agenda 21, dem Abschlussbericht der UN-Umweltkonferenz in Rio (1992), dem Handlungsprogramm für eine nachhaltige Entwicklung im 21. Jahrhundert, steht im Grundsatz 3, dass das Recht auf Entwicklung so erfüllt werden muss, dass den Entwicklungs- und Umweltbedürfnissen heutiger und künftiger Generationen in gerechter Weise entsprochen wird. Es ist ein völkerrechtlich bindendes Dokument mit den Themen: Umwelt, Bekämpfung der Armut und Unterentwick15

Vogt, Der Zukunft Heimat geben (Anm. 3), S. 19. Vgl. Ökumenischer Rat der Kirchen in Österreich (Hrsg.), Sozialwort des Ökumenischen Rates der Kirchen in Österreich, Wien 2003. 16

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lung, weltweite soziale Gerechtigkeit und Gerechtigkeit für zukünftige Generationen und die Vereinigung von ökologischen, ökonomischen und sozialen Zielen. „,Sustainable developmentÐ wurde so zu einem umfassenden Leitbild globaler Partnerschaft.“17 Im Bericht der Kommission für Umwelt und Entwicklung, dem sog. „Brundtlandbericht“ von 1987, benannt nach der Vorsitzenden norwegischen Ministerpräsidentin Gro Harlem Brundtland, erlangte der Begriff „Nachhaltigkeit“ breite Bekanntheit. Es werden vier globale Problembereiche angesprochen: Raubbau an den natürlichen Lebensgrundlagen, die ungleiche Verteilung von Einkommen und Vermögen, die Masse der Menschen, die in Armut leben, und die Bedrohung von Frieden und Sicherheit.18 Die internationale Kommission für Weltordnungspolitik19 hat neben ihrem Ziel der Friedenssicherung auch die nachhaltige Entwicklung im Blickfeld.20 Eine weitere internationale Initiative ist der „Global Marshall Plan“ für eine weltweite Ökosoziale Marktwirtschaft. Ziel ist eine Weltordnung, die auf Kooperation und Partnerschaft basiert, die optimale Nutzung der natürlichen und der Humanressourcen, eine weltweite sozioökonomische Überwindung der Armut und Wege zur ökologischen Nachhaltigkeit, wobei die Endlichkeit der natürlichen Ressourcen berücksichtigt wird.21 Die ökosoziale Idee und der Begriff „Ökosoziale Marktwirtschaft“ wurde bereits 1987 zum ersten Mal als zukunftsorientierte Strategie für die österreichische Land- und Forstwirtschaft vom österreichischen Landwirtschaftsminister Josef Riegler geprägt und formuliert.22 Er gründete 1991 das „Ökosoziale Forum“. In Zusammenarbeit mit dem Direktor des Forschungsinstituts für anwendungsorientierte Wissensverarbeitung in Ulm, Franz Radermacher, rief er den Global Marshall Plan, eine weltweite Initiative für die ökosoziale Marktwirtschaft, ins Leben. Das Forum Ökologisch-Soziale-Marktwirtschaft, das bis 2008 „Förderverein Ökologischer Steuerreform“ hieß, ist überparteilich und unabhängig, gegründet 1994 von Ernst Ulrich von Weizsäcker. Ziel: Die Preise sollen auch die ökologische Wahrheit sagen. Gedacht als ein „Überlebensmodell der Zukunft“ für das 21. Jahrhundert, um ein Gleichgewicht zu schaffen zwischen Ökologie, sozialer Gerechtigkeit, Ökonomie und die Verantwortung für künftige Generationen. Wirtschaft, Umwelt und Soziales sollen zusammengeführt und nicht gegeneinander ausgespielt werden. „Es geht um faire Entwicklungschancen und faire Marktwirtschaft 17

Vogt, Die Zukunft beginnt jetzt (Anm. 2), S. 12. Vgl. Klaus Gabriel, Nachhaltigkeit am Finanzmarkt. Mit ökologisch und sozial verantwortlichen Geldanlagen die Wirtschaft gestalten, München 2007, S. 24. 19 Willy Brandt, Bundeskanzler in der BRD von 1969 – 1974, Friedensnobelpreisträger 1971, gab den Anstoß zur Gründung der „Stockholmer Initiative zur globalen Sicherheit und Weltordnung“, die dann 1992 zur Gründung dieser UN-Kommission führte. 20 Vgl. Andreas Gettkant (Red.), Nachbarn in Einer Welt. Der Bericht der Kommission für Weltordnungspolitik, Stiftung Entwicklung und Frieden (Hrsg.), Bonn 1995, S. 64. 21 Vgl. Franz Josef Radermacher, Global Marshall Plan. Ein Planetary für eine weltweite ökosoziale Marktwirtschaft, Wien 2004, S. 8. 22 Vgl. Franz-Theo Gottwald/Franz Fischler (Hrsg.), Ernährung sichern weltweit. Ökosoziale Gestaltungsperspektiven. Bericht an die Global Marshall Plan Initiative, Hamburg 2007, S. 7. 18

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für alle, indem weltweit verbindliche ökologische Standards geschaffen werden, und um eine allgemein zugängliche Marktöffnung.“23 Im Mittelpunkt der ökosozialen Marktwirtschaft steht der einzelne Mensch und seine unantastbare Würde, denn: „Wirtschaft ist auf menschliches Leben ausgerichtet. Das bedeutet: Wirtschaft muss nicht nur sachgerecht, sondern auch menschen- und gesellschaftsgerecht sein und die Belange zukünftiger Generationen und der Umwelt mit einbeziehen. … Ökonomisches Handeln im ursprünglichen Sinn bedeutet, mit möglichst wenig Aufwand ein möglichst gutes Ergebnis zu erzielen. Dazu gehört ein schonender, sparsamer Umgang mit Ressourcen, auch solcher, die (noch) nicht in Geldwert berechnet werden, wie etwa der Verbrauch sauberer Luft oder die Verunreinigung von Grundwasser. … Marktwirtschaft bedarf sozialer und ökologischer Rahmenbedingungen, damit sie dem Leben dient und auf Dauer erfolgreich ist.“24

Die Befürworter dieser ökosozialen Marktwirtschaft plädieren dafür, dass Politik und Wirtschaft tätig werden, dass z. B. Umweltschutz betriebswirtschaftlich günstiger wird als Umweltverschmutzung, dass mit Gütern wie Wasser, Luft, Erde, also den Gemeingütern, sorgsamer umgegangen wird, dass es allgemein eine Ökosteuer geben soll und ökologisch orientierte Gesetze und dass Produkte klar ausgezeichnet werden. Sie sind gegen Kinderarbeit, Ausbeutung von Menschen als Arbeitskräfte, gegen Gentechnik und Hormoneinsatz bei Lebensmitteln. Daraus entwickelte sich die Global Marshall Plan Initiative, die sich seit 2003 für eine Welt in Balance einsetzt. Ziel: „Die Realisierung der von der UNO beschlossenen Entwicklungsziele soll mit der Schaffung eines ökosozialen Ordnungsrahmens für eine globalisierte Wirtschaft verknüpft werden.“25

Weltweit sollen Wirtschaft, Zivilgesellschaft und Politik für eine Zusammenarbeit gewonnen werden, die globale Sicherheit, Frieden und Wohlstand für alle Menschen schafft.26 Die Stiftung „Weltvertrag“ koordiniert, erhält und weitet diese Initiativen aus. Sie „erarbeitet zum einen inhaltliche Konzepte zur Ausgestaltung solcher Verträge und stellt diese den Entscheidungsträgern in Politik, Wirtschaft und Zivilgesellschaft vor. Zum anderen bringt sich die Stiftung mit ihren Ideen überall dort ein, wo in Verhandlungen internationale Übereinkommen diskutiert und beschlossen werden, zum Beispiel bei Kongressen der Vereinten Nationen oder Verhandlungen der Welthandelsorganisation (WTO).“27

Darüber hinaus soll sie in der Öffentlichkeit und Gesellschaft, bei Verantwortlichen in Politik, Wirtschaft und Kirche Bewusstsein für diese Themenbereiche schaffen. 23 Gertraud Putz, Kleiner sozialethischer Ratgeber für die Praxis in Kirche, Politik, Wirtschaft und Gesellschaft, Berlin 2008, S. 425. 24 Ökumenischer Rat der Kirchen in Österreich (Hrsg.), Sozialwort (Anm. 16), Nr. 187. 25 Josef Riegler/Franz Josef Radermacher, Global Marshall Plan für eine weltweite Ökosoziale Marktwirtschaft. Ein Projekt der Hoffnung, Wien/Ulm 2004, S. 3. 26 Vgl. Global Marshall Plan, http://www.weltvertrag.org/aktivitaeten/global_marshall_plan/index_ger.html (7. 6. 2010). 27 Stiftung Weltvertrag, http://www.weltvertrag.org/index_ger.html (7. 6. 2010).

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Der Global Marshall Plan besteht aus fünf fest miteinander verknüpften strategischen Eckpfeilern. „1. Die rasche Verwirklichung der weltweit vereinbarten Milleniumsziele der Vereinten Nationen. … 2. Aufbringung von durchschnittlich 100 Mrd. US-Dollar pro Jahr zusätzlich im Zeitraum 2008 – 2015 für Entwicklungsarbeit. … 3. Faire Mechanismen zur Aufbringung der benötigten Mittel. Die Global Marshall Plan Initiative unterstützt das angestrebte 0,7 Prozent Finanzierungsniveau für Entwicklungsarbeit auf Basis nationaler Budgets. … 4. Schrittweise Realisierung einer weltweiten Ökosozialen Marktwirtschaft und Überwindung des globalen Marktfundamentalismus durch Etablierung eines besseren Ordnungsrahmens der Weltwirtschaft. Dies soll im Rahmen eines fairen Weltvertrages geschehen. Dazu gehören Reformen und eine Verknüpfung bestehender Regelwerke und Institutionen für Wirtschaft, Umwelt, Soziales und Kultur. … 5. Voraussetzung zur Erreichung eines vernünftigen Ordnungsrahmens sind eine faire partnerschaftliche Zusammenarbeit auf allen Ebenen und ein adäquater Mittelfluss.“28

Die Vision: Weltweit Gerechtigkeit, Friede und nachhaltige Entwicklung! Der Weg: Globale Partnerschaft durch eine weltweite Ökosoziale Marktwirtschaft. Eine weitere Initiative wurde durch den Namen „Eine Charta für ein Weltethos der Nachhaltigkeit“ bekannt. 1987 wurde von der Kommission der Vereinten Nationen für Nachhaltige Entwicklung im bereits oben erwähnten Brundtlandbericht die Anregung für eine völkerrechtlich verbindliche Konvention von ethischen Grundsätzen für nachhaltige Entwicklung vorgeschlagen. In Den Haag wurde im Jahr 2000 der Text für diese Charta verabschiedet. 2002, beim nächsten Erdgipfel in Johannesburg, wurde der „Johannesburg Call“ erstellt, „ein Aufruf von Vertreterinnen und Vertretern von Städten und Kommunen aus aller Welt, sich an den Werten und Prinzipien der Erd-Charta zu orientieren“29. Ziel der Erd-Charta-Bewegung „ist die Formulierung und Verbreitung einer Ethik für das Verhältnis des Menschen zur Natur in Parallelität zur Erklärung der Menschenrechte“30. Es geht um die Verantwortung für die Natur, um soziale und wirtschaftliche Gerechtigkeit, eine weltweite Kultur des Friedens und die Achtung vor der Natur. Darüber hinaus versucht man die „Verbreitung, Unterzeichnung und Umsetzung der Erd-Charta durch die Zivilgesellschaft, Wirtschaft und Regierungen zu fördern, Mut zu machen und Hilfe zu geben, damit die Erd-Charta in Schulen, Universitäten, Glaubensgemeinschaften und in anderen Zusammenhängen eingesetzt wird“31. Die Leitlinien wurden in 16 Artikeln formuliert. Da heißt es: „Die Erd-Charta versteht sich als ,inspirierende Vision grundlegender ethischer Prinzipien für eine nachhaltige EntwicklungÐ. Sie sieht die Herausforderungen zu Freiheit, Gerechtig-

28 Christoph Quarch (Hrsg.), Die Macht der Würde. Globalisierung neu denken, Gütersloh 2007, S. 241 f. 29 Vogt, Prinzip Nachhaltigkeit (Anm. 10), S. 211. 30 Vogt, Prinzip Nachhaltigkeit (Anm. 10), S. 211. 31 Vogt, Prinzip Nachhaltigkeit (Anm. 10), S. 213.

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keit und Frieden in enger Verbindung mit dem Schutz der Umwelt und der Sorge um das wirtschaftliche Wohlergehen.“32

Aus dem Bewusstsein heraus, dass die Gemeinschaft aller Lebewesen von der Erde getragen und genährt werden, entstehen Rechte und Pflichten. Das ist der Leitgedanke der „Erd-Demokratie“, eine neu entstehende politische Bewegung, die sich für Nachhaltigkeit, Gerechtigkeit und Frieden einsetzt.33 Gegründet wurde diese Bewegung von der indischen Trägerin des alternativen Nobelpreises (1993) Vandana Shiva, als Alternative zur neoliberalen Globalisierung. Es ist ihre Vision von einer gerechten Weltordnung. Es handelt sich dabei um eine Demokratie, die lokal und regional verankert ist und auf universell gültigen Werten gründet. Im Mittelpunkt stehen der Mensch, das Recht aller auf die Teilhabe an den Schätzen der Natur und der nachhaltige Umgang mit der Natur. In einer Welt, wo Gier und Profit an erster Stelle stehen, wird Solidarität, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit gefordert. III. Handeln für die Zukunft der Schöpfung – Eine Herausforderung für Kirche, Staat und Gesellschaft Für eine intergenerationelle Gerechtigkeit als Leitbild für eine weltweite gesamtgesellschaftliche Entwicklung werden Kirche und Staat gefordert, ihren Beitrag für die Umsetzung in der Praxis zu leisten, und müssen so gemeinsam Verantwortung übernehmen. Zusammen gehören Rahmenbedingungen, die von der Politik gesetzt werden, und verantwortliche Entscheidungen der Einzelnen für den Lebensstil. Die Kirche kann „ihrerseits wichtige Impulse für die Vertiefung des Leitbildes und den notwendigen Kurswechsel zu einer nachhaltigen Entwicklung beitragen: Das christliche Schöpfungsverständnis und Menschenbild bieten wichtige Orientierungshilfen für eine Entfaltung der ethischen, geistig-seelischen und religiösen Dimension nachhaltiger Entwicklung. … Die Struktur und das Selbstverständnis der Kirche sind auf langfristige und übergreifende Perspektiven ausgerichtet. … Es ist ein Rahmenkonzept, das den Grundoptionen christlicher Schöpfungsverantwortung eine politikfähige Basis vermittelt und sie in die Sprache der heutigen Wirtschaft und Politik übersetzt. Der Begriff der Nachhaltigkeit muß mit christlichem Inhalt gefüllt werden. Auf diese Weise wird er zu einem Interpretationskontext der christlichen Botschaft, der ihre aktuelle Bedeutung für die moderne Gesellschaft vergegenwärtigt.“34

1997 erschien in Deutschland das Gemeinsame Wort der beiden großen Kirchen zur wirtschaftlichen und sozialen Lage. In der Nr. 12 wird darauf hingewiesen, dass die Strukturen allein nicht reichen.

32

Vogt, Prinzip Nachhaltigkeit (Anm. 10), S. 212. Vgl. Shiva Vandana, Erd-Demokratie. Alternativen zur neoliberalen Globalisierung, Zürich 2006. 34 Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Hrsg.), Handeln für die Zukunft der Schöpfung, Bonn, 22. Okt. 1998, Nr. 108. 33

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„Eine sozial, ökologisch und global verpflichtete Marktwirtschaft ist moralisch viel anspruchsvoller, als im Allgemeinen bewußt ist. Die Strukturen müssen, um dauerhaften Bestand zu haben, eingebettet sein in eine sie tragende und stützende Kultur. Der individuelle Eigennutz, ein entscheidendes Strukturelement der Marktwirtschaft, kann verkommen zum zerstörerischen Egoismus.“35

Gebraucht wird eine breite „Debatte über Werte und Tugenden, die dem gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Leben Orientierung geben“36. Besondere Aufgabe der Kirche ist es, in einer Gesellschaft, die sich ständig ändert, aus dem christlichen Glauben heraus Werte zu gestalten. Der päpstliche Rat für Gerechtigkeit und Frieden hat im November 2009 einen Dekalog über Moral und Umwelt vorgelegt. Da heißt es u. a., dass es notwendig ist, ein ökologisches Bewusstsein für Schöpfung und Menschlichkeit zu entwickeln, den Vorrang der Menschen und der Menschenrechte vor der Technologie zu bekräftigen und die universale Bestimmung der Güter zu betonen. In den verschiedenen Gesetzgebungen müssen die internationale Zusammenarbeit und das Recht auf Entwicklung, auf eine gesunde Umwelt und auf Frieden berücksichtigt werden und es ist an der Zeit, neue Lebensstile anzunehmen, die vor allem bescheidener sind.37 Einig ist man sich in Fachkreisen darüber, dass es einen dreifachen Ansatz für Nachhaltigkeit geben muss: (1) Effizienz, wie z. B. Energiespartechnologien, (2) Konsistenz, die Bedarfsdeckung mit erneuerbaren Quellen und (3) Suffizienz, das beinhaltet die Änderung des Lebensstils und die Mäßigung im Verbrauch. Maßlosigkeit und Gier sind auf Dauer kein Leitwert für eine menschenwürdige Gesellschaft. Am 22. April 2001 erstellten die Konferenz der Europäischen Kirchen und der Rat der Europäischen Bischofskonferenz die „Charta Oecumenica“. Dabei handelt es sich um Leitlinien für die wachsende Zusammenarbeit unter den Kirchen in Europa. In einem eigenen Absatz geht es um die Bewahrung der Schöpfung. So heißt es: „Wir wollen uns gemeinsam für nachhaltige Lebensbedingungen für die gesamte Schöpfung einsetzen. In Verantwortung vor Gott müssen wir gemeinsam Kriterien dafür geltend machen und weiter entwickeln, was die Menschen zwar wissenschaftlich und technologisch machen können, aber ethisch nicht machen dürfen. In jedem Fall muss die einmalige Würde jedes Menschen den Vorrang vor dem technisch Machbaren haben.“38

Immer wieder wird die Verantwortung der Konsumenten angesprochen. Kaufen ist nicht nur ein wirtschaftlicher Akt, „sondern immer auch eine moralische Handlung. 35

Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit. Wort des Rates der evangelischen Kirche in Deutschland und der Deutschen Bischofskonferenz zur wirtschaftlichen und sozialen Lage in Deutschland, München 1997, S. 21. 36 Horst Schröder, Wilhelm Röpke zur gegenwärtigen Krise, in: Die Neue Ordnung 64 (2010), S. 231 – 234, hier S. 234. 37 Vgl. Päpstlicher Rat für Gerechtigkeit und Frieden legt Dekalog über Moral und Umwelt vor, in: Zenit, Die Welt von Rom aus gesehen, 9. 11. 2005. 38 Charta Oecumenica. Leitlinien für die wachsende Zusammenarbeit unter den Kirchen in Europa, http://www.cec-kek.org/Deutsch/ChartafinG.htm (4. 8. 2010), S. 5.

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Die Konsumenten haben daher eine klare soziale Verantwortung“39. Sie gestalten durch persönliche Konsumentscheidungen und Lebensstile „tagtäglich die Welt mit, haben Einfluss darauf, wie sehr wir unsere Umwelt schädigen oder schonen. Einfacherer Lebensstil und eine Änderung des Konsumverhaltens können zu einer gerechteren Verteilung der Ressourcen dieser Erde beitragen. Durch Bewusstseinsbildung und politisches Engagement kann in der Öffentlichkeit die Bereitschaft geweckt werden, die Rahmenbedingungen für Wirtschaft und Gesellschaft ökologisch und damit zukunftsfähig zu verändern.“40

Wie kann nun so eine gelebte Nachhaltigkeit in Kirchen und Gemeinden ausschauen? Die 14 Mitgliedskirchen des Ökumenischen Rates der Kirchen in Österreich wollen besonders die Spiritualität der Schöpfung pflegen und sie vor allem in den Gottesdiensten, Religionsunterricht und Bildungsarbeit verankern (vgl. Nr. 299). Bezahlte Arbeitszeit für Umweltarbeit soll zur Verfügung gestellt werden, und sie wollen regelmäßig ihre Energiebilanzen veröffentlichen, um vor der Gesellschaft Rechenschaft abzulegen. In allen kirchlichen Einrichtungen wird auf Nachhaltigkeit in der Einkaufspolitik und in der Energienutzung geachtet. Sie wollen darüber hinaus mit anderen Einrichtungen im Umweltbereich kooperieren und zukunftsweisende Initiativen fördern (vgl. Nr. 300 – 302) und „in ihrer Missionsarbeit den Einsatz ihrer Partnerkirchen für Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit in aller Welt aktiv unterstützen“ (Nr. 303). Klar umrissen werden auch die Aufgaben für die Gesellschaft. Sie werden dafür eintreten, „dass das Prinzip Nachhaltigkeit in Handlungsstrategien und Entscheidungsprozessen von nationalen Regierungen und internationalen Organisationen verankert wird, dass multilaterale Menschenrechts- und Umweltabkommen aufgewertet werden, dass vor allem in der gesamten EU hohe ökologische und soziale Standards gelten sollen, dass Unternehmer angehalten werden, klare Umwelt-, Sozial- und Menschenrechtskriterien einzuhalten (vgl. Nr. 304 – 307) und sie wenden sich an alle gesellschaftliche Gruppierungen und die Medien, in der öffentlichen Diskussion legitime kurzfristige Einzelinteressen nicht gegen zukunftsorientierte Konzepte auszuspielen.“ (Nr. 308)

Die Gemeinsame Verantwortung für eine nachhaltige Entwicklung wird von den Kirchen verbindlich eingefordert. Was muss die Politik machen? Eine nachhaltige Entwicklung ist nur möglich, wenn alle Gruppierungen in der Gesellschaft miteinander dieses Ziel anstreben. Gefordert wird eine „teilhabende Demokratie“ wie es in der Agenda 21, Kap. 27, angesprochen wird. Es geht dabei um mehr Mitgestaltung, jedoch nicht von oben herab verordnet, sondern freiwillig. Dazu braucht es einen langsamen Wachstumsprozess. Verantwortungsbewusstsein wächst durch Anerkennung und Mitgestaltung. „Deshalb ist Partizipation ein ganz wesentliches Element des ethischen Prinzips der Nach-

39 Benedikt XVI., Caritas in Veritate, Liebe in Wahrheit. Die Sozialenzyklika, Augsburg 2009, S. 133 f. 40 Ökumenischer Rat der Kirchen in Österreich (Hrsg.), Sozialwort (Anm. 16), Nr. 296.

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haltigkeit.“41 Ökonomie, Ökologie und Soziales werden zu drei Säulen die sich gegenseitig ergänzen. Der Schöpfungsglaube braucht „eine Übersetzung in ordnungsethische Kategorien, um politik- und rechtsfähig zu werden und die konkreten Konsequenzen in den organisatorischen Strukturen und wirtschaftlichen Entscheidungen deutlich zu machen“42. In allen Bereichen müssen ökologische und soziale Gegebenheiten berücksichtigt werden. Die Europäische Union steht dabei vor einer großen Herausforderung. Sie „hat die Möglichkeit, eine sich im Wirtschaftssystem und der Wirtschaftspolitik auswirkende Wende zu bewerkstelligen. Daher muss die Europäische Union im internationalen Geschehen stärker als bisher eine Vorreiterrolle für die Durchsetzung von Nachhaltigkeit und sozialer Gerechtigkeit im Rahmen globaler Spielregeln einnehmen.“43

Aufgabe der Kirche(n) ist es, zu einem vertieften Verständnis von Nachhaltigkeit zu führen. Sie ist der älteste Global Player und verfügt über konkrete Erfahrungen. Sie ist weltweit tätig und erreicht alle unterschiedlichen Menschen und sozialen Schichten. „Für Christen ist die Zukunft nicht in erster Linie ein Managementproblem, sondern eine Frage der Offenheit für das Leben, für die Hoffnungen und Nöte der Menschen, insbesondere der Bedrängten jeder Art, in denen Gott selbst gegenwärtig ist und Zukunft schenkt. Eine solche Einheit von Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft im christlichen Lebensvollzug ist zugleich ein existentieller Beitrag zu einem nachhaltigen Umgang mit Zeit.“44

Denn ohne „eine solche transzendente, religiös-spirituelle Dimension – ob christlich oder nicht christlich – droht Nachhaltigkeit zur gefährlichen Ideologie zu werden“45. Benedikt XVI. fordert in seiner Enzyklika „Caritas in veritate“ (2009) einen schonenden Umgang mit den Ressourcen. „Es ist dem Menschen gestattet, eine verantwortungsvolle Steuerung über die Natur auszuüben, um sie zu schützen, zu nutzen und auch in neuen Formen und mit fortschrittlichen Technologien zu kultivieren, so dass sie die Bevölkerung, die sie bewohnt, würdig aufnehmen und ernähren kann. Es gibt Platz für alle auf dieser unserer Erde: Auf ihr soll die ganze Menschheitsfamilie die notwendigen Ressourcen finden, um mit Hilfe der Natur selbst, dem Geschenk Gottes an seine Kinder, und mit dem Einsatz ihrer Arbeit und ihrer Erfindungsgabe würdig zu leben. Wir müssen jedoch auf die sehr ernste Verpflichtung hinweisen, die Erde den neuen Generationen in einem Zustand zu übergeben, so daß auch sie würdig auf ihr leben und sie weiter kultivieren können.“ (Nr. 50)

Aufgabe der Kirche ist es, ihrer Verantwortung für die Schöpfung öffentlich nachzukommen. Die Kirche ist selbst unternehmerisch tätig, sie zählt in einigen Ländern zu den größten Arbeitgebern. Daher ist es auch ihre Aufgabe, dafür zu sorgen, dass in 41

Vogt, Die Zukunft beginnt jetzt! (Anm. 2), S. 21. Vogt, Was ist „Nachhaltigkeit“?, in: Katholische Sozialwissenschaftliche Zentralstelle Mönchengladbach (Hrsg.), Kirche und Gesellschaft, Nr. 338, Köln 2007, S. 15. 43 Herbert Pribyl, Nachhaltigkeit und Katholische Sozialverkündigung (Anm. 1), S. 138. 44 Vogt, Die Zukunft beginnt jetzt! (Anm. 2), S. 26. 45 Vogt, Die Zukunft beginnt jetzt! (Anm. 2), S. 24. 42

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allen kirchlichen Einrichtungen das Konzept der Nachhaltigkeit eingehalten wird. Im Jänner 2007 gab es eine Sonderausgabe des Verordnungsblattes (Nr. 1/2) der Erzdiözese Salzburg zum Thema: „Haus des Lebens. Leitlinien zur Schöpfungsverantwortung“. Im Vorwort schreibt Erzbischof Alois Kothgasser: „Das Bekenntnis zu Gott, dem ,Schöpfer des Himmels und der Erde, der sichtbaren und unsichtbaren WeltÐ eint alle Christen genauso wie die Verantwortung, achtsam mit der Schöpfung umzugehen. ,Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der SchöpfungÐ sind und bleiben die globalen Ziele, damit Menschen in Würde leben können.“ (S. 19)

Die Erzdiözese Salzburg verpflichtet sich, ihren Beitrag zu leisten, wenn da steht: „Wir wollen uns unserer spirituellen Grundlagen neu und vermehrt bewusst werden. Die Schöpfung ist Geschenk und wir Menschen sind beauftragt, sie zu bewahren. Wir wollen als Kirche Rechenschaft geben über unseren Umgang mit den Gütern der Natur, von den Lebensmitteln bis zur Energie. Wir müssen aber auch unsere Stimme erheben und Partei ergreifen zu Gunsten der Lebenschancen der kommenden Generationen.“ (S. 19)

Die Kirchen können auch dazu beitragen, dass wir Menschen die Natur mit anderen Augen betrachten, mehr Ehrfurcht der Natur gegenüber haben. Im Bericht der Stiftung Entwicklung und Frieden „Nachbarn in einer Welt“ wird ein Text von der Päpstlichen Kommission Justitia et Pax zitiert. Da heißt es: „Die wichtigste Veränderung, die Menschen bewirken können, besteht darin, daß sie ihre Sichtweise der Welt ändern. Wir können Studiengänge, Arbeitsplätze, Wohngebiete, ja ganze Länder und Kontinente verändern und dennoch selbst so bleiben, wie wir immer schon waren. Doch wenn wir unseren grundlegenden Blickwinkel verändern, ändert sich alles, unsere Prioritäten, unsere Werte, unsere Urteile, unsere Bestrebungen. Immer wieder hat in der Religionsgeschichte eine solche vollständige Umwälzung der Vorstellungswelt den Anfang eines neuen Lebens bedeutet … eine Wende im Herzen …, durch die die Menschen die Welt mit neuen Augen sehen, sich das Weltbild in den Köpfen ändert und die Energien auf neue Lebensweisen gerichtet werden.“46

46 Nachbarn in Einer Welt. Der Bericht der Kommission für Weltordnungspolitik, The Commission of Global Governance. Texte der Stiftung Entwicklung und Frieden, Bonn 1995, S. 53.

Römisch-katholische Kirche und Bewahrung der Schöpfung Kirchenrechtliche Impulse und konkrete Umsetzung mit einem besonderen Blick auf die Erzdiözese Salzburg Von Wilhelm Rees Nach dem Erdbeben und dem darauf folgenden Tsunami am 11. März 2011 in Japan forderten die österreichischen Bischöfe ein ernsthaftes Überdenken der bisherigen Energiepolitik und die „Förderung umweltfreundlicher und erneuerbarer Energieformen“1. Auch machte das Gedenken an die Umweltkatastrophe von Tschernobyl vor 25 Jahren erneut die Gefährdung unserer Erde bewusst. Andererseits kämpft Bischof Erwin Kräutler gegen das Wasserkraftwerk „Belo Monte“ in Brasilien, für dessen Verwirklichung die brasilianische Regierung am 1. Juni 2011 grünes Licht gegeben hat. Die brasilianische Regierung hat damit „indigenen Völkern das Land gestohlen oder überflutet“, wenngleich von ihr „Millionen ausgegeben worden (sein sollen), um mögliche Folgen im sozialen und Umweltbereich abzufedern“2. Bereits im Jahr 2007 hat die Erzdiözese Salzburg, in der der Jubilar auf vielfältige Weise tätig war und ist, „Leitlinien zur Schöpfungsverantwortung“ verabschiedet.3 Im Folgenden soll der Blick auf den Beitrag der römisch-katholischen Kirche zur Schöpfungsverantwortung bzw. zum Umweltschutz gerichtet werden. Näherhin sollen ein1 Kreuz, Missbrauch, Kernenergie und Pfarrgemeinderatswahlen. Wortlaut der Presseerklärung zur Frühjahrsvollversammlung der Österreichischen Bischofskonferenz, 21.–24. 03. 2011, Brixen (Südtirol), in: Kathpress-Tagesdienst Nr. 72, 25. 03. 2011, S. 13 – 16, hier S. 14; siehe auch Bischöfe plädieren für Überdenken der Energiepolitik. Katastrophe in Japan soll Anstoß sein, erneuerbare Energieformen zu fördern und „verschwenderischen Lebensstil“ zu ändern, in: Kathpress-Tagesdienst Nr. 72, 25. 03. 2011, S. 6 f. 2 Baulizenz-Vergabe: Kräutler ist kämpferisch (04. 06. 2011): http://vorarlberg.orf.at/stories/519314 (eingesehen 27. 06. 2011); vgl. Kräutler: Alternativer Nobelpreis wichtig im Kampf gegen Belo Monte. Austro-brasilianischer Bischof im „Christopolis“-Interview: Auszeichnung am 6. Dezember in Stockholm kommt „im rechten Augenblick“ – 15 Gerichtsverfahren gegen Mega-Staudamm ausständig, in: Kathpress-Tagesdienst Nr. 281, 02. 12. 2010, S. 2; Bischof Kräutler wird mit alternativem Nobelpreis ausgezeichnet. Alternative Nobelpreise werden am Montag in Stockholm verliehen, in: Kathpress-Tagesdienst Nr. 282, 03. 12. 2010, S. 2 f. 3 Vgl. Erzdiözese Salzburg, Haus des Lebens. Leitlinien zur Schöpfungsverantwortung, in: VOBl. der Erzdiözese Salzburg, Nr. 1/2, Jänner 2007 (Sonderausgabe); dazu Wilhelm Rees, Partikularnormen der Österreichischen Bischofskonferenz und der Diözesen Österreichs. Überblick über die Gesetzgebung des Jahres 2007, in: ÖARR 56 (2009), S. 117 – 175, hier S. 147.

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zelne Stellungnahmen, Richtlinien und Hinweise der römisch-katholischen Kirche, d. h. im weitesten Sinn rechtliche Orientierungspunkte sowohl auf der Ebene der Gesamtkirche als auch auf der Ebene vor allem der Deutschen und Österreichischen Bischofskonferenz und österreichischer Diözesen, aufgezeigt werden, dies speziell auch mit Blick auf die Erzdiözese Salzburg.4 I. Grundsätzliche Überlegungen In moraltheologischen Standardwerken begegnen an zahlreichen Stellen die Begriffe „Schöpfer“, „Schöpfung“, „Umwelt“, „Ökologie“, aber auch damit in Zusammenhang stehende Themen, wie „Machbarkeitsdenken“ oder „uneingeschränkter Fortschrittsglaube“. Ja es findet sich die grundlegende Aussage: „Die Mitverantwortung für die Welt beschränkt sich nicht auf Menschen, sondern umfaßt die ganze Schöpfung.“5 So enthält auch der „Ethikkodex professioneller Seelsorger“, der von österreichischen MoraltheologInnen im Jahr 2009 verabschiedet wurde, in der Präambel den Hinweis: „Als Gottes Ebenbild im Lebenshaus der Schöpfung ist der Mensch gerufen, diese Welt als treuhänderischer Verwalter Gottes zu gestalten, sie zu bebauen und zu behüten und dafür zu sorgen, dass alle Geschöpfe in Frieden und Gerechtigkeit das Leben miteinander teilen (Gen 1 – 2).“6 Tagtäglich bewegen Meldungen über verheerende Umweltkatastrophen, über die Verschmutzung von Erde, Wasser und Luft sowie über die Zerstörung der natürlichen Lebensräume des Menschen oder die Gefährdung der Tier- und Pflanzenwelt die mediale Öffentlichkeit. Dies gilt für den Bereich der Kirchen des Südens7 ebenso wie für 4 Bei den nachfolgenden Überlegungen handelt es sich um eine ergänzte und erweiterte Fassung eines Vortrags des Verfassers bei den Innsbrucker Theologischen Sommertagen 2010. Vgl. Wilhelm Rees, Schöpfungsverantwortung konkret. Wie sich die römisch-katholische Kirche den ökologischen Herausforderungen stellt: Anmerkungen aus kirchenrechtlicher Perspektive, in: Simone Paganini/Johannes Panhofer (Hrsg.), Schöpfung – Evolution – Verantwortung. Vorträge der 11. Innsbrucker Theologischen Sommertage 2010 (theologische trends 20), Innsbruck 2011, S. 168 – 187; vgl. auch Wilhelm Rees, Umwelt und Schöpfungsverantwortung. Zum Beitrag von Staat und Kirche, in: Ethik der Tugenden. Menschliche Grundhaltungen als unverzichtbarer Bestandteil moralischen Handelns. Festschrift für Joachim Piegsa zum 70. Geburtstag, hrsg. von Clemens Breuer (Moraltheologische Studien – Systematische Abteilung 26), St. Ottilien 2000, S. 167 – 189. 5 Joachim Piegsa, Der Mensch – das moralische Lebewesen, 3 Bde, St. Ottilien 1996 – 1998; hier Bd. 2: Religiöse Grundlagen der Moral. Glaube – Hoffnung – Liebe, St. Ottilien 1997, S. 145; siehe auch Josef Römelt, Christliche Ethik in moderner Gesellschaft, Bd. 2: Lebensbereiche (Grundlagen Theologie), Freiburg/Basel/Wien 2009, S. 316 – 348. 6 Sigrid Müller/Michael Rosenberger/Walter Schaupp/Werner Wolbert, Ethikkodex professioneller Seelsorger, in: StdZ 227 (2009), S. 447 – 458, hier S. 447; ferner unter: http:// www.stimmen-der-zeit.de/zeitschrift/archiv/beitrag_details?k_beitrag=2018152&k_produkt =2017146 (eingesehen 11. 08. 2010). 7 Vgl. Franz Weber, Anwaltschaft für die Mutter Erde. Ökologie als pastorales Grundanliegen der Kirche in Lateinamerika und ihrer Basisgemeinden, in: Paganini/Panhofer, Schöpfung – Evolution – Verantwortung (Anm. 4), S. 150 – 167.

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Europa und Österreich. Müsste nicht bereits seit dem ersten Bericht des „Club of Rome“8 aus dem Jahr 1972 der breiten Öffentlichkeit die Gefährdung des ökologischen Systems bewusst geworden sein? Auch die Konferenz der Vereinten Nationen über Umwelt und Entwicklung (UNCED) in Rio de Janeiro im Jahre 1992 hat die Welt auf den „Ernst der ökologischen Krise“ eindringlich aufmerksam gemacht.9 Damals hat sich die Völkergemeinschaft „auf das Leitbild der nachhaltigen Entwicklung verpflichtet und dieses als ,Handlungsprogramm für das 21. JahrhundertÐ (Agenda 21) definiert“10. Das Handeln für die Zukunft der Schöpfung zählt somit heute – neben der Verwirklichung sozialer Gerechtigkeit, Bekämpfung der Armut sowie der Sicherung des Friedens und der Freiheit des Menschen und der Völker – zu den großen Herausforderungen unserer Zeit. Die Zukunft der Menschheit hängt entscheidend von einem entsprechenden Umdenken und Handeln ab. Es mag überraschen, dass Ausbeutung und Zerstörung der Natur von Einigen als „gnadenlose Folgen des Christentums“ gesehen werden.11 Infolge der christlichen Anthropozentrik habe die außermenschliche Schöpfung ihren unantastbaren Charakter verloren und sei zum verfügbaren Material in der Hand des Menschen degradiert worden. So lastet Eugen Drewermann, ein katholischer Theologe, der Religion Isra8 Vgl. Donella H. Meadows/Dennis L. Meadows/Jorgen Randers/William W. Behrens III, The Limits to Growth. A Report for the Club of RomeÏs Project on the Predicament of Mankind, New York 1972; dt.: Dennis Meadows/Donella Meadows/Erich Zahn/Peter Milling, Die Grenzen des Wachstums. Bericht des Club of Rome zur Lage der Menschheit (rororo 6825), Reinbek bei Hamburg 1973. 9 So ausdrücklich Lateinamerikanische Bischöfe, Schlussdokument der 4. Generalversammlung in Santo Domingo „Neue Evangelisierung, Förderung des Menschen, Christliche Kultur“, in: Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Hrsg.), Neue Evangelisierung – Förderung des Menschen – Christliche Kultur. Schlußdokument der 4. Generalversammlung der lateinamerikanischen Bischöfe in Santo Domingo, 12.–28. 10. 1992 (Stimmen der Weltkirche 34), Bonn 1992, Nr. 169, S. 47 – 162, hier S. 115; vgl. auch Reinhard Hermle, Vor allem die Industrieländer sind gefragt. Perspektiven für eine Umwelt- und Entwicklungspolitik nach Rio, in: HK 46 (1992), S. 419 – 424; Günter Wilhelms, Christliche Sozialethik (Grundwissen Theologie – UTB 3337), Paderborn 2010, S. 123 – 126. 10 Markus Vogt, Die Zukunft beginnt jetzt! Dimensionen der Nachhaltigkeit, in: Helmut Renöckl/Stjepan Baloban (Hrsg.), Jetzt die Zukunft gestalten! Sozialethische Perspektiven, Wien/Würzburg 2010, S. 11 – 29, hier S. 12; vgl. auch ders., Prinzip Nachhaltigkeit. Ein Entwurf aus theologisch-ethischer Perspektive, München 22010; ders., Was ist „Nachhaltigkeit“? (Kirche und Gesellschaft, hrsg. von der Katholischen Sozialwissenschaftlichen Zentralstelle Mönchengladbach, Nr. 338), Köln 2007. Dem Nachhaltigkeitsdenken liegt zu Grunde, „dass natürliche Ressourcen so genutzt werden sollen, dass der Grundbestand auf einem optimalen Niveau erhalten bleibt und nur die Zuwachsrate genutzt wird“. Ebd., S. 3. 11 Carl Amery, Das Ende der Vorsehung. Die gnadenlosen Folgen des Christentums, Reinbek bei Hamburg 1972; siehe dazu auch Günther Schiwy, Abschied vom allmächtigen Gott – auch in Ökologiefragen. Für den 75-jährigen Carl Amery, der uns vor 25 Jahren durch sein Buch „Das Ende der Vorsehung. Die gnadenlosen Folgen des Christentums“ aufrüttelte, in: Günter Altner/Barbara Mettler-von Meibom/Udo E. Simonis/Ernst U. von Weizsäcker (Hrsg.), Jahrbuch Ökologie 1998 (BeckÏsche Reihe 1228), München 1997, S. 11 – 20; Simone Rappel, „Macht euch die Erde untertan“. Die ökologische Krise als Folge des Christentums? (Abhandlungen zur Sozialethik 39), Paderborn/München/Wien/Zürich 1996, S. 11 – 21.

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els, von der das Christentum wesentlich geprägt ist, und damit den biblischen Schriften ein „außerordentlich heikles Verhältnis“12 zur Natur an. Thema sei die Geschichte Gottes mit den Menschen, die sich als „Herrscher über die Natur“ und nicht als „Teil der Schöpfung“ verstehen.13 Die Aussage „Macht euch die Erde untertan“ im Schöpfungsbericht des Buches Genesis (Gen 1,28)14 wird jedoch missverstanden, wenn „untertan machen“ im Sinn von ausbeuten und zerstören und nicht im Sinn von bebauen und bewahren, d. h. von gestalten und schützen, gedeutet wird. Denn die Bibel ordnet den Menschen „in das Gesamt der Natur bewusst ein und bezieht ihn auf die Mitschöpfung“15. Als Schöpfung sind Mensch und Natur, wie Simone Rappel unter Hinweis auf Röm 8, 19 – 21 bemerkt, „zu einer ,unlösbaren SchicksalsgemeinschaftÐ verbunden“16. Lassen sich aber Entwicklung und Fortschritt mit der Bewahrung der Schöpfung verbinden? „Wo liegt“, so fragt Christoph Stückelberger, „das richtige Maß im Umgang mit der Mitwelt, das Maß zwischen einem Zuviel an Eingriffen und einem Zuwenig an Gestaltung, zwischen einem lebenszerstörenden Fortschrittsoptimismus und einem lebensfeindlichen Ökofundamentalismus?“17 Muss daher nicht die Theologie, müssen daher nicht die Kirchen und Religionsgemeinschaften viel stärker als bisher die Verantwortung des Menschen für die Schöpfung herausstellen und selbst mit gutem Beispiel vorangehen?

12 Vgl. Eugen Drewermann, Der tödliche Fortschritt. Von der Zerstörung der Erde und des Menschen im Erbe des Christentums (Herder/Spektrum 4032), Freiburg/Basel/Wien 1991, S. 71; Erstauflage: ders., Der tödliche Fortschritt. Von der Zerstörung der Erde und des Menschen im Erbe des Christentums (Reihe engagement), Regensburg 1981, S. 71. 13 Ebd., S. 7 = S. 7. 14 Vgl. Hans-Winfried Jüngling, „Macht euch die Erde untertan“ (Gen 1,28). Der geschaffene Mensch und die Schöpfung, in: Philipp Schmitz (Hrsg.), Macht euch die Erde untertan? Schöpfungsglaube und Umweltkrise, Würzburg 1981, S. 9 – 38; zur biblischen Sicht auch Andreas Vonach, „Am Anfang schuf Gott“. Vom Schaffen Gottes und dem Tun des Menschen im Alten Testament und heute, in: Paganini/Panhofer, Schöpfung – Evolution – Verantwortung (Anm. 4), S. 12 – 30; Simone Paganini, Die Schöpfung der Welt und die Erschaffung des Menschen. Zwischen Kosmologie, Anthropologie und Gender, ebd., S. 31 – 46; Martin Hasitschka/Mira Stare, „Alles ist durch ihn geworden“ (Joh. 1,3), Jesus und die Schöpfung – Neutestamentliche Perspektiven, ebd., S. 47 – 68. 15 Römelt, Ethik (Anm. 5), S. 335. 16 Rappel, Macht euch (Anm. 11), S. 52 mit Anm. 72; ebenso Vogt, Nachhaltigkeit (Anm. 10), S. 9 f.; siehe auch Karl Lehmann, Kreatürlichkeit des Menschen als Verantwortung für die Erde, in: Schmitz, Macht euch (Anm. 14), S. 65 – 88. 17 Christoph Stückelberger, Umwelt und Entwicklung. Eine sozialethische Orientierung, Stuttgart/Berlin/Köln 1997, S. 11; siehe auch Kirchenamt der Evangelischen Kirche in Deutschland und Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Hrsg.), Zur wirtschaftlichen und sozialen Lage in Deutschland. Diskussionsgrundlage für den Konsultationsprozeß über ein gemeinsames Wort der Kirchen (Gemeinsame Texte 3), Hannover und Bonn 1994, Nr. 86 – 90, S. 37 f.; zum Begriff „Ökologie“ vgl. Markus Vogt, Art. Ökologie, in: LThK3 VII (1998), Sp. 1013; ders., Art. Ökologie, in: Lexikon der Bioethik, hrsg. im Auftrag der Görres-Gesellschaft von Wilhelm Korff/Lutwin Beck/Paul Mikat i. V. m. Ludger Honnefelder/Gerfried W. Hunold/Gerhard Mertens/Kurt Heinrich/Albin Eser, Bd. 2, Gütersloh 1998, S. 799 – 802.

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II. Fakten Beeinträchtigungen der Umwelt durch den Menschen hat es immer gegeben. Sie sind somit keineswegs neu.18 Neu an den ökologischen Gefahren der Gegenwart ist jedoch die Globalisierung ihrer Auswirkungen, d. h. die Gefährdung der Menschheit und der Welt insgesamt.19 Weltweit ist ein steigender Verbrauch der Ressourcen und der Energie festzustellen. Das stetige Wachstum der Weltbevölkerung erfordert eine immer höhere Produktion an Nahrungsmitteln, dies zu Lasten der Umwelt.20 Wasser, Boden und Luft werden derart beansprucht, dass eine Regeneration bzw. Selbstreinigung unmöglich ist. Bedrohungen ergeben sich vor allem im Blick auf die Veränderung der klimatischen Verhältnisse durch den Anstieg der Konzentration von Treibhausgasen. Es ist wissenschaftlich erwiesen, wie Markus Vogt bemerkt, 18 Vgl. dazu die umfassende und grundlegende Darstellung von Gottfried Zirnstein, Ökologie und Umwelt in der Geschichte (Ökologie und Wirtschaftsforschung 14), Marburg 1994; zur Zeit ab 1950: ebd., S. 227 – 300. 19 Hierzu und zu den Symptomen der Umweltkrise: Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Hrsg.), Handeln für die Zukunft der Schöpfung, 22. 10. 1998 (Die deutschen Bischöfe – Kommission für gesellschaftliche und soziale Fragen 19), Bonn 1998, Nr. 13 – 27, S. 15 – 21; ferner Joseph Höffner, Mensch und Natur im technischen Zeitalter. Eröffnungsvortrag auf der Versammlung der Deutschen Bischofskonferenz, Fulda, September 1980, in: Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Hrsg.), Zukunft der Schöpfung – Zukunft der Menschheit (Die Deutschen Bischöfe 28), Bonn 1980, S. 22 – 45, bes. S. 24 – 30; Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Hrsg.), Der Klimawandel: Brennpunkt globaler, intergenerationeller und ökologischer Gerechtigkeit. Ein Expertentext zur Herausforderung des globalen Klimawandels. Mit einem Geleitwort des Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz, Sept. 2006 (Die Deutschen Bischöfe – Kommission für gesellschaftliche und soziale Fragen/Kommission Weltkirche 29), Bonn 2006, bes. Nr. 12 – 20, S. 18 – 24; ferner unter http://www.dbk.de/fileadmin/redaktion/veroeffentlichungen/kommissionen/KO_29_2.%20 Aufl.pdf (eingesehen 11. 08. 2010); siehe auch http://www.alt.dbk.de/aktuell/meldungen/ 01182/print_de.html (eingesehen 11. 08. 2010); aktuelle Daten auch in: Klimabündnis Oberösterreich (Hrsg.), Ein Leitfaden zum Energiesparen in Pfarren. Kennzahlen und Sparpotentiale, Linz 2006, S. 12 – 16; ferner unter http://doku.cac.at/leitfadenpfarren.pdf (eingesehen 11. 08. 2010); Zentralkomitee der deutschen Katholiken (Zdk), Erklärung „Schöpfungsverantwortung wahrnehmen – jetzt handeln! Für einen nationalen und internationalen Klimaschutz“ (22. 11. 2008), Nr. 1.1. – 1.3: http://www.zdk.de/erklaerungen/erklaerung.php?id =174&page (eingesehen 11. 08. 2010); siehe auch Ottmar Edenhofer/Christian Flachsland/ Gunnar Luderer, Eckpunkte einer globalen Klimaschutzpolitik (Kirche und Gesellschaft, hrsg. von der Katholischen Sozialwissenschaftlichen Zentralstelle Mönchengladbach 355), Köln 2008; Markus Vogt, Energie für morgen. Perspektiven für den Übergang in eine postfossile Wirtschaft (Kirche und Gesellschaft, hrsg. von der Katholischen Sozialwissenschaftlichen Zentralstelle Mönchengladbach 378), Köln 2011; Intergovernmental Panel on Climate Chance (IPCC): http://www.ipcc.ch/ (eingesehen 22. 07. 2011). 20 Bereits in ihrem Wort zur Lage der Landwirtschaft vom 25. 9. 1989, in: Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Hrsg.), Zur Lage der Landwirtschaft (Die Deutschen Bischöfe 44), Bonn 1989, S. 3 – 14, hier S. 10, betonen die deutschen Bischöfe, dass das Leitbild der Zukunft, an dem sich sowohl das Berufsbild der Landwirte als auch die Agrarpolitik orientieren müssen, „eine umweltverträgliche, bodengebundene und differenzierte bäuerliche Agrarstruktur mit zwei Aufgabenbereichen“ umfassen müsse: „die Produktion landwirtschaftlicher Erzeugnisse und die Pflege der Kulturlandschaft“.

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„dass der Klimawandel im Wesentlichen durch Menschen verursacht“, d. h. anthropogen ist.21 Ursachen und Folgen des Klimawandels werden in einem ExpertInnentext vom September 2006, den die Deutsche Bischofskonferenz in Auftrag gegeben hat, beleuchtet22 : So könne es im Zeitraum von 1990 bis 2100 zu einem Anstieg der mittleren globalen bodennahen Temperatur um bis zu 5,8 8C kommen, wobei bereits ein Anstieg von 2 8C in diesem Jahrhundert vom Wissenschaftlichen Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (WBGU) „als gefährlich angesehen“ werde. Da die Temperatur bereits um 0,7 8C angestiegen sei, blieben nur noch 1,3 8C bis zum Überschreiten dieser Grenze (Nr. 21). Die ExpertInnen verweisen auf Folgen, die bereits jetzt schon feststellbar sind: Schrumpfung des arktischen Eisschilds und der Gebirgsgletscher sowie Auftauen der Permafrostgebiete (Nr. 22), Ansteigen des Meeresspiegels (Nr. 23), Veränderung der Meeresströmungen (Nr. 24), Zunahme extremer Wetterereignisse (Nr. 25), Häufung von Überschwemmungen (Nr. 26), Verringerung der Biodiversität (Nr. 27), Gefährdung der Ernährungssicherheit (Nr. 28), Ausbreitung von Krankheiten (Nr. 29), Zunahme von Krieg und Flucht (Nr. 30) sowie Anstieg der monetären Kosten (Nr. 31). Soziale Konflikte um Ressourcen, vor allem um Trinkwasser, nehmen zu. Von politischer Seite aus haben bereits im September 2000 Vertreter von 189 Mitgliedsländern der Organisation der Vereinten Nationen (UNO) als Millenniumsziel erklärt, „den Schutz der Umwelt durch ökologische Nachhaltigkeit zu verbessern“23. Bereits im Jahre 1992 wurde die UN-Klimarahmenkonvention (UNFCCC) zur Stabilisierung der Treibhausgasemission beschlossen. Das „Protokoll von Kyoto zum Rahmenübereinkommen der Vereinten Nationen über Klimaänderungen“ von 1997 legte erstmals konkrete und verbindliche Reduktionsverpflichtungen der schädlichen Treibhausgase fest. Allerdings ist dieses Protokoll erst mit 16. Februar 2005 völkerrechtlich in Kraft getreten.24 Gemäß dieser Festlegung müssen die Industrieländer bis zum Jahr 2012 ihre Emissionen der sechs wichtigsten Treibhausgase gegenüber 1990 (für F-Gase 1995) um 5,2 % reduzieren.25 In Wirklichkeit stiegen ihre Treibhausgasemissionen im Zeitraum von 1990 bis 2003 aber um 12,4 %. Wie andere Nationen hat sich auch die Republik Österreich verpflichtet, die Treibhausgasemission in den Jahren 2008 bis 2012 gegenüber jener des Jahres 21

Vogt, Zukunft (Anm. 10), S. 17. Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Klimawandel (Anm. 19), bes. Nr. 21 – 31, S. 25 – 33. 23 Millenniumsziele: KNA-Stichwort vom 10. September 2005: http://www.dbk.de/presse/ aktuelle-meldungen/details/?tx_ttnews%5BbackPid%5D=233&tx_ttnews%5BpS%5D= 1264420841&tx_ttnews%5Bpointer%5D=145&tx_ttnews%5Btt_news%5D=1442&cHash =5147043b34f7b2d3e5acc06479f73018 (eingesehen 11. 08. 2010); ebenso: http://www.3sat. de/nano/glossar/millenniumsziele.html (eingesehen 11. 08. 2010). 24 Zur Kritik Roms siehe unten III.2. 25 Vgl. Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Klimawandel (Anm. 19), Nr. 47, S. 45; Klimabündnis Oberösterreich, Leitfaden (Anm. 19), S. 15. Für Entwicklungsländer sind keine derartigen Verpflichtungen vorgesehen. 22

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1990 um 13 % zu reduzieren. Zwar wurden gemäß dem Klimaschutzbericht 2011 des Umweltbundesamtes in Österreich im Jahr 2009 mit 80,1 Millionen Tonnen CO2Äquivalenten 6,8 Millionen Tonnen Treibhausemissionen weniger verzeichnet als im Jahr 2008. Vom vorgeschriebenen Ziel von 68,8 Millionen Tonnen ist Österreich jedoch weit entfernt.26 So zeigte der Bericht des Umweltbundesamtes vom Januar 2005 sogar einen deutlichen Anstieg der Treibhausgase im Jahr 2003 um 5,9 % gegenüber 2002; auch der Ausstoß des wichtigsten Treibhausgases Kohlendioxid (CO2) erhöhte sich von 2002 auf 2003. Damit lag Österreich im Jahr 2003 bereits 16,6 % über dem Kyoto-Basisjahr.27 So wird die jüngst erhobene Forderung des Linzer Diözesanbischofs Ludwig Schwarz nach einem Klimaschutzgesetz in Österreich verständlich.28 Die 15. UN-Klimakonferenz in Kopenhagen vom 7. bis 18. Dezember 2009, bei der auch Kirchen und kirchliche Hilfswerke vertreten waren29 und die von zahlreichen Appellen und Forderungen von Kirchen und Religionsgemeinschaften begleitet war, hat nicht den beabsichtigten Erfolg gebracht. So verliefen auch die Vorbereitungen für den Weltklimagipfel in Cancffln (Mexiko) im Dezember 2010 „zäh und ziellos“. Es war „so gut wie klar, dass dort ein neuer umfassender Weltklimavertrag nicht mehr machbar ist“30. Man verständigte sich auf einen Kompromiss.31 Was nützt ein 26 Vgl. Österreich verfehlte Kyoto-Ziel erneut, in: Tiroler Tageszeitung Nr. 12, Donnerstag, 13. Jänner 2011, S. 11; im Einzelnen Georg Rebernig, Treibhausgasemissionen in Österreich 1990 – 2006 (Datenstand 2008) unter: http://www.umweltbundesamt.at/fileadmin/ site/presse/news_2008/praesentation_thg_2008_080115.pdf (eingesehen 11. 08. 2010); Umweltbundesamt, Klimaschutzbericht 2011. Zwischenbilanz über zwei Jahre Kyoto-Zielperiode (12. Juli 2011): http://www.umweltbundesamt.at/aktuell/presse/lastnews/newsarchiv_2011/ news110712/ (eingesehen 22. 07. 2011). 27 So Klimabündnis Oberösterreich, Leitfaden (Anm. 19), S. 15 f. 28 Vgl. Klimaschutz: Bischofsappell an Umweltminister Berlakovich. Linzer Bischof Ludwig Schwarz in Offenem Brief: Österreich braucht rasch ein Klimaschutzgesetz, in: Kathpress-Tagesdienst Nr. 274, 24. 11. 2010, S. 3 f. 29 Dazu und zur Kritik von kirchlicher Seite: Weltklimagipfel in Kopenhagen: http:// www.katholisch.at/content/site/minidossiers/article/46914.html (eingesehen 11. 08. 2010); Kopenhagen-Konferenz „niederschmetternd und beschämend“. Scharfe Kritik des KOO-Vorsitzenden, Bischof Ludwig Schwarz – Linzer Bischof wendet sich gemeinsam mit vier anderen europäischen Bischöfen an die Regierungschefs der EU, in: Kathpress-Tagesdienst Nr. 295, 18.12.2009, S. 4; ferner unter http://www.ots.at/presseaussendung/OTS_20091218 _OTS0061/kopenhagen-konferenz-niederschmetternd-und-beschaemend (eingesehen 22. 07. 2011); Kopenhagen ist „verpasste historische Chance“. KOO-Vorsitzender Bischof Schwarz befürchtet dramatische Konsequenzen für Entwicklungsländer und fordert „moralische Runderneuerung der Politik“ – „Klima fair bessern“ – Koordinatorin Molitor-Ruckenbauer: „Druck auf Politik aufrechterhalten“, in: Kathpress-Tagesdienst Nr. 296, 20.12.2009, S. 2. 30 Klima-Verhandlungen bleiben ohne Durchbruch, in: Die Tagespost, Nr. 93, Samstag, 7. August 2010, S. 7. 31 Vgl. Markus Becker, Große Nationen unterstützen Cancffln-Kompromiss (11. 12. 2010): http://www.spiegel.de/wissenschaft/natur/0,1518,734076,00.html (eingesehen 05. 04. 2011); Auf ein Neues in Südafrika. Klimagipfel mit Kompromiss beendet (11. 12. 2010): http:// www.tagesschau.de/ausland/cancun152.html (eingesehen 05. 04. 2011).

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neues Menschenrecht auf Versorgung mit sauberem Trinkwasser, das die Mehrheit der Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen am 28. Juli 2010 anerkannt hat, wenn 884 Millionen Menschen keinen Zugang zu sauberem Wasser haben?32 Der Weltklimagipfel Ende 2011 in Südafrika, zu dessen Vorbereitung bereits im Juli 2011 Minister aus 35 Staaten in Berlin zum so genannten „Petersberger Klimadialog“ zusammengekommen waren, brachte einen Kompromiss.33 Welchen Beitrag kann angesichts dieser Situation die römisch-katholische Kirche leisten? III. Der Beitrag der römisch-katholischen Universalkirche 1. Hinweise im Codex Iuris Canonici von 1983 Es überrascht wohl nicht, dass sich das Stichwort Umweltschutz bzw. Schöpfungsverantwortung im kirchlichen Gesetzbuch, dem Codex Iuris Canonici vom 25. Januar 1983, nicht findet. Und doch gibt es darin Bestimmungen, die in diese Richtung zielen. So verpflichtet der kirchliche Gesetzgeber innerhalb der dort verankerten kirchlichen Grundrechte und -pflichten (vgl. cc. 208 – 223 CIC/1983)34 alle Gläubigen, „ein heiliges Leben zu führen sowie das Wachstum der Kirche und ihre ständige Heiligung zu fördern“ (c. 210 CIC/1983). Dies bedeutet für die einzelne Christin und den einzelnen Christen, nach den Grundsätzen der Kirche zu leben. Mit diesen Grundsätzen sind nicht nur die Glaubenslehren im engeren Sinn gemeint, sondern alles, was zur christlichen Lehre und Grundhaltung zählt. So enthält der Katechismus der römisch-katholischen Kirche auch einen Abschnitt „Achtung der Unversehrtheit der Schöpfung“ (vgl. Nr. 2415 – 2418). Näherhin heißt es hier: „Das siebte Gebot verlangt auch, die Unversehrtheit der Schöpfung zu achten“ (Nr. 2415 KKK). „Der Schöpfer hat dem Menschen das Recht gewährt, über die Rohstoffe, Pflanzen und Tiere der Welt zu verfügen. Dabei muss aber der Mensch die 32 Vgl. Reinhard Nixdorf, Was nützt das neue Menschenrecht auf Wasser? 884 Millionen Menschen haben keinen Zugang zu sauberem Wasser, der jetzt theoretisch einklagbar ist, in: Die Tagespost, Nr. 91, Dienstag, 3. August 2010, S. 3; vgl. auch Zugang zu Wasser ist Menschenrecht. Tagung des Instituts für Religion und Frieden über ethische Herausforderungen angesichts weltweit ungleicher Verteilung von Trinkwasserressourcen, in: Kathpress-Tagesdienst Nr. 141, 16. 06. 2011, S. 5; Weltwassertag: In Burkina Faso bringen Brunnen Zukunft. Katholische Männerbewegung macht auf Problem Wassermangel aufmerksam – Frauen profitieren von Brunnenbauten am meisten, in: Kathpress-Tagesdienst Nr. 69, 22. 03. 2011, S. 4 f. 33 Siehe dazu Anja Kordik, Das Land nicht vergessen. Petersberger Klimadialog weist auf die engen Zusammenhänge zwischen Umweltschutz und Entwicklung des ländlichen Raumes hin, in: Die Tagespost, Nr. 81, Samstag, 9. Juli 2011, S. 7; vgl. auch Markus Balser, Kap der grünen Hoffnung. 60 Milliarden Dollar gegen die Erderwärmung: Mit einer beispiellosen Öko-Initiative will Südafrika Vorreiter des Kontinents und Motor des eigenen Klimagipfels von Durban werden, in: Süddeutsche Zeitung Nr. 154, Donnerstag, 7. 7. 2011, S. 23; UnoKlimakonferenz in Durban 2011: http://www.spiegel.de/thema/uno_klimakonferenz_2011 (eingesehen 02. 02. 2012). 34 Vgl. insgesamt Reinhild Ahlers, Die rechtliche Grundstellung der Christgläubigen, in: HdbKathKR2, S. 220 – 232.

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sittlichen Verpflichtungen achten, auch gegenüber den kommenden Generationen“ (Nr. 2456 KKK). Die Christgläubigen sind „auch verpflichtet, die soziale Gerechtigkeit zu fördern“ (c. 222 § 2 CIC/1983). Die Ausbeutung von Ressourcen und Menschen schafft nicht selten Ungerechtigkeit und führt so zu sozialen Krisen und Konflikten. Den Gläubigen ist es „unbenommen, ihre Anliegen … und ihre Wünsche den Hirten der Kirche zu eröffnen“ (c. 212 § 2 CIC/1983). Zudem haben sie „das Recht und bisweilen sogar die Pflicht, ihre Meinung in dem, was das Wohl der Kirche angeht, den geistlichen Hirten mitzuteilen“ (c. 212 § 3 CIC/1983). Laien werden vom kirchlichen Gesetzgeber ausdrücklich dazu verpflichtet, „die Ordnung der zeitlichen Dinge im Geiste des Evangeliums zu gestalten und zur Vollendung zu bringen“ (c. 225 § 2 CIC/1983). So ist Heinrich J. F. Reinhardt zuzustimmen, wenn er betont, dass es den Laien vornehmlich aufgetragen und im kirchlichen Gesetzbuch als besondere Pflicht deklariert ist, die Ordnung der zeitlichen Dinge nicht nur zu gestalten, sondern sie „immer wieder zu verbessern (,perficereÐ) und dabei „Zeugnis für Christus abzulegen“35. Laien können auch für „kirchliche Ämter und Aufgaben herangezogen … werden, die sie gemäß den Rechtsvorschriften wahrzunehmen vermögen“ (c. 228 § 1 CIC/1983), und so bewusst in diesen Bereichen36, wie z. B. im Bereich der Lehre und der Verkündigung, den Gedanken der Schöpfungsverantwortung weitertragen. Zudem können sie als Berater und Sachverständige den Hirten der Kirche ihre Hilfe gewähren (vgl. c. 228 § 2 CIC/1983), dies auf verschiedenen Ebenen bzw. Konsultationen. Schließlich haben sie das Recht, „daß ihnen in den Angelegenheiten des irdischen Gemeinwesens jene Freiheit zuerkannt wird, die allen Bürgern zukommt; beim Gebrauch dieser Freiheit haben sie jedoch dafür zu sorgen, daß ihre Tätigkeiten vom Geist des Evangeliums erfüllt sind“ (c. 227 CIC/1983). Die Angelegenheiten des irdischen Gemeinwesens werden in der Pastoralen Konstitution über die Kirche in der Welt von heute „Gaudium et spes“ entfaltet (vgl. Art. 35 VatII GS)37. Es sind „alle Angelegenheiten, die mit dem Leben und Zusammenleben der Menschen in dieser Welt zusammenhängen, es ist die Ordnung 35 Heinrich J. F. Reinhardt, Kommentar, in: MK CIC, c. 225, Rdnr. 5 (Stand November 1991); vgl. insgesamt auch Gerda Riedl, Die Laien, in: HdbKathKR2, S. 232 – 242. 36 Vgl. Wilhelm Rees, Ämter und Dienste. Kirchenrechtliche Standortbestimmung und Zukunftsperspektiven, in: Walter Krieger/Balthasar Sieberer (Hrsg.), Ämter und Dienste. Entdeckungen – Spannungen – Veränderungen, Linz 2009, S. 189 – 228; ders., Ordination in der römisch-katholischen Kirche. Anmerkungen aus rechtshistorischer und aktuell kirchenrechtlicher Perspektive, in: Konrad Huber/Andreas Vonach (Hrsg.), Ordination – mehr als eine Beauftragung? (Synagoge und Kirchen 3), Wien/Berlin 2010, S. 145 – 182; ders., Amt – Seelsorge – Leitung. Kirchenrechtliche Standortbestimmung und Zukunftsperspektiven, in: AfkKR 178 (2009), S. 90 – 123. 37 Vgl. Hans-Joachim Sander, Theologischer Kommentar zur Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute Gaudium et spes, in: Peter Hünermann/Bernd Jochen Hilberath (Hrsg.), Herders Theologischer Kommentar zum Zweiten Vatikanischen Konzil, 4. Bd., Freiburg/Basel/Wien 2005, S. 581 – 869, bes. S. 753 f.; Anton Losinger, „Iusta autonomia“. Studien zu einem Schlüsselbegriff des II. Vatikanischen Konzils (Abhandlungen zur Sozialethik 28), Paderborn/München/Wien/Zürich 1989.

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des menschlichen Schaffens schlechthin“38. „Durch sein Werk formt der Mensch nämlich nicht nur die Dinge und die Gesellschaft um, sondern vervollkommnet er sich auch selbst … Ebenso ist alles, was die Menschen zur Erreichung einer größeren Gerechtigkeit, einer umfassenderen Brüderlichkeit und einer humaneren Ordnung der gesellschaftlichen Verflechtungen tun, wertvoller als der technische Fortschritt“ (Art. 35 Abs. 1 VatII GS) . Auch Kleriker sind „in besonderer Weise zum Streben nach Heiligkeit verpflichtet“ (c. 276 § 1 CIC/1983). Ausdrücklich kommt der Schöpfungsgedanke bei der Ausbildung von Priestern zum Tragen, wenn angehende Kleriker zu Vorlesungen in Dogmatik und Moraltheologie verpflichtet werden (vgl. c. 252 § 3 CIC/1983), d. h. auch zu Vorlesungen zur Schöpfungsverantwortung. Generell kommt es der Kirche zu, „immer und überall die sittlichen Grundsätze auch über die soziale Ordnung zu verkündigen wie auch über menschliche Dinge jedweder Art zu urteilen, insoweit die Grundrechte der menschlichen Person oder das Heil der Seelen dies erfordern“ (c. 747 § 2 CIC/1983; vgl. Art. 76 Abs. 5 VatII GS). Hier wird insbesondere die Soziallehre der Kirche angesprochen, die sich verstärkt in jüngeren Jahren dem Thema Schöpfungsverantwortung zugewandt hat.39 Die Stimme zu erheben, ist auch gefordert, wenn Rechte des Menschen, wie das Recht auf Leben oder jenes auf Nahrung, eingeschränkt werden. Diese Sicht wird durch die Erklärung des Zweiten Vatikanischen Konzils über die Religionsfreiheit „Dignitatis humanae“ ausdrücklich untermauert (vgl. bes. Art. 2 und 4 VatII DH).40 „Es geht beim Auftrag der Kirche“, wie Heinrich Mussinghoff bemerkt, „nicht nur um Fragen des Glaubens und der Sitten im engeren Sinne, sondern auch um die konkreten Auswirkungen der sittlichen Botschaft des Evangeliums in die soziale Ordnung hinein, in Familie, Wirtschaft und Politik, Staat und Gesellschaft“41. Insgesamt sind Gläubige verpflichtet, Lehrschreiben der Kirche ernst zu nehmen (vgl. c. 754 CIC/1983). Dies gilt auch für diejenigen, die sich zur Schöpfungsverantwortung äußern. Wenn im Elternrecht gefordert wird, dass christliche Eltern durch Wort und Beispiel ihre Kinder im Glauben und in der Praxis christlichen Lebens bilden sollen (vgl. c. 774 § 2 CIC/1983), so muss dies die Erziehung zu einem verantwortungsvollen Umgang mit der Schöpfung mit einschließen. Entsprechendes gilt 38 Heinrich J. F. Reinhardt, Kommentar, in: MK CIC, c. 227, Rdnr. 2 (Stand Oktober 1987). 39 So enthält das „Kompendium der Soziallehre der Kirche“ unter der Überschrift „Die Umwelt bewahren“ Aussagen über die christliche Schöpfungsverantwortung. Vgl. Päpstlicher Rat für Gerechtigkeit und Frieden (Hrsg.), Kompendium der Soziallehre der Kirche/Freiburg/ Basel/Wien 2006, Nr. 451 – 487, S. 325 – 347; siehe auch Wilhelm Guggenberger, Schöpfungsverantwortung konkret. Sozialethische Aspekte, in: Paganini/Panhofer, Schöpfung – Evolution – Verantwortung (Anm. 4), S. 136 – 149. 40 Vgl. Wilhelm Rees, Kanonistische und europäische Aspekte von Religionsfreiheit I und II, in: SKZ 177 (2009), S. 696 – 700 und S. 719 – 723. 41 Heinrich Mussinghoff, Kommentar, in: MK CIC, c. 747 Rdnr. 5 (Stand März 1987) unter Hinweis auf Art. 14 VatII DH.

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für die römisch-katholische Kirche und ihren Erziehungs- und Verkündigungsauftrag. Dabei soll die Kirche „die verschiedenen zur Verfügung stehenden Mittel“ nutzen (vgl. c. 761 CIC/1983). Auch muss die Verkündigung, wie Papst Paul VI. betont, „vor allem durch ein Zeugnis erfolgen“42. Die Verkündiger des Wortes Gottes haben den Gläubigen auch die Lehre „über die Pflichten, die den Menschen in der Gesellschaft aufgegeben sind“, aufzuzeigen (c. 768 § 2 CIC/1983). Insgesamt strebt die „wahre Erziehung“ u. a. danach, ein „tieferes Verantwortungsbewusstsein“ zu wecken. Sie muss auch auf das Gemeinwohl der Gesellschaft hin geordnet sein und befähigen, „am sozialen Leben aktiv teilzunehmen“ (vgl. c. 795 CIC/1983). 2. Kirchliche Verlautbarungen Die Frage der Schöpfungsverantwortung hat seitens der Kirche zu zahlreichen Erklärungen, Hirtenschreiben, Stellungnahmen, päpstlichen Ansprachen, Enzykliken usw. geführt.43 So spricht Papst Pius XII. bereits in seiner Pfingstbotschaft des Jahres 1941 unter Hinweis auf sein Rundschreiben an die Bischöfe der Vereinigten Staaten von Amerika „Sertum laetitiae“ davon, „daß die Güter, die Gott für die Menschen insgesamt schuf, im Ausmaß der Billigkeit nach den Grundsätzen der Gerechtigkeit und Liebe allen zuströmen“44, und fordert somit wohl indirekt den sorgfältigen Umgang mit den Ressourcen und die Verantwortung der jeweils lebenden Generation für die kommenden Generationen ein. In der Enzyklika „Mater et magistra“ Papst JohannesÐ XXIII. von 196145 und in der Pastoralen Konstitution über die Kirche in der Welt 42

Paul VI., Apostolisches Schreiben „Evangelii nuntiandi“ vom 8. Dezember 1975 an den Episkopat, den Klerus und alle Gläubigen der Katholischen Kirche über die Evangelisierung in der Welt von heute, Nr. 21, in: AAS 68 (1976), S. 5 – 76, hier S. 19; lat./dt.: NKD 57 (1976), S. 32 – 195, hier S. 62 f.; dt.: VApSt 2, Bonn 1975, S. 16; ferner unter: http://www. vatican.va/holy_father/paul_vi/apost_exhortations/documents/hf_p-vi_exh_19751208_evangeliinuntiandi_ge.html (eingesehen 22. 07. 2011). 43 Vgl. dazu insbesondere die Darlegungen bei Michael Schlitt, Umweltethik. Philosophisch-ethische Reflexionen – Theologische Grundlagen – Kriterien, Paderborn/München/ Wien/Zürich 1992, S. 162 – 182 u. S. 289 – 293 (Verzeichnis der Dokumente); ferner auch den Überblick in: Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Handeln (Anm. 19), Nr. 42 – 55, S. 27 – 33; Rees, Umwelt (Anm. 4). S. 183 f. 44 Pius XII., Ansprache zur Fünfzigjahrfeier des Rundschreibens „Rerum Novarum“ Papst Leos XIII. über die soziale Frage vom 1. Juni 1941, in: AAS 33 (1941), S. 195 – 205, hier S. 199; dt.: Bundesverband der Katholischen Arbeitnehmer-Bewegung Deutschlands – KAB (Hrsg.), Texte zur katholischen Soziallehre. Die sozialen Rundschreiben der Päpste und andere kirchliche Dokumente mit einer Einführung von Oswald von Nell-Breuning und Johannes Schasching, Bornheim/Kevelar 81992, S. 123 – 135, hier S. 128. 45 Johannes XXIII., Rundschreiben „Mater et Magistra“ vom 15. Mai 1961 an die Ehrwürdigen Brüder, die Patriarchen, Primaten, Erzbischöfe, Bischöfe und die andern Oberhirten, die in Frieden und Gemeinschaft mit dem Apostolischen Stuhl leben, sowie den gesamten Klerus und die Christgläubigen des katholischen Erdkreises über die jüngsten Entwicklungen des gesellschaftlichen Lebens und seine Gestaltung im Licht der christlichen Lehre, in: AAS 53 (1961), S. 401 – 464; dt.: Bundesverband der Katholischen Arbeitnehmer-Bewegung, Texte (Anm. 44), S. 171 – 240; vgl. auch Johannes XXIII., Rundschreiben „Pacem in terris“ vom

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von heute „Gaudium et spes“ des Zweiten Vatikanischen Konzils aus dem Jahre 1965 (Nr. 14, 26, 33, 34, 35, 36) finden sich grundlegende Hinweise zum Menschenbild und zur Verantwortung des Menschen und der Gesellschaft, wenngleich die ökologische Frage nicht ausdrücklich thematisiert wird. So bemerkt Papst Johannes XXIII. in seinem Rundschreiben, dass den Ländern im „Zustand äußersten Elends … der Überfluß und hemmungslose Luxus weniger Reicher in schreiendem und beleidigendem Gegensatz“ gegenüberstehe (vgl. Nr. 69). Das Papst stellt die Frage, „wie die Wirtschaft und die verfügbare Menge lebensnotwendiger Güter der steigenden Bevölkerungszahl nachkommen können“ (Nr. 185). Dennoch ist der Text letztlich von einem Fortschrittsoptimismus geprägt, wenn Papst Johannes XXIII. feststellt, dass „das Verhältnis zwischen Bevölkerungszahl und der Versorgungsmöglichkeiten weder jetzt noch in absehbarer Zukunft zu ernstlichen Schwierigkeiten führen“ dürfte (Nr. 188). Gründe, die dafür angeführt würden, seien „doch so unsicher und so umstritten, daß sich aus ihnen nichts Sicheres folgern“ lasse (Nr. 188). Das menschliche Bemühen müsse sich darauf richten, „eine immer vollkommenere Beherrschung der Natur zu erwerben“ (Nr. 189). Die Pastorale Konstitution weist darauf hin, dass „die Menschheit nicht nur ihre Herrschaft über die Schöpfung immer weiter verstärken kann und muß, sondern daß es auch ihre Aufgabe ist, eine politische, soziale und wirtschaftliche Ordnung zu schaffen, die immer besser im Dienst des Menschen steht und die dem Einzelnen wie den Gruppen dazu hilft, die ihnen eigene Würde zu behaupten und zu entfalten“ (Art. 9 Abs. 1 VatII GS). Nach Aussage des Konzils hat der Mensch heute, „vor allem mit den Mitteln der Wissenschaft und der Technik, seine Herrschaft über beinahe die gesamte Natur ausgebreitet und breitet sie beständig weiter aus“. So stelle sich u. a. die Frage: „Wie sind all diese Güter zu nutzen?“ (Art. 33 VatII GS). Das Konzil macht auch darauf aufmerksam, dass sich die Verantwortung des Menschen weite, „je mehr … die Macht der Menschen wächst“ (Art. 34 Abs. 3 VatII GS; vgl. auch Art. 31 und 55 Vat II GS). Das künftige Schicksal der Menschheit liege in den Händen jener, „die den kommenden Geschlechtern Triebkräfte des Lebens und der Hoffnung vermitteln können“ (Art. 31 Abs. 3 VatII GS). „Gesinnungswandel“ (Art. 26 Abs. 3 VatII GS) und „Solidarität“ (Art. 32 Abs. 3 VatII GS; vgl. auch Art. 69 Abs. 1 VatII GS) sind gefordert. Allgemein stellt das Konzil fest, dass die „Angst der Menschen von heute, besonders der Armen und Bedrängten aller Art … auch … Angst der Jünger Christi“ ist bzw. sein muss (Art. 1 VatII GS). Papst Paul VI. kommt in seiner Enzyklika „Populorum progressio“ über die Entwicklung der Völker vom 26. März 196746 auf die Aussage des Schöpfungsberichts Gen 1,28 11. April 1963 an die Ehrwürdigen Brüder, die Patriarchen, Primaten, Erzbischöfe, Bischöfe und die andern Oberhirten, die in Frieden und Gemeinschaft mit dem Apostolischen Stuhl leben, an den Klerus und die Christgläubigen des ganzen Erdkreises sowie an alle Menschen guten Willens über den Frieden unter allen Völkern in Wahrheit, Gerechtigkeit, Liebe und Freiheit, in: AAS 55 (1963), S. 257 – 304; dt.: Bundesverband der Katholischen Arbeitnehmer-Bewegung, Texte (Anm. 44), S. 241 – 290; die zitierten Texte finden sich weithin auch unter: http://www.uibk.ac.at/theol/leseraum/quelltext (eingesehen 28. 07. 2011). 46 Paul VI., Rundschreiben „Populorum progressio“ vom 26. März 1967 an die Bischöfe, die Priester, die Ordensleute, die Gläubigen der gesamten katholischen Welt und an alle

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zu sprechen (Nr. 22). Erstmals wohl wird die ökologische Frage im Apostolischen Schreiben „Octogesima adveniens“ Papst Pauls VI. vom 14. Mai 197147 ausdrücklich angesprochen, wenn der Papst von einem neuen Problem spricht, das über den Menschen „als Folge seines eigenen Tuns ebenso katastrophal wie unerwartet“ hereinbricht. „Plötzlich wird der Mensch sich heute bewußt, infolge seiner unbedachten Ausbeutung der Natur laufe er Gefahr, diese zu zerstören und selbst zum Opfer ihrer auf ihn selbst zurückschlagenden Schändung zu werden. Aber nicht nur die stoffliche Umwelt wird zu einer Bedrohung für den Menschen: die Verschmutzung, die Abfälle, neue Krankheiten, die absolute Zerstörungsgewalt. Dasselbe gilt auch von seiner menschlichen Umgebung, die er nicht mehr meistert und die darum in Kürze zu Lebensbedingungen führen kann, die ihm unerträglich werden. Hier handelt es sich um ein so weit ausgreifendes Problem, daß die ganze Menschheitsfamilie davon betroffen wird“ (Nr. 21). Der Christ müsse diesen Dingen „seine Aufmerksamkeit zuwenden, um zusammen mit seinem Mitmenschen die Verantwortung für ein hinfort allen gemeinsames Geschick auf sich zu nehmen“ (Nr. 21). Zudem richtete Papst Paul VI. unter dem Titel „Das beängstigende Problem des Umweltschutzes“ am 1. Juni 1972 eine Botschaft an die Internationale Umweltschutzkonferenz der Vereinten Nationen, die in Stockholm tagte.48 Auch die Römische Bischofssynode setzte sich im Jahr 1971 in ihrem Dokument „De iustitia in mundo“ mit Umweltfragen auseinander.49 So habe „die Nachfrage der wohlhabenderen … Länder nach Rohstoffen und Energie (wie auch die schädliche Wirkung ihrer Abfälle auf Atmosphäre und Ozeane) ein solches Ausmaß erreicht, daß die wesentlichen Voraussetzungen des Lebens auf dieser Erde wie Luft und Wasser unwiederherstellbar geschädigt würden, wenn diese Höhe des Verbrauchs, dieser Grad der Verschmutzung und diese Schnelligkeit des Wachstums bei der gesamten Menschheit Platz greifen würde“ (Nr. 11). Den Menschen würde bewusst, „wie Naturschätze, beispielsweise so kostbare Güter wie Luft und Wasser, ohne die kein Leben möglich ist, und all die Dinge, die zu der schmalen und gebrechlichen ,BiosphäreÐ alles dessen gehören, was auf dieser Welt lebt, nicht unerschöpflich sind, sondern als einmalige und unersetzliche Ausstattung der gesamten Menschheit sorgsamer Pflege und des Schutzes bedürfen“ (Nr. 8). Erziehung zu Gerechtigkeit (Nr. 50 – 59), Zusammenarbeit der Ortskirchen (Nr. 60 – 61) und ökumenische ZuMenschen guten Willens über die Entwicklung der Völker, in: AAS 59 (1967), S. 257 – 299; lat./dt.: NKD 4 (1967), S. 16 – 98; dt.: Bundesverband der Katholischen Arbeitnehmer-Bewegung, Texte (Anm. 44), S. 405 – 440. 47 Paul VI., Apostolisches Schreiben „Octogesima adveniens“ vom 14. Mai 1971 an Seine Eminenz Kardinal Maurice Roy, Präsident des Laienrates und der Päpstlichen Kommission „Iustitia et Pax“, in: AAS 63 (1971), S. 401 – 441; lat./dt.: NKD 35 (1971), S. 18 – 97; dt.: Bundesverband der Katholischen Arbeitnehmer-Bewegung, Texte (Anm. 44), S. 457 – 491. 48 Vgl. Andreas M. Rauch, Der Heilige Stuhl und die Europäische Union, Baden-Baden 1995, S. 71. 49 Römische Bischofssynode, Dokument „De iustitia in mundo“ 1971, in: AAS 63 (1971), S. 923 – 942; dt.: Bundesverband der Katholischen Arbeitnehmer-Bewegung, Texte (Anm. 44), S. 495 – 517.

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sammenarbeit (Nr. 62 – 63), aber auch internationale Maßnahmen (Nr. 64) werden angesprochen. Die Bischofskonferenzen werden aufgefordert, die Gedanken und Empfehlungen „in die Tat umzusetzen“ (Nr. 65). Ausführlich werden ökologische Probleme in der Botschaft Papst Johannes Pauls II. zum Weltfriedenstag des Jahres 199050 und in der Gemeinsamen Erklärung von Papst Johannes Paul II. und dem Ökumenischen Patriarchen Bartholomäus I. vom 10. Juni 2002, der so genannten Erklärung von Venedig, behandelt: „Die Achtung vor der Schöpfung gründet auf der Achtung vor dem Leben und der Würde des Menschen … Uns ist keine grenzenlose Macht über die Schöpfung gegeben, wir sind lediglich die Verwalter eines gemeinsamen Erbes … Wir müssen bereit sein, die verschiedenen Situationen und Verantwortlichkeiten bei unserer Arbeit zum Erhalt der Umwelt weltweit anzuerkennen.“51 Das Thema Schöpfungsverantwortung hatte Papst Johannes Paul II. bereits in seiner Antrittsenzyklika „Redemptor hominis“ vom 4. März 1979 aufgegriffen, indem er vor allem die Hintergründe der ökologischen Krise anspricht (vgl. Nr. 13 – 17)52. „Der Mensch scheint oft keine andere Bedeutung seiner natürlichen Umwelt wahrzunehmen, als allein jene, die den Zwecken eines unmittelbaren Gebrauchs und Verbrauchs dient“ (Nr. 15). Der Papst verweist darauf, dass „der Mensch von heute … immer wieder von dem bedroht zu sein (scheint), was er selbst produziert, das heißt vom Ergebnis der Arbeit seiner Hände und noch mehr vom Ergebnis der Arbeit seines Verstandes und seiner Willensentscheidung“. Der Mensch lebe „darum immer mehr in Angst“ (Nr. 15; vgl. auch Nr. 16). In seinem Rundschreiben „Laborem exercens“ vom 14. September 198953 50

Vgl. Johannes Paul II., Friede mit Gott dem Schöpfer, Friede mit der ganzen Schöpfung. Botschaft vom 8. Dezember 1989 zur Feier des Weltfriedenstages am 1. Januar 1990, Nr. 10, in: AAS 82 (1990), S. 147 – 156, hier S. 152 f.; OssRom (dt.), 19. Jg., Nr. 50, 15. Dezember 1989, S. 1 u. 7 f., hier S. 7; ferner unter: http://www.iupax.at/index.php/listefriedensbotschaften/87-1990-botschaft-zur-feier-des-weltfriedenstages-papst-johannespaul-ii.html (eingesehen 22. 07. 2011); siehe auch Alois Riedlsperger, Soziallehre ist „wesentlicher Teil der Glaubensverkündigung“. Johannes Paul II. hat in Sozialverkündigung deutliche Akzente gesetzt und entwickelte damit Art und Inhalt der katholischen Soziallehre weiter, in: Kathpress-Tagesdienst Nr. 100, 28. 04. 2011, S. 6 – 8. 51 Johannes Paul II. und Ökumenischer Patriarch Bartholomäus I., Gemeinsame Erklärung von Rom/Venedig, Montag, 10. 6. 2002: http://www.vatican.va/holy_father/john_paul_ii/ speeches/2002/june/documents/hf_jp-ii_spe_20020610_venice-declaration_ge.html (eingesehen 22. 07. 2011); siehe auch Johannes Paul II. und Ökumenischer Patriarch Bartholomaios I., Gemeinsame Erklärung vom 29. 6. 2004: http://www.vatican.va/holy_father/john_paul_ii/ speeches/2004/july/documents/hf_jp-ii_spe_20040701_jp-ii-bartholomew-i_ge.html (eingesehen 22. 07. 2011). 52 Johannes Paul II., Enzyklika „Redemptor hominis“ vom 4. März 1979 an die verehrten Mitbrüder im Bischofsamt, die Priester und Ordensleute, die Söhne und Töchter der Kirche und an alle Menschen guten Willens zum Beginn seines päpstlichen Amtes, bes. Nr. 13 – 17, in: AAS 71 (1979), S. 257 – 324, bes. S. 282 – 300; dt.: VApSt 6, Bonn 1979, bes. S. 25 – 41; ferner unter: http://www.vatican.va/holy_father/john_paul_ii/encyclicals/documents/hf_jpii_enc_04031979_redemptor-hominis_ge.html (eingesehen 22. 07. 2011) . 53 Johannes Paul II., Rundschreiben „Laborem exercens“ vom 14. September 1981 an die verehrten Mitbrüder im Bischofsamt, die Priester und Ordensleute, die Söhne und Töchter der

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bemerkt der Papst, dass der Mensch Abbild Gottes unter anderem deshalb ist, „weil er von seinem Schöpfer den Auftrag empfangen hat, sich die Erde zu unterwerfen und sie zu beherrschen. Indem er diesen Auftrag erfüllt, spiegelt der Mensch und jeder Mensch das Wirken des Weltenschöpfers selber wieder“ (Nr. II. 4 Abs. 2). Im Rundschreiben „Sollicitudo rei socialis“ vom 30. Dezember 198754 beschreibt der Papst nicht nur „das Bild der heutigen Welt“ (Kapitel III), sondern stellt auch „das wachere Bewußtsein von der Begrenztheit der verfügbaren Ressourcen“ und die „Notwendigkeit, die Unversehrtheit und die Rhythmen der Natur zu achten und bei der Planung der Entwicklung zu berücksichtigen“ (Nr. 26), heraus. Er fordert die „Achtung vor den Geschöpfen“ (Nr. 34). Er erinnert daran, dass man „nicht ungestraft von den verschiedenen lebenden oder leblosen Geschöpfen – Naturelemente, Pflanzen, Tiere – … Gebrauch machen kann“. Die Begrenztheit der natürlichen Ressourcen erfordere, sie nicht „mit absolutem Verfügungsanspruch zu benutzen, als ob sie unerschöpflich wären“. Ein solches Handeln brächte ihr Fortbestehen „nicht nur für die gegenwärtige Generation, sondern vor allem für die künftigen in ernste Gefahr“. Im Sinn einer „Lebensqualität“ werden mit Blick auf die Verschmutzung der Umwelt und die Folgen für die Gesundheit der Bevölkerung Grenzen für den Gebrauch der sichtbaren Natur angesprochen (Nr. 34). Auch im Rundschreiben „Centesimus annus“ vom 1. Mai 199155 greift der Papst in Nr. 37 „die Frage der Ökologie“ auf. Er spricht von der „sinnlosen Zerstörung der natürlichen Umwelt“ und ergänzt sie um „die noch schwerwiegendere Zerstörung der menschlichen Umwelt“ (Nr. 38). Dem Staat komme eine entscheidende Aufgabe bei der Bewahrung der natürlichen und der menschlichen Umwelt zu (Nr. 40). Der Heilige Stuhl konnte auch anlässlich der UN-Konferenz über Umwelt und Entwicklung (UNCED) in Rio de Janeiro vom 3. bis 14. Juni 1992 zur weltweiten Umweltzerstörung Stellung beziehen. Wie Andreas Rauch herausstellt, begrüßte der Heilige Stuhl grundsätzlich „das Zustandekommen der Konferenz als Schritt zu ,Peace with all CreationГ, zugleich übte er aber auch Kritik an ihr, „weil das Klimaübereinkommen keine völkerrechtliche Verpflichtung der industrialisierten Staaten zur Begrenzung ihrer CO2-Emissionen“ enthielt, wie sie die meisten OECD-Staaten und insbesondere die Europäische Gemeinschaft und die Mitgliedstaaten der Europäischen Freihandelsassoziation (EFTA) gefordert hatte. Es herrschte „im Vatikan Unzufriedenheit darüber, dass in Kirche und an alle Menschen guten Willens „Über die menschliche Arbeit“ zum neunzigsten Jahrestag der Enzyklika Rerum Novarum, in: AAS 73 (1981), S. 577 – 647; dt.: Bundesverband der Katholischen Arbeitnehmer-Bewegung, Texte (Anm. 44), S. 529 – 601. 54 Johannes Paul II., Rundschreiben „Sollicitudo rei socialis“ vom 30. Dezember 1987 an die Bischöfe und Priester, an die Ordensgemeinschaften, an alle Söhne und Töchter der Kirche, an alle Menschen guten Willens zwanzig Jahre nach der Enzyklika Populorum progressio, in: AAS 80 (1988), S. 513 – 586; dt.: Bundesverband der Katholischen ArbeitnehmerBewegung, Texte (Anm. 44), S. 619 – 687. 55 Johannes Paul II., Rundschreiben „Centesimus annus“ vom 1. Mai 1991 an die verehrten Mitbrüder im Bischofsamt, den Klerus, die Ordensleute, die Gläubigen der katholischen Kirche und alle Menschen guten Willens zum hundertsten Jahrestag von Rerum novarum, in: AAS 83 (1991), S. 793 – 867; dt.: Bundesverband der Katholischen ArbeitnehmerBewegung, Texte (Anm. 44), S. 689 – 764.

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Rio keine substantiellen Maßnahmen zur Verbesserung der Umweltsituation in der Welt erreicht wurden. In einer Ansprache vom 9. Mai 1993 wird die Verärgerung des Papstes darüber spürbar“56. Auffallend ist die Zuwendung des gegenwärtigen Papstes zum Themenkreis Schöpfungsverantwortung. So hat Papst Benedikt XVI. bei einem Jugendtreffen in Loreto im September 2007 vor dem Klimawandel und der zunehmenden Umweltzerstörung gewarnt und die Politiker in aller Welt zum Handeln aufgerufen: „Mutige Entscheidungen müssten getroffen werden, um ein starkes Bündnis zwischen den Menschen und der Erde zu schaffen, bevor es dafür zu spät sei.“57 Zudem fordert der Papst einen „sanften Tourismus“58, wie auch der Päpstliche Rat für die Migranten in seiner Botschaft zum Welttag des Tourismus (27. September) im Jahr 2010 Touristen „zu einem schonenden Umgang mit der Natur“ aufgefordert hat.59 Insgesamt müsse die Weiterentwicklung des Tourismus von den Prinzipien der Nachhaltigkeit und des Respektes vor der Umwelt geprägt sein. In der gemeinsamen Erklärung von Papst Benedikt XVI. und Patriarch Bartholomaios I. aus Anlass der Apostolischen Reise des Papstes in die Türkei vom 28. November bis 1. Dezember 2006 wollten beide Kirchenvertreter „angesichts der großen Gefahren, denen die Natur und die Umwelt ausgesetzt sind“, ihrer „Besorgnis Ausdruck geben im Hinblick auf die negativen Folgen für die Menschheit und für die gesamte Schöpfung, die sich aus einem wirtschaftlichen und technologischen Fortschritt ergeben können, der seine Grenzen nicht erkennt“60. Nach zwei Enzykliken zu theologischen Kernbegriffen („Deus caritas est“ vom 25. Januar 2006 und „Spe salvi“ vom 30. November 2007) wendet Papst Benedikt XVI. seine dritte Enzyklika „Caritas in veritate“ vom 29. Juni 56

So Rauch, Der Heilige Stuhl (Anm. 48), S. 73 f., unter Hinweis auf Johannes Paul II., Die Zerstörung der ökologischen Ressourcen bringt die Gefahr eines „Umwelt-Holocausts“, in: OssRom (dt.), Nr. 20, 21. 05. 1993, S. 8 f. 57 Klimaschutz. Papst ruft zur Rettung der Umwelt auf (02. 09. 2007): http://www.focus.de/politik/ausland/papst/klimaschutz_aid_131486.html (eingesehen 11. 08. 2010); vgl. auch: Papst mahnt zum Schutz der bedrohten Schöpfung. Gottesdienst mit 30.000 Gläubigen auf der zentralen Piazza Garibaldi in der Domstadt Sulmona am Fuß des Maiella-Massivs, in: Kathpress-Tagesdienst Nr. 152, 04. 07. 2010, S. 4 f. 58 Vgl. Vatikan: Papst fordert sanften Tourismus (27. 09. 2008): http://www.focus.de/ reisen/urlaubstipps/vatikan-papst-fordert-sanften-tourismus_aid_336400.html (eingesehen 22. 07. 2011). 59 Vgl. Vatikan ruft Touristen zum Umweltschutz auf. Tourismusunternehmen sollen Beitrag zur nachhaltigen Entwicklung der Urlaubsorte leisten, in: Kathpress-Tagesdienst Nr. 148, 29.06.2010, S. 16; Vatikan ruft zu ökobewusstem Reisen auf. Botschaft zum Tourismus-Welttag: Nachhaltiger Tourismus ist einzige Chance, wirtschaftlichen Gewinn, Ressourcenschutz und Armutsbekämpfung zu verbinden, in: Kathpress-Tagesdienst Nr. 215, 15.09.2010, S. 14. 60 Benedikt XVI. und Patriarch Bartholomaios I., Gemeinsame Erklärung vom 30. November 2006 aus Anlass der Apostolischen Reise von Papst Benedikt XVI. in die Türkei vom 28. November bis 1. Dezember 2006: http://www.vatican.va/holy_father/benedict_xvi/speeches/2006/november/documents/hf_ben-xvi_spe_20061130_dichiarazione-comune_ge.html (eingesehen 22. 07. 2011) .

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2009 den großen sozio-ökonomischen Problemen der Gegenwart zu, näherhin auch den Fragen des Umweltschutzes und der Verantwortung gegenüber der Schöpfung.61 „Das Thema Entwicklung ist heute stark an die Verpflichtungen gebunden, die aus der Beziehung des Menschen zur natürlichen Umwelt entstehen … Der Umgang mit ihr stellt für uns eine Verantwortung gegenüber den Armen, den künftigen Generationen und der ganzen Menschheit dar … Der Gläubige erkennt … in der Natur das wunderbare Werk des schöpferischen Eingreifens Gottes, das der Mensch verantwortlich gebrauchen darf, um in Achtung vor der inneren Ausgewogenheit der Schöpfung selbst seine berechtigten materiellen und geistigen Bedürfnisse zu befriedigen. Wenn diese Auffassung schwindet, wird am Ende der Mensch die Natur entweder als ein unantastbares Tabu betrachten oder, im Gegenteil, sie ausbeuten. Beide Haltungen entsprechen nicht der christlichen Anschauung der Natur, die Frucht der Schöpfung Gottes ist“ (Nr. 48). Der Energieproblematik müsse die „entsprechende Beachtung“ geschenkt werden (Nr. 49). Der Papst fordert die Zusammenarbeit aller Verantwortlichen beim Schutz der Umwelt, der Ressourcen und des Klimas. Man könne „nur wünschen, dass die internationale Gemeinschaft und die einzelnen Regierungen es wirksam verhindern können, dass die Umwelt zu ihrem Schaden ausgenutzt wird“ (Nr. 50). Zugleich bringt der Papst klar zum Ausdruck, dass auch „die Kirche … eine Verantwortung für die Schöpfung“ hat und „diese Verantwortung auch öffentlich geltend machen“ muss (Nr. 51). Für die Gewährleistung des Umweltschutzes hält der Papst das Vorhandensein einer „echten politischen Weltautorität … [für] dringend nötig“ (Nr. 67). Die Verantwortung sei „global“, wie der Papst bemerkt. Die Globalisierung ist „weder gut noch schlecht … Sie wird das sein, was die Menschen aus ihr machen“ (Nr. 42). Papst Benedikt XVI. fordert damit, wie Manfred Spieker bemerkt, Christen und Christinnen ausdrücklich auf, „sich an der Gestaltung der Globalisierung zu beteiligen“. Dabei begründet er „diese Aufforderung – durchaus neue Akzente setzend – nicht politisch oder sozialethisch, sondern anthropologisch und theologisch“62. Ausdrücklich hat Papst Benedikt XVI. vor der Vollversammlung der Vereinten Nationen im April 2008 in New York mit Blick auf den Umweltschutz gefordert, „das ursprüngliche Bild der Schöpfung“ wieder zu entdecken. Zudem warnte er beim so genannten Hunger-Gipfel Mitte November 2009

61 Benedikt XVI., Enzyklika „Caritas in veritate” vom 29. Juni 2009 an die Bischöfe, die Priester und Diakone, an die Personen gottgeweihten Lebens, an die christgläubigen Laien und an alle Menschen guten Willens über die ganzheitliche Entwicklung des Menschen in der Liebe und in der Wahrheit, bes. Nr. 43 – 51, in: AAS 101 (2009), S. 641 – 709; dt.: VApSt Nr. 186, Bonn 2009, S. 69 – 85; ferner unter: http://www.vatican.va/holy_father/benedict_xvi/ encyclicals/documents/hf_ben-xvi_enc_20090629_caritas-in-veritate_ge.html (eingesehen 22. 07. 2011); dazu Manfred Spieker, Neue Herausforderungen der katholischen Soziallehre. „Caritas in Veritate“ verteidigt die Kultur des Lebens (Kirche und Gesellschaft, hrsg. von der Katholischen Sozialwissenschaftlichen Zentralstelle Mönchengladbach Nr. 375), Köln 2010; Herbert Pribyl, Nachhaltigkeit und Katholische Sozialverkündigung, in: Renöckl/Baloban, Zukunft (Anm. 10), S. 126 – 138. 62 Spieker, Herausforderungen (Anm. 61), S. 3.

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vor Spekulationen im Lebensmittelbereich.63 Die TeilnehmerInnen der UN-Weltklimakonferenz in Kopenhagen rief der Papst im Jahr 2009 auf, „nationale Interessen und kurzfristige Vorteile zugunsten langfristiger Strategien für die gesamte Staatengemeinschaft zurückzustellen“ und sich „für gerechtere internationale Klima- und Umweltschutzabkommen einzusetzen“64. In seiner Botschaft zum Weltfriedenstag am 1. Januar 2010 mit dem Titel „Willst du den Frieden fördern, so bewahre die Schöpfung“ hat Papst Benedikt XVI. zu „einem erneuerten ,Bund zwischen Mensch und UmweltГ aufgerufen.65 „Es gelte, zu einem neuen Lebensstil zu finden und die ,Logik des KonsumsÐ hinter sich zu lassen … Natur und Umwelt zu schützen, um eine Welt des Friedens aufzubauen, sei die Pflicht eines jeden Menschen … Der missbräuchliche Umgang mit der Erde und den von Gott geschenkten Gütern sei nicht weniger besorgniserregend als Krieg und Terrorismus.“ Mit Nachdruck mahnt der Papst zur Nachhaltigkeit. Zugleich fordert er zur „Nutzung der großen Kapazität der Solarenergie“ auf (Nr. 10). Unter Rückgriff auf seine Enzyklika „Caritas in veritate“ mahnt der Papst ausdrücklich zu einer Erziehung zu einem Umweltbewusstsein, die, wie es in der Enzyklika heißt, „eine authentische ,HumanökologieÐ einschließt“ (Nr. 12; vgl. auch Nr. 11)66. Deutlich wird die besondere Verantwortung der Kirche herausgestellt. Sie „trägt Verantwortung für die Schöpfung und ist sich bewusst, dass sie diese auch auf politischer Ebene ausüben muss, um die Erde, das Wasser und die Luft als Gaben Gottes, des Schöpfers, für alle zu bewahren 63 Vgl. „Hungergipfel“ in Rom: „Wir müssen reagieren“ (16. 11. 2009): http://diepresse.com/home/politik/aussenpolitik/521929/print.do (eingesehen 11. 08. 2010). 64 Vgl. Papst fordert gerechte internationale Umweltabkommen, in: Kathpress-Tagesdienst Nr. 294, 17. 12. 2009, S. 6 f.; siehe ferner Kopenhagen: Vatikan vermisst „strategische Vision“. Kritischer Beitrag des neuen IOR-Chefs, in: Kathpress-Tagesdienst Nr. 294, 17. 12. 2009, S. 7; NGOs fordern „Nothilfepaket für ein faires Klima“. Caritas, Greenpeace, Initiative „Klima fair bessern“ und Klimaforscherin Kromp-Kolb mahnen vor Klimagipfel in Kopenhagen entschiedene Maßnahmen gegen Klimawandel ein, in: Kathpress-Tagesdienst Nr. 279, 30. 11. 2009, S. 5 f.; Kopenhagen ist (Anm. 29). 65 Vgl. Papst ruft zu „ökologischer Wende“ auf. Benedikt XVI. ruft in Botschaft zum Weltfriedenstag am 1. Jänner Weltgemeinschaft zu neuem Lebensstil auf, in: Kathpress-Tagesdienst Nr. 292, 15. 12. 2009, S. 6 f., hier S. 6; Text: Benedikt XVI., Willst du den Frieden fördern, so bewahre die Schöpfung. Botschaft zum Weltfriedenstag am 1. Januar 2010 vom 8. Dezember 2009: http://www.vatican.va/holy_father/benedict_xvi/messages/peace/documents/hf_ben-xvi_mes_20091208_xliii-world-day-peace_ge.html (eingesehen 22. 07. 2011); siehe dazu auch Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Hrsg.), Wenn du den Frieden willst, bewahre die Schöpfung. Welttag des Friedens 1. Januar 2010. Eine Arbeitshilfe der Deutschen Bischofskonferenz (Arbeitshilfen 237), Bonn 2009. 66 Vgl. in diesem Zusammenhang auch Kongregation für die Glaubenslehre, Instruktion „Dignitatis personae“ vom 8. September 2008 über einige Fragen der Bioethik, in: AAS 100 (2008), S. 858 – 887; ferner unter: http://www.vatican.va/roman_curia/congregations/cfaith/ documents/rc_con_cfaith_doc_20081208_dignitas-personae_ge.html (eingesehen 22. 07. 2011); vgl. Neues Vatikan-Dokument zur Bioethik unterstreicht Würde des Menschen. Instruktion „Dignitas Personae“ schreibt „Donum vitae“ aus dem Jahr 1987 fort – Anerkennung für wissenschaftliche Forschung, aber klares „Nein“ zu künstlicher Fortpflanzung, embryonaler Stammzellenforschung, Klonen und Mensch-Tier-Mischwesen, in: Kathpress-Tagesdienst Nr. 292, 12. 12. 2008, S. 2 f.

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und vor allem um den Menschen vor der Gefahr der Selbstzerstörung zu schützen“ (Nr. 12). Auffallend ist, dass der Papst das Thema Schöpfungsverantwortung weithin mit anderen Themen verknüpft und es so in einen größeren Zusammenhang stellt: „Das Buch der Natur ist eines und unteilbar: Es schließt nicht nur die Umwelt mit ein, sondern auch das Leben, Sexualität, Ehe, die Familie, soziale Beziehungen: in einem Wort, ganzheitliche menschliche Entwicklung.“67 Gegenüber neuen Botschaftern beim Heiligen Stuhl aus Anlass ihres Antrittsbesuchs forderte Papst Benedikt XVI. ein grundlegendes Umdenken im Umgang mit der Natur. „Die Umwelt dürfe nicht länger nur als Gegenstand der Ausbeutung betrachtet werden, sondern müsse als ,GeburtsortÐ und ,in gewissem Sinne als HausÐ des Menschen geschützt werden.“68 Schon früher hatte Papst Benedikt XVI. bei einem gleichen Anlass an die Politiker appelliert, „sich für gerechtere internationale Klima- und Umweltschutzabkommen einzusetzen“. Es sei nicht nur Aufgabe der Religionen, sondern auch des Staates, „sich für einen solchen Fortschritt einzusetzen, der den Menschen in den Mittelpunkt stelle“69. Dabei sei auch die internationale Ebene gefordert. Das Thema Schöpfungsverantwortung wird auch von Einrichtungen der Römischen Kurie aufgegriffen.70 IV. Kirchliche Impulse auf europäischer Ebene Auf europäischer Ebene hat sich die Kommission der Bischofskonferenzen der Europäischen Gemeinschaft (ComECE) immer wieder zu Umweltfragen geäußert. So hatte deren damaliger Präsident, Bischof Adrianus van Luyn, im Vorfeld des Weltklimagipfels in Kopenhagen an die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union appelliert, „alles für ein ehrgeiziges, umfassendes und gerechtes Klimaabkommen in Kopenhagen zu tun“, da die Industrieländer „ganz wesentlich“ für die bisherige Erderwärmung verantwortlich seien.71 Die Umweltbeauftragten der europäischen Bischofskonferenzen, die sich zu regelmäßigen Konsultationen treffen, stellten fest: „Die Lösung der globalen Umwelt- und Entwicklungsprobleme kann 67

Zitiert nach John Flynn (Übersetzung aus dem Englischen Michaela Koller), Papst Benedikt XVI. drängt zu Verantwortlichkeit gegenüber der Schöpfung (27. 04. 2010): http:// www.zenit.org/article-20396?l=german (eingesehen 11. 08. 2010). 68 Zitiert nach Papst fordert grundlegendes Umdenken im Umgang mit Natur. Ansprache zum Antrittsbesuch mehrerer neuer Botschafter beim Heiligen Stuhl, in: Kathpress-Tagesdienst Nr. 136, 09. 06. 2011, S. 8 f., hier S. 9. 69 Papst fordert gerechte (Anm. 64), S. 6 f. 70 Päpstlicher Rat für Gerechtigkeit und Frieden, Dekalog über Moral und Umwelt, in: ders., Kompendium der Soziallehre der Kirche, Freiburg/Basel/Wien 2006; vgl. Zenit, Päpstlicher Rat für Gerechtigkeit und Frieden legt Dekalog über über Moral und Umwelt vor (09. 11. 2005): http://www.zenit.org/article-8510?l=german (eingesehen 22. 07. 2011). 71 EU-Bischofskommission: Klimawandel wird zur Überlebensfrage. ComECE-Präsident van Luyn appelliert wegen Klima an Regierungschefs der EU-Länder, in: Kathpress-Tagesdienst Nr. 287, 09. 12.2009, S. 6; http://www.katholisch.at/content/site/unsichtbar/klimagipfel/article/46907.html (eingesehen 11. 08. 2010).

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nur durch einen tiefgreifenden Bewußtseinswandel im Umgang mit der Natur erreicht werden.“72 Näherhin weisen sie darauf hin, dass „der biblische Schöpfungsglaube … keine direkten Handlungsanweisungen für die Lösung heutiger Umweltund Entwicklungsprobleme“ biete, dass er „vielmehr die Grundlage für eine Haltung kreativer Lernbereitschaft“ sei (Nr. 2). Umweltbildung wird als „Chance der Evangelisation“ gesehen (Nr. 2). „Nachhaltige Lernprozesse“ bräuchten „eine Verknüpfung mit praktischen Initiativen“, wobei die Kirche eine „Vorbildfunktion“ habe (Nr. 4). „Durch konkrete Projekte des Umweltschutzes kann sie an Glaubwürdigkeit gewinnen und zugleich Zeugnis geben von ihrem Schöpfungsglauben.“ (Nr. 4) Mit Blick auf die Klimakonferenz in Kopenhagen 2009 hatten fünf europäische Bischöfe, nämlich Ludwig Schwarz (Linz), Werner Thissen (Hamburg), John Rawsthorne (Hallam), Aloys Jousten (Lüttich) und John Kirby (Clonfert), in einem gemeinsamen Brief die Regierungschefs der Europäischen Union aufgerufen, „in dieser kritischen Phase der Klimaverhandlungen ihre moralische Verantwortung wahrzunehmen“73. Die Politik sei dabei, die „reale Chance auf Kosten der Menschen und der Schöpfung zu verspielen“74. Auch die Konferenz Europäischer Kirchen (KEK) und der Rat der Europäischen Bischofskonferenzen (CCEE) verweisen in ihrer Schrift „Versöhnung – Gabe Gottes und Quelle neuen Lebens. Eine Arbeitshilfe für die Vorbereitung der Zweiten Europäischen Ökumenischen Versammlung“ aus dem Jahr 1997 auf den Umweltschutz.75 Bereits früher hatten beide Einrichtungen den Text „Umwelt und Entwicklung. Eine Herausforderung an unsere Lebensstile“ als Abschlussdokument eines gemeinsamen Studienprojekts verabschiedet.76 Ausdrücklich begrüßen die Bischöfe des EU-Raumes das Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon, der in Art. 17 (vgl. Art. I-52 des Verfassungsvertrags) festhält, dass die Union mit den Kirchen und Religionsgemeinschaften „in Anerkennung ihrer Identität und ihres besonderen Beitrags einen offenen, transparenten und regelmäßigen Dialog pflegt“77, der auch 72 Consilium Conferentiarum Episcoporum Europae (CCEE), Ergebnisse der fünften Konsultation der Umweltbeauftragten der europäischen Bischofskonferenzen zu „Bildung für Schöpfungsverantwortung und nachhaltige Entwicklung“ Breslau/Polen 15. – 18. Mai 2003: www.ccee.ch/ressourcen/download/20080520183138.doc (eingesehen 11. 08. 2010). 73 Kopenhagen-Konferenz niederschmetternd (Anm. 29), S. 4. 74 Ebd. 75 Vgl. Konferenz Europäischer Kirchen und Rat der Europäischen Bischofskonferenzen, Versöhnung – Gabe Gottes und Quelle neuen Lebens. Eine Arbeitshilfe für die Vorbereitung der Zweiten Europäischen Ökumenischen Versammlung (1997), Genf/St. Gallen 1995 (Arbeitshilfen 124), Nr. IV, 7 und V, 8, S. 34 und S. 41 f. 76 Vgl. Rat der Europäischen Bischofskonferenzen (CCEE) und der Konferenz Europäischer Kirchen (KEK) (Hrsg.), Umwelt und Entwicklung. Eine Herausforderung an unsere Lebensstile. Ökumenische Konsultation Kreta 1995. Abschlussdokument des gemeinsamen Studienprojekts von der Konferenz Europäischer Kirchen (KEK) und der Europäischen Bischofskonferenz (CCEE) in Zusammenarbeit mit der Europäischen Ökumenischen Kommission für Entwicklung (EECOD) über Umwelt und Entwicklung Kreta, Juni 1995: http:// www.altmuehlnet.de/~faa/kreta.htm (eingesehen 22. 07. 2011). 77 Vgl. Bischöfe des EU-Raums begrüßen „Vertrag von Lissabon“: http://www.ots.at/ presseausssendung (eingesehen 04. 08. 2010); vgl. European Commission, Communication

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Umweltthemen mit einschließen kann. Europäische Bischöfe und Verantwortliche der Bischofskonferenzen für Umweltfragen begaben sich vom 1. bis 5. September 2010 auf eine „grüne“ Pilgerreise.78 Sie endete mit einem Appell an jeden einzelnen Christen und jede einzelne Christin, sich verstärkt für die Bewahrung der Schöpfung einzusetzen.79 V. Tätigwerden einzelner Bischofskonferenzen 1. Deutsche Bischofskonferenz Die Deutsche Bischofskonferenz hat neben zahlreichen kürzeren Stellungnahmen, teils zusammen mit dem Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland, umfassendere Dokumente verabschiedet, die sich mit dem Problem der Schöpfungsverantwortung befassen. Zu erinnern ist an die Schriften „Zukunft der Schöpfung – Zukunft der Menschheit“ von 198080, „Verantwortung wahrnehmen für die Schöpfung“ von 198581, „Gott ist ein Freund des Lebens“ von 198982, an das Gemeinsame Wort des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland und der Deutschen Bischofskonferenz „Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit“ vom Februar 199783 sowie from the Commission to the European Parliament, the Council, the Economic and Social Committee and the Committee of the Regions, Our life insurance, our natural capital: an EU biodiversity strategy to 2020 vom 3. Mai 2011: http://www.parlament.gv.at/cgi-bin/ eukp.pdf?P_EU=XXIV.pdf/EU/05/07/050780.pdf (eingesehen 22. 07. 2011); dazu Jos¦ Ignacio Garc†a, Neue Strategie zum Schutz der biologischen Vielfalt, in: europeinfos. Die EU aus christlicher Perspektive Nr. 139, Juni 2011, S. 4; vgl. auch Burkhard Josef Berkmann, Katholische Kirche und Europäische Union im Dialog für die Menschen. Eine Annäherung aus Kirchenrecht und Europarecht (KStuT 54), Berlin 2008. 78 Vgl. Europäische Bischöfe starteten zur „grünen“ Pilgerreise. Wallfahrt vom 1. bis 5. September führt von Esztergom nach Mariazell – Kardinal Erdö: Schöpfungsverantwortung eint alle Christen, in: Kathpress-Tagesdienst Nr. 204, 02.09.2010, S. 6 f.; siehe auch Papst ermuntert zu verstärktem Einsatz für Umweltschutz. Grußwort Benedikts XVI. an die Teilnehmer der „grünen“ Wallfahrt der europäischen Bischöfe und Umweltbeauftragten der Kirchen von Ungarn nach Mariazell, in: Kathpress-Tagesdienst Nr. 205, 03. 09. 2010, S. 8 f. 79 Vgl. „Für Schutz der Natur ist jeder Christ verantwortlich“. Festgottesdienst in Mariazell zum Abschluss der Wallfahrt der europäischen Umwelt-Bischöfe – Kardinal Schönborn mahnt im „Kathpress“-Gespräch mehr Bewusstsein für Zusammenhang von Gerechtigkeit und Umweltschutz ein, in: Kathpress-Tagesdienst Nr. 206, 05. 09. 2010, S. 2. 80 Deutsche Bischofskonferenz, Zukunft der Schöpfung – Zukunft der Menschheit. Erklärung zu Fragen der Umwelt und Energieversorgung, in: Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Zukunft der Schöpfung (Anm. 19), S. 3 – 21. 81 Kirchenamt der Evangelischen Kirche in Deutschland und Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Hrsg.), Verantwortung wahrnehmen für die Schöpfung. Gemeinsame Erklärung des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland und der Deutschen Bischofskonferenz, Köln 1985. 82 Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland und Deutsche Bischofskonferenz, Gemeinsame Erklärung „Gott ist ein Freund des Lebens. Herausforderungen und Aufgaben beim Schutz des Lebens“, Gütersloh 21990. 83 Kirchenamt der Evangelischen Kirche in Deutschland und Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Hrsg.), Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit. Wort des Rates

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an die Schrift „Handeln für die Zukunft der Schöpfung“ vom 22. Oktober 199884. Dem Schreiben „Zukunft der Schöpfung“ gingen Gedanken von Julius Kardinal Döpfner voraus, die er bereits 1974 als Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz geäußert hatte und die vom Schreiben aufgegriffen und fortgeführt werden.85 In der Schrift „Neuorientierung für eine nachhaltige Landwirtschaft. Ein Diskussionsbeitrag zur Lage der Landwirtschaft“86 von 2003 werden die Ursachen der ökologischen Krise, die Sonderstellung des Menschen und die der Schöpfung zum Nutzen der Menschen, aber auch das Verbot des willkürlichen Umgangs mit der Schöpfung beleuchtet. Hingewiesen wird auf die Solidarität zwischen Entwicklungsländern und den Industrienationen, die Verantwortung für die künftigen Generationen sowie jene des Menschen für die gesamte Natur, d. h. die Tiere, die Pflanzen und die unbelebte Natur. Im Jahr 2002 hat die Deutsche Bischofskonferenz zusammen mit dem Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland zur UN-Konferenz für Nachhaltigkeit und Entwicklung vom 26. August bis 4. September 2002 in Johannesburg eine Stellungnahme abgegeben, in der die beiden Einrichtungen Prioritäten benennen und die deutsche Verhandlungsdelegation bitten, sich für diese einzusetzen, d. h. neben der Bekämpfung der Armut und dem Aufbau einer ökologisch-sozialen Marktwirtschaft auf nationaler und globaler Ebene auch „für den globalen Klimaschutz durch schnelle Ratifizierung, Umsetzung und Fortentwicklung des Kyoto-Protokolls“87. Herausgestellt wird der wesentliche Beitrag der Kirchen, „eine Politik des ökologischen der Evangelischen Kirche in Deutschland und der Deutschen Bischofskonferenz zur wirtschaftlichen und sozialen Lage in Deutschland vom 22. Februar 1997 (Gemeinsame Texte 9), Hannover/Bonn 1997. 84 Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Handeln (Anm. 19); vgl. auch Justitia et Pax Deutschland, Bewahrung der Grundlagen des Lebens – Eine Aufgabe der Kirchen. Ein Beitrag zur aktuellen Diskussion vorgelegt von der Arbeitsgruppe „Bewahrung der Lebensgrundlagen“ der deutschen Kommission Justitia et Pax (Gerechtigkeit und Frieden, Arbeitspapier 69), Bonn 1994; zu den frühen Verlautbarungen der Deutschen Bischofskonferenz siehe auch Rees, Umwelt (Anm. 4), S. 183 f. 85 Vgl. Rauch, Der Heilige Stuhl (Anm. 48), S. 72, unter Hinweis auf Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Hrsg.), Zur Zukunft der Menschheit und den Bedingungen für ein künftiges menschenwürdiges Leben. Erzbischof Julius Kardinal Döpfner, München: Eröffnungsansprache zur Herbstvollversammlung der Deutschen Bischofskonferenz vom 23.–26. September 1974 in Salzburg (Der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz 1), Bonn 1974. 86 Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz und Kirchenamt der Evangelischen Kirche in Deutschland, Neuorientierung für eine nachhaltige Landwirtschaft. Ein Diskussionsbeitrag zur Lage der Landwirtschaft. Mit einem Wort des Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz und des Vorsitzenden des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (Gemeinsame Texte 18), Bonn/Hannover 2003. 87 Deutsche Bischofskonferenz und Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland, Stellungnahme zur UN-Konferenz für Nachhaltigkeit und Entwicklung vom 26.8.–4. 9. 2002 in Johannesburg („Rio + 10“) vom 5. Juli 2002: http://www.alt.dbk.de/aktuell/meldungen/2969/ index.html (eingesehen 11. 08. 2010); ebenso http://www.ekd.de/aktuell2002_07_05_stellungnahme_johann.html (eingesehen 11. 08. 2010).

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Strukturwandels möglich zu machen, wenn sie immer wieder aufrufen, den eigenen Lebensstil zu überdenken“. Ziel kirchlichen Handelns sei es, „mit zahlreichen praktischen Initiativen den Schöpfungsglauben in alltägliches Handeln zu übersetzen“88. Der im Auftrag der Deutschen Bischofskonferenz erstellte ExpertInnen-Text zur Herausforderung des globalen Klimawandels vom September 200689 verweist auf „eine Anzahl durchaus ermutigender Beispiele für Klimaschutz“ unter Christinnen und Christen, wie Energieversorgung durch nachhaltige Energieträger, Initiativen der Katholischen Landjugendbewegung Deutschlands (KLJB) oder die Errichtung photovoltaischer und solarthermischer Anlagen auf kirchlichen Gebäuden (damals etwa 250), wenngleich er eingestehen muss, dass die katholische Kirche in Deutschland „bisher hinter dem Möglichen und Notwendigen zurückgeblieben“ ist (Nr. 59). Der Text stellt „für eine ernsthafte Wahrnehmung der kirchlichen Klimaverantwortung“ drei Forderungen auf: „(a) eine pastorale Verankerung der Schöpfungsverantwortung im Selbstverständnis der Kirche sowie in der Diakonie, Verkündigung und Liturgie … (b) ein entschiedenes Eintreten für Veränderungen der politischen Rahmenbedingungen sowie des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Handelns zugunsten des Klimaschutzes, sowohl auf lokaler und regionaler wie auch auf nationaler, europäischer und globaler Ebene; (c) Ermutigung, Förderung und Durchführung praktischer Initiativen für klimafreundliches Handeln und eine Reduktion des Verbrauchs fossiler Energieträger“ (Nr. 62). Näherhin gilt es, „die Möglichkeiten des Energiesparens (Gebäudeisolierung, Anwendung energiesparender und energieeffizienter Techniken) und des Einsatzes erneuerbarer Energien … konsequent zu nutzen. Dies muss in die Richtlinien der Bau- bzw. Liegenschaftsabteilungen einbezogen werden, da hier die Klimaschutzpotenziale am größten sind“ (Nr. 62)90. Der Text empfiehlt u. a. auch die Einrichtung von Umweltmanagementsystemen, nachhaltiges Investment und nachhaltige Mobilitätsgestaltung, die Etablierung der Schöpfungsverantwortung und des Klimaschutzes in der Aus- und Weiterbildung kirchlicher MitarbeiterInnen, die Stärkung der Umwelterziehung und -bildung, den klimabewussten Einkauf, die Selbstverpflichtung von Pfarrgemeinden auf realistische Reduktionsziele, die Wahrung des Klimaschutzes bei konkreten kirchlichen Großveranstaltungen, eine gemeinsame kirchliche Entwicklungsarbeit, die Auszeichnung vorbildlicher Praxis sowie die Zusammenarbeit für eine Klimaschutzkampagne in Deutschland und Europa (Nr. 62). In ihrer von ExpertInnen erstellten Arbeitshilfe „Der Schöpfung verpflichtet. Anregungen für einen nachhaltigen Umgang mit Energie“ vom Mai 2011 haben die deutschen Bischöfe „ihre Forderung nach einem raschen Atomausstieg erneuert“. Sie fordern „die Entwicklung ,neuer, global verantwortbarer und zukunftsverträglicher WohlstandsmodelleÐ, Umweltschutzaspekte 88

Ebd. Vgl. Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Klimawandel (Anm. 19), bes. Nr. 58 – 64, S. 59 – 69; siehe auch Zusammenfassung unter http://www.alt.dbk.de/aktuell/ meldungen/01182/print_de.html (eingesehen 28. 07. 2010). 90 Vgl. dazu unten VI. 89

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und ein sparsamer Verbrauch von Rohstoffen müssten stärker berücksichtigt werden“91. Auch die Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland betont in einer Kundgebung zu Klimawandel – Wasserwandel – Lebenswandel vom 5. November 2008, dass „wir alle … ein Teil von Gottes guter Schöpfung (sind) und … als Menschen mit vielen anderen Geschöpfen auf diesem Planeten“ leben. Sie erinnert daran, dass die Taufe als Sakrament „untrennbar das Wort Gottes mit dem Wasser“ verbindet, und Gott „der Schöpfer und Ursprung allen Lebens“ ist. „Er hat die Erde zum Wohnen geschaffen (Jes 45,18) und dem Menschen als seinem Haushalter auf Erden eine besondere treuhänderische Verantwortung zugewiesen: Er soll die Erde bebauen und bewahren (1. Mose 2,15) und Verantwortung für die Schöpfung übernehmen, für Tiere, Pflanzen und die natürlichen Lebensräume. Die Gott-Ebenbildlichkeit des Menschen (1. Mose 1,26) stellt ihn in diese Verantwortung hinein.“ Die Synode weist auf den Versuch der Kirchen hin, die vom abendländischen Christentum nachhaltig geprägte Mentalität im Umgang mit den natürlichen Ressourcen als Machtentfaltung im Sinne eines Freibriefs, sich die Erde nach Belieben untertan zu machen, „als eigenes Erbe kritisch aufzuarbeiten und den notwendigen Bewusstseinswandel von seinen biblisch-theologischen Grundlagen her in die gesellschaftliche Debatte hineinzutragen“. Insgesamt gesehen erfordert der Klimawandel „einen neuen Lebenswandel“92.

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Bischöfe wollen Energiewende. Expertenpapier veröffentlicht: Kernenergie ethisch nicht verantwortbar, in: Die Tagespost, Nr. 63, Samstag, 28. Mai 2011, S. 7; Text: Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Hrsg.), Der Schöpfung verpflichtet. Anregungen für einen nachhaltigen Umgang mit Energie. Ein Expertentext zu den ethischen Grundlagen einer nachhaltigen Energieversorgung, 16. Mai 2011 (Arbeitshilfen 245), Bonn 2011; ferner unter: http://www.dbk.de/fileadmin/redaktion/veroeffentlichungen/arbeitshilfen/AH_245.pdf (eingesehen 22. 07. 2011). 92 Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland, Kundgebung zu Klimawandel – Wasserwandel – Lebenswandel vom 5. November 2008, in: Amtsblatt der Evangelischen Kirche in Deutschland, Jg. 2008, Heft 12, 15. Dezember 2008, Nr. 151, S. 362 – 366; ferner unter: http://www.kirche-hamburg.de/fix/files/doc/ekd_ab12 – 08auszug.pdf (eingesehen 22. 07. 2011); http://www.ekd.de/synode2008/kundgebung/beschluss_kundgebung_klima_wasser_le benswandel.html#top (eingesehen 22. 07. 2011). Näherhin bittet die Synode den Rat der EKD, „der Arbeit für die Schöpfungsverantwortung in der EKD einen gewichtigeren Platz einzuräumen“ und „deshalb mit den Gliedkirchen in einen intensiven Dialog einzutreten“. Vgl. Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland, Beschluss zur Schöpfungsverantwortung vom 5. November 2008, ebd., Nr. 152, S. 366; ferner unter: http://www.kirche-hamburg.de/fix/ files/doc/ekd_ab12 – 08auszug.pdf (eingesehen 22. 07. 2011); http://www.zukunftsfaehigesdeutschland.de/zukunftsfaehiges_deutschland/resonanzen/kommentare/beschluss_der_10_syn ode_der_evangelischen_kirche_in_deutschland/ (eingesehen 22. 07. 2011). Wie die Deutsche Bischofskonferenz fordert auch die Evangelische Kirche in Deutschland den Ausstieg aus der Atomenergie: Kirchenvorstoß für Atomausstieg. Ratsvorsitzender Schneider mit Blick auf Japan: „Wir müssen so schnell wie möglich aus dieser Technik herauskommen“, in: Kathpress-Tagesdienst Nr. 62, 14. 03.2011, S. 7 f.

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2. Österreichische Bischofskonferenz Auch die Österreichische Bischofskonferenz wendet sich der Frage der Schöpfungsverantwortung zu. So riefen die österreichischen Bischöfe bereits anlässlich ihrer Frühjahrsvollversammlung am 19. April 1984 zur „Solidarität mit der bedrohten Umwelt“ auf.93 Gemäß dem Sozialhirtenbrief der österreichischen Bischöfe von 199094 gilt es „zu allererst … zu lernen, daß die Schöpfung und alles, was lebt, einen gottgewollten Eigenwert besitzt und nicht allein zum Nutzen des Menschen da ist. Der Ideologie eines grenzenlosen Wirtschaftswachstums durch willkürliche Ausbeutung der Natur ist die Ehrfurcht vor der und die Verantwortung für die Schöpfung entgegenzusetzen“ (Nr. 52). Die Bischöfe verweisen darauf, dass die Bedrohung der Natur und Umwelt auf weltweiter Ebene vor allem „mit dem Elend der Entwicklungsländer“ zusammenhängt. „Solange die ,Strukturen der ArmutÐ weiterbestehen und sogar noch anwachsen, wird auch die Bedrohung der Natur und Umwelt weiterbestehen und zunehmen“ (Nr. 56). Auf ihrer Herbstvollversammlung vom 3. bis 5. November 1993 begrüßten die österreichischen Bischöfe den Einsatz vieler Gläubigen für die Bewahrung der Schöpfung und ermutigten zu weiteren Schritten. Auch das Sozialwort des Ökumenischen Rates der Kirchen in Österreich vom 30. November 200395 greift das Thema Schöpfungsverantwortung auf. Es weist besonders auf eine „Schöpfungsspiritualität“ und ruft dazu auf, die Zeit zwischen dem 1. September und dem 4. Oktober als Schöpfungszeit zu begehen (Nr. 297). Vor allem mit Blick auf den österreichischen Alpenraum, jener Region in Europa, „die am stärksten vom Klimawandel betroffen“ ist, betonte die Österreichische Bischofskonferenz in ihrer Erklärung zum Klimaschutz von 2007, dass die „Verantwortung für die Schöpfung … zu den selbstverständlichen Aufgaben der Christen“ zählt96. Dies bedeute „auch eine Selbstverpflichtung für die katholische Kirche in Österreich, sich im eigenen Bereich für den Schutz der Umwelt, für Nachhaltigkeit und für einen Lebensstil einzusetzen, der der Verantwortung für die Schöpfung entspricht“97. Kardinal Christoph Schönborn bemerkte angesichts der Krise, in der sich die österreichische Kirche seit einigen Jahren befindet, anlässlich der Abschlusspressekonferenz der Frühjahrsvollversammlung der österreichischen Bischofskonferenz 2009, dass es 93 Vgl. Österreichische Bischofskonferenz, „Solidarität mit der bedrohten Umwelt“. Erklärung anlässlich der Frühjahrsvollversammlung am 19. April 1984: http://www.dioezeselinz.at/redsys/index.php?action_new=read&Article_ID=117874&page_new=387 (eingesehen 11. 08. 2010). 94 Katholische Bischöfe Österreichs, Sozialhirtenbrief: Der Mensch ist der Weg der Kirche vom 15. Mai 1990, bes. Nr. 48 – 57: http://stjosef.at/dokumente/sozialhirtenbrief_oesterreich_1990.htm (eingesehen 11. 08. 2010). 95 Vgl. Ökumenischer Rat der Kirchen in Österreich (Hrsg.), Sozialwort des Ökumenischen Rates der Kirchen in Österreich vom 30. November 2003, Wien 2003, Nr. 285 – 308, S. 108 – 113. 96 Österreichische Bischofskonferenz, Erklärung zum Klimaschutz von 2007: http://www. schoepfung.at/content/site/home/aktuelles/article/47.html?SWS=2ab5f21d962286a55647530 f982cf423 (eingesehen 11. 08. 2010). 97 Ebd.

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„gerade in einer Krisenzeit … die Beachtung der Grundprinzipien der katholischen Soziallehre“ brauche. Bei diesen Prinzipien ginge es u. a. auch „um einen nachhaltigen Lebensstil, der den ökologischen Grenzen und der Verpflichtung zur weltweiten Gerechtigkeit Rechnung trägt“98. Das Thema Klimaschutz spielte auch bei der Herbstvollversammlung der österreichischen Bischöfe vom 9. bis 12. November 2009 eine wichtige Rolle. „Die dramatische Zuspitzung der weltweiten Klimakrise löst“, wie die Österreichische Bischofskonferenz in ihrer Presseerklärung99 feststellt, „zunehmend berechtigte Sorge aus. Die Bischöfe begrüßen daher alle Schritte von staatlicher wie auch von Seiten der Nichtregierungsorganisationen, die zur Realisierung eines sozial ausgewogenen und nachhaltigen Post-Kyoto-Abkommens der UNO gesetzt wurden und in Planung sind. Mit Nachdruck unterstützen die Bischöfe die internationale Kampagne gegen Armut und für Klimagerechtigkeit ,Klima fair bessern!Ð, die im Dezember 2008 von den katholischen Hilfswerken und der Konferenz der Umweltbeauftragten der katholischen Kirche Österreichs gestartet wurde“ (Nr. 3). Die Österreichische Bischofskonferenz rechnete auch mit dem Einsatz der Bundesregierung bei der UN-Klimakonferenz 2009 in Kopenhagen „für das Zustandekommen eines fairen, verbindlichen, einklagbaren und weltweiten Klimaabkommens …, das zu einem Klima der Gerechtigkeit beiträgt“ (Nr. 3). Wie überall auf der Welt ordnete auch sie das Läuten der Kirchenglocken für den 13. Dezember 2009 an, um die KonferenzteilnehmerInnen zum Abschluss eines nachhaltigen und gerechten Abkommens aufzurufen (Nr. 3). Unter dem Eindruck der Katastrophe in Japan im März 2011 hat die Österreichische Bischofskonferenz darauf hingewiesen, „wie verletzlich unsere weltweit vernetzte Lebenswelt ist“, und zugleich an die „Katastrophe von Tschernobyl vor 25 Jahren“ erinnert. „Mit Blick auf ein ethisch verantwortbares Handeln für die Gegenwart und die nachkommende Generation ist ein ernsthaftes Überdenken der bisherigen Energiepolitik geboten. Gleichzeitig sind ein Umdenken und konkrete Maßnahmen zur Förderung umweltfreundlicher und erneuerbarer Energieformen notwendig … Der Mensch darf die Schöpfung nicht ausbeuten. Eine Änderung unseres Lebensstils wird nur dann gelingen, wenn sie auch mit Verzicht verbunden ist … Alle gesellschaftlichen Kräfte müssen zusammenwirken, dass wir den Weg des maßlosen Energieverbrauchs verlassen und ethisch verantwortbare Alternativen finden. Das betrifft die Verantwortungsträger in Politik und Wirtschaft genauso wie jeden einzelnen. Die Kirche in Österreich will mit ihren Möglichkeiten 98

Nach den „Turbulenzen“ setzt die Kirche auf Versöhnung. Kardinal Schönborn erläuterte bei Abschlusspressekonferenz der Frühjahrsvollversammlung der Österreichischen Bischofskonferenz Stellungnahmen zur Finanz- und Wirtschaftskrise, zum Verhältnis von Religionsunterricht und Ethikunterricht und zum Kirchenbeitrag – Gedenken an Kardinal König (13. 03. 2009): http://www.katholisch.at/content/site/unsichtbar/biko/article/29315.html (eingesehen 11. 08. 2010). 99 Lebensschutz, Klimawandel und Bildungsdebatte. Wortlaut der Presseerklärung der Herbstvollversammlung der Österreichischen Bischofskonferenz, 9. bis 12. November 2009, Stift Michaelbeuern, Nr. 3, in: Kathpress-Tagesdienst Nr. 265, 13. 11. 2009, S. 11 – 16, hier S. 13; ferner unter: http://www.bischofskonferenz.at/content/site/dokumente/presseerklaerungen/2009/article/330.html (eingesehen 11. 08. 2010).

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dazu beitragen.“100 Wie der Vatikan101, der Ökumenische Patriarch102 und die Deutsche Bischofskonferenz bzw. die deutschen Bischöfe103 unterstützen auch die österreichischen Bischöfe die gegenwärtigen Anti-Atom-Proteste bzw. die Forderung nach Ausstieg aus der Atomenergie104. 3. Italienische Bischofskonferenz Mit Blick auf die Italienische Bischofskonferenz hat der frühere Bischof von Bozen-Brixen, Karl Golser, maßgeblich zur Verabschiedung eines umfassenden Programms zur Bewahrung der Schöpfung beigetragen. Auch hat sich Golser immer wieder besonders für die Bewahrung der Schöpfung eingesetzt und an der Abfassung eines Dokuments der Kommission der Bischofskonferenzen des EU-Raumes zum

100

Kreuz (Anm. 1), S. 14. Vgl. Vatikansprecher: Nachdenken über Risiken der Atomenergie, in: Kathpress-Tagesdienst Nr. 67, 20. 03. 2011, S. 10. 102 Vgl. Bartholomaios I. für „grüne Energie“ statt Atomkraft. Ökumenischer Patriarch von Konstantinopel fordert Alternativen zur „für die Menschheit so gefährlichen“ Atomenergie – Priester der japanischen Diözese Sendai unter den Todesopfern, in: Kathpress-Tagesdienst Nr. 62, 14.03.2011, S. 7; Kirchen kritisieren Atomkraft. Ökumenischer Patriarch ruft zum Ausstieg auf – Kardinal Marx: „Risiken nicht beherrschbar, in: Die Tagespost, Nr. 32, Donnerstag, 17. März 2011, S. 1. 103 Vgl. Zollitsch zur deutschen Atomdebatte: „Kernkraft neu bewerten“. Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz: Suche nach Alternativen mit aller Kraft vorantreiben, in: Kathpress-Tagesdienst Nr. 66, 18. 03. 2011, S. 9; Deutsche Bischöfe: „Kirche seit 1977 auf Distanz zu Kernenergie“. Aber auch Einsatz für erneuerbare Energien „geht nicht immer risikolos und umweltschonend vonstatten“, in: Kathpress-Tagesdienst Nr. 105, 04. 05. 2011, S. 13; Kardinal Marx: Atomenergie offenbar nicht beherrschbar. Auch in Deutschland mehren sich die kirchlichen Stimmen für einen raschen Ausstieg in: Kathpress-Tagesdienst Nr. 64, 16. 03. 2011, S. 11 f.; Atomdiskussion: Kardinal Marx gegen fluchtartigen Ausstieg. Katholische Kirche in Deutschland votiert dennoch für raschen Atomenergieausstieg – Politik soll „sozial und wirtschaftlich gerechte“ Energiewende gestalten, in: Kathpress-Tagesdienst Nr. 124, 26. 05. 2011, S. 10 f. 104 Vgl. Salzburger Erzbischof unterstützt Anti-Atom-Proteste. Kothgasser: „Alle gesellschaftlichen Kräfte müssen zusammenwirken, dass wir den Weg des maßlosen Energieverbrauchs verlassen“, in: Kathpress-Tagesdienst Nr. 93, 19. 04. 2011, S. 5 f.; „Umwelt-Bischof“ Schwarz unterstützt Ausstieg aus der Atomenergie. Kärntner Bischof: Aus Super-GAU von Tschernobyl richtige Schlüsse ziehen – Kirchliche Umweltbeauftragte rufen zur Unterzeichnung des EURATOM-Volksbegehrens auf, in: Kathpress-Tagesdienst Nr. 54, 04. 03. 2011, S. 4; Schönborn zu Atomenergie: „Höchste Zeit umzudenken“. Kardinal in „Heute“-Kommentar: Krise in Japan zeigt, „dass auch friedliche Nutzung der Atomenergie letztlich nicht beherrschbar ist“, in: Kathpress-Tagesdienst Nr. 66, 18. 03. 2011, S. 2 f.; Kirchliche Umweltbeauftragte rufen zu Atomstrom-Boykott auf. Erklärung der katholischen und evangelischen Umweltbeauftragen: Österreich soll sich von ausländischem Atomstrom unabhängig machen, in: Kathpress-Tagesdienst Nr. 63, 15. 03. 2011, S. 2 f.; Fischler fordert Energiedebatte ohne Tabus. Präsident des Ökosozialen Forums mahnt in Kirchenzeitungs-Interview Kostenwahrheit bei Atomstrom ein, in: Kathpress-Tagesdienst Nr. 71, 24. 03. 2011, S. 3 f. 101

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Klimawandel mitgewirkt. Ebenso war er, wie die Innsbrucker Bischöfe, an Initiativen zur Reduktion der Verkehrsbelastung im Alpenraum beteiligt.105 VI. Handeln österreichischer Diözesen und Pfarreien Während bislang auf gesamtkirchlicher Ebene und auf der Ebene der Bischofskonferenzen grundsätzliche Überlegungen und Appelle im Vordergrund standen, sind Diözesen und Pfarreien eher praxisorientiert auf dem Weg. Bereits sehr früh haben einzelne Bischöfe das Thema Umwelt bzw. Schöpfungsverantwortung angesprochen.106 Näherhin hat sich die Diözese Linz bereits im Jahr 1996 ein Umweltleitbild gegeben. In ihm wird die „Bewahrung und Gestaltung der Schöpfung“ als wichtiges Anliegen gesehen: „Die Diözese Linz möchte die Menschen, insbesondere die Christinnen und Christen, anregen, sich aktiv an der Erhaltung, Wiederherstellung und Gestaltung der natürlichen Lebensgrundlagen zu beteiligen, und gemeinsam mit allen Betroffenen nach gangbaren Wegen suchen, um allen und allem auf der Erde ein gutes Leben zu ermöglichen.“ Vor allem möchte sie „die globalen Bedrohungen der Schöpfung und ihre Ursachen bewusst machen, die strukturelle Dimension der Problematik durchschaubar machen, die Menschen in der Hoffnung stärken und ermutigen, an den Problemlösungen aktiv mitzuwirken, und zu persönlicher Verhaltensänderung motivieren“. Die Diözese „versucht, ihre gesellschaftliche Verantwortung auch im Hinblick auf ökologische Fragen aktiv wahrzunehmen und im Rahmen ihrer Möglichkeiten Zeichen zu setzen“. Drei Schwerpunkte werden genannt: „1. Ausbau der Bildungsinitiativen, 2. Vermehrte Umweltschutzmaßnahmen im eigenen Bereich, 3. Aktive Wahrnehmung der gesellschaftspolitischen Möglichkeiten der Kirche.“107 Auch die Erzdiözese Salzburg hat im Jahr 2007 „Leitlinien zur Schöpfungsverantwortung“ verabschiedet, die auf den Ergebnissen des Forums „Umwelt und Kirche“ vom 17. Mai 2004 in St. Virgil basieren und im Amtsblatt der Erzdiözese vom Januar 2007 als Selbstverpflichtung der Diözese und als Empfehlung an die Pfarreien und kirchlichen Institutionen veröffentlicht wurden.108 Dabei werden 105

Vgl. Neuer Bischof von Bozen-Brixen (05. 12. 2008): http://www.kreuz.net/article.8288.html (eingesehen 11. 08. 2010); siehe auch Karl Golser, Nachwort: Der Dreijahresplan der Diözese Bozen-Brixen für Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung, in: ders. (Hrsg.), Verantwortung für die Schöpfung in den Weltreligionen, Innsbruck/Wien 1992, S. 125 – 128; ferner auch Institut für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung, Brixen: http://www.hs-itb.it/script/seiten/de/a.asp?m1=689&m2=728&modId=342&linkID =0 (eingesehen 27. 07. 2011). 106 Vgl. Reinhold Stecher, Fastenhirtenbrief „Der Christ und die Schöpfung“ von 1992; Wilhelm Egger, Sozialhirtenbrief „Denkt an die fünf Brote“ von 1992, bes. VI. Unsere Verantwortung für die Schöpfung; Karl Lehmann, Fastenhirtenbrief „Auf dem Weg in das Heilige Jahr 2000“ von 1999. 107 Pastoralrat der Diözese Linz, Umweltleitbild der Diözese Linz vom 16. November 1996, Nr. 4: http://www.dioezese-linz.at/redsys/index.php?action_new=read&Article_ID= 117794&page_new=386 (eingesehen 11. 08. 2010); für die österreichischen Diözesen siehe auch http://www.schoepfung.at/ (eingesehen 11. 08. 2010). 108 Vgl. Erzdiözese Salzburg, Haus (Anm. 3).

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Schöpfungsspiritualität, Mitwirkung an der Gestaltung einer nachhaltigen Entwicklung, Umweltbildung und Öffentlichkeitsarbeit, aber auch Schutz von Lebensräumen und Arten, Tierschutz, Energie und Verkehr, Umgang mit Ressourcen sowie die Umwelt als Gesundheitsfaktor angesprochen. Das Fachreferat „Schöpfungsverantwortung“ im Haus der Begegnung der Diözese Innsbruck sieht seinen Schwerpunkt „in der Orientierung an einem nachhaltigen Lebensstil und im sorgsamen Umgang mit unserer Mitwelt. In Vorträgen, Exkursionen, Tagungen und Gesprächsrunden werden zukunftsweisende Projekte vorgestellt und Perspektiven für ein verantwortungsvolles Leben mit der Schöpfung aufgezeigt“109. Das neue Hauptgebäude des Hauses ist „energiesparend und nach ökologischen Kriterien gebaut“110 und mit einer Solaranlage für die Warmwasserbereitung mit Heizungseinbindung ausgestattet. Der Umstieg auf eine Pellets-Heizung ergab eine CO2-Reduktion von über 100.000 kg. Im Restaurant, das „bio-kontrolliert und bio-zertifiziert“ ist, wird „auf regionale und fair gehandelte Produkte und umweltschonende, gesunde Zubereitung“ gesetzt.111 Für das Jahr 2010/2011 wurde ein Lehrgang „Engagiert für die Schöpfung“ als Basiskurs für lebendige Schöpfungsverantwortung und Nachhaltigkeit angeboten. Im Oktober 2005 trat die Diözese Linz dem Klimabündnis bei, einem weltlichen Zusammenschluss, der sich das Anliegen des Klimaschutzes zu eigen macht, ebenso der Klimarettung, einer Initiative des Landes Oberösterreich mit dem Ziel, „im Land den Ausstoß klimarelevanter Gase zu verringern und das Bewusstsein für die menschliche Verantwortung für das globale Klima zu stärken“112. Die Diözese verpflichtete sich, „mit Hilfe ihrer Medien in ihrem Wirkungsbereich Öffentlichkeitsarbeit für die Klimarettung zu leisten … aus dem Kreis der kirchlichen Hauptamtlichen kirchliche UmweltberaterInnen zu gewinnen … umweltfreundliche Mobilität und Energie zu unterstützen (z. B. überdachte Fahrradständer, Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel, Energiesparmaßnahmen, erneuerbare Energieträger, Bezug von Ökostrom)“ sowie „mit anderen Klimarettungspartnern zu kooperieren“113. Als Aufgabe für die Pfarreien sieht sie die Unterstützung von Energieeffizienz und erneuerbarer Energieträger (z. B. Einsatz von Energiesparlampen, Solaranlagen usw.), Unterstützung umweltfreundlicher Mobilität (z. B. überdachte Fahrradständer, Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel), mindestens eine Predigt im Jahr über Schöpfungsbe109

Haus der Begegnung – Fachreferat „Schöpfungsverantwortung“: http://www.dioezeseinnsbruck.at/index.php?id=466&language=1&portal=13 (eingesehen 11. 08. 2010); zur katholischen Kirche in Vorarlberg vgl. http://www.kath-kirche-vorarlberg.at/themen/schoepfungsverantwortung/@@files (eingesehen 11. 08. 2010); http://www.kath-kirche-vorarlberg.at/themen/schoepfungsverantwortung (eingesehen 11. 08. 2010). 110 Haus der Begegnung – Diözese Innsbruck: http://www.klimabuendnis.at/start.asp? ID=105214&b=364 (eingesehen 11. 08. 2010). 111 Ebd. 112 Katholische Kirche in Oberösterreich, Klimarettung und Klimabündnis: http:// www.dioezese-linz.at/redsys/index.php?action_new=read&Article_ID=117798&page_new =386 (eingesehen 11. 08. 2010); vgl. auch Erzdiözese Salzburg, Haus (Anm. 3), S. 24. 113 Katholische Kirche in Oberösterreich, Klimarettung (Anm. 112).

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wahrung (mit Bezug zur Klimarettung), die Bewerbung der Klimarettung sowie die Kooperationsbereitschaft mit anderen Klimarettungspartnern.114 Die Ziele der diözesanen Umweltarbeit werden durch das Sozialreferat, den Umweltsprecher und den Fachausschuss Schöpfungsverantwortung im Pastoralrat umgesetzt.115 Kirchliche UmweltberaterInnen sind zwischen den diözesanen Einrichtungen und den Pfarreien angesiedelt.116 Im Rahmen des PROjekts SCHÖPFUNGsverantwortung soll es möglichst in jeder Pfarre Schöpfungsverantwortliche bzw. einen entsprechenden Fachausschuss geben.117 Weithin hat die Errichtung von Mobilfunkanlagen auf kircheneigenen Gebäuden unter den Gläubigen heftige Diskussionen ausgelöst. Am 15. März 2005 veröffentlichte die Diözese Linz eine neue Richtlinie für die Errichtung von Mobilfunkanlagen auf kirchlichen Gebäuden und Grundstücken, die jene von 2003 (LDB 149, 2003, Top 17) ablöste.118 Sie enthält neuerdings das generelle Verbot zur Errichtung von Mobilfunksendeanlagen auf oder in Kirchen und Kirchtürmen. Die Konferenz der Umweltbeauftragten der österreichischen Diözesen (KUBDÖ) hatte zu diesem Thema bereits am 28. September 2004 ein Orientierungspapier „Kirche und Mobilfunk“119 herausgegeben. Auch die Diözese Innsbruck kennt entsprechende Regelun114

Ebd. Vgl. Klimabündnis Oberösterreich, Leitfaden (Anm. 19), S. 6 f.: „Das Sozialreferat unterstützt Pfarren und kirchliche Einrichtungen bei ihrem Handeln für die Schöpfung durch Behelfe, Bücher, Zeitschriften zum Thema ,UmweltÐ, Umwelthomepage, Newsletter und Bildungsveranstaltungen. Der Umweltsprecher kommuniziert die Umweltanliegen innerhalb der Kirche und nach außen. Der Fachausschuss entwirft die großen Ziele für die Umweltarbeit in der Diözese und entwickelt Strategien für deren Umsetzung.“ 116 Vgl. ebd., S. 7; siehe auch Zertifikatsverleihung Umweltberater der Diözese Linz. Am 18. Dezember 2008 bekamen drei Absolventen des Grundkurses „Nachhaltigkeit“ von Bischof Dr. Ludwig Schwarz die Zertifikate als Umweltberater: http://www.dioezese-linz. at/redsys/index.php?action_new=read&Article_ID=114780&page_new=10900 (eingesehen 11. 08. 2010). 117 Vgl. Klimabündnis Oberösterreich, Leitfaden (Anm. 19), S. 7. 118 Vgl. Diözese Linz, Novellierung der Richtlinien für die Errichtung von Mobilfunksendeanlagen auf und in kirchlichen Gebäuden oder Grundstücken, in: Linzer Diözesanblatt 151. Jg., 15. März 2005, Nr. 2, Top 20, S. 29 – 31; ferner unter: http://www.dioezese-linz.at/ redsys/index.php?action_new=read&Article_ID=117795&page_new=386 (eingesehen 11. 08. 2010); dazu Michael Rosenberger, Kommentar des Umweltsprechers zur Mobilfunkrichtlinie: http://www.dioezese-linz.at/redsys/index.php?action_new=read&Article_ID=117796&page_ new=386 (eingesehen 11. 08. 2010); Diözese Linz, Information des Umweltsprechers für alle Pfarren mit Mobilfunk-Sendeanlagen auf kirchlichen Gebäuden oder Grundstücken, in: Linzer Diözesanblatt, 154. Jg., 15. Mai 2008, Nr. 3, Top 40, S. 54. 119 Vgl. Konferenz der Umweltbeauftragten der österreichischen Diözesen, Orientierungspapier zu „Kirche und Mobilfunk“ vom 28. September 2004: http://www.buergerunion.at/kircheundmobilfunk.pdf (eingesehen 11. 08. 2010); Radio-Vatikan-Antennen: Lombardi betont geringe Strahlenbelastung. Angeblich gesundheitsschädliche Strahlenbelastung durch Sendeanlage Santa Maria di Galeria ist seit mehr als sechs Jahren Gegenstand eines Rechtsstreites zwischen Anrainern und dem Sender, in: Kathpress-Tagesdienst Nr. 137, 10.06.2011, S. 11. 115

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gen.120 Ebenso wird in der Erzdiözese Salzburg „auf kirchlichen Liegenschaften … der Betrieb von Mobilfunksendeanlagen nicht genehmigt“121. Ausdrücklich wird von der Erzdiözese Salzburg allen Pfarrgemeinderäten „die Nominierung eines Schöpfungsbeauftragten empfohlen“ und der Wunsch ausgesprochen, das Thema Nachhaltigkeit „in die Aus- und Fortbildung kirchlicher Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sowie von Pfarrgemeinde- und Pfarrkirchenräten … in seiner ganzen Bandbreite zu integrieren“122. Die österreichischen Diözesen unterstützen die einzelnen Pfarreien mit Arbeitshilfen bzw. Anregungen, wie z. B. zu ökologisch orientiertem Bauen und Renovieren sowie zu Energiefragen, aber auch mit Ratschlägen für die schöpfungsfreundliche Feier von Pfarrfesten, für den Blumenschmuck mit Gütesigel, den ökofairen Einkauf von Lebensmitteln bis hin zur Düngung mit Fledermauskot.123 Grundsätzlich gilt für das kirchliche Engagement: Sehen, Urteilen, Handeln. Es gilt, Energieverbraucher in kirchlichen Gebäuden zu überprüfen, wie z. B. Heizungen, elektrische Anlagen usw., aber auch die Fahrten von kirchlichen MitarbeiterInnen und von BesucherInnen in den Blick zu nehmen.124 Eine Untersuchung in der Diözese Linz brachte zu Tage, dass sich der Gesamtenergieverbrauch von Kirchen zwischen 17 kWh pro Person und 165 kWh pro Person Fassungsvermögen bzw. der Verbrauch je KirchenbesucherIn zwischen 27,8 kWh und 408 kWh bewege. Der Stromverbrauch je BesucherIn lag zwischen ca. 4 und 24 kWh. Unterschiedliche Verbrauchswerte zeigen sich auch für Pfarrhöfe und Pfarrheime.125 Die Erzdiözese Salzburg hat einen Musterpachtvertrag erstellt, „der gewährleistet, dass bei von der Erzdiözese Salzburg verpachteten Grundstücken ökologische Bewirtschaftungskriterien eingehalten werden“. Zudem verfolgt sie auch das „Ziel einer flächendeckenden biologischen Bewirtschaftung kirchlicher Flächen“126. Fer120 Vgl. Diözese Innsbruck, Antennenanlagen für Mobiltelefonnetze auf Sakralbauten und kirchlichen Profanbauten vom 7. Januar 1999, in: Verordnungsblatt der Diözese Innsbruck, 74. Jg., Jänner/Feber 1999, Nr. 1, Top 5, S. 6; ferner unter: http://www.uibk.ac.at/praktheol/ teilkirchenrecht/innsbruck/antenne.html (eingesehen 22. 07. 2011); dies., Funk-Sendeanlagen für das Internet in Kirchen und kirchlichen Gebäuden, in: Diözesanblatt. Amtliche Mitteilungen der Diözese Innsbruck, 79. Jg., November 2004, Nr. 6, Top 66, S. 9. 121 Erzdiözese Salzburg, Haus (Anm. 3), S. 31. 122 Ebd., S. 24 und S. 25. 123 Vgl. Katholische Kirche in Oberösterreich, Arbeitshilfen zur Schöpfungsverantwortung: http://www.dioezese-linz.at/redaktion/index.php/www.diozese-linz.at/index.php?action _new=Lesen&Article_ID=2301 (eingesehen 11. 08. 2010); Diözese Linz/Pastoralamt, Sozialreferat (Hrsg.), PROjekt SCHÖPFUNGsverantwortliche. Leitfaden energie- und kosteneffiziente Beleuchtung für Pfarren: http://www.dioezese-linz.at/redsys/data/sozialreferat/Leitfa den_Beleuchtung.pdf (eingesehen 11. 08. 2010); Katholische Kirche in Oberösterreich, Querbeet: Tipps und Ideen: http://www.dioezese-linz.at/redsys/index.php?action_new=read&Arti cle_ID=2393&page_new=379 (eingesehen 11. 08. 2010). 124 Vgl. Klimabündnis Oberösterreich, Leitfaden (Anm. 19), S. 17 – 19. 125 Zur Untersuchung in 12 Pfarreien siehe ebd., S. 19 – 37. 126 Erzdiözese Salzburg, Haus (Anm. 3), S. 25 und S. 26; zur Bauordnung der Erzdiözese Salzburg vgl. Gerlinde Katzinger, Kirchliches Baurecht. Das kirchliche Bauwesen im Spannungsfeld von kirchlichen und staatlichen Rechtsnormen unter besonderer Berücksichtigung

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ner strebt sie im Bereich der zentralen Gebäudeverwaltung die „Einführung einer Energiebuchhaltung“ an. Sie erstellt auch eine Energie- und CO2-Bilanz. „Die Pfarren werden motiviert und erhalten die notwendigen Hilfsmittel, um ihren jeweiligen Energieverbrauch zumindest im jährlichen Mittel vergleichen und kontrollieren zu können.“127 Für Neubauten und bei der Renovierungen von Heizsystemen ist in der Erzdiözese Salzburg „standardmäßig die Nutzung erneuerbarer Energie vorzusehen (i. A. Biomasse) … Bezüglich der Standards für Neubauten und Altbausanierungen wird auf die Wärmeschutzverordnung im Salzburger Baurecht verwiesen“128. Grundsätzlich gilt: „Energiesparendes und ökologisches Bauen ist umzusetzen.“129 So legt auch die Diözese Feldkirch in ihrer Bauordnung, die am 15. Juli 2008 in Kraft getreten ist, fest, dass „bei allen kirchlichen Bauvorhaben … ökologische Gesichtspunkte zu berücksichtigen“ sind.130 Die Bauordnung der Diözese Linz vom 10. Dezember 2010 macht es mit Blick auf eine Baugenehmigung zur Voraussetzung, dass „die Bauführung nach den Maßstäben der Sparsamkeit und Wirtschaftlichkeit sowie der ökologischen Nachhaltigkeit erfolgt“131. Verschiedene österreichische Diözesen weisen ausdrücklich darauf hin, dass auch im kirchlichen Bereich das Energieausweis-Vorlage-Gesetz (EAVG, BGBl. 2006/137), das am 1. Januar 2008 in Kraft getreten ist, anzuwenden ist.132 Dieses Gesetz hatte auf Grund einer EU-Richtder Situation in der Erzdiözese Salzburg (Wissenschaft und Religion. Veröffentlichungen des Internationalen Forschungszentrums für Grundfragen der Wissenschaften Salzburg 6), Frankfurt a. M. u. a. 2004, S. 289 – 295. 127 Erzdiözese Salzburg, Haus (Anm. 3), S. 27. 128 Ebd., S. 28. 129 Ebd., S. 31; siehe auch die vorbildlichen Richtlinien für den Nachhaltigkeitsfonds der Diözese Rottenburg-Stuttgart zur Förderung von energetischen Maßnahmen an Gebäuden der Diözese und der Kirchengemeinden vom 7. April 2008, in: Kirchliches Abl. f. d. Diözese Rottenburg-Stuttgart, Bd. 52, Nr. 6, 15. Mai 2008, S. 146 – 150; ferner unter: http://www.drs. de/fileadmin/HAVIII-Bauamt/RichtlinienNachhaltigkeitsfonds_veroeffentlichtimKABl_Nr_6_ vom15052008.pdf (eingesehen 22. 07. 2011); ferner Ewald Stübinger, Ethik der Energienutzung. Zeitökologische und theologische Perspektiven (Forum Systematik. Beiträge zur Dogmatik, Ethik und ökumenischen Theologie 24), Stuttgart 2005. 130 Diözese Feldkirch, Bauordnung vom 15. Juli 2008 samt Richtlinien, in: Feldkircher Diözesanblatt, 40. Jg., Nr. 7/8, Juli/August 2008, Nr. 88, S. 53 – 57, hier S. 53; ferner unter: http://www.kath-kirche-vorarlberg.at/organisation/ordinariat/links-dateien/7_8_2008dioeblatt. pdf (eingesehen 22. 07. 2011); dazu Wilhelm Rees, Partikularnormen der Österreichischen Bischofskonferenz und der Diözesen Österreichs. Überblick über die Gesetzgebung des Jahres 2008, in: ÖARR 57 (2010), S. 120 – 175, hier S. 172. 131 Diözese Linz, Bauordnung vom 10. Dezember 2010, Nr. 2.2.2.4 b, in: Linzer Diözesanblatt, 156. Jg., Nr. 8, 15. Dezember 2010, Top 73, S. 86 – 93, hier S. 89; ferner unter: http://www.dioezese-linz.at/redaktion/data/redaktion/Ldbl_15 – 12_Bauordnung.pdf (eingesehen 22. 07. 2011); siehe auch Bistum Hildesheim, Kirchliche Bauordnung vom 1. Juni 2001, § 7 Abs. 9: http://www.sankt-oliver-laatzen.de/bho/dcms/sites/bistum/bistum/generalvikariat/rechtsabteilung/dok/Bauordnung.pdf (eingesehen 22. 07. 2011). 132 Vgl. Diözese Linz, Energieausweis NEU für Gebäude in Oberösterreich, in: Linzer Diözesanblatt, 154. Jg., 1. Juli 2008, Nr. 4, Top 52, S. 65; ferner unter: http://www.dioezeselinz.at/redaktion/data/redaktion/LdblJuli2008.pdf (eingesehen 22. 07. 2011); dazu Rees, Partikularnormen 2008 (Anm. 130), S. 135; vgl. auch Diözese Feldkirch, Energieausweis, in:

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linie zur Steigerung der Energieeffizienz und zur Erhöhung der Transparenz eine Energieausweispflicht für Gebäude eingeführt. Zum Teil fehlen jedoch verbindliche Regelungen, wenngleich nach Auskunft des Erzbischöflichen Bauamts Wien vom 7. Juli 2011 „Nachhaltigkeit und Ressourcenschonung angestrebt und betrieben wird“. Ebenso teilte mit Datum vom 7. Juli 2011 die Bauabteilung der Diözese Graz-Seckau auf Anfrage mit, dass auf „,nachhaltigeÐ Massnahmen hinsichtlich der effizienten Verwendung von Energie und minimaler Umweltbelastung mit Schwerpunkt der Verwendung erneuerbarer Energie geachtet“ und „bei Abwicklung von Bauten die diesbezüglichen baurechtlichen Vorgaben und gesetzlich vorgeschriebenen Bestimmungen samt den zutreffenden Normen und einschlägigen Richtlinien gemäß den Regeln der Technik und dem Stand der technischen Wissenschaften“ erfüllt werden. Die Kulturgüterverordnung der Diözese Innsbruck nimmt auf ökologische Aspekte keinen Bezug.133 Das in der Fastenzeit jeweils ausgerufene Autofasten wird als Möglichkeit gesehen, „gemeinsam an einer lebenswerten Zukunft mitzugestalten“134. Auch sind z. B. in der Erzdiözese Salzburg Dienstfahrzeuge „nach den Kriterien möglichst geringer Partikel-, NO2- und CO2-Emissionen auszuwählen. Der Gebrauch öffentlicher Verkehrsmittel oder des Fahrrads wird gefördert“. Dies geschieht u. a. dadurch, dass die Kosten für die Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel für die Wege von und zur Arbeitsstelle durch den Dienstgeber erstattet werden.135 Das Jugend-Umwelt-Netzwerk „JUNE“ der Katholischen Jugend Österreichs informiert Jugendliche mit einer Informationsmappe über Jobperspektiven im Bereich

Feldkircher Diözesanblatt, 40. Jg., Jänner/Feber 2008, Nr. 1/2, Top 28, S. 14; ferner unter: http://www.kath-kirche-vorarlberg.at/organisation/ordinariat/links-dateien/1_2_2008dioeblatt. pdf (eingesehen 22. 07. 2011). 133 Vgl. Diözese Innsbruck, Verordnung bezüglich Pflege und Erhaltung beweglicher und unbeweglicher kirchlicher Kulturgüter, sowie Bauvorhaben in Pfarren und Seelsorgestellen der Diözese Innsbruck (Bau- und Kulturgüterverordnung) vom 1. 1. 2003 mit Ergänzungen, in: Diözesanblatt. Amtliche Mitteilungen der Diözese Innsbruck, 78. Jg., Sept./ Okt. 2003, Nr. 5, Top 63, S. 7, und Diözesanblatt. Amtliche Mitteilungen der Diözese Innsbruck, 81. Jg., Mai/Juni 2006, Nr. 3, Top 29, S. 8 f.; ferner unter: http://dioezesefiles.x4content.com/page-downloads/0301_bau_und_kulturgueterverordnung_1.pdf (eingesehen 22. 07. 2011); http://www.uibk.ac.at/praktheol/teilkirchenrecht/innsbruck/bauverordnungerg.html (eingesehen 22. 07. 2011); http://www.uibk.ac.at/praktheol/teilkirchenrecht/ innsbruck/bauverordnung3.html (eingesehen 22. 07. 2011). 134 Vgl. Autofasten. Heilsam in Bewegung kommen: http://www.autofasten.at/ (eingesehen 11. 08. 2010); ferner Tirol: Kirchenappell für mehr Umweltbewusstsein. Bischöfe Kothgasser und Scheuer sowie Superintendentin Müller eröffnen Aktionen „Autofasten“ und „Verzicht“ mit gemeinsamer Zugfahrt, in: Kathpress-Tagesdienst Nr. 60, 11. 03. 2011, S. 5; Kirchen fordern mehr Kostenwahrheit in Verkehrspolitik. Auftakt zur „Aktion Autofasten“ mit Weihbischof Scharl und Superintendent Lein am Wiener Ostbahnhof – Veranstaltungen in allen Bundesländern, in: Kathpress-Tagesdienst Nr. 58, 09. 03. 2011, S. 5. 135 Vgl. Erzdiözese Salzburg, Haus (Anm. 3), S. 28.

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der „Green Jobs“, d. h. auf dem Umweltarbeitsmarkt136, und deponiert Öko-Anliegen im Lebensministerium137. Die Katholische Jugend Österreichs (KJÖ) setzt sich „für einen raschen Ausstieg aus der Atomenergie“ in Form einer Online-Petition ein.138 Zudem wirbt sie für ein freiwilliges ökologisches Jahr, indem sie Jugendlichen die Möglichkeit anbietet, „sich ein Jahr lang im Umweltbereich zu engagieren“139. VII. Schluss Die Vorstellung des Engagements der römisch-katholischen Kirche im Bereich der Schöpfungsverantwortung hat gezeigt, dass dieses auf der Ebene der Gesamtkirche und jener der Bischofskonferenzen vor allem in Stellungnahmen, öffentlichen Appellen und Ansprachen liegt. Wohl dürfte sich in den Texten ein Wandel vollzogen haben. Wurde der Schutz der Natur und Umwelt zunächst eher als Aufgabe des Staates und der Völkergemeinschaft und somit in deren Verantwortung gesehen, so wurde später stärker auch die Verpflichtung der römisch-katholischen Kirche in diesem Bereich gesehen und gleichsam eine Selbstverpflichtung normiert. Hier kann man wohl einen Lernprozess der Kirche sehen. Praxisorientiertes Handeln zeigt sich vor allem auf der Ebene der Diözesen und der Pfarreien. Viele von ihnen haben sich mit der Thematik Schöpfungsverantwortung auseinandergesetzt und konkrete Projekte und Initiativen für den Umweltschutz gestartet. Weithin sind Pfarreien und Klöster auf erneuerbare Energien umgestiegen oder haben solarthermische oder photovoltaische Anlagen installiert.140 Bewusstseinsbildung und -änderung sind notwendig141, wenngleich sie manchmal langsam vonstatten gehen. So hat die renommierte Wiener Klimaforscherin Helga Kromp-Kolb einen Appell an die Kirchen in Sachen Klimaschutz formuliert: „Ich würde mir die Kirchen als starke Verbündete in der Klima136 Vgl. Katholische Jugend präsentiert Infomappe über „Green Jobs“. Jugend-UmweltNetzwerk „June“ informiert Jugendliche über Chancen am Umweltarbeitsmarkt, in: Kathpress-Tagesdienst Nr. 175, 30. 07. 2010, S. 6. 137 Vgl. Katholische Jugend deponiert Öko-Anliegen im Lebensministerium. „JugendUmwelt-Dialog“ mit Minister Berlakovich: Für Ausbau des Radfahrens, ökologischeres Schulessen und mehr Nichtraucherschutz, in: Kathpress-Tagesdienst Nr. 46, 25. 02. 2010, S. 5. 138 Vgl. Atomenergie-Ausstieg: „Druck auf Regierung erhöhen“. Katholische Jugend startet Online-Petition „AKW-Ausstieg jetzt!“ – Evangelischer Oberkirchenrat: Anbieter zu atomfreier Energie drängen, in: Kathpress-Tagesdienst Nr. 71, 24. 03. 2011, S. 4 f. 139 Katholische Jugend wirbt für Freiwilliges Ökologisches Jahr. Info-Stand auf der „BeSt“ in der Wiener Stadthalle, in: Kathpress-Tagesdienst Nr. 53, 03. 03. 2011, S. 3 f. 140 Vgl. die Übersichten für das Bistum Augsburg: http://www.bistum-augsburg.de/index.php/bistum/Referat-Schule-und-Bildung/Katholische-Erwachsenenbildung/Umweltbeauftragter/Solarenergie (eingesehen 11. 08. 2010); http://www.bistum-augsburg.de/index.php/bistum/Referat-Schule-und-Bildung/Katholische-Erwachsenenbildung/Umweltbeauftragter/Photovoltaik (eingesehen 11. 08. 2010); http://www.bistum-augsburg.de/index.php/bistum/Referat-Schule-und-Bildung/Katholische-Erwachsenenbildung/Umweltbeauftragter/Heizanlagen (eingesehen 11. 08. 2010). 141 Vgl. Edmund Gumpert (Hrsg.), Energisch sparen – zukunftsfähig leben: http://downloads.kirchenserver.net/7/630/1/11231522745790909.pdf (eingesehen 11. 08. 2010).

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politik wünschen – und als Vorbild, wie man es machen kann.“142 Insgesamt sieht sie „in den Pfarren und kirchlichen Gemeinschaften ein hohes Maß an Bereitschaft, sich für den Klimaschutz einzusetzen. Problematisch seien laut Kromp-Kolb indes die höheren Entscheidungsebenen: ,Je weiter es in der Hierarchie hinaufgeht, desto dünner wird dieses EngagementГ143. Kritik an einem mangelhaften Engagement der römisch-katholischen Kirche im Bereich des aktiven Umweltschutzes und der Investition in nachhaltige Energien übt auch der Altbischof Iby, der von 1994 bis 1997 der erste „Umweltbischof“ in Österreich war. „Er müsse zugeben, dass abgesehen von Großprojekten wie der Aktion Autofasten ,eigentlich wenig geschehen istÐ.“144 So mahnt auch Michael Rosenberger wohl zu Recht „die Vorbildfunktion der Kirche beim Energiesparen“ ein.145 Als Christinnen und Christen können wir einen Beitrag zum Bewusstseinswandel innerhalb der Kirche, aber auch innerhalb der Gesellschaft leisten. Manchmal sind es kleine alltägliche Schritte, wie Mülltrennung und Müllvermeidung146 oder auch bewusstes Einkaufen von Nahrungsmitteln bzw. Kleidung oder Blumen. Mitunter sind auch Protestaktionen gefordert.147 Deutliche Signale, aber auch finanzielle Anreize müssten von Seiten der Bistumsleitungen kommen. Auffallend ist, dass es – abgesehen von internen Vorstellungen und Leitzielen – bislang für umweltfreundliches Bauen bzw. Renovieren in den einzelnen Diözesen bzw. Pfarreien eher wenige Richtlinien seitens der diözesanen Bauämter gibt. Hinweise auf die Einhaltung von Gesetzen und Verordnungen der jeweiligen Bundesländer148, auf Förderungsmöglichkeiten des Landes oder des Bundes oder auf Einhaltung von ökologischen Richtlinien sind hier wohl zu wenig. Auszeichnungen seitens der Diözesen oder anderer Einrich-

142 Zitiert nach Klimaforscherin: Kirche sollte im Klimaschutz aktiver sein. Kromp-Kolb in Kirchenzeitungs-Interview: „Wünsche mir die Kirchen als starke Verbündete in der Klimapolitik“, in: Kathpress-Tagesdienst Nr. 193, 20. 08. 2010, S. 4 f., hier S. 4. 143 Ebd., S. 5. 144 Umweltschutz: Altbischof Iby übt Kritik an kirchlicher Nachlässigkeit. Eisenstädter Altbischof bilanziert seine Zeit als „Umweltbischof“ im Interview mit „ARGE Schöpfungsverantwortung“ (14. 06. 2011): http://wwww.kathpress.at/site/nachrichten/database/39907. html (eingesehen (27. 06. 2011). 145 Moraltheologe: Kirche muss Energiesparen vorleben. Umweltsprecher der Diözese Linz, Rosenberger: Katastrophe in Japan verdeutlicht, „dass wir unseren Energiehunger zügeln müssen“ – Katholische Aktion Oberösterreich: Regierung soll für Ausstieg aus Atomenergie kämpfen, in: Kathpress-Tagesdienst Nr. 64, 16. 03. 2011, S. 4 f. 146 Bezüglich römisch-katholischer Kirche vgl. Erzdiözese Salzburg, Haus (Anm. 3), S. 29 f. 147 Vgl. Weiter Protest gegen Andritz-Beteiligung an Xingu-Kraftwerk. Bereits mehr als 3.000 Protest-E-Mails gegen Belo Monte an das steirische Unternehmen versandt – Prominentester Gegner ist Bischof Kräutler, der am Dienstag 72 wurde, in: Kathpress-Tagesdienst Nr. 162, 12. 07. 2011, S. 6 f. 148 Vgl. statt aller Land Salzburg, Gesetze und Verordnungen des Salzburger Bauwesens: http://www.salzburg.gv.at/buerger-service/ls-az/ls-ae/ls-bauen/ls-baurecht.htm (eingesehen 22. 07. 2011); ferner auch Katzinger, Kirchliches Baurecht (Anm. 126).

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tungen könnten Anreize geben.149 So vergab der Diözesanbischof der Diözese St. Pölten, Klaus Küng, im Jahr 2010 erstmals einen diözesanen Umweltpreis für die besonders schöpfungsfreundliche Gestaltung von Pfarrfesten.150 Umweltschonung müsste auch im Sinne einer Vorbildfunktion für kirchliche Großveranstaltungen die Regel sein. Wichtig erscheinen Kontakte zu Fachleuten bzw. Beratungsorganen sowie die Darstellung des kirchlichen Umweltengagements in der Öffentlichkeit.151 Dennoch sind Schwierigkeiten nicht zu übersehen. Oft fehlen die nötigen finanziellen Mittel. Zudem behindern Vorschriften, die den Denkmalschutz betreffen152, ein ökologisches Bauen bzw. Renovieren. Müssten nicht auch hier Diskussionen und Gespräche stattfinden und eventuell Kompromisse geschlossen werden? Stärker als bisher ist der Blick auf die Umwelterziehung und Umweltbildung zu richten. So muss das Thema Schöpfungsverantwortung im Bereich von Schule und Religionsunterricht und in kirchlichen Bildungsveranstaltungen153 im Sinne eines 149 Vgl. 1. Preis für Umweltprojekt an die KJ und Jungschar Vorarlberg: http:// www.kath-kirche-vorarlberg.at/jugend/organisation/katholische-jugend-und-jungschar/artikel/1.–preis-fuer-umweltprojekt-an-die-kj-und-jungschar-vorarlberg (eingesehen 11. 08. 2010). 150 Vgl. St. Pöltener Bischof Küng vergab diözesanen Umweltpreis. Gewinner ist Pfarre Ollersbach – „Pfarren und Christen haben Verantwortung für die Schöpfung“, in: KathpressTagesdienst Nr. 282, 03. 12. 2010, S. 7; vgl. auch Graz: Diözesaner Umweltpreis 2010 an fünf steirische Pfarren vergeben. Diözese zeichnet Pfarren für besonderes Engagement zur Schöpfungsverantwortung aus, in: Kathpress-Tagesdienst Nr. 277, 28. 11. 2010, S. 5; Umweltminister Berlakovich zeichnet kirchliche Einrichtungen aus. Immer mehr Pfarren und Bildungshäuser richten sich nach europäischem Umweltmanagementsystem EMAS aus, in: Kathpress-Tagesdienst Nr. 156, 05. 07. 2011, S. 7. „EMAS (Eco-Management and Audit Scheme) ist das europäische Umweltmanagementsystem, mit dem Organisationen ihre Umweltauswirkungen erheben und Jahr für Jahr kontinuierlich verbessern.“ Vgl. ebd. 151 Vgl. u. a. die Plakat-Werbekampagne der ÖBB im Sommer 2010: „Wasserkraft am Zug. Mit Bahnstrom aus heimischer Wasserkraft sparen wir jährlich über 3 Mio. Tonnen CO2“. S. auch ÖBB, Mit Wasserkraft auf Schiene: http://www.oebb.at/holding/de/Das_Unternehmen/ Nachhaltigkeitsbericht/Umwelt/Mit_Wasserkraft_auf_Schiene/index.jsp (eingesehen 11. 08. 2010); ÖBB, Die grüne Bahn: Umwelt & Nachhaltigkeit: http://www.oebb.at/holding/de/Auf gaben/Die_gruene_Bahn_-_Umwelt_und_Nachhaltigkeit/index.jsp (eingesehen 11. 08. 2010); Kirchliche Umweltbeauftragte kritisieren ÖBB-Strategie. Stellungnahme zum Fahrplanwechsel – „Es fehlt ein Konzept für nachhaltige Mobilität“ – Forderung nach Sofortmaßnahmen gegen Einstellung von Nebenbahnen, in: Kathpress-Tagesdienst Nr. 289, 12.12.2010, S. 8; vgl. auch Reinhard Nixdorf, Ökologische Verengungen. Der Sportartikelhersteller Puma will die Natur schonen und beutet Mitarbeiter in der Dritten Welt aus, in: Die Tagespost, Nr. 45, Samstag, 16. 04. 2011, S. 7. 152 Vgl. Bundesgesetz vom 25. 9. 1923, BGBl. 1923/533, betreffend den Schutz von Denkmalen wegen ihrer geschichtlichen, künstlerischen oder sonstigen kulturellen Bedeutung (Denkmalschutzgesetz – DMSG) i.d.g.F.: http://www.ris.bka.gv.at/GeltendeFassung.wxe? Abfrage=Bundesnormen&Gesetzesnummer=10009184 (eingesehen 22. 07. 2011); http://anno. onb.ac.at/cgi-content/anno-plus?aid=bgb&datum=19230004&seite=00001725 (eingesehen 22. 07. 2011; dazu Katzinger, Kirchliches Baurecht (Anm. 126), S. 210 – 229. 153 Vgl. Karl Golser, Schöpfungsverantwortung als wesentliche Aufgabe kirchlichen Lebens und Lernens, in: Vom Geist des Lehrens. Aspekte erzieherischer Spiritualität, hrsg. im

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Dienstes an jungen Menschen bzw. Menschen überhaupt sowie in den kirchlichen Medien relevant sein und seitens der Kirche auch in den öffentlich-rechtlichen Medien vertreten werden. Verstärkte Bemühungen sind wohl auch im Bereich von Predigt und Katechese zu wünschen. Es gilt das Thema Schöpfung „im Kirchenjahr aus den vorgegebenen Texten herauszulesen und entsprechend darzustellen“154. So zeigt Erzbischof Kothgasser in seinem Fastenhirtenbrief 2011 einen Dreischritt auf: Umkehr zu Gott – Hinkehr zum Menschen – Rückkehr zur Schöpfung. Wo der Mensch sich „quer zu Gott“ lege, legt er sich „auch quer zur Mit- und Umwelt“. Der Mensch greife mehr denn je „in eigener Machtvollkommenheit nach den elementaren Bausteinen der Schöpfung, ob wir sie nun Atom oder Gen nennen mögen“. Gerade dabei zeige sich „zutiefst seine Ohnmacht, diese seine Situation noch bewältigen zu können“155. Ebenso ist an eine Intensivierung des Themas Schöpfungsverantwortung in der Aus-, Fort- und Weiterbildung kirchlicher MitarbeiterInnen zu denken. Die Umstrukturierung von Pfarreien und die damit verbundene Schaffung von größeren Seelsorgeräumen werfen neue Umweltfragen auf, vor allem mit Blick auf den Verkehr und die Mobilität. Kooperation und Miteinander erfordern mehr Fahrten der haupt- und ehrenamtlichen MitarbeiterInnen sowie der Priester. Fahrten sind auch notwendig, wenn am Sonntag Eucharistiefeiern nicht mehr in allen Gemeinden gefeiert werden können. Diese neuerdings erforderliche Mobilität lässt sich mit öffentlichen Verkehrsmitteln wohl nur schwer bewerkstelligen.156 Der gemeinsamen Sorge und den Bemühungen um die Bewahrung der Schöpfung schreibt Bischof Manfred Scheuer eine „Brückenfunktion“ zwischen den christlichen Konfessionen zu.157 So ist ein Schöpfungstag, der in Deutschland in ökumeniAuftrag der Philosophisch-Theologischen Hochschule von Brixen von Gabriele Miller/Georg Reider, Festschrift für Alfred Frenes (Beiheft Nr. 20/21 zum Konferenzblatt), Brixen 1998, S. 83 – 94, bes. S. 88 – 92. 154 Erzdiözese Salzburg, Haus (Anm. 3), S. 22; vgl. auch Reiner Kaczynski, Zur Einbeziehung des Gedankens an die Schöpfung in den Gottesdienst, in: Hünermann/Hilberath, Herders Theologischer Kommentar (Anm. 37), Bd. 5: Die Dokumente des Zweiten Vatikanischen Konzils: Theologische Zusammenschau und Perspektiven, Freiburg/Basel/Wien 2006, S. 398 – 402. 155 Alois Kothgasser, Umkehr tut Not. Umkehr zu Gott – Hinkehr zum Menschen – Rückkehr zur Schöpfung. Fastenhirtenbrief 2011: http://www.kirchen.net/upload/43625 _2011_03_03_Fastenhirtenbrief_2011.pdf (eingesehen 22. 07. 2011); dazu Salzburger Erzbischof: „Welt läuft Gefahr, unmenschlich zu werden“. Erzbischof Kothgasser zeigt in Fastenhirtenbrief Dreischritt auf: Umkehr zu Gott – Hinkehr zum Menschen – Rückkehr zur Schöpfung, in: Kathpress-Tagesdienst Nr. 53, 03. 03. 2011, S. 2 f.; Erzdiözese Salzburg, Umkehr zu Gott und Hinkehr zum Menschen. Erzbischof Kothgasser ruft im Fastenhirtenbrief zur Umkehr auf (09.03.2011): http://www.kirchen.net/portal/page.asp?id=18957 (eingesehen 22. 07. 2011). 156 Vgl. auch Zentralkomitee der deutschen Katholiken, Erklärung (Anm. 19), Nr. 2.1.4. 157 Vgl. Bischof Scheuer, Plädoyer für christliche Schöpfungsspiritualität (25. 1. 2008): http://www.schoepfung.at/content/site/home/aktuelles/article/42.html?SWS=413abf5d0 f0bdc3be5b769c50f26b3e8 (eingesehen 11. 08. 2010); siehe auch Arbeitsgemeinschaft christlicher Kirchen in der Bundesrepublik Deutschland und Berlin (West) e. V., Forum „Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung“, Gottes Gaben – Unsere Aufgabe. Die Er-

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scher Gemeinschaft gefeiert wird, ein deutliches Zeichen aller Christen und Christinnen.158 Dies gilt auch für die „Zeit der Schöpfung“, die in Österreich in den christlichen Kirchen vom Schöpfungstag, dem 1. September, bis zum Festtag des heiligen Franz von Assisi, dem 4. Oktober, begangen wird.159 Zusammenarbeit zwischen den Kirchen erfolgt in zahlreichen Bereichen bzw. Verlautbarungen. So war auch der letzte Tag der 3. Europäischen Ökumenischen Versammlung in Sibiu im September 2007 den Themen Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung gewidmet.160 Bereits die Zweite Europäische Ökumenische Versammlung von Graz vom 23. bis 29. Juli 1997 hat in ihrem Schlussdokument unter „3. Handlungsempfehlungen“ u. a. für die Kirchen formuliert: „Wir empfehlen den Kirchen, sich dem Agenda21-Prozeß anzuschließen und ihn mit dem ökumenischen bzw. konziliaren Prozeß für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung zu verbinden“ (Nr. 5.3).161 Diese Zusammenarbeit gilt es zu intensivieren, auch im Bereich der kirchlichen Entwicklungsarbeit. An dieser Stelle sei zudem darauf verwiesen, dass die Verantwortung für die Schöpfung und ein nachhaltiger Umgang mit der Umwelt auch Auftrag für Muslime ist162 und ebenso das Judentum den hohen Stellenwert der Natur in bi-

klärung von Stuttgart, 22. Oktober 1988, hrsg. vom Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Arbeitshilfen 62), Bonn 1988. 158 Vgl. Zentralkomitee der deutschen Katholiken, Erklärung (Anm. 19), Nr. 3.5. Die Initiative „Schöpfungstag“ geht zurück auf die Charta Oecumenica aus dem Jahr 2001 und die 3. Europäische Ökumenische Versammlung in Sibiu im September 2007. Sie wurde im August 2008 durch eine Arbeitshilfe der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen in Deutschland (ACK) aufgegriffen. Für Österreich vgl. oben IV. 2. 159 Vgl. „Zeit der Schöpfung“ thematisiert „Katastrophenjahr“ 2010. „ARGE Schöpfungsverantwortung“ lädt von 1. September bis 4. Oktober zum Bemühen um Nachhaltigkeit, in: Kathpress-Tagesdienst Nr. 191, 18. 08. 2010, S. 3 f. 160 Vgl. 3. Europäische Ökumenische Versammlung, Sibiu/Hermannstadt vom 4.–9. September 2007: http://www.oekumene3.eu/ (eingesehen 27. 07. 2011); dazu Manfred Scheuer, Kontemplation – Compassion – Nachhaltigkeit, in: Bischöfliches Priesterseminar der Diözese Innsbruck und der Diözese Feldkirch (Hrsg.), Der Auftrag, Heft 107/SoSe 2011, Innsbruck 2011, S. 4 – 6; siehe auch Ökumenische Versammlung für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung in der DDR vom 12.–15. Februar 1988 in Dresden, vom 8.–11. Oktober 1988 in Magdeburg und vom 26.–30. April 1989 wiederum in Dresden: http://oikumene.net/home/regional/dresden/index.html (eingesehen 22. 07. 2011); Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Hrsg.), Europäische Ökumenische Versammlung Frieden in Gerechtigkeit Basel, 15.–21. Mai 1989 (Arbeitshilfen 70), Bonn 1989; Ökumenische Weltversammlung für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung, Seoul 1990: http:// oikumene.net/home/global/seoul90/index.html (eingesehen 22. 07. 2011). 161 Zitiert nach Golser, Schöpfungsverantwortung (Anm. 153), S. 92; siehe dazu ebd. 162 Vgl. Verantwortung für die Schöpfung. Ein nachhaltiger Umgang mit der Umwelt als Auftrag für Muslime (29. 11. 2003): http://www.derislam.at/islam.php?name=Themen&pa=showpage&pid=98 (eingesehen 11. 08. 2010); siehe auch Adel Theodor Khoury, Schöpfungsglaube und Weltverantwortung im Islam, in: Verantwortung (Anm. 105), S. 53 – 60; zum Judentum siehe Clemens Thoma, Gott: Schöpfer, Lenker, Richter und Verderber, ebd. S. 34 – 52; grundlegend: Walter Strolz, Die ökologische Verantwortung der Weltreligionen: im Judentum, Christentum und Islam, ebd., S. 14 – 33.

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blischen und talmudischen Geboten herausstellt. So kann das Thema Schöpfungsverantwortung den interreligiösen Dialog stärken und vertiefen.163 „Wir Christinnen und Christen müssen uns unserer Verantwortung vor Gott und den Menschen für einen treuhänderischen Umgang mit der Schöpfung bewusst sein.“164 Dieser treuhänderische Umgang „verbietet“, wie es in einer Erklärung des Zentralkomitees der deutschen Katholiken heißt, „keinesfalls die Nutzung und den Verbrauch (endlicher) Ressourcen. Er verbietet aber Lebensstile, die auf Kosten der Lebensmöglichkeit anderer Gesellschaften oder zukünftiger Generationen gehen und deshalb zu Verteilungskonflikten führen, die den Frieden zwischen Völkern oder Generationen schwer gefährden“165. Ein Leitgedanke, der sich in den Desiderata von 1692 aus der St. Pauls-Kirche in Baltimore findet, kann uns heute wieder Orientierung geben: „Du bist Kind Gottes genauso wie die Bäume und Sterne.“166 Zu fragen wäre, ob der kirchliche Gesetzgeber den Schutz der Umwelt und die Bewahrung der Schöpfung nicht ausdrücklich im kirchlichen Gesetzbuch unter den darin enthaltenen Grundpflichten aller Getauften verankern und ggf. Verletzungen auch sanktionieren sollte bzw. müsste.

163 Vgl. Consilium Conferentiarum Episcoporum Europae (CCEE), Ergebnisse der sechsten Konsultation der Umweltbeauftragten der europäischen Bischofskonferenzen zu „Gemeinsame Schöpfungsverantwortung der Kirchen und Religionen“, Namur/Belgien, 3.–6. Juni 2004: http://www.aksb.de/upload/dateien/Projekt%20Globalisierung/CCEE.pdf (eingesehen 11. 08. 2010). 164 Zentralkomitee der deutschen Katholiken, Erklärung (Anm. 19), Nr. 1. 165 Ebd. 166 Text bei Piegsa, Mensch (Anm. 5), hier Bd. 1: Fundamentale Fragen der Moraltheologie, St. Ottilien 1996, S. VII– VIII, hier S. VIII; ferner unter http://www.anarchismus.de/ allgemeines/desiderata.htm (eingesehen 11. 08. 2010).

Seelsorge zwischen Grundsatztreue und Wunschkonzert Zum Spannungsfeld von Gemeindetheologie und priesterzentrierter Sonderpastoral Von Friedrich Schleinzer Das Thema dieses Beitrags zur Festschrift für Prälat Univ. Prof. Dr. Hans Paarhammer hängt eng mit dem Jubilar zusammen; er versteht es nämlich, dieses Spannungsfeld zu einem fruchtbaren Acker zu machen, auf dem der Glaube gestärkt und die Beziehung vieler Menschen zur Kirche gefestigt wird. Sein Einsatz unter anderem als Landesschützenkurat und Seelsorger für Gruppen der Volkskultur, aber auch für katholische Studentenverbindungen trägt reiche Frucht. Vielleicht ist es auch eine Station seines Lebenslaufes, die den früheren Pfarrer von Koppl befähigt, Gemeindeseelsorge und kategoriale Seelsorge nicht als Konkurrenz, sondern als Ergänzung zu praktizieren. Wenn in diesem Beitrag das Wort Seelsorge verwendet wird, ist natürlich klar, dass es sich dabei nicht allein um eine priesterliche Tätigkeit handelt, sondern landauf landab fähige Seelsorgerinnen und Seelsorger wertvollste Arbeit für die Kirche leisten.1 Vorausgesetzt wird außerdem eine realistische Einschätzung der pfarrlichen Situation, die vom Mangel an geweihten Gemeindeleitern gekennzeichnet ist. Der wünschenswerte niedrigschwellige Zugang zu einem Priester in der Gemeinde und die herkömmliche persönliche Bekanntschaft der Gemeindemitglieder mit dem zuständigen Pfarrer sind oft nicht möglich. Auch wenn in nächster Zeit eine Änderung dieses Zustands unwahrscheinlich erscheint, soll diese Situation nicht schöngeredet oder theologisch und spirituell überhöht werden. Es ist eine defizitäre Situation, die weit weg vom Ideal ist. Dennoch ist ein kreativer Umgang mit dieser pastoralen Situation nötig, der personale, strukturelle oder spirituelle Defizite mindert. I. Was ist Seelsorge? Seelsorge ist das Hauptgeschäft der Kirche. Die Kirche ist dazu da, um sich um das Heil der Menschen zu sorgen. Vor dem Eingang vieler Kirchen stehen heute noch Missionskreuze mit der Inschrift „Rette deine Seele, Mission 1922, Mission 1987“. 1 Zur Verdeutlichung: vgl. Wunibald Müller, Die königliche Energie des Seelsorgers, in: AnzSS 120 (2011), H. 5, S. 36 – 37.

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Seelen (für das ewige Heil) zu retten, erscheint der heutigen theologischen Perspektive zu eng gefasst. Umgeben von den vielfältigen Angeboten psychotherapeutischer Schulen sind SeelsorgerInnen nicht die einzigen, die sich um die Seele (gr. psyche bzw. nous) der Menschen kümmern. Katholische Seelsorgerinnen fügen die Achtsamkeit für die Seele aber auch noch die Komponente der Transzendenz hinzu. Das Zweite Vatikanische Konzil benennt in der Pastoralkonstitution den Auftrag der Seelsorge als Dienst am ganzen Menschen: „Es geht um die Rettung der menschlichen Person, es geht um den rechten Aufbau der menschlichen Gesellschaft. Der Mensch also, der eine und ganze Mensch, mit Leib und Seele, Herz und Gewissen, Vernunft und Willen steht im Mittelpunkt unserer Ausführungen.“ (GS 3)

Insofern ist das Selbstbild der Seelsorge von jenem der Psychotherapie zu differenzieren. Um das Proprium der Seelsorge wurde in den letzten Jahrzehnten im wahrsten Sinne des Wortes gerungen. Es gibt den biblischen Auftrag Jesu – er ist Herr der Seelsorge und der gute Hirte, der vorangeht – der seine Jünger zuerst sammelt und dann aussendet, das Evangelium zu verkünden, Kranke zu heilen und Frieden zu stiften. Seelsorge ist aber auch begründet in der Sorge Gottes um den Menschen. Gott vertraut die Sorge um Menschen wiederum Menschen an, die Gott und den Nächsten lieben soll(t)en. Die Sorge Gottes um den Menschen wird in vielen Bildern ausgedrückt. So wird er z. B. als guter Hirte (Ps 23) dargestellt. (Ich möchte nicht wissen, was am 4. Sonntag in der Osterzeit zu Joh. 1,1 – 10 vom guten Hirten gepredigt wird und wie viele Priester meinen, sie seien selbst die guten Hirten, die vorangehen und die besten Weideplätze finden. Das biblische Bild von vorangehenden Hirten meint ausschließlich Jesus und an ihm haben sich alle anderen Hirten zu orientieren.) Studierende in einer Lehrveranstaltung antworten in einer Befragung, warum sie in die Seelsorge gehen möchten: „Weil ich Menschen bei ihren Sorgen beistehen möchte.“ „Weil ich Menschen helfen und sie in ihrem Glauben bestärken möchte.“ „Weil ich gerne mit Menschen zusammen bin.“

Wie sieht diese Motivstruktur in einem größeren Zusammenhang aus? Priester, die in der Umfrage „Wie gehtÏs, Herr Pfarrer?“2 von Paul Michael Zulehner nach ihrem Dienst befragt wurden, antworten ähnlich. Sie wollen „Gott und den Menschen nahe sein“; dazu möchten 85 % „Menschen an den für sie wichtigen Lebensübergängen (Geburt, Heirat, Tod) begleiten“. 84 % wollen „das Evan2 Vgl. Paul M. Zulehner, Wie geht’s, Herr Pfarrer? Eine Bestandsaufnahme und ihre Konsequenzen, in: AnzSS 120 (2011), H. 5, S. 5 – 8; hier: S. 6 – 7. Vgl. auch ders., Wie geht’s, Herr Pfarrer? Ergebnis einer kreuzundquer-Umfrage: Priester wollen Reformen, Wien/Graz/ Klagenfurt 2010.

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gelium als Weg zu einem guten Leben verkünden“. 80 % wünschen „den Menschen in ihren Sorgen zur Seite zu stehen“. 74 % ist es wichtig, „die Zeichen der Zeit zu erkennen und an ihnen die Verkündigung des Evangeliums zu formen“. Weitere Motive sind das Anwalt-Sein der Schwachen und Bedrängten, Kinder und Jugendlichen bzw. jener Menschen, die sich mit dem Glauben schwer tun. Diese Idealvorstellung lässt sich aber immer schwerer umsetzen und auch dafür liefert die Befragung Belege. Nun geht die Angst um, dass Priester in der Pfarrseelsorge diese genuinen Aufgaben ihrer Sendung nicht mehr oder nur mehr in sehr begrenztem Ausmaß erfüllen können, weil ihnen Zeit und Kapazität fehlen – zumal sie immer mehr Managementaufgaben übernehmen müssen3 – was sie selbst und ihre Gemeinden zunehmend unzufrieden werden lässt. Dennoch werden in vielen Gemeinden (teilweise gravierende) qualitative oder quantitative Mängel in der Seelsorge toleriert, weil sich gerade kleinere Gemeinden bewusst sind, dass der Pfarrer, den sie haben, vielleicht der letzte vor Ort sein wird. II. Qualität der Seelsorge Der Seelsorger ist da, um andere zu sehen (wie der Hirte) und die wahrzunehmen, die vielleicht am „Rande“ leben: Zugezogene in Siedlungen, Asylwerber u. a. Er ist dazu da, um anderen eine Stimme zu geben, die sich aufgrund ihrer Schwachheit nicht lautstark in das Öffentlichkeitsinteresse hinein reklamieren können, sondern überhört werden, weil sie keine Lobby haben. SeelsorgerInnen sind da, um unentdeckte Charismen in der Gemeinde zu Tage zu fördern und zu unterstützen. Deutlich wird das bei gemeinsamen Projekten in der Gemeinde. Alle identifizieren sich mit dem gemeinsamen Ziel, das ihnen als hoher Wert erscheint und für das es Sinn macht, sich verbindlich einzusetzen und selbst persönliche Einschränkungen (Freizeit, Familie) in Kauf zu nehmen. Es zeigen sich Talente bei Einzelnen, die sie selbst kaum kennen bzw. solche, die sie noch nie für die Gemeinde eingesetzt haben. Aus den Begabungen der Einzelnen wird eine gemeinsame Aufgabe aller.4 Ein anderes Qualitätskriterium für Seelsorge ist das Gegenübertreten auf Augenhöhe: Augenhöhe will heißen, nicht von oben herab die Menschen wie Bittsteller zu behandeln, und sei es nur, wenn sie einen Taufschein brauchen. Der Seelsorger ist da, um die Einzelnen in seiner Gemeinde und die Gemeinde im Ganzen zu sehen. Er ist aber auch da, um selbst gesehen zu werden: Will heißen, nicht 3 Vgl. Klaus P. Voß, Allgemeines Priestertum und die Aufgabe der Leitung. Eine freikirchliche Standortbestimmung im ökumenischen Kontext, in: Wilfrid Haubeck/Wolfgang Heinrichs/Michael Schröder (Hrsg.), Zwischen Hirtendienst und Management, Gemeinde leiten heute (Theologische Impulse 11), Witten 2006, S. 20 – 43. 4 Vgl. Lukas Födermair, Die (pastorale) Theologie der Tritopaulinen. Bibeltheologische Analyse der Topoi Theologie, Christologie, Pneumatologie, Soteriologie, Eschatologie, Anthropologie, Ethik und Ekklesiologie in der tritopaulinischen Literatur mit pastoraltheologischer Synthese als Ausblick für eine Gemeindetheologie von heute, Salzburg 2010, S. 237.

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seinen Narzissmus auszuleben, sondern in der Gemeinde präsent zu sein, am Ort zu wohnen, das Leben mit den Menschen zu teilen, ihre Sorgen und Probleme zu kennen und mit ihnen zu feiern. Eine liebenswerte, ausgeglichene und authentische Persönlichkeit mit Überzeugung und Hingabefähigkeit, die Gott und die Menschen liebt, die eingeladen wird, besucht und von den Menschen um (geistlichen) Rat gebeten wird. Das ist es, was der Theologe, Psychotherapeut und Schüler Viktor E. Frankls mit einer „erlösten“ Persönlichkeit meint.5 Auf die Frage „Wo treffe ich außerhalb des Gottesdienstes einen Priester?“, gaben Studenten in der o. a. Befragung folgende Rückmeldung: „Wenn man nicht ohnehin bereits aktiv in der Kirche tätig ist, gibt es kaum eine Möglichkeit, auf einen Priester zu treffen, außer man wird von sich aus selbst aktiv und sucht einen auf.“

III. Grundvollzüge einer Gemeinde Auf die Frage von Skeptikern oder Austrittwilligen, wozu die Kirche gut sei, verweisen wir, dass sie sich für soziale Belange einsetzt (Diakonie), für den Erhalt der Werte (Gerechtigkeit und Frieden) in der Gesellschaft, für die Bewahrung der Schöpfung (Ökologie) und für Verkündigung der Frohbotschaft in der einen Welt. „Geht hin und verkündet: Das Himmelreich ist nahe.“ (Mt 10,7), „Heilt Kranke!“ (Mt 10,8), „Wünscht Frieden!“ (Mt 10,12) – so fasst Jesus seinen missionarischen Imperativ zusammen. Ich lasse mich jetzt bewusst nicht auf die gegenwärtige Diskussion über theologische und geschichtliche Probleme, über Herkunft, Zahl und Aufteilung der „Grundvollzüge der Gemeinde“ ein. Auch die durch das dreifache Amt Christi begründeten Grundvollzüge6 haben sich nicht durchgesetzt. Haslinger7 hingegen meint, es sei eher ein institutioneller Aufteilungsplan, welche Grundvollzüge wir zur Trias Verkündigung, Liturgie und Diakonie noch hinzuzählen. Einer Gemeinde wächst ob ihrer speziellen Situation oft eine Vielzahl von pastoralen Aufgaben zu, die als Anreicherung zu den Grundvollzügen gesehen werden sollen und als Option von unten, von den Menschen kommen (z. B. soziale Aufgaben bei Betriebsschließungen, Integration von Asylwerbern, schwierige Jugendliche etc.) Insofern erweist sich die tägliche Praxis oft als Rückkoppelung an die Pastoraltheologie. Gemeinde ist der Lern- und Lebensort, wo die Menschen sind. Genau dort muss die Seelsorge ansetzen und versuchen, das Evangelium von den Menschen her neu zu entdecken. Es geht bei den vielfältigen Diensten in der Gemeinde nicht um theologische Kategorien, die von den Menschen gar nicht mehr verstanden werden können, 5 Vgl. Uwe Böschemeyer, Du bist viel mehr. Wie wir werden was wir sein können, Salzburg 2010, S. 11 f. 6 Andreas Wollbold, Grundvollzüge oder dreifaches Amt? Auf der Suche nach einer praktikablen Einteilung der Pastoral, in: LS 57 (2006), S. 58 – 63, hier S. 58. 7 Herbert Haslinger, Wie grundlegend sind die Grundvollzüge? Zur Notwendigkeit einer pastoraltheologischen Formel, in: LS 57 (2006), S. 76 – 86, hier S. 73.

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sondern darum, dass in der Gemeinde die Praxis Jesu in der Nachfolge gelebt und seine Gegenwart gefeiert wird. IV. Wie werden die Erwartungen erfüllt und wie werden Prinzipien der Gemeindetheologie unter den jetzigen Bedingungen umgesetzt? In den Pfarren existieren mehrere (pastoraltheologisch formulierte) Gemeindemodelle gleichzeitig. Es gibt noch kleine Gemeinden mit eigenem, meist älterem Pfarrer; viele Pfarrer sind für zwei Gemeinden (Tendenz steigend) zuständig, während es zusätzlich hauptamtliche MitarbeiterInnen gibt, die selbstständig Aufgaben in der Seelsorge übernehmen. Der Zug der Zeit sind aber zweifellos Pfarrverbände, die auch Seelsorgsräume oder Großraumpfarren (ein schreckliches Wort, klingt es doch wie Großraumbüros) genannt werden. Ziel dieser von den Menschen meist als Zusammenlegung von Pfarren verstandenen Neuorganisation ist nicht eine Qualitätssteigerung der Seelsorge, sondern eine Aufrechterhaltung von flächendeckender Seelsorge in Zeiten des Priestermangels. Pfarrverbände bleiben eine Notlösung, auch wenn sie vielleicht in Einzelfällen neue Kräfte freisetzen und durch über-pfarrliche Zusammenarbeit (Aufgabenteilung) neue pastorale Möglichkeiten schaffen. Während sich die Fülle neuer pastoraler Möglichkeiten eher im Stadium der Hoffnung befindet, spüren Pfarren, die sich ihren Priester mit anderen Pfarren „teilen“ müssen oder vielfach auf Aushilfspriester angewiesen sind, Defizite im Gemeindeleben. Die Mängel erscheinen natürlich je nach Stärke der Bindung an die Kirche unterschiedlich groß. Eher Fernstehenden geht nichts ab. Sie sind zufrieden mit der Mette, mit der Auferstehungsfeier zu Ostern (Speisenweihe) und dem Fest der Erstkommunion, wenn sie selbst Erstkommunikanten in der Familie haben. Sie kennen den Pfarrer persönlich und erleben ihn nicht außerhalb des Gottesdienstes. Besonders treue KirchgängerInnen vermissen die Werktagsmesse; Pfarrgemeinderäte bedauern, dass der Pfarrer die Kinder nicht mehr kennt.8 Aber ein Pfarrer, der in einer Pfarre die meisten Menschen mit Namen kennt, kann das nicht mit derselben Intensität in vier Pfarren leisten. Viermal Erstkommunikanten, viermal Seniorenrunde, viermal Pfarrgemeinderat usw. – wen sollte das nicht überfordern? Seelsorge gewinnt dort, wo sich der Seelsorger um konkrete Lebensfragen und biographische Lebensthemen annimmt. Das bestätigt auch die Pfarrerumfrage von Zulehner, laut der viele befürchten, dass die Seelsorge in den Gemeinden ausblutet. Sie bedauern, dass ihre ureigenste Tätigkeit, wofür sie auch Priester geworden sind, an Zeitmangel und kirchlichen Strukturfragen zerschellt.9

8 Vgl. Paul M. Zulehner/Anna Hennersperger, Damit die Kirche nicht rat-los wird. Pfarrgemeinderäte für zukunftsfähige Gemeinden, Ostfildern 2010. 9 Vgl. Zulehner, Wie gehtÏs, Herr Pfarrer? (Anm. 2), S. 6.

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Den Verfechtern der Seelsorgsräume scheinen manche Trends in der heutigen Gesellschaft entgegenzukommen: die größere Mobilität, die zunehmende Urbanisierung, die bereits im Kindergartenalter ausgedehnteren Lebensräume (Schule, Freizeit, Einkaufen nicht nur im eigenen Ort), die geringere Bindung an einen „Heimatort“, beruflich erzwungene Ortswechsel und so weiter. Demgegenüber stehen aber auch Menschen, die gerne in ihren kleineren Bezügen leben, mit Namen gekannt werden wollen und in „ihrer“ Gemeinde auch bereit sind, sich ehrenamtlich zu engagieren. Die Gesellschaft besteht nicht nur aus Mobilen, Flexiblen und Urbanen. Es dürfen gerade in der Seelsorge die Menschen nicht zu kurz kommen, die nicht (mehr) genug Energie haben (oder es schlichtweg nicht wollen), jedem Trend nachzulaufen und die sich eventuell mit Mobilität und Flexibilität schwertun. In Regionen, wo mangels Kauf- und Wirtschaftskraft die Infrastruktur abgebaut wird, wäre es verheerend, wenn auch Kirche auf dem Rückzug erlebt wird. Auch Alte, (wirtschaftlich) Schwache und fern der Ballungsräume Lebende verdienen pastorale Aufmerksamkeit. Ein Beispiel, wie Gemeindeseelsorge und Einzelsorge10 einander ergänzen können, ist seit Jahrzehnten die Krankenhausseelsorge. Zur Gemeinde gehört es, dass sie sich um ihre Kranken kümmert. In vielen Pfarren gibt es deshalb ehrenamtliche Besuchsdienste und oft nehmen sich auch die SeelsorgerInnen Zeit für Krankenbesuche, Krankenkommunion etc. Trotzdem wird niemand am Sinn von Krankenhausseelsorge zweifeln, zumal dort auch jene erreicht werden können, die nicht in ihrer Pfarre eingebunden oder nur durch eine sehr lockere Beziehung mit der Kirche verbunden sind. Auch Ausgetretene können dadurch wieder in Kontakt mit ihrer Kirche kommen.11 Von der Standortgemeinde einer Hochschule, eines Großunternehmens oder eben eines Großkrankenhauses wird niemand verlangen, dass sie dort mit ihren beschränkten Ressourcen auch noch Hochschul-, Betriebs- oder Krankenhausseelsorge betreibt. Ein Spannungsfeld tut sich dort auf, wo Sakramente einen starken Gemeindebezug haben. Zur Verdeutlichung seien drei Beispiele angeführt:12 1. Einzelseelsorge im Hinblick auf Taufvorbereitung und Taufe Die Eltern haben keinen Zugang zum Ortspfarrer. Sie sind auch, wie sie selbst sagen, keine Kirchgänger. Der Vater ist aus der Kirche ausgetreten und will deshalb 10 Zur Verdeutlichung: Vgl. Stefan Knobloch, Wieviel ist ein Mensch wert? Einzelseelsorge – Grundlagen und Skizzen, Regensburg 1993. 11 Vgl. Michael Klessmann, Handbuch der Krankenhausseelsorge, Göttingen 2008 (3. überarbeitete und erweiterte Auflage). 12 Freilich soll jetzt nicht Empirie im Sinne von N=1 betrieben werden. Die Beispiele dienen zur Verdeutlichung der o. a. Aussagen und spiegeln auch das pastorale Engagement des Jubilars wieder.

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auch nicht beim Pfarrer vorstellig werden, um die Taufe zu erbitten. Vor allem hat er Angst, deshalb „verhört“ zu werden und sich rechtfertigen zu müssen. Er fürchtet, mit Auflagen rechnen zu müssen, um sich „würdig“ zu erweisen. Ich habe dieses Ehepaar vor Jahren getraut und weiß, dass sie in der Zwischenzeit ein Kind bekommen haben. Der Vater sagt mir, dass Lorenz getauft werden soll, bevor er in die Schule kommt, damit er im katholisch geprägten Milieu von den LehrerInnen und SchülerInnen nicht diskriminiert wird. Der zweite Beweggrund ist ein familiärer. Er will eine Tauffeier im Familien- und Freundeskreis; allerdings sind in der Gemeinde lediglich gemeinsame Tauffeiern einmal pro Monat in einer großen Gruppe üblich. Fazit: Es war der Wunsch nach dem Sakrament zwar nicht primär im Glauben begründet, aber es wurde für die Familie ein tief bewegendes Ereignis. Die liturgische Feier wurde zu einem Fest für alle Anwesenden und ich denke auch ein Neuanfang in der Beziehung zur Kirche. Durch die individuelle und kindgerechte Liturgie wurden auch andere (fernstehende) Eltern begeistert und motiviert, deren Kinder ebenfalls taufen zu lassen. Mir ging es nicht um die Rekrutierung eines neuen Kirchenbeitragszahlers, sondern um die Erfüllung des Wunsches von Eltern, ihr Kind taufen zu lassen. Im Rahmen eines schönen Festes wurde das Kind unter den Segen Gottes gestellt. Wer kann Eltern diesen Wunsch verwehren? 2. Einzelseelsorge bei Eheschließung (sogenannte wiederverheiratete Geschiedene) Bei einem seelsorglichen Gespräch bittet ein Paar um eine Segnungsfeier, da der Mann geschieden ist. Als die beiden den zuständigen Pfarrer um die Segnung bitten, wird das Paar um eine herbe Enttäuschung über die Reaktion des Pfarrers reicher, da er ihr Ansinnen auf das Schärfste zurückweist. Er sähe sich außer Stande, Geschiedenen eine liturgische Feier zu gestatten. Weder geht er persönlich auf ihr Anliegen ein, noch liefert er Gründe für seine Entscheidung. Fazit: Zwei Menschen haben sich nach reiflicher Überlegung entschlossen, eine zweite Ehe einzugehen, nachdem die erste Beziehung zerbrochen ist. Sie haben die hohe Barriere überwunden, einem kirchlichen „Würdenträger“ eine Bitte vorzutragen und werden dabei herb enttäuscht. Sie werden in dem Vorurteil bestärkt, von Seiten der Kirche keine Hilfe, keine Unterstützung und kein Verzeihen zu erfahren. Danach wollen sie (verständlicherweise) mit so einer Kirche und deren Vertretern nichts mehr zu tun haben. Ich habe das Paar in einer Wallfahrtskirche gesegnet, wobei der Freundeskreis und die Familien anwesend waren. Dem Paar war der Segen auch deshalb ein Anliegen, weil sie die Erziehungsverantwortung von insgesamt fünf Kindern aus den vorangegangenen Beziehungen übernehmen wollen. Wie wir mit Wiederverheirateten umgehen, kann uns gerade in Zeiten wie diesen nicht gleichgültig sein. Es ist eine existentielle Frage, wie lange wir uns als Kirche die

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Ausgrenzung von gutwilligen Mitchristen noch leisten können. Der Umgangsstil Jesu war ein anderer. 3. Einzelseelsorge im Hinblick auf die Feier der Beerdigung Ein todtrauriger und schockierter Vater ruft an, dass sich sein 24-jähriger Sohn im Dachgeschoß des Bauernhauses erhängt habe. Er will wissen, ob es trotz des Suizides die Möglichkeit gebe, eine kirchliche Begräbnisfeier abzuhalten. Außerdem sei sein Sohn jüngst (aufgrund von Differenzen mit dem Ortspfarrer) aus der Kirche ausgetreten. Er sei allerdings noch immer sehr gläubig gewesen und habe andernorts zu den hohen Feiertagen den Gottesdienst besucht. Der Pfarrer verweigert aufgrund angeblicher kirchenrechtlicher Bestimmungen das Begräbnis und ist auch nicht bereit, in der Aussegnungshalle mit den Familienangehörigen und den Trauernden zu beten. Im Übrigen nehme er sich auch keine Zeit, weil der Jugendliche nie in der Kirche war. Fazit: Die steigende Zahl von Ausgetretenen und die oft wenig einfühlsame Art der zuständigen Ortspfarrer führen dazu, dass Verabschiedungsrituale außerhalb des kirchlichen Raumes gesucht und gefunden werden. (Beerdigungsinstitute verpflichten inzwischen Begräbnisredner – oftmals ehemalige kirchliche Mitarbeiter – bzw. Beerdigungen werden vom altkatholischen Pfarrer gehalten.) Die Lebenswenden der Menschen sind große Chancen für die Seelsorgerinnen und Seelsorger – vorausgesetzt, man nützt sie als solche und geht auf die betroffenen Menschen ein, die in einer solchen Situation oft besonders offen und ansprechbar sind. V. Zusammenfassung und pastorale Synthese Es ist bei den aufgezählten Beispielen (nicht immer) das nötige Sakramentenverständnis vorhanden – aber ist es sonst in der Gemeinde immer vorhanden? Es ist auch nicht immer die persönliche Glaubensentscheidung maßgebend, sondern eine diffuse Sehnsucht und der Wunsch nach einem schönen Fest. Der angepeilte Wandel von der milieugeprägten Volkskirche hin zur persönlichen Glaubensentscheidung bleibt oft in Ansätzen stecken, selbst bei regelmäßigen KirchgängerInnen. Wer auf Einzelseelsorge setzt, wird oft mit dem Vorwurf konfrontiert, er gebe es zu billig. Aus meiner Erfahrung ist das nicht der Fall. Es gibt genug eigenständige und erwachsene Christen, die sich nicht von der Kirche bedienen lassen wollen, die nicht zur Kirche kommen wegen der Verschönerung der persönlichen Inszenierung, sondern aufgrund ihres Glaubens. Wenn der Priester auf Wünsche eingeht und auch Inhalte erklärt, trifft er meist auf große Bereitschaft, zum Fest etwas beizutragen. Der Täufling aus dem ersten Beispiel wurde von seiner Patin vorbereitet und konnte bei seiner Taufe Auskunft

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geben über das Geschehen und anderen Kindern erklären, warum für ihn heute ein Festtag ist. Die Gemeindeseelsorge soll nicht gegen die Einzelseelsorge ausgespielt werden. Es ist theologisch und auch kirchenrechtlich selbstverständlich die Heimatgemeinde der richtige Ort. Es gibt auch die entsprechende Zuständigkeit, die nicht in Frage gestellt werden soll. Einzelseelsorge soll keine Konkurrenz zur Pfarrseelsorge sein, sondern sich mit jenen beschäftigen, für die in der Pfarrseelsorge mitunter Zeit und Kapazität fehlen. Schon bisher waren die Priester überfordert, seelsorgliche Bezugsperson für hunderte bzw. tausende Menschen in der Gemeinde zu sein. „Die Pfarren wurden zu Verwaltungseinheiten mit vielen Aktivitäten, ohne dass der persönlichen Beziehung der Gläubigen zueinander der Vorrang gegeben wurde, wie es dem Vermächtnis Christi entspricht.“13 Dieses Vermächtnis ist: „Ein neues Gebot gebe ich euch: Liebt einander! Wie ich euch geliebt habe, so sollt auch ihr einander lieben“ (Joh 13,34). Es geht im Kontext der Einzelseelsorge in Zeiten großer Seelsorgsräume freilich nicht um die individuelle Wunscherfüllung von Einzelnen hinsichtlich deren persönlicher Frömmigkeit und Feierkultur. Vielmehr geht es um die Beziehung zwischen Gläubigen, die sich mit Namen kennen und die mit den Lebens-, Liebes- und Glaubens-Geschichten des jeweils anderen vertraut sind Es ist die Seelsorge für jene, die durch den gemeindetheologischen und sehr stark kirchenrechtlich geprägten Raster fallen. Auch für sie muss es im Sinne der katholischen Seelsorge jemanden geben, der sich zuständig fühlt und als Seelsorger akzeptiert wird. In zehn Jahren sind diese Menschen vielleicht der zahlmäßig größere Teil der Kirchenmitglieder, wenn der Trend so anhält (zurzeit spricht vieles dafür). Diese Menschen halten nach Seelsorgern Ausschau, die in der Gemeinde mitleben, dieses Leben teilen und sie auf ihrem Lebensweg begleiten. Diese Priester leben dort, wo die Menschen sind, sind ihnen Freund und präsentieren sich nicht als unnahbare Aufrechterhalter kirchlicher Ordnung. In der Persönlichkeitsbildung sollten Priesteramtskandidaten pflegen, was ihnen an Menschenfreundlichkeit und Herzlichkeit geschenkt wurde und sich trotz Seminaraufenthaltes „Normalität“ bewahren. (Selbstverständlichkeiten im Umgang mit Menschen, etwa Grüßen oder Danken, gilt bei Priestern bereits als positive Eigenschaft.) Missionarische Züge der Einzelseelsorge: Nicht zu unterschätzen ist die oft missionarische Wirkung von Taufen, Segnungsfeiern oder Beerdigungen, wenn sie auch von Fernstehenden mitgefeiert werden. Solche Feiern können zu einer Form der Neuevangelisierung werden. Wen sollen wir in unserem Land evangelisieren, wenn nicht jene, deren Faden zur Kirche schon ziemlich locker geworden oder gar gerissen ist. Wenn heute Menschen über Kirche reden, so müssen wir für jedes positive Beispiel dankbar sein, das einer negativen Erfahrung „mit dem Verein“ entgegengesetzt wird.

13 Paul Wess, Die Zukunft der Kirche sind Basisgemeinden, Leserbrief, in: Wir sind Kirche 70 (2011), S. XI.

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Positive Erlebnisse, Feiern, die aufbauen, Glaube und Hoffnung zu vermitteln, sind ein Fundament, auf dem die vielen Christinnen und Christen aufbauen können, die Menschen für Gott gewinnen wollen. In diesem Sinn sind sie dann alle SeelsorgerInnen oder MissionarInnen, egal ob sie in ihrer Pfarrgemeinde wirken oder bei jenen gefragt sind, die sie im Fitnessstudio, am Arbeitsplatz oder im Urlaub treffen.

Brauchtum: Psychologische und pädagogische Skizzen Von Anton A. Bucher Das erste Mal Weihnachten in Österreich verbrachte ich im Jahre 1993. Am 24. Dezember, um 14.00 Uhr, erschrak ich sehr, als es draußen plötzlich und mehrfach hintereinander knallte, dass die Scheiben erzitterten und der Lärm grollend über den verschneiten Flachgau rollte. Zwischen den benachbarten Häusern stiegen bläuliche Rauchschwaden auf. Die Unkenntnis über die Ursache dieser Knallerei verstärkte die Besorgnis. Amoklauf? Terroristisches Kommando? Einige Tage später war ich bestens informiert. Der Jubilar, Kollege und Freund Hans Paarhammer, im Flachgauer Brauchtum verwurzelt wie eine Eiche, erklärte: „Das Christkindl Anschießn ist ein Brauch, der in Mondsee bis ins Jahr 1684 nachgewiesen werden kann. Der Sinn: Heilige Zeiten ankünden, für alle bestens hörbar.“ Mittlerweile wiese der 24. Dezember eine Lücke auf, wenn nicht, in der Stadt Salzburg wie auf dem Lande, vom frühen Nachmittag bis zur einbrechenden Dunkelheit die Schützen ihre Stutzen abfeuerten. „Brauchtum“ spielt im Verhalten und Erleben der meisten Menschen, auch hier in Österreich, eine wichtige Rolle. 1997 bezeichneten sich gemäß einer IMAS-Umfrage 52 % der Österreicher als verbunden mit ihrer Heimat und ihrem Brauchtum1. Doch jene Wissenschaft, welche beansprucht, menschliches Verhalten, Erleben und die rückbezügliche Erfahrung aus beidem zu beschreiben und zu erklären2 – die Psychologie – beschäftigt sich kaum mit „Brauchtum“ oder „Bräuchen“, zumindest nicht explizit. Eine explizite „Psychologie des Brauchtums“ ließ sich nicht auffinden. Einer der Gründe dafür ist die tendenziell kritische Einstellung vieler Psychologen gegenüber der Tradition, mehr noch der Religion, die viele Bräuche am Leben erhält, und die in der deutschsprachigen Psychologie – anders als in den USA, wo Religionspsychologie floriert3 – marginalisiert ist. Gleichwohl untersuchten Psychologen Phänomene, die im Brauchtum fest verankert sind, beispielhaft Rituale, dies primär unter funktionalen Gesichtspunkten,4 nachdem sich die ursprüngliche Aver1 Aus: Helga Maria Wolf, Das neue Brauchbuch. Alte und junge Rituale für Lebensfreude und Lebenshilfe, Wien 2000, S. 31. 2 Philipp Zimbardo, Psychologie, Springer-Lehrbuch, Berlin 61995, S. 2 f. 3 Ralph Hood jr. et al, Psychology of religion. An empirical approach, New York 42009. 4 Bspw. Karin Holz, Rituale und Psychotherapie: Transkulturelle Perspektive, Berlin 1995; Christoph Wulf, Das Soziale als Ritual. Zur performativen Bildung von Gemeinschaft, Opladen 2001.

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sion ihnen gegenüber – Rituale seien zwangsneurotisch (Sigmund Freud) – gelegt hatte. Im Folgenden werden „Bräuche“ definitorisch umrissen, sodann werden ihre sozial- und individualpsychologisch zu analysierenden Funktionen dargelegt. Zu Ende geführt wird der Beitrag mit (religions-)pädagogischen Anmerkungen. I. Brauch: Definitorische Elemente Kaum ein Phänomen ist mannigfaltiger als das der Bräuche.5 Solche können typologisch klassifiziert werden: Feuerbrauchtum (bspw. die Freiheitsfeuer auf den Schweizer Bergen), Lärmbrauchtum, beispielsweise das Peitschenknallen, um die Wintergeister zu vertreiben. Klassifiziert werden Bräuche auch gemäß dem Kirchenjahr, nach den Jahreszeiten oder den Monaten, beispielsweise Maibaumaufstellen. Bräuche gruppieren sich auch um kritische Lebensereignisse und biographische Übergänge, so die 1909 von Gennep klassisch beschriebenen „Rites de passage“.6 Darüber hinaus existieren mannigfaltigste Bräuche in verschiedenen Ständen und Berufen, exemplarisch die vom Gautschmeister geleiteten Taufen der Druckergesellen, oder studentische Bräuche wie das Schlagen bis zum Schmiss – von der regionalen Vielfalt von Bräuchen ganz zu schweigen. Wie diese Vielfalt, die Elixier von unserem Leben und der Kultur ist, in eine Definition bringen? „Brauch“ geht auf das althochdeutsche „bruh“ zurück, was „Nutzen“ bedeutet. Gelegentlich begegnet auch die Deutung, „Brauch“ leite sich davon ab, dass entsprechende Verhaltensweisen gleichermaßen „gebraucht“ würden wie das Essen, woran aufgrund der noch zu schildernden Funktionen von Bräuchen etwas Zutreffendes ist.7 Üblicherweise wird unter Brauch „ein Verhalten oder Verhaltensmuster“ verstanden, „das von einer Gruppe als richtig oder falsch angesehen wird, eine allen gemeinsame Regel, die von der Gruppe im Konsens getragen wird und die Konformität der Gruppe darstellt.“8 Insofern ist „Brauch“ ein sozialpsychologisches Phänomen. Regelmäßige persönliche Verhaltensweisen, beispielsweise vor dem Einschlafen alleine ein Glas Rotwein zu trinken, gelten demnach nicht als „Brauch“ – obschon es die edlen Tropfen braucht. Angemessener ist von „Gewohnheit“ oder einem persönlichen Ritual die Rede. Ein weiteres definitorisches Element brachte die Ethnologin Weber-Kellermann ein9 : Bräuche haben „festgelegte Zeiten“ und situieren sich in spezielle Anlässe des familiären oder kommunalen Lebens. Bräuche gliedern und unterbrechen die Zeit, 5

Ein Klassiker: Leopold Schmidt, Volksglaube und Volksbrauch, Heidelberg 1966. Arnold van Gennep, Übergangsriten, Frankfurt/M. 2005. 7 Austria Lexikon: http://www.austria-lexikon.at/af/Wissenssammlungen/ABC_zur_Volkskunde_-%C3 %96sterreichs/Brauch. 8 Konrad Köstlin, Brauchtum als Erfindung der Gesellschaft, in: Historicum 62, Herbst 1999, S. 9 – 14. 9 Ingeborg Weber-Kellermann, Saure Wochen – frohe Feste, München/Luzern 1985, S. 9. 6

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was Antoine de Saint-Exup¦ry poetisch so beschrieb: „,Es wäre besser gewesen, du wärst zur selben Stunde wiedergekommenÐ, sagte der Fuchs. ,Es muss feste Bräuche geben.Ð ,Was heißt fester Brauch?Ð, sagte der kleine Prinz. ,Auch etwas in Vergessenheit GeratenesÐ, sagte der Fuchs. ,Es ist das, was einen Tag vom andern unterscheidet, eine Stunde von den andern StundenÐ.“10 Begriffe lassen sich spezifizieren, indem sie von nahestehenden Konstrukten abgegrenzt werden. Zu Brauch wird oft „Gewohnheit“ gesagt, weil sich Menschen an Bräuche, diese regelmäßig wiederholend, gewöhnen. Aber im Unterschied zu einem (feierlichen) und in erhabener Stimmung begangenen Brauch ist Gewohnheit nüchtern und zweckmäßig, Routine, in die die Menschen emotional weniger involviert sind. Bräuche hingegen können starke Emotionen binden, zumal dann, wenn ihre Ausübung behindert wird (das Verbot von Fronleichnamsprozessionen im Dritten Reich), oder wenn sie parodiert und verulkt werden. Ein nahestehendes Konstrukt ist auch der „Ritus“, dem ebenfalls ein gleichbleibender Ablauf zu eigen ist. Sinnvollerweise wird „Ritus“ auf religiös-liturgische Handlungen begrenzt, deren Sinn es ist, Profanes mit dem Sakralen zu verbinden. Bräuche sind vielfach ästhetische Höhepunkte im ursprünglichen Wortsinn von „aisthesis“: Sinnlich wahrnehmbar, so der Begründer der philosophischen Ästhetik, Alexander Baumgarten (1714 – 1762).11 Wenn die Schützen von der Festung aus das alte Jahr verabschieden, kleiden sie sich in farbige Uniformen; die Detonationen rollen über die Landschaft in die erregten Ohren, in der Luft schwebt Pulverdampf. In den heiligen Nächten muss der Weihrauch zu riechen sein. Und an diversen Festtagen wie Erntedank oder Fronleichnam müssen Klänge zu hören sein, Farben zu sehen – weiße Socken, rot leuchtende Schürzen, braune Lederhosen. Unbestreitbar ist zudem, dass es keine Epoche der Menschheitsgeschichte und keine Kultur gegeben hat, die nicht auch Bräuche entwickelte. Solche verfügen zwar über eine beträchtliche Veränderungsresistenz: in vielen Familien muss der Heilige Abend minutiös gleich ablaufen. Gleichwohl unterliegen Bräuche geschichtlichem Wandel. Einige verlieren an Plausibilität, verkümmern, werden Geschichte. Wieder andere entstehen neu, aktuell im Umfeld von Halloween12, das für die nächste Kindergeneration ebenso selbstverständlich sein wird wie für die unsrige Nikolaus und Krampus. Die Universalität des Brauchtums verweist auf tiefliegende psychische Bedürfnisse bzw. die hohe psychologische Funktionalität von Bräuchen. II. Funktionen von Bräuchen Diese sind mannigfaltig. Aber zentral ist die Integrationsfunktion: Bräuche beheimaten und konturieren Identität, auch stiften sie Gemeinschaft und regeln bzw. er10 11 12

Antoine de Saint-Exup¦ry, Der kleine Prinz, Düsseldorf 2010, Kap. 21. Alexander Baumgarten, Ästhetik, Hamburg 2009. Silver RavenWolf, Halloween: Feste & Rituale, München 2004.

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leichtern den Umgang mit den wichtigen Lebensübergängen sowie der Transzendenz. Bräuche stiften Heimat und Identität: Trotz der Globalisierung haben Menschen ein tiefsitzendes Bedürfnis nach Heimat. Freilich, „Heimat“, obschon eine Ursehnsucht vieler Menschen, wurde und wird verschieden konkretisiert. Ursprünglich der Ort, an dem man bzw. von dem man lebte, begann die Romantik Heimat zu sentimentalisieren. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundert wurde Heimat nationalistisch aufgeladen und zum „Vaterland“, wofür Millionen in den Tod geschickt wurden, in Verdun wie in Stalingrad. Im ausgehenden 20. Jahrhundert wurde Heimat neu entdeckt: als jene Lokalität, in der man global handeln, aber auch Traditionen bewahren soll. Erst in dieser Zeit begann sich die Psychologie vermehrt des Heimatgefühls anzunehmen, so Beate Mitzscherlich in ihrer Studie „Heimat ist etwas, was ich mache“13 . Dies auch deswegen, weil zusehends mehr Menschen ihre angestammten Heimaten verlassen müssen und sich in neuen Lebenswelten heimatlos fühlen, ihre Identität verlieren, ohne Wurzeln sind. Überzeugend legt Mitzscherlich dar, dass zur Beheimatung die Partizipation an gemeinsamer Kultur gehört, was vorzüglich über die Teilnahme an Bräuchen geschieht. Bräuche ermöglichen „Kooperation und soziale Integration in einem nicht im engeren Sinne ökonomisch diktierten Kontext“.14 Wer an einer Prozession zu Erntedank teilnimmt, integriert sich nicht nur in die dörfliche Gemeinschaft, sondern auch in ein entsprechendes Weltbild mit einem Göttlichen, dem für die Früchte der Erde und der menschlichen Arbeit zu danken ist. Damit verbunden ist, dass Bräuche Gemeinschaft stiften. Denn sie werden gemeinsam begangen. Insbesondere sind es Vereine, die Bräuche pflegen, allein im Bundesland Salzburg 311 Heimatvereine, Trachten- und Brauchtumsgruppen, 104 Schützenvereine (denen der Jubilar ein ebenso spiritueller wie menschlicher Kurat ist), 170 Volkslied- und Volksmusikgruppen. Das Engagement ist ehrenamtlich. Die Psychologie des Glücks hat dutzendfach den empirischen Nachweis erbracht, dass ehrenamtlich Tätige – vor allem in sozialen Feldern – glücklicher sind.15 Nicht nur, dass wir Menschen aufgrund unseres evolutionären Erbes auf Kooperation in überschaubaren Gruppen angelegt sind. Darüber hinaus bringt solche Tätigkeit auch soziale Anerkennung mit sich – ein ebenfalls sehr tiefsitzendes psychisches Bedürfnis, woraus bestenfalls ein positives Selbstwertgefühl resultiert16 – eines der stärksten Korrelate von Glück.

13 Beate Mitzscherlich, Heimat ist etwas, was ich mache. Eine individuelle Untersuchung zum individuellen Prozess von Beheimatung, Pfaffenheim 2000. 14 Beate Mitzscherlich, Heimat ist etwas, was ich mache! Vortrag in Wittenberge, 19. 11. 2004, in: http://www.fluesse-verbinden.net/download/mitzscherlich_heimat.pdf (Zugriff 1. 7. 2011). 15 Anton Bucher, Psychologie des Glücks, Ein Handbuch, Weinheim 2009, S. 106 f. 16 Helga Schachinger, Das Selbst, die Selbsterkenntnis und das Gefühl für den eigenen Wert, Bern 2005.

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Bräuche regeln bzw. erleichtern den Umgang mit Transzendenz. Viele Bräuche etablierten sich an den entscheidenden Lebenswenden, speziell Geburt, Übergang ins Erwachsenenleben, Heirat und Tod. In diesen Situationen erfahren Menschen Ungewissheit und Kontingenz: wenn etwas so ist, wie es ist, aber auch ganz anders sein könnte. Wird das Kind gesund sein? – heute mit Pränataldiagnostik teilweise überprüfbar! Wird Partnerschaft gelingen? Sie ist und bleibt ein hohes Wagnis. Eines der am tiefsten sitzenden Bedürfnisse des Menschen ist es, Kontingenz zu reduzieren bzw. zu bewältigen – für den Philosophen Hermann Lübbe die säkularisierungsresistente Funktion von Religion17 –, aber auch Kontrolle ausüben zu können18, den Widerfahrnissen des Lebens nicht schutzlos und ohnmächtig preisgegeben zu sein. Jede Schwangere möchte eine gute Geburt und ein gesundes Kind.19 Bis vor wenigen Generationen war es vielerorts der Brauch, dass eine Schwangere nicht unter Wäscheleinen hindurch ging, weil das bewirken könnte, dass der Fötus die Nabelschnur um sich wickelt. Wird das Neugeborene ein langes Leben haben? Vielerorts ist es der Brauch, nach der Entbindung gemeinsam einen Baum zu pflanzen und hernach mit einem guten Wein anzustoßen – auf dass das Kind ein ebenso langes Leben habe wie die Linde oder die Esche. Freilich, aus heutiger Sicht sind solche Bräuche von magischem Aberglauben durchsetzt, aber frühere Generationen lebten in einem anderen Weltbild, innerhalb dessen solche Deutungsmuster und Verhaltensweisen sinnvoll waren. „Magie“ ist nicht einfach unwissenschaftlich oder irrational; vielmehr wohnt ihr eine eigene Rationalität inne, die sich für die Lebensbewältigung vielfach als hilfreich erwiesen hat.20 Unüberschaubar vielfältig ist auch das Brauchtum im Umfeld von Verlobung und Heirat. Von langer Tradition ist das Brautwecken durch Böllerschießen sowie das Brautstehlen, das mittlerweile auch von kommerziellen Instituten angeboten wird, wobei man sich sogar eine Indianer- oder Piratenhorde aussuchen kann. Neuerdings scheint sich zusehends zu etablieren, an Polterabenden eine Stripperin auftreten zu lassen, was zu Recht kontrovers diskutiert wird21 – aber ein Indiz dafür, dass sich Bräuche wandeln. Am stärksten werden Bräuche benötigt, wenn die große Transzendenz ins Leben einbricht, der Tod. Wie dem Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens zu entnehmen ist22, erfüllten viele Bräuche die Funktion, die Angst vor dem eigenen 17

Hermann Lübbe, Religion nach der Aufklärung, Graz 1986. August Flammer, Erfahrung der eigenen Wirksamkeit. Einführung in die Psychologie der Kontrollmeinung, Bern 1990. 19 Sehr informativ: Jacques Gellis, Die Geburt. Volksglaube, Rituale und Praktiken, Düsseldorf 1989. 20 Hans G. Kippenberg u. a., Magie. Die sozialwissenschaftliche Kontroverse über das Verstehen fremden Denkens, Frankfurt/M. 1987. 21 http://www.heirat.at/blog/index.php?/archives/249-StripperIn-Polterabend-Ja-oder-Nein. html#extended. 22 Hanns Bächthold-Stäubli (Hrsg.), Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens, Berlin 1927 – 1942, Stichworte: Tod, Leiche, Grab. 18

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Tod zu bannen, aber auch die vor dem Toten, der wiederkehren könnte. Unmittelbar nach dem Tod sei ein Fenster zu öffnen, damit die Seele hinausfliegen kann.23 Am Sarg sei Wache zu halten und in einem Sterbehaus nicht zu schlafen; wer dies tue, folge dem Verstorbenen alsbald nach. Spiegel seien umzudrehen oder zu verhängen, weil ein weiterer Todesfall folge, wenn sich eine Leiche spiegle. Beim Hinaustragen des Sarges wurde darauf geachtet, den Verstorbenen mit den Füßen voran hinaus zu tragen, weil er sonst zurück blicken und wieder kommen kann. – In den letzten Jahrzehnten sind viele dieser Bräuche abhanden gekommen. Der Toten nehmen sich – unauffällig und diskret – die Bestattungsunternehmen an, die sie aus den Spitälern holen und in die gekühlten Aufbewahrungskammern bringen. Dieser Verlust an Sterbe- und Totenbräuchen ist Verlust an Lebenstiefe. Wer sich dem Tod stellt und ihn nicht verdrängt – wie dies unsere Lebenswelt in den letzten Jahrzehnten gründlich vollzogen hat –, hat auch das Leben in einem ungleich stärkeren, bewussteren Maß. Zusammenfassend: Bräuche erfüllen enorm wichtige psychologische Funktionen, sodass es geradezu verwunderlich ist, warum ihnen nicht mehr psychologische Aufmerksamkeit zuteil wurde. Ihr primärer Nutzen besteht darin, den Menschen zu integrieren, in seiner Heimat und in einer Weltanschauung, aber auch darin, Kontingenzen zu bewältigen und angesichts von Unverfügbarem (bspw. das Schicksal der Toten) dennoch (sekundäre) Kontrolle auszuüben. III. Erziehung zu bzw. in den Bräuchen Anders als in der Psychologie sind Bräuche in der Pädagogik durchaus ein heimisches Thema, speziell in der Religionspädagogik. Zu den Bräuchen im Kirchenjahr erscheinen regelmäßig neue Ratgeber und Handreichungen.24 Zwar stand die kritische Pädagogik im Gefolge der 68er-Bewegung den Bräuchen kritisch gegenüber: Sie seien veraltet, bürgerliche Herrschaftsinstrumente. Auch Rituale wurden diskreditiert, weil emanzipatorische Pädagogik Kinder nicht auf sture Verhaltensabfolgen festlegen, sondern ermuntern wollte, unkonventionell und kreativ zu sein. Aber Rituale – wie in Bräuchen gepflegt und weiter tradiert – haben eine förmliche Renaissance erfahren. „Kinder brauchen Rituale“.25 Ihre Wiederentdeckung sei pädagogisch nach Kräften zu unterstützen.26 Denn sie schaffen Sicherheit, gliedern die Zeit im Alltag (bspw. Tisch- oder Einschlafrituale) und sind vielfach zugleich die Höhepunkte des Jahres. 23 Vgl. Birgit Janetzky, Rituale für Sterbende, Tote und Trauernde, in: http://www.fachberatung-trauerfeier.de/pdf/Art-Rituale-w.pdf. 24 Beispielhaft: Hermine König, Das große Jahresbuch für Kinder. Feste feiern und Bräuche neu entdecken, München 1994; Renate Maria Zerbe, Christliche Feste und Bräuche im Kirchenjahr, Kempen 2010. 25 Gertrud Kaufmann-Huber, Kinder brauchen Rituale. Ein Leitfaden für Eltern und Erziehende, Freiburg 1998. 26 Lorelies Singerhoff, Rituale, Sinn, Halt und Kraft für die Seele, Heidelberg 2006.

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Worauf eine Pädagogik des Brauchtums besonderen Wert zu legen hat, lässt sich dem Alten Testament entnehmen. In Deuteronomium 6,20 f. wird geschildert, wie ein Vater und sein Sohn die religiösen Bräuche vollziehen, worauf der Junge fragt: „Warum alle diese Satzungen und Verordnungen?“ Darauf solle der Vater antworten, dass die Vorfahren Sklaven in Ägypten waren, worauf der Herr sie mit mächtiger Hand befreit habe. Zentral ist zweierlei: Der Vollzug: Zu Bräuchen kann nicht hinerzogen werden, sondern nur in ihnen: Indem sie praktiziert werden. Und die deutende Erzählung: Warum wir dieses oder jenes tun. Kinder tun beides gerne: Bräuche vollziehen – und Geschichten lauschen. Der Jubilar hat viele ZeitgenossInnen ermuntert, zu Bräuchen zu stehen, sie zu leben und Rituale zu vollziehen, auch die vielen, vielen jungen Christen, die ihm – speziell bei den Firmungen – begegnet sind. Dafür – und für vieles andere mehr – gebührt ihm aufrichtigster Dank.

Einrichtung von Kirche und Altarraum in den Vor-Fassungen der Liturgiekonstitution Von Rudolf Pacik I. Einleitung „Zwei Dinge erscheinen für den normalen Kirchenbesucher als die greifbarsten Ergebnisse der Liturgiereform des II. Vatikanischen Konzils: das Verschwinden der lateinischen Sprache und die Wendung der Altäre zum Volk hin. Wer die Texte des Konzils selber liest, wird mit Erstaunen feststellen, daß weder das eine noch das andere in dieser Form in den Konzilsbeschlüssen zu finden ist. […] Von der Wendung der Altäre zum Volk hin ist im Konzilstext nicht die Rede; sie erscheint erst in nachkonziliaren Anweisungen […].“1

Was Joseph Ratzinger in seinem Vorwort zu Uwe Michael Langs Büchlein „Conversi ad Dominum“ schreibt, scheint allerdings nicht nur für den sogenannten Volksaltar zu gelten, sondern ebenso etwa für die Altar-Reliquien, den Vorstehersitz oder den Ambo. Denn Art. 128 der Liturgiekonstitution, der fordert, die Bestimmungen über Bau und Einrichtung der Kirche sollten überprüft werden, ist eher allgemein gehalten: 128. Canones et statuta ecclesiastica, quae rerum externarum ad sacrum cultum pertinentium apparatum spectant, praesertim quoad aedium sacrarum dignam et aptam constructionem, altarium formam et aedificationem, tabernaculi eucharistici nobilitatem, dispositionem et securitatem, baptisterii convenientiam et honorem, necnon congruentem sacrarum imaginum, decorationis et ornatus rationem, una cum libris liturgicis ad normam art. 25 quam primum recognoscantur: quae liturgiae instauratae minus congruere videntur, emendentur aut aboleantur; quae vero ipsi favent, retineantur vel introducantur.

128. Die Canones und kirchlichen Statuten, die sich auf die Gestaltung der äußeren zum heiligen Kult gehörigen Dinge beziehen – besonders [diejenigen] über würdigen und zweckentsprechenden Bau der Gotteshäuser, Gestalt und Errichtung der Altäre, die Vornehmheit, die Anordnung und die Sicherheit des eucharistischen Tabernakels, Angemessenheit und würdige Anlage des Baptisteriums, schließlich über die rechte Beschaffenheit der heiligen Bilder, des Schmuckes und der Ausstattung –, sind zugleich mit den liturgischen Büchern gemäß Art. 25 unverzüglich zu revidieren. Was der erneuerten Liturgie weniger zu entsprechen scheint, soll geändert

1 Joseph Kardinal Ratzinger, Geleitwort, in: Uwe Michael Lang, Conversi ad Dominum. Zu Geschichte und Theologie der christlichen Gebetsrichtung (Neue Kriterien 5), Einsiedeln 32005, S. 7; vgl. Joseph Kardinal Ratzinger, Der Geist der Liturgie. Eine Einführung, Freiburg i. Br. 3 2000, S. 65 – 73. – Ich verzichte hier darauf, die Frage der Zelebrationsrichtung zu diskutieren. Es sei nur angemerkt, dass „versus populum“ eine topographische, keine theologische Bezeichnung ist, die auch das Tridentinische Messbuch verwendet (Ritus servandus 5,3).

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oder abgeschafft werden; was sie aber fördert, soll beibehalten bzw. neueingeführt werden. Qua in re, praesertim quoad materiam et formam In diesem Zusammenhang, besonders bezüglich sacrae supellectilis et indumentorum, Material und Form der sakralen Geräte und territorialibus Episcoporum Coetibus facultas Gewänder, wird den Bischofsversammlungen tribuitur res aptandi necessitatibus et moribus der einzelnen Gebiete die Vollmacht erteilt, locorum, ad normam art. 22 huius Constitutionis. Anpassungen an die örtlichen Erfordernisse und Sitten vorzunehmen, gemäß Art. 22 dieser Konstitution.

Dennoch hatte die Vorbereitende Liturgiekommission (Pontificia Commissio de sacra Liturgia Praeparatoria Concilii Vaticani II) über Struktur und Ausstattung des Kirchengebäudes sehr konkrete Vorstellungen. Sie standen aber nicht im Haupttext, sondern – wie bei anderen Abschnitten auch – in der Declaratio (Erläuterung) zum betreffenden Artikel. Diese Declarationes, welche die ersten drei Fassungen des Liturgie-Schemas enthalten, wurden im Zuge der Redaktionsarbeit gestrichen. Später, während des Konzils, stellte man auf Betreiben einiger Bischöfe das von der Vorbereitenden Liturgiekommission erstellte Schema samt Erläuterungen allen zur Verfügung. So wussten die Konzilsteilnehmer, was die knappen Aussagen der Vorlage bedeuteten. – Im Folgenden beschreibe ich den Werdegang des Artikels sowie der zugehörigen Declaratio und zeige, wie der ursprüngliche Text – soweit er die Einrichtung der Kirche für die Messe und für die Aufbewahrung der Eucharistie betrifft – in späteren Dokumenten der Reform weiter geführt wurde. II. Die ersten drei Fassungen des Liturgie-Schemas2 Die Vorarbeiten zu den Dokumenten des II. Vatikanischen Konzils begannen im Juni 1960. Mit dem Motu proprio „Superno Dei nutu“ vom 5. Juni 1960 setzte Johannes XXIII. die Vorbereitungsorgane des Konzils ein: die Zentralkommission, zehn weitere Kommissionen, drei Sekretariate. Einen Tag später ernannte der Papst die Vorsitzenden der Kommissionen – für die Vorbereitende Liturgiekommission Kardinal Gaetano Cicognani (nach dessen Tod folgte ihm am 16. Februar 1962 Kardinal Arcadio M. Larraona); am 11. Juli 1960 wurde Annibale Bugnini Sekretär. Bei der 1. Vollversammlung der Vorbereitenden Liturgiekommission in Rom (12. und 15. November 1960) bildeten sich 13 Subkommissionen, darunter die Subkommission XI „De sacra supellectili, vestibus et ornamentis liturgicis“ und XIII „De Arte sacra“3. Jede Subkommission 2 Eine Übersicht über den Weg des Liturgie-Schemas von den ersten Entwürfen bis hin zur Konzils-Konstitution bringt Rudolf Pacik, „Last des Tages“ oder „geistliche Nahrung“? Das Stundengebet im Werk Josef Andreas Jungmanns und in den offiziellen Reformen von Pius XII. bis zum II. Vaticanum (Studien zur Pastoralliturgie 12), Regensburg 1997, S. 147 – 155. 3 Der Subkommission XIII gehörten an: Relator: Joaqu†m Nabuco (Liturgiewissenschaftler, Rio de Janeiro), Sekretär: Valerio Vigorelli (Architekt und Priester, Direktor der Scuola dÏarte cristiana „Beato Angelico“, Mailand); Henri Jenny (Weihbischof von Cambrai), John OÏConnell (Redakteur der Zeitschrift „The Clergy Review“, Breconshire, Wales), Jo-

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sollte innerhalb von fünf Monaten ihren Teil eines Entwurfs für das Liturgie-Schema vorbereiten. Nachdem bei der zweiten Vollversammlung (12.–24. April 1961) die ausgearbeiteten Schema-Teile diskutiert worden waren und im Mai 1961 das versuchsweise redigierte 2. Kapitel Zustimmung gefunden hatte, erstellte das Sekretariat einen kompletten Entwurf – die 1. Fassung des Liturgie-Schemas4 ; sie ging am 10. August 1961 allen Mitgliedern zu. Das Schema enthielt acht Kapitel: I. De sacra Liturgia fovenda atque instauranda; II. De sacrosancto Missae sacrificio; III. De Officio divino; IV. De Sacramentis et Sacramentalibus; V. De Anno llturgico; VI. De sacra supellectili, vestibus et ornamentis liturgicis; VII. De Musica sacra; VIII. De Arte sacra. Diese Gliederung blieb in den späteren Versionen bestehen, auch wenn sich Inhalt und Umfang sowie die Benennung mancher Kapitel änderten. (Aufgrund der KonzilsDebatte wurden dann die Kapitel VI und VIII zusammengezogen.) Den drei von der Vorbereitenden Liturgiekommission redigierten Schema-Fassungen ist auch die Struktur der einzelnen Artikel gemeinsam: Text des eigentlichen Votums / Erläuterung („Declaratio“) / Anmerkungen (z. B. Quellenbelege). Wie der Sekretär im Vorwort zu LS I erläuterte, sollte jeweils das Votum Grundsätze darlegen und die Declaratio praktische Folgerungen bringen, die eher für die nachkonziliare Arbeit gedacht waren.5 Aufgrund der Rückmeldungen zum I. Schema wurde eine zweite Fassung (= LS II) erarbeitet und am 15. November 1961 versandt.6 Nach der 3. Vollversammlung der Vorbereitenden Liturgiekommission (11.–13. Jänner 1962) in Rom redigierte das Sekretariat den Text zum dritten Schema (= LS III).7 Am 22. Jänner 1962 erhielt es der Vorsitzende, Kardinal Gaetano Cicognani; er approbierte es am 1. Februar 1962, wenige Tage vor seinem Tod (am 5. Februar).

hannes Wagner (Direktor des Liturgischen Instituts, Trier), Theodor Klauser (Vorstand des Franz-Joseph-Dölger-Instituts zur Erforschung der Spätantike an der Universität Bonn). – Vgl. Pontificia Commissio de sacra Liturgia Praeparatoria Concilii Oecumenici Vaticani II. Subcommissiones. (Typoskript, hektogr. 4 Bl.) 4 Pontificia Commissio de sacra Liturgia Praeparatoria Concilii Vaticani II, Constitutio de sacra Liturgia fovenda atque instauranda. Schema transmissum Sodalibus Commissionis die 10 augusti 1961. (Typoskript, hektographiert. XIV u. 252 gez. Bl.) – Sigel: LS I. 5 LS I, Bl. III. 6 Pontificia Commissio de sacra Liturgia Praeparatoria Concilii Vaticani II, Constitutio de sacra Liturgia. Schema transmissum Sodalibus Commissionis die 15 novembris 1961, Romae 1961. (Typoskript, hektographiert. XII u. 96 gez. Bl.) – Sigel: LS II. 7 Pontificia Commissio de sacra Liturgia Praeparatoria Concilii Vaticani II, Constitutio de sacra Liturgia. Textus approbatus in Sessione plenaria diebus 11 – 13 ianuarii 1962, Romae 1962. (Typoskript, hektographiert. IX und 79 gez. Bl.) – Sigel: LS III. – Gedruckt (zur Vorlage in der Zentralkommission): Pontificia Commissio Centralis Praeparatoria Concilii Vaticani II, Quaestiones de sacra Liturgia. Schema Constitutionis de sacra Liturgia a Commissione Liturgica propositum. Em.mo ac Rev.mo Domino Cardinali Commissionis Praeside Relatore (5 Faszikel), Vatikan 1962. Ebenso in: ActDocVat Ser. II, Vol. III,II, Vatikan 1969, S. 9 – 68.

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III. Der Art. 106 über die Revision der Bestimmungen zum Kirchenbau im Kapitel „De Arte sacra“ des III. Liturgie-Schemas (Jänner 1962) Das VIII. Kapitel über die kirchliche Kunst wurde im Laufe der Bearbeitung inhaltlich nur wenig verändert. Durch die Redigier-Vorgänge verschob sich allerdings die Zählung (LS I: Art. 114 – 121; LS II: Art. 107 – 114; LS III: Art. 101 – 107). Der Artikel, der die Überprüfung der kirchlichen Bestimmungen verlangt, ist der jeweils vorletzte des Kapitels; nach der Reihenfolge der Schemata-Versionen trägt er die Nummern 120, 113, 106; später, in der Konzils-Vorlage, 104. Die einzelnen Artikel werden durch zusammenfassende Überschriften eingeleitet. Diese lauten übersetzt: 101. Die Kirche lässt jeden Kunst-Stil zu; 102. Kunstwerke, die dem Glauben und der Frömmigkeit widersprechen, sind fernzuhalten, 103. Für die Beurteilung von Kunstwerken sollen Fachleute herangezogen werden; 104. Kommissionen für sakrale Kunst; 105. Unterweisung der Künstler; 106. Angemessene Revision der kirchlichen Bestimmungen zur sakralen Kunst; 107. Unterweisung des Klerus in sakraler Kunst. Einzig bei Art. 106 enthält das VIII. Kapitel eine Declaratio; sie umfasst 14 Punkte (in den zwei vorhergehenden Fassungen waren es 12 gewesen; neu hinzugekommen sind Punkt 11 über Beichtstühle und 14 über Grabkunst). Im Folgenden gebe ich Artikel und Declaratio von LS III lateinisch und übersetzt wieder: 106. [Disciplina ecclesiastica de Arte sacra opportune revisenda]. Canones et statuta ecclesiastica, quae rerum externarum ad sacrum cultum pertinentium apparatum spectant, praesertim quoad aedium sacrarum dignam et utilem aedificationem, altarium formam et aedificationem, tabernaculi eucharistici nobilitatem et securitatem, baptisterii aptitudinem et honorem, necnon sacrarum imaginum, decorationis et ornatus convenientiam, moderationem et ordinem, recognoscantur: quae Liturgiae instauratae minus congruere videntur, emendentur aut aboleantur; quae vero ipsi favent, nova et vetera, retineantur vel introducantur.

106. [Angemessene Revision der kirchlichen Bestimmungen zur sakralen Kunst]. Die Canones und kirchlichen Statuten, die sich auf die Gestaltung der äußeren zum heiligen Kult gehörigen Dinge beziehen – besonders [diejenigen] über würdigen und zweckentsprechenden Bau der Gotteshäuser, Gestalt und Errichtung der Altäre, Vornehmheit und Sicherheit des eucharistischen Tabernakels, Zweckmäßigkeit und würdige Anlage des Baptisteriums, schließlich über das rechte Maß und die Ordnung der heiligen Bilder, des Schmuckes und der Ausstattung –, sind zu revidieren; was der erneuerten Liturgie weniger zu entsprechen scheint, soll geändert oder abgeschafft werden; was sie aber fördert, Altes und Neues, soll beibehalten bzw. neueingeführt werden. [Declaratio]. In toto rerum externarum ad [Declaratio]. Wenn die die gesamte sacrum cultum pertinentium apparatu Gestaltung der äußeren zum heiligen Kult

Kirche und Altarraum in den Vor-Fassungen der Liturgiekonstitution recognoscendo, speciali animadversione digna videntur quae sequuntur: 1. De ecclesia ad sacram synaxim bene ordinanda. – Ecclesiae aedes ita instruatur, ut rerum omnium locorumque ordo iam sit signum planum et veluti repercussio fidelis sacrae synaxeos, quae est congregatio populi Dei, hierarchice „ex servis“ Dei et „plebe sancta“ (cf. Canonem Missae) constituti et rite coadunati. Sedula ergo cura non solum altare erigatur, sed disponatur etiam secundum Liturgiae instauratae exigentias, – praecipue in ecclesiis noviter aedificandis –, sedes praesidentiales Episcopi (si opus sit) et sacerdotum, sellae quoque vel scamna ministrorum, ambones vel legilia ad sacras lectiones proclamandas, locus scholae vel coetui cantorum necnon organo congruus, atque loci fidelibus proprii, quibus „ipsi meliore visu animoque divina Officia participare queant“.6

2. De sedibus praesidentialibus. – In ecclesiis cathedralibus, cathedrae Episcopi, quatenus ipse tamquam synaxeos praeses atque antistes plane appareat, decet ut locus servetur in medio absidis, quod est in capite ecclesiae seu synaxeos. Cathedram decet ad latera habere canonicorum seu presbyterorum consessum. In ceteris ecclesiis, ubi non adest cathedra Episcopi, praesertim in paroecialibus, etiam sella simplex parochi vel sacerdotis celebrantis, quia nomine Episcopi, cuius est collaborator, synaxi praesidet, hunc honorificum locum obtinere licet; evitetur tarnen omnis aspectus troni quoad eos, quibus usus troni non competit.7

3. De altari maiore.– Altare maius, quod iam ea ratione a pariete seiunctum sit, ut facile circumiri queat, congruenter erigatur loco intermedio inter presbyterium et plebem, idest: in medio synaxeos (notione idealiter non mathematice sumpta). Altare tale, in quantum aedis condicio id suadet, ciborio seu

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gehörigen Dinge revidiert wird, scheint Folgendes besonderer Aufmerksamkeit wert: 1. Die rechte Einrichtung der Kirche für die gottesdienstliche Versammlung. – Das Kirchengebäude werde so angelegt, dass Ausstattung und räumliche Disposition ein klares Zeichen und gewissermaßen ein getreues Echo der heiligen Versammlung seien, der Gemeinschaft des Gottesvolkes, das aus „Dienern Gottes“ und „dem heiligen Volk“ (Mess-Kanon) hierarchisch geordnet ist und rechtmäßig zusammenkommt. Mit Sorgfalt werde also der Altar nicht nur errichtet, sondern auch gemäß den Erfordernissen der erneuerten Liturgie – besonders bei Neubauten – angeordnet, [ebenso] die Präsidialsitze des Bischofs (wenn nötig) und der Priester, auch Sitze oder Bänke für die Altardiener, Ambonen bzw. Lesepulte für die Verkündigung der heiligen Lesungen, der angemessene Platz für Schola (Sängerchor) und Orgel sowie die Plätze für die Gläubigen, wo „sie mit guter Sicht und Aufmerksamkeit am Gottesdienst teilnehmen können“.6 2. Die Vorstehersitze. – In den Kathedralen ziemt es sich, dass für die Kathedra des Bischofs in der Mitte der Apsis, das heißt an der Spitze der Kirche, nämlich der Gemeinde, ein Platz vorgesehen werde, damit der Bischof klar als Vorsitzender und Oberhirte der Versammlung erscheine. Weiters geziemt es sich, dass die Sitze der Kanoniker bzw. der Priester zu beiden Seiten der Kathedra stehen. In den übrigen Kirchen, in denen es keine Bischofs-Kathedra gibt, besonders in Pfarrkirchen, darf auch der einfache Sitz des Pfarrers oder des zelebrierenden Priesters, da er im Namen des Bischofs als dessen Mitarbeiter der Versammlung präsidiert, diesen Ehrenplatz einnehmen; dabei soll jedoch bei allen Personen ohne Thronrecht jeder Anschein eines Thrones vermieden werden.7 3. Der Hauptaltar. – Der Hauptaltar, der schon deshalb von der Wand getrennt sein soll, damit man ihn leicht umschreiten kann, werde passenderweise an einem Platz zwischen Presbyterium und Volk errichtet, das heißt: in der Mitte der Versammlung (ideell, nicht mathematisch verstanden). Ein

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baldachino laudabiliter cooperiatur, ut eius sanctitas manifestetur. Meminerint ecclesiarum rectores altare esse Eucharistici Sacrificii locum atque Convivii sacri venerabilem mensam, quae ornatur nobili formarum simplicitate et omnia quae non pertinent ad cultum eucharisticum stricte vetat. Crux et candelabra, quae iuxta qualitatem Missae requiruntur, vel super altare, vel etiam, secundum antiquissimum Ecclesiae usum, apud, seu quasi circum altare, ponantur

4. De altaribus minoribus. – Altaria minora ita disponantur, ne sacrae synaxi circum altare maius detrimento fiant; deinde, in quantum aedificii structura et circumstantiae permittant, melius in sacellis peculiaribus quam in ecclesiae aede principali locum habeant. 5. De altarium consecratione. – Praeter altare maius, quod semper fixum esse debet, etiam minora convenit esse lapidea ac fixa, nisi condicio locorum, veluti in oratoriis, id excludit. In eorum consecratione, si commode fieri potest, illi romani Pontificalis modi praeferendi sunt, qui sepulcrum Reliquiarum sacrarum in stipite, vel etiam, iuxta antiquissimum usum, revera „sub altare“ praevident, ne tabula sacra sine necessitate laedatur, sepulcro ab eius parte superiore excavato; mensam enim sacram pura integritas crucibus consecrationis ornatam, valde decet. Etsi haud opportunus habetur plenus ad priscam Romanae Ecclesiae legem reditus: „Nemo Martyrem distrahat“ (Cd. Theod. 1, 9, tit. 17 et 7; Braun, Altar, I, 614), tamen optandum videtur ut reliquiae Sanctorum, altarium sepulcris condendae, ne sint nimis parvae. Omni insuper benevola consideratione digna videtur quaestio, an instaurari possit usus, saltem in quibusdam casibus, praesertim quoad altaria minora, immo portatilia,

solcher Altar werde, soweit die Situation des Gebäudes es nahelegt, lobenswerterweise mit einem Ciborium (Baldachin) überdacht, damit seine Heiligkeit deutlich wird. Die Kirchenrektoren mögen bedenken, dass der Altar die Stätte des eucharistischen Opfers und der ehrwürdige Tisch des heiligen Gastmahls ist, der in edler Einfachheit der Formen geschmückt wird und der alles streng verbietet, was nicht zum eucharistischen Gottesdienst gehört. Kreuz und Leuchter, die gemäß dem Rang der Messe erforderlich sind, sollen entweder auf dem Altar oder auch, nach uraltem Brauch der Kirche, in der Nähe des Altares, d. h. gewissermaßen um ihn herum, aufgestellt werden. 4. Die Nebenaltäre. – Nebenaltäre sollen so angeordnet werden, dass sie die um den Hauptaltar versammelte heilige Gemeinde nicht beeinträchtigen; soweit die Anlage des Gebäudes und die Umstände es zulassen, sollen sie besser in eigenen Kapellen statt im Hauptraum der Kirche ihren Platz haben. 5. Die Weihe der Altäre. – Es ist angebracht, dass außer dem Hauptaltar, der immer unbeweglich sein muss, auch die Nebenaltäre aus Stein und unbeweglich sind, es sei denn, die örtliche Situation schließe das aus, z. B. in Oratorien. Bei der Altarweihe verdienen, wenn es gut möglich ist, jene Regeln des Römischen Pontifikales den Vorzug, die das Reliquiengrab im Unterbau oder auch nach ältestem Brauch tatsächlich „unter dem Altar“ vorsehen, damit durch das Einsenken des Sepulcrums auf deren Oberseite nicht die heilige Altarplatte ohne Not verletzt wird; es ziemt sich nämlich sehr, die mit den Kreuzen der Konsekration geschmückte heilige Mensa rein und unversehrt zu belassen. Wenn auch die volle Rückkehr zum alten Gesetz der römischen Kirche: „Niemand zerteile einen Märtyrer“ (Cd. Theod., 1, 9, tit. 17 und 7; Braun, [Der christliche] Altar, I, 614), nicht angebracht erscheint, ist es dennoch wünschenswert, dass die in den Sepulcren beizusetzenden Heiligen-Reliquien nicht zu klein sind. Außerdem verdient die Frage –

Kirche und Altarraum in den Vor-Fassungen der Liturgiekonstitution consecrandi altaria sine reliquiis. Usus exponendi corpora Sanctorum ficticia, etiam aliqua parva sed vera reliquia inclusa, abrogandus videtur.

6. De SS. Eucharistia asservanda. – Sanctissima Eucharistia habitualiter asservetur in tabernaculo solidissimo ac inviolabili in medio altaris maioris vel minoris sed vere praecellentis, aut in alio ecclesiae loco pernobili et debite exornato, secundum locorum vel regionum consuetudines. Liceat Sacrificium Missae celebrare versus populum in altari apto, etiam si in eius medio exsistat tabernaculum parvum, pretiosum tamen et omnino dignum, cum SS. Eucharistia asservata.8

Saepius, praesertim in ecclesiis maioribus, vel propter antiquitatem vel artis perfectionem insignibus, venerationi et cultui tanti Sacramenti opportunius videtur, si sacellum SS. Eucharistiae proprium adsit quam maxime ornatum, mere spectantibus quasi vetitum, adoratoribus autem plane apertum; quod sacellum etiam contra violationis pericula melius protegi possit.

7. De ambone seu de legilibus. – In ecclesiis aedificandis, ambones seu legilia ad sacras lectiones proclamandas, regulariter ita disponantur, ut sacrarum Scripturarum, immo ipsius verbi divini proclamati dignitas et honor plane appareat. 8. De loco scholae seu coetus cantorum. – Locus scholae seu coetus cantorum ita disponatur, ut clare appareat illos qui officio scholae cantorum fungantur, revera munus in Ecclesia exercere. In loco disponendo,

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wenigstens in gewissen Fällen, zumal bei Neben- und erst recht bei Tragaltären – wohlwollende Überlegung, ob der Brauch erneuert werden kann, Altäre ohne Reliquien zu konsekrieren. Die Unsitte, imitierte Leiber von Heiligen auszustellen, müsste wohl abgeschafft werden, selbst wenn eine kleine echte Reliquie darin eingeschlossen ist. 6. Die Aufbewahrung der Heiligsten Eucharistie. – Die Heiligste Eucharistie soll für gewöhnlich in einem ganz festen und unverletzbaren Tabernakel in der Mitte des Hauptaltars oder eines – allerdings wirklich ausgezeichneten – Nebenaltars aufbewahrt werden oder an einer anderen sehr vornehmen und würdig hergerichteten Stelle der Kirche, je nach den örtlichen und regionalen Gewohnheiten. Man soll das Messopfer zum Volk hin gewandt an einem geeigneten Altar feiern dürfen, auch wenn in dessen Mitte ein kleiner, doch kostbarer und vollkommen würdiger Tabernakel mit der aufbewahrten Heiligsten Eucharistie steht.8 Öfter, vor allem in größeren Kirchen, die entweder durch hohes Alter oder durch künstlerische Qualität hervorragen, scheint es für die Verehrung und den Kult des so großen Sakraments günstiger, wenn es eine eigene kostbar ausgestattete Kapelle für die Heiligste Eucharistie gibt, die bloßen Schaulustigen gewissermaßen verwehrt ist, aber für Beter ganz offen steht; diese Kapelle lässt sich wohl gegen Gefahren der Entehrung besser schützen. 7. Ambo bzw. Lesepulte. – Beim Bau von Kirchen sollen Ambonen bzw. Lesepulte für die Verkündigung der heiligen Lesungen stets so eingerichtet werden, dass Würde und Wert der heiligen Schriften, zumal des verkündeten Gotteswortes, klar hervortreten. 8. Der Platz der Schola (des Sängerchors). – Der Platz für die Schola (den Sängerchor) soll so angelegt sein, dass deutlich werde, dass diejenigen, welche die Aufgabe des Sängerchors versehen, ein wirkliches Amt in

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semper providendum erit ut singuli cantores, si velint, ad S. Communionem facile accedere possint. 9. De loco fidelium. – Optandum est, ut in ecclesiis ponantur regulariter scamna vel sedilia in usum fidelium. Reprobatur consuetudo personis quibusdam privatis reservandi sedilia, quia acceptio personarum vitanda est.9 10. De Baptisterio. – Baptisterium in ecclesiis tam cathedralibus quam paroecialibus maximo gaudeat honore. Optandum est ut fons baptismalis ita accommodetur ut super ipsum baptizari queat. Si commode fieri potest, nihil impedit quin Baptisterium largum sit, et veluti ad modum aulae fidelibus instruendis digne disponatur, ut his adiumento sint initiationis locus sacer eiusque ornamenta. 11. De sedibus confessionalibus. – Sedes confessionales decorum obtineant locum, patentem et conspicuum;10 sint ecclesiae architecturae convenientes, et ad sacramenti Paenitentiae administrationem dignae. Sedes temporarias vel ad modum simplicis scamni, in quantum fieri potest, ne ponantur. Sedes tamen ad modum cellae, prope secretarium, viris destinatas, conservari oportet. 12. De imaginibus sacris. – Ab antiquissimis temporibus Ecclesia catholica imaginibus sacris, imprimis Domini nostri Iesu Christi, deinde Dei Genetricis Beatae Mariae Virginis, Sanctorum Apostolorum omniumque Sanctorum, honorificentissimos locos parat in aedibus suis, illisque in imaginibus eorum venerationem praebet, et per istos pietatem fidelium excitat atque fovet.11 In imaginibus autem per ecclesias et oratoria disponendis ordo sacer strenue servandus videtur. Imaginem Christi incarnati, passi, crucifixi, resurgentis, in

der Kirche ausüben.8 Dabei ist immer dafür zu sorgen, dass jeder Sänger, wenn er möchte, leicht zur Kommunion gehen kann. 9. Die Plätze der Gläubigen. – Zu wünschen ist, dass in den Kirchen stets Bänke oder Stühle für die Gläubigen aufgestellt werden. Die Unsitte, privaten Personen Plätze zu reservieren, wird abgelehnt, da Rücksichtnahme auf Personen zu vermeiden ist.9 10. Das Baptisterium. – Die Taufstätte erhalte in Kathedral- wie in Pfarrkirchen einen besonderen Ehrenplatz. Es ist wünschenswert, den Taufbrunnen so anzulegen, dass man über ihm taufen kann. Wenn es gut möglich ist, hindert nichts, dass das Baptisterium groß ist und wie eine Halle für die Unterweisung der Gläubigen entsprechend eingerichtet wird, so dass ihnen die heilige Stätte der Initiation und ihr Schmuck eine Hilfe bieten. 11. Die Beichtstühle. – Die Beichtstühle sollen einen geziemenden, zugänglichen und sichtbaren Platz erhalten10, zur Architektur der Kirche passen und der Verwaltung des Bußsakramentes würdig sein. Man stelle möglichst keine provisorischen Beichtstühle oder bloße Beichtbänke auf. Doch soll in der Nähe der Sakristei für Männer ein Beichtzimmer bestehen bleiben. 12. Heilige Bilder. – Seit ältester Zeit hält die katholische Kirche den heiligen Bildern, besonders denen unseres Herrn Jesus Christus, sodann der Gottesmutter, der seligen Jungfrau Maria, der heiligen Apostel und aller Heiligen in ihren Kirchen die ehrenvollsten Plätze bereit, zollt ihnen in den Bildern Verehrung und weckt und stärkt durch sie die Frömmigkeit der Gläubigen.11 Beim Anbringen dieser Bilder in Kirchen und Oratorien scheint es richtig, eine strenge Ordnung einzuhalten. Dem Bild Christi, der Fleisch geworden ist, gelitten hat, gekreuzigt

8 Dies entspricht Art. 29 der Liturgiekonstitution: „Auch die Ministranten, Lektoren, Kommentatoren und die Mitglieder der Kirchenchöre vollziehen einen wahrhaft liturgischen Dienst. […].“ Damit wird die Aussage von Art. 26 konkretisiert, dass die Liturgie in all ihren Teilen alle betrifft.

Kirche und Altarraum in den Vor-Fassungen der Liturgiekonstitution caelum ascendentis, gloriose triumphantis, ad dexteram Patris sedentis, cum gloria iterum venientis, perhonorabilem decet locum in summo ecclesiae capite, ea lege ut, etsi retro post altare maius imago titularis ecclesiae seu altaris adesse liceat, imago tamen Christi principaliorem semper teneat locum. Eorundem Sanctorum imagines in eadem aede sacra sine gravissimis rationibus ne multiplicentur; retro post idem altare eorum multiplicatio omnino reprobetur.

13. De ordine decorationis .– Cum duplex sit in aedibus sacris exornandis artis pictoricae vel sculptoricae munus, iconographicum nempe et ornativum, aequilibrium inter ambo, necnon inter elementa figurativa et sic dicta abstracta, semper quaerendum esse oportet, ut in omnibus splendor ordinis effulgeat. In ornandis aedibus sacris, partes principaliores in genere gaudeant ornatu praecellentiore.

14. De arte funeraria. – Suadeatur fidelibus ut in funeribus et in monumentis funeraticiis apparandis adhaerescant conceptibus mortis christianae et vitae aeternae, quavis reiecta specie mythologiae vel alterius signi profani. 6 7 8

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wurde, auferstanden und in den Himmel aufgefahren ist, der glorreich triumphiert und zur Rechten des Vaters sitzt, der in Herrlichkeit wiederkehren wird, gebührt der ehrenvollste Platz im Chorhaupt der Kirche. Obwohl hinter dem Hauptaltar ein Bild des Kirchenpatrons oder Altartitulars sein darf, so soll doch das Bild Christi immer den bedeutenderen Platz erhalten. Bilder derselben Heiligen sollen in derselben Kirche ohne sehr gewichtige Gründe nicht vervielfacht werden; eine Vervielfachung hinter ein und demselben Altar ist gänzlich zu verwerfen. 13. Die Ordnung des Kirchenschmucks. – Da beim Ausschmücken von Kirchen Malerei und plastische Kunst zwei Aufgaben haben, eine ikonographische und eine schmückende, muss man stets das Gleichgewicht zwischen beiden anstreben, ebenso zwischen figürlichen und sogenannten abstrakten Elementen, damit in allem der Glanz der Ordnung aufleuchte. Beim Ausschmücken sakraler Gebäude sollen im Allgemeinen die bedeutenderen Teile auf besondere Weise ausgezeichnet werden. 14. Grabkunst. – Den Gläubigen empfehle man, bei Begräbnissen und Totendenkmälern sich an die christlichen Anschauungen von Tod und ewigem Leben zu halten und jegliche Art mythologischer oder sonstiger profaner Symbolik abzulehnen.

Instructio S. O. de Arte sacra: A.A.S., 44 (1952), p. 544. Cf. cann. [CIC] 139 § 1, n. 15; 240 § 3; 274 n. 6; 349 § 2, n. 3; cf. etiam 325; 337 § 3; 435 § 2. Cf. Acta et documenta [Concilio Oecumenico Vaticano II apparando], series I, vol. II, pars I (Europa; Conferentia Episc. Fuldensis), p. 760.

9

Cf. can. 1263.

10

Cf. Rituale romanum, tit. IV, cap. 1, n. 8.

11

Cf. Conc. Nicaenum II, Definitio de sacris imaginibus et traditione: Denzinger, nn. 302 – 304, et 306.

Die Vorbereitende Liturgiekommission legt hier im Blick auf die Reform ein ganzes Kirchenraum-Konzept vor, wie es vielfach schon in der Zeit der Liturgischen Bewegung bestand und in etlichen Bauten umgesetzt wurde. Die – heute selbstverständlichen – Grund-Funktionsorte Altar, Ambo(nen)9, Vorstehersitz (auch für Priester) 9 Der Ambo als Ort für den Vortrag der biblischen Lesungen ist nichts Neues. Das Caeremoniale Episcoporum von 1600 (lib. 2, cap. 8; Edition von 1752: n. 40 und 45) nennt in der

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werden beschrieben. Diese stellen eine Neuerung dar, da gemäß dem sogenannten Tridentinischen Ritus der Zelebrant (die Predigt ausgenommen) nur am Altar agierte, selbst beim Vortrag der Lesungen, und damit die differenzierte Struktur der Feier eingeebnet wurde. Der Hauptaltar – als Opferstätte und Tisch des eucharistischen Mahles – wird hervorgehoben (auch gegenüber weiteren Altären, die keine optische Konkurrenz bilden dürfen); seine einfache Gestalt (ohne Aufbauten, unter Umständen sogar ohne Leuchter und Kreuz) drückt aus, was an ihm geschieht. Reliquien sollen – wenn überhaupt – nicht in der Platte, sondern im Sockel oder unter dem Altar beigesetzt werden. Für die Aufbewahrung der Eucharistie denkt man an neue Lösungen, nicht nur, aber auch wegen der Zelebration versus populum. (Den Autoren des Textes erscheint offenbar die Position des Altars inmitten der Gemeinde wichtiger zu sein als die Frage, auf welcher Seite der Priester stehe. Der Altar bildet so den eigentlichen Orientierungspunkt, auf den hin alle Feiernden sich ausrichten.) Dieses Konzept nimmt in vielem nachkonziliare Regelungen vorweg. Allerdings zeigen sich einige Unklarheiten, die erst allmählich, im Laufe der Reform, beseitigt wurden: z. B. die Zahl der Ambonen, der Ort des Tabernakels, das Verhältnis von Feier und Aufbewahrung der Eucharistie. IV. Die Prüfung des III. Liturgie-Schemas durch die Vorbereitende Zentralkommission des Konzils (26. März bis 3. April 1962) Alle Schemata wurden, nachdem sie der Präses der zuständigen Kommission approbiert hatte, der Vorbereitenden Zentralkommission (Pontificia Commissio Centralis praeparatoria Concilii oecumenici Vaticani II) vorgelegt. Mit dem LiturgieSchema befasste diese sich in ihrer 5. Sitzung (26. März bis 3. April 1962). Die Kapitel VI (De sacra supellectile), VII (De Musica sacra) und VIII (De Arte sacra) behandelte sie im 6. und 7. Treffen, Samstag, den 31. März und Montag, den 2. April 1962.10 In den edierten Akten folgen dem von der Vorbereitenden Liturgiekommission im Jänner 1962 verabschiedeten Text die Relatio des Liturgiekommissions-Vorsitzenden, Kardinal Arcadio M. Larraona, Wortmeldungen von Mitgliedern der Zentralkommission, dann die Abstimmung (wobei auch hier einzelne Personen sich etwas ausführlicher äußerten).

Beschreibung des Pontifikalamts den Gebrauch von Ambonen bei Epistel und Evangelium als Variante. 10 ActDocVat Ser. II, Vol. II,III, Vatikan 1968, S. 460 – 492. Text des Kapitels VIII = Art. 101 – 107 (De Arte sacra), ebd., S. 466 – 471; Relatio Larraonas über Art. 106, ebd., S. 476; Animadversiones der Mitglieder (zu allen drei Kapiteln), ebd., S. 477 – 484; die Abstimmung (über die drei Kapitel), ebd., S. 485 – 492.

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In seiner Präsentation von Art. 106 wies Kardinal Larraona darauf hin, dass die Declaratio die gesamte kirchliche Tradition sowie die Anliegen der Liturgischen Bewegung aufgreife. Die einzelnen Punkte sollten nicht nur von den Konzilsvätern, sondern vor allem in den nachkonziliaren Kommissionen bedacht werden.11 Was die Themen der Declaratio betrifft, gibt es die meisten Wortmeldungen zu den Punkten 3 bis 6, also Altar, Nebenaltäre, (Anforderungen für die) Altar-Konsekration, Aufbewahrung der Eucharistie. Ein Kardinal stellt den Vorschlag in Frage, über dem Hauptaltar ein Ciborium zu errichten (Punkt 3 der Declaratio); durch seine Höhe sei der Altar ohnehin hervorgehoben.12 Kreuz und Leuchter sollten nicht neben bzw. um den Altar gestellt werden.13 Den Altar von der Wand zu trennen sei in großen Kirchen sinnvoll; in kleinen komme es auf die Zweckmäßigkeit für die Gläubigen an; in bestehenden Räumen möge man nichts verändern.14 (Neben-)Altäre ohne Reliquien lehnt ein Mitglied ab15, dagegen begrüßt ein anderes den Vorschlag in Punkt 5 wegen der zahlreichen unechten Reliquien16. Mit Rücksicht auf Missionsgebiete möchte ein Vater die Regel, Altäre sollten möglichst fix und aus Stein sein, flexibler handhaben.17 Nebenaltäre seien auch in einschiffigen Kirchen möglich; in bestehende Räume möge man nicht eingreifen.18 Die Zelebration zum Volk hin soll nicht verpflichtend sein, ja die Erlaubnis des Ordinarius erfordern.19 Bezüglich des Ortes für die Aufbewahrung der Eucharistie differieren die Meinungen. Angemessen sei allein der Altar, nicht Wände oder andere zweitrangige Plätze des Kirchenraums.20 Überhaupt widersprächen etliche Stellen der Declaratio, besonders in Punkt 3 und 6, dem Tabernakeldekret der Ritenkongregation von 1957.21 Dagegen wünscht ein anderes Mitglied eine klare Aussage darüber, ob das Allerheiligste auch außerhalb eines Altars aufbewahrt werden dürfe22, ja ein Kardinal fordert, das Taber-

11

Ebd., S. 476. Ernesto Ruffini (Palermo), ebd., S. 480. 13 Ernesto Ruffini (Palermo), ebd., S. 480. 14 Santiago Luis Copello (Kanzler der Römischen Kirche), ebd., S. 486. 15 William Godfrey (Westminster), ebd., S. 482. 16 Paul Marie-Andr¦ Richaud (Bordeaux), ebd., S. 483 f. Die Fuldaer Bischofskonferenz wies in ihrer Eingabe an die Commissio Antepraeparatoria (ActDocVat Ser. I, Vol. II,I, Vatikan 1960, S. 761) auf die Möglichkeit hin, bei Messen außerhalb von Kirchen statt eines Altarsteins bzw. eines Altare portatile ein Antimension (Tuch mit eingenähten Reliquien) zu verwenden, wie es auch in Missionsländern üblich sei. 17 Paul-Êmile L¦ger (Montreal): ActDocVat Ser. II, Vol. II,III (Anm. 10), S. 481. 18 Santiago Luis Copello (Kanzler der Römischen Kirche), ebd., S. 486. 19 Santiago Luis Copello (Kanzler der Römischen Kirche), ebd., S. 486; Manuel GonÅalves Cerejeira (Lissabon), ebd., S. 485. 20 Alfredo Ottaviani (Sekretär des Hl. Offiziums), ebd., S. 484. 21 Giuseppe Siri (Genua), ebd., S. 487. Zum Tabernakeldekret siehe unten Kap. IX. 22 Paul-Êmile L¦ger (Montreal), ebd., S. 481. 12

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nakeldekret müsse revidiert werden, und beruft sich dabei auf die Eingabe der Fuldaer Bischofskonferenz23. Zum Vorstehersitz gibt es drei Stellungnahmen. Ein Mitglied möchte die Mitte der Apsis allein der Bischofs-Kathedra vorbehalten24; zwei andere betrachten die Apsis als (auch) für die Kathedra ungeeignet25. Einzelne Bemerkungen betreffen Anliegen wie die genauere Bestimmung des Platzes von Chor und Orgel26, den Ort des Baptisteriums bzw. den Taufbrunnen27; die Beichtstühle28, die Bestimmungen über Bilder29 und über Grabkunst30. Zum Charakter der Declarationes im Liturgie-Schema äußern sich drei Bischöfe: Einige Aussagen – wie z. B. über die Sitze für die Gläubigen – enthielten Selbstverständlichkeiten.31 Die Declarationes seien wichtig, aber nicht unmittelbare KonzilsMaterie32, sollten eher als Hinweise und nicht verpflichtend verstanden werden.33 V. Revision des Liturgie-Schemas durch die Zentrale Subkommission für Verbesserungen Nach der Debatte in der Vorbereitenden Zentralkommission ging das Schema zusammen mit den Akten an die dieser unterstellte Zentrale Subkommission für Verbesserungen (Subcommissio Centralis de schematibus emendandis). Ihre Aufgabe war, den endgültigen, für das Konzil bestimmten Text zu erarbeiten.34 23

Julius Döpfner (München-Freising), ebd., S. 489. – Der Teil des Votums der Fuldaer Bischofskonferenz, der die Liturgie betrifft: ActDocVat Ser. I, Vol. II,I, Vatikan 1960, S. 759 – 762. Ähnlich auch die Eingabe der Theologischen Fakultät Trier: ActDocVat Ser. I, Vol. IV,II, Vatikan 1961, S. 737 – 770, hier S. 765. 24 Joseph Frings (Köln): ActDocVat Ser. II, Vol. II,III (Anm. 10), S. 487. 25 William Godfrey (Westminster), ebd., S. 482; Pierre Martin Ngü-dinh-Th˜c (Hu¦, Vietnam), ebd., S. 492 („ubi episcopus non videt oves, nec videtur ab ovibus“). 26 Paul-Êmile L¦ger (Montreal), ebd., S. 481. 27 Paul-Êmile L¦ger (Montreal), ebd., S. 481; Joseph Frings (Köln), ebd., S. 487 (will aus hygienischen Gründen nicht empfehlen, über dem Taufbrunnen zu taufen). 28 Offene Beichtstühle sollen – mit Rücksicht auf Länder mit heißem Klima – nicht verboten werden: Pierre Martin Ngü-dinh-Th˜c (Hu¦, Vietnam), ebd., S. 492. 29 Ein konziliares oder nachkonziliares Dekret, das mehrere Bilder desselben Heiligen in einer Kirche verbietet, würde genügen: Paul Marie-Andr¦ Richaud (Bordeaux), ebd., S. 484. – Dies entspricht LS III, Art. 106 Decl. 12. Eine solche Anweisung findet sich später im Messbuch: IGMR (Anm. 74), n. 278 / n. 318. 30 In Punkt 14 sollte die Auferstehung genannt werden: Paul-Êmile L¦ger (Montreal), ebd., S. 481. 31 Francis Spellman (New York), ebd., S. 486. 32 Julius Döpfner (München-Freising), ebd., S. 489. 33 Manuel GonÅalves Cerejeira (Lissabon), ebd., S. 485. 34 Die Subkommission bestand aus fünf Kardinälen, von denen einer den Vorsitz führte, und einem Sekretär. Vorsitzender: Kardinal Carlo Confalonieri (Sekretär der Konsistorial-

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Die Revision geschieht laut Statut in mehreren Schritten. Zunächst wertet das Sekretariat die in der Zentralkommission abgegebenen Stellungnahmen aus und ordnet sie für jedes Schema bzw. für einzelne Kapitel zu einem Bericht (Observationes). Drei Mitglieder der betreffenden Praeparatoria-Kommission – der Sekretär, der Redaktor des Schemas, eine vom Vorsitzenden benannte weitere Person – prüfen die Observationes und geben (mit Begründung) an, welche Stellungnahmen zu akzeptieren seien und welche nicht (Responsio).35 Observationes und Responsiones fügt das Subkommissions-Sekretariat zu einer Übersicht („De emendatione schematum …“) zusammen.36 Sie dient als Unterlage für die Sitzung, in welcher der Schema-Text revidiert wird. Gemäß n. 3 e des Statuts sind die Beschlüsse der Subkommission definitiv. – Das Liturgie-Schema wurde in der 6. Sitzung am 9. Mai 1962 behandelt.37 Über das Kapitel VIII gab es keine Diskussion. Zuvor, vom 11. April 1962 an, hatte der Vorsitzende der Subkommission, Kardinal Carlo Confalonieri, in mehreren Teilen die Ergebnisse der ZentralkommissionsDebatte zum Liturgie-Schema an den Vorsitzenden der Vorbereitenden Liturgiekomkongregation). Mitglieder: die Kardinäle Clemente Micara (Generalvikar Rom), Santiago Luis Copello (Kanzler der Römischen Kirche), Giuseppe Siri (Genua), Paul-Êmile L¦ger (Montr¦al). Sekretär: Vincenzo Fagiolo. Vgl. Pontificie Commissioni Preparatorie del Concilio Ecumenico Vaticano II. A cura della segreteria della Pontificia Commissione Centrale. II edizione, Vatikan 1961, S. 43. Die Vorgangsweise wird im Statut beschrieben: Pontificia Subcommissio Centralis de schematibus emendandis Praeparatoria Concilii Vaticani II, Annotatio ex officio (20. 11. 1961), ActDocVat Ser. II, Vol. IV,III,I, Vatikan 1994, S. 26 f. – Zum weiteren Verlauf vgl. Giovanni Caprile, Entstehungsgeschichte und Inhalt der vorbereiteten Schemata. Die Vorbereitungsorgane des Konzils und ihre Arbeit, in: LThK2-Konzilskommentar III, S. 665 – 726, hier S. 725; Annibale Bugnini, La riforma liturgica (1948 – 1975). Nuova edizione riveduta e arricchita di note e di supplementi per una lettura analitica (Bibliotheca ,Ephemerides LiturgicaeÐ. Subsidia 30), Rom 1997, S. 39 – 41; Herman Schmidt, Die Konstitution über die heilige Liturgie. Text – Vorgeschichte – Kommentar (Herder-Bücherei 218), Freiburg i. Br. 1965, S. 72 – 77; Maria Paiano, Il rinnovamento della liturgia: dai movimenti alla chiesa universale, in: Verso il Concilio Vaticano II (1960 – 1962). Passaggi e problemi della preparazione conciliare. A cura di Giuseppe Alberigo / Alberto Melloni. Saggi di Giuseppe Alberigo [u. a.] (Testi e ricerche di scienze religiose, N.S. 11), Genova 1993, S. 67 – 140, hier S. 132 – 134; Joseph A. Komonchak, Der Kampf für das Konzil während der Vorbereitung, in: Giuseppe Alberigo (Hrsg.), Geschichte des Zweiten Vatikanischen Konzils (1959 – 1965), 1. Bd., Deutsche Ausgabe hrsg. von Klaus Wittstadt, Mainz / Leuven 1997, S. 189 – 401, hier S. 340 – 346. 354 – 359. – Die Subkommission hielt 14 Sitzungen ab und prüfte 29 Schemata (auf diese Zahl hatte die Zentralkommission die ursprünglich 71 Vorlagen reduziert). 35 Pontificia Commissio de sacra Liturgia Praeparatoria Concilii Vaticani II, Responsio ad observationes a Patribus factas in sessione commissionis centralis diebus 26 martii – 2 aprilis quoad schema constitutionis De sacra Liturgia (Ende April oder Anfang Mai 1962), in: ActDocVat Ser. II, Vol. IV,III,I, Vatikan 1994, S. 535 – 557 (im Folgenden = Responsio). 36 Pontificia Subcommissio Centralis de schematibus emendandis Praeparatoria Concilii Vaticani II, De emendatione schematum decretorum quae discussa fuerunt in sessione generali Pontificiae Commissionis Centralis mensis martii–aprilis 1962. Pars I, Vatikan 1962. (An die Mitglieder der Subkommission für Verbesserungen ausgesandt am 03. 05. 1962.) Abgedruckt in: ActDocVat Ser. II, Vol. IV,III,I, Vatikan 1994, S. 559 – 588. – Zu Kap. VIII, ebd., S. 588. 37 ActDocVat Ser. II, Vol. IV,III,I, S. 589 – 592.

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mission, Kardinal Arcadio M. Larraona, mit der Bitte um Prüfung gesandt. Der Faszikel über die Kapitel VI bis VIII ging am 13. April 1962 an Larraona.38 Die Vorbereitende Liturgiekommission antwortete nicht auf jede einzelne Bemerkung, die der Bericht über die Zentralkommission enthielt, sondern fasste zusammen und wählte aus. Stellungnahmen, die sich auf allgemein akzeptierte Grundsätze bezogen, wurden nicht beantwortet, ebenso wenig Korrekturwünsche, denen der inzwischen gedruckte Text von LS III ohnehin entsprach.39 Die Responsio der Vorbereitenden Liturgiekommission zu Kapitel VIII40 bezieht sich nur auf die drei Art. 101, 103, 104, doch nicht auf 106. Auch Kritik an den Declarationes wurde in der Responsio nicht berücksichtigt, sollte aber der nachkonziliaren Kommission zur Verfügung gestellt werden. Der Grund: Die Declarationes gehörten nicht zum Konzilstext und würden dort nicht aufscheinen.41 Einen solchen Hinweis hatte Annibale Bugnini bereits in seinem Vorwort zu LS I angebracht.42 Ähnliche Aussagen enthielten die Relatio vor der Zentralkommission43 sowie der Vorspann jedes der fünf gedruckten LS-III-Hefte44. Allerdings war zunächst nicht die Rede davon, dass die Declarationes überhaupt gestrichen würden. Erst die Vorbereitende Liturgiekommission kündigte dies in ihrer Responsio an.45 38 Observationes zu den Kapiteln VI bis VIII, ebd., S. 491 – 499; zu Art. 106 von Kapitel VIII, ebd., S. 498 f. 39 „Quando Commissio Liturgica ad animadversionem aliquam non respondit, indicium est vel ipsam animadversionem enuntiare principium generale, quod omnino admittitur, vel indicare emendationem, quae iam inserta est in exemplari impresso.“ Responsio (Anm. 35), S. 536. 40 Ebd., S. 556 f. 41 „Declarationes non pertinent ad textum Conciliarem, sed positae fuerunt in ,ConstitutioneÐ pro Patribus Commissionis Centralis. In textu definitivo Patribus Concilii apparando non ponuntur. Proinde animadversiones relativae … reservantur una cum ipso textu Declarationum pro Commissione postconciliari …“ Responsio (Anm. 35), S. 535 f. 42 „Generaliter in VOTIS enuntiata sunt principia generaliora; dum practicae applicationes remittuntur ad DECLARATIONEM VOTI. Saepius enim vota Commissionis examinando, nobis visum est nimis esse exigere ut Concilium Oecumenicum examinet et approbet nonnullas quaestiones minoris momenti, quae magis spectant ad peritos postconciliares, quam ad Patres Concilii.“ LS I, Bl. III. 43 ActDocVat Ser. II, Vol. II,III, Vatikan 1968, S. 54 (Text des Sekretärs der Vorbereitenden Liturgiekommission, Annibale Bugnini), S. 56 (Text des Vorsitzenden, Arcadio M. Larraona). 44 „Declarationes non pertinent ad textum conciliarem, sed ponuntur tantum ad explicandos canones.“ Soweit ich sehe, wandte sich nur ein einziges Mitglied der Zentralkommission gegen diesen Hinweis und forderte, mit der Approbation des Schemas sollten auch die Declarationes akzeptiert werden: Paul Êmile L¦ger (Montr¦al): ActDocVat Ser. II, Vol. II,III (Anm. 43), S. 70. 45 Ähnlich auch Kardinal Arcadio M. Larraona in seinen verspätet, am 14. 05. 1962, eingereichten „Animadversiones generales ad responsa animadversionibus Commissionis centralis exhibita“, in: ActDocVat Ser. II. Vol. IV,III,I, Vatikan 1994, S. 594 – 606, hier S. 595; Begleitbrief, ebd., S. 593 f; Antwort von Kardinal Confalonieri (18. 05. 1962), ebd., S. 606.

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VI. Die Behandlung des (veränderten) Liturgie-Schemas auf dem Konzil Bis zur Verabschiedung durchliefen die Konzils-Schemata mehrere Phasen von Präsentation, Abstimmung und Korrektur.46 Die Redaktionsarbeit leisteten hier die am Beginn des II. Vaticanums eingesetzten konziliaren Kommissionen (deren personelle Zusammensetzung nicht mit derjenigen der Praeparatoria-Kommissionen identisch ist).47 Während der ersten Konzilsperiode hielt die Liturgiekommission 21 Plenarsitzungen ab, auf denen sie Prooemium und Kapitel I behandelte. Weitere Plenarsitzungen fanden in der Konzilspause statt, von 23. April bis 10. Mai und von 27. bis 30. September 1963, sowie während der zweiten Konzilssession nach dem 14. Oktober 1963. Dazu kamen Konferenzen der Subkommissionen sowie freie Treffen von Bischöfen und Theologen.48 1. Vorstellung und Debatte des Schemas im Plenum (4.–18. Generalkongregation, 22. Oktober – 13. November 196249) a) Verfahren In der 4. Generalkongregation (22. Oktober) präsentierten der Vorsitzende, Kardinal Arcadio M. Larraona, und der Sekretär der Konzils-Liturgiekommission, Ferdinando Antonelli OFM, das Schema.50 Die Debatte im Plenum behandelte zuerst das Schema im gesamten, dann die einzelnen Kapitel. Die in den Reden und den nur schriftlichen Eingaben enthaltenen Verbesserungswünsche (Emendationes) gingen der Konzils-Liturgiekommission zu. Nach Abschluss der Debatte nahmen in der 19. Generalkongregation (14. November 1962) die Väter folgende Anträge an:

46 Das Verfahren ist festgelegt durch das Konzils-Reglement: Sacrosanctum Oecumenicum Concilium Vaticanum II. Ordo Concilii Oecumenici Vaticani II celebrandi, Vatikan 1962; auch in: AAS 54 (1962), S. 609 – 631; ActDocVat Ser. II, Vol. I, Vatikan 1964, S. 306 – 325. Dass. Editio altera recognita, Vatikan 1963; auch in: ActSynVat Vol. II,I, Vatikan 1971, S. 21 – 46. Dort jeweils die nn. 3 – 7. 9 – 11. 31 – 39. 52 – 70. Vgl. dazu Schmidt, Die Konstitution (Anm. 34), S. 78 – 118. 47 Zu Wahl und Zusammensetzung der Konzils-Kommissionen vgl. Pacik, „Last des Tages“ (Anm. 2), S. 151. 325 – 327. Die Konzils-Liturgiekommission – Präses: Kardinal Arcadio M. Larraona, Sekretär: Ferdinando Antonelli OFM – gliederte sich in 13 Subkommissionen. Der Subkommission XIII (De Arte sacra) gehörten an: die Bischöfe Carlo Rossi (Biella; Vorsitzender) und Willem van Bekkum SVD (Ruteng, Indonesien), die Periti Mario Righetti (Pfarrer und infulierter Abt, Genua), Pietro Amato Frutaz (Generalrelator der Historischen Sektion der Ritenkongregation, Rom), Johannes Wagner (Direktor des Liturgischen Instituts, Trier). (Vgl. Sacrosanctum Oecumenicum Concilium Vaticanum II. Commissio de sacra Liturgia. Subcommissiones. [Okt./Nov. 1962.] [Typoskript, hektogr. 3 gez. Bl.]) 48 Vgl. Schmidt, Die Konstitution (Anm. 34), S. 81. 49 ActSynVat Vol. I,I, Vatikan 1970, S. 262 – 664; ActSynVat Vol. I,II, Vatikan 1970, S. 7 – 769. 50 ActSynVat Vol. I,I, S. 304 – 308.

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(a) das Schema grundsätzlich zu akzeptieren; (b) über die Emendationes im Plenum abzustimmen, sobald die Kommission sie bearbeitet hat.51 b) Declarationes wiederherstellen! Bei der Diskussion über das Schema allgemein und über Kapitel I im Oktober 1962 forderten einige Bischöfe, der Text des von der Vorbereitenden Liturgiekommission verabschiedeten Schemas (LS III) bzw. zumindest die Declarationes sollten den Konzilsvätern zur Verfügung gestellt werden.52 Das Gleiche verlangten zwei Väter bei der Debatte über Kapitel V–VIII der Konzilsvorlage.53 Kardinal Giacomo Lercaro von Bologna, der Leiter der Liturgie-Subkommission III (ad Animadversiones generales expendendas), berichtete in seiner Relatio über die Emendationes zur Konstitution allgemein (21. Generalkongregation vom 17. November 1962), die Konzils-Liturgiekommission habe diesen Wunsch einstimmig akzeptiert und werde ihn dem Consilium Praesidentiae weiterleiten.54 c) Kapitel straffen und zusammenziehen! Zwei Bischöfe regten an, die Kapitel VI und VIII bzw. VI bis VIII zusammenzuziehen und zu straffen.55 d) Wünsche zu Art. 104 Zu Art. 104 der Konzilsvorlage (der LS III, Art. 106 entspricht) gab es einige Vorschläge: Ein Zusatz im Text solle die Revision der kirchlichen Vorschriften zur sakralen Kunst innerhalb weniger Jahre verlangen (ähnlich wie gemäß Art. 16 – in der Liturgiekonstitution Art. 25 – die Erneuerung der liturgischen Bücher bald geschehen soll).56 Der Schluss von Art. 104 möge allgemeiner formuliert werden, so dass er für alle Riten und Teilkirchen gilt.57 Ein Bischof wünschte Aussagen über die Position des Altars und über den Charakter des Kirchenraums (als Haus Gottes und seiner 51

ActSynVat Vol. I,III, Vatikan 1971, S. 9 f. Ausgang der Abstimmung (von 2215 Stimmen 2162 Placet, 46 Non placet, 7 ungültige), ebd., S. 55. 52 Joseph Frings (Köln): ActSynVat Vol. I,I, Vatikan 1970, S. 309 f. (auch wünscht er, die Declarationes zur Volkssprache sollten in das Schema eingefügt werden); Julius Döpfner (München-Freising), ebd., S. 319 – 321; Sergio M¦ndez Arceo (Cuernavaca, Mexiko), ebd. S. 359; Otto Spülbeck (Meißen), ebd., S. 576. 53 Raffll Silva Henr†quez (Santiago de Chile): ActSynVat Vol. I,II, Vatikan 1970, S. 681 (im Konstitutions-Text soll auf die Declaratio des LS III verwiesen werden); Henri Jenny (Weihbischof Cambrai), ebd., S. 719. 54 ActSynVat Vol. I,III, Vatikan 1971, S. 116 – 119, hier S. 116. 55 Carlos Quintero Arce (Ciudad Valles, Mexiko): ActSynVat Vol. I,II, S. 249; Julius Döpfner (München-Freising), ebd., S. 679 f. 56 Franz Jachym (Koadjutor Wien), ebd., S. 718 f. 57 „ad necessitates cultus liturgici hodiernas adapentur“. Ceslau Sipovic (Titularbischof Mariamme), ebd., S. 761.

Kirche und Altarraum in den Vor-Fassungen der Liturgiekonstitution

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Familie sowie als Wohnstätte des in der Eucharistie gegenwärtigen Christus); auch sollte in jeder Pfarrkirche eine Bischofs-Kathedra errichtet werden.58 2. Erste Korrekturphase: Behandlung der Emendationes und des aufgrund dieser verbesserten Textes Die Konzils-Liturgiekommission beriet über die Änderungswünsche in den nach Abschnitten aufgeteilten Subkommissionen. Aufgrund der akzeptierten Verbesserungen überarbeitete man den früheren Text. Die von der Gesamt-Kommission angenommenen Vorschläge, der Bericht des jeweiligen Relators sowie die geänderte und die bisherige Fassung des Schemas wurden gedruckt und den Vätern übermittelt. Im Plenum berichtete der Relator über die Emendationes des jeweiligen Kapitels. Gemäß dem Konzils-Reglement wird über jede einzelne Emendatio abgestimmt (mit Placet / Non placet). Danach stimmen die Väter über das ganze neugefasste Kapitel ab (Placet / Non placet / Placet iuxta modum).59 Iuxta-modum-Stimmen gelten als positiv; dem Stimmzettel fügen die Votanten ihre Modi (also neuerliche Änderungsvorschläge) bei. Den Bericht über die Emendationes zu den (bisherigen) Kapiteln VI und VIII gab Bischof Carlo Rossi in der 59. Generalkongregation am 31. Oktober 1962. Die Unterlagen für die Konzilsväter enthielten neben der Übersicht über die angenommenen Vorschläge und einer Gegenüberstellung der alten und der neuen Fassung auch die 14teilige Declaratio zum bisherigen Art. 104.60 Nun sind (wie manche gewünscht hatten) Kapitel VI und VIII zu einem einzigen Kapitel VII „De Arte sacra deque sacra supellectile“ zusammengezogen, wobei von Kapitel VI wenig übrig blieb.61 – Der frühere Art. 104 ist jetzt Art. 128. Im gedruckten Emendationes-Faszikel hat er diese Gestalt: „128. Canones et statuta ecclesiastica, quae rerum externarum ad sacrum cultum pertinentium apparatum spectant, praesertim quoad aedium sacrarum dignam et aptam constructionem, altarium formam et aedificationem, tabernaculi eucharistici nobilitatem, dispositionem et securitatem, baptisterii convenientiam et honorem, necnon congruentem sacrarum imaginum, decorationis et ornatus rationem, una cum libris liturgicis ad normam art. 25 quam primum recognoscantur: quae liturgiae instauratae minus congruere videntur, emendentur aut aboleantur; quae vero ipsi favent, retineantur vel introducantur.

58

Carlos Quintero Arce (Ciudad Valles, Mexiko), ebd., S. 748 f. Das Kapitel VII wurde in der 59. Generalkongregation am 31. 10. 1963 behandelt; Relator war Carlo Rossi (Biella) (ActSynVat Vol. II,IV, Vatikan 1973, S. 10 – 27). In den betreffenden Generalkongregationen stimmte man auch über die Emendationes ab. 60 Relatio Carlo Rossi, ebd., S. 24 – 26. Übersicht über die angenommenen Änderungsvorschläge, ebd., S. 10 f; vergleichende Gegenüberstellung, ebd., S. 12 – 21; Appendix mit der Declaratio, ebd., S. 22 f. 61 Vgl. Relatio Carlo Rossi, ebd., S. 24. 59

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Qua in re, praesertim quoad materiam et formam sacrae supellectilis et indumentorum, territorialibus Episcoporum Coetibus facultas tribuitur res aptandi necessitatibus et moribus locorum, ad normam art. 22 huius Constitutionis.“

Der zweite Absatz entspricht n. 88 des bisherigen VI. Kapitels, ist also Ergebnis der Umarbeitung. – Die kursiv markierten Passagen gelten als geringfügige Änderungen (gewichtige, die auch unter den Emendationes aufgezählt werden, müssten durch Kapitälchen hervorgehoben sein). Zum Teil handelt es sich um stilistische Korrekturen. Die Eingabe Bischof Jachyms (bezüglich der raschen Revision der Bestimmungen) findet sich wieder. Im Passus über den Tabernakel ist das Wort „dispositio“ eingefügt, so dass die Stelle nun lautet: „tabernaculi eucharistici nobilitatem, dispositionem et securitatem“. Diese Ergänzung geht auf Josef Andreas Jungmann zurück, der damit die Trennung von Altar und Tabernakel festschreiben wollte.62 Laut Bericht hatten sich die Eingaben der Konzilsväter vor allem mit drei Fragen befasst: der Zulassung moderner Kunst; dem rechten Maß im Anbringen und Verehren von Bildern; der Einfachheit der Ausstattung.63 Zu Art. 104 (neu: 128) hatte die Liturgiekommission keinen der Vorschläge als eigentliche Emendatio angenom62 In seinem stenographischen Konzilstagebuch schreibt Josef Andreas Jungmann dazu (S. 37, 06. 05. 1962): „Heute war nur kurze Sitzung: Berichte aus mehreren Subkommissionen über die aufgrund der bisherigen Diskussionen am Text vorgenommenen Änderungen; weitere Blätter für die Abstimmung wurden ausgeteilt. – Als einen bedeutenden Erfolg kann ich buchen: Im Kapitel De arte sacra war vom Tabernakel die Rede, und davon, daß die Vorschriften betreffend des Tabernakels nobilitas et securitas überprüft werden sollen; aber die Diskussion ging so schnell darüber hinweg, daß darüber nicht näher gesprochen wurde; vorgestern habe ich Bischof Spülböck [richtig: Spülbeck] aufmerksam gemacht, daß hier noch das Wort dispositio hinzugehöre, und tatsächlich war im heutigen Bericht von Bischof Rossi das Wort aufgenommen; das scheint mir sehr wichtig, es ist das Anliegen, dem ich ja in meiner ,GlaubensverkündigungÐ mehrere Seiten gewidmet habe (S. 124 ff).“ (Gemeint ist: Josef Andreas Jungmann, Glaubensverkündigung im Lichte der Frohbotschaft, Innsbruck 1963, S. 124 – 127. Vgl. auch Jungmanns Kommentar zu SC Art. 128: LThK2-Konzilskommentar I, S. 105 f. In seinem Handexemplar hat Jungmann übrigens stenographisch eine ähnliche Bemerkung angebracht wie im Konzilstagebuch.) – Der Ausdruck „dispositio“ verdeutlicht die Sache; doch meinte wohl schon das Wort „nobilitas“ neben der kostbaren Ausstattung den besonderen Ort des Tabernakels, entsprechend der Anweisung von c. 1268 § 2 CIC/1917 (die sinngemäß in LS III, Art. 106 Decl. 6 wiederholt wird): „Custodiatur in praecellentissimo ac nobilissimo ecclesiae loco …“ (Jungmann dazu in seinem LThK-Handexemplar: „[Johannes] Wagner bemerkte mir nachher: das sei auch im ursprünglichen Text gemeint gewesen […]“) – Die Wiedergabe „edle Form“ in der amtlichen Übersetzung der Liturgiekonstitution trifft den Sinn nicht ganz. In meiner Übersetzung hier habe ich versuchsweise „nobilitas“ mit „Vornehmheit“ wiedergegeben. 63 Vgl. Relatio Carlo Rossi: ActSynVat Vol. II,IV, Vatikan 1973, S. 24 – 26; diesen Wünschen entsprechen die umgearbeiteten Art. 99 (jetzt 123) und 100 (jetzt 124) sowie der neue Art. 125. – Die Forderung nach edler Schönheit statt bloßen Aufwandes – „potius nobilem intendant pulchritudinem quam meram sumptuositatem“ (emendierter Text Art. 124, Anfang) – ist später (sinngemäß) in das Messbuch eingegangen (IGMR [Anm. 74], n. 287 / n. 325), wo für liturgische Geräte „nobilis illa simplicitas, quae cum arte vera optime copulatur“ verlangt wird. Ähnlich auch Ritenkongregation, Instructio de musica in sacra Liturgia „Musicam sacram“ (05.03. 1967), in: AAS 59 (1967), S. 300 – 320, n. 11 (der wesensgemäße Vollzug ist wichtiger als prächtiger Gesang und aufwendiges Zeremoniell).

Kirche und Altarraum in den Vor-Fassungen der Liturgiekonstitution

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men64, wohl auch deshalb, weil man zu konkrete Bestimmungen als für ein Konzilsdekret unpassend hielt.65 Über die von der Kommission vorgelegten Emendationes stimmte man – nachdem diese Vorgangsweise gebilligt worden war – nicht einzeln, sondern im Gesamten ab. Das emendierte Kapitel VII nahmen die Väter mit 1838 Placet, 9 Non placet und 94 Placet iuxta modum an.66 3. Zweite Korrekturphase: Behandlung des aufgrund der Modi neuerlich veränderten Textes Nachdem der emendierte Text des Kapitels gebilligt worden ist, beginnt eine weitere Korrekturphase. Die Kommission bzw. Subkommission geht wie bei den Emendationes vor: Sie ordnet und prüft die eingegangenen Modi; die nun akzeptierten Modi, ein Bericht (der alle, nicht nur die übernommenen Änderungswünsche behandelt) sowie der neuerlich korrigierte Text werden kapitelweise gedruckt und den Vätern verteilt. Unter den in der Relatio besprochenen Modi zu Kapitel VII betrifft keiner den Art. 128.67 Dieser blieb auch gegenüber der emendierten Fassung unverändert. Im Plenum verfährt man ähnlich wie bei der Lesung der Emendationes: Dem Bericht des Relators folgt laut Reglement die Abstimmung über die einzelnen vorgelegten Modi (mit Placet / Non placet). Die Berichte zu den Modi für Kap. IV–VII wurden in der 73. Generalkongregation am 22. November 1963 vorgelegt.68 Die Abstimmung über die genannten Kapitel erfolgte aber nur mehr in Form von Quaesita generalia („Ist man mit der Art und Weise einverstanden, in der die Konzilskommission […] die Modi zu Kap. x behandelt hat?“). Die drei Kapitel V bis VII wurden mit 2149 Placet, 5 Non placet und zwei Enthaltungen angenommen.69 4. Schlussabstimmung und Promulgation Schließlich war über den neuen Text des Gesamtkapitels abzustimmen (mit Placet / Non placet); Abstimmungen gelten bei Zweidrittel-Mehrheit als positiv.70 In der Schlussabstimmung bei der 73. Generalkongregation am 22. November 1963 wurde 64

Siehe die Übersicht über die einzelnen emendierten Stellen: ActSynVat Vol. II,IV, S. 10 f. 65 Vgl. Relatio Carlo Rossi, ebd., S. 26. Dies meint wohl auch Wünsche bezüglich der Declarationes. 66 Ebd., S. 77; vgl. Relatio von Carlo Rossi über die Modi zu Kap. VII: ActSynVat Vol. II,V, Vatikan 1973, S. 741 – 743. 67 Vgl. ebd. 68 Ebd., S. 701 – 724 (Kap. IV); S. 725 – 744 (Kap. V–VII). 69 Ebd., S. 744. 70 Ebd., S. 757.

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die Liturgiekonstitution mit 2158 Placet, 19 Non placet und einem Placet iuxta modum gebilligt.71 Die feierliche Bestätigung und Promulgation folgte in der 3. Sessio publica am 4. Dezember 1963.72 VII. Nachwirken der Declaratio zu Art. 106 des III. Liturgie-Schemas in der Instruktion „Inter Oecumenici“ (26. September 1964) Einige Teile der Declaratio gingen bereits in die erste Instruktion zur Durchführung der Liturgiekonstitution (26. September 1964)73 ein. Dieses Dokument verordnete Teilreformen, die sich ohne neue Liturgiebücher verwirklichen ließen (vgl. n. 3 und 4); sie galten vom 7. März 1965 an, dem 1. Fastensonntag. Das 5. Kapitel behandelt Fragen des Kirchenbaus. – Die folgende Gegenüberstellung zeigt, welche Abschnitte der Declaratio den Paragraphen der Instruktion entsprechen; im Anschluss daran wird der Text des Kapitels wiedergegeben. Instructio „Inter Oecumenici“, Kap. V

Declarationes zu LS III

I.

De ecclesiarum dispositione (n. 90)

1.

De ecclesia ad sacram synaxim bene ordinanda

II.

De altari maiore (n. 91)

2.

De altari maiore

III.

De sede celebrantis et ministrorum (n. 92) 3.

De sedibus praesidentialibus

IV.

De altaribus minoribus (n. 93)

4.

De altaribus minoribus

V.

De altarium ornatu (n. 94)

5.

De altari maiore (Ende)

VI.

De sanctissima Eucharistia asservanda (n. 95)

6.

De SS. Eucharistia asservanda

VII. De ambone (n. 96)

7.

De ambone seu de legilibus

VIII. De loco scholae et organi (n. 97)

8.

De loco scholae seu coetus cantorum

IX.

De locis fidelium (n. 98)

9.

De loco fidelium

X.

De baptisterio (n. 99)

10. De baptisterio

71 Ebd., S. 767. Diese Schlussabstimmung wäre an sich nicht unbedingt gefordert; vgl. im Konzils-Reglement n. 61 §§ 6 u. 7. 72 ActSynVat Vol. II,VI, Vatikan 1973, S. 407 f. Endgültiger Text der Liturgiekonstitution, ebd., S. 409 – 439. 73 Ritenkongregation, Instructio [prima] ad exsecutionem Constitutionis de sacra Liturgia recte ordinandam (26. 9. 1964), in: AAS 56 (1964), S. 877 – 900; deutsch: Heinrich Rennings/ Martin Klöckener (Hrsg.), Dokumente zur Erneuerung der Liturgie. 1. Bd.: Dokumente des Apostolischen Stuhls 1963 – 1973, Kevelaer 1983, n. 199 – 297. (In diesem Artikel verwende ich eine eigene Übersetzung.)

Kirche und Altarraum in den Vor-Fassungen der Liturgiekonstitution

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Caput V

Kapitel V

De ecclesiis et altaribus debite exstruendis ad fidelium actuosam participationem facilius obtinendam I. De ecclesiarum dispositione 90. In ecclesiis noviter erigendis, reficiendis aut aptandis sedulo curetur ut idoneae evadant ad actiones sacras celebrandas iuxta veram ipsarum naturam, et ad fidelium actuosam participationem obtinendam (cfr. Const. art. 124).

Die rechte Gestaltung von Kirchen und Altären im Hinblick auf eine bessere tätige Teilnahme der Gläubigen I. Die Raumordnung in der Kirche 90. Werden Kirchen gebaut, renoviert oder umgestaltet, so achte man sorgfältig darauf, dass sie sich für eine wesensgerechte Feier der heiligen Handlungen und für die Verwirklichung der tätigen Teilnahme der Gläubigen als geeignet erweisen (vgl. Konst. Art. 124). II. Der Hauptaltar 91. Es empfiehlt sich, dass der Hauptaltar von der Wand getrennt errichtet wird, sodass man ihn leicht umschreiten und an ihm die Zelebration zum Volk hin gewandt vollziehen kann; im Gotteshaus soll er einen solchen Platz einnehmen, dass er tatsächlich die Mitte ist, dem sich die Aufmerksamkeit der ganzen Versammlung der Gläubigen von selbst zuwendet. Bei der Auswahl des Materials für den Bau und die Ausstattung des Altars sollen die Rechtsvorschriften eingehalten werden. Auch sei das Presbyterium um den Altar herum so weiträumig, dass die heiligen Handlungen bequem vollzogen werden können. III. Die Sitze für den Zelebranten und die Ministri 92. Die Sitze für den Zelebranten und die Ministri sollen je nach der Anlage jeder Kirche so aufgestellt werden, dass die Gläubigen sie gut sehen können und dass der Zelebrant wirklich als Vorsteher der ganzen Gemeinde der Gläubigen erscheint. Wird der Sitz hinter dem Altar aufgestellt, ist die Form eines Thrones zu vermeiden, da dieser nur dem Bischof zukommt. IV. Die Nebenaltäre 93. Es soll nur wenige Nebenaltäre geben, ja, soweit es die Anlage der Kirche zulässt, ist es sehr angemessen, sie in Kapellen unterzubringen, die auf irgendeine Weise vom Hauptraum der Kirche getrennt sind.

II. De altari maiore 91. Praestat ut altare maius exstruatur a pariete seiunctum, ut facile circumiri et in eo celebratio versus populum peragi possit; in sacra autem aede eum occupet locum, ut revera centrum sit quo totius congregationis fidelium attentio sponte convertatur. In eligenda materia ad ipsum altare aedificandum et ornandum, praescripta iuris serventur. Presbyterium insuper circa altare eius amplitudinis sit, ut sacri ritus commode peragi possint.

III. De sede celebrantis et ministrorum 92. Sedes pro celebrante et ministris, iuxta singularum ecclesiarum structuram, ita collocetur ut a fidelibus bene conspici possit, et ipse celebrans revera universae fidelium communitati praeesse videatur. Attamen, si sedes post altare collocatur, vitanda est forma throni, utpote qui uni Episcopo competat. IV. De altaribus minoribus 93. Altaria minora numero sint pauciora, immo quantum aedificii structura permittit, valde congruit ut in sacellis ab ecclesiae parte principali aliquomodo seiunctis collocentur.

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Rudolf Pacik Caput V

Kapitel V

V. De altarium ornatu 94. Crux et candelabra, quae pro singulis actionibus liturgicis in altari requiruntur, de iudicio Ordinarii loci, etiam iuxta ipsum poni possunt.

V. Die Ausstattung der Altäre 94. Nach dem Urteil des Ortsordinarius können Kreuz und Leuchter, wie sie für die verschiedenen liturgischen Handlungen am Altar erforderlich sind, auch in dessen Nähe aufgestellt werden. VI. Die Aufbewahrung der heiligsten Eucharistie 95. Die heiligste Eucharistie soll in einem festen und unverletzbaren Tabernakel in der Mitte des Hauptaltars oder eines – allerdings wirklich ausgezeichneten – Nebenaltars aufbewahrt werden oder, nach rechtmäßiger Gewohnheit und in besonderen vom Ortsordinarius zu billigenden Fällen, auch an einer anderen wirklich vornehmen und würdig hergerichteten Stelle der Kirche. Man darf die Messe zum Volk hin gewandt feiern, auch wenn ein kleiner, doch passender Tabernakel auf dem Altar steht. VII. Der Ambo 96. Es ist zweckdienlich, dass ein Ambo bzw. Ambonen für die Verkündigung der heiligen Lesungen vorhanden sind. Diese sollen so eingerichtet sein, dass der Vortragende von den Gläubigen gut gesehen und gehört werden kann. VIII. Der Platz für Schola und Orgel 97. Die Plätze für Schola und Orgel sollen so angelegt sein, dass Sänger und Organist deutlich als Teil der Gemeinde der Gläubigen erscheinen und dass sie ihr liturgisches Amt möglichst gut ausüben können. IX. Die Plätze der Gläubigen 98. Die Plätze der Gläubigen sollen mit besonderer Sorgfalt so angeordnet werden, dass diese mit Auge und Herz an den heiligen Handlungen entsprechend teilnehmen können. Es empfiehlt sich, in der Regel Bänke oder Stühle für sie aufzustellen. Der Brauch, privaten Personen Plätze zu reservieren, ist gemäß Art. 32 der Konstitution abzulehnen. Ferner sorge man dafür, dass die Gläubigen den Zelebranten und die anderen Ministri nicht nur sehen, sondern auch – unter Verwendung moderner technischer Mittel – gut verstehen können.

VI. De sanctissima Eucharistia asservanda 95. Sanctissima Eucharistia asservetur in tabernaculo solido atque inviolabili in medio altaris maioris vel minoris, sed vere praecellentis, posito, aut, iuxta legitimas consuetudines et in casibus peculiaribus ab Ordinario loci probandis, etiam in alia ecclesiae parte vere pernobili et rite ornata. Licet Missam versus populum celebrare, etiam si in altari exstat tabernaculum, parvum quidem, sed aptum.

VII. De ambone 96. Convenit ut ambo vel ambones habeantur ad sacras lectiones proferendas, ita dispositi ut minister a fidelibus bene conspici et audiri possit. VIII. De loco scholae et organi 97. Scholae et organi loca ita disponantur, ut clare appareat cantores et organi modulatorem fidelium communitatis congregatae partem efficere, et ut ipsi suo munere liturgico aptius fungi possint. IX. De locis fidelium 98. Loca fidelium peculiari cura disponantur, ut ipsi visu et animo sacras celebrationes debite participare possint. Expedit ut de more scamna seu sedilia ad eorum usum ponantur. Consuetudo tamen personis quibusdam privatis sedilia reservandi reprobanda est, ad normam art. 32 Constitutionis. Curetur etiam ut fideles sive celebrantem sive alios ministros non tantum videre, sed etiam, hodiernis instrumentis technicis adhibitis, commode audire valeant.

Kirche und Altarraum in den Vor-Fassungen der Liturgiekonstitution

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Caput V

Kapitel V

X. De baptisterio 99. In baptisterio exstruendo et ornando, sedulo attendatur ut dignitas sacramenti Baptismi clare appareat, et locus aptus sit ad communes celebrationes peragendas (cfr. art. 27 Const.).

X. Die Taufstätte 99. Bei Errichtung und Ausstattung der Taufstätte achte man sorgfältig darauf, dass die Würde des Taufsakramentes deutlich hervortritt und dass der Ort für gemeinsame Feiern geeignet ist (vgl. Konst. Art. 27).

Von den 14 Punkten der Declaratio zu LS III, Art. 106 greift die Instruktion neun auf (n. II und V beziehen sich beide auf Punkt 3 der Declaratio); Punkt 5 sowie die Punkte 11 – 14 bleiben unberücksichtigt. Die Ausdrucksweise ist nun einfacher; teilweise werden andere Akzente gesetzt. Die Möglichkeit der Zelebration versus populum hatte die Declaratio nur in Zusammenhang mit der Aufbewahrung der Eucharistie (Punkt 6) genannt. Die Instruktion spricht davon auch – richtiger – bei den Eigenschaften des Altars (n. 91). Dass dieser frei stehen soll, wird nicht nur wegen der Umschreitbarkeit gefordert, sondern auch in Hinblick auf die (mögliche) Position des Priesters hinter dem Altar. Was die Instruktion zur Aufbewahrung der Eucharistie sagt (n. 95), entspricht sachlich dem früheren Punkt 6, nur kommt die Sakramentskapelle nicht mehr vor; möglicherweise ist sie im Passus „oder an einer anderen wirklich vornehmen und würdig hergerichteten Stelle der Kirche“ inbegriffen. Die Aussage, ein flacher Tabernakel hindere nicht die Feier der Messe zum Volk hin, blieb trotz n. 91 stehen. VIII. Inhalte der Declaratio zu Art. 106 des III. Liturgie-Schemas in späteren Dokumenten der Liturgiereform Die Declaratio zu Art. 106 des III. Liturgie-Schemas bildet die Grundlage für die spätere Reform-Gesetzgebung über Bau und Einrichtung der Kirche. Nach der Instruktion „Inter Oecumenici“ (1964) haben weitere Dokumente der Liturgiereform Aussagen der Declaratio – freilich zum Teil verändert – aufgegriffen, vor allem die Institutio generalis Missalis Romani (11970, 21975, 32002)74, die Riten der Kirchwei74 Institutio Generalis Missalis Romani (1970/21975). Deutsch: Allgemeine Einführung in das Römische Messbuch, in: Messbuch. Für die Bistümer des deutschen Sprachgebietes. Authentische Ausgabe für den liturgischen Gebrauch (Die Feier der heiligen Messe), Zweite Auflage, ergänzt gemäß Editio typica altera des Missale Romanum, 1975, dem neuen Codex Juris Canonici, 1983, und dem ergänzten Regionalkalender, Einsiedeln u. a. 1975, Teil 1, S. 19*–69* und Kleinausgabe, 1988,61996, S. 23*–73*.– Institutio Generalis Missalis Romani (32002). Deutsch: Missale Romanum. Editio typica tertia 2002. Grundordnung des Römischen Messbuchs. Vorabpublikation zum Deutschen Messbuch (3. Auflage). Approbiert von der Deutschen Bischofskonferenz, der Österreichischen Bischofskonferenz, der Schweizer Bischofskonferenz, dem Erzbischof von Vaduz und dem Erzbischof von Luxemburg. Rekognosziert von der Kongregation für den Gottesdienst und die Sakramentenordnung (Arbeitshilfen 215), Bonn 2007. – Hier abgekürzt mit IGMR (Ausgabe 2002: IGMR3); Nummern der ersten zwei Fassungen (1970 und 1975) und der dritten Fassung (2002) sind mit Schrägstrich getrennt.

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he und der Altarweihe (1977/1994)75, das Caeremoniale Episcoporum (1984) und dessen deutsche Bearbeitung (1998)76. Hier halte ich mich an die Reihenfolge der Declaratio, ausgenommen die Aufbewahrung der Eucharistie, der ich anschließend einen eigenen Abschnitt widme. Sitze für Zelebranten und andere Dienstträger: Die Bestimmungen über die Sitze von Vorsteher und Assistenz (vgl. LS III, Art. 106 Decl. 2; Instruktion „Inter Oecumenici“ n. 92) führt IGMR n. 271 / n. 310 weiter. Die ersten Versionen der IGMR hatten die Plätze der Assistenz nur knapp erwähnt: diese sollten sich „an passender Stelle im Altarraum befinden, damit alle ihre Aufgaben ohne Schwierigkeiten ausüben können“. IGMR3 (2002) differenziert (wohl in der Absicht, Geweihte und Nichtgeweihte strenger abzugrenzen): Vorstehersitz – Sitze für Konzelebranten und andere Priester (im Altarraum) – Platz des Diakons (nahe dem des Zelebranten) – Sitze der übrigen Dienstträger („dass sie deutlich von den Sitzen des Klerus zu unterscheiden sind und dass die liturgischen Dienste die ihnen anvertraute Aufgabe leicht erfüllen können“). Dass der Sitz des Vorstehers kein Thron sein soll, gilt analog auch vom demjenigen des Bischofs. Jedenfalls nennt ihn das Caeremoniale Episcoporum (CaerEp n. 47 / ZerBi n. 46) „Kathedra“ und verbietet, diese mit einem Baldachin zu versehen (wenn auch künstlerisch wertvolle alte Baldachine bestehen bleiben dürfen). Freilich wird zwischen Kathedra und Sitzen anderer Vorsteher unterschieden (CaerEp n. 47). Altar: Die Eigenschaften des Altars (vgl. LS III, Art. 106 Decl. 3; Instruktion „Inter Oecumenici“ n. 91) werden ähnlich im Missale beschrieben (IGMR n. 262 / n. 299); IGMR3 bringt allerdings bei der Zelebration versus populum einen einschränkenden Zusatz: „quod expedit ubicumque possibile sit“ („dies empfiehlt sich überall, wo es möglich ist“). Das Caeremoniale Episcoporum (n. 48) behandelt auch die Aufstellung eines zusätzlichen Altars („aliud altare fixum“; populär „Volksaltar“ genannt) vor dem bestehenden; jener ist nun der Hauptaltar, sodass nur an ihm Messe gefeiert werden darf. Diese Anweisung ist in IGMR3 (n. 303) eingegangen, und zwar präzisiert durch den Zusatz: „Damit die Aufmerksamkeit der Gläubigen nicht vom 75

Ordo dedicationis ecclesiae et altaris. Editio typica (Pontificale Romanum ex decreto sacrosancti Oecumenici Concilii Vaticani II instauratum auctoritate Pauli pp. VI promulgatum), Vatikan 1977. Deutsche Bearbeitung: Die Weihe der Kirche und des Altares. Die Weihe der Öle, hrsg. im Auftrag der Bischofskonferenzen Deutschlands, Österreichs und der Schweiz sowie der (Erz-)Bischöfe von Bozen-Brixen, Lüttich, Luxemburg und Straßburg (Pontifikale für die Bistümer des deutschen Sprachgebietes 4), Trier 1994. – Abkürzungen: Kirchweihe (2. Kapitel in beiden Ausgaben); Altarweihe (4. Kapitel in der Editio typica, 5. Kapitel in der deutschen Ausgabe); zweifache Nummerierung wird nur bei Differenzen beider Bücher angegeben. 76 Caeremoniale Episcoporum ex decreto sacrosancti Oecumenici Concilii Vaticani II instauratum auctoritate Ioannis Pauli pp. II promulgatum. Editio typica, Vatikan 1984; deutsche Bearbeitung: Zeremoniale für die Bischöfe in den katholischen Bistümern des deutschen Sprachgebietes, hrsg. im Auftrag der Bischofskonferenzen Deutschlands, Österreichs und der Schweiz sowie der (Erz-)Bischöfe von Bozen-Brixen, Lüttich, Luxemburg und Straßburg, Freiburg i. Br. u. a. 1998. – Abkürzungen: CaerEp / ZerBi (zweifache Nummerierung nur bei Differenzen).

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neuen Altar abgelenkt wird, ist der alte nicht in besonderer Weise zu schmücken.“ Der in CaerEp n. 48 angefügte Hinweis, man solle in Fastenzeit und Karwoche – außer an „Laetare“ sowie an Hochfesten und Festen – den Altar nicht mit Blumen schmücken, wurde in IGMR3 (n. 305) zu einem eigenen Paragraphen ausgebaut, der neben dem Gebrauch von Blumen in Advent- und Fastenzeit deren Anordnung („eher um den Altar herum als auf ihm“) behandelt sowie hier allgemein Maßhalten verlangt. Leuchter und Kreuz: Bestimmungen über Leuchter und Kreuz (LS III, Art. 106 Decl. 3, Ende; Instruktion „Inter Oecumenici“ n. 94) finden sich ausführlicher in IGMR n. 269 und 270 / n. 307 und 308 wieder. IGMR3 n. 308 fordert, anders als die früheren Versionen, die wohl bewusst offener formuliert waren77, ein Kruzifix.78 Sonst lassen die Texte verschiedene Gestaltungs-Arten zu: Das Kreuz bzw. Kruzifix kann auf dem Altar oder in dessen Nähe angebracht sein (IGMR n. 270 / n. 308), etwa seitlich oder zentral als Stehkreuz, im Triumphbogen hängend, an der Stirnwand. Leuchter können auf dem oder um den Altar stehen (IGMR n. 269 / n. 307). (Das sogenannte „benediktinische Arrangement“ – Kruzifix und Leuchter symmetrisch auf dem Altar angeordnet –, wie es seit einiger Zeit St. Peter in Rom hat, ist also nur eine Variante unter mehreren.) – Der Hinweis in IGMR n. 269 / n. 307, die Gläubigen sollten „ungehindert sehen können, was auf dem Altar geschieht oder auf ihn gestellt wird“, ist übrigens wichtig als Zeichen dafür, dass die Zelebration versus populum als Regelfall gilt. Nebenaltäre: Ähnlich wie in LS III, Art. 106 Decl. 4 und Instruktion „Inter Oecumenici“ n. 93 werden in den ersten zwei Fassungen von IGMR (n. 267) die Nebenaltäre behandelt (es soll nur wenige und möglichst in Seitenkapellen geben); IGMR3 n. 303 dagegen hebt den einen Altar als Ideal hervor – wie schon vorher n. 7 des Altarweihe-Ritus. Reliquien: Für die Altar-Reliquien – die in „Inter Oecumenici“ unerwähnt bleiben – übernehmen Messbuch und Altarweihe-Ritus die Empfehlung von LS III (Art. 106 Decl. 5), Reliquien statt in der Altarplatte künftig „sub altari“ (d. h. im Altar-Fuß oder unter dem Altar) beizusetzen (IGMR n. 266 / n. 302; Altarweihe n. 11), ebenso die Forderung nach Echtheit und entsprechender Größe. Der Vorschlag bezüglich reliquienloser Altäre findet sich im Kirchweihe- und im Altarweihe-Ritus sowie im Caeremoniale Episcoporum wieder: Der Bischof und andere Verantwortliche entscheiden, ob Reliquien angebracht sind (CaerEp n. 872. 927 / Zer Bi n. 873. 928; Kirchweihe n. 19 / n. 20; Altarweihe n. 25 / n. 26).79 77 So auch Ratzinger, Der Geist (Anm. 1), S. 73: „Daher kann es sich sowohl um ein Passionskreuz handeln, das den Leidenden vergegenwärtigt […], wie es sich um ein Triumphkreuz handeln kann, das den Gedanken der Wiederkunft ausdrückt und den Blick auf sie hinlenkt.“ 78 Ob Altarräume, die z. B. ein Gemmenkreuz ohne Corpus haben, künftig nachgerüstet werden müssen, entzieht sich meiner Kenntnis. 79 Vgl. auch Kirchweihe n. 5; Altarweihe n. 11: „Es ist besser, einen Altar ohne Reliquien zu weihen, als zweifelhafte Reliquien beizusetzen.“ – c. 1237 § 2 CIC/1983 sagt nur: „Die alte

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Ambo: Während „Inter Oecumenici“ (n. 96) noch etwas unbestimmt von „Ambo oder Ambonen“ spricht, nennt das erneuerte Messbuch den Ambo immer in der Einzahl (IGMR n. 272 / n. 309). Platz von Chor und Orgel: Die Ausführungen in LS III (Art. 106 Decl. 8) ergänzte bereits „Inter Oecumenici“ (n. 97) um einen wichtigen Hinweis zur Rolle der Musiker(-innen): Sänger und Organist sollen als Teil der Gemeinde erscheinen. Die IGMR (n. 274 /n. 312) übernimmt diese Charakterisierung für den Chor; der Orgel und anderen Instrumenten widmet sie einen eigenen Paragraphen (n. 275 / n. 313), der eine für Gemeindegesang und solistisches Spiel passende Aufstellung verlangt. Die Plätze der Gläubigen (LS III, Art. 206, Decl. 9; Instruktion „Inter Oecumenici“ n. 98) behandelt IGRM n. 273 / n. 311, Bilder im Kirchenraum und ihre rechte Ordnung (Liturgiekonstitution Art. 125; LS III, Art. 206 Decl. 12) IGMR n. 278 / 318.80 IX. Altar und Aufbewahrung der Eucharistie Die Declaratio zu LS III, Art. 106 führt in Punkt 3 die Grund-Eigenschaften des Altars an – Umschreitbarkeit, Position inmitten der Gemeinde, Freisein von Aufbauten etc. Die Position des Priesters am Altar wird jedoch separat, in Punkt 6 (Aufbewahrung der Eucharistie), behandelt: Zum Volk gewandt die Messe zu feiern solle trotz eines flachen Tabernakels auf dem Altar möglich sein. Dies hängt wohl mit der Gesetzgebung aus den letzten Jahren vor dem II. Vaticanum zusammen. In seiner Rede vor den Teilnehmenden des Pastoralliturgischen Kongresses in Assisi (22. September 1956) hatte Papst Pius XII. auf der Verbindung von (Zelebrations-)Altar und Tabernakel bestanden: „Durch das Opfer des Altares setzt sich der Herr zuerst in der Eucharistie gegenwärtig, und nur als memoria sacrificii et passionis suae weilt er im Tabernakel. Den Tabernakel vom Altar trennen heißt zwei Dinge trennen, die durch ihren Ursprung und ihre Natur verbunden bleiben müssen. Für die Frage, wie man den Tabernakel auf den Altar stellen kann, ohne die Zelebration zum Volk hingewendet (face au peuple) zu hindern, gibt es verschiedene Lösungen, über welche Fachleute ihre Meinung abgeben werden. Wesentlich ist, dass man begreift: der gleiche Herr ist auf dem Altar und im Tabernakel gegenwärtig.“81 Unter Berufung auf diese Ansprache schärfte wenig später, am 1. Juni 1957, ein Dekret der Ritenkongregation82 die Bestimmungen von c. 1268 und 1269 CIC/191783 ein, legte diese aber eng Tradition, unter einem feststehenden Altar Reliquien von Märtyrern oder anderen Heiligen beizusetzen, ist nach den überlieferten Normen der liturgischen Bücher beizubehalten.“ 80 Vgl. auch c. 1188 CIC/1983. 81 AAS 48 (1956), S. 711 – 725, hier S. 722. Deutsch: Erneuerung der Liturgie aus dem Geiste der Seelsorge unter dem Pontifikat Papst Pius[Ï] XII. Akten des Ersten Internationalen Pastoralliturgischen Kongresses zu Assisi. Deutsche Ausgabe, hrsg. vom Liturgischen Institut durch Johannes Wagner, Trier 1957, S. 343 – 362, hier S. 359. 82 Ritenkongregation, Dekret „Sanctissimam Eucharistiam“ (01. 06. 1957), in: AAS 49 (1957), S. 425 f.

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aus: In Kirchen mit nur einem Altar dürfe nicht versus populum zelebriert werden; in der Altarmitte müsse ein in Gestalt und Größe der Würde des Sakraments angemessener Tabernakel stehen; am Altar einer Sakramentskapelle müsse regelmäßig zelebriert werden; Tabernakel außerhalb des Altars (an der Wand, neben oder hinter dem Altar, Sakramentshäuschen und -säulen) sind verboten, außer bei 100jähriger oder unvordenklicher Gewohnheit.84 Angesichts dieser strengen Regelung bedeutete die Aussage der Declaratio einen gewissen Fortschritt, indem sie die Rede Pius XII. von 1956 aufgriff. Der Papst hatte ja nicht den sogenannten Volksaltar abgelehnt, sondern nur den Hauptaltar ohne Tabernakel. Die Stellung des Priesters hinter dem Altar, die auch das Missale Romanum von 1570 kennt85, war vereinzelt in neu gebauten Kirchen etwa seit dem zweiten Viertel des 20. Jahrhunderts sowie in Zentren der Liturgischen Bewegung bereits üblich. Die Gesetzgebung nach dem Konzil war anfangs etwas unklar, doch zeigte sich später zunehmend die Tendenz, die Themen „Altar“ und „Zelebration versus populum“ von der Frage der Aufbewahrung der Eucharistie zu unterscheiden. Der in LS III, Art. 106 Decl. 6 ausgesprochene Wunsch, die Zelebration zum Volk hin auch bei einem kleinen Altar-Tabernakel zu ermöglichen, wurde – nun als Feststellung – nicht nur in der Instruktion „Inter Oecumenici“ (n. 95) übernommen, sondern ebenso in der Instruktion „Eucharisticum mysterium“ (25. Mai 1967)86, n. 54; doch relativieren hier die Nummern 53 und 55 die Aussage von n. 54. Wie schon LS III, Art. 106 83 CIC/1917 c. 1268 „§ 1 Sanctissima Eucharistia continuo seu habitualiter custodiri nequit, nisi in uno tantum eiusdem ecclesiae altari. § 2 Custodiatur in praecellentissimo ac nobilissimo ecclesiae loco ac proinde regulariter in altari maiore, nisi aliud venerationi et cultui tanti sacramenti commodius et decentius videatur, servato praescripto legum liturgicarum quod ad ultimos dies hebdomadae maioris attinet. § 3 Sed in ecclesiis cathedralibus, collegiatis aut conventualibus in quibus ad altare maius chorales functiones persolvendae sunt, ne ecclesiasticis officiis impedimentum afferatur, opportunum est ut sanctissima Eucharistia regulariter non custodiatur in altari maiore, sed in alio sacello seu altari. § 4 Curent ecclesiarum rectores ut altare in quo sanctissimum Sacramentum asservatur sit prae omnibus aliis ornatum, ita ut suo ipso apparatu magis moveat fidelium pietatem ac devotionem. – c. 1269 § 1 Sanctissima Eucharistia servari debet in tabernaculo inamovibili in media parte altaris posito. § 2 Tabernaculum sit affabre exstructum, undequaque solide clausum, decenter ornatum ad normam legum liturgicarum, ab omni alia re vacuum, ac tam sedulo custodiatur ut periculum cuiusvis sacrilegae profanationis arceatur. […].“ 84 Vertreter der Liturgischen Bewegung hatten bereits in den 30er Jahren des vorigen Jahrhunderts die Bestimmung des CIC/1917 weit ausgelegt. Vgl. z. B. Joseph Kramp, Der Altar und sein Dienst, in: Rudolf Schwarz (Hrsg.), Gottesdienst. Ein Zeitbuch (Schriftenreihe der Zeitschrift „Die Schildgenossen“ 2), Würzburg 1937, S. 33 – 50. 85 Ritus servandus 5,3. 86 Ritenkongregation, Instructio de cultu mysterii eucharistici „Eucharisticum mysterium“ (25. 05. 1967), in: AAS 59 (1967), S. 539 – 573; deutsch: Rennings/Klöckener, Dokumente zur Erneuerung der Liturgie. 1. Bd. (Anm. 73), n. 899 – 965.

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Decl. 6, empfiehlt n. 53 – erstmals in einem nachkonziliaren Dokument – eine zum Gebet geeignete, vom Hauptraum getrennte Sakramentskapelle, zumal in stark frequentierten Kirchen; n. 55 rät: „Daher entspricht es vom Zeichen her gesehen eher dem Wesen der heiligen Feier, wenn nach Möglichkeit nicht schon zu Beginn der Messe infolge der Aufbewahrung der heiligen Gestalten im Tabernakel die eucharistische Gegenwart Christi gegeben ist, die doch Frucht der Konsekration ist und als solche erscheinen muss.“ Hier stehen widersprüchliche Aussagen unverbunden nebeneinander. Erst mit dem Ritualefaszikel „Kommunionspendung und Eucharistieverehrung außerhalb der Messe“ von 197387 (drei Jahre, nachdem das erneuerte Missale Romanum erschienen war!) wurde die Verbindung von Zelebrationsaltar und Tabernakel grundsätzlich abgeschafft – wenn auch, wie die Formulierungen nahe legen, nicht strikt ausgeschlossen; die Regeln (n. 9 und 6) entsprechen nun n. 53 und n. 55 von „Eucharisticum mysterium“. Entsprechend verfügt die 3. Ausgabe der Institutio generalis Missalis Romani von 2002 (n. 315): „Wegen der Zeichenhaftigkeit ist es eher angebracht, dass auf dem Altar, auf dem die Messe gefeiert wird, kein Tabernakel steht, in dem die Allerheiligste Eucharistie aufbewahrt wird.“88 Einen ähnlichen Hinweis enthält schon 1984 das Caeremoniale Episcoporum (n. 49).89 – Damit ist klar: Feier und Verehrung der Eucharistie sind räumlich zu unterscheiden. (Dies gilt nicht nur für Altäre, an denen zum Volk hin zelebriert wird!) Was den Ort für die Aufbewahrung der Eucharistie betrifft, unterscheiden sich die beiden ersten Fassungen der IGMR von der letzten aus 2002. Die ältere Version des betreffenden Paragraphen empfiehlt zuerst eine für das private Gebet geeignete Kapelle90, danach die Aufbewahrung „an einem Altar oder außerhalb des Altars an 87 De sacra communione et de cultu mysterii eucharistici extra Missam. Editio typica (Rituale Romanum ex decreto sacrosancti Oecumenici Concilii Vaticani II instauratum auctoritate Pauli pp. VI promulgatum), Vatikan 1973. – Deutsch: Kommunionspendung und Eucharistieverehrung außerhalb der Messe. Studienausgabe, hrsg. von den Liturgischen Instituten Salzburg – Trier – Zürich (Pastoralliturgische Reihe in Verbindung mit der Zeitschrift „Gottesdienst“), Einsiedeln / Freiburg i. Br. 1976; Neuauflage 2003 (hier sind die Änderungen aufgrund des CIC/1983 eingearbeitet, ebenso die endgültige Einheitsübersetzung der Bibel sowie die Neuauflage der „Feier der Krankensakramente“ von 1994). 88 Die früheren Ausgaben der IGMR (n. 276) bevorzugen zwar für die Aufbewahrung der Eucharistie eine eigene Sakramentskapelle, aber der Verweis auf „Inter Oecumenici“ n. 95 und „Eucharisticum mysterium“ n. 54 (nicht 55!) zeigt, dass die Verbindung von Zelebrationsaltar und Tabernakel nicht gänzlich ausgeschlossen wird. 89 CaerEp n. 49 empfiehlt eine vom Hauptraum getrennte Sakramentskapelle „iuxta perantiquam traditionem in ecclesiis cathedralibus servatam“; falls sich auf dem Altar, an dem der Bischof zelebrieren will, ein Tabernakel befinde, so sei das Allerheiligste an einen anderen würdigen Ort zu bringen. Das deutsche Zeremoniale für die Bischöfe von 1998 fasst diese Bestimmung so (n. 49): „Die Eucharistie soll nicht an jenem Altar aufbewahrt werden, an dem der Bischof die Messe feiert.“ Solche Anweisungen sind, jedenfalls für die Kathedralliturgie, nicht neu; sie finden sich bereits im 1. Buch, Kap. 12 des Caremoniale Episcoporum von 1600 (1722: lib. 1, cap. 12, n. 8). 90 Die offizielle deutsche Version lautet: „Es wird sehr empfohlen, die Eucharistie in einer vom Kirchenraum getrennten Kapelle aufzubewahren, die für das private Gebet der Gläubigen und für die Verehrung geeignet ist.“ Das steht so nicht im Original, entspricht aber n. 53 der –

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einem sehr vornehmen und würdig hergerichteten Teil der Kirche“ (n. 276). IGRM3 n. 315 kehrt die Reihenfolge um: An erster Stelle nennt der Text den Platz des Tabernakels „im Altarraum, nicht auf dem Zelebrationsaltar, in angemessener Form und an geeignetem Ort, wobei der alte Altar, der nicht mehr zur Zelebration verwendet wird, nicht ausgeschlossen ist“, als zweite Variante die Sakramentskapelle; während diese gemäß früheren Dokumenten vom Hauptraum getrennt sein sollte, so wird nun verlangt, dass sie „mit der Kirche organisch verbunden und für die Gläubigen sichtbar“ sei. Hinter dieser subtilen Akzentverschiebung steht wohl die Sorge um den Glauben an die bleibende Gegenwart Christi in den aufbewahrten eucharistischen Gestalten. Ähnlich hat es Benedikt XVI. im Nachsynodalen Apostolischen Schreiben „Sacramentum caritatis“ (22. Februar 2007)91 ausgesprochen (n. 69): „In Verbindung mit der Bedeutung der Aufbewahrung der Eucharistie sowie der Anbetung und Ehrfurcht vor dem Sakrament des Opfers Christi hat die Bischofssynode sich gefragt, welches der angemessene Standort des Tabernakels in unseren Kirchen ist. Seine richtige Position hilft nämlich, die wirkliche Gegenwart Christi im Allerheiligsten Sakrament zu erkennen. Es ist nötig, dass der Ort, an dem die eucharistischen Gestalten aufbewahrt werden, für jeden, der in die Kirche eintritt, leicht auszumachen ist, nicht zuletzt auch durch das ewige Licht. Zu diesem Zweck muss die architektonische Anlage des sakralen Gebäudes berücksichtigt werden: In den Kirchen, in denen keine Sakramentskapelle existiert und der Hauptaltar mit dem Tabernakel fortbesteht, ist es zweckmäßig, sich zur Bewahrung und Anbetung der Eucharistie dieser Struktur zu bedienen und zu vermeiden, davor den Sitz des Zelebranten aufzustellen.92 In den neuen Kirchen ist es gut, die Sakramentskapelle in der Nähe des Presbyteriums zu planen; wo das nicht möglich ist, sollte der Tabernakel am besten im Presbyterium an einem ausreichend erhöhten Ort im Apsisbereich aufgestellt werden oder an einem anderen Punkt, wo er ebenso gut zu sehen ist.“

Hier scheinen ältere, vorkonziliare Kirchenraum-Konzepte wieder aufgegriffen zu werden (die freilich in den Vorstellungen vieler Katholikinnen und Katholiken immer noch wirken). Bezüglich mancher Details der nachkonziliaren Liturgiereform mag man unterschiedlicher Meinung sein. Doch eines lässt sich nicht behaupten: Dass das neue in der Fußnote angeführten – Instruktion „Eucharisticum mysterium“ (IGMR2 von 1975 nennt zusätzlich n. 9 des Ritualeteils De sacra communione et de cultu mysterii eucharistici). Für das folgende Zitat verwende ich eine eigene Übersetzung. 91 Benedikt XVI., Nachsynodales Apostolisches Schreiben „Sacramentum Caritatis“ über die Eucharistie, Quelle und Höhepunkt von Leben und Sendung der Kirche (22. 02. 2007), in: AAS 99 (2007), S. 105 – 180; deutsch: VApSt 177 (2007). 92 IGMR3 n. 310 verbietet ausdrücklich, den Vorstehersitz im Scheitelpunkt des Presbyteriums aufzustellen, „wenn der Tabernakel in der Mitte hinter dem Altar steht“. Das meint offenbar nicht nur alte Retabelaltäre, sondern ebenso neuere Wandtabernakel und zentral platzierte Sakramentsstelen. – Mit der Aufbewahrung der Eucharistie im Presbyterium rechnet auch die neue Vorschrift von IGMR3 n. 274, welche die frühere Regel aufhebt, jedesmal sei das Knie zu beugen, wenn man während des Gottesdienstes am Tabernakel vorbeigeht: „Befindet sich der Tabernakel mit dem Allerheiligsten Sakrament im Altarraum, machen der Priester, der Diakon und die anderen liturgischen Dienste eine Kniebeuge, wenn sie zum Altar kommen und von dort weggehen, nicht aber während der Messfeier.“

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Konzept von Einrichtung und Gestalt des Kirchenraums dem II. Vaticanum widerspreche. Die Konzilsväter waren über die Materie informiert, wussten also, wofür sie votierten.

Abwägung im Tötungsverbot? Zur Kontroverse um die Forschung an überzähligen Embryonen Von Andreas M. Weiß Für die Frage embryonaler Stammzellenforschung gilt, was in der Angewandten Ethik gar nicht so selten ist: Ein Teil der Gesellschaft hat eine bestimmte Intuition zur ethischen Vertretbarkeit einer Handlungsmöglichkeit. Diese ist jedoch schwer mit etablierten Prinzipien in Einklang zu bringen, etwa dem Grundsatz der Menschenwürde und des daraus folgenden Lebensrechtes, wie er im Deutschen Grundgesetz1 ebenso vorausgesetzt wird wie in der kirchlichen Moraltradition. Die Intuition, die gegenwärtig vielen Zeitgenossen plausibel erscheint, ist die einer moralisch relevanten Differenzierung zwischen dem gezielten Erzeugen von menschlichen Embryonen für Forschungszwecke und der Verwendung sogenannter „überzähliger“ Embryonen aus der Reproduktionsmedizin. Ersteres wird als unzulässige Instrumentalisierung menschlichen Lebens abgelehnt. Letzteres wird als ethisch vertretbar empfunden, ausgehend von dem Faktum, dass die meisten dieser Embryonen auch sonst keine Chance hätten, ihr eigenes Leben weiter zu entwickeln und jemals geboren zu werden. Die verbleibenden Möglichkeiten scheinen zu sein: Wegwerfen oder für die Forschung verwenden: „Was darf mit den sog. überzähligen bzw. verwaisten Embryonen gemacht werden? Ist es wirklich überzeugend, sie für schlechthin unantastbar für medizinische Forschung, die anderen einmal zugute kommen wird, zu erklären, wenn sie andernfalls nach Erreichen des ,VerfallsdatumsÐ zu Tausenden vernichtet werden?“2

Auf diese Alternative reduziert erscheint es vielen rechtfertigbar, solche Forschung im Bereich der allgemein als hochstehend eingeschätzten Forschungsziele der Stammzellenforschung zu ermöglichen. Es ist zunehmend schwerer öffentlich vermittelbar, warum diese Möglichkeit aus ethischen Gründen absolut ausgeschlossen sein sollte. Die Vertreter eines strikten Verbotes geraten in die Defensive. Das gilt 1 Vgl. Torsten Hartleb, Die verfassungsrechtliche Statusdebatte zum extrakorporalen Embryo anhand der Kriterien Intentionalität, Artspezifität, Entstehungsart, Extrakorporalität und Potentialität, in: Giovanni Maio (Hrsg.), Der Status des extrakorporalen Embryos. Perspektiven eines interdisziplinären Zugangs (Medizin und Philosophie 9), Stuttgart/Bad Cannstadt 2007, S. 191 – 237. 2 Konrad Hilpert, Fünf Jahre deutsches Stammzellgesetz, in: StdZ 226 (2008), S. 15 – 25, hier S. 20 f.

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auch für die Position der katholischen Kirche, die 2008 in der Instruktion der Glaubenskongregation Dignitas personae (DP) mit Deutlichkeit und innerer Konsistenz bekräftigt wurde.3 Durch neue Forschungsergebnisse scheint sich die Problematik der Forschung an humanen embryonalen Stammzellen etwas zu entschärfen. Wenn es zutreffen sollte, was nur die Fachwissenschaftler entsprechend beurteilen können4, dass erfolgreiche Therapieansätze eher auf adulten Stammzellen aufbauen werden und die Forschung an embryonalen Stammzellen vor allem für Grundlagenforschung erforderlich bleiben wird, so könnte sich das Problem auf die Frage der Verwendung überzähliger Embryonen reduzieren. Das sogenannte therapeutische Klonen wäre nicht mehr der unausweichliche Schritt zwischen Forschung und therapeutischer Anwendung. Immerhin war es am Anfang der Forschung an humanen embryonalen Stammzellen die Kombination aus mehreren problematischen Aspekten, die das Urteil vielfach negativ ausgehen ließ: Verbrauchende Embryonenforschung zusammen mit dem für die potentielle Therapie notwendig erscheinenden therapeutischen Klonen und der dafür nötigen großen Anzahl an gespendeten Eizellen waren zusammen starke Gründe gegen diese Forschungsrichtung. Wenn das therapeutische Klonen nicht der Königsweg zur Therapie sein wird, reduziert sich die Problematik deutlich. Das muss man zugestehen. Im Folgenden seien nach einer Skizze der Eckpunkte der lehramtlichen Position der katholischen Kirche einige Argumente aus der theologischen Ethik vorgestellt, mit denen eine Neubewertung der Forschung an überzähligen Embryonen speziell im Rahmen des Tötungsverbotes versucht wird. I. Die Position der katholischen Kirche5 Die Position des Lehramtes der katholischen Kirche zur moralischen Beurteilung verbrauchender Embryonenforschung ist für die ganze Palette von bestehenden 3 Kongregation für die Glaubenslehre, Instruktion „Dignitas personae“ über einige Fragen der Bioethik v. 8. 8. 2008 (VApSt 183), hrsg. vom Sekretariat der Dt. Bischofskonferenz, Bonn 2008 (abgekürzt: DP). Vgl. dazu Konrad Hilpert, Nach dem Erscheinen der Instruktion „Dignitas personae“. Zehn Merkmale einer künftigen Moralverkündigung im Geist der Ermutigung und des Vertrauens, in: StdZ 227 (2009), S. 321 – 335. 4 Albrecht M. Müller u. a., Möglichkeiten und Chancen der Stammzellenforschung: Stammzellen für Alle?, in: Konrad Hilpert (Hrsg.), Forschung contra Lebensschutz. Der Streit um die Stammzellforschung (QD 233), Freiburg i. Br./Basel/Wien 2009, S. 30 – 44, hier S. 43: „Unsere Hoffnung ist, dass durch Forschung an ES und iPS-Zellen effiziente Methoden entwickelt werden können, mit denen die Gewinnung pluripotenter Zellen aus Embryonen zukünftig weiter reduziert, vielleicht sogar überflüssig wird.“ Vgl. Michael Breitenbach/Peter Laun, Einige biologische Grundlagen der modernen Reproduktionsmedizin und der Stammzell- bzw. Gentherapie, in: Michael Fischer/Kurt S. Zänker (Hrsg.), Medizin- und Bioethik (Ethik transdisziplinär 1), Frankfurt 2006, S. 29 – 50. 5 Vgl. Konrad Hilpert, Kirchliche Stellungnahmen zum Embryonenschutz. Ein Beitrag zur Hermeneutik, in: ders. (Hrsg.), Forschung contra Lebensschutz (Anm. 4), S. 120 – 150;

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Stammzelllinien über überzählige Embryonen bis hin zu eigens hergestellten Forschungsembryonen und geklonten Embryonen ein eindeutiges Nein: „Die Entnahme von Stammzellen aus dem lebendigen menschlichen Embryo führt hingegen unvermeidlich zu seiner Vernichtung und ist deshalb in schwerwiegender Weise unerlaubt. In diesem Fall ,stellt sich die Forschung, abgesehen von den therapeutisch nützlichen Ergebnissen, nicht wirklich in den Dienst der Menschheit. Sie beschreitet nämlich einen Weg über die Vernichtung menschlicher Lebewesen, die dieselbe Würde besitzen wie die anderen Menschen und die Forscher selbstÐ.“6

Etwas moderater formuliert, aber ebenfalls negativ, fällt das Urteil über die Forschung an importierten Stammzelllinien aus: „Die Verwendung von embryonalen Stammzellen oder daraus entwickelten differenzierten Zellen, die nach der Vernichtung der Embryonen möglicherweise von anderen Forschern geliefert werden oder im Handel erhältlich sind, ist sehr problematisch: Sie bedeutet eine Mitwirkung am Bösen und ruft Ärgernis hervor.“7

Die dahinter stehende Begründung enthält eine empirische und zwei ethische Prämissen: Im Zuge der Entnahme von Stammzellen wird der Embryo unvermeidlich zerstört. Embryonen gelten ab Empfängnis als Personen bzw. sind als solche zu behandeln.8 Die direkte Tötung von (unschuldigen) Personen ist immer verboten.9 Als direkte Tötung Unschuldiger ist die direkte Zerstörung menschlicher Embryonen somit unerlaubt. Der klassische Referenztext für die Pflicht, Embryonen als Personen zu behandeln, ist eine Passage aus der Erklärung der Glaubenskongregation Donum Vitae (1987), die auch in Dignitas personae als das grundlegende ethische Kriterium vorgestellt wird: „Die Frucht der menschlichen Zeugung erfordert ab dem ersten Augenblick ihrer Existenz, also von der Bildung der Zygote an, jene unbedingte Achtung, die man dem Menschen in seiner leiblichen und geistigen Ganzheit sittlich schuldet. Der Mensch muss von seiner Empfängnis an als Person geachtet und behandelt werden und infolgedessen muss man ihm von diesem Augenblick an die Rechte der Person zuerkennen und darunter vor allem das unverletzliche Recht jedes unschuldigen menschlichen Wesens auf Leben.“10

Christoph Götz, Medizinische Ethik und katholische Kirche. Die Aussagen des päpstlichen Lehramtes zu Fragen der medizinischen Ethik seit dem Zweiten Vatikanum (Studien der Moraltheologie 15), Münster 2000. 6 DP nr. 32. 7 Ebd. 8 Kongregation für die Glaubenslehre, Instruktion „Donum vitae“ über die Achtung vor dem beginnenden menschlichen Leben und die Würde der Fortpflanzung. Antworten auf aktuelle Fragen v. 10. 3. 1987 (VApSt 74) (abgekürzt: DnV), I, 1. 9 DnV Einf., 5: „Niemand darf sich, unter keinen Umständen, das Recht anmaßen, ein unschuldiges menschliches Wesen direkt zu zerstören.“ Vgl. KKK nr. 2258. 10 DnV I, 1; DP nr. 4. Vgl. KKK nr. 2270.

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In Dignitas personae wird ausdrücklich betont, dass es sich dabei um ein moralisches Verpflichtungsurteil handelt: „Diese Feststellung ethischer Natur, die von der Vernunft als wahr und dem natürlichen Sittengesetz entsprechend erkannt werden kann, sollte zum Fundament jeder rechtlichen Ordnung gehören.“11 In Donum vitae war der Unterschied zu einem naturwissenschaftlichen Tatsachenurteil ausdrücklich festgehalten worden: „Das Lehramt der Kirche tritt nicht im Namen einer besonderen Kompetenz im Bereich der Naturwissenschaften auf, sondern will, nach Kenntnisnahme der Daten der Forschung und Technik, ihrem vom Evangelium kommenden Auftrag und ihrer apostolischen Pflicht gemäß die Morallehre vorlegen, die der Würde der Person und ihrer ganzheitlichen Berufung entspricht.“12

Ebenso wurde die Aussage von philosophischen Thesen abgegrenzt: „Das Lehramt hat sich nicht ausdrücklich auf Aussagen philosophischer Natur festgelegt.“13 Diese Einschränkung wird in Dignitas personae abgeschwächt, so dass keine Unsicherheit bezüglich des ontologischen Status des Embryos herausgelesen werden kann: „Sie [die Feststellung ethischer Natur] setzt eine Wahrheit ontologischer Natur voraus. Die genannte Instruktion hat dies ausgehend von zuverlässigen wissenschaftlichen Erkenntnissen über die Kontinuität der Entwicklung des Menschen unterstrichen. Wenn die Instruktion Donum vitae nicht definiert hat, dass der Embryo Person ist, um sich nicht ausdrücklich auf Aussagen philosophischer Natur festzulegen, so hat sie dennoch betont, dass es ein inneres Band zwischen der ontologischen Dimension und dem spezifischen Wert jedes Menschen gibt.“14

In der Enzyklika Evangelium vitae war anschließend an das Zitat aus Donum vitae mit einem tutioristischen Argument einer möglichen Unsicherheit im Urteil vorgebeugt worden: „Im übrigen ist der Einsatz, der auf dem Spiel steht, so groß, daß unter dem Gesichtspunkt der moralischen Verpflichtung schon die bloße Wahrscheinlichkeit, eine menschliche Person vor sich zu haben, genügen würde, um das strikteste Verbot jedes Eingriffs zu rechtfertigen, der zur Tötung des menschlichen Embryos vorgenommen wird.“15

11

DP nr. 5. DnV Einf., 1. 13 DnV I, 1. 14 DP nr. 5. 15 Johannes Paul II., Enzyklika „Evangelium Vitae“ über den Wert und die Unantastbarkeit des menschlichen Lebens v. 25. 3. 1995 (VApSt 120), hrsg. v. Sekr. der Dt. Bischofskonferenz, Bonn 1995, nr. 60; vgl. Kongregation für die Glaubenslehre, Erklärung über den Schwangerschaftsabbruch v. 18. 11. 1974, in: AAS 66 (1974), S. 730 – 747: Auch dort wird schon festgehalten, das moralische Verpflichtungsurteil gelte auch, wenn ein Zweifel zum Personstatus des frühen Embryo vorliege (nr. 13). Außerdem wird die Frage der Beseelung explizit ausgeklammert, von der festgehalten wird, dass es keine einheitliche Tradition gibt und bis heute Uneinigkeit besteht (nr. 7 u. 13). 12

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Dieses Zitat findet sich in Dignitas personae nicht bei den grundsätzlichen Aussagen zum Status menschlicher Embryonen, sondern an anderer Stelle im Zusammenhang neuer Techniken der Gewinnung von Stammzellen, bei denen zweifelhaft ist, ob das Ergebnis ein menschlicher Embryo sein kann.16 Der tutioristische Hinweis drückt also nicht Vorsicht in der Grundposition aus, sondern dient der strengen Beurteilung von Spezialfällen. Zur Analyse des ontologischen Status und zur Begründung des moralischen Status spielen auch in den lehramtlichen Texten philosophische Argumente aus der sogenannten SKIP-Quadrologie eine Rolle: Spezies, Kontinuität, Identität, Potentialität.17 Die klassische Begründung der Position vom moralischen Status des Embryo beruht auf einem Vorgriff auf die Zukunft, auf die später zu erwartenden Fähigkeiten dieses Lebewesens als vernunftbegabtem und moralfähigem Wesen (Potentialität), und der Betonung einer kontinuierlich verlaufenden Entwicklung dorthin (Kontinuität), in der sich das Wesen nicht grundsätzlich ändert (Identität). Potentialität heißt immer, dass diese Eigenschaften noch nicht gegeben sind, aber doch in dem Lebewesen bereits mehr oder weniger deutlich angelegt sind. Das kann mit der Überzeugung formuliert werden, dass alles Wesentliche schon da sei und nur mehr Zeit und Entfaltungsmöglichkeit nötig ist: „Die neuere Genetik bestätigt diesen Sachverhalt, der immer eindeutig war …, in eindrucksvoller Weise. Sie hat gezeigt, daß schon vom ersten Augenblick an eine feste Struktur dieses Lebewesens vorliegt: eines Menschen nämlich, und zwar dieses konkreten menschlichen Individuums, das schon mit all seinen genau umschriebenen charakteristischen Merkmalen ausgestattet ist.“18

In Dignitas personae wird vorsichtiger formuliert: „Der embryonale Mensch entwickelt sich Schritt für Schritt nach einem genau festgelegten ,ProgrammÐ und mit einem eigenen Ziel, das mit der Geburt jedes Kindes offenbar wird.“19

Damit liegt der Schwerpunkt auf der kontinuierlichen Entwicklung und weniger auf dem Potentialitätsargument, das ja auf eine zu überbrückende Differenz zum geborenen Menschen reagiert.20 Jede relevante Zäsur der Entwicklung und gradualistische Positionen bezüglich der Menschenwürde werden zurückgewiesen: „Während seines ganzen Lebens, vor und nach seiner Geburt, kann nämlich in der Beschaffenheit des Menschen weder eine Änderung des Wesens noch eine Gradualität des moralischen Wertes behauptet werden.“21 16

DP nr. 30. Vgl. Gregor Damschen/Dieter Schönecker (Hrsg.), Der moralische Status menschlicher Embryonen. Pro und contra Spezies-, Kontinuums-, Identitäts- und Potentialitätsargument, Berlin 2003. 18 Kongregation für die Glaubenslehre, Schwangerschaftsabbruch (Anm. 15), nr. 13. 19 DP nr. 4. 20 Vgl. die Kritik bei Hilpert, Nach dem Erscheinen (Anm. 3), S. 327 f. 21 DP nr. 5. 17

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II. Reaktionen auf den gesellschaftlichen Dissens Auf das Auseinanderdriften kirchlicher und gesellschaftlicher Moralvorstellungen in dieser Frage kann die Theologie unterschiedlich reagieren. Eine Möglichkeit ist das beharrliche Bemühen um die Vermittlung der kirchlichen Position, der Versuch, die Vernünftigkeit dieser Position mit guten Argumenten verständlich zu machen. Dignitas personae versteht ihre Position ja ausdrücklich als naturrechtliche bzw. vernunftethische und nicht etwa als einen glaubensethisch begründeten Sonderweg der Kirche in einer säkularen Welt. Das bedeutet ein hohes Maß an Selbstverpflichtung hinsichtlich des Bemühens um verständliche Argumente.22 Die Grenzen eines solchen Bemühens werden deutlich, wenn man bedenkt, wie weit sich die Gesellschaft im ganzen Bereich der Reproduktionsmedizin schon von der kirchlichen Position entfernt hat, worauf Konrad Hilpert hinweist: „Die einzig reale und konsistente Alternative zum Lebensschutz durch Steuerung nach Art der Stammzellgesetze wäre der komplette Verzicht auf die Reproduktionsmedizin in Gestalt eines gesetzlichen Verbots. Dies jedoch scheint … bei inzwischen jährlich etwa 60.000 Behandlungen und 10.000 auf diese Weise gezeugten Kindern allein in Deutschland keine realistische Option mehr zu sein.“23

Die andere mögliche Reaktion nimmt die öffentliche Kontroverse zum Anlass, auch die kirchliche Position und ihre Begründung einer neuen Prüfung zu unterziehen und offene Fragen weiter zu bedenken. So werden Unsicherheiten bezüglich des Beginns des Personseins in der theologischen Tradition thematisiert, wie sie mit der Lehre von der Sukzessivbeseelung lange Zeit gegeben waren.24 Voraussetzung eines solchen Zuganges ist eine größere Vorsicht bezüglich der Sicherheit hinsichtlich des ontologischen und moralischen Status von Embryonen, wie man sie etwa in der folgenden Formulierung von Hilpert spürt: „Im Vorgriff auf diese Chance, Mensch werden zu können und wie wir selbst zur Gemeinschaft der moralisch urteilenden und handelnden Wesen zu gehören, verdienen Embryonen respektvollen Umgang und eine nicht nur sachhafte Behandlung.“25

Das klingt im Vergleich zu den starken Thesen eines „absoluten“ Lebensschutzes bescheiden, ist aber möglicherweise eher vermittelbar und geeignet, im politischen Raum das Mögliche an Lebensschutz zu erreichen.26

22 Vgl. Eberhard Schockenhoff, Ethische Probleme der Stammzellforschung, in: Hilpert (Hrsg.), Forschung contra Lebensschutz (Anm. 4), S. 45 – 59. 23 Hilpert, Kirchliche Stellungnahmen (Anm. 5), S. 148. 24 Ebd., S. 141 f. 25 Hilpert, Fünf Jahre (Anm. 2), S. 21. 26 Hilpert, Kirchliche Stellungnahmen (Anm. 5), S. 149.

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III. Ansatzpunkte zur Rechtfertigung von Forschung an „überzähligen“ Embryonen So gibt es in der theologischen Ethik unterschiedliche Vorschläge für Modifikationen in der Argumentation bzw. für eine präzisere Fassung des ursprünglich formulierten Verbotes angesichts der neuen Handlungsmöglichkeiten.27 Für die Durchsicht solcher Vorschläge ist eine systematische Unterscheidung nützlich. In der Vergangenheit hat sich der Großteil der Diskussion auf die Statusfrage konzentriert.28 Trotzdem hat dieser Weg zu keinem Konsens geführt. Diese wichtige Linie der Diskussion werde ich hier nicht ausführlich erörtern. Es sei nur kurz auf die Problematik dieses Weges aufmerksam gemacht. Die komplexen Diskussionen um Potentialität, Identität, Kontinuität und Spezieszugehörigkeit leiden an zwei Nachteilen: Erstens haben diese Argumente nur zusammengenommen eine relativ starke Plausibilität für sich. Für jedes einzelne Argument gibt es aber auch gewichtige Einwände und Unsicherheiten.29 Zweitens läuft der Streit um die Menschenwürde von Embryonen in gewisser Weise auf eine Alles-oder-Nichts-Alternative hinaus. Die erste und wesentlichste Konsequenz aus dem Menschenwürde-Status ist ja die Gleichheit und damit die Geltung der Goldenen Regel mit der Konsequenz der Einbeziehung in die notwendige Universalisierbarkeit ethischer Urteile. Gleiche Würde lässt sich nicht graduell abstufen. Entweder wird sie anerkannt oder nicht. Eine abgestufte Würde ist nicht gleich. Es ist ja gerade die Stärke des Menschenwürde-Argumentes, dass die konkrete Verfassung des Betroffenen kein zulässiges Argument gegen die Gleichheit im Sinne von formal gleicher Berücksichtigung des Wohlergehens darstellt. Eberhard Schockenhoff fasst das in die treffende Formulierung: „Würde muss vorbehaltlos anerkannt werden; es widerspricht dem Gedanken der Würde, ihre Anerkennung an den Grad ihrer faktischen Realisierung zu binden oder einem Bestätigungsurteil durch die Gesellschaft zu unterwerfen.“30

27

Vgl. insgesamt: Hilpert (Hrsg.), Forschung contra Lebensschutz (Anm. 4). Vgl. insgesamt Giovanni Maio (Hrsg.), Der Status des extrakorporalen Embryos. Perspektiven eines interdisziplinären Zugangs (Medizin und Philosophie 9), Stuttgart/Bad Cannstadt 2007; bes. die Übersicht bei Giovanni Maio/Annette Hilt, Der Status des extrakorporalen Embryos im interdisziplinären Zugang – Grundlagen, Herausforderungen, Ergebnisse, ebd., S. 11 – 44. 29 Vgl. zum Potentialitätsargument: Werner Wolbert, Du sollst nicht töten. Systematische Überlegungen zum Tötungsverbot (Studien zur theologischen Ethik 123), Freiburg i. Ue./ Freiburg i.Br. 22008, S. 197 – 218. 30 Eberhard Schockenhoff, Pro Speziesargument. Zum moralischen und ontologischen Status des Embryos, in: Damschen/Schönecker (Hrsg.), Der moralische Status (Anm. 17), S. 11 – 33, hier S. 12; vgl. Günter Virt, Verantwortung für das Menschenleben an seinen Beginn, in: ders., Damit Menschsein Zukunft hat. Theologische Ethik im Einsatz für eine humane Gesellschaft, hrsg. v. Gerhard Marschütz/Gunter M. Prüller-Jagenteufel, Würzburg 2007, S. 170 – 186, hier S. 179: „Wer anfängt, das Leben [von Menschen] einzuteilen in eines, das mehr Wert oder weniger Wert hat oder überhaupt nicht lebenswert ist, begeht nicht nur 28

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Bei der Bestreitung oder Abstufung der Menschenwürde von Embryonen ergibt sich die Problematik einer Relativierung des zentralen Gehaltes der Menschenwürde, nämlich der grundlegenden Gleichheit aller Menschen unabhängig von ihren aktuellen Fähigkeiten und Lebenschancen. Auswirkungen auf andere Lebensbereiche sind da nicht ausgeschlossen. Außerdem stellt sich die Frage nach dem verbleibenden Schutzniveau und seiner Begründung. Auswirkungen kann dies etwa für die Frage des Ersatzes von Tierversuchen durch Forschung an menschlichen embryonalen Zellen haben: Wie verhält sich der Status von menschlichen Embryonen zu dem leidensfähiger Tiere? Gelten sie nur mehr als biologisches Material, mit dem wegen seiner menschlichen Herkunft pietätvoll umgegangen werden sollte?31 Die Frage nach dem ontologischen und moralischen Status bzw. nach der Menschenwürde menschlicher Embryonen ist allerdings nicht die einzige Frage, die für das Urteil über Verbot oder Erlaubtheit von Forschung an humanen embryonalen Stammzellen wesentlich ist. Die These vom sogennanten „absoluten Lebensschutz“ ergibt sich nicht einfach aus dem Anerkennen der Menschenwürde bzw. des Personstatus von Embryonen. Die zweite ethische Prämisse ist das Verbot der direkten Tötung unschuldiger Personen. Das Tötungsverbot ist in der Tradition der Moraltheologie selbst ein differenziertes, das verschiedene Unterscheidungen voraussetzt und auch Fälle erlaubter Tötung enthält, und zwar ohne Bestreitung der Menschenwürde.32 Es gibt nicht selten eine Tendenz, Fragen der Menschenwürde und des Tötungsverbotes nicht klar zu unterscheiden und den zweiten Schritt zu überspringen, so als ergäbe sich unmittelbar aus dem Urteil über die Menschenwürde von Embryonen auch schon ein absoluter Lebensschutz. Auf dieses Problem hat Werner Wolbert hingewiesen. Er nennt drei relevante Fragen: „1. Besitzt er bereits die volle Menschenwürde? 2. Wenn ja, gibt es trotzdem relevante Ungleichheiten zwischen Embryo (vor und nach der Nidation), dem Fötus und dem Geborenen? 3. Wenn nein, welche Art von Schutz, Respekt ist ihm geschuldet?“33

Mit der zweiten Frage weist er darauf hin, dass auch ohne Bestreitung der Menschenwürde eine Diskussion über relevante Unterschiede möglich ist. Solche relevanten Unterschiede könnten in weiterer Folge die Basis für eine unterschiedliche Behandlung im Rahmen des Tötungsverbotes sein. Damit ist eine zweite Linie der Debatte eröffnet. einen logischen Fehler, indem er nichtquantifizierbare ,WürdeÐ einerseits und quantifizierbaren und daher austauschbaren ,WertÐ andererseits miteinander verwechselt …“ 31 Dieter Birnbacher, Klonen von Menschen, in: Forum TTN 2 (1999) Nr. 2, S. 22 – 34, hier S. 23 f. 32 Wolbert, Du sollst nicht töten (Anm. 29). 33 Werner Wolbert, Gibt es eine Pflicht zur Zeugung von „Saviour Siblings“?, in: Paul Weingartner (Hrsg.), Rohstoff Mensch, das flüssige Gold der Zukunft? Ist Ethik privatisierbar? (Wissenschaft und Religion 20), Frankfurt a. M. 2009, S. 253 – 264.

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Ein absolutes Verbot verbrauchender Embryonenforschung ergibt sich also erst aus der Verbindung der Überzeugung von der Menschenwürde von Embryonen mit einer bestimmten Formulierung des Tötungsverbotes, in der katholischen Tradition dem Verbot der direkten Tötung Unschuldiger.34 Dieses zählt normierungstheoretisch zu den deontologisch begründeten Normen. Qualifiziert man die Verwendung überzähliger Embryonen als direkte Tötung, so ist der Nutzen der entsprechenden Forschung für das Urteil unerheblich. Es ist die Eigenart deontologischer Normen, dass sie eine solche Abwägung ausschließen, weshalb man oft auch von einem „absoluten“ Verbot spricht. IV. Differenzierungen im Rahmen des Tötungsverbotes Welche relevanten Unterschiede lassen sich im Zusammenhang des Tötungsverbotes anführen? Zunächst sei auf eine Aussage in Donum Vitae hingewiesen, die den Lebensschutz in der Sprache medizinethischer Abwägungen formuliert: „Da er als Person behandelt werden muß, muß der Embryo im Maß des Möglichen wie jedes andere menschliche Wesen im Rahmen der medizinischen Betreuung auch in seiner Integrität verteidigt, versorgt und geheilt werden.“35

Eine solche Redeweise steht in Spannung zu Formulierungen eines absoluten Lebensschutzes: „Vom Augenblick der Empfängnis an muß jedes menschliche Wesen in absoluter Weise geachtet werden.“36

An den beiden Texten wird sichtbar, wie absolute Achtung im Sinn des Respektes vor dem Wertgesichtspunkt der gleichen Menschenwürde nicht auch schon absoluten Lebensschutz in normativ-ethischer Hinsicht bedeutet. Die Formulierung „wie jedes andere menschliche Wesen im Rahmen der medizinischen Betreuung“ verweist auf die Forderung nach Gleichheit als unparteilicher Berücksichtigung, also die erste Konsequenz der Menschenwürde. Normativ-ethisch bedeutet das Lebensschutz im „Maß des Möglichen“, also unter Berücksichtigung der konkreten Handlungsmöglichkeiten bzw. Umstände. Damit ist es aber denkbar, dass Differenzierungen und Abwägungen im Rahmen des Tötungsverbotes auch für die Behandlung von Embryonen relevant sein können.

34 35 36

DnV Einf., 5. DnV I, 1; vgl. KKK nr. 2274. DnV Einf., 5.

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1. Unterscheidung von positiven Hilfspflichten und negativen Unterlassungspflichten Franz-Josef Bormann vertritt die These, dass sich aus dem Menschenwürdeargument keine absoluten Hilfspflichten, sondern nur absolute Unterlassungspflichten ergeben: „Genau an dieser Stelle liegt der Ansatzpunkt der hier vertretenen sogenannten differenzierten Identitätsthese, die eine strikte Gleichbehandlung von Embryonen und geborenen Menschen auf den Bereich der negativen Abwehrrechte bzw. Unterlassungspflichten beschränkt, hinsichtlich des Rechts auf positive Hilfeleistungen aber gleichwohl mit entwicklungsbedingten Unterschieden zwischen Embryonen und geborenen Menschen rechnet.“37

Nur der Schutz vor Totalinstrumentalisierung durch „Tötung oder schwere körperliche Schädigung zugunsten Dritter“38 sei ein unbedingter. Positive Hilfspflichten unterliegen dagegen auch bei Embryonen einer Abwägung.39 So sei die Alternative von absolutem Lebensschutz und gradualistischer Schutzlosigkeit nicht plausibel: „Beiden Extremen entgeht man nur, wenn man in Übereinstimmung mit der moralphilosophischen Tradition an einem strengen deontologischen Abwägungsverbot der elementaren Abwehrrechte menschlicher Individuen festhält und zugleich eine differenzierte situationsgerechte Gestaltung der positiven Hilfeleistungen annimmt.“40

Der von Bormann angesprochenen Unterscheidung von positiven Hilfspflichten und negativen Unterlassungspflichten entspricht im Tötungsverbot die Unterscheidung von Töten und Sterbenlassen. Sterbenlassen wird nicht als Tötung verstanden. Es besteht keine Verpflichtung, alles Menschenmögliche zu tun, um das Leben eines Menschen zu verlängern. Eine Abwägung im Einzelfall ist zulässig. Der Verzicht auf weitere Maßnahmen kann gerechtfertigt sein. Für die sogenannten „überzähligen“ Embryonen besteht keine Möglichkeit einer weiteren normalen Entwicklung. Bleiben diese Embryonen eingefroren, bis sie aufgrund der zunehmenden Schädigung keine Lebenschance mehr haben, so wäre dies als Sterbenlassen zu qualifizieren. Werden sie aufgetaut, ohne sie weiter zu versorgen, so wäre dies wohl auch als Sterbenlassen zu verstehen, ähnlich wie das Abstellen einer intensivmedizinischen Behandlung. Damit kann ein Problem entschärft werden, nämlich die Frage der möglichen Verpflichtung, sich um Adoptionsmöglichkeiten für überzählige Embryonen zu bemühen, um so ihr Leben zu retten.41 Im Rahmen

37 Franz-Josef Bormann, Embryonen, Menschen und die Stammzellforschung. Plädoyer für eine differenzierte Identitätsthese in der Statusfrage, in: ThPh 77 (2002), S. 216 – 232, hier S. 230. 38 Ebd. S. 228. 39 Ebd. S. 229 u. Fußn. 80. 40 Ebd. S. 231. 41 Vgl. Werner Wolbert, Zum Vorschlag einer „pränatalen Adoption“ überzähliger Embryonen und zur „Nutzung“ von Embryonen, in: Johannes W. PichIer (Hrsg.), Embryonal-

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eines „absoluten“ Lebensschutzes würde sich diese Frage dringend stellen. Lebensrettung steht dann in Konflikt mit der Integrität der Ehe. Bemerkenswert ist, dass eine der wenigen Handlungsweisen im Zusammenhang mit menschlichen Embryonen, die in Dignitas Personae nicht eindeutig als unerlaubt qualifiziert werden, die Adoption verwaister Embryonen ist: „Erwogen wurde außerdem der Vorschlag einer Art ,pränatalen AdoptionÐ mit dem ausschließlichen Ziel, Menschen eine Gelegenheit zur Geburt zu bieten, die ansonsten zur Vernichtung verurteilt sind. Dieser Vorschlag ist lobenswert in seiner Absicht, menschliches Leben zu achten und zu schützen, enthält jedoch verschiedene Probleme, die den oben aufgezählten nicht unähnlich sind.“42

Bedeutet das Auftauen und Wegwerfen der überzähligen Embryonen jedoch ein mangels moralisch zulässiger Alternativen erlaubtes Sterbenlassen, entschärft sich dieses Problem. Im Unterschied zum Auftauen und Sterbenlassen wäre die Verwendung für verbrauchende Embryonenforschung mit den Worten Bormanns jedoch als „Tötung oder schwere körperliche Schädigung zugunsten Dritter“43 unerlaubt. 2. Analogie von überzähligen Embryonen und abgetriebenen Föten Genau diese Schädigung bestreiten andere. Der evangelische Theologe Ulrich Körtner ist ein Beispiel für die Kombination aus tutioristisch begründetem Festhalten am Personstatus früher Embryonen mit einer Rechtfertigung der Forschung an überzähligen Embryonen im Rahmen des Tötungsverbotes.44 Körtner übt einerseits ausführliche Kritik an der klassischen Begründung des moralischen Status früher Embryonen. Er betont die Unsicherheit in der Beurteilung der frühen Embryonalentwicklung.45 Seine Konsequenz ist jedoch nicht die Bestreitung der Würde von Embryonen, sondern genau wie in Donum vitae die tutioristische Position, bei schwerwiegenden Fragen im Zweifel die sichere Variante zu wählen: „Wenn jede Festlegung eines Zeitpunktes mehr oder weniger willkürlich erfolgt, sprechen gute Gründe dafür, gerade deshalb einen vorsorglich frühestmöglichen und umfassenden Schutz werdenden Lebens auch gesetzlich zu verankern.“50

stammzelltherapie versus „alternative“ Stammzelltherapien, Wien 2002, S. 99 – 106, hier S. 103; Günter Virt, Ethische Grundsatzüberlegungen, in: ebd., S. 87 – 98, hier S. 94. 42 DP nr. 19. 43 Bormann, Embryonen (Anm. 37), S. 228. 44 Vgl. Andreas M. Weiß, Moralischer Status von Embryonen – Hindernis für die Forschung? Anmerkungen zu Thesen von Ulrich Körtner, in: Michael Fischer/Kurt S. Zänker (Hrsg.), Medizin- und Bioethik (Ethik transdisziplinär 1), Frankfurt a. M. 2006, S. 117 – 138. 45 Z. B. Ulrich H. J. Körtner, Bioethische Ökumene? Chancen und Grenzen ökumenischer Ethik am Beispiel der Biomedizin, in: Reiner Anselm/Ulrich H.J. Körtner (Hrsg.), Streitfall Biomedizin. Urteilsfindung in christlicher Verantwortung, Göttingen 2003, S. 71 – 96, hier S. 79.

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Dennoch hält Körtner verbrauchende Forschung an überzähligen Embryonen für ethisch vertretbar. Er nimmt eine Güterabwägung zwischen der Lebenserwartung überzähliger Embryonen und dem Nutzen für die Forschung vor: „Es lässt sich argumentieren, dass unter gewissen Voraussetzungen eine Analogie zwischen einem abgetriebenen Fötus und einem in vitro gehaltenen bzw. kryokonservierten Embryo besteht, nämlich dann, wenn dieser nicht zu Forschungszwecken, sondern zum Zweck der medizinisch unterstützten Fortpflanzung gezeugt, jedoch als überzählig ,verworfenÐ, d. h. vernichtet werden soll. In diesem Fall ist es ethisch vertretbar, eine Güterabwägung vorzunehmen und die Verwerfung des Embryos gegen die Gewinnung von Stammzellen abzuwägen, sofern deren Nutzung klar eingegrenzten, ethisch akzeptablen Zielen dient.“46

So liegt die Differenz zur Position eines strengen Lebensschutzes von Embryonen nicht in der Statusfrage, sondern in der Zulässigkeit einer Abwägung im Rahmen des Tötungsverbotes. Körtner betont ausdrücklich, dass diese Begründung nicht voraussetzt, dass Embryonen ihr moralischer Status abgesprochen wird.47 Weil diese aus medizinischen Gründen nicht mehr für die IVF verwendet werden können, haben sie faktisch keine weitere Lebenschance. Dem stehen der Wissensgewinn der Stammzellenforschung und mögliche Therapiechancen gegenüber. Die Verwendung überzähliger Embryonen wird auf diese Weise aus dem deontologischen Tötungsverbot ausgenommen und teleologisch beurteilt. Der Vorteil einer solchen Position gegenüber der Bestreitung der Menschenwürde von Embryonen ist die aufrecht bleibende Rechtfertigungspflicht im Rahmen der Abwägung. Die Abgrenzung zur Erzeugung von Forschungsembryonen und zum Forschungsklonen sowie eine Beschränkung auf hochstehende Forschung kann sichergestellt werden.48 Verfehlt erscheint dagegen die angeführte „Analogie“ zu abgetriebenen Föten. Diese sind tot. Es handelt sich um Verwendung von Leichnamen. Tiefgefrorene Embryonen sind noch lebensfähig und müssen es ja auch sein, um für die Stammzellgewinnung geeignet zu sein.49

46 Verantwortung für das Leben. Eine evangelische Denkschrift zu Fragen der Biomedizin. Im Auftrag des Evangelischen Oberkirchenrats A. und H. B. der Evangelischen Kirche A. und H. B. in Österreich erarbeitet von Ulrich H. J. Körtner in Zusammenarbeit mit Michael Bünker, Wien 2001, Abschnitt 8.6. 47 Ulrich H.J. Körtner, Embryonenschutz und Embryonenforschung aus der Sicht evangelischer Theologie, in: ders./Christian Kopetzki (Hrsg.), Embryonenschutz – Hemmschuh für die Biomedizin?, Wien 2003, S. 84 – 111, hier S. 108; ders., Bioethische Ökumene (Anm. 45), S. 81. 48 Ebd., S. 84. 49 Die Analogie zu Leichnamen wird auch in DP nr. 19 verworfen: „Unzulässig ist auch der Vorschlag, diese Embryonen aufzutauen und, ohne sie zu aktivieren, für die Forschung zu verwenden, als ob es sich um gewöhnliche Leichen handelte.“

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3. Analogie von tiefgefrorenen Embryonen und Gehirntoten Eine ähnliche, etwas komplexere Variante findet sich bei Peter Dabrock und Lars Klinnert, die argumentieren, man könne überzählige Embryonen analog zu gehirntoten Menschen als Lebewesen verstehen, die eigentlich schon tot seien und für die Organentnahme zur Verfügung stehen: „Könnte man sie biologisch und/oder sozial mit Hirntoten vergleichen, die ja nach unserer Rechtsauffassung unter Berücksichtigung der erweiterten Zustimmungslösung als Organspender fungieren können? … Allen Kaschierungsversuchen zum Trotz ist daher dieser Zustand der dauerhaften Kryokonservierung … funktional als tot zu bezeichnen. … Ob nach einer begrenzten Zellteilung in der Petrischale, ob ,ewigÐ aufs Eis gelegt – das biologische Werden dieses beginnenden Menschenlebens ist biologisch an ein Ende gekommen.“50

Das Fehlen von weiteren biologischen oder sozial vermittelten Entwicklungsmöglichkeiten wird als Todeskriterium angesetzt. Damit erlösche die Pflicht zur Lebenserhaltung, „wie ja auch bei Hirntoten die das rein vegetative Leben erhaltenden Maßnahmen abgebrochen werden“51. Nächster Schritt ist die These vom Ende des Würdeträgers, der, weil tot, nicht mehr instrumentalisiert werden könne: „Insofern also verwaiste Embryonen als tote Embryonen angesehen werden können, sind sie dann auch keine Würdeträger im strengen Sinne mehr, ihre Verwendung für Forschungszwecke dementsprechend keine Würdeverletzung.“52 Dass bei vermeintlich toten Lebewesen noch eigens betont wird, dass sie ihren Würdestatus verlieren und nicht mehr instrumentalisiert werden können, verwundert: „Wenn die Embryonen jedoch bereits durch die Weigerung der sozialen Umwelt, die Autopoiesis fortzusetzen, als tot definiert werden können, handelt es sich eben um keine Instrumentalisierung eines Würdeträgers durch eine aktive Tötung zugunsten Dritter, sondern allenfalls um die technische Fortsetzung und schließlich die Beendigung rein vegetativen (nicht individuell-menschlichen) Lebens (im normativen Verständnis). In vergleichbarer Weise lässt man ja auch bei Hirntoten die Maschinen so lange weiterlaufen, bis die Organentnahme stattfinden kann.“53

Der Verweis auf rein vegetatives Leben macht die Argumentation zusätzlich missverständlich in Hinblick auf den sogenannten vegetativen Status von Komapatienten. Auch die angeführte Unterscheidung von Töten und Sterbenlassen passt nicht: „Dabei handelt es sich um keine Tötung, sondern um die Beendigung eines (zuvor nur künstlich aufgehaltenen) irreversiblen Sterbeprozesses.“54 Was bedeutet „Sterbeprozess“, wo definiert wird, dass der Embryo schon tot sei? Der Terminus „Beendigung“ ist außerdem mehrdeutig. 50

Peter Dabrock/Lars Klinnert, Verbrauchende Embryonenforschung. Kommt allen Embryonen Menschenwürde zu?, in: dies./Stefanie Schardien, Menschenwürde und Lebensschutz. Herausforderungen theologischer Bioethik, Gütersloh 2004, S. 173 – 210, hier S. 197 f. 51 Ebd., S. 202. 52 Ebd., S. 203. 53 Ebd. 54 Ebd., S. 202 f.

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Mit dem Ergebnis der Argumentation sind nach Dabrock/Klinnert die ethischen Hürden beseitigt: Überzählige Embryonen sind tot und besitzen keine Würde mehr. Lebensschutz, Würde und Instrumentalisierungsverbot treffen nicht mehr zu.55 Der verbrauchenden Forschung an diesen Embryonen steht somit nichts mehr im Weg: „In Analogie zur Organentnahme bei Hirntoten erscheint es daher vertretbar, dass verwaiste Embryonen als menschliche Wesen, deren Lebensgeschichte an ihr Ende gekommen ist, für hochrangige therapeutische Forschungszwecke zur Verfügung gestellt werden, damit durch die Verwendung ihres Gewebes möglicherweise die Lebensgeschichte anderer Menschen weitergehen kann.“56

Wenn dasselbe mit mehreren Argumenten begründet wird, wo eigentlich eines reichen würde, so ist dies ein guter Grund, nachzufragen. Zuerst fällt ein gewisse Zirkularität auf: Embryonen werden für tot erklärt, wenn sie keine Entwicklungsmöglichkeiten mehr haben. Weil sie tot seien, verlören sie ihre Würde und man könne sie nicht mehr instrumentalisieren. Somit dürften sie, obwohl sie aktuell biologisch noch am Leben sind, für fremdnützige Forschung verbraucht werden. Zugleich wird dies als Beendigung eines Sterbeprozesses von aktiver Tötung unterschieden. Anstatt die Tötung von überzähligen Embryonen mit entsprechenden Argumenten zu rechtfertigen, wird also versucht, die Tötung weg zu definieren. Wesentliche Unterschiede zur Organentnahme bei Gehirntoten sind jedoch zu beachten: Der irreversible Ausfall des Gesamthirns stellt eine Grenze medizinischen Könnens dar, nicht eine solche gesellschaftlichen Wollens. Bei überzähligen Embryonen ist niemand bereit, ihnen eine eigene Lebensmöglichkeit zu gewähren, die über die für die Forschung nötige Lebenserhaltung hinausgeht. Gegen die Analogie ist aber vor allem einzuwenden, dass sonst als Todeskriterium bei Gehirntoten nicht der Verlust an Entwicklungsmöglichkeiten verstanden wird, der ja schon mit dem Verlust des Bewusstseins oder einer schweren Behinderung eintreten könnte, sondern der irreversible Ausfall des Gesamthirns und seiner Integrationsfunktion für den Körper. Bei Embryonen, Lebewesen ohne Gehirnleben, kann das Gehirntodkriterium nicht angewendet werden. Also bleibt nur das Kriterium des biologischen Todes. Das ist zu streng, weil es Forschung unmöglich macht. Man müsste also zugeben, dass der Tod notwendig mit der Entnahme der Stammzellen verbunden ist, diese also eine Tötung darstellt. Wer jedoch nicht nur zu begründen versucht, warum solche Embryonen getötet werden dürfen, sondern erklärt, sie seien ohnedies schon tot, behauptet zu viel. Es ist semantische Politik und wenig überzeugend, am Todeskriterium zu basteln, um nicht von Tötung sprechen zu müssen, wo Leben beendet und ausschließlich zum Nutzen anderer verwertet wird.

55 56

Ebd., S. 207. Ebd., S. 200 f.

Abwägung im Tötungsverbot?

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V. Die Probleme einer Diskussion im Rahmen des Tötungsverbotes Die von Körtner, Dabrock und Klinnert vorgeschlagene Ausweitung des Todeskriteriums und der Vergleich mit der Organentnahme bei Gehirntoten bringt offene Fragen hinsichtlich einer Übertragbarkeit auf andere medizinische Bereiche: Wenn für Forschungszwecke getötet werden dürfte, wer zwar noch lebt, aber keine Lebenschancen mehr hat, wären etwa Menschen in einem irreversiblen Koma betroffen. Wenn das Fehlen von Lebenschancen außerdem nicht aus Faktoren seitens des Embryos folgt, sozusagen nicht naturgegeben ist, sondern aus der Entscheidung von Menschen resultiert, verschärfen sich die Missbrauchsmöglichkeiten: Die Gesellschaft entscheidet zunächst über die Lebenschancen und versteht deren Fehlen dann als Todeskriterium, um die Verwertung für die Forschung nicht als „Tötung“ bezeichnen zu müssen. Da ist es ehrlicher zu begründen, warum man bei überzähligen Embryonen Tötung für zulässig hält. Es ist nicht ausgeschlossen, dass eine andere Begründung im Rahmen des Tötungsverbotes gefunden werden kann. Die aussichtslose Lage überzähliger Embryonen ist ein relevanter Faktor. Entweder verlässt man die deontologische Begründung des Tötungsverbotes. Oder man könnte versuchen, innerhalb des traditionellen Tötungsverbots die Verwendung der Embryonen für die Forschung als indirekte Tötung zu rekonstruieren. Das wäre zumindest eine Überlegung wert: Könnte man die Handlung so verstehen, dass die Zerstörung des Embryos nicht Voraussetzung der Gewinnung embryonaler Stammzellen wäre, also nicht Mittel zum Zweck, sondern „gleich unmittelbar“ aus der Entnahme der inneren Zellmasse folgte?57 Die Deutung der entsprechenden dritten Forderung im Prinzip der Handlung mit Doppelwirkung macht allerdings Schwierigkeiten. Sie ist nicht einheitlich. Teilweise bezieht man sich nicht nur auf den kausalen Ablauf (voluntarium in causa / in se), sondern auch auf die Sicherheit, mit der eine Wirkung eintritt (causa per se / per accidens). In diesem Fall ist eine Deutung verbrauchender Embryonenforschung als indirekte Tötung ausgeschlossen, da die Zerstörung des Embryos unvermeidlich ist. Außerdem bleibt die Frage der korrekten Benennung der „Handlung in sich“, die nach dem Prinzip der Doppelwirkung gut oder wenigstens indifferent sein müsste. An Körtner und Klinnert/Dabrock werden Vor- und Nachteile einer Diskussion im Rahmen des Tötungsverbotes deutlich. Beide wollen eine Güterabwägung zulassen, um Forschung an überzähligen Embryonen zu ermöglichen, aber deren moralischen Status nicht grundsätzlich bestreiten. Das ist ein legitimes Anliegen. Möglicherweise ist es der bessere argumentative Weg gegenüber einer Bestreitung oder Gradualisierung der Menschenwürde für bestimmte Stadien menschlichen Lebens. Der Grund57

Vgl. dazu: Andreas M. Weiß, Sittlicher Wert und nichtsittliche Werte. Zur Relevanz der Unterscheidung in der moraltheologischen Diskussion um deontologische Normen (Studien zur theologischen Ethik 73), Freiburg i. Ue./Freiburg i. Br. 1996, S. 103 – 112. Zur Diskussion um den medizinisch indizierten Schwangerschaftsabbruch vgl. Wolbert, Du sollst nicht töten (Anm. 29), S. 121 – 130.

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satz der gleichen Würde für alle Stadien menschlichen Lebens würde nicht in Frage gestellt oder geschwächt. Eine Abwägung zwischen Erkenntnisgewinn und Leben bei Embryonen kann aber Fragen in anderen sensiblen Bereichen wie der Forschung an nicht einwilligungsfähigen Patienten mit aufgrund einer unheilbaren Erkrankung begrenzten Lebenschancen aufwerfen. Solche Auswirkungen sind zu berücksichtigen. An den angeführten Beispielen wird somit auch der Nachteil einer Diskussion im Rahmen des Tötungsverbotes deutlich: Dieses leidet ohnedies chronisch an Inkonsistenzen und offenen Fragen. Die Frage des Todeskriteriums zeigt, welche Vorsicht geboten ist, wo ad hoc gedankliche Konstruktionen angewendet werden, die in anderen Bereichen medizinischer Ethik zu inakzeptablen Konsequenzen führen und neue Inkonsistenzen nach sich ziehen.

III. Kanonisches Recht

Ars regendi und CIC/1983 Gedanken zur Ausübung der Leitungsgewalt in der Kirche Von Ernst Pucher „Gar leicht gehorcht man einen edlen Herrn, der überzeugt, indem er uns gebietet.“ (J.W. Goethe, Torquato Tasso II/5)

Hans Paarhammer wird 65 Jahre alt. Er hatte und hat in vielen Aufgaben teil am Leitungsamt der Kirche: als Pfarrprovisor, Offizial, Generalvikar, Domkapitular und Mitglied des Konsistoriums der Erzdiözese Salzburg, als Universitätsprofessor, als Konsultor römischer Dikasterien … Ihm ist dieser Aufsatz gewidmet, der selbstverständlich als Festschriftbeitrag und darum in aller gebotenen Kürze keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben kann – es sind eben Gedanken zum Thema. I. Zur Regierungsform der Kirche Cc. 330 – 341 sprechen von der höchsten Autorität der Kirche: Papst und Bischofskollegium. Nach c. 331 verfügt der Papst als Haupt des Bischofskollegiums, Stellvertreter Christi und Hirte der Gesamtkirche hier auf Erden über höchste, volle, unmittelbare und universale ordentliche Gewalt, die er immer frei ausüben kann. Gemäß c. 333 § 1 hat der Papst nicht nur ordentliche Gewalt über die Gesamtkirche, sondern auch über alle Teilkirchen, wodurch die eigenberechtigte, ordentliche und unmittelbare Gewalt der Bischöfe in den ihnen anvertrauten Teilkirchen gestärkt und geschützt wird. Nach § 2 kommt nun dem Papst das Recht zu, darüber zu bestimmen, ob er sein Amt als oberster Hirte der Kirche – entsprechend den Erfordernissen – persönlich oder im kollegialen Verbund ausübt. Gegen ein Urteil oder ein Dekret des Papstes gibt es gemäß § 3 weder Berufung noch Beschwerde. Das Bischofskollegium, dessen Haupt der Papst ist, ist zusammen mit seinem Haupt und niemals ohne dieses Haupt ebenfalls Träger höchster und voller Gewalt in der Gesamtkirche: c. 336. Sache des Papstes ist es gemäß c. 337 § 3, nach den Erfordernissen der Kirche die Weisen auszuwählen, in denen das Bischofskollegium seine Aufgabe hinsichtlich der Gesamtkirche kollegial ausüben soll: in feierlicher Weise wird es das Ökumenische Konzil sein (c. 337 § 1), es sind aber auch andere Möglichkeiten vom CIC offengehalten. Alle Dekrete des Bischofskollegiums – seien sie nun auf einem Ökumeni-

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schen Konzil erlassen worden oder auf eine andere Weise zustandegekommen – bedürfen zu ihrer Rechtsverbindlichkeit der Genehmigung, Bestätigung und Promulgation durch den Papst (c. 341). Die Regierungsform der Gesamtkirche scheint somit umrissen zu sein: niemals ohne oder gar gegen den Papst, der seinerseits „iuxta Ecclesiae necessitates“ vorgehen wird. C. 334 nennt Vorgehensweisen und Hilfen bei der Ausübung des päpstlichen Amtes: die Bischofssynode (cc. 342 – 348), die Kardinäle (cc. 349 – 359), ebenso andere Personen und Einrichtungen, den jeweiligen Zeiterfordernissen entsprechend. Sich ihrer in der richtigen Weise zu bedienen, bleibt Aufgabe der Kunst zu regieren. Die römische Kurie (cc. 360 f.) und das päpstliche Gesandtschaftswesen (cc. 362 – 367) werden hiebei eine nicht zu unterschätzende Rolle spielen. Für die Ebene der Teilkirche gilt c. 381. Dem Diözesanbischof kommt die ganze, ordentliche, eigenberechtigte und unmittelbare Gewalt zu mit Ausnahme dessen, was von Rechts wegen oder aufgrund einer Anordnung des Papstes der höchsten oder einer anderen kirchlichen Autorität vorbehalten ist. Auch innerhalb der Teilkirche gilt: nichts ohne oder gar gegen den Bischof, der seinerseits an das Recht gebunden ist (c. 392 § 1). Auch der Bischof wird sich im Sinne der „ars regendi“ der ihm vom Recht gebotenen Hilfen (siehe auch später!) bedienen: Diözesansynode (cc. 460 – 468), Diözesankurie (cc.469 – 494), verschiedene Konsultationsorgane: Vermögensverwaltungsrat (cc. 492 – 494), Priesterrat und Konsultorenkollegium (cc. 495 – 502), Kanonikerkapitel (cc. 503 – 510), Pastoralrat (cc. 511 – 514). Gemäß c. 391 § 2 ist der Diözesanbischof höchstpersönlich Gesetzgeber für seine Teilkirche, für die Ausübung der ausführenden und der richterlichen Gewalt hat er auch die vom Recht vorgesehenen Vertretungsämter zu besetzen (Generalvikar bzw. Bischofsvikar, Gerichtsvikar und Richter). Auch wenn die Aufgaben in der Leitung der Teilkirche verteilt sind, hat doch der Diözesanbischof für ihre Einheit und Einheitlichkeit zu sorgen – etwa durch Einrichtung eines Bischofsrates (c. 473 § 4). Staatliche Modelle der Regierungsform lassen sich nicht so ohne weiteres auf die Kirche übertragen, die doch ihr eigenes Wesen hat, das in ihrem göttlichen Geheimnis und Ursprung ihren Grund hat. Sicherlich finden wir in der kirchlichen Regierungsform monarchische Elemente, aber auch solche der Mitverantwortung! Am ehesten können wir die Regierungsform der Kirche als hierarchische Regierungsform bezeichnen, und dies im Sinne der „communio hierarchica“ (LG 21 und 22, NEP 2). Personale Verantwortung – letztlich vor Gott, dem Herrn der Kirche – verbindet sich mit ebenfalls personaler Mitverantwortung.

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II. „Konsiliare Diakonie“: Zustimmungs- und Anhörungsrechte/-pflichten und Kommunikation Der CIC/1983 ordnet in c. 127 § 2 zur gültigen – nicht bloß „guten“ – Ausübung der Leitungsgewalt vielfach die Pflicht des Regierenden an, Gremien oder auch einzelne anzuhören; in manchen Fällen bindet er ihn sogar an deren Zustimmung. Freilich geht es nicht nur um „gültiges“, sondern auch um „gutes“ Handeln in der Kirche. So wird jeder, der an Leitung in der Kirche teilhat, wohl beraten sein, nicht bloß die „minima canonica“ zu beachten, sondern sein Ohr denen zu leihen, die durch Sachverstand und Rechtschaffenheit ausgezeichnet nach der je größeren „salus Ecclesiae“ streben und ebendies aufgrund ihrer Qualifikation auch können: ihr Rat dient der Kirche zum Besseren (= konsiliare Diakonie). Vgl. auch c. 212 § 3. Nun aber einige ausgewählte „minima canonica“, deren Beachtung Rechtspflicht ist: a) Ernennung und Abberufung des Diözesanökonomen: c. 494 § 1 normiert das Anhörungsrecht des Vermögensverwaltungsrates und des Konsultorenkollegiums vor der Ernennung, § 2 vor dessen Absetzung während der Amtszeit: ad validitatem. b) Der Diözesanbischof hat den Priesterrat bei Angelegenheiten von größerer Bedeutung zu hören (c. 500 § 2), das hier noch genannte Zustimmungsrecht ist tatsächlich nirgends vorgesehen. „Größere Bedeutung“ ist allerdings ein „unbestimmter Rechtsbegriff“ und darum nicht leicht zu definieren, die Nichtigkeitssanktion fällt damit weg. Jedenfalls muss der Diözesanbischof gemäß c. 515 § 2 vor Errichtung, Aufhebung oder nennenswerter Veränderung von Pfarren den Priesterrat hören, und zwar ad validitatem. c) Vor Ernennung eines Pfarrers hat der Diözesanbischof den Dechanten zu hören: c. 524: ad validitatem. d) Vor Ernennung eines Dechanten hat der Diözesanbischof nach seinem eigenen klugen Ermessen die Priester die Priester des Dekanates zu hören (c. 553 § 2): wieder ein unbestimmter Rechtsbegriff und: ein Klugheitserfordernis. e) Für die Institute des geweihten Lebens verlangt c. 627 § 2: Außer den im allgemeinen Recht vorgeschriebenen Fällen ist das Eigenrecht für Anhörungs- und Zustimmungsrechte zu beachten: ad validitatem. Siehe auch c. 633 (kluge Diskretion!). f) Weltkleriker dürfen ohne Befragung ihres eigenen Ordinarius nicht zum Noviziat zugelassen werden: c. 644. g) C. 682: Der Diözesanbischof kann einem Ordensangehörigen ein Kirchenamt nur auf Vorschlag oder mit Zustimmung von dessen Oberen übertragen (§ 1), der Ordensangehörige wird aber des ihm übertragenen Amtes frei enthoben, und zwar auf Weisung sowohl der Autorität, die das Amt übertragen hat, nachdem der Or-

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densobere in Kenntnis gesetzt worden ist, als auch des Oberen, nachdem die amtsübertragende Autorität in Kenntnis gesetzt wurde; die Zustimmung des jeweils anderen ist nicht erforderlich. Ad validitatem. h) Für Übertritt (c. 684 § 1), Austritt (c. 686 § 1) und Entlassung (c. 694 § 2) von Ordensangehörigen sind Beispruchsrechte des jeweiligen Rates vorgesehen. Ad validitatem. i) C. 1277: Vor der Setzung von Akten der Vermögensverwaltung von größerer Bedeutung hat der Diözesanbischof den Vermögensverwaltungsrat und das Konsultorenkollegium zu hören, vor der Setzung von Akten der außerordentlichen Verwaltung bedarf er der Zustimmung beider genannter Räte. Ad validitatem. j) C. 1292 § 1 Der Diözesanbischof bedarf vor Veräußerung von Kirchenvermögen oberhalb der von der Bischofskonferenz festzulegenden Untergrenze der Zustimmung des Vermögensverwaltungsrates und des Konsultorenkollegiums. Ad validitatem. Kirchenvermögen soll seiner Zweckbestimmung erhalten bleiben, darum sind Sicherungen vom Recht eingebaut. k) Im kirchlichen Eheprozessrecht – ad validitatem – bestimmt c. 1673 das zuständige Gericht. Das Gesetz, nicht die Wahl der Parteien bestimmt die Zuständigkeit. C. 1673, 38 normiert ein Zustimmungsrecht und ein Anhörungsrecht: zuständig ist das Gericht des Wohnsitzes der klagenden Partei, vorausgesetzt, beide Parteien wohnen im Gebiet derselben Bischofskonferenz und der für den Wohnsitz der aufgerufenen Partei zuständige Gerichtsvikar stimmt nach Anhören dieser Partei zu. C. 1673, 48 spricht von einem Zustimmungsrecht des Gerichtsvikars: zuständig ist das Gericht des Ortes, an dem die meisten Beweise tatsächlich zu erbringen sind, vorausgesetzt, der für den Wohnsitz der aufgerufenen Partei zuständige Gerichtsvikar stimmt zu; dieser hat vorher die aufgerufene Partei nur zu fragen, ob sie dagegen Einwendungen erhebt. Noch sei auf die allgemeine Regel des c. 127 § 2, 28 hingewiesen, das Anhörungsrecht betreffend: „Wenn der Rat gefordert wird, ist die Handlung eines Oberen rechtsunwirksam, der diese Personen nicht hört; obgleich der Obere keineswegs verpflichtet ist, sich ihrer, wenn auch übereinstimmenden , Stellungnahme anzuschließen, darf er dennoch ohne einen seinem Ermessen nach überwiegenden Grund von deren Stellungnahme, vor allem von einer übereinstimmenden, nicht abweichen.“ Selbstverständlich handelt es sich dabei um eine Rechtspflicht, nicht ohne entsprechenden Grund gegen einen verantwortet erteilten Rat zu handeln, das Willkürverbot gilt als naturrechtliche Norm immer. „Es ist kein schönrer Anblick in der Welt, Als einen Fürsten sehn, der klug regiert

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Das Reich zu sehn, wo jeder stolz gehorcht, Wo jeder sich nur selbst zu dienen glaubt, Weil ihm das Rechte nur befohlen wird.“ (J.W. Goethe, Torquato Tasso I/4).

III. Ständige Vertretungsämter Nach dem CIC/1983 ist – anders als noch im CIC/1917 – gemäß c. 475 § 1 vom Diözesanbischof ein Generalvikar zu ernennen, der mit ordentlicher Gewalt ausgestattet dem Diözesanbischof in der Verwaltung der Diözese zur Seite steht. Ein oder mehrere Bischofsvikare können vom Diözesanbischof ernannt werden, wann immer die rechte Leitung der Diözese es erfordert: c. 476. Dem Generalvikar und dem Bischofsvikar kommt kraft ihres Amtes ausführende Gewalt zu: c. 479 §§ 1 u. 2. Auch kann gem. c. 473 § 2 ein Moderator der Kurie bestellt werden, der die Verwaltungsgeschäfte zu koordinieren hat und die Dienstaufsicht über das Personal der Kurie führt: in der Regel soll der Generalvikar dazu ernannt werden (c. 473 § 3). Nach c. 477 § 2 kann ein Vertreter des Generalvikars und des Bischofvikars vom Diözesanbischof ernannt werden. Äußerst wichtig wird die Koordinierung der Tätigkeiten der Inhaber der ständigen Vertretungsämter sein: dazu kann der Diözesanbischof gemäß c. 473 § 4 einen Bischofsrat einsetzen. Gegenseitige, rechtzeitige und von Vertrauen getragene Kommunikation und Konsultation werden dem pastoralen Wirken förderlich sein, auch um eine gemeinsame Linie zu finden und dann auch durchzuhalten. Die „ars regendi“ wird hier ein weites und fürwahr lohnendes Betätigungsfeld finden – der „pastor bonus“ sorgt sich klug um die Herde. Für die Ausübung der richterlichen Gewalt ist der Diözesanbischof gehalten, einen Gerichtsvikar (Offizial) zu ernennen, der mit dem Bischof ein Gericht bildet: c. 1420 §§ 1 u. 2. Gemäß c. 1420 § 3 kann ein Vizeoffizial bestellt werden, gemäß c. 1421 § 1 sind vom Diözesanbischof Richter zu ernennen. Für die Träger der richterlichen Gewalt gelten besondere Eignungsvoraussetzungen: c. 1421 § 3 (wenigstens dass Lizenziat im kanonischen Recht) – eine etwa nötige Dispens davon ist dem Hl. Stuhl (Apostolische Signatur) reserviert. Besonderer Sachverstand soll die kirchliche Gerichtsbarkeit auszeichnen und das Vertrauen in sie fördern. IV. Delegation Der CIC/1983 behandelt dieses für die Regierung der Kirche so wichtige Institut unter den Bestimmungen über die Leitungsgewalt (cc. 129 – 144).

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Ordentliche ausführende Gewalt ist grundsätzlich delegierbar (c. 137 § 1), gesetzgebende Gewalt nur unter den einschränkenden Bestimmungen des c. 135 § 2, richterliche Gewalt kann nur zur Vornahme von Handlungen für die Vorbereitung eines Dekretes oder Urteils delegiert werden (c. 135 § 3). Ständig erteilte Befugnisse unterliegen gemäß c. 132 § 1 den Vorschriften über die delegierte Gewalt. Ein Mittel der Regierungskunst wird rechtlich gefaßt – und somit kann kirchliche Leitungsgewalt per delegationem auch von den Inhabern kirchlicher Ämter, die nicht ständige Vertretungsämter sind, ausgeübt werden. Z. B. von Ordinariatskanzler, Diözesanökonom. V. Publikation und Diskretion Nach einem bekannten Ausspruch von Papst Johannes Paul II. soll die Kirche ein „gläsernes Haus“ sein. Der Papst meinte damit sicher nicht, dass alles allen sofort bekannt gemacht werden muss, sondern dass sich Geheimnistuerei und Arkandisziplin als die Glaubwürdigkeit der Kirche schädigend von selbst verbieten. Gesetze sind zu promulgieren (c. 7), Einzeldekrete demjenigen, den es angeht, mitzuteilen (cc. 37, 51 und 55), Urteile sind den Parteien bekanntzugeben (cc. 1614 und 1615). Die Vorbereitung von Entscheidungen bedarf freilich der Diskretion: C. 127 § 3 verpflichtet alle, deren Zustimmung oder Rat erforderlich ist, zur Geheimhaltung, wenn es die Wichtigkeit der Angelegenheit verlangt, was auch eingeschärft werden kann (vgl. „päpstliches Geheimnis“!). Nach c. 172 §1, 28 muss die Stimmabgabe bei einer Wahl geheim erfolgen. Auch an Amtsgeheimnis und in gesteigerter Form „geistliches Amtsgeheimnis“ ist zu denken. Gerade auch in der kirchlichen Gerichtsbarkeit ist zur Wahrung der Personenwürde auf Amtsverschwiegenheit und diskretes Vorgehen Wert zu legen (vgl. c. 1455!). In c. 220 finden wir ein Grundrecht jedes Gläubigen auf Schutz des guten Rufes und der Intimsphäre. Indiskretionen können gerade im kirchlichen Bereich enormen – geistlichen – Schaden anrichten; es gilt die Balance zu wahren zwischenweltoffener Publizität und zu schützender Diskretion. Das recht verstandene geistliche Wohl hat Vorrang. VI. „Dilatare“ und möglichst rasches Entscheiden Manches erledigt sich von selber und soll darum „ausgesessen“ werden – anderseits gibt es das Recht auf eine möglichst rasche Entscheidung. Im Sinne von c. 57 § 1 hat die zuständige Autorität innerhalb von drei Monaten nach Erhalt des Antrages oder der Beschwerde ein Dekret zu erlassen, wenn nicht eine andere Frist im Gesetz vorgeschrieben ist. Nach § 2 wird eine ablehnende Antwort vermutet, wenn nach Ab-

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lauf dieser Frist ein Dekret noch nicht ergangen ist, was die Einlegung einer weiteren Beschwerde betrifft; und nach § 3 befreit eine solche vermutete Ablehnung die zuständige Autorität nicht, ein Dekret zu erlassen. Auch können dadurch Schadenersatzpflichten entstehen. Für die Ausstellung von Reskripten – Akte der freiwilligen Verwaltung – ist grundsätzlich keine solche Frist vorgesehen (c. 69). Als naturrechtliches Prinzip ist die „aequitas canonica“ auch hier zu beachten. Für das Prozessrecht gelten die Fristen des c. 1453: soweit die Gerechtigkeit nicht beeinträchtigt wird, sollen Prozesse in 1. Instanz nicht länger als ein Jahr dauern, in 2. Instanz nicht länger als sechs Monate. Die Gerechtigkeit hat Vorrang, ein Warten auf das „Jüngste Gericht“ – pereat mundus – soll freilich nicht stattfinden. Nach c. 1735 (Rechtsmittelverfahren im Verwaltungsrecht) gilt eine Frist von dreißig Tagen für die Erlassung eines Dekretes. Hier hat eine möglichst rasche Entscheidung den Vorrang; ähnliches gilt dann auch beim Verfahren zur Amtsenthebung oder Versetzung von Pfarrern (cc. 1740 – 1752), wo wir in c. 1752, dem letzten Kanon des CIC/1983, auch das wohl auf Ivo von Chartres zurückgehende Adagium finden: „servata aequitate canonica et prae oculis habita salute animarum, quae in Ecclesia suprema semper lex esse debet.“

Präsentationsberechtigte (c. 158 § 1, c. 162) und Wahlberechtigte (c. 165) verlieren ihr Recht auf Besetzung eines Kirchenamtes, wenn die Präsentation bzw. Wahl nicht fristgerecht erfolgt: es tritt dann Devolution ein, der zuständige Obere kann dann das Amt frei übertragen. C. 151 ist hier von Bedeutung: „Die Übertragung eines Amtes, das der Seelsorge dient, darf ohne schwerwiegenden Grund nicht aufgeschoben werden.“ VII. Fait accompli Bewusst fait accompli zu schaffen gehört nicht unbedingt zu den eleganten Weisen des Regierens – indes kann es auch unbeabsichtigt eintreten. Es könnte hier c. 144 – „supplet ecclesia“ – anwendbar sein. Im Bereich des Eherechts gibt es die Möglichkeit der nachträglichen Gültigmachung (einfache Gültigmachung cc. 1156 – 1160, Heilung in der Wurzel cc. 1161 – 1165). Dem Papst vorbehalten ist die Rechtsfigur der Bestätigung in „forma specifica“ – ein päpstlicher Akt, der darum nicht mehr angefochten werden kann. Ein fauler Nachgeschmack bleibt …, auch wenn manches noch im kirchlichen Rechtsverfahren korrigiert werden kann.

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VIII. Quieta non movere Oft eine bequeme Maxime. Zu beachten sind jedenfalls die Normen über Ersitzung und Verjährung (cc. 197 – 199) und die jeweils vorgesehenen Fristen für die Vornahme von Rechtsakten. Selbstverständlich ist mit pastoraler Klugheit, die sich auf das Seelenheil bezieht, vorzugehen. IX. Residenzpflicht Diözesanbischöfe (c. 395), Bischofskoadjutoren (c. 410), Auxiliarbischöfe (c. 410), Kurienkardinäle in Rom (c. 356), Ordensobere (c. 629), Pfarrer (c. 533), Pfarrvikare (c. 550 § 1) und Priester, die solidarisch die Pfarrseelsorge ausüben (c. 543 § 2 n. 1) sind verpflichtet, in der Diözese bzw. Pfarre zu wohnen. Sie sollen den ihnen Anvertrauten auch räumlich nahe sein. Nur wer residiert, regiert. Mangelnde Präsenz schafft in jeder Hinsicht Distanz. Der gute Hirt gibt nicht Befehle aus der Ferne – und auch nicht nur über das Internet. Es geht um persönliche Beziehung und um personales Leiten. So manches Missverständnis durch „Reibungsverlust“ kann auf diese Weise vermieden werden: größere Effizienz und gegenseitige Wertschätzung sind die Folge. X. „Audiatur et altera pars“ Der alte römische Rechtsgrundsatz ist immer aktuell: nicht bloß im Prozessrecht, sondern immer sind die von einem Rechtsakt Betroffenen vorher zu hören, damit die dann zu fällende Entscheidung richtig und gut sein kann. Dieses Hörensollen ist oft (nicht immer) unter Nichtigkeitssanktion, der CIC nimmt es sehr ernst. Im Übrigen ist das Anhören des und noch mehr der Dialog mit dem anderen ein hervorragendes Mittel der Psychohygiene. Die stets anzustrebende Gerechtigkeit (eine Kardinaltugend) heilt auch. Vgl. dazu c. 50! Für die von einem Ordinarius gewährten oder abgelehnten Gnadenerweise ist c. 65 die anzuwendende Norm, damit Kooperation gesichert werde. XI. Medien: cc. 822 – 832 Die Bedeutung der Massenmedien und sozialen Kommunikationsmittel in der heutigen Zeit kann nicht unterschätzt werden. C. 822 § 1 fordert die Hirten der Kirche auf, sie zu nützen. Die Sorge um den rechten Gebrauch der Medien bleibt: c. 831 gibt Zeugnis davon. Ein gerechter und vernünftiger Grund ist gefordert, wo es um die Mitarbeit in Medien geht, die die katholische Religion oder die guten Sitten anzugreifen pflegen (c. 831 § 1) – stete Abwägung des Nutzens oder des Schadens für die Kirche ist vonnöten. Kleriker und Ordensleute bedürfen für ihre Mitwirkung dann

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der Erlaubnis des Ortsordinarius. Nach c. 831 § 2 ist es Aufgabe der Bischofskonferenz, Normen hinsichtlich der Erfordernisse zu erlassen, damit Kleriker und Ordensleute in Hörfunk oder Fernsehen bei der Behandlung von Fragen erlaubt mitwirken, die die katholische Lehre oder die Sitten betreffen. Die Kardinaltugend Klugheit ist gefordert. XII. Intervention Im Sinne des Subsidiaritätsprinzips hat jeder auch in der Kirche im Rahmen seiner Zuständigkeit und seiner Möglichkeiten all das zu tun, wozu er bestellt ist. Eingriffe der Oberen sollen „subsidiär“ bleiben – sind freilich in Ausübung der Aufsichtspflicht mitunter notwendig. Dies gilt als eine Maxime der Regierungskunst, nicht als ekklesiologisches Prinzip. Der päpstliche Jurisdiktionsprimat ist davon unberührt, aber es geht gegebenenfalls um das „Wie“ der Ausübung. Als Regel mag gelten: Die Intervention des Oberen hat die zuständige Autorität zu stärken, nicht zu schwächen („confirma fratres tuos“: Lk 22,32b). Siehe auch oben I. zur Regierungsform der Kirche! J.W. Goethe, Torquato Tasso I/4: „Denn welcher Kluge fänd im Vatikan nicht seinen Meister?“ Bleibt nicht das Goethezitat auch Auftrag? XIII. Schluss „Salus animarum in ecclesia semper lex suprema esse debet“: c. 1752, der letzte Kanon des CIC/1983, zitiert den bedeutenden Kanonisten des hohen Mittelalters Ivo von Chartres, der u. a. durch die Unterscheidung von spiritualia und temporalia an der Beilegung des Investiturstreits beteiligt war, jenem großen Kampf um die „libertas ecclesiae“. Es bedurfte höchster Anstrengung des Denkens und Unterscheidens, dann auch des Handelns, um den Zugriff der staatlichen Gewalt abzuwehren und sich die eigene kirchliche Freiheit zu bewahren zum Ziele der salus animarum. Es ging um Unaufgebbares, Prinzipielles – und darum geht es auch immer wieder. Es geht aber auch immer wieder um das „Wie“ – „und in dem ,WieÐ, da liegt der ganze Unterschied.“ (R. Strauss/H. v. Hofmannsthal, Der Rosenkavalier I/282) –, um Lebenskunst! So hat also Regierungskunst immer auch mit Lebenskunst zu tun – und um das Leben – salus animarum! – geht es der Kirche. Ihr Recht will und soll dazu Weisung und Hilfe sein – seine Anwendung sei die hohe Kunst all derer, die an der Regierung der Kirche Anteil haben. Göttliches gilt es in menschlichen Gesetzen und Entscheidungen zu vermitteln. Darum gilt Führen statt R.A.B.I.A.T. handeln1 auch für die Kirche. 1 P. Heimerl, Führen! Statt R.A.B.I.A.T. handeln, Wien 2010. Das Kunstwort R.A.B.I.A.T. steht als Akrostichon für: Regression, Aktionismus = Angst, Beschleunigung, Innovationsfeindlichkeit, Aggessivität, Tunnelblick.

Das fortgeschrittenere Alter (aetas provectior) der Pfarrhaushälterin Ein unbestimmter, aber höflicher Rechtsbegriff als Eignungskriterium Von Franz Kalde Festschriften knüpfen meist an das Lebensalter des zu Ehrenden, in der Regel runde oder halbrunde Geburtstage, an. Daher erscheint es angemessen, sich in dieser Festgabe dem Thema Alter zu widmen, und zwar in einem Bereich, dem auch das Interesse des Jubilars gilt1, nämlich der priesterlichen Lebensführung. Dazu soll im Folgenden eine Altersangabe näher untersucht werden, die in c. 133 § 2 CIC/ 1917 eine Eignungsvoraussetzung für Haushälterinnen im Priesterhaushalt2 war, die „aetas provectior“. Im kanonischen Recht hat man es häufig mit unbestimmten Rechtsbegriffen zu tun, deren Inhalt und Umfang nicht von vornherein festliegen.3 Um diese Flexibilität zu gewährleisten, verwendet der kirchliche Gesetzgeber auch des Öfteren unbestimmte Altersangaben.4

1 Vgl. z. B. Hans Paarhammer, Gasthausbesuch als kirchenrechtliches Problem. Kanonistische Anmerkungen zu einer immer wiederkehrenden Frage des decorum clericale, in: Borut Holcman/Gernot Kocher (Hrsg.), Kirche und Staat (FS Stanislav Ojnika z. 75. Geburtstag), Maribor 2007, 215 – 239. 2 Zum Forschungsbedarf bezüglich dieses „kirchlichen Dienstes“ (so die Gemeinsame Synode der Bistümer in der Bundesrepublik Deutschland, Beschlüsse der Vollversammlung. Offizielle Gesamtausgabe. 1. Bd., 2. durchges. u. verb. Aufl., Freiburg/Basel/Wien 1976, S. 622) vgl. Michaela Sohn-Kronthaler, Pfarrhaushälterinnen – ein kaum erforschter weiblicher Laienberuf in der katholischen Kirche, in: Michaela Sohn-Kronthaler/Rudolf K. Höfer (Hrsg.), Laien gestalten Kirche: Diskurse – Entwicklungen – Profile (Festg. Maximilian Liebmann z. 75. Geburtstag), Innsbruck/Wien 2009 (Theologie im interkulturellen Dialog 18), S. 241 – 255. 3 Vgl. Georg May/Anna Egler, Einführung in die kirchenrechtliche Methode, Regensburg 1986, S. 112. 4 Vgl. Helmuth Pree, Alter, in: LKStKR I2, S. 62 – 65, bes. S. 64.

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I. Die geschichtliche Entwicklung der Altersvorschrift 1. Die Entwicklung bis zum CIC/1917 Auf der Suche nach der Einführung der Altersvorschrift liegt es nahe, zunächst bei den im CIC/1917 zu c. 133 § 2 vermerkten Quellenhinweisen zu beginnen. Dort sind fünf Stellen aus dem Decretum Gratiani (D. 32,16; D. 81, 21, 24, 27 und 31), zwei aus dem Liber Extra (X 3,2,1 und 9), ein Beleg aus dem Ersten Laterankonzil (canon 3) sowie die Entscheidung einer Kurienkongregation angegeben. Das Konzil von Nizäa verbot im Jahr 325 den Klerikern „subintroductam habere mulierem, nisi forte matrem aut sororem aut amitam vel eas tantum quae suspicionem effugiunt“5 (canon 3); neben Mutter, Schwester oder Tante war nur die Aufnahme solcher Frauen möglich, die über jeden Verdacht erhaben sind. Dieser Text fand Eingang in das Decretum Gratiani (D. 32,16). Das fortgeschrittene Lebensalter als Grund für den Ausschluss von Verdächtigungen ist in diesem Text nicht enthalten, auch nicht in den anderen genannten Stellen aus dem Corpus Iuris Canonici. Dasselbe gilt für das Erste Laterankonzil, das an die Bestimmung des Nicaenums anknüpft.6 Von den zu c. 133 § 2 CIC/1917 angegebenen Quellen äußert sich nur eine zum Alter, nämlich die Entscheidung der Kongregation für die Bischöfe und Regularen. Dieses Dikasterium antwortete am 9. Juni 1587 dem anfragenden Bischof von Ventimiglia, dass Priester im Pfarrhaus keine Frauen wohnen lassen sollen (egal in welchem Alter); außerhalb des Pfarrhauses dürfen Priester anständige und nicht verdächtige Frauen wohnen lassen, die nicht unter 50 Jahre alt sein dürfen („e che non siano di minor di 50 anni al manco“).7 Diese weitgehende Entscheidung wird in den einschlägigen Kommentierungen nicht rezipiert. Eine Altersangabe, die nicht in den offiziellen Quellen vermerkt ist, findet sich beim Erzbischof von Bologna, dem späteren Papst Benedikt XIV. Als Erzbischof hatte Prosper Lambertini seinem Klerus als Mindestalter für die Dienstboten, sofern es an Blutsverwandten mangelt, 40 Jahre vorgegeben.8 Er verteidigt dieses Alter auch gegenüber Autoren, die 50 Jahre fordern.9

5

Josef Wohlmuth (Hrsg.), Dekrete der ökumenischen Konzilien, 1. Bd., Paderborn/München/Wien/Zürich 1998, S. 7. 6 Wohlmuth, Dekrete (Anm. 5), 2. Bd. (2000), S. 191: „videlicet matrem sororem amitam vel materteram aut alias huiusmodi, de quibus nulla iuste valeat suspicio oriri – mit der Mutter, Schwester, Tante väterlicher- oder mütterlicherseits oder mit anderen vergleichbaren Frauen, über die berechtigterweise kein Verdacht aufkommen kann“ (canon 7). 7 Vgl. Sacra Congregatio Episcoporum et Regularium, Ventimilien. vom 9. 6. 1587, in: CIC-Fontes/1917, Bd. 4, S. 613. 8 Vgl. Benedikt XIV. (Prosper Lambertini), Institutiones Ecclesiasticae, 3. Bd., Tournai 1855, S. 818 – 821, hier S. 819: „Ipsarum quoque aetas cognita sit, ita ut Parochi famulae, qui consanguineis caret, quadraginta saltem annos jam absolverint” (Nr. 82 ad 3). 9 Vgl. ebd., S. 829 (Nr. 83 ad 15).

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Im 17. Jahrhundert begegnet in einem kanonistischen Standardwerk, dem „Jus Canonicum Universum“ Anaklet Reiffenstuels, ein unbestimmter Rechtsbegriff als Eignungsvoraussetzung, nämlich das vorgerückte Alter: Die Kleriker können zur Besorgung des Haushalts unverdächtige Frauen in ihr Haus aufnehmen, z. B. Mutter oder Tante.10 Es seien aber auch andere unverdächtige Frauen möglich; als Eignungskriterien nennt er vorgerücktes Alter („provecta aetas“) und zugleich erwiesene Tugendhaftigkeit und Frömmigkeit.11 Wenige Jahrzehnte nach Reiffenstuel greift Franz Schmalzgrueber die Altersanforderung unter Verwendung der Reiffenstuelschen Formulierung auf, wandelt sie aber in den höflicher klingenden Komparativ12 um. Nach Schmalzgrueber ist das Zusammenwohnen mit fremden (nichtverwandten) Frauen gestattet, wenn diese in vorgerückterem Alter („profectioris [sic] aetatis“), von ehrenhaftem Ruf und erhaben über den Verdacht der Unenthaltsamkeit sind; zum Alter führt er näher aus, dass nach allgemeiner Praxis in Deutschland und nach den Statuten mehrerer Diözesen das Mindestalter 40 Jahre sei, damit es Klerikern erlaubt sei, sie in den Dienst zu nehmen.13 Das einflussreiche Nachschlagewerk des Lucius Ferraris beziffert die „aetas provecta“ mit 50 Jahren14; er lässt aber Ausnahmen zu: bei gutem Ruf und Tugendhaftigkeit seien jüngere Frauen möglich („in minori aetate“), andererseits seien Frauen mit dem Mindestalter oder darüber auszuschließen, wenn sie Verdacht erregen.15 Autoren des 19. und des beginnenden 20. Jahrhunderts, wie Franz Heiner16, Philipp Hergenröther und Joseph Hollweck17, Franz Laurin18, Friedrich Schulte19, Gulielmus Se10

Vgl. Anacletus Reiffenstuel, Jus Canonicum Universum juxta Titulos Decretalium, 3. Bd., Venedig 1778, S. 11: „Possunt tamen Clerici rei domestica gratia in domo sua habere mulierem non suspectam, v.g. matrem, amitam etc.“ (III, 2, Nr. 6 Summarium). 11 Vgl. ebd., S. 12: „Quibus addi possunt mulieres, quae sunt provectae aetatis, simulque probatae virtutis ac pietatis“ (III, 2, Nr. 8). 12 Vgl. dazu unten IV. 13 Vgl. Franciscus Schmalzgrueber, Decretalium Gregorii IX. libri III brevi methodo ad discentium utilitatem expositus, 1. Bd., Ingolstadt 1714, S. 27. 14 Vgl. Lucius Ferraris, Prompta bibliotheca canonica, iuridica, moralis, theologica nec non ascetica, polemica, rubricistica, historica, 2. Bd., Paris 1865, S. 571: „Aetas autem provecta, in qua cessat omnis aliena sinistra suspicio, et mulier, seu famula alias bonae famae, et honesta praesumitur cohabitare posse cum clerico sine periculo incontinentiae, est ordinarie aetas quinquaginta annorum.“ 15 Vgl. ebd. 16 Vgl. Franz Heiner, Katholisches Kirchenrecht, 1. Bd., Paderborn 61912, S. 211, der 40 bis 45 Jahre nennt. 17 Vgl. Philipp Hergenröther/Joseph Hollweck, Lehrbuch des katholischen Kirchenrechts, Freiburg 21905, S. 250, Anm. 4. 18 Vgl. Franz Laurin, Der Cölibat der Geistlichen nach canonischem Rechte, mit besonderer Beziehung auf das Recht der österreichisch-ungarischen Monarchie, Wien 1880, bes. S. 23, Anm. 2. 19 Vgl. Friedrich Schulte, Lehrbuch des katholischen Kirchenrechtes, Gießen 21868, S. 185, Anm. 6.

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bastianelli20 oder Friedrich H. Vering21, verweisen darauf, dass als kanonisches Alter in der Regel das vollendete 40. Lebensjahr angesehen wird. Seit Inkrafttreten des CIC/1917 werden verschiedene Autoren ein jüngeres Alter anregen.22 Die Entwicklung bis zum CIC/1917 fasst Franz Wernz folgendermaßen zusammen: „Praeterea a cohabitatione cum clericis non fuerunt exclusae etiam mulieres extraneae, sed honestae atque in aetate canonica quadraginta annorum. Quae aetas canonica interdum fuit reducta ad triginta vel aucta ad quinquaginta annos.“23 Das kirchenrechtlich vorgeschriebene Alter der Haushälterin hatte inzwischen solche Bedeutung und Bekanntheit erlangt, dass gerade diese Altersbestimmung als kanonisches Alter („aetas canonica“) bezeichnet wurde, und nicht etwa, wie zu erwarten wäre, das Mindestalter für bestimmte, weihegebundene Ämter in der kirchlichen Hierarchie. 2. Die Entwicklung bis zum CIC/1983 Unter dem dritten Titel des ersten Buches des CIC/1917, der die Pflichten der Kleriker regelte, handelte c. 133 CIC/1917 vom Umgang mit dem weiblichen Geschlecht; daher erhielt diese Norm in der Kanonistik den scherzhaft-liebevoll gemeinten Beinamen „Drachenkanon“24. Im zweiten Paragraphen ist geregelt, dass Kleriker nur mit Frauen zusammenwohnen dürfen, von denen jeder Verdacht fern liegt, entweder wegen naher Verwandtschaft oder weil ihr Lebenswandel ehrbar ist, und zwar in Verbindung mit einem vorgerückteren Alter: „aut a quibus spectata morum honestas, cum provectiore aetate coniuncta, omnem suspicionem amoveat“ (c. 133 § 2 CIC/1917). Die Altersdiskriminierung betrifft grundsätzlich die Benachteiligung aufgrund des Lebensalters und damit sowohl ältere als auch jüngere Menschen; „in der sozialen Wirklichkeit sind allerdings wesentlich mehr ältere als jüngere Menschen von den negativen Auswirkungen der Altersdiskriminierung betroffen“25. Der Diskriminierung älterer Menschen am Arbeitsmarkt ist die Altersforderung für Haushälterinnen im CIC/1917 aber genau entgegengesetzt, indem er zu junge Frauen von diesem Dienst ausschließt. Der CIC/1917 legt kein bestimmtes Mindestalter fest, überantwortet die Ausfüllung bzw. Anwendung des unbestimmten

20

S. 18.

Vgl. Gulielmus Sebastianelli, Praelectiones juris canonici: De personis, Rom 21905,

21 Vgl. Friedrich H. Vering, Lehrbuch des katholischen, orientalischen und protestantischen Kirchenrechts mit besonderer Rücksicht auf Deutschland, Österreich und die Schweiz, Freiburg 31893, S. 445, Anm. 4. 22 Vgl. unten Punkt I.2. 23 Vgl. Franciscus Xaverius Wernz, Ius Decretalium, 2. Bd., Prati 31915, S. 315. 24 Vgl. Ulrich Mosiek, Verfassungsrecht der Lateinischen Kirche, 1. Bd., Freiburg 1975, S. 253. 25 Doris König, Das Verbot der Altersdiskriminierung – ein Diskriminierungsverbot zweiter Klasse?, in: Charlotte Gaitanides/Stefan Kadelbach/Gil Carlos Rodriguez Iglesias (Hrsg.), Europa und seine Verfassung (FS Manfred Zuleeg z. 70. Geburtstag), Baden-Baden 2007, S. 341 – 361, hier S. 341.

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Rechtsbegriffs „provectior aetas“ dem teilkirchlichen Gesetzgeber bzw. dem anstellenden Priester. Einige Autoren begnügen sich mit der Wiedergabe der kodikarischen Anordnung26, die meisten bieten aber konkrete Altersangaben, um Orientierung zu geben oder um die teilkirchlichen Regelungen zusammenzufassen: Heribert Jone27 und weitere Autoren28 verweisen darauf, dass man früher darunter ein Alter von 40 Jahren verstand; „man scheint darunter aber auch noch ein wenig jüngeres Alter verstehen zu können“29. Klaus Mörsdorf gibt ein Mindestalter von 35 bis 40 Jahren an30, ebenso Ulrich Mosiek31 und Matthaeus Conte a Coronata32. Anton Retzbach kennt eine größere Spanne, nämlich 30 bis 40 Jahre33; auch nach Carl Holböck34 und Anton Perathoner35 schwankt die aetas canonica partikularrechtlich zwischen 30 und 40 Jahren. Vereinzelt wird ein noch höheres Alter von 40 bis 50 Jahren36 angegeben. Nach dem Inkrafttreten des CIC/1917 ist die Tendenz erkennbar, unter die zuvor vorherrschende Begrenzung von 40 Jahren zu gehen. Die untere Grenze wird oft bei

26 Vgl. z. B. Albertus Toso, Ad Codicem Iuris Canonici Commentaria Minora. Bd. II/1. Rom 1922, S. 94; Arthur Vermeersch/Joseph Creusen, Epitome iuris canonici cum commentariis, 1. Bd., Mecheln/Rom 81963, S. 255. 27 Vgl. Heribert Jone, Gesetzbuch des kanonischen Rechtes, 1. Bd., Paderborn 21950, S. 161. 28 Vgl. Martin Leitner, Handbuch des katholischen Kirchenrechts auf Grund des neuen Kodex, Regensburg/Rom 1918, S. 235; Philippus Maroto, Institutiones Iuris Canonici ad normam novi Codicis, 1. Bd., Rom 31921, S. 629, der darauf hinweist, Ordinarius oder Provinzialkonzil könnten ein höheres Alter von 45 bis 50 Jahren fordern. 29 Jone, Gesetzbuch (Anm. 27), S. 161, beruft sich dazu auf Josephus Noval, Commentarium Codicis Iuris Canonici. Liber IV: De processibus. 2. Bd., Turin/Rom 1932, S. 560: „Quoad verba provectiore aetate, hactenus habita est provectior aetas 40 annorum; at putamus non excludi aliam paulo minorem.“ 30 Vgl. Mörsdorf Lb. I11, S. 264. Mörsdorf übernahm diese Altersspanne aus der ersten Auflage des Lehrbuch, die unter der Regie seines Vorgängers Eichmann erschienen war: Eduard Eichmann, Lehrbuch des Kirchenrechts auf Grund des Codex Iuris Canonici für Studierende, Paderborn 1923, S. 91. 31 Vgl. Mosiek, Verfassungsrecht (Anm. 24), S. 254. 32 Vgl. Matthaeus Conte a Coronata, Institutiones Iuris Canonici ad usum utriusque cleri et scholarum, 1. Bd., Turin 21939, S. 225. 33 Vgl. Anton Retzbach, Das Recht der katholischen Kirche nach dem Codex Iuris Canonici. 6. Aufl. hrsg. von Franz Vetter, Freiburg/Basel/Wien 1961, S. 34. 34 Vgl. Carl Holböck, Handbuch des Kirchenrechtes, 1. Bd., Innsbruck/Wien 1951, S. 247. 35 Vgl. Anton Perathoner, Das kirchliche Gesetzbuch (Codex juris canonici): Sinngemäß wiedergegeben und mit Anmerkungen versehen, Brixen 21922, S. 48, Anm. 3. 36 Udalricus Beste, Introductio in Codicem, Neapel 51961, S. 193, geht davon aus, dass im allgemeinen von dieser Spanne ausgegangen wird: „Provectior aetas diversimode computatur apud doctores, ordinarie inter 40 et 50 annos aetatis.“ Ebenso Antonius Crnica, Commentarium theoretico-practicum Codicis Iuris Canonici, 1. Bd., Sibenik 1940, S. 152.

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30 Jahren angesetzt.37 Ein ungewöhnlich niedriges Mindestalter, nämlich 24 Jahre, findet sich bei Charles Augustine Bachofen.38 Er orientiert sich dabei an den Dispensgründen für Ehehindernisse, näherhin dem des vorgerückten Alters der Braut („superadulta sponsa“), das nach kurialer Praxis bei Vollendung des 24. Lebensjahres vorliegt.39 Der c. 133 § 2 CIC/1917 hat im CIC/1983 und im CCEO keine Entsprechung.40 Die Bestimmung wurde schon zu Beginn der CIC-Reformarbeiten fallengelassen.41 Hinzu kommt, dass sich die Situation geändert hat: Zahlenmäßig nimmt die Anzahl der Pfarrhaushälterinnen ab, nicht nur bedingt durch den Rückgang der Priesterhaushalte, sondern auch dadurch, dass (verheiratete) Frauen als gering- oder teilzeitbeschäftigte Zugehfrauen nicht mehr im selben Haushalt wie der Priester leben.42 II. Teilkirchliche Regelungen zum Alter der Haushälterin Paul Hinschius gibt für die deutsche Praxis, wie zuvor schon Franz Schmalzgrueber43, 40 Jahre an.44 Frühe Beispiele für dieses Mindestalter sind die Prager Synode von 160545 sowie die Augsburger Synoden von 156746 und von 161047, während die

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Vgl. Erwin Gatz, Zur Kultur des priesterlichen Alltages, in: Erwin Gatz (Hrsg.), Der Diözesanklerus, Freiburg/Basel/Wien 1995 (Geschichte des kirchlichen Lebens in den deutschsprachigen Ländern seit dem Ende des 18. Jahrhunderts 4), S. 282 – 318, hier S. 296, Anm. 56; Otto Wimmer, Handbuch der Pfarrseelsorge und Pfarrverwaltung, Innsbruck/Wien/ München 1959, S. 187. 38 Vgl. Charles Augustine Bachofen, A Commentary on the new Code of Canon Law., 2. Bd., St. Louis 51928, S. 81. 39 Vgl. Michael Onofri, Aetas feminae superadulta, in: Dictionarium morale et canonicum, 1. Bd., Rom 1962, S. 147 f., hier S. 147; Hartmut Zapp, Kanonisches Eherecht, Freiburg 7 1988, S. 105, Anm. 24. 40 Vgl. Joachim Budin/Gerd Ludwig, Synopsis Corporis Iuris Canonici: Vergleichendes Normenregister der vier Gesetzbücher des katholischen Rechts, Regensburg 2001, S. 178. 41 Vgl. zum Schicksal des c. 133 § 2 CIC/1917 und zur Redaktionsgeschichte, die zum c. 277 CIC/1983 führte: Heinrich J. F. Reinhardt, Kommentar zu c. 277, in: MKCIC (Stand: November 1996), Rdnr. 8. 42 Vgl. Roland Girtler, Pfarrersköchinnen: Edle Frauen bei frommen Herren, Wien/Köln/ Weimar 2005, S. 285 – 287; Elisabeth Schillab/Heribert Hallermann, Pfarrhaushälterin, in: LKStKR II, S. 214 f., hier S. 214; Sohn-Kronthaler, Pfarrhaushälterinnen (Anm. 2), S. 254 f. 43 Vgl. Anm. 13. 44 Vgl. Paul Hinschius, Das Kirchenrecht der Katholiken und Protestanten in Deutschland. 1. Bd., Berlin 1869, Nachdr. Graz 1959, S. 132, Anm. 7. 45 Johann Friedrich Schannat/Joseph Hartzheim/Hermann Scholl (Hrsg.), Concilia Germaniae, 8. Bd., Köln 1769, Neudr. Aalen 1982, S. 670 – 763, hier S. 736. 46 Ebd. 7. Bd., Köln 1767, Neudr. Aalen 1982, S. 148 – 215, hier S. 183. 47 Vgl. Decreta Synodalia Dioecesis Augustanae anno MDCX promulgata notis additis noviter edita, Augsburg 1887, S. 69; Schannat/Hartzheim/Scholl, Concilia Germaniae (Anm. 45), 9. Bd., Köln 1771, Neudr. Aalen 1982, S. 22 – 91, hier S. 58.

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Salzburger Provinzialsynode 1569 noch 45 Jahre vorsah.48 Die Altersgrenze von 40 Jahren war auch außerhalb des deutschen Sprachraums (z. B. in Lateinamerika und Kanada) üblich.49 Teilkirchenrechtlich begegnet schon in der frühen Neuzeit die „aetas provecta“ im Zusammenhang mit den Hausangestellten.50 Es kommt auch vor, dass schlicht das Alter („aetas“51) ohne weiteren Zusatz als Kriterium genannt wird. Seit dem CIC/1917 gibt es eine deutliche Tendenz, das Mindestalter unter 40 Jahre abzusenken. Wenn konkrete Altersvorgaben erfolgen, werden teilkirchenrechtlich in der Regel runde oder halbrunde Jahreszahlen gewählt, beispielsweise 30 Jahre (z. B. Aachen52 1953, Köln53 1922, Köln54 1937, Köln55 1954, Mainz56 1957) oder 35 Jahre (z. B. Basel57 1931, Brixen58 1900; Limburg59 1951, Linz60 1928, Osnabrück61 1920, , Turin62 1873). Mancher teilkirchliche Gesetzgeber tat sich mit einer genauen Festlegung schwer: Die Salzburger Provinzialsynode 1906 forderte von der Haushälterin ein Alter von 40 Jahren, mindestens jedoch 35 Jahre oder doch ein fortgeschritteneres Alter.63 Selten sind ungerade Zahlenangaben wie 33 Jahre64 oder 36 Jahre65. 48

Schannat/Hartzheim/Scholl, Concilia Germaniae (Anm. 45), 7. Bd., Köln 1767, Neudr. Aalen 1982, S. 230 – 419, hier S. 307; Mansi XXXVI A, S. 115 – 326, hier S. 218. 49 Vgl. Acta et Decreta Concilii Plenarii Americae Latinae in Urbe celebrati anno Domini MDCCCXCIX. Rom 1900, S. 281; Guy Arbour, Le droit canonique particulier au Canada, Ottawa 1957, S. 29; Fernand Claeys-Bo¾¾aert, Des clercs (can. 108 – 486), in: Raoul Naz (Hrsg.), Trait¦ de droit canonique, 1. Bd., Paris 1946, S. 259 – 548, hier S. 297. 50 Z. B. Synode Trier 1678, in: Schannat/Hartzheim/Scholl, Concilia Germaniae (Anm. 45), 10. Bd., Köln 1775, Neudr. Aalen 1982, S. 57 – 83, hier S. 60. 51 Acta et Decreta Concilii Provinciae Pragensis anno Domini MDCCCLX, Prag 1863, S. 22. 52 Vgl. Diözesanstatuten des Bistums Aachen, Aachen 1959 (Erste Diözesansynode Aachen 2), S. 23. 53 Vgl. Diözesan-Synode des Erzbistums Köln 1922, Köln 1922, S. 30. 54 Vgl. Diözesan-Synode des Erzbistums Köln 1937, 28. und 29. April, Köln 1937, S. 52. 55 Vgl. Kölner Diözesan-Synode 1954, Köln 1954, S. 21. 56 Vgl. Diözesanstatuten des Bistums Mainz, Mainz 1957, S. 7. 57 Vgl. Constitutiones Synodales in Synodo dioecesana Solodori celebrata decretae et promulgatae, Solothurn 1931, S. 11. 58 Vgl. Synodus Brixinensis diebus 27. – 31. Augusti 1900 celebrata, Brixen 1900, S. 111. 59 Vgl. Diözesan-Synode Limburg 1951, Limburg 1952, S. 17. 60 Vgl. Zweite Linzer Diözesan-Synode (21. bis 28. August 1928), Linz 1929, S. 9. 61 Vgl. Osnabrücker Diözesansynode im Jahre 1920, III. Sammlung kirchenrechtlicher Bestimmungen mit besonderer Berücksichtigung des Partikularrechtes, Osnabrück 1925, S. 17. 62 Vgl. Constitutiones editae a Laurentio Gastaldi Archiepiscopi Taurinensi in sua prima synodo dioecesana anno MDCCCLXXIII, Turin 1873, S 110. 63 Vgl. Acta et Constitutiones Concilii Provinciae Salisburgensis anno Domini MCMVI celebrati, Salzburg 1910, S. 189: „quadraginta vel ad minimum triginta quinque annorum, ubi

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Einige teilkirchliche Rechtsquellen enthalten keine konkrete Altersvorgabe, sondern verweisen bezüglich der Anforderungen direkt oder indirekt auf den c. 133 § 2 CIC/191766 oder sprechen vom vorgerückten Alter67 bzw. von der „provectior aetas“68. Andere gehen auf das Alter nicht ein.69 In diesem Fall gelten c. 133 § 2 CIC/1917 sowie die Bestimmungen, die allgemein den Umgang mit dem anderen Geschlecht betreffen, z. B. „das taktvolle Benehmen und die nötige Distanz bei der Pastoration der Frauenwelt“70. Gemäß c. 133 § 3 CIC/1917, der dem Ortsordinarius ein Aufsichts- und Eingriffsrecht bezüglich des Zusammenwohnens mit weiblichen Personen überträgt, enthalten einige Synodentexte zusätzliche Bestimmungen, z. B. dass Ausnahmen vom Alter möglich sind, aber der Genehmigung durch die bischöfliche Behörde71 oder der ausdrücklichen Erlaubnis des Bischofs bedürfen72, oder dass die oberhirtliche Stelle streng verpflichtet ist, in diesem Punkt ein wachsames Auge zu haben.73 In anderen Bistümern ist eine Mitteilungspflicht des Geburtsdatums vorgesehen.74 lex dioecesana permittit, vel provectioris aetatis, ita ut absit omne periculum et scandalum et suspicio“. 64 Vgl. Jakob Lenz (Hrsg.), Sammlung kirchlicher Erlasse und Verordnungen für die Diözese Passau, Passau 1935, S. 36. 65 Vgl. Diözesan-Synode des Bistums Fulda 1924, Fulda 1927, S. 13. 66 Vgl. Diözesansynode der Erzdiözese Bamberg 1946, Bamberg 1947, S. 22, § 17: „Muss er eine Nichtverwandte zur Haushälterin nehmen, dann hat er die im Can. 133 § 2 gegebenen Vorschriften strengstens zu beachten.“ Diözesansynode Würzburg 1954, Würzburg 1955, S. 18: „Dem gewissenhaft nach den kirchlichen Bestimmungen auszuwählenden Hauspersonal“. 67 Vgl. Diözesan-Synode des Erzbistums München und Freising 1940, München 1941, S. 16. 68 Vgl. Salzburger Diözesan-Synode 1948, Salzburg 1950, S. 12; Acta et Statuta Synodi Bostoniensis septimae anno Domini MCMLII, Boston 1953, S. 30. – Die Salzburger Synode nennt zwar keine genaue Altergrenze, schärft aber zugleich eine strenge Überwachung ein: „Die kirchliche Stelle ist streng verpflichtet, über die Befolgung dieser Bestimmung ein wachsames Auge zu haben“ (S. 12). 69 Vgl. Diözesansynode des Bistums Trier 1920, Trier 1920, S. 114; vgl. ebd. S. 55. 70 Diözesansynode des Erzbistums Freiburg 1933, Freiburg 1934, S. 62. 71 Vgl. Diözesan-Synode Limburg 1951, Limburg 1952, S. 171. 72 Vgl. Osnabrücker Diözesansynode im Jahre 1920, III. Sammlung kirchenrechtlicher Bestimmungen mit besonderer Berücksichtigung des Partikularrechtes, Osnabrück 1925, S. 17. 73 Vgl. Diözesan-Synode des Erzbistums München und Freising 1940, München 1941, S. 16. 74 Vgl. Zweite Linzer Diözesan-Synode (21. bis 28. August 1928). Linz 1929, 9. – Ein Erlass des Bistums Passau vom 4. 3. 1931 verpflichtet Priester mit einem selbständigen Haushalt, „vor der Einstellung ihres weiblichen Haushaltspersonals Name, Alter, Geburtspfarrei und etwaiges Verwandtschaftsverhältnis der in den Haushalt zu nehmenden Personen an die oberhirtliche Stelle mitzuteilen“ (Lenz, Sammlung [Anm. 64], S. 35). – Die Diözesanstatuten des Bistums Mainz. Mainz 1957, S. 7 fordern vor der Einstellung eine rechtzeitige Mitteilung der Daten an das Ordinariat, „so dass eine Stellungnahme noch möglich ist“.

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Etwa zur Zeit des Vaticanum II geraten die Eignungsanforderungen für Haushälterinnen und damit auch die Altersbestimmung immer mehr aus dem Blick der teilkirchlichen Gesetzgebung. Beispielhaft sei die Römische Diözesansynode 1960 genannt; sie behandelt zwar knapp die Hausbewohner des Priesters („personae conviventes“)75, äußert sich aber nicht zum Alter der Haushälterin. So verfährt auch die Seckauer76 Diözesansynode 1960. Andere Diözesansynoden in diesem Zeitraum, z. B. Salzburg77 1958, St. Pölten78 1961 oder Salzburg79 1968, setzen andere Schwerpunkte80 und enthalten keine Bestimmungen zur Haushälterin. Faktisch wurden bestimmte Altersgrenzen eingehalten: Eine im Zusammenhang mit der Salzburger Diözesansynode 1968 durchgeführte Erhebung ergab, dass von 148 Priestern, die den Fragebogen bearbeiteten, 139 eine ständige Haushaltskraft beschäftigten: „Von diesen Haushaltskräften sind vier unter 30 Jahre, 36 über 60 Jahre alt, also im Rentenalter.“81 Wenn es in neueren Vorschriften Altersangaben gibt, sind sie an staatlichen Vorgaben orientiert. Für das Bistum Bozen-Brixen wird in Erinnerung gerufen, dass in Italien ein Arbeitsverhältnis erst mit vollendetem 15. Lebensjahr eingegangen werden dürfe; das gelte auch für den Haushalt.82 In der Literatur gibt es Hinweise, dass das Verbot der Anstellung zu junger Haushälterinnen oft nicht beachtet83 und in der Praxis nicht streng angewendet wurde.84 Es gibt aber auch offizielle Ausnahmen, denn einige teilkirchliche Bestimmungen zeigen Auswege von der Altersvorschrift auf: In Mainz waren jüngere Haushälterinnen

75 76 77 78 79

1971.

Vgl. Prima Romana Synodus A.D. MDCCCCLX, Vatikan 1960, S. 45. Vgl. Seckauer Diözesan-Synode 1960, Bericht und Statut, Graz 1960, bes. S. 241 – 243. Vgl. Salzburger Diözesan-Synode 1958, Salzburg 1960. Vgl. Diözesansynode St. Pölten 1961, St. Pölten 1962. Vgl. Salzburger Diözesansynode 1968, Offizieller Text der Synodendekrete, Salzburg

80 Vgl. Hans Paarhammer, Die Diözesansynoden 1948, 1958 und 1968, in: Ernst Hintermaier/Alfred Rinnerthaler/Hans Spatzenegger (Hrsg.), Erzbischof Andreas Rohracher: Wiederaufbau, Konzil, Salzburg 2010 (Schriftenreihe des Archivs der Erzdiözese Salzburg 9), S. 283 – 304, hier S. 289 – 303. 81 Hans Wildrich, Erneuerung der Erzdiözese Salzburg durch lebendige Christengemeinde: Bericht und Dokumentation über die Salzburger Diözesansynode 1968, Salzburg 1969, S. 193. 82 Vgl. Josef Michaeler, Eigenrecht der Diözese Bozen-Brixen 1964 – 2004, Bozen 2004, S. 189. 83 Vgl. William David Bowman, Frauen und geweihte Männer: Priester und ihre Haushälterinnen in der Erzdiözese Wien, 1800 – 1850, in: Edith Saurer (Hrsg.), Die Religion der Geschlechter: Historische Aspekte religiöser Mentalitäten, Wien/Köln/Weimar 1995 (Reihe zur feministischen Geschichtswissenschaft 1), S. 245 – 259, bes. S. 247. 84 Vgl. Hinschius, Kirchenrecht (Anm. 44), S. 132.

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gestattet, wenn auch Angehörige des Priesters im Haushalt leben85; man vertraute wohl auf die soziale Kontrolle durch die Verwandten des Priesters. Einen anderen Ausweg bietet die Salzburger Provinzialsynode 1906, die das Mindestalter von der eigentlichen Haushälterin86 („oeconoma primaria“) verlangt87, nicht von den übrigen Angestellten. Damals war es nicht ungewöhnlich, dass in einem Pfarrhof mehrere weibliche Angestellte beschäftigt waren.88 Die Linzer Synode 1928 sieht für die Wirtschafterin, die zumeist die anderen Dienstboten zu beaufsichtigen habe, ein Mindestalter von 35 Jahren vor, äußert sich aber nicht zum Alter der übrigen Pfarrhofbediensteten.89 Im Bistum Passau sind sie ausdrücklich von der Altersvorgabe ausgeschlossen.90 Die Aachener Diözesanstatuten 1959, die in ihrem Kern auf die Aachener Syonde 1953 zurückgehen, verlangen für die Haushälterin und andere Frauen, die in den Haushalt des Geistlichen aufgenommen werden, ein Alter von wenigstens 30 Jahren, nehmen aber Hausgehilfinnen ausdrücklich von dieser Bestimmung aus.91 Eine Besonderheit stellt ein Erlass des Freiburger Ordinariats vom 3. Juni 1853 dar, wonach für „Curaten“, die älter als 45 Jahre sind, bei einem Wechsel der Haushälterin die Genehmigung des Ordinariats entfällt.92 Der erzbischöfliche Erlass vom 8. Mai 1884 über die Disziplin des Klerus knüpft an diese Bestimmung an, „daß jeder Priester, der eine eigene Haushaltung beginnt, oder eine Haushälterin oder andere, weibliche Dienstperson bei sich aufnehmen will, sofern er das 45. Lebensjahr noch nicht vollendet hat, uns ein obrigkeitlich beglaubigtes Zeugniß über das Alter und die Sitten dieser Frauensperson vorzulegen und vor deren Aufnahme un-

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Vgl. Diözesanstatuten des Bistums Mainz, Mainz 1957, S. 7. Dies geht wohl auf die Institutiones Ecclesiasticae (Anm. 8) des (späteren) Papstes Benedikt XIV. zurück: „aliter tamen decernendum est, si cum Parocho etiam mulieres consanguineae versentur“ (S. 819, Nr. 82 ad 3); vgl. ebd., S. 829 (Nr. 83 ad 15). 86 Die Salzburger Diözesan-Synode 1937, die den Text der Provinzial-Synode von 1906 in deutscher Übersetzung zitiert, gibt „oeconoma primaria“ mit „eigentliche Wirtschäfterin“ wieder (Verordnungsblatt für die Erzdiözese Salzburg 31 [1935 – 1937], S. 207 – 250, hier S. 244). 87 Vgl. Acta et Constitutiones Concilii Provinciae Salisburgensis anno Domini MCMVI celebrati, Salzburg 1910, S. 189. 88 Vgl. Bowman, Frauen (Anm. 83), S. 247. 89 Vgl. Zweite Linzer Diözesan-Synode (21. bis 28. August 1928), Linz 1929, S. 9. 90 Vgl. Lenz, Sammlung (Anm. 64), S. 36: „Gegen die Einstellung von weiblichen Hilfskräften jüngeren Alters neben der eigentlichen Haushälterin, sofern sie sonst in ein geistliches Haus passen, will keine allgemeine Erinnerung erhoben werden.“ 91 Vgl. Diözesanstatuten des Bistums Aachen, Aachen 1959 (Erste Diözesansynode Aachen 2), S. 23. 92 Franz Heiner, Die kirchlichen Erlasse, Verordnungen und Bekanntmachungen der Erzdiözese Freiburg, Freiburg 1892, S. 124 – 126, hier S. 126. Vgl. Irmtraud Götz von Olenhusen, Klerus und abweichendes Verhalten, Göttingen 1994 (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 106), S. 184.

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sere desfallige Genehmigung anzusuchen hat“93. Etwa drei Jahre später, in der Instruktion für die Pfarr- und Kirchenvisitationen vom 2. August 1887, wird diese Altersgrenze aufgehoben, nämlich „daß alle Curaten, auch jene, welche über 45 Jahre alt sind, bei der Aufnahme und bei jedem Wechsel einer Haushälterin oder Köchin, die Personalien derselben unter Anlage des Taufscheines und eines pfarramtlichen Sittenzeugnisses beim Erzbischöflichen Ordinariate vorzulegen und die Genehmigung zur Aufnahme in ihre Dienste einzuholen haben“94. III. Begründungen für die Altersforderung Die Altersanforderung ist kein Selbstzweck; oft werden in der Literatur zwei Zielrichtungen genannt, nämlich dass Ärgernis oder Verdächtigungen gar nicht erst aufkommen und dass die Enthaltsamkeit des Priesters nicht in Gefahr gerät: „Um der Gefahr der Unenthaltsamkeit, der Erregung von Verdacht und Ärgernis vorzubeugen, dürfen Kleriker nicht Frauenspersonen, gegen welche (z. B. wegen ihrer Vergangenheit, Jugend, körperlichen Reize usw.) Verdacht rege werden könnte, bei sich haben“95. Denn ein mehr oder minder begründeter Verdacht beim Umgang des Seelsorgers mit Frauen wäre, wie es der Pastoraltheologe ausdrückt, „ein wahrer Todesstoß für sein ganzes Wirken“96. Daher war der Beruf der Pfarrhaushälterin mit hohen moralischen Anforderungen verbunden.97 Gerade junge Haushälterinnen boten eine Angriffsfläche, um Seelsorger und Kirche zu diskreditieren; auch griffen satirische Zeitschriften von Zeit zu Zeit dieses Thema auf:98

93

Heiner, Die kirchlichen Erlasse (Anm. 92), S. 130 f., hier S. 131. Ebd., S. 319 – 338, hier S. 334; weiter heißt es, der Visitator habe sich das Alter sämtlicher im Pfarrhause dienenden Frauenspersonen angeben zu lassen. 95 Eichmann, Lehrbuch (Anm. 30), S. 91. Mörsdorf Lb. I11, S. 263 f., hat die Passage mit geringfügigen Änderungen übernommen. – Vgl. Heiner, Katholisches Kirchenrecht (Anm. 16), S. 211; Arthur Vermeersch/Joseph Creusen, Epitome iuris canonici cum commentariis, 1. Bd., Mecheln/Rom 81963, S. 255. 96 Andreas Gassner, Pastoral. Bearbeitet für angehende und wirkliche Seelsorger, Salzburg 1881, S. 65; vgl. Ignaz Schüch, Handbuch der Pastoraltheologie, Innsbruck 71885, S. 22. 97 Vgl. Sohn-Kronthaler, Pfarrhaushälterinnen (Anm. 2), S. 243. 98 Vgl. Friedhelm Jürgensmeier, Die katholische Kirche im Spiegel der Karikatur der deutschen satirischen Tendenzzeitschriften von 1848 bis 1900, Trier 1969, S. 112 f. – Das Beispiel ist der im Internet durch die Universitätsbibliothek Heidelberg digitalisierten Ausgabe (http://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/kla1853/0188) der Zeitschrift Kladderadatsch. Humoristisch-satyrisches Wochenblatt, VI. Jahrgang (Nr. 47 vom 9. 10. 1853, S. 188 – G 5442 – 3Folio) entnommen. Die Bildunterschriften lauten: „Wie sie nach der Beschreibung aussieht – Wie sie in natura ist“. 94

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Es ging aber nicht nur um Äußerlichkeiten, vielmehr sehen einige Dokumente das Mindestalter als Garant für eine entsprechende Reife.99 – Dass älteren Menschen „häufig negative Eigenschaften wie geringere Leistungsfähigkeit, schwindende Belastbarkeit und mangelnde Flexibilität sowie ein erhöhtes Krankheitsrisiko zugeschrieben“ werden100, trat für die kirchliche Gesetzgebung in den Hintergrund; sie hatte eine andere Alterserscheinung im Blick. Denn zunehmendes Alter stand für nachlassende bzw. mangelnde körperliche Attraktivität, besonders bei Frauen.101 So warnt ein Regensburger Erlass vom 13. Mai 1771, „gar zu junge und wohlgestal99 Vgl. Diözesanstatuten des Bistums Mainz, Mainz 1957, S. 7: „Bei der Wahl der Haushälterin muss der Priester auf eine entsprechende Reife (u. a. Mindestalter 30 Jahre …) achten.“ Das Wiener Provinzialkonzil 1858 fordert: „Ancillae, quibus ad res domesticas procurandas indiget, maturioris sint aetatis“ (Acta et Decreta Concilii Provinciae Viennensis anno Domini MDCCCLVIII, Wien 1859, S. 145). – Zur Gegenüberstellung von Vernunft des Alters und Unreife der Jugend vgl. Gunther Hirschfelder, Bilder vom Alter: Bewertungsmuster und soziale Realität des Alters von der Vormoderne bis zur Gegenwart, in: Rheinisch-westfälische Zeitschrift für Volkskunde 52 (2007), S. 15 – 32, hier S. 23. 100 König, Verbot (Anm. 25), S. 342. 101 Vgl. Daniel Schäfer, Alter und Krankheit in der Frühen Neuzeit: Der ärztliche Blick auf die letzte Lebensphase. Frankfurt a.M./New York 2004 (Kultur der Medizin 10), S. 267, 269 f.; Rudolf Schenda, Häßliche Alte – lüsterne Greise? Bilder der Dritten Generation in Märchen, Sagen, Sprichwörtern, in: Richard Boeckler/Klaus Dirschauer (Hrsg.), Emanzipiertes Alter, Göttingen 1990, S. 149 – 165, bes. S. 150 – 153; Irmela von der Lühe, Der „verliebte Alte“ und die „unwürdige Greisin“: Figuren und Karikaturen des Alters in der Literaturgeschichte, in: Rainer Kampling/Anja Middelbeck-Varwick (Hrsg.), Alter – Blicke auf das Bevorstehende, Frankfurt a.M. u. a. 2009 (Apeliotes – Studien zur Kulturgeschichte und Religion 4), S. 119 – 132.

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te“ oder „schon zum Fall gebrachte Häuserinnen“ könnten zu allerhand Anstößigkeiten führen.102 Demgegenüber hat sich inzwischen in der (medialen) Öffentlichkeit ein Bild vom aktiven, lebensbejahenden und vitalen Alten entwickelt103 ; das gilt auch für den sexuellen Bereich.104 Bemerkenswert ist die Begründung Reiffenstuels für das Alter der Haushälterin; er nimmt sein Argument nicht aus dem Titel des Liber Extra, der dem Zusammenleben von Klerikern und Frauen gewidmet ist (X 3,2: „De cohabitatione clericorum et mulierum“), sondern aus dem Titel über die Rechtsvermutungen (X 2,23: „De praesumptionibus“). Dort heißt es im 15. Kapitel, dass die Vermutung dafür spricht, dass derjenige, der in der Jugend105 enthaltsam war, dies auch im Alter ist, besonders wenn er gebildet ist.106 In der frühen Neuzeit, also zur Zeit Reiffenstuels, wurde die nachlassende Sexualität älterer Menschen, unter anderem im Hinblick auf deren Ehefähigkeit, diskutiert.107 Die Begründung Reiffenstuels108 wirkt in den Freiburger Regelungen von 1853 und 1884 nach, die für Priester über 45 Jahre die Kontrolle der Einstellungsvoraussetzungen für die Haushälterin aufgehoben hatten. Bei fortschreitendem Alter wird die Zunahme von Lebensweisheit und Spiritualität angenommen.109 Als Begründung wird offiziell nicht genannt, dass ab einem bestimmten Alter die Fruchtbarkeit (Fertilität) der Frau abnimmt bzw. ausgeschlossen ist. In der frühen Neuzeit wurde, der antiken und mittelalterlichen Tradition (u. a. Aristoteles, Plinius, Isidor von Sevilla) folgend, bezüglich der Frauen spätestens mit Ende des siebten Jahrsiebts, also mit 49 bzw. 50 Jahren, ein Aufhören der Menstruation und damit

102 Joseph Lipf, Oberhirtliche Verordnungen und allgemeine Erlasse für das Bisthum Regensburg, vom Jahre 1250 – 1852, Regensburg 1853, S. 144. 103 Vgl. Daniel Drascek, „Ich werde 100 Jahre alt“: Zum stereotypisierten Bild des alten Menschen in einer medial vermittelten Erzählkultur der Gegenwart, in: ders./Irene Götz/ Tomislav Helebrant/Christoph Köck/Burkhart Lauterbach (Hrsg.), Erzählen über Orte und Zeiten: Eine Festschrift für Helge Gerndt und Klaus Roth, Münster/New York/München/ Berlin 1999 (Münchner Beiträge zur Volkskunde 24), S. 13 – 34, bes. S. 29 – 34. 104 Vgl. Albert Mock, Heiraten im Alter. Psychologische und theologische Reflexionen über Alters-Ehen, in: Festg. Rößler, S. 475 – 485, bes. S. 482. 105 Das mit „iuventus“ benannte Lebensalter erstreckte sich nach Isidor von Sevilla (Etymologiae 11,2) bis zum 49. Lebensjahr. 106 Vgl. X 2,23,15: „Non praesumitur incontinens in senectute, qui in iuventute continuit, maxime si est literatus.“ 107 Vgl. Schäfer, Alter (Anm. 101), S. 198. 108 Vgl. oben unter Punkt I.1. 109 Vgl. Alois Wolkinger, „Schon so alt und noch kein bißchen weise?“ Bemerkungen zur Spiritualität des Alterns, in: Stephan Haering/Josef Kandler/Raimund Sagmeister (Hrsg.), Gnade und Recht: Beiträge aus Ethik, Moraltheologie und Kirchenrecht (Festschrift Gerhard Holotik z. Vollendung d. 60. Lj.), Frankfurt a.M. u. a. 1999, S. 273 – 290, bes. S. 276 – 290; Georg Langemeyer, „Auch wenn ich alt und grau bin, verlaß mich nicht!“ (Ps 71,18). Zur theologischen Sinndeutung der Altersphase des menschlichen Lebens, in: Festg. Heinemann (70), S. 211 – 223, bes. S. 220 – 223.

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das Ende der Zeugungsfähigkeit angenommen.110 Dies mag das bisweilen genannte Mindestalter von 50 Jahren für Haushälterinnen erklären, wenngleich die Unfruchtbarkeit in der Gesetzgebung und in der kanonistischen Literatur nicht als Begründung genannt wird, wenn dieses Alter gefordert wird. Andererseits wird die Verbindung „aetas provecta“ auch in der frühneuzeitlichen Medizin verwendet, um die Menopause zu kennzeichnen. Beispielsweise findet sich in einer medizinischen Bibliographie der Hinweis auf ein Werk aus dem Jahr 1672, das den Begriff der „atetas provecta“ der Frau im Zusammenhang mit der Fertilität verwendet.111 IV. Der nicht vergleichende Komparativ Da es bei der Einstellung einer Haushälterin um die Abwägung in einem Einzelfall geht, war gesamtkirchlich ein unbestimmter Rechtsbegriff für deren Alter angemessen, der einen Beurteilungsspielraum eröffnet. In c. 133 § 2 CIC/1917, aber auch in älteren Rechtsquellen, begegnet meist nicht die Grundstufe (Positiv) „provectus“, sondern die Vergleichsstufe (Komparativ) „provectior“. Es handelt sich jedoch nicht um einen echten Komparativ, denn es geht nicht um den Vergleich zweier Altersangaben. Vielmehr wird der Komparativ hier nicht vergleichend gebraucht; er verstärkt nicht den Positiv („aetas provecta“), sondern schwächt ihn ab. Der nicht vergleichende Komparativ wird beispielsweise für Höflichkeitsformen verwendet (vgl. z. B. im Deutschen: ältere Dame, älterer Herr). In der kirchlichen Rechtssprache kommt sowohl der vergleichende als auch der nicht vergleichende Komparativ vor. Ein Beispiel für den vergleichenden Komparativ ist die kürzere oder längere („brevior aut longior“) Gesetzesschwebe, die sich als Vergleichswert auf die in c. 8 § 1 CIC/1983 genannten drei Monate bezieht. Ein nicht vergleichender Komparativ begegnet in c. 1425 § 2 CIC/1983, wonach der Bischof schwierigere („difficiliores“) oder bedeutendere Prozesse einem Kollegium von drei oder fünf Richtern übertragen kann; hier fehlt ein Vergleichswert. Das Wort „provectus“ kommt im CIC/1917 nur im Komparativ „provectior“ vor, und zwar zweimal112 ; im CIC/1983 begegnet es nur an einer Stelle.113 Neben c. 133 § 2 CIC/1917 ist auch in c. 504 CIC/1917 das Adjektiv „provectus“ im Komparativ mit dem Alter verknüpft. Im Unterschied zu c. 133 § 2 CIC/1917 handelt es sich hier um einen (echten) vergleichenden Komparativ: Im Ordensrecht wird für das Amt hö110 Vgl. Schäfer, Alter (Anm. 101), S. 199, 271. Teilweise wurde das menstruale Blut als Gift gewertet, „das sich bei fehlender Ausscheidung im Körper sammle und Frauen nach der Menopause zu ,giftigen WesenÐ mache“ (S. 270). 111 Vgl. Wilhelm Gottfried Ploucquet, Literatura medica digesta sive repertorium medicinae practicae, chirurgicae atque rei obstetriciae. 2. Bd., Tübingen 1808, S. 181 (s.v. fecunditas): „an mulier aetate provecta, cui menstrua dudum defecerunt, gravidari potest? Paris 1672“. 112 Vgl. Arthur Lauer, Index verborum Codicis Iuris Canonici, Vatikanstadt 1941, S. 496. 113 Vgl. Xaverius Ochoa, Index verborum ac locutionum Codicis Iuris Canonici, Vatikanstadt 21984, S. 388.

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herer Oberer ein bestimmtes Alter vorgeschrieben, wobei die Ordenskonstitutionen ein höheres Alter (vgl. c. 504 CIC/1917: „provectiorem aetatem“) verlangen können. Die Verknüpfung mit dem Alter findet sich auch in c. 1031 § 3 CIC/1983, der den Bischofskonferenzen die Möglichkeit eröffnet, ein höheres Mindestalter für die Weihe zum Priester oder zum ständigen Diakon zu verlangen (echter Komparativ). In den Bestimmungen des CIC/1983 über die Ausbildung der Kleriker wird an zwei Stellen die Formulierung „maturioris aetatis viri“ (Männer reiferen Alters; cc. 233 § 2 und 236 n. 2) verwendet. Die Höflichkeitsfunktion des unechten Komparativs zeigt sich auch in der offiziellen deutschen Übersetzung des CIC/1983, wenn der Positiv „aetate provectus“ mit dem freundlicher klingenden „ältere Leute“ (c. 919 § 3) oder „ältere Priester“ (c. 930 § 1) – statt wörtlich „alte Leute“ oder „alte Priester“ – wiedergegeben wird. Angemerkt sei, dass der CIC/1983 das Adjektiv „vetus“ nicht zur Bezeichnung des Alters von Personen, sondern nur für Sachen benutzt.114 Die Altersangabe „provectior aetas“ begegnet schon in antiken115 und mittelalterlichen Texten116. Bei den Vorschriften über das Alter der Haushälterinnen besteht eine Präferenz für das Adjektiv „provectus“, doch begegnen auch andere Adjektive, die ältere oder nicht jüngere Personen bezeichnen, wobei oft ebenfalls der (höfliche) Komparativ gebraucht wird, z. B. (negativ) „ne feminas iuniores“117 oder (positiv) „ancillae maturioris aetatis“118. Im Deutschen wird der Komparativ „provectior“ des c. 133 § 2 CIC/1917 teils wiedergegeben: „vorgerückteres Alter“119, „höheres Alter“120, „ältere Frauen“121, „ältere Personen“122, „ältere weibliche Personen“123, teils durch ein Adjektiv im Positiv – „gesetztes Alter“124, „fortgeschrittenes Alter“125, „vorgerücktes Alter“126 –,

114 Vgl. Ochoa, Index verborum (Anm. 113), S. 524: c. 6 § 2 (Recht), c. 847 § 1 (Öl) und c. 939 (Hostie). 115 Vgl. Aegidius Forcellini, Totius latinitatis lexicon, 3. Bd., Schneeberg 1833, S. 535. 116 Vgl. Paul Hofmeister, Puer, Iuvenis, Senex. Zum Verständnis der mittelalterlichen Altersbezeichnungen, in: Albert Brackmann (Hrsg.), Papsttum und Kaisertum. Forschungen zur politischen Geschichte und Geisteskultur des Mittelalters, Paul Kehr zum 65. Geburtstag dargebracht, München 1926, Nachdr. Aalen 1973, S. 287 – 316, bes. S. 314 f. 117 Vgl. Instructio pastoralis Eystettensis, Eichstätt 1871, S. 391. 118 Vgl. Acta et Decreta Concilii Provinciae Viennensis anno Domini MDCCCLVIII, Wien 1859, S. 145. 119 Vgl. Mörsdorf Lb I (1964), S. 264. 120 Vgl. Jone, Gesetzbuch (Anm. 27), S. 161; Heinrich J. F. Reinhardt, Kommentar zu c. 277, in: MK CIC (Stand: November 1996), Rdnr. 7. 121 Vgl. Retzbach, Recht (Anm. 33), S. 34. 122 Vgl Timotheus Schäfer, Pfarrer und Pfarrvikare nach dem Codex Iuris Canonici, Münster 1922, S. 90. 123 Vgl. Perathoner, Das kirchliche Gesetzbuch (Anm. 35), S. 48. 124 Vgl. Mosiek, Verfassungsrecht (Anm. 24), S. 254. 125 Vgl. Schilllab/Hallermann, Pfarrhaushälterin (Anm. 42), S. 215.

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oder ein substantiviertes Adjektiv – „Bejahrte“127 – ersetzt. Von diesen unterschiedlichen Übersetzungen ist auch im Deutschen der Komparativ die höflichste. Daher verwenden auch andere Formulierungen gern diese Steigerungsform, zum Beispiel: Der Kleriker habe, wenn er keine nahen Verwandten bei sich habe, „wenigstens jüngere Frauenspersonen von seinem Dienst fernzuhalten“128. V. Zusammenfassung Da nicht immer genügend nahe Blutsverwandte für die Führung des priesterlichen Haushalts zur Verfügung standen, wurde kirchenrechtlich gestattet, andere unverdächtige Frauen einzustellen. Deren fortgeschritteneres Alter sollte nicht nur die Gefahr der Unenthaltsamkeit verringern, sondern auch jeglichen Verdacht eines Konkubinats unterbinden (III.). Die Herkunft der Formulierung „provectior aetas“ erschließt sich nicht aus den offiziell zu c. 133 § 2 CIC/1917 genannten Quellen (I.1.). Sie ist aber seit der frühen Neuzeit geläufig und fand Eingang in den CIC/ 1917 (I.2.). Dieser unbestimmte Rechtsbegriff, dazu gedacht, dem teilkirchlichen Gesetzgeber bzw. dem einstellenden Priester einen Beurteilungsspielraum einzuräumen, begegnet häufig als nicht vergleichender Komparativ „provectior“, der grammatikalisch eine besondere Höflichkeit signalisiert (IV.). In der Kanonistik und im Teilkirchenrecht gibt es etwa seit Inkrafttreten des CIC/ 1917 die Tendenz, das bis dahin vorherrschende Mindestalter von 40 Jahren abzusenken (II.). Die Bedeutung, die man dem Alter der Haushälterin beimaß und die sich unter anderem im geprägten Begriff „aetas canonica“ für dieses Alter zeigte (I.1.), ging ungefähr seit der Zeit des Vaticanum II zurück; entsprechende Altersvorgaben finden sich weder im CIC/1983 noch im zeitgenössischen Teilkirchenrecht (I.2.; II.). Somit entgeht man auch möglichen Konflikten mit staatlichen Bestimmungen gegen die Diskriminierung aufgrund des Lebensalters.

126 Vgl. Godehard Josef Ebers, Grundriß des Katholischen Kirchenrechts. Rechtsgeschichte und System, Wien 1950, S. 270; Martin Leitner, Handbuch des katholischen Kirchenrechts auf Grund des neuen Kodex, Regensburg/Rom 1918, S. 235. 127 Vgl. Arnold Pöschl, Kurzgefasstes Lehrbuch des katholischen Kirchenrechts aufgrund des neuen kirchlichen Gesetzbuches, Graz 31931, S. 113. 128 Vgl. Hergenröther/Hollweck, Lehrbuch (Anm. 17), S. 250, Anm. 4.

Der (Laien-)Dienst des Lektors und Akolythen (c. 230 CIC/1983) als besondere Ausgestaltung des allgemeinen Priestertums Bestandsaufnahme – Fragen – Perspektiven Von Peter Boekholt Bei der Pressekonferenz am 11. November 2010 anlässlich der Vorstellung des postsynodalen Schreibens Papst Benedikts XVI. Verbum Domini1 ließ Kardinal Marc Ouellet, Präfekt der Kongregation für die Bischöfe, unter anderem mit der Bemerkung aufhorchen, dass der Heilige Vater den „Vorschlag der Synodenväter, ,den Dienst des Lektors auch für Frauen zu öffnenÐ, aufmerksam prüft“2. In vielen Medien wurde diese kurze Bemerkung als die zusammenfassende Schlagzeile der Pressekonferenz aufgenommen. Steht hier nun eine Revolution des Amtsverständnisses innerhalb der katholischen Kirche bevor, wie es die einen wohl wünschen, die anderen dagegen eher befürchten? Manche sehen darin nun auch wieder die Diskussion um den Diakonat der Frau eröffnet, während andere betonen, dass es sich hierbei lediglich um ein liturgisches Dienstamt kraft Beauftragung, nicht um ein Weiheamt handelt, zu dem Frauen kirchenamtlich eingesetzt werden könnten.3 Damit ist wiederum die Frage nach dem Verständnis von Amt aufgeworfen, die wohl sehr unglücklich beantwortet wird, wenn man ihr „nur“ den Dienst als diminuitives Pendant gegenübersetzt. Schaut man sich den entsprechenden Passus im Nachsynodalen Schreiben aus der Feder Benedikts XVI. direkt an, dann können entsprechende Euphorien in jede Richtung gedeutet werden, denn dort heißt es erstmals lapidar: „Bekanntlich wird das Evangelium vom Priester oder vom Diakon verkündet, die Erste und Zweite Lesung hingegen in der lateinischen Tradition vom damit beauftragten Lektor, einem Mann oder einer Frau.“4 Was hier auffällt ist die Tatsache, dass Benedikt XVI. diese Tatsache eben als Tatsache formuliert und nicht als Anstoß, Auftrag oder erst noch zu bedenkende Sache. Zum Lektorendienst wird noch hinzugefügt, dass diese Aufgabe 1

Nachsynodales Apostolisches Schreiben Verbum Domini von Papst Benedikt XVI. über das Wort Gottes im Leben und in der Sendung der Kirche, 30. September 2010 (VApSt 187). 2 „LÏauspicio dei Padri sinodali che Ðil ministero del lettorato sia aperto anche alle donneÏ À stato quindi preso in considerazione e il Santo Padre sta studiando attentamente la questione.“ (http://www.vatican.va/roman_curia/synod/documents/rc_synod_doc_20101111_ouellet-verbum-domini_it.html vom 21. 6. 2011; eigene Übers.). 3 So der Artikel des Internetnachrichtendienstes Zenit: http://www.zenit.org/article16274?l=german. 4 Verbum Domini (Anm. 1), S. 58.

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(munus) „als solcher im lateinischen Ritus ein Laiendienst (ministerium laicale) ist“5. Damit folgt der Heilige Vater dem Vorschlag der Synodenväter in der Nr. 17 der Propositiones mit dem Titel Der Dienst am Wort und die Frauen, in der es heißt: „Die Synodenväter ermutigen und würdigen den Dienst der Laien in der Vermittlung des Glaubens.“ Insbesondere Frauen spielen eine besonders wichtige und unersetzliche Rolle in der Familie und Katechese. In der Tat, sie sorgen für das Hören des Wortes, die persönliche Beziehung zu Gott, und vermitteln ein Gefühl für die Vergebung und die gemeinsame Umsetzung des Evangeliums, so die jüngste Synode in ihrer Würdigung der Frau als Verkünderin des Wortes: „Es ist zu hoffen, dass dieser Dienst des Lektorates sich auch für Frauen öffnen möge, so dass in der christlichen Gemeinschaft ihre Rolle als Vorbotin des Wortes anerkannt werde.“6 Im Kontext der Ausführungen Papst Benedikts XVI., die auch Ausdruck der Mehrheit der Synodenväter sind und damit in gewisser Weise auch die vox populi repräsentieren, lohnt es sich, wieder neu auf diese (liturgischen) Laiendienste zu blicken und ihren kirchenrechtlichen Rahmen auf die pastorale Valenz zu untersuchen. In Deutschland gehören Frauen, die die Lesung vortragen, zum selbstverständlichen Erscheinungsbild der Gemeindegottesdienste. Doch Selbstverständlichkeiten können manchmal dazu verleiten, dass der einer Sache innere Wert in den Hintergrund gerät und zur Routine wird und das Gemeinte eben nicht mehr aus sich selbst-verständlich ist. Insofern kann die Formulierung dieser Selbstverständlichkeit durch Papst Benedikt XVI. durchaus als Impuls zur Reflexion gelten, die dem wertvollen Einsatz unzähliger haupt- und ehrenamtlicher Frauen und Männer (den sog. „Laien“) geschuldet ist. Wir wollen zuerst eine kirchenrechtlich-pastorale Bestandsaufnahme vornehmen, die natürlich auch einige Fragen aufwerfen wird, um dann nur umrisshaft mögliche Perspektiven in einer pastoral herausfordernden Situation zu skizzieren. I. Lektor und Akolyth als ministeria laicalia Der CIC handelt von den genannten Diensten im II. Buch über das Volk Gottes, innerhalb des Abschnitts über die Pflichten und Rechte der Laien. Damit wird deutlich, dass sie wirklich ministeria sind und nicht mehr zu den Weihestufen vor der Diakonatsweihe (vgl. c. 949 CIC/1917) gezählt werden. Der zentrale Kanon 230 lautet: „Männliche Laien (viri laici), die das Alter und die Begabung haben, die durch Dekret der Bischofskonferenz dafür bestimmt sind, können durch den vorgeschriebenen liturgischen Ritus für die Dienste des Lektors und des Akolythen (ad ministeria lectoris et acolythi) auf Dauer (stabilitas) bestellt werden; die Übertragung dieser Dienste gewährt ihnen jedoch nicht das Recht auf Unterhalt und Vergütung von seiten der Kirche“ (c. 230 § 1). Dieser erste Teil spricht also von Beauftragung „auf Dauer“, die 5

Ebd. Propositiones, Nr. 17 (zit. nach: http://www.zenit.org/article-16274?l=german vom 21. 6. 2011). 6

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in dieser Form nur Männern (viri laici) erteilt werden kann. Frauen können diesen Dienst auf Dauer nicht ausüben, sondern nur den Lektorendienst, allerdings innerhalb einer zeitlichen Begrenzung: „Laien können aufgrund einer zeitlich begrenzten Beauftragung (ex temporanea deputatione) bei liturgischen Handlungen die Aufgabe (munus) des Lektors erfüllen; ebenso können alle Laien die Aufgaben des Kommentators, des Kantors oder andere Aufgaben nach Maßgabe des Rechts wahrnehmen“ (c. 230 § 2). Die liturgischen Laiendienste, die von allen nach Maßgabe des Rechts ausgeführt werden können, umfassen gemäß dem II. Vatikanum auch „die Ministranten, Lektoren, Kommentatoren und die Mitglieder der Kirchenchöre“, die einen „wahrhaft liturgischen Dienst“ (SC 29) vollziehen. 1. Der Dienst des Lektors Die Grundordnung des Römischen Messbuchs (GORM)7 umschreibt den Aufgabenbereich des Lektors folgendermaßen: „Der Lektor wird beauftragt, die Lesungen aus der Heiligen Schrift vorzutragen, mit Ausnahme des Evangeliums. Er kann auch die Anliegen des Allgemeinen Gebetes und, falls kein Psalmsänger da ist, den Psalm zwischen den Lesungen vortragen (GORM, Nr. 99).“ Dabei ist der munus des Lektors ein eigenständiger Dienst innerhalb der Liturgie, den er als solchen auch dann ausüben soll, wenn Mitwirkende höherer Weihegrade anwesend sind. Den liturgischen Rahmen regeln die Nummern 194 – 198 der GORM. Die Ausübung der jeweiligen Aufgaben entsprechend dem Stande bringt so die ekklesiologische Dimension der Liturgie als öffentliche Feier der Kirche zum Ausdruck. Diese Wahrnehmung der jeweiligen Beauftragung für die ihnen spezifischen Dienste ist also integrierender Bestandteil der vom Konzil geforderten participatio actuosa.8 Der Lektor kann bei Abwesenheit eines Diakons gewisse Aufgaben übernehmen (vgl. GORM, Nrn. 194.197) und auch noch andere Dienste verrichten, wenn die Zuständigen fehlen: das Singen des Antwortpsalms bei Fehlen eines Kantors (GORM, Nr. 196), das Vortragen der Fürbitten bei Fehlen des Diakons (GORM, Nr. 197) sowie den Vortrag der Antiphonen, wenn diese nicht durch die Begleitgesänge der Einzugs- sowie Kommunionprozession ersetzt werden, bei Fehlen einer Schola. „So sehr es verständlich ist, dass der Lektor sich um dieses kümmert, so wenig ist es doch angebracht, dass ihm diese Aufgaben auch übertragen werden, denn damit erfolgt wieder eine gewisse Vermischung der Aufgaben, die ihrer Natur nach doch verschieden sind, wie auch Beeinträchtigung der pastoral wichtigen Funktionsteilung im Gottesdienst, die zum Ziel hat, dass jeder nur das und all das tun soll, was ihm aus der Natur der Sache zukommt.“9 So soll nicht das Bewusstsein entstehen, der Dienst des Lektors wäre 7

Grundordnung des Römischen Messbuchs. Editio typica tertia 2002 (Arbeitshilfen 215). Vgl. VatII SC 26 u. 28; GORM, S. 91 ff. 9 Peter Boekholt, Eucharistie. Geheimnis des Lebens in der Gemeinde. Aktuelle Fragen der pastoralen Praxis, Rom 1982, S. 46; vgl. auch ders., Der Laie in der Kirche. Seine Rechte und Pflichten im neuen Kirchenrecht, Kevelaer 1984, S. 77 ff.; ders., Sendung durch Taufe und Firmung. Rechte und Pflichten der Christgläubigen in der Diözese, in: Rechtskultur in der 8

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der eines „Ersatzspielers“, der wieder zurück auf die Bank muss, wenn der dafür Zuständige anwesend ist. Seinen Platz nimmt der Lektor innerhalb der anderen liturgischen Dienste vornehmlich im Presbyterium seiner Aufgabe entsprechend ein. Der Liturgiewissenschaftler Michael Kunzler plädiert für diese Stellung der Laienhelfer im Chorraum und spricht von einer „Ästhetik des Miteinanders“10, in welcher die gemeinsame Feier der Eucharistie zum Ausdruck kommt. „Ist der Priester im Altarraum von Laienhelfern umgeben, dann ist die ,Klerikalisierung von untenÐ abgewendet, es wird deutlich, dass auch der Priester als Glaubender trotz seines Dienstes, den er im Gegenüber zur Gemeinde an diesen versieht, zu dieser Gemeinschaft der Glaubenden gehört, dass er auch durch ihren Glauben und ihre Fürbitte getragen wird.“11 Wenn in der Liturgie das Bewusstsein für eine tätige Teilnahme in Gemeinschaft reift, dann ist die Gefahr einer einseitigen Klerikalisierung gering. Die Ausführung der dem jeweiligen Stande entsprechenden Aufgaben dient dem Aufbau des einen Leibes Christi, der in seinen Gliedern wirkt. So ist das allgemeine Priestertum die Grundlage, auf der alle Getauften und Gefirmten „auf ihre Weise des priesterlichen, prophetischen und königlichen Amtes Christi teilhaft geworden sind; sie sind gemäß ihrer je eigenen Stellung zur Ausübung der Sendung berufen, die Gott der Kirche zur Erfüllung in der Welt anvertraut hat“ (c. 204 CIC/1983). Von Seiten der Liturgiewissenschaft plädiert Kunzler für eine wechselseitige Wahrnehmung der jeweiligen Funktionen innerhalb des Gottesdienstes: einerseits muss die spezifische Vorsteherrolle des Priesters zum Ausdruck kommen, andererseits sollen die Laien auch ihre spezifischen Aufgaben wahrnehmen, sei es durch die liturgischen Laiendienste (die ihren Platz eben im Chorraum haben) oder durch die Beteiligung der ganzen Gemeinde zu den adäquaten Anlässen (etwa eine feierliche Gabenprozession).12 So wird eben einerseits deutlich, dass alle beteiligt sind und andererseits wird vermieden, dass das Engagement innerhalb der berufenen Laiendienste, die sich während des Gottesdienstes im Presbyterium aufhalten, als ein Sich-Profilieren-Wollen kritisiert wird. „Eine Gemeinde, die verstanden hat, warum jetzt im Gegensatz zu früher zusammen mit dem Pfarrer Männer und Frauen aus ihrem Bekanntenkreis da vorne stehen und Liturgie feiern, wird sich an dieser Ästhetik erfreuen, kommt doch in dem sich darbietenden Bild nicht weniger als die Möglichkeit zum Ausdruck, dass man selbst, wenn man nur will, mitmachen kann. Je mehr Männer und Frauen sich zu diesem Dienst bereitfinden, desto mehr wird der Gottesdienst zur ureigenen Sache der Gemeinde, die ihn mit dem Pfarrer sorgsam vorbereitet und mit viel Liebe und Freude feiert. Von Klerikalismus – von unten wie von oben – bleibt da kein Jota übrig.“13 Diözese. Grundlagen und Perspektiven, hrsg. v. Ilona Riedel-Spangenberger, Freiburg/ Br. 2006 (QD 219), S. 50 – 71. 10 Michael Kunzler, Berufen, dir zu dienen. 15 ,LektionenÐ Liturgik für Laienhelfer im Gottesdienst, Paderborn 1989, S. 59. 11 Ebd., S. 58. 12 Vgl. ebd., S. 59. 13 Ebd.

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2. Der Dienst des Akolythen Steht für den Lektor noch der Dienst am Wort im Mittelpunkt, so ist es für den Akolythen der Dienst am Altar: „Der Akolyth wird beauftragt, am Altar zu dienen und dem Priester und dem Diakon behilflich zu sein. Seine Hauptaufgabe ist es, den Altar und die sakralen Gefäße zu bereiten sowie, wenn es notwendig ist, als außerordentlicher Spender den Gläubigen die Eucharistie zu reichen“ (GORM 98). Hauptsächliche Aufgabe des Akolythen ist es also, den Diakon und den Priester zu unterstützen. Seine weiteren Aufgaben werden in den Nrn. 187 – 193 der GORM aufgeführt. So soll der Akolyth das Vortragekreuz tragen (Nr. 188), dem Vorsteher das Messbuch halten (Nr. 189), bei Fehlen eines Diakons den Altar für die Gabenbereitung bereiten, dem Priester bei der Entgegennahme der Gaben vom Volke behilflich sein (Nr. 190) und schließlich bei der Purifikation mitwirken (Nr. 192). Außerdem ist der Akolyth auch zum Dienst des außerordentlichen Kommunionspenders bestimmt, wenn unter gegebenen Umständen die Austeilung der Kommunion durch die ordentlichen Spender – Priester und Diakon14 – nicht ausreicht.15 Die Instruktion zu einigen Fragen über die Mitarbeit der Laien am Dienst der Priester (1997) von Johannes Paul II. hält fest, dass die Notwendigkeit eines außerordentlichen Kommunionspenders dann gegeben ist, wenn ein ordentlicher Spender nicht anwesend bzw. wirklich verhindert ist (etwa durch Krankheit oder wegen seines fortgeschrittenen Alters16), oder „wenn wegen der besonders zahlreichen Teilnahme von Gläubigen, die die heilige Kommunion empfangen möchten, die Eucharistiefeier sich allzu sehr in die Länge ziehen würde, weil zu wenige ordentliche Kommunionspender verfügbar sind“17. „Dies muss aber so verstanden werden, dass eine gemäß den örtlichen Gewohnheiten und Bräuchen kurze Verlängerung ein völlig unzureichender Grund ist.“18 Der ziemlich klar und eng umrissene Gestaltungsspielraum des außerordentlichen Kommunionspenders ergibt sich aus der schon angesprochenen naturgemäßen Wahrnehmung der jeweiligen Aufgaben. Da in der Eucharistie Christus selber handelt, ist es der Zelebrant, „der in der Person Christi (in persona Christi) das Sakrament der Eucharistie zu vollziehen vermag, … nur der gültig geweihte Priester“ (c. 900 § 1 CIC/1983). Somit muss das eucharistische Dienstamt nicht so sehr unter einem hierarchischen Blick betrachtet werden, sondern vielmehr aus der Verschiedenheit der Glieder eines Leibes, deren Haupt Christus selber ist (vgl. 1 Kor 12). Nicht zu vergessen ist allerdings, dass es vielen Laien (und auch Priestern) manchmal schwer 14

Vgl. c. 910 § 1 CIC/1983. Vgl. c. 910 § 2 CIC/1983. 16 Vgl. Johannes Paul II., Instruktion Redemptionis Sacramentum über einige Dinge bezüglich der heiligsten Eucharistie, die einzuhalten und zu vermeiden sind vom 25. März 2004 (VApSt 164), Bonn 2004, S. 158. 17 Instruktion zu einigen Fragen über die Mitarbeit der Laien am Dienst der Priester vom 15. August 1997, Art. 8 § 2 (VApSt 129), Bonn 1997, S. 28; vgl. dazu Sabine Demel, Art. Laieninstruktion, in: dies., Handbuch Kirchenrecht. Grundbegriffe für Studium und Praxis, S. 426 f. 18 Redemptionis Sacramentum (Anm. 16), S. 158. 15

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fällt, angesichts des Priestermangels die oft restriktiven rechtlichen Vorgaben nicht als Behinderung eines lebendigen gottesdienstlichen Feierns zu betrachten. Diesen Herausforderungen wird sich die Kirche immer wieder stellen müssen. Das Bild vom einen Leib kann aber auch Impuls dafür sein, dass Verschiedenheit (auch der Dienste und Aufgaben!) durchaus einen Reichtum darstellt, dass nicht alle alles machen müssen, sondern dass jeder seinen Platz mit seinen je eigenen Schwerpunkten und Fähigkeiten innerhalb der Gemeinschaft haben darf. Nicht zu vergessen ist auch, dass Christus das Haupt dieses Leibes ist. Vor allem in der Eucharistie wird deutlich, dass wir von Seiner Liebe Beschenkte sind. Eucharistie kann niemals gemacht werden – das will das Weiheamt hervorheben. Gerade in der eucharistischen Versammlung ist der Handelnde Christus – er handelt, in dem er sich hingibt und seinen Leib mit seinen verschiedenen Gliedern dazu ermächtigt, diese Liebe weiterzugeben. So soll der „Reichtum“ auf Seiten der Laien nicht gegen die „Not“ der Priester ausgespielt werden. Vielmehr kann gerade die Not des Priestermangels auch den Laien Zeichen sein, dass sie sie in einer echten Gemeinschaftsgesinnung auch zu ihrer Not machen und mittragen. Aber ebenso kann die „Stunde der Laien“ für die Priester ein Zeichen der Hoffnung sein, dass sie nur gemeinsam den einen Leib bilden und darstellen. Nur echte Gegenseitigkeit kann dazu beitragen, eine einseitige Betonung des Negativen zu überwinden und gemeinsam auf das jeweils Positive des Anderen zu blicken. So kann die Verschiedenheit zum bereichernden Segen innerhalb der Gemeinde werden und sich nicht nur auf Kompetenzfragen beschränken. Der Akolyth nimmt hierfür eine verbindende „Mittelposition“ zwischen dem allgemeinen und dem sakramentalen (Amts-)Priestertum ein. Er ist zur Mithilfe zum Dienst am Altar beauftragt, allerdings nicht, um Priester und Diakon zu be-dienen. Vielmehr steht der Akolyth in besonderer Weise für die ganze Gemeinde am und vor dem Altar. So nimmt er durch seine besondere kirchliche Beauftragung eine Vertreterfunktion der feiernden Gemeinde wahr, die durch Taufe und Firmung zum allgemeinen Priestertum berufen ist und in dieser Berufung auch den Priester umschließt, der, durch das Weihesakrament – nicht aus sich selbst! – in persona Christi handelnd, auf die eigentliche Mitte des Geschehens hinweist. Priester wie Laien stehen im selben Dienst an der Sache Jesu. Gerade die allgemeine Berufung zum Priestertum sowie der sakramentale Charakter des Weihepriestertums verhindern eine unter dem Aspekt der Macht stehende Sicht dieser Ämter und Dienste. Weil Berufung ein Geschenk Gottes ist, weil die Weihe sakramentalen Charakter hat und damit ein sichtbares Zeichen der besonderen Nähe und Liebe Gottes ist, verbietet es sich von selbst, einen eigenen Vorteil daraus ziehen zu wollen. Auch die Amtsträger dürfen nicht vergessen, dass sie „aus dem Kreis der Gläubigen“ (c. 1008 CIC/1983) zum Dienst an ihnen gerufen sind, mit denen sie gemeinsam zum einen priesterlichen Volk gehören.19 Allgemeines Priestertum und Weihepriestertum sind einander zugeordnet20, und diese Gemeinschaft wird dann lebendig und fruchtbar, wenn in gegensei19 20

Vgl. VatII LG 10. Vgl. ebd.

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tiger Wertschätzung der jeweiligen Aufgaben der Dienst am Leib Christi vollzogen wird. In diesem Sinne ermunterte Papst Benedikt XVI. die Priester anlässlich des Priesterjahres 2009/2010 zu einer vertieften Zusammenarbeit mit den Laien: „Sein Beispiel [des Hl. Johannes Maria Vianney, Anm. PB] veranlasst mich, das Feld der Zusammenarbeit zu betonen, das immer mehr auf die gläubigen Laien auszudehnen ist, mit denen die Priester das eine priesterliche Volk bilden [vgl. Lumen gentium, 10] und in deren Mitte sie leben, um kraft des Weihepriestertums ,alle zur Einheit in der Liebe zu führen, ,indem sie in Bruderliebe einander herzlich zugetan sind, in Ehrerbietung einander übertreffenÏ (Röm 12,10)Ð [Presbyterorum ordinis, 9]. In diesem Zusammenhang ist an die lebhafte Aufforderung zu erinnern, mit der das Zweite Vatikanische Konzil die Priester ermutigt, ,die Würde der Laien und die bestimmte Funktion, die den Laien für die Sendung der Kirche zukommt, wahrhaft [zu] erkennen und [zu] fördern … Sie sollen gern auf die Laien hören, ihre Wünsche brüderlich erwägen und ihre Erfahrung und Zuständigkeit in den verschiedenen Bereichen des menschlichen Wirkens anerkennen, damit sie gemeinsam mit ihnen die Zeichen der Zeit erkennen können.Ð [ebd.].“21 Unter diesem Gesichtspunkt kann eine verstärkte Wahrnehmung des Dienstes des Akolythen eine verbindende Funktion einnehmen und Impuls zur lebendigen Gegenseitigkeit, gerade in der für die Pastoral so schwierigen Zeit, sein. 3. Die Übertragung der Dienste Im neuen Pontificale Romanum von 1968 (dt. 1972) werden die Beauftragungen (institutiones) zum Lektor und Akolythen festgelegt. Der Lektor wird innerhalb einer Eucharistiefeier oder eines Wortgottesdienstes zu dieser Aufgabe beauftragt, der Akolyth ausschließlich innerhalb einer Eucharistiefeier. Das Pontificale Romanum enthält entsprechende Modellansprachen, in denen auch auf Sinn und Zweck dieser Dienste Bezug genommen wird. Im Anschluss an die Predigt leitet der Bischof in das stille Gebet der Gemeinde ein und beschließt dieses mit einer Oration. Nach diesem Gebet werden Zeichen der Diensteinweisung überreicht. Diese Überreichung einer Insignie, die heute als ausdeutender Ritus verstanden wird, ist für die stadtrömische Liturgie um 500 sicher bezeugt und weist so eine lange Tradition auf.22 Dem Lektor wird die Hl. Schrift überreicht als Zeichen für seinen Dienst, das Wort Gottes in der Versammlung vorzutragen. Der Akolyth erhält eine Schale mit Hostien sowie das Gefäß mit Wein als Zeichen seiner den Diakon und Priester unterstützenden Aufgabe.

21

Benedikt XVI., Schreiben zum Beginn des Priesterjahres anlässlich des 150. Jahrestages des „dies natalis“ von Johannes Maria Vianney vom 16. Juni 2009, in: http://www.vatican.va/ holy_father/benedict_xvi/letters/2009/documents/hf_ben-xvi_let_20090616_anno-sacerdotale_ge.html vom 24. 6. 2011. 22 Vgl. Bruno Kleinheyer, Ordinationen und Beauftragungen, in: Sakramentliche Feiern II (Gottesdienst der Kirche 8), Regensburg 1984, S. 7 – 65, hier S. 62.

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Den rechtlichen Rahmen für diese neuen Bestimmungen bildet das Motuproprio Ministeria quaedam Pauls VI. vom 15. August 1972,23 in dem die früheren niederen Weihen neu geregelt werden. Aus den bisherigen vier niederen Weihen (die den Kandidaten mit Empfang der Tonsur in den Klerikerstand erheben: Ostiarier, Exorzist, Lektor, Akolyth)24 sowie der Weihe zum Subdiakon25 wurden die ministeria des Lektors und Akolythen. Die wichtigsten Aussagen von Ministeria quaedam lassen sich wie folgt zusammenfassen: – Die zu diesen Diensten Beauftragten bleiben Laien. – Die Beauftragung zum ständigen Lektor bzw. Akolythen ist nur Männern vorbehalten (vgl. auch c. 230 § 1 CIC/1983). – Die Beauftragung geschieht durch den Bischof. – Für die Kandidaten zum Diakonat und Presbyterat sind die Beauftragungen und Ausübung dieser ministeria innerhalb eines angemessenen Zeitraums vor den klerikalen Weihen verpflichtend (vgl. auch c. 1035 § 1 CIC/1983). Zusammenfassend lässt sich in durchaus positiver Weise feststellen, dass die Neuordnung der Weihestufen durch die ministeria des Lektors und Akolythen die gemeinsame Berufung in das Volk Gottes aufgrund von Taufe und Firmung in der Liturgie hervorgehoben hat. So wird deutlich, dass es innerhalb der eucharistischen Versammlung auch um ein gemeinsames Feiern aller Glieder der Kirche geht. Erst diese grundsätzliche Gleichheit der Würde aufgrund der gemeinsamen Berufung ermöglicht auch die Verschiedenheit der Dienste und daraus folgend auch der Funktionen und Aufgaben. Neben diesem grundsätzlich positiven Fazit kommen aber auch Fragen auf, die sich aus der konkreten Umsetzung des rechtlichen Rahmens ergeben. Erst die Praxis zeigt bekanntermaßen, wie relevant und tragfähig die Normen in der pastoralen Si23 AAS 64 (1972), S. 533 (dt. in: Die Beauftragung von Lektoren, Akolythen und Kommunionhelfern, hrsg. im Auftrag der Bischofskonferenzen Deutschlands, Österreichs und der Schweiz und der Bischöfe von Bozen-Brixen und Luxemburg, Einsiedeln u. a. 1974, S. 11 – 16); vgl. auch Manfred Probst, Die Entwicklung liturgischer Laiendienste nach dem II. Vatikanischen Konzil. Aufgezeigt am Beispiel des Lektors und des Akolythen, in: Mitverantwortung in der Kirche, hrsg. v. Franz Courth/Alfons Weiser, Limburg 1985, S. 296 – 310. 24 „Qui divinis ministeriis per primam saltem tonsura mancipati sunt, clerici dicuntur.“ (c. 108 § 1 CIC/1917) Dies wurde durch das Motuproprio Pauls VI. Ad pascendum vom 15. August 1972 (rechtskräftig seit dem 1. Januar 1973) außer Kraft gesetzt; seitdem erfolgt die Aufnahme in der Klerikerstand durch die Diakonenweihe: „Cum vero ingressus in statum clericalem ad Diaconatum differatur, non amplius habetur ritus primae tonsurae, quo laicus fiebat clericus.“, in: AAS 64 (1972), S. 534 – 540, hier S. 537; sowie MP MinQ, Nr. 1: „Prima Tonsura non amplius confertur; ingressus vero in statum clericalem cum Diaconatu coniungitur“, in: AAS 64 (1972), S. 529 – 534, hier S. 532. 25 „In canonibus qui sequuntur, nomine ordinum maiorum vel sacrorum intelliguntur presbyteratus, diaconatus subdiaconatus; minorum vero acolythatus, exorcistatus, lectoratus, ostiaratus.“ (c. 949 CIC/1917)

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tuation sein können und welche Defizite bleiben bzw. durch das Recht nicht in angemessener Weise eingeholt werden können. Auf einige wenige Schlaglichter sei im Folgenden hingewiesen. II. Fragen Eine erste Frage stellt sich im Verhältnis von praktizierter Realität und den rechtlichen Vorgaben. In den meisten Pfarreien im deutschsprachigen Raum ist es mittlerweile selbstverständlich, dass Laien – Frauen als auch Männer – die Lesungen vortragen oder die Kommunion austeilen. Die rechtlichen Grundlagen wurden bereits erörtert und viele Pfarrer machen aufgrund der pastoralen Notlage davon Gebrauch, außerordentliche Kommunionspender und zeitlich begrenzte Lektoren zu bestimmen (c. 230 § 2 CIC/1983). Damit stellt sich die Frage, ob diese praktizierte Selbstverständlichkeit nicht auch viel über den Wert und den Sinn dieser ministeria aussagt. Es wird wohl den wenigsten der unzähligen Lektorinnen und Lektoren, die regelmäßig die Lesungen innerhalb der Gemeindegottesdienste vortragen, bewusst sein, dass sie nur eine „zeitlich begrenzte“ Aufgabe erfüllen. Fast schon gänzlich aus dem Bewusstsein verschwunden ist der Umstand, dass für diesen Dienst des (auf Dauer bestellten) Lektors eine bischöfliche Beauftragung vorgesehen ist. Hierfür den Sinn zu ergründen, scheint dann eine überflüssige Anstrengung; denn wieso eine feierliche Beauftragung, die nur Männern vorbehalten und mit einem rechtlichen Rahmen an Bedingungen und Voraussetzungen versehen ist, wenn doch der Pfarrer genauso Lektorinnen und Lektoren bestimmen und „beauftragen“ kann?26 Es gibt also in den Pfarrgemeinden faktisch keine rituellen Beauftragungen der betreffenden Personen innerhalb der Liturgie, was durchaus als theologisch-spiritueller Verlust der Bedeutung dieser ministeria zu werten ist. Dazu sei kurz auf den Rahmen dieser Beauftragung „auf Dauer“ geschaut: „Männliche Laien, die das Alter und die Eigenschaften haben, die durch Dekret der Bischofskonferenz festgelegt wurden, können durch den vorgeschriebenen liturgischen Ritus zu den Diensten (ministeria) des Lektors und Akolythen auf Dauer (stabiliter) bestellt werden; die Übertragung dieser Dienste gibt ihnen aber nicht das Recht, von der Kirche Unterhalt oder Vergütung gewährt bekommen zu müssen“ (c. 230 § 1 CIC/1983). Mit den im Kanon angesprochenen Präzisierungen der jeweiligen Bischofskonferenzen bezüglich Alter und Eigenschaften (dotes), d. h. die Vor26 Auch historisch lässt sich diese Geringschätzung in der öffentlichen Wahrnehmung feststellen: „Dass den Beauftragungen zu Diensten unterhalb des Diakonats immer relativ wenig Aufmerksamkeit zugemessen wurde, zeigte sich u. a. darin, dass diese Riten zeitweise am Rande der Gemeindefeier vollzogen wurden: Nach OR 34 [Ordo Romanus] werden der Akolyth (n. 1 – 2) und der Subdiakon (n. 3) vom Bischof bestellt, während den Gläubigen die Kommunion gespendet wird. Ein weiteres Anzeichen für diese Einschätzung dieser Riten ist, dass nicht immer der Bischof selbst diesen Diensten beauftragt: Nach StEA (94) übergibt der Archidiakon dem Akolythen die Zeichen seines Dienstes“. (Kleinheyer, Beauftragungen [Anm. 23], S. 62). Auch heute werden die Übertragungen der Dienste für die Kandidaten zum Weihesakrament oft kurz vor ihrer Diakonenweihe im engen Kreis einer Priesterseminarsoder Ordensgemeinschaft – quasi „unter Ausschluss der Öffentlichkeit“ – liturgisch vollzogen.

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aussetzungen, Qualifikationen, Eignungen etc., gilt für den Bereich der Dt. Bischofskonferenz seit dem 1. Januar 1996:27 Die Kandidaten für das Lektorat und Akolythat müssen – das 25. Lebensjahr vollendet haben, – eine gediegene Kenntnis der Hl. Schrift und der Liturgie besitzen, – zur Ausübung der im betreffenden Dienst vorgesehenen Tätigkeiten befähigt sein, – schließlich müssen sie sich durch eine „gefestigte Glaubenshaltung“ und einen „bewährten Lebenswandel“ auszeichnen. Diese Festlegungen gelten auch für die „zeitlich begrenzte Beauftragung (ex temporanea deputatione)“ (c. 230 § 2 CIC/1983), also für die in der pastoralen Praxis am häufigsten anzutreffenden Lektorinnen und Lektoren. Für den Dienst des Akolythen ist eine Beauftragung auf Zeit nicht vorgesehen; er ist deshalb Männern vorbehalten. Alle Laien – Frauen wie Männer – können jedoch gewisse Funktionen „ersatzweise“ ausführen: „Wo ein Bedarf der Kirche es anrät, weil Amtsträger nicht zur Verfügung stehen, können auch Laien, selbst wenn sie nicht Lektoren oder Akolythen sind, einige ihrer Funktionen ersatzweise übernehmen, nämlich den Dienst am Wort ausüben, liturgischen Gebeten vorstehen, die Taufe spenden und die heilige Kommunion austeilen, und zwar gemäß den Vorschriften des Rechts“ (c. 230 § 3 CIC/1983). Entsprechende kirchenamtliche Verlautbarungen haben diese Vorgabe präzisiert;28 die Konkretion wurde in den letzten Jahrzehnten vielfach reflektiert und teilweise auch kontrovers diskutiert.29 Die erste Frage kann also lauten: Ist der rechtliche Rahmen der erneuerten Gestaltung der Laienämter hinsichtlich der Bedeutung dieser ministeria förderlich, oder hat sich in der pastoralen Praxis der zeitlichen Beauftragung von meist Lektorinnen und Lektoren ein „Minimalkonsens“ durchgesetzt, der dieses theologisch bedeutsame liturgische Laienamt auf eine Funktion innerhalb des Gottesdienstes reduziert (vor allem im fehlenden bischöflichen Beauftragungsritus, der verdeutlicht, dass der Dienst am Wort und Altar mehr ist als eine funktionale Rolle)? Eine zweite Frage erhebt sich im Blick auf das Amtsverständnis: kann man zu Recht von liturgischen Laienämtern sprechen oder trägt schon diese Formulierung einen Widerspruch in sich? Wenigstens rechtlich ist die Verschiedenheit zwischen einem Kirchenamt (c. 145 CIC/1983) und der sakramentalen Weihe (c. 1008 CIC/ 1983) klar geregelt: das kirchliche Amt wird als „officium ecclesiasticum“ (c. 145 § 1 CIC/1983) bestimmt und unterscheidet sich dadurch von der Ordination. „Während durch das Sakrament des Ordo jemand für einen bestimmten Dienst geweiht und bestimmt wird, wird durch ein kirchliches Amt jemand zu einem bestimmten Dienst 27

Vgl. die Partikularnormen vom 5. 10. 1995 in: AfkKR 164 (1995), S. 456. Vgl. v. a. die Instruktion zu einigen Fragen über die Mitarbeit der Laien am Dienst der Priester (Anm. 18) sowie Redemptionis Sacramentum (Anm. 16). 29 Vgl. dazu Demel, Laieninstruktion (Anm. 17). 28

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verpflichtet.“30 Das Kirchenamt bedarf einer kanonischen Amtsübertragung (c. 146 CIC/1983), die schriftlich ausgefertigt werden muss (c. 156 CIC/1983); somit handelt es sich um einen Verwaltungsakt. Demgegenüber ist die Ordination sakramental, d. h. durch „Handauflegung und das Weihegebet“ (c. 1009 § 2 CIC/1983) werden „kraft göttlicher Weisung aus dem Kreis der Gläubigen einige mittels eines untilgbaren Prägemals (charactere indelebili), mit dem sie gezeichnet werden, zu geistlichen Amtsträgern bestellt; sie werden ja dazu geweiht und bestimmt (consecrantur et deputantur), entsprechend ihrer jeweiligen Weihestufe unter einem neuen und besonderen Titel dem Volk Gottes zu dienen (inserviant)“ (c. 1008 CIC/1983). Diese Weihen sind „Episkopat, Presbyterat und Diakonat“ (c. 1009 § 1 CIC/1983), wobei die Unterschiedlichkeit der Weihestufen sich folgendermaßen ausdrückt: „Die die Bischofsweihe oder die Priesterweihe empfangen haben, erhalten die Sendung und die Vollmacht, in der Person Christi des Hauptes (in persona Christi Capitis), zu handeln; die Diakone hingegen die Kraft, dem Volk Gottes in der Diakonie der Liturgie, des Wortes und der Liebe zu dienen“ (c. 1009 § 3 CIC/1983). Papst Benedikt XVI. hat die entsprechenden cc. 1008 – 1009 durch sein Motuproprio Omnium in mentem31 vom 26. 10. 2009 – veröffentlicht (promulgiert) am 8. 1. 2010 und folglich mit dem 8. April 2010 in Kraft getreten32 – vor allem dahingehend geändert, dass der Wortlaut des Kanons sich stimmiger (aptius) mit der Konzilsaussage von LG 29 bezüglich des Diakons vereinbaren lässt, der im Gegensatz zum Bischof und Priester nicht „in persona Christi Capitis“ handelt.33 Besonders hervorzuheben ist die Änderung im Wortlaut des c. 1008, in welcher die Bestimmung der Weihe dahingehend benannt wird, um „dem Volk Gottes zu dienen (inserviant)“ (c. 1008 CIC/1983) (im Gegensatz zum vorherigen „weiden/pascant“). Das Amt der Ordination ist also wesentlich Dienst (munus) am Aufbau des Volkes Gottes. Die Übertragung der konkreten Dienste wird jedoch nicht mit dem Sakrament des Ordo, „sondern getrennt davon durch einen Verwaltungsakt ihres Ordinarius“34 vorgenommen. Für unsere Fragestellung ist besonders der Heiligungsdienst (munus sanctificandi) von Bedeutung, welcher „in besonderer Weise durch die heilige Liturgie, die als Ausübung des priesterlichen Dienstes Jesu Christi zu betrachten ist“ (c. 834 § 1 CIC/ 1983), erfüllt wird, den in dieser Reihenfolge vor allem (imprimis) die Bischöfe und 30 Matthäus Kaiser, Ordo und Amt, in: Michael Kessler (Hrsg.), Ordination – Sendung – Beauftragung. Anfragen und Beobachtungen zur rechtlichen, liturgischen und theologischen Struktur, Tübingen 1996, S. 113 – 139, hier S. 116; vgl. auch Georg May, Das Kirchenamt, in: HdbKathKR2, S. 175 – 187. 31 AAS 102 (2010), S. 8 – 10. 32 Vgl. cc. 7 u. 8 § 1 CIC/1983. 33 Vgl. dazu: Omnium in mentem (Anm. 31), VatII LG 29, KKK 1581; vgl. auch Matthias Mühl, Degradierung des Diakonats? Drei kurze Anmerkungen zu Ordo und Diakonat, in: IKZ Communio 39 (2010), S. 205 – 212; Klemens Armbruster/Matthias Mühl (Hrsg.), Bereit wozu? Geweiht für was? Zur Diskussion um den Ständigen Diakonat (QD 232), Freiburg/ Br. 2009; Markus Graulich, Geweiht zum Dienst. Diakone für die Diözese, in: Riedel-Spangenberger, Rechtskultur (Anm. 9), S. 364 – 387. 34 Kaiser, Ordo und Amt (Anm. 30), S. 115.

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die Priester, die Anteil am Priestertum Christi haben, sowie die Diakone und schließlich alle Gläubigen in ihrer participatio actuosa an der liturgischen Feier ausführen.35 Die oben schon angedeutete Trennung von Weihe und Amt – von potestas ordinis und potestas iurisdictionis – hat sich spätestens seit der Anordnung Papst Innozenz III. von 1198 bezüglich der Sorge des Bischofs um den Lebensunterhalt eines Priester ohne kirchliches Amt, als absolute Ordination durchgesetzt, so dass mit der sakramentalen Weihespendung nicht mehr per se die Übertragung eines kirchlichen Amtes verbunden war.36 Das II. Vatikanum fasst das sakramentale Weiheamt (potestas ordinis) und das kirchliche Amt (potestas iurisdictionis) als sacra potestas zusammen: „Der Amtspriester nämlich bildet kraft seiner heiligen Gewalt (sacra potestas), die er innehat, das priesterliche Volk heran und leitet es; er vollzieht in der Person Christi das eucharistische Opfer und bringt es im Namen des ganzen Volkes Gott dar …“37 Die zum Ordo hinzukommende kanonische Sendung (kirchliches Amt) wird in Nr. 24 der Kirchenkonstitution erörtert. Die Grundlage für die sacra potestas, das Amtspriestertum, bildet jedoch das gemeinsame Priestertum aller Getauften,38 denn der Ordinierte geht aus diesem Volk Gottes hervor und ist in seiner als Dienstamt zu charakterisierenden Stellung für die Heiligung dieses Volkes Gottes geweiht und bestimmt: „Jenes Amt aber, das der Herr den Hirten seines Volkes übertragen hat, ist ein wahres Dienen, weshalb es in der Heiligen Schrift bezeichnenderweise mit dem Wort ,DiakoniaÐ, d. h. Dienst, benannt wird (vgl. Apg 1,17 u. 25; 21,19; Röm 11,13; 1 Tim 1,12)“ (VatII, LG 24). Können also Laien in der Liturgie in diesem Sinne überhaupt ein Amt haben oder nur daran mitwirken?39 Es wird deutlich, dass Laien ein kirchliches Amt haben können, soweit solche Ämter nicht ausdrücklich die Ordination voraussetzen oder jedoch Laien ausdrücklich heranzuziehen sind.40 Die Übertragung des kirchlichen Amts findet durch einen Verwaltungsakt (in schriftlicher Form) statt. Auch die Dienste des Akolythen und des Lektors gem. c. 230 § 1 können als kirchliche Ämter verstanden werden – wenn auch als Eh35

Vgl. c. 835 CIC/1983. Vgl. Kaiser, Ordo und Amt (Anm. 30), S. 125 ff.; ders., Absolute Ordination?, in: Mysterium der Gnade (FS Josef Auer), hrsg. von Heribert Roßmann/Joseph Ratzinger, Regensburg 1975, S. 185 ff.; 37 VatII LG 10; vgl. auch Matthäus Kaiser, Potestas iurisdictionis?, in: Winfried Aymans/ Anna Egler/Jospeh Listl (Hrsg.), Fides et Ius (FS Georg May), Regensburg 1991, S. 92 – 97; ders., Macht oder Vollmacht? Zum Verständnis der sacra potestas, in: Rainer Beer u.a (Hrsg.), Diener in Eurer Mitte (FS Bischof Antonius Hofmann), Passau 1984, S. 318 – 329; Andreas Rudiger, Die Leitungs- und Machtfrage in der katholischen Kirche. Dogmatische Erwägungen zur amtlichen Gemeindeleitung (munus regendi) und zur heiligen Vollmacht (sacra potestas) im Spiegel der Gewaltenkonzeption Klaus Mörsdorfs, Buttenwiesen 2002. 38 Vgl. VatII LG 10; c. 204 § 1 CIC/1983. 39 Vgl. Peter Krämer, Die geistliche Vollmacht, in: HdbKathKR2, S. 149 – 155, bes. S. 154 f. (Abschn. III: Die Mitwirkung der Laien). 40 Vgl. c. 228 § 1 CIC/1983; VatII LG 33; Thomas A. Amann, Laien als Träger von Leitungsgewalt? Eine Untersuchung aufgrund des Codex Iuris Canonici (Münchner Theologische Studien/III. Kanonistische Abt. 50), St. Ottilien 1996. 36

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renämter,41 da sie keinen Anspruch auf Vergütung geltend machen können – allerdings erfolgt die Übertragung in liturgisch-ritueller Weise (institutio). Dies gilt jedoch nur für die Dienste auf Dauer. Die Übertragung der Dienste auf Zeit (Lektor, Kommunionhelfer) gem. c. 230 §§ 2 – 3 CIC/1983 erfolgt in der Regel durch schriftliche Beauftragung seitens des Ordinariates.42 Die Erzdiözese München und Freising regt eine Einführung von Lektorinnen und Lektoren innerhalb des Gottesdienstes, unmittelbar vor der Lesung nach dem Tagesgebet, an, bei der der Pfarrer die neuen Lektorinnen und Lektoren vorstellt, ein Gebet mit abschließender Akklamation der Gemeinde (Amen) spricht und ihnen das Lektionar überreicht.43 Der Ritus und die Formulierung sind an die liturgische Beauftragung des Lektors auf Dauer angelehnt, das Gebet wortwörtlich übernommen.44 Allerdings ist durch Verschiebung des „traditionellen“ Orts liturgischer Beauftragungen und Weihen nach der Homilie der Gefahr einer Vermischung entgegengehalten. Die zweite Frage lautet also: Ist das liturgische Laienamt auf der Grundlage des allgemeinen Priestertums aller Getauften innerhalb der Liturgie in angemessener Weise als selbstständiges Amt berücksichtigt?45 Die dritte Frage erhebt sich aus der Tatsache, dass die Beauftragung des Akolythendienstes sowie des Lektorendienstes auf Dauer nur Männern vorbehalten ist, während alle „anderen Ämter und Dienste in der Kirche, zu deren Übernahme Laien befähigt sind, … in gleicher Weise Frauen und Männern offen“46 stehen. Rührt es – mit den Worten des Liturgikers M. Kunzler – von der aus Angst bis

41 Was jedoch nicht den Wert schmälert, sondern vielmehr integrierender Bestandteil der Sendung aller Gläubigen, Kleriker wie Laien, ist: „Aufgabe und Charisma der Laien ist es, nicht Objekte, sondern vielmehr Subjekte der kirchlichen Sendung zu sein, d. h. sich mit ihren je eigenen Begabungen und Persönlichkeitsprofilen für die Lebendigkeit (in) der kirchlichen Gemeinschaft zu engagieren, sei es ehren- oder hauptamtlich, sei es in einem Dienst oder einem Amt.“ (Sabine Demel, Alle sind begabt, niemand ist unbegabt. Das Ehrenamt in theologisch-rechtlicher Sicht, in: Hans-Georg Hunstig/Magdalena Bogner/Michael N. Ebertz (Hrsg.), Kirche lebt. Mit uns. Ehrenamtliches Laienengagement aus Gottes Kraft, S. 110 – 124, hier S. 124.) 42 Vgl. exemplarisch die Regelungen im Erzbistum Hamburg: „Der Dienst der Kommunionhelfer/Innen im Erzbistum Hamburg”, in: KABl. Erzbistum Hamburg, Jg. 13, Nr. 4, Art. 37 vom 15. 4. 2007. 43 Vgl. die Vorlage http://www.liturgie-muenchen.de/Download/rf6-Lektoreneinfuehrung.doc (29. 6. 2011). 44 Vgl. Die Beauftragung von Lektoren … (Anm. 23), S. 25 – 27 (Gebet: Nr. 6, S. 26). 45 Vgl. dazu auch Sabine Demel, Statisten oder Protagonisten? Die Rechtsstellung der Laien auf dem ekklesiologischen Prüfstand, in: Sabine Demel (Hrsg.), Mehr als nur Nichtkleriker: Die Laien in der katholischen Kirche, Regensburg 2001, S. 92 – 114. 46 Reinhardt, c. 230, Rdnr. 6, in: MK CIC (Stand: Oktober 1987); vgl. Oskar Stoffel, Das Recht der Laien in der Kirche nach dem neuen Codex, in: Moritz Amherd/Louis Carlen (Hrsg.), Das neue Kirchenrecht. Seine Einführung in der Schweiz, Zürich 1984, S. 60 – 84, hier: S. 79.

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heute nicht überwundenen „liturgischen Diskriminierungsgeschichte der Frau“47, dass bei der Erneuerung der Weihestufen durch Paul VI. der Vorbehalt den Männern zugesprochen wurde? Als Begründung wird die „altehrwürdige Tradition der Kirche (iuxta venerabilem traditionem Ecclesiae)“48 angegeben und ist darin auch schlüssig, insofern die Niederen Weihen – von denen Lektorat und Akolythat einzelne Stufen sind – auf die Ordination hingeordnet bzw. Teil der Weihe waren,49 die – so gerade in letzter Zeit vom Gesetzgeber immer wieder bekräftigt – in der lateinischen Tradition nur Männern vorbehalten ist.50 „Rechtssystematisch hätte c. 230 § 1 dann jedoch im Weiherecht behandelt werden müssen (vgl. c. 1035 § 1).“51 Nun ist der Umstand des Vorbehalts von Akolythat und Lektorat zugunsten der Männer insofern befremdlich, als dass die Neuordnung durch Papst Paul VI. diese Dienste ausdrücklich als Laiendienste aufgrund des gemeinsamen Priestertums aller Getauften beabsichtigt hat.52 So heißt es fast unmittelbar vor der zitierten Nr. 7 von MP Ministeria Quaedam (in welcher der Vorbehalt gegenüber Männern ausgesprochen wird): „Es entspricht aber den gegebenen Verhältnissen und der heutigen Mentalität, dass die genannten Dienste nicht mehr als niedere Weihen bezeichnet werden und deren Übertragung nicht ,WeiheÐ, sondern ,EinsetzungÐ (institutio) genannt wird; Kleriker sind und es werden als solche nur diejenigen betrachtet, die die Diakonatsweihe empfangen haben. Auf diese Weise erscheint auch klarer der Unterschied zwischen Klerikern und Laien, zwischen dem, was dem Kleriker eigen und vorbehalten ist, und dem, was den Laien übertragen werden kann. Ebenso tritt auch die wechselseitige Beziehung zwischen ihnen deutlicher hervor, insofern sich das gemeinsame Priestertum der Gläubigen und das Priestertum des Dienstes, das heißt das hierarchische Pries47 Michael Kunzler, Das Charisma der Liturgie. Zu Theologie und Ausgestaltung des liturgischen Laiendienstes, Paderborn 2001, S. 169; vgl. Felix Bernard, Ist die Frau in der katholischen Kirche rechtlos?, in: TThZ 97 (1988), S. 150 – 158. 48 MP MinQ, 7 (Anm. 23). 49 Vgl. c. 949 CIC/1917: In canonibus qui sequuntur, nomine ordinum maiorum vel sacrorum intelliguntur presbyteratus, diaconatus, subdiaconatus; minorum vero acolythatus, exorcistatus, lectoratus, ostiariatus. c. 950 CIC/1917: In iure verba: ordinare, ordo, ordinatio, sacra ordinatio, comprehendunt, praeter consecrationem episcopalem, ordines enumeratos in can. 949 et ipsam primam tonsuram, nisi aliud ex natura rei vel ex contextu verborum eruatur. 50 Vgl. c. 1024 CIC/1983: „Die heilige Weihe empfängt gültig nur ein getaufter Mann.“ Erklärung der Kongregation für die Glaubenslehre Inter insigniores vom 15. Oktober 1976; Johannes Paul II., Apostolisches Schreiben Ordinatio Sacerdotalis vom 22. Mai 1994; Kongregation für die Glaubenslehre, Antwort auf den Zweifel bezüglich der im Apostolischen Schreiben „Ordinatio sacerdotalis“ vorgelegten Lehre vom 28. Oktober 1995, in: OR 74 (1995), S. 4: „Diese Lehre fordert eine endgültige Zustimmung, weil sie, auf dem geschriebenen Wort Gottes gegründet und in der Überlieferung der Kirche von Anfang an beständig bewahrt und angewandt, vom ordentlichen und universalen Lehramt unfehlbar vorgetragen worden ist …“ (Hervorh. P.B.) 51 Reinhild Ahlers, Die rechtliche Grundstellung der Christgläubigen, in: HdbKathKR2, S. 220 – 232, hier S. 223. 52 Im Gegensatz zu c. 948 CIC/1917: „Ordo ex Christi institutione clericos a laicis in Ecclesia distinguit ad fidelium regimen et cultus divini ministerium.“ Die niederen Weihen gehörten zum Ordo (vgl. Anm. 49).

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tertum, zwar dem Wesen und nicht bloß dem Grade nach unterscheiden. Dennoch sind sie einander zugeordnet: das eine wie das andere nämlich nimmt je auf besondere Weise am Priestertum Christi teil [mit Verweis auf LG 10].“53 Es erhebt sich die Frage, ob dem Anspruch einer klareren Unterschiedenheit und der wechselseitigen Beziehung zwischen Klerikern und Laien Genüge getan wurde, oder ob man mit der faktischen Schaffung eines zweiklassigen Laienstandes nicht noch mehr Unklarheit hervorruft. Auch die Begründung des Vorbehalts mit dem Argument der Hinordnung auf die Weihe – als „gradini per accedere allÏordine sacro“54 – scheint die Sinnrichtung der Neuordnung der Dienste als liturgische Laienämter in Frage zu stellen. Wenn auch die Beauftragung zu diesen Diensten Voraussetzung für den Empfang der Weihen ist und somit richtigerweise als die stufenweise Hinführung zur Ordination benannt wird,55 so gilt dies nur in Bezug auf die angestrebte Weihe. Lektorat und Akolythat bleiben jedoch in ihrer Selbstständigkeit liturgische Laienämter, d. h. der Priesteramtskandidat bleibt auch nach der Beauftragung zu diesen Diensten Laie und wird erst mit der Diakonenweihe Kleriker.56 Oder etwas zugespitzt formuliert ob dieser befremdlichen Argumentation: wenn nach c. 1033 CIC/1983 die Erlaubtheit der Weihe an die empfangene Firmung gebunden wird, so wird das Sakrament der Firmung damit zwar Voraussetzung für und in Bezug auf die Ordination, verliert dadurch jedoch nicht seine Selbstständigkeit, so dass es in der Folge nur mehr Männern vorbehalten wäre, weil es ja in Bezug auf die Weihe gewissermaßen eine Stufe zu deren Erlangung ist. Das Beispiel mag pointiert sein, soll jedoch die Problematik verdeutlichen, aufgrund derer sich vielfältige Befremdung und Fragen auftun. Michael Kunzler hat in liturgisch-historischer Perspektive die ,liturgische Diskriminierungsgeschichte der FrauÐ57 nachgezeichnet und festgestellt, dass das Altarraumverbot58 sehr alt ist und sich schon in sehr früher Zeit, sowohl im Westen als dann auch im Osten, „Zeugnisse für eine diskriminierende Mindereinschätzung der Frau“59 nachweisen lassen (teilweise vor dem Hintergrund zeitgenössischer kultischer Reinheitsvorstellungen etwa nach einer Geburt oder während der Menstruation)60. Die lesenswerten Ausführungen Kunzlers können und sollen hier nicht im Detail nachgezeichnet werden; lediglich sei darauf verwiesen, dass es mit der Kontroverse um Ministrantinnen bis in die jüngste Zeit diskursiven Sprengstoff enthielt. Als Gründe gegen Ministrantinnen – und damit gegen den Dienst von Frauen am Altar – wurde im Rah-

53

MP MinQ, Einführung (Anm. 23). Rosalio Castillo Lara, Criteri ispiratori della revisione del Codice di Diritto Canonico, in: La nuova legislazione canonica. Corso sul Nuovo Codice di Diritto Canonico, 14 – 25 febbraio 1983 (Studia Urbaniana 19), Rom 1983, S. 15 – 33, hier S. 18. 55 Vgl. c. 1035 § 1 CIC/1983. 56 Vgl. MP MinQ, 1 (Anm. 23); sowie cc.266 § 1.207 § 1 CIC/1983. 57 Vgl. Kunzler, Charisma (Anm. 47), S. 169 – 189. 58 Vgl. c. 813 CIC/1917 § 2: „… ut mulier … nec ullo pacto ad altare accedat.“ 59 Kunzler, Charisma (Anm. 47), S. 175. 60 Vgl. ebd., S. 175 ff. 54

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men „einer ,klerikalenÐ Überhöhung des Ministrantendienstes“61 (vgl. die ital. Bezeichnung chierichetti – Klerikerlein) immer wieder mit der möglichen Priesterberufung der im Altarraum wirkenden Laien argumentiert. Mit Kunzler kann das Fazit bezüglich solcher Entwicklung um den liturgischen Laiendienst von Frauen (in seiner Selbstständigkeit, nicht als „Priesterersatz“ oder Vorstufe zur Weihe!) gezogen werden: „Es sind allesamt Argumente der Angst: Angst vor der weiteren Diskussion um das Frauenpriestertum, Angst vor dem Aufbrechen bislang ehern geglaubter Strukturen, Angst vor dem Eindringen von Fremdem und Neuem in der Kirche […] Angst aber kann niemals ein guter Ratgeber sein. Mit der Angst vor Nachfragen und Diskussionen und durch daraus gerechtfertigten Restriktionen der liturgischen Dienste für Frauen und Mädchen kann das Eigentliche des Weiheamtes und seiner Reservierung für Männer aufgrund der Braut-Bräutigams-Symbolik glaubwürdig kaum mitgeteilt werden. Eigentlich werden die theologischen Argumente gegen die Frauenordination durch die Verhinderung liturgischer Dienste von Mädchen und Frauen sogar geschwächt: Es kann der Eindruck entstehen, dass das ökumenisch mit den Ostkirchen gemeinsame Nein zur Priesterweihe der Frau auf derart schwachen Füßen steht, dass man zu seiner Verteidigung sogar den Anblick kleiner Ministrantinnen und würdiger Lektorinnen und Kommunionhelferinnen glaubt verhindern zu müssen. Auf diese Weise wird gerade manch starkes Argument durch das Schwache, Irrige und Ängstliche desavouiert und somit unglaubwürdig, so dass es auf diese Weise zur Diskussion gerade erst herausfordert.“62 Zusammenfassend erhebt sich als dritte Frage: Ist der Vorbehalt gegenüber Männern gem. c. 230 § 1 CIC/1983 für die liturgischen Laiendienste, vor allem des Lektorats, im Hinblick auf die ausdrückliche Neuordnung der früheren Niederen Weihen für Kleriker hin zu wahren liturgischen Laienämtern auf der Grundlage des gemeinsamen Priestertums und um der Klarheit der Unterschiedenheit von allgemeinem und Amtspriestertum willen, gerechtfertigt?

III. Perspektiven In den bisherigen Ausführungen sind schon Impulse für ein mögliches Handeln angeklungen. Welche weiterführenden Perspektiven ergeben sich in Bezug auf die liturgischen Laienämter? Einige kurze Gedanken in Thesenform wollen Denkanstoß für eine dem inneren Gehalt und den äußeren pastoralen Erfordernissen entsprechende Entwicklung sein. Eine erste Perspektive ist der Blick auf die Grundberufung aller Getauften als ein „heilige[s] Priestertum“ (VatII LG 10), das in dieser allgemeinen Berufung gemeinsam mit dem Amtspriestertum „einander zugeordnet“ (VatII LG 10) ist. Daraus folgt auch der Wunsch des Konzils nach einer „vollen, bewussten und tätigen Teilnahme an den liturgischen Feiern …, wie sie das Wesen der Liturgie selbst verlangt und zu der das christliche Volk … kraft der Taufe berechtigt und verpflichtet ist“ (VatII SC 61 62

Ebd., S. 149. Ebd., S. 187 f.

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14).63 Gerade in der Liturgie, der ,Quelle und dem HöhepunktÐ (vgl. VatII SC 10) kirchlichen Tuns, soll die konkrete Gestalt der Kirche sichtbar werden. Dabei ist es auch bedeutsam, dass nicht Trennung oder Konkurrenz dieses Bild bestimmen, sondern die Gleichheit, die in dem gründet, auf den sie verwiesen ist und auf den sie hinstrebt – auf Jesus Christus. Als Getaufte mit einer gemeinsamen Berufung feiern Kleriker als auch Laien Liturgie. Der Angelpunkt ist Christus. So eine Christozentrik täte manchmal auf beiden Seiten gut, um den Blick von der eigenen Befangenheit hin zu einer Weite zu öffnen. Mit dieser grundsätzlichen Gleichheit ist aber keineswegs eine absolute Gleichmachung gemeint. Es braucht die Verschiedenheit in diesem gemeinsamen Dienst. Alle können nicht alles machen, aber alle machen das ihnen Zukommende an derselben Sache. So ist dies keine Degradierung, sondern die Notwendigkeit, um die eine große „Sache Jesu“ in all ihren vielfältigen Facetten zu profilieren. Es ist einerseits die (praktisch gedachte) Entlastung und Verteilung der Aufgaben, ist aber andererseits auch der vielfältigen Einzigartigkeit eines jeden Menschen und dessen Weges zu Gott geschuldet. Gerade in der Liturgie kann diese gegenseitige Respektierung und Wertschätzung der jeweils den verschiedenen Personen zukommenden Rollen und Funktionen den Blick auf diese eine gemeinsame Berufung richten. Einheit wird sichtbar in der Verschiedenheit in dem Maße, wie die Vielfältigkeit in der Gemeinsamkeit harmonisiert wird, ohne diese Vielfalt zu zerstören.64 Eine zweite Perspektive folgt unmittelbar daraus: es braucht eine „,laienfreundlicheÐ Umgestaltung der Dienste- und Ämterstruktur“65 mit der Möglichkeit einer verantwortungsvollen Bildung eines ,sensus fidei fideliumÐ.66 Hier hat der Gesetzgeber mit den liturgischen Laienämtern eine großartige Vorgabe gemacht, die in der Realität immer wieder zu verwirklichen ist. Dazu bedarf es vorrangig einer immer neu zu überdenkenden Wertschätzung dieser Laiendienste und deren Ermöglichung in ihrem ganzen Umfang. So muss v. a. die Eigenständigkeit dieser Dienste innerhalb der Liturgie betont und ein Hineinwachsen ermöglicht werden. Diese Aufgaben sind kein „Ersatzdienst“ – weder für einen Priester noch für sonst irgendjemanden 63

Zur Diskussion um die rechtliche Umsetzung der konziliaren Vorgaben vgl. Peter Krämer, Liturgie und Recht. Zuordnung und Abgrenzung nach dem Codex Iuris Canonici von 1983, in: LJ 34 (1984), S. 66 – 83; Rainer Kaczynski, Liturgie und Recht. Anmerkungen zum neuen Codex der lateinischen Kirche, in: Gottesdienst 17 (1983), S. 41 – 43; ders., Notwendige Änderung der liturgischen Bücher aufgrund des Codex Iuris Canonici von 1983, in: LJ 34 (1983), S. 84 – 99; Ludwig Schick, Liturgie und Recht – Ein Plädoyer für mehr Kongruenz, in: LJ 34 (1983), S. 54 – 57 (Schick erörtert die Problematik exemplarisch anhand des Eherechts). 64 Vgl. Ilona Riedel-Spangenberger, Die Struktur der katholischen Kirche in neuer Perspektive, in: ThPQ 148 (2000), S. 45 – 56. 65 Sabine Demel, Mit Zumutungen verbunden. Die Pfarrei als Netzwerk von Personen, Aktionen und Strukturen, in: HK Spezial 1/2011, S. 10 – 13, hier: S. 13; dies., Mitmachen – Mitreden – Mitbestimmen. Grundlagen, Möglichkeiten und Grenzen in der katholischen Kirche, Regensburg u. a. 2001. 66 Vgl. Ilona Riedel-Spangenberger, Der Verkündigungsdienst (munus docendi) der Kirche und der Glaubenssinn des Volkes Gottes (sensus fidelium), in: Andreas Heinz u. a. (Hrsg.), Wege der Evangelisierung (FS Heinz Feilzer), Trier 1993, S. 193 – 206.

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– und ebenso wenig dienen sie der Profilierung Einzelner, um dadurch wieder eine Trennung hervorzurufen. Eine dritte Perspektive ergibt sich aus dem „Materialobjekt“ der Verkündigung – nämlich des Wortes Gottes, das der eigentliche Akteur in der Verkündigung ist. Gottes Wort ist nicht irgendein Objekt, das man be-handelt oder mit dem man in irgendeiner Weise umgehen kann. Vielmehr ist das Wort Gottes das eigentliche Subjekt der Verkündigungshandlung. Mehr noch ist es die Grundbedingung für jegliche Verkündigungskommunikation und besitzt eine Eigendynamik und Wirkkraft: „Denn wie der Regen und der Schnee vom Himmel fällt und nicht dorthin zurückkehrt, sondern die Erde tränkt und sie zum Keimen und Sprossen bringt, wie er dem Sämann Samen gibt und Brot zum Essen, so ist es auch mit dem Wort, das meinen Mund verlässt: Es kehrt nicht leer zu mir zurück, sondern bewirkt, was ich will, und erreicht all das, wozu ich es ausgesandt habe (Jes 55,10 f.). Im Wort handelt Gott (vgl. Gen 1,1 ff.), sein Wort bewirkt Heilung und Vergebung, ist Zuspruch und Tröstung – im Wort teilt Gott sich selber mit, Gott ist im Wort („Im Anfang war das Wort und das Wort war bei Gott und das Wort war Gott“, Joh 1,1).67 Da das Wort die Ermöglichung der Verkündigung ist, das gnadenhafte Geschenk des Anrufes Gottes, das auf die Antwort des Menschen gerichtet ist,68 sind alle in der konstituierenden Gemeinschaft der Getauften primär Hörer dieses Wortes. Wenn gerade in der Verkündigung des Wortes innerhalb der Liturgie diese Unverfügbarkeit des Wortes Gottes heraustreten soll, dann ist es sinnvoll, dass kein amtlicher Anspruch auf das „Vorlesen“ erhoben wird. Gerade wenn Laien – Frauen als auch Männer – die Lesungen vortragen, stellen sich alle innerhalb der eucharistischen Versammlung in die hörende Position angesichts des Wortes Gottes. So wird durch das Hören das gemeinsame Priestertum aller Getauften bewusst gemacht, das in seiner Unterscheidung letztlich auf die Offenbarung angewiesen ist, die Gott im Wort der Hl. Schrift selber spricht. Der Lektorendienst wird so wahrhaft zu einem Dienst am Wort, er ist somit mehr als eine funktionale Rolle. Die Verkündigung macht die konstitutive Dimension des Wortes Gottes für die Kirche bewusst und zeigt damit den Urgrund der kirchlichen Gemeinschaft. Auch der Laie hat teil am Aufbau der Kirche, wie auch der Kleriker immer ein Hörender auf das Wort Gottes sein muss. Alle bilden das eine Volk Gottes. So unterstreicht der liturgische Laiendienst in besonderer Weise den Primat des Wortes Gottes: er stellt in sichtbarer Weise einerseits die Amtskirche als hörende Kirche und andererseits die Laien als an diesem die Kirche konstituierenden Wort teilhabend dar, so dass sich in dieser Gemeinschaft, fernab von Rollen und Funktionen, die Identität in der notwendigen Differenzierung zeigt. Das Wort Gottes hat einen wirkmächtigen Anspruch: es will sich inkarnieren, will Fleisch werden. Es will zum Wort des Lebens für die Hörenden (Kleriker wie auch Laien) werden und – so das II. Vatikanum – es „erfülle mehr und mehr die Herzen der Menschen“ (DV 26). Somit drängt das Wort zum lebendigen Zeugnis, zur lebendigen Predigt – es will sich ausdrü67 Vgl. dazu den Ersten Teil von Verbum Domini (Anm. 1), S. 6 – 21 („Der Gott, der spricht“). 68 Vgl. ebd., S. 22 – 28 („Die Antwort des Menschen an den Gott, der spricht“).

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cken.69 Wenn in einer heutigen Gemeindepastoral die Kirche vornehmlich als diakonisch zu verstehen ist,70 dann sind es gerade die sog. Laien, die Frauen und Männer, die im Alltag dieses Wort durch ihr Leben ausdrücken, darin lebendiges Zeugnis für das Wort Gottes sind und mit ihrem Beispiel auch die Kleriker immer wieder durch die Beispielhaftigkeit eines gelebten Zeugnisses herausfordern können. „Die Evangelisierung der Welt geschieht also vor allem durch das Verhalten, durch das Leben der Kirche, das heißt durch das gelebte Zeugnis der Treue zu Jesus, dem Herrn, durch das gelebte Zeugnis der Armut und inneren Loslösung und der Freiheit gegenüber den Mächten dieser Welt, kurz, der Heiligkeit.“71 Dass dies auch innerhalb der Liturgie sichtbar werden muss im liturgischen Laiendienst der Lektorin und des Lektors, ist m. E. nicht nur geboten, sondern sogar dringend notwendig, denn alle Getauften sind für die Verkündigung des Wortes verantwortlich: „Da das ganze Gottesvolk ein ,gesandtesÐ Volk ist, hat die Synode bekräftigt, dass ,die Sendung, das Wort Gottes zu verkünden, Aufgabe aller Jünger Christi ist, infolge ihrer TaufeÐ [Propositio 38].“72 Eine vierte Perspektive ergibt sich vom Standpunkt des dem Amt innewohnenden Dienstcharakters aus. Es geht also nicht um eine Vormacht- oder gar Besserstellung einer „Amtsperson“, sondern auch die Ämter sind letztlich auf den Dienst verwiesen. So versteht sich auch eine primär diakonisch agierende kirchliche Praxis als Dienst für Gott an den Menschen. Diese gemeinsame Grundlage kann durch die liturgischen Laienämter sichtbar werden. Schon der Liturgiker O. Nußbaum plädierte für eine solche Sichtweise der Laienämter als Dienste: „Nur wenn die Lektoren und Akolythen ihre Ämter als Dienste verstehen, werden sie in Gemeinschaft miteinander und mit den Diakonen und Priestern wirklich der Gemeinde und einzelnen Glieder der Gemeinde dienen können.“73 Wurde oftmals die unterscheidende Bezeichnung Amt (für Kleriker) und Dienst (für Laien) als Abgrenzung verstanden, so ist mit S. Demel festzuhalten: „Diese Verwendung von ,DienstÐ als Umschreibung des laikalen Amtes ist aber keineswegs schlüssig, da auch das klerikale Amt oft als ,DienstÐ bezeichnet wird, ja sogar mit Vorliebe als ,DienstamtÐ charakterisiert wird (Fußn.: Vgl. c. 230 § 1, der von den liturgischen ,DienstenÐ der Laien spricht, mit c. 278 § 2, in dem vom ,DienstÐ des Klerikers die Rede ist.). Außerdem ist zu beachten, dass dieser Ausdruck ,DienstamtÐ insofern ungeeignet ist, als er genau so ein Pleonasmus ist wie die Redeweise vom ,weißen SchimmelÐ, da sowohl etymologisch wie auch definitionsgemäß jedes Amt ein Dienst ist.“74 In dieser gemeinsamen Perspektive stehen auf der

69 Vgl. Paul VI., Apostolisches Schreiben Evangelii nuntiandi vom 8. Dezember 1975 (VApSt, 2), Bonn 1975, S. 41 ff. 70 Vgl. Herbert Haslinger, Lebensort für alle. Gemeinde neu verstehen, Düsseldorf 2005, bes. S. 159 ff.: „… eine Gemeinde muss in sich und all ihren Vollzügen diakonisch sein, d. h. dem Menschsein der Menschen dienen.“ (S. 191) 71 Paul VI., Evangelii nuntiandi (Anm. 69), S. 41. 72 Verbum Domini (Anm. 1), S. 94. 73 Otto Nußbaum, Lektorat und Akolythat (Kölner Beiträge 17), Köln 1974, S. 20. 74 Sabine Demel, Art. Amt, in: dies., Handbuch (Anm. 17), S. 47 – 50, hier S. 48.

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Grundlage des allgemeinen Priestertums alle Feiernden der Liturgie vor Gott als primär Dienende. Eine fünfte Perspektive soll schließlich auf die Person der Lektorin bzw. des Lektors abheben. Die Voraussetzungen (dotes) für die Übernahme dieses Laiendienstes wurden durch die Partikularnormen der Dt. Bischofskonferenz festgelegt.75 Diese Bestimmungen gelten für die Beauftragungen der liturgischen Laiendienste auf Dauer (c. 230 § 1 CIC/1983), sind jedoch grundsätzlich eine wichtige Orientierung bei der Auswahl geeigneter Personen. Trotzdem soll an dieser Stelle auch für die Möglichkeit plädiert werden, Kinder und Jugendliche in diese Aufgabe miteinzubeziehen. Kinder und Jugendliche haben nicht nur ein besonderes Recht auf Verkündigung und religiöse Erziehung durch die Eltern,76 sie sind auf der Grundlage von Taufe (und Firmung) auch zur aktiven Mitfeier und Teilnahme an der Liturgie der Kirche gerufen.77 „Gemäß liturgischem Recht können Kinder und Jugendliche, männlichen wie weiblichen Geschlechts bei Gottesdiensten die Aufgabe der Messdiener, Lektoren, Sänger und Sprecher der Fürbitten sowie der Helfer bei der Kollekte und Gabenbereitung ausüben, die sie gemäß ihrer Eignung und ihrem Auftrag auszuführen haben.“78 Neben diesen rechtlichen Vorgaben soll aber ein zweifacher theologischer Impuls ins Feld geführt werden: erstens die oben schon angesprochene Teilhabe auch der Laien in der Liturgie als das sichtbare Abbild der konkreten Ausgestaltung des allgemeinen Priestertums. Kinder und Jugendliche nehmen dabei wohl eine besondere Stellung ein, stehen sie doch auch in besonderer Weise für die Zukunft der Kirche, für ihre Dynamik, Offenheit, Flexibilität und Lebendigkeit.79 Zweitens soll auf die (oben besprochene) Wirkmacht des Wortes Gottes innerhalb der Verkündigung verwiesen werden. Es ist wohl eine besondere Art der Verkündigung und religiösen Erziehung, wenn den Kindern und Jugendlichen dieses Wort verkündigend verkündigt wird, nämlich an jenem Ort, an dem das Wort Gottes seinen bevorzugten Ort hat – in der Liturgie.80 Es besteht m. E. eine notwendige Verbindung zwischen der aktiven und passiven Verkündigung. Durch das Vortragen des Wortes Gottes innerhalb der Liturgie werden die Kinder und Jugendlichen hineingenommen in den hermeneu75

Vgl. Anm. 27. Vgl. Ilona Riedel-Spangenberger, Familie als „Schule reich entfalteter Humanität“. Theologische Grundlegung und Ausgestaltung eines kirchlichen Familienrechts, in: Gottfried Bachl (Hrsg.), Familie leben. Herausforderung für kirchliche Lehre und Praxis, Düsseldorf 1995, S. 127 – 149. 77 Vgl. c. 835 § 4 CIC/1983; vgl. auch Peter Boekholt, Kinder und Jugendliche in der kirchlichen Rechtsordnung, in: ders./Ilona Riedel-Spangenberger (Hrsg.), Iustitia et Modestia (FS Hubert Socha), München 1998, S. 139 – 156, hier S. 153 ff. 78 Ebd., S. 154; Vgl. GORM, S. 100 – 107 i. V. m. PCI (zu c. 230 § 2) vom 15. 03. 1994, in: AAS 86 (1994), S. 541 f. 79 Vgl. Papst Benedikt XVI. in der Predigt zu seiner Amtseinführung am 24. 4. 2005: „Die Kirche lebt. Und die Kirche ist jung. Sie trägt die Zukunft der Welt in sich und zeigt daher auch jedem einzelnen den Weg in die Zukunft.“, in: Der Anfang. Papst Benedikt XVI. Joseph Ratzinger. Predigten und Ansprachen (VApSt 168), Bonn 2005, S. 30 – 36, hier S. 31. 80 Vgl. Verbum Domini (Anm. 1), S. 52 – 71. 76

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tischen Prozess der Erschließung des Wortes Gottes als Wort des Lebens durch die eigene Wirkkraft. Neben dieser (für den Menschen passiven) Wirkweise des Wortes aus sich selbst, müssen auch situations- und altersgemäße Hinführungen und Auseinandersetzungen mit der Bibel stattfinden.81 Durch die aktive Verkündigung innerhalb der Liturgie bekommt diese passive Auseinandersetzung ihren „Sitz im Leben“ zugewiesen, der sich existenziell in den jeweiligen Alltag integrieren und sich dort konkretisieren muss. Das Wort Gottes soll als Wort des Herzens (durch die internalisierte katechetische Vermittlung) zum Evangelium des Lebens im konkreten Alltag werden. In diesem Sinne kann die aktive Einbindung von Kindern und vor allem Jugendlichen in die liturgischen Laiendienste ein wichtiger Beitrag für die Verkündigung und letztlich für den Aufbau der Gemeinde sein. Eine religiöse Erziehung im Sinne einer liturgischen Bildung, die Liturgie und Leben verbindet82 und somit eine umfassende religiöse Sozialisation als Prozess des Hineinwachsens in die kirchliche Gemeinschaft mit ihren symbolisch-rituellen, sozialen, ethischen und praktischen Dimensionen ermöglicht,83 ist folglich für die Jugendpastoral in der heutigen Zeit eine wichtige Herausforderung. Verkündigend erschließt sich das Wort, handelnd erschließt sich Gemeinschaft, im gemeinsamen Handeln als Volk Gottes unterwegs zu Jesus Christus, dem Licht der Völker (VatII LG 1), wird Kirche und Gottes Heilshandeln konkret.

81 Vgl. etwa Dieter Emeis, Bibelarbeit praktisch. Orientierungen – Methoden – Impulse, Freiburg/Br. 1994; Georg Bienemann, Bibelarbeit mit Jugendgruppen, in: LS 36 (1985), S. 181 – 183; Methoden der Bibelarbeit mit Kindern und Jugendlichen, in: http://www.praxisjugendarbeit.de/andachten-themen/ideen-methoden-bibelarbeiten.html vom 26. 6. 2011. 82 So formuliert das Dt. Liturgische Institut vier Ziele liturgischer Bildung: „1) Hinführung zu einem vertieften Verständnis von Liturgie/2) Aktive Teilnahme am Gottesdienst/3) Ausbildung einer spezifischen liturgischen Handlungskompetenz/4) Verbindung von Liturgie und Leben“ in: Deutsches Liturgisches Institut (Hrsg.), Liturgische Laiendienste. Rahmenpläne für Aus- und Fortbildung (Liturgie & Gemeinde. Impulse & Perspektiven 3), Trier 1997, S. 6. 83 Im Anschluss an den von M. Lechner und A. Gabriel entwickelten dreistufigen Religionsbegriff für das Forschungsprojekt „Religionssensible Erziehung“. Lechner unterscheidet den Existenzglauben – Transzendenzglauben – Konfessionsglauben (i. e. der Bezugspunkt für die hier vorgelegten Überlegungen), vgl. Martin Lechner, Der Religionsbegriff des Forschungsprojekts, in: ders./Angelika Gabriel (Hrsg.), Religionssensible Erziehung. Impulse aus dem Forschungsprojekt „Religion in der Jugendhilfe“ (2005 – 2008), München 2009, S. 159 – 176.

Der Beauftragte des Bischofs für die movimenti – ein (weiteres) neues Amt in der diözesanen Kurie?1 Von Dominicus M. Meier Am Vorabend des Pfingstfestes 1998 versammelten sich auf dem Petersplatz in Rom über 300.000 Mitglieder aus 180 verschiedenen Kirchlichen Bewegungen und (Geistlichen) Gemeinschaften (movimenti), die eigens nach Rom gereist waren, um sich mit Papst Johannes Paul II. zu treffen. Es war eine junge und bunte Kirche, die hier sichtbar wurde. Die positive Annahme der neuen Bewegungen und (Geistlichen) Gemeinschaften stand klar und erlebbar im Raum.2 Eine verstärkte Entwicklung und Ausbreitung der movimenti ist in (West-) Deutschland seit Anfang der Siebziger Jahre des letzten Jahrhunderts deutlich.3 Es kommt zu vermehrten Kontakten von Vertretern der movimenti mit dem „Zentralkomitee der Katholiken“ bei der Würzburger Synode (1971 – 1975) und der Vorbereitung der Katholikentage seit Mönchengladbach (1974), vor allem im Bereich des sogenannten „Geistlichen Zentrums“. Im Vorfeld des Aachener Katholikentages (1986) lädt der damalige Bischof von Aachen und geistliche Assistent des Zentralkomitees des ZdK, Dr. Klaus Hemmerle (1929 – 1994), Vertreter und Vertreterinnen von fünfzehn Geistlichen Gemeinschaften und Bewegungen zu einem Vorbereitungstreffen ein. 1 Der Titel orientiert sich an dem von Prof. P. Stephan Haering OSB veröffentlichten Artikel: Der Ordensreferent. Kirchenrechtliche Beobachtungen zu einem Amt der Bischöflichen Kurie, in: OK 43 (2002), S. 272 – 282. 2 Vgl. Papst Benedikt XVI., Impulse des Geistes. Erwartungen an die kirchlichen Bewegungen und neuen Gemeinschaften, Vallendar 2007; Chiara Lubich, Für eine Kirche der Zukunft. Der Dialog unter Neuen Geistlichen Gemeinschaften seit Pfingsten 1998, in: Christoph Hegge (Hrsg.), Kirche bricht auf. Die Dynamik der Neuen Geistlichen Gemeinschaften, Münster, 2005, S. 94 – 112. 3 Zur ihrer weltkirchlichen Entstehung und Entwicklung, sowie zur theologischen Reflektion vgl. u. a. Walter Kardinal Kasper, Katholische Kirche. Wesen – Wirklichkeit, Sendung, Freiburg 2011, S. 407 f.; Andrea Riccardi, Kirche in Umbruch und Bewegung. Die geschichtlichen Wurzeln der Neuen Geistlichen Gemeinschaften, in: Hegge, Kirche bricht auf (Anm. 2), S. 35 – 54; Paul Josef Cordes, Mitten in unserer Welt. Kräfte geistlicher Erneuerung, Freiburg 1987; ders., Nicht immer das alte Lied. Neue Glaubensanstöße für die Kirche, Paderborn 1999; Herbert Schlögel, Neue geistliche Bewegungen. Ein Beitrag zum Ethos in der Kirche, in: Theologie der Gegenwart 33 (1990), S. 256 – 266; Marianne Tigges, Neue geistliche Bewegungen. Eine Anfrage an Berufung und Sendung der Kirche heute, in: OK 28 (1987), S. 289 – 299.

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Aus diesem Treffen geht als Folge der „Gesprächskreis Geistliche Gemeinschaften und Bewegungen in der katholischen Kirche“ (GGG) hervor, der seitdem zweimal im Jahr zusammenkommt. Nach intensiven internen Beratungen erscheint 1995 ein Selbstverständnispapier mit dem Titel „Christ werden – Kirche leben – Welt gestalten“.4 Die beteiligten Gemeinschaften beschreiben in dieser Broschüre ihre gemeinsamen Merkmale und legen erstmals Kriterien einer Mitgliedschaft fest, an denen sich künftig movimenti orientieren sollen, die eine Teilnahme am Gesprächskreis anstreben.5 Parallel zum Selbstverständnispapier verfasst der ständige Arbeitskreis „Geistliche Gemeinschaften“ im ZdK ein Arbeitspapier mit dem Titel „Miteinander unterwegs. Einladung zum Dialog zwischen Gemeinden, Verbänden und geistlichen Gemeinschaften und Bewegungen“6, das 1995 publiziert wird. Es besteht im Wesentlichen aus einer Vorstellung von 15 Gemeinschaften, die zum Teil identisch mit denen des Gesprächskreises sind.7 Seit diesen Anfängen in Deutschland und dem „pfingstlichen Ereignis“ mit dem deutlichen Votum des Papstes zugunsten der movimenti sind Jahre vergangen. Zahlreiche (Geistliche) Gemeinschaften und Bewegungen haben sich in Teilkirchen angesiedelt und in Gemeinden eingebracht.8 Vielfach sind sie angenommen und akzeptiert, an anderen Orten erregen sie Widerspruch oder fordern Reaktion heraus. Mit der pastoralen Eingliederung in die Gemeindestruktur verbindet sich die Frage der Mitglieder der movimenti nach lebbaren Gemeinschafts- und Leitungsstrukturen und der rechtlichen Verortung der Bewegungen und Gemeinschaften im kirchlichen 4 Leider ist dieser Beitrag zum Selbstverständnis der movimenti nicht über den Buchhandel erhältlich. Der Text ist publiziert unter: http://www.gcl.de/downloads/selbstverständnis. 5 Seit den neunziger Jahren ist die Landschaft der movimenti wesentlich größer und damit auch unübersichtlicher geworden. Eine von den Gemeinschaften selbst verantwortete Internetseite listet Ende 2010 siebzig Gemeinschaften bzw. Bewegungen auf, die in Deutschland vertreten sind (Adresse: www.geistliche-gemeinschaft.de). Manche der dort aufgeführten Bewegungen sind nur sehr klein oder auf eine bestimmte Region begrenzt. Eine von der Deutschen Bischofskonferenz eingerichtete „Arbeitsgruppe: Kirchliche Bewegungen und Geistliche Gemeinschaften“ ermittelte durch Rückfrage bei den (Erz-)Diözesen im Jahre 2010 insgesamt 83 approbierte Gemeinschaften mit ca. 83.000 Mitgliedern, von denen 117 Mitglieder in zölibatären Wohngemeinschaften lebten. 6 Zentralkomitee der deutschen Katholiken (Hrsg.), Miteinander auf dem Weg. Einladung zum Dialog zwischen Gemeinden, Verbänden und geistlichen Gemeinschaften und Bewegungen, in: Berichte und Dokumente, Bonn 1995, Heft 99. 7 Den beteiligten fünfzehn Gemeinschaften oder Bewegungen wurden 12 Fragen zur Gründung, Entwicklung, Spiritualität und Mitgliedsformen, zu spezifischen Anliegen und Tätigkeiten vorgelegt, sowie Fragen der Vernetzung mit der Weltkirche und den jeweiligen Ortskirchen, in denen sie tätig sind. Vgl. ZDK (Hrsg.), Miteinander auf dem Weg (Anm. 6), S. 18 – 74. 8 Vgl. für Deutschland: Päpstlicher Laienrat (Hrsg.), Die geistlichen Gemeinschaften der katholischen Kirche. Kompendium, Leipzig 2006; für Österreich: Katholischer Laienrat Österreichs (Hrsg.) Apostolische Bewegungen im Katholischen Laienrat Österreichs. Selbstverständnis, Spiritualität, Struktur, Formung, Arbeitsschwerpunkte, Wien 1997.

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bzw. staatlichen Kontext und damit in den jeweiligen Rechtssystemen. Mit der Etablierung der movimenti in den kirchlichen Strukturen der deutschen Teilkirche stellen sich Fragen nach den bischöflichen Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten, sowie einer aus der rechtlichen Zuordnung erwachsenden möglichen vigilantia der Bischofs für die movimenti. I. Rechtliche Zuordnung der movimenti 1. movimenti – eine begriffliche Annäherung „Woran erkennt man, dass es sich bei einer religiösen Bewegung um eine so genannte Neue Geistliche Gemeinschaft oder Bewegung handelt und nicht vielmehr um eine Spielart der Esoterik oder des New Age oder gar um eine Sekte?“, fragt Michael Hochschild in einem Aufsatz, der die soziologischen Aspekte der Neuen (Geistlichen) Gemeinschaften reflektiert. Seine Antwort ist bestechend einfach: „Sie ist keine außerkirchliche Bewegung, wenn sie innerkirchlich beheimatet ist und zwar sowohl im Blick auf grundsätzliche Glaubensaussagen als auch im Blick auf die rechtliche Anerkennung seitens der Kirche als Organisation.“9 Was aber verbirgt sich hinter dem Begriff der movimenti? Der Terminus movimenti10 ist ein Sammelbegriff für neue katholische Bewegungen und (Geistliche) Gemeinschaften, die insbesondere seit dem II. Vatikanischem Konzil in zunehmender Zahl gegründet wurden und eine eigene Laienspiritualität in der katholischen Kirchen entwickelten.11 In seiner Botschaft an die Teilnehmer des Weltkongresses der kirchlichen Bewegungen und neuen (Geistlichen) Gemeinschaften vom 27. Mai 1998 bezeichnete Papst Johannes Paul II. diese als eine Realität der Kirche, „bei der vorwiegend Laien beteiligt sind, einen Weg des Glaubens und des christlichen Zeugnisses […], der die eigene Bildungs- und Erziehungsmethode auf ein bestimmtes Charisma gründet, das der Person des Gründers unter gewissen Um9 Michael Hochschild, Zukunftslaboratorien. Soziologische Aspekte der Neuen Geistlichen Gemeinschaft, in: Hegge, Kirche bricht auf (Anm. 2), S. 7 – 34, hier S. 7. 10 Jean Beyer unterscheidet aus theologischer Sicht drei Arten von movimenti: – Laikale: Sie bestehen ausschließlich aus Laien, die ihre laikale Berufung mit besonderer Intensität leben und auf diese Weise an der Erfüllung des kirchlichen Sendungsauftrages mitarbeiten wollen. – Geistliche: Sie wollen nach Art der Drittorden das innere Leben ihrer Mitglieder fördern. – Kirchliche: Ihnen gehören Mitglieder der unterschiedlichsten Kategorien und Stände der Christgläubigen an, die am Charisma einer Gemeinschaft teilhaben und das kirchliche Leben nach den verschiedenen Aspekten ihrer Berufung und ihres Dienstes in größerer Fülle leben wollen. Vgl. Jean Beyer, Il rinnovamento del diritto e del laicato nella Chiese, Mailand 1994, S. 152 – 154. 11 Dominicus M. Meier, „Nicht das vereinheitlichen, was der Hl. Geist vielgestaltig gewollt hat!“ Der kirchenrechtliche Ort der movimenti, in: Erbe und Auftrag 85 (2009), S. 200 – 202, hier S. 201.

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ständen und Weisen geschenkt wurde“12. Allen diesen Bewegungen und (Geistlichen) Gemeinschaften ist gemeinsam, dass sie sich aufgrund eines sie verbindenden Gründer- oder Gründungscharismas als Zusammenschlüsse von Personen verschiedener Lebenssituationen und Stände (Eheleute, Alleinstehende, zölibatär Lebende, junge u. alte Menschen, Priester, Ordensleute, interkonfessionell) verstehen, aber – kein Ordensinstitut (cc. 573 – 709 CIC), – kein Säkularinstitut (cc. 710 – 730 CIC), – keine Gesellschaft des apostolischen Lebens (cc. 731 – 746 CIC), – keine Personalprälatur (cc. 294 – 297 CIC) und – keinen Dritter Orden (c. 303 CIC) im kirchenrechtlichen Sinne darstellen. Sie können damit nicht als Institute des geweihten Lebens bezeichnet werden, sondern sind den unterschiedlichen Vereinigungsformen von Laien (christifideles) im kanonischen Recht zuzuordnen, da sie vom kodikarischen Grundrecht der Vereinigungsfreiheit in der Kirche Gebrauch machen, wie es in c. 215 i. V. m. c. 299 § 1 CIC statuiert ist. Infolge der Neuigkeit und Vielfalt ihrer unterschiedlichen Manifestationen gibt es weder eine gemeinsame Terminologie noch eine Definition, die vom kirchlichen Gesetzgeber vorgegeben oder von den kirchenrechtlichen Autoren anerkannt wäre.13 2. movimenti und das kodikarische Vereinsrecht Der kirchliche Gesetzgeber schenkt den movimenti im Codex nur indirekt und in sehr begrenztem Umfang Aufmerksamkeit im Abschnitt „De christifidelium consociationibus“ (cc. 298 – 329 CIC), und zwar genau genommen nur in den cc. 298 § 1 und 327 CIC. Dieser nüchterne normative Befund dokumentiert, dass der Gesetzgeber keine eigene Definition für die movimenti geschaffen hat, sondern sie auf die möglichen Rechtsformen für Vereinigungen von Christgläubigen im Codex verweist. Dieser rechtliche Mangel tritt dadurch verstärkt in den Blick, dass es innerhalb der movimenti Gemeinschaften bzw. Gruppierungen gibt, die nicht die kodikarische Vereinsform verwenden, aber kraft ihres „Urcharismas“ eine besondere missionarische Kraft besitzen und dieses in den Teilkirchen leben wollen.14

12 Papst Johannes Paul II., Botschaft an die Teilnehmer des Weltkongresses der kirchlichen Bewegungen und neuen Gemeinschaften (27. Mai 1998) Nr. 4, in: Der Apostolische Stuhl 1998, S. 557. 13 Llu†z Mart†nez Sistach, Die Vereine von Gläubigen (Kirchen- und Staatskirchenrecht 8), Paderborn 2008, S. 119. 14 In den Selbstdarstellungen einzelner movimenti wird dieser Umstand als Plädoyer für die Priorität des geistlich-charismatischen Aspekts vor der strukturell-institutionellen Dimension vermittelt und als Besonderheit herausgestellt.

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Gemäß ihrem Charisma bzw. ihrer Intention können die movimenti mangels einer den Bewegungen und (Geistlichen) Gemeinschaften eigenen Rechtsform in allen kanonischen Formen des kirchlichen Vereinsrechts (cc. 298 – 329 CIC) als – privater nichtrechtsfähiger Verein (cc. 299; 321 – 326 CIC); – privater rechtsfähiger Verein (cc. 299; 321 – 326 CIC) oder – öffentlicher rechtsfähiger Verein (cc. 301; 312 – 320 CIC) von der zuständigen kirchlichen Autorität anerkannt oder errichtet werden (vgl. c. 312 CIC), sofern sie eine der im allgemeinen Kirchenrecht gesetzlich umschriebenen Zielsetzungen verfolgen (vgl. cc. 215 u. 298 § 1 CIC): Caritas, Frömmigkeit, Förderung der christlichen Berufung in der Welt, Pflege eines vollkommeneren Lebens, Förderung des kirchenamtlichen Gottesdienstes, Förderung der christlichen Liebe oder Evangelisierung. Keine private Vereinigung von Christgläubigen kann nach c. 322 § 1 CIC Rechtspersönlichkeit erlangen, wenn nicht ihre Statuten von der in c. 321 § 1 CIC genannten kirchlichen Autorität gebilligt (probiert) sind; die Billigung der Statuten aber verändert nicht den privaten Charakter der Vereinigung. Dabei kann die Verleihung der Rechtspersönlichkeit im Zuge ihrer Gründung erfolgen; sie kann aber auch später geschehen. Nicht erforderlich ist ein schrittweises Durchlaufen der verschiedenen Stadien mit dem Ziele einer kanonischen Höherqualifizierung. Die Mehrzahl der movimenti sind als „Vereinigungen von Gläubigen“ bischöflichen oder päpstlichen Rechts approbiert (vgl. für private Vereinigungen c. 299 CIC; für öffentliche Vereinigungen c. 312 § 1 CIC); jüngere Gemeinschaften, die in Entstehung begriffen sind, entfalten sich im Rahmen der Vereinigungsfreiheit der Gläubigen (c. 215 CIC), bevor sie sich eine Rechtsform wählen. Sie sind meist übergemeindlich und überdiözesan organisiert und weisen eine regional unterschiedliche Verbreitung auf. Die Formen der Mitgliedschaft bzw. Bindung der Mitglieder an die movimenti können aufgrund der (Vereins-)Statuten und des Stadiums der Errichtung sehr unterschiedlich gewichtet sein: Freunde, Sympathisanten, einfache Mitglieder oder Mitglieder mit bindenden (zeitweiligen) Versprechen. Unbeschadet der Bestimmungen des kirchlichen Gesetzgebers über die Mitgliedschaft in einem öffentlichen-kirchlichen Verein (siehe c. 316 CIC) ist daher in der Satzung der betreffenden Vereinigung Näheres zum Erwerb und zum Verlust der Mitgliedschaft zu verankern. Was die movimenti von den klassischen Orden und Kongregationen unterscheidet, ist, dass ihre Bindungen nicht auf einer radikalen Lebensentscheidung mit lebenslangen kirchenamtlichen Gelübden gründen, auch wenn es irgendwie gestaltete bindende Mitgliedsversprechen geben kann, sondern dass sie sich strukturell eher als Spontangruppen bzw. Assoziationen mit unterschiedlichsten kanonischen wie staatlichen Rechtsformen verstehen.

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Als kirchliche Vereinigungen besitzen sie eine rechtlich umschriebene Autonomie. Sie entstehen und wirken in einem Bereich, der im Rahmen und unter dem besonderen Schutz der kirchlichen Ordnung eine eigenverantwortliche Teilhabe am Sendungsauftrag der Kirche ermöglicht und sichert. Die Autonomie von Vereinigungen zeigt sich: (1) in organisatorischer Hinsicht (Gründungsinitiative, Satzungsautonomie), (2) im Hinblick auf das konkrete Leben der Vereinigung und (3) im Hinblick auf die Vereinsleitung. Autonomie im kanonischen Sinne bedeutet weder völlige Unabhängigkeit noch Willkür, sondern Eigenverantwortung im Rahmen der eigenen Statuten, d. h. des dem Codex untergeordneten Rechts. Die Reichweite wird maßgeblich bestimmt von der Art der Zielsetzung und der Vorgehensweise sowie des Anspruchs, mit dem die Vereinigung in der kirchlichen Öffentlichkeit auftritt. Als freier Zusammenschluss von Gläubigen gemäß c. 215 CIC bestimmen die movimenti ihre Zielsetzung im Rahmen kirchlicher Vereinigungen autonom. Sie können ihre innere Ordnung, die einer kirchenamtlichen Bestätigung nicht bedarf, und ihre praktische Tätigkeit in weitestgehender Autonomie gestalten. Als kirchliche Vereinigung haben sie jedoch bestimmte rechtliche Vorgaben zu erfüllen: (1) in ihrer Tätigkeit müssen sie all jenen Erfordernissen des kanonischen Rechts genügen, welche die Gläubigen bei der Wahrnehmung ihrer Rechte zu beachten haben, insbesondere die Gemeinwohlverpflichtung gemäß c. 223 § 1 CIC; (2) sie unterliegen in ihrer und ihrer Mitglieder Aktivitäten der kirchenamtlichen Aufsicht, d. h. dem Apostolischen Stuhl bzw. dem Ortsordinarius (c. 305 § 2 CIC); (3) falls sie sich in der Ausübung ihrer Tätigkeit gegenüber dem Gemeinwohl der Kirche abträglich verhalten, müssen sie damit rechnen, dass sich die kirchliche Autorität nach vergeblicher Abmahnung von ihnen distanziert. Der Erwerb der rechtlichen Qualifizierung der movimenti ist darüber hinaus an die Erfüllung bestimmter Vorgaben gebunden. (1) Ein Zusammenschluss ist ein kanonischer Verein, wenn er den einschlägigen Anforderungen des Vereinsrechts (cc. 298 – 329 CIC) entspricht und seine satzungsgemäß festzulegende innere Ordnung in der für einen kanonischen Verein rechtlich gebotenen Form autorisiert ist. Die Autorisierung geschieht durch Überprüfung (c. 299 § 3 CIC) oder durch Billigung (c. 322 § 2 CIC) bzw. Genehmigung (c. 314 CIC) der vorgelegten Satzung. (2) Für die Autorisierung gemäß cc. 299 § 3, 314 und 322 § 2 CIC ist zuständig: – der Diözesanbischof bei diözesanen Vereinen, – der Diözesanbischof des Hauptsitzes bei mehrdiözesanen Vereinen,

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– die Deutsche Bischofskonferenz bei Vereinen, die gemäß ihrer Vereinssatzung im Gesamtgebiet der Bischofskonferenz tätig sein wollen.

II. Kuriale Verortung der movimenti und das Amt des Beauftragten15 Wie zuvor schon festgestellt, schenkt der kirchliche Gesetzgeber bei der Promulgation des Codex Iuris Canonici im Jahre 1983 den movimenti keine größere Aufmerksamkeit. Daher verwundert es nicht, dass es das Amt eines Beauftragten für die movimenti im allgemeinen Recht nicht gibt. Ein Blick in die Schematismen der deutschen (Erz-)Diözesen und die dort vorgenommene strukturelle Zuordnung der Aufgabe zeigt, dass es sich bei dem Beauftragten für die movimenti entweder um ein Amt in der bischöflichen Kurie handelt, die sich ihrerseits aus den verschiedenen Einrichtungen und Personen zusammensetzt, die den Bischof bei der Leitung der (Erz-)Diözese unterstützen (vgl. c. 469 CIC), oder dass diese Aufgabe einem außerhalb der Kurie tätigen Priester bzw. Mitarbeiter einer diözesanen Institution übertragen wird. Schon diese Breite der Einordnungsmöglichkeiten verdeutlicht, dass es derzeit keine gemeinsame Sicht über die Stellenbeschreibung des Beauftragten in den deutschen (Erz-)Diözesen gibt. Die Stelle wird in einzelnen (Erz-)Diözesen von einem Bischofsvikar geleitet, andernorts sind Domkapitulare bzw. Ordinariatsräte als Beauftragte tätig, oder ein Mitarbeiter auf der nachgeordneten Bistumsebene erledigt als Fachbereichs- oder Abteilungsleiter innerhalb eines größeren Referats die anstehenden Agenden.16 15

Im Folgenden wird aus Gründen der Lesbarkeit die männliche Form für die Amtsbezeichnung verwendet. 16 Innerhalb der Diözesen Deutschland sind folgende Stabsstellen mit den movimenti befasst (Stand Mai 2011): – Aachen: Fachstelle Exerzitienarbeit; – Augsburg: Referat Spirituelle Dienste; – Bamberg: Bischöflicher Beauftragter; – Berlin: Referat für Orden und Geistliche Gemeinschaften; – Dresden-Meißen: Abteilung Pastoral; – Eichstätt: Bischöflicher Beauftragter; – Erfurt: Personalreferat Priester und Diakone, Ansprechpartner für Kirchliche Bewegungen; – Essen: Dezernat Pastoral – Abteilung Gemeinde und Lebensraum; – Freiburg: Geistliches Zentrum St. Peter; – Fulda: Diözesanstelle Berufe der Kirche; – Görlitz: Seelsorgeamt; – Hamburg: Pastorale Dienstelle; – Hildesheim: Missionarische Seelsorge/Verkündigung in der Hauptabteilung Pastoral; – Köln: Hauptabteilung Pastoral, Stabsstelle Spiritualität und Gottesdienst;

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Diese Zuordnung der Stelle im Organigramm einer (Erz-)Diözese kann sowohl traditionelle, persönliche, finanzielle als auch strukturelle Gründe haben. Die Stelleninhaber agieren gleichsam an der Schnittstelle zwischen dem Bischof und den verschiedenen movimenti. Die Zuordnung der Angelegenheiten der movimenti zu einem Bischofsvikar, einem Domkapitular, einem priesterlichen oder nichtpriesterlichen Ordinariatsrat oder einem nachgeordneten Mitarbeiter hat freilich nicht protokollarische Bedeutung, wie Haering im Blick auf die Ordensinstitute schon feststellte, sondern ist vor allem für die Amtsbefugnisse des Beauftragten von Belang.17 Sofern der Beauftragte selbst nicht mit einer erforderlichen Vollmacht ausgestattet ist, wird er in allen die movimenti betreffenden Fragen und Maßnahmen Voten erstellen, um sie dann dem Diözesanbischof zur Entscheidung vorzulegen. Als Beauftragte können vom Diözesanbischof bestellt werden alle geeigneten Personen18, auch wenn sie selbst Mitglieder von movimenti sind. Priester, Diakone und Laien, Männer und Frauen, können als Beauftragte bestellt werden, allerdings nur mit den Befugnissen, die ihnen aufgrund ihrer Gliedschaftsstellung in der Kirche zugänglich sind.

III. Aufgaben- und Geschäftsbereiche eines Beauftragten Der Codex Iuris Canonici benennt an verschiedenen Stellen mögliche Aufgabenund Geschäftsbereiche, in denen kirchliche Vereinigungen und die (Teil-)Kirche in Berührung kommen und in rechtserheblicher Form zusammenwirken. Diese Angelegenheiten sind als bevorzugtes Tätigkeitsfeld eines Beauftragten für die movimenti anzusehen, insofern sich die movimenti der vereinsrechtlichen kodikarischen Formen – Limburg:

Bischofsvikar für die Orden und Geistlichen Gemeinschaften; Ordensreferat; – Magdeburg: Bereich Pastoral; – Mainz: Exerzitienhaus der Diözese, Zentrum für Glaubensvertiefung und Spiritualität; – München und Freising: Seelsorgereferat; – Münster: Abteilung Orden, Säkularinstitute und Neue Geistliche Gemeinschaften; – Osnabrück: Ordensreferat, Bischöflicher Beauftragter; – Paderborn: Hauptabteilung Pastorale Dienste; – Passau: Seelsorgeamt; – Regensburg: Referat Orden und Geistliche Gemeinschaften; – Rottenburg-Stuttgart: Hauptabteilung II: Orden, Säkularinstitute und Geistliche Gemeinschaften; – Speyer: Abteilung Spirituelle Bildung/Exerzitienwerk; – Trier: Seelsorgeamt; – Würzburg: Hauptabteilung IV: Außerschulische Bildung. 17 Vgl. Haering, Der Ordensreferent (Anm. 1), S. 273. 18 Mitbringen sollte man für diese Aufgabe neben wichtigen menschlichen Qualitäten wie Dialogfähigkeit, Geduld, Verständnis und Menschenkenntnis wohl auch rechtliche Kenntnisse oder wenigstens die Bereitschaft, diese zu erwerben. Der Beauftragte sollte ferner in der Lage sein, die Fähigkeiten anderer für das breite Arbeitsfeld der movimenti zu erschließen und fruchtbar zu machen.

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bedienen. Dabei muss der Beauftragte sich bewusst sein, dass seine Tätigkeit sich im Spannungsfeld von gebührender Vereinsautonomie und hierarchischer Bindung bewegt. Mit den Aufgaben, die sich aus dem kodikarischen Recht ergeben, erschöpft sich das Arbeitsfeld des Beauftragten aber keineswegs. Hinzu kommen sowohl die Koordination unter den movimenti, mit den Beauftragten der einzelnen Diözesen und der Bischofskonferenz, als auch ein Austausch mit bestehenden und sich noch konstituierenden Bewegungen und (Geistlichen) Gemeinschaften. Er ist Auskunftsperson für Gemeinden, Berufsgruppen und Verbänden in Fragen der movimenti. Unter drei Gesichtspunkten sollen im Folgenden die Aufgaben- und Geschäftsbereiche betrachtet werden. 1. Bindeglied zwischen Diözesankurie und movimenti In der Praxis macht sicher einen wichtigen Teil der Aufgaben des Beauftragten die Unterstützung und Begleitung der movimenti in den verschiedenen kirchlichen diözesanen Strukturen aus. Er ist gleichsam das Bindeglied zwischen den einzelnen Bewegungen bzw. (Geistlichen) Gemeinschaften und den kirchlichen Einrichtungen, vor allem der Diözesanleitung. Der Beauftragte fördert den Kontakt zwischen den movimenti mit der diözesanen Kurie, schafft Möglichkeiten zur Kooperation und hält den Kontakt. Als Kontaktperson zu den Bewegungen und (Geistlichen) Gemeinschaften vermittelt sein Handeln ein grundsätzliches Wohlwollen der Teilkirche, öffnet den Anliegen der Bewegungen und (Geistlichen) Gemeinschaften eine Tür in den derzeitigen Strukturveränderungen und trägt Sorge dafür, dass Delegierte aus den movimenti in diözesanen Räten vertreten sind, insofern die entsprechenden Satzungen dies zulassen. Für die Stellung des Beauftragten als Bindeglied zwischen Diözesanleitung, diözesaner Kurie und den movimenti ist sicher seine strukturelle Einbindung in die Diözesanstruktur zu überdenken. Wie schon gesagt, können vom Diözesanbischof bestellt werden alle geeigneten Personen, auch wenn sie selbst Mitglieder von movimenti sind. Priester, Diakone und Laien, Männer und Frauen, können als Beauftragte(r) bestellt werden, allerdings nur mit den Befugnissen, die ihnen aufgrund ihrer Gliedschaftsstellung in der Kirche zugänglich sind. Hierauf müssten das Bestellungsschreiben bzw. eine Arbeitsplatzbeschreibung Bezug nehmen. Ferner sollte bei der Beschreibung eine etwaige zeitliche Befristung der Aufgabe normiert, eine Freistellung von anderen diözesanen Aufgaben und vor allem die Eigenständigkeit der Aufgabe gegenüber anderen kurialen Stabsstellen statuiert werden, was sicher im Blick auf ein mögliches finanzielles Budget für den Beauftragten Bedeutung haben wird. 2. Fachliche Begleitung und Korrektur Kirchliche Vereinigungen besitzen Autonomie. Sie entstehen und wirken in einem Bereich, der im Rahmen und unter dem besonderen Schutz der kirchlichen

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Ordnung den Gläubigen eine eigenverantwortliche Teilhabe am Sendungsauftrag der Kirche ermöglicht und sichert. Die Autonomie von Vereinigungen zeigt sich: – in organisatorischer Hinsicht (Gründungsinitiative, Satzungsautonomie), – im Hinblick auf das konkrete Leben der Vereinigung und – im Hinblick auf die Vereinsleitung. Autonomie im kanonischen Sinne bedeutet weder völlige Unabhängigkeit noch Willkür, sondern Eigenverantwortung im Rahmen der eigenen Statuten. Die Reichweite wird maßgeblich bestimmt von der Art des Zielsetzung und der Vorgehensweise sowie des Anspruchs, mit dem die Vereinigung in der kirchlichen Öffentlichkeit auftritt. Ein Schwerpunkt der Aufgabe des Beauftragten wird die kompetente theologische, pastorale und kirchenrechtliche Begleitung der movimenti von den Erstkontakten mit der Diözesanleitung bis zur Approbation und Errichtung der Bewegung bzw. (Geistlichen) Gemeinschaft innerhalb einer Diözese und der Anerkennung der Statuten als dem rechtlichen Rahmen sein. a) Approbation und Errichtung Der Erstkontakt der Verantwortlichen der movimenti wird sicher zumeist über den Ortsordinarius erfolgen, der jedoch zeitnah den Beauftragten informieren und zu weiteren Gesprächen und Klärungen beiziehen sollte. Ein zeitnaher Kontakt zwischen Ortsordinarius und dem Beauftragten scheint angeraten, damit die Gesprächspartner aus den movimenti nicht die Diözesanverantwortlichen gegeneinander ausspielen und in notwendigen Entscheidungen durch Fehlinformation beeinflussen können. Eine Bewegung bzw. (Geistliche) Gemeinschaft sollte dort approbiert werden, wo der Schwerpunkt ihrer Aktivitäten liegt bzw. wo sie im Blick auf ihre Mitgliederstärke eine gewisse Bestandsgarantie und Stabilität geben kann.19 Aufgabe des Beauftragten wird es sein, im Kontakt mit der interessierten Bewegung bzw. (Geistlichen) Gemeinschaft die Möglichkeit in der jeweiligen Diözese zu bewerten und Fragen nach der Kirchlichkeit der Bewegung bzw. (Geistlichen) Gemeinschaft zu erörtern.20 19

Die zuständige Autorität für die Approbation bzw. Errichtung eines kirchlichen Vereins ist je nach Ausbreitung und Intention der Bewegung der Ortsordinarius, die Bischofskonferenz oder der Päpstliche Rat für die Laien. 20 Daher scheint mir eine möglichst objektive Haltung des Beauftragten gegenüber den movimenti notwendig. Er darf sich weder durch sie vereinnahmen lassen, noch darf er die katholische Weite spiritueller Ausrichtungen einseitig einengen und durch rechtliche Hürden einzugrenzen versuchen. Zu Kirchlichkeitskriterien der movimenti vgl.: Gianfranco Ghirlanda, Criteria of Ecclesiality for the Recognition of the Ecclesial Movements by the Diocesan Bishop, in: Pontificium Concilium pro Laicis (Hrsg.), The Ecclesial Movements in the Pastoral Concern of the Bishops (Laity Today 4), Vatikan 2000, S. 203 – 214; Llu†z Mart†nez Sistach, Freedom of Association in the Church, in: The Ecclesial Movements, S. 187 – 202.

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Insbesondere setzt die Approbation oder Errichtung voraus, dass die movimenti in ihrer Spiritualität und Theologie der Lehre der Kirche nicht widersprechen. Im Nachsynodalen Schreiben „Christifideles laici“ vom 30. Dezember 1988 nennt Papst Johannes Paul II. grundlegende Kriterien für die Unterscheidung eines jeden Zusammenschlusses von Laien: – Der Primat der Berufung eines jeden Christen zur Heiligkeit. Alle Zusammenschlüsse von Laien und jeder einzelne von ihnen sind dazu berufen, immer profilierter Werkzeug der Heiligkeit in der Kirche zu sein, indem sie eine innigere Einheit zwischen dem praktischen Leben ihrer Mitglieder und ihrem Glauben fördern und pflegen. – Die Verantwortung für das Bekenntnis des katholischen Glaubens. Jeder Zusammenschluss von Laien muss Ort der Verkündigung und der Weitergabe des Glaubens sowie einer Glaubenserziehung sein, die die Gesamtheit der Inhalte des Glaubens umfasst. – Das Zeugnis einer tiefen und überzeugten communio. Die Gemeinschaft mit dem Papst und mit dem Bischof muss sich äußern in der aufrichtigen Bereitschaft, ihr Lehramt und ihre pastoralen Richtlinien anzunehmen. Die Gemeinschaft mit der Kirche erfordert die Anerkennung des legitimen Pluralismus der Laienzusammenschlüsse und zugleich die Bereitschaft zur Zusammenarbeit mit allen. – Die Übereinstimmung mit der apostolischen Zielsetzung der Kirche. In diesem Sinn muss von allen Formen von Laienzusammenschlüssen und von jeder Bewegung der missionarische Elan gefordert werden, der sie immer mehr zu Subjekten einer neuen Evangelisierung macht. – Die Verpflichtung zu einer engagierten Präsenz in der menschlichen Gesellschaft. Die Zusammenschlüsse der Laien müssen einen lebendigen Einsatz in der Teilnahme und Solidarität aufzeigen, um in der Gesellschaft gerechtere und geschwisterlichere Lebensbedingungen zu schaffen.21 Diese ausgeführten Grundkriterien können, so der Papst weiter, an den konkreten Früchten, die das Leben und Wirken der verschiedenen Vereinigungen aufweisen, gemessen werden, wie erneute Freude am Gebet, an der Kontemplation, am liturgischen und sakramentalen Leben; Früchte von Berufungen zu christlichen Ehen, von Priesterberufen und Berufungen für das gottgeweihte Leben. Dabei scheint ihm die Bereitschaft der movimenti von Bedeutung zu sein, sich in die Strukturen und Initiativen der Kirche auf Ortsebene, auf nationaler und internationaler Ebene einzubringen.

21 Vgl. Johannes Paul II., Nachsynodales Apostolisches Schreiben „Christifideles laici“ über die Berufung und Sendung der Laien in Kirche und Welt vom 30. Dezember 1988, in: Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Hrsg.), VApSt 87, Bonn 1989, S. 46 f.

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Die Ziele und Zwecke der movimenti, die als kanonische Vereine approbiert oder errichtet werden wollen, müssen sich innerhalb des vom kirchlichen Gesetzgeber normierten Rahmens bewegen, die da sind: – Ausrichtung auf das Gemeinwohl der Kirche (c. 114 § 1 CIC), – Werke der Frömmigkeit, des Apostolats und der Caritas in geistlicher und zeitlicher Hinsicht (cc. 114 § 2, 215, 298 CIC), – Förderung der christlichen Berufung (c. 215 CIC) und – Streben nach höherer Vollkommenheit, Förderung der christlichen Lehre, Evangelisierung, Belebung der weltlichen Ordnung mit christlichem Geist, Förderung der tiefen Verbindung von Glauben und Leben (cc. 298, 327 CIC). Für die von der kirchlichen Autorität errichteten movimenti in der Rechtsform einer öffentlichen Vereinigung kommen ergänzend als Ziel und Zweck hinzu (vgl. c. 301 §§1 – 2 CIC): – Verkündigung der christlichen Lehre „nomine Ecclesiae“, – Förderung des amtlichen Gottesdienstes, und – Verfolgung anderer Ziele, die ihrer Natur nach der kirchlichen Autorität vorbehalten sind. Mit der Errichtung einer Bewegung bzw. (Geistlichen) Gemeinschaft wird weder in Aussicht gestellt noch ein Recht erworben, mittelfristig oder langfristig von der bestätigenden Autorität als Institut des geweihten Lebens bzw. als ein Säkularinstitut errichtet zu werden. Es ist Aufgabe des Beauftragten, die movimenti in dieser Hinsicht deutlich zu informieren, um späteren Verstimmungen vorzubeugen. Vor der Approbation gemäß c. 299 § 3 CIC oder der Errichtung der Bewegung bzw. (Geistlichen) Gemeinschaft als privater oder öffentlicher Verein sollte der Beauftragte ein Votum aller Diözesen einholen, in denen die Bewegung bzw. (Geistliche) Gemeinschaft bereits tätig ist, und mit den dort Verantwortlichen über anstehende Fragen korrespondieren. Sollte es zu keinen Beanstandungen kommen, steht der Errichtung nichts im Wege. b) Approbation der Statuten Ein auf privater Gründungsinitiative beruhender Zusammenschluss von Gläubigen wird als ein kanonischer Verein approbiert, wenn seine Statuten durch die zuständige kirchliche Autorität überprüft wurden. Diese Überprüfung dient der Feststellung, dass die innere Ordnung des Vereins nichts enthält, was den Anforderungen des Rechts, vor allem des allgemeinen Kirchenrechts für einen kanonischen Verein, zuwiderläuft. Dabei sind folgende Kriterien leitend: – die Lehre der Kirche und die Unversehrtheit der Sitten, – die Vorschriften des geltenden allgemeinen und partikularen Rechts,

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– die Nützlichkeit, wobei auch eine Zersplitterung der Kräfte vermieden werden muss, die darin besteht, dass an einem Ort mehrere Vereine mit derselben Zielsetzung existieren, – die notwendige oder zweckdienliche Vorgehensweise des Vereins nach Maßgabe von Zeit und Ort und – das Gemeinwohl der Kirche. Zugleich dient die Überprüfung der Kenntnisnahme durch die kirchliche Autorität sowie der Feststellung, welche kirchliche Autorität für den Verein im Sinne des c. 299 § 3 CIC Leitungsautorität besitzt, denn nur so kann die Durchführung der entsprechenden Vereinsaufsicht gewährleistet werden. Auf der Grundlage dessen, was die Mitwirkung der kirchlichen Autorität und das allgemeine Prinzip des Gemeinwohls beinhalten, kann die betreffende Autorität die Anerkennung von Statuten, die ihr vorgelegt worden sind, davon abhängig machen, ob diese eigene Bestimmungen enthalten, die die Beziehung des Vereins zur kirchlichen Autorität regeln. Demnach kann die zuständige Autorität mit ihrem Eingreifen die folgenden Entscheidungen treffen: – Statuten anerkennen, wenn die zuvor genannten Kriterien erfüllt sind. Damit erhält die Bewegung bzw. (Geistliche) Bewegung die Rechtsform eines privaten Vereins im Sinne des c. 299 CIC. Falls die Überprüfung der Statuten keine Beanstandung erbringt, besteht ein Rechtsanspruch auf Anerkennung als nichtrechtsfähiger privater kanonischer Verein.22 Ratsam erscheint es, dass die erste Approbation von Statuten stets „ad experimentum“ für einen näher bezeichneten Zeitraum geschieht. – Wenn die zuvor genannten Kriterien nicht oder nicht vollständig erfüllt sind, die entsprechenden Änderungen verlangen, um nach der Veränderung der Statuten die vorgeschriebene Anerkennung zu gewähren. – Wenn diese Kriterien nicht erfüllt sind und die movimenti nicht wirklich gewillt sind, die Statuten in gebührender Weise zu ändern, die Anerkennung derselben verweigern. Damit wird die Bewegung bzw. (Geistliche) Gemeinschaft nicht „in der Kirche anerkannt“. Im Rahmen der bischöflichen Statutenüberprüfung sollte der Beauftragte ein besonderes Augenmerk auf die Verpflichtungsformen der Mitglieder innerhalb der movimenti legen. Sofern die Mitglieder private Gelübde oder Versprechen (vgl. c. 1192 § 1 CIC) ablegen, ist in den Statuten ausdrücklich festzuhalten, dass die Mitglieder für ihren finanziellen Unterhalt selbständig sorgen, sozial- und krankenversichert sind und die Diözese keinerlei finanzielle Verantwortung für die Bewegung bzw. 22 Bei der rechtlichen Prüfung der Statuten einer als „privater Verein“ anerkannten (Geistlichen) Gemeinschaft bzw. Bewegung ist durch die diözesanen Stellen strikt dafür Sorge zu tragen, dass es weder in der Wortwahl, in der Struktur, noch in Kleidungsfragen zu einer Verwechslung mit einem Institut des geweihten Lebens kommen kann.

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(Geistliche) Gemeinschaft als Ganze, für einzelne Mitglieder oder Gruppen innerhalb der Gesamtheit übernimmt. Beabsichtigt ein Bistum die Bewegung bzw. (Geistliche) Gemeinschaft auf direktem oder indirektem Wege finanziell zu unterstützen, so sollte dies im Approbationsdekret festgehalten werden, wodurch aber nicht der Eindruck entstehen darf, dass die Sozial- und Versicherungspflicht der Mitglieder der movimenti auf die Diözese übergeht.23 Das Approbationsrecht der Ordinarius für die Statuten der Vereinigung gilt nicht nur bei der Erstapprobation, sondern auch bei Änderungen. In den Statuten sollte ausdrücklich erwähnt sein, dass die rechtmäßig vom Verein in der Mitgliederversammlung gebilligten Änderungen erst in Kraft treten, wenn sie von der zuständigen kirchlichen Autorität gutgeheißen, d. h., je nachdem ob es sich bei der Bewegung bzw. (Geistliche) Gemeinschaft um einen privaten Verein ohne oder mit Rechtspersönlichkeit24 oder um einen öffentlichen Verein handelt, überprüft, gebilligt bzw. genehmigt worden sind.25 c) Bestellung eines Geistlichen Beraters Jeder kanonische Verein hat im Rahmen der Satzungsautonomie das Recht, darüber zu entscheiden, ob er das Amt eines geistlichen Beraters (c. 324 § 2 CIC) oder eines Kaplans bzw. geistlichen Assistenten (c. 317 § 1 CIC) einrichten will oder nicht. Allerdings wird der Verein, soweit er auf die Unterstützung der zuständigen Leitungsautorität angewiesen ist, sich unter Umständen dem Verlangen dieser Autorität gegenüber sehen, ein solchen vorzusehen.26 Wenn nach dem Urteil der zuständigen Autorität ein Priester für seelsorgliche Aufgaben in der Vereinigung nicht zur Verfügung steht, kann sie zulassen, dass ein Diakon oder eine im kirchlichen Dienst stehende Person, die nicht die Priesterweihe empfangen hat, diese Aufgaben wahrnimmt und eine angemessene Rechtsstellung erhält.

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Dominicus M. Meier, Die Sozialversicherungspflicht von Mitgliedern der „movimenti“, in: Erbe und Auftrag 87 (2011), S. 210 – 216. 24 Private Vereinigungen sollten in der Regel ohne Rechtspersönlichkeit approbiert werden, solange ihnen nicht seitens der Diözesanleitung eine kategoriale oder territoriale pastorale Aufgabe als Gesamtheit übertragen oder offiziell um Mitwirkung der Bewegung bzw. (Geistlichen) Gemeinschaft als Ganzer gebeten wird (z. B. durch ein Mitglied der movimenti, das in der Diözese inkardiniert ist). 25 Mart†nez Sistach, Die Vereine von Gläubigen (Anm. 13), S. 55. 26 Vgl. Kriterien für die kirchliche Genehmigung von Satzung und Satzungsänderungen von katholischen Vereinigungen vom 23. 3. 1993, in: Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Hrsg.), Die deutschen Bischöfe, Heft 59, Nr. 5: Die Satzung regelt entsprechend Tradition, Selbstverständnis und Aufgabenstellung der Vereinigung, ob und in welcher Rechtsstellung ein Priester dem Vorstand angehört. Der Priester kann entweder beratend oder mit vollem Stimmrecht dem Vorstand angehören. Beschlüsse, die die Glaubens- und Sittenlehre sowie die kirchliche Rechtsordnung betreffen, können gegen den begründeten Einspruch des Priesters nicht gefasst werden.

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Bei Bewegungen und (Geistlichen) Gemeinschaften, die als öffentliche Vereine approbiert und errichtet werden, kann die zuständige Autorität das Amt eines Kaplans (cappellanus) oder geistlichen Assistenten (assistens ecclesiasticus) gemäß c. 317 § 1 CIC zur Bedingung für die Approbation bzw. Errichtung machen. Dieser wird nach evtl. vorheriger Einwilligung des zuständigen Ordinarius ernannt. Ein privater kanonischer Verein kann, muss aber nicht das Amt eines geistlichen Beraters nach c. 324 § 2 CIC schaffen. In dieser Frage sollte der Beauftragte den (Geistlichen) Gemeinschaften und Bewegungen beratend zur Seite stehen und die Verbindung zur Diözesanleitung herstellen, um die entsprechende Wünsche aus den movimenti bzw. die des Bischofs oder des Personalchefs einer Diözese vorzutragen. d) Sonstige Befugnisse der kirchlichen Autorität Es ist Aufgabe des Beauftragten, als Kontaktperson zu den movimenti dafür zu sorgen, dass die Statuten einer Bewegung bzw. (Geistlichen) Gemeinschaft ein Kapitel enthalten, in dem die Befugnisse der kirchlichen Autorität ausdrücklich dargelegt sind. Diese Befugnisse sind unterschiedlich, je nachdem ob die movimenti als öffentliche oder private Vereine errichtet wurden. Der kirchliche Gesetzgeber hat im Codex einige Befugnisse statuiert, die der kirchlichen Autorität in allen Vereinen von Gläubigen gleichermaßen zukommen. Davon seien erwähnt: – „Oberleitung“ (directio altior) des Vereins (c. 315); – Bestätigung, Einsetzung oder Ernennung des Vorsitzenden, falls die Statuten nicht etwas anderes vorsehen (c. 317 § 2); – unter besonderen Umständen Bestellung eines Kommissars zur vorübergehenden Leitung des Vereins (c. 318 § 1); – Entlassung des Vorsitzenden und des Kaplans (c. 318 § 2); – das Recht der Visitation und Aufsicht sämtlicher Vereinsaktivitäten (c. 305); – die endgültige Genehmigung der jährlichen Geschäftsberichte;27 – die Befugnis, zu jedem beliebigen Zeitpunkt detailliert über die finanziellen Vorgänge Rechenschaft zu verlangen; – die Überprüfung oder gegebenenfalls Genehmigung der in den Statuten vorgenommenen Änderungen; – die Auflösung des Vereins unter bestimmten Umständen (c. 320) sowie

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Es darauf hinzuweisen, dass das Vermögen einer Bewegung bzw. (Geistlichen) Gemeinschaft, die als öffentlicher Verein errichtet ist, als Kirchenvermögen zu gelten hat. Gemäß c. 319 §§1 – 2 CIC haben sie jährlich über ihr Vermögen Rechenschaft abzulegen. Die zuständige kirchliche Autorität sollte ihrerseits die Offenlegung der Finanzen einer Vereinigung ernst nehmen, um frühzeitig evtl. Fehlentwicklungen entgegensteuern zu können.

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– alle Kompetenzen, die das geltende allgemeine und partikulare kanonische Recht der zuständigen kirchlichen Autorität im Bereich der Vereine von Gläubigen einräumt. Auf diesem weiten kirchenrechtlichen Aufgabenfeld wird der Beauftragte für die movimenti Sorge tragen müssen, dass es nicht zu Fehlentwicklungen kommt. In seinen Beurteilungen sollte er sowohl die Belange der betroffenen Diözese als auch die konkrete Bewegung bzw. (Geistliche) Gemeinschaft im Blick haben, damit er die ihm zukommende Brückenfunktion qualifiziert ausüben kann. 3. Koordination, Information und Kommunikation In der Liste der Aufgaben- und Geschäftsbereiche des Beauftragten für die movimenti nehmen die Bereiche Koordination, Information und Kommunikation neben der fachlichen Begleitung einen wesentlichen Teil ein. Kontakt- und Gesprächsbereitschaft sind Fähigkeiten, die dem Beauftragten nicht fremd sein sollten. In erster Linie richten sie sich an die Bewegungen bzw. (Geistliche) Gemeinschaften und ihre Verantwortlichen, denn nur wenn der Beauftragte über die Situation der in einer Diözese ansässigen movimenti und über neue Tendenzen und Entwicklungen frühzeitig Kenntnis hat, kann er seiner Rolle als Bindeglied zwischen Diözesankurie und movimenti und den ihm aus dem Recht zukommenden Aufgaben gerecht werden. Ein vertrauensvoll gepflegter Kontakt ist Grundlage für die Lösung von individuellen oder kollektiven Problemen der movimenti. Wo es nötig und möglich erscheint, nimmt der Beauftragte die Rolle eines Mediators wahr; wo er selbst zur Lösung von auftretenden Problemen oder konkreten Anfragen nicht beitragen kann, wird er zumindest Hinweise für eine kompetente Unterstützung vermitteln können. a) Koordination von Aktivitäten Zu den kommunikativen Aufgaben des Beauftragten gehört sicher auch die Bereitstellung von Plattformen und die Begleitung von Netzwerken in der Teilkirche, auf denen sich die movimenti positiv darstellen können, z. B. durch Homepages, Vertretung in diözesanen Räten und Gremien, in der Öffentlichkeitsarbeit oder durch die Teilnahme an diözesanen Veranstaltungen. Die Wertschätzung und Unterstützung, die den movimenti seitens der Weltkirche zukommt, kann auf solchen Veranstaltungen dargestellt und ihre Lebensweise als Option für junge Gläubige vorgestellt werden. Damit es dabei nicht zu Auswucherungen kommt, ist die Mitverantwortung des Beauftragten bei der Koordination von Aktivitäten gefragt. Es ist darauf zu achten, dass die spirituelle Vielfalt der Bewegungen bzw. (Geistlichen) Gemeinschaften und der Institute des geweihten Lebens als mögliche Lebensformen bewahrt und geschützt bleiben. Über Initiativen und Projekte sollte der Beauftragte informiert sein und eingreifen können, wenn es zu Überschneidungen innerhalb der apostolischen Aktivitäten der

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movimenti auf der Ortsebene kommt. Bei möglichen Fehlentwicklungen oder uneindeutigen Phänomenen innerhalb der Vereinigungen und bei Vorverurteilungen oder Gerüchten über die movimenti kann der Beauftragte ein Korrektiv innerhalb der Diözese sein. Durch Kontakte mit den kurialen Stabsstellen, z. B. Personalabteilung, Sektenbeauftragten, Seelsorgeamt etc. kann frühzeitig unzulässiger Parteinahme oder Vorverurteilung entgegengewirkt werden. Diese Wächterfunktion erscheint auch deshalb wichtig, weil es nicht selten zwischen Pfarrei, Pfarrgemeinderat, Kirchenvorstand und den Vertretern der movimenti zu Spannungen kommt und Erstgenannte über die Rechtmäßigkeit und/oder Anwesenheit einer Bewegung oder (Geistlichen) Gemeinschaft auf dem Gebiet der Pfarrei befinden möchten. Ratsam erscheint es, dass der Beauftragte schon sehr früh den Kontakt zu den pfarrlichen Gremien aufnimmt und über die Bewegung bzw. (Geistliche) Gemeinschaft, ihre Spiritualität, Lebensform und mögliche Aktivitäten informiert. Je besser die Kommunikation zwischen Diözese, Pfarrei und Vereinigung vor Errichtung einer Niederlassung ist, umso seltener werden in späterer Zeit Spannungen und Missverständnisse auftreten. Er berät die movimenti bei (neuen) Projekten, besonders wenn diese das Apostolat und die Pastoral in einer Diözese betreffen, sowie bei der Öffentlichkeitsarbeit. Der Koordination von Aktivitäten dient sicher ein Treffen von Verantwortlichen aus den Bewegungen und (Geistlichen) Gemeinschaften einer Diözese, das jährlich unter Leitung des Beauftragten durchgeführt werden sollte. Bei diesen Treffen geht es vor allem um den Austausch, das Wahrnehmen von Vielfalt und ein Wachsen im Miteinander. Ziel ist es, das Verständnis füreinander zu stärken und sichtbar zu machen. Es dient darüber hinaus als Plattform, um Inspiration und Initiativen der movimenti zu tragen und umgekehrt die Bewegungen und (Geistlichen) Gemeinschaften über diözesane Projekte und pastorale Perspektiven zu informieren. Ein Koordinationsrat aus Mitgliedern der verschiedenen movimenti könnte dem bischöflichen Beauftragten zur Seite stehen. b) Information gegenüber Gemeinden, Verbänden und Institutionen Wie schon gerade angedeutet, gehört zu den Aufgaben des Beauftragten sicher die Bereitstellung von Informationen und geeignetem Informationsmaterial über die movimenti. Er ist Auskunftsperson für Gemeinden, Verbände, Institute des geweihten Lebens und kirchliche Institutionen, für die evangelischen Landeskirchen, aber auch z. B. für staatliche Stellen und Schulen. Durch Bereitstellung von geeignetem Informationsmaterial und Organisation von Fortbildungen dient er der Klarstellung des Bildes der movimenti in Kirche und Gesellschaft. Mit seiner Informationspolitik und einem regen Austausch mit dem Ökumenebeauftragten der Diözesen unterstützt er die ökumenischen Initiativen zur Zusammenarbeit der Bewegungen und (Geistlichen) Gemeinschaften mit der Diözese und den jeweiligen Landeskirchen. Damit diese Informationen lückenlos gewährt werden können, verfügt der Beauftragte über bewegungsspezifische Informationsschriften, die ihm seitens der Bewe-

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gungen bzw. (Geistlichen) Gemeinschaften zur Verfügung gestellt werden, führt eine die movimenti betreffende Statistik und unterstützt die diözesane Pressestelle. c) Kommunikation mit den Beauftragten der Diözesen Eine Zusammenarbeit mit den Beauftragten anderer Diözesen und dem Bereich Pastoral im Sekretariat der Bischofskonferenz sollte eine Selbstverständlichkeit sein. Dazu gehört die Teilnahme und Mitarbeit an überdiözesanen Fachtagungen, die von einzelnen Bischöfen bzw. von der Bischofskonferenz veranstaltet und empfohlen werden. Offen gehalten sei die Frage, ob es seitens der Bischofskonferenz einen eigenen Beauftragten für die movimenti auf nationaler Ebene geben soll, der seinerseits die Kommunikation der Beauftragten untereinander vorantreibt, regelmäßige Kontakttreffen der Beauftragten organisiert oder die Kontakte zum Rat für die Laien in Rom unterhält. IV. Abschließende Anregungen Der Beauftragte des Bischofs für die movimenti – ein (weiteres) neues Amt in der diözesanen Kurie? Den Entscheidungsträgern dieser Frage innerhalb der diözesanen Strukturen möchte ich abschließend vier Postulate an die Hand geben, die m. E. ein respektvolles Miteinander, eine angemessene Bewertung und eine ausgewogene Wertschätzung der movimenti ermöglichen können. 1. Postulat: Eigenständigkeit einer Stabsstelle Der Beauftragte nimmt eine eigenständige Stelle im Generalvikariat bzw. Ordinariat einer Diözese ein. Empfehlenswert scheint die Verbindung mit den Fachreferaten oder Sachbereichen Pastoral, Spiritualität, Orden und Berufungspastoral. 2. Postulat: Finanzielle Ausstattung Nach den finanziellen Möglichkeiten einer Diözese sollte dem Beauftragten ein angemessenes Budget zur Organisation und Durchführung von Treffen für die movimenti zur Verfügung stehen. 3. Postulat: Anhörungsrecht bei Angelegenheiten der movimenti Dem Beauftragten sollte sowohl bei Beratungen über Anerkennung und Errichtung einer Niederlassung der movimenti in der Diözese als auch bei Zuwendungen, Zuschüssen, Finanzierung von Niederlassungen, Bildungsinstitutionen usw. der Bewegungen bzw. (Geistlichen) Gemeinschaften ein Anhörungsrecht eingeräumt werden. In allen Anstellungsfragen scheint er die geeignete Kontaktperson für die Personalabteilung eines Generalvikariates bzw. Ordinariates zu sein.

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4. Postulat: Kontaktpflege mit dem Ortsbischof Es ist wünschenswert, dass der bischöfliche Beauftragte für die movimenti auch unabhängig von aktuellen Anlässen wenigstens einmal jährlich einen Kontakt mit dem Bischof hat, um ihn über generelle Entwicklungen und Fragestellungen im Kontakt der Bewegungen und (Geistlichen) Gemeinschaften zu informieren. Der Beauftragte des Bischofs für die movimenti – ein (weiteres) neues Amt in der diözesanen Kurie? M. E. handelt es sich nicht um ein weiteres oder neues selbständiges Amt, das der Ortsordinarius in seinem Stellenplan zu berücksichtigen hat, sondern eher um eine neue Wertschätzung einer Aufgabe, die bisher in einigen Generalvikariaten und Ordinariaten unterschätzt wird. Sofern den Bewegungen und (Geistlichen) Gemeinschaften in der Kirche ein größeres Gewicht nicht nur verbal zugemessen werden soll, braucht es eine Person, eine Stabsstelle, die sich dieser Aufgabe widmen kann.

Das Domkapitel von Brixen – eine Einrichtung im Dienst priesterlicher Lebensführung und Seelsorge an der Domkirche Von Johann Hirnsperger Bei der Reform des Rechts der katholischen Kirche nach dem II. Vatikanischen Konzil wurden u. a. Stellung und Rolle der Kathedralkapitel neu umschrieben. Der revidierte Codex Iuris Canonici von 1983, der in den cc. 503 bis 510 die wichtigsten Bestimmungen zu den Kanonikerkapiteln zusammenfasst, geht so wie sein Vorgänger davon aus, dass das Domkapitel ein im universellen Recht vorgesehenes Strukturelement im regulären Verfassungsaufbau der Diözesen darstellt (vgl. cc. 391 – 422 CIC/1917). Titel und Funktion des senatus episcopi, die traditionell dem Domkapitel zugekommen waren, überträgt das erneuerte Recht jedoch an den Priesterrat, der zusammen mit dem Konsultorenkollegium als zentrales bischöfliches Beratungsorgan neu eingeführt wurde (vgl. c. 495 § 1 CIC; c. 391 § 1 CIC/ 1917). Im Übrigen legt es das erneuerte gesamtkirchliche Recht nunmehr weit gehend in die Hände der teilkirchlichen Normgeber und besonders der Kanonikerkapitel selbst, die künftigen Kompetenzen und Aufgaben zu bestimmen, sodass die Kathedralkapitel auch nach dem Inkrafttreten des Gesetzbuches von 1983 eine bedeutende Rolle im Leben der Diözesen spielen können. Zudem eröffnen sich erweiterte Gestaltungsmöglichkeiten im Hinblick auf Verfassung und Organisation der Kapitel, weil sich der erneuerte Kodex auch diesbezüglich weithin auf rahmenrechtliche Vorgaben zurückzieht. Unter kanonistischen Gesichtspunkten ist besonders bemerkenswert, dass das Domkapitel von Brixen die Aufgaben des Konsultorenkollegiums nicht wahrnimmt und sich darin von den Kathedralkapiteln in Österreich und Deutschland unterscheidet. Denn anders als die Bischofskonferenzen von Österreich und Deutschland verzichtete die Italienische Bischofskonferenz darauf, von der in c. 502 § 3 CIC gebotenen Möglichkeit Gebrauch zu machen, sodass in ihrem Hoheitsgebiet eigene Konsultorenkollegien einzurichten waren. Die Gemeinschaft der Kanoniker an der Domkirche in Brixen zählt daher zu jenem Typ von Kathedralkapiteln, die nicht die Rolle des Konsultorenkollegiums einnehmen und daher nicht in gleicher Weise dem Diözesanbischof als Beratungs- und Hilfsorgan zugeordnet sind wie die Kapitel, die als Konsultorenkollegien fungieren. Ziel des Aufsatzes ist, die rechtlichen Verhältnisse im Domkapitel von Brixen darzustellen, wie sie sich aufgrund der geltenden Statuten gestalten. Zuvor sollen die Vorgaben im kirchlichen Gesetzbuch von 1983 zu den Kanonikerkapiteln rekapituliert werden.

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I. Der Codex Iuris Canonici von 1983 und die Kanonikerkapitel 1. Begriff, Errichtung, Rechtsperson Gemäß c. 503 CIC versteht man unter dem Kanonikerkapitel ein Kollegium von Priestern, dem die Durchführung der feierlicheren Gottesdienste in der Kathedralkirche bzw. Kollegiatkirche obliegt.1 Das Kathedralkapitel hat darüber hinaus jene Auf1 Zur einschlägigen neueren Literatur siehe bes. Jean Beyer, De capitulis cathedralibus servandis vel supprimendis, in: PerRMCL 63 (1974), S. 477 – 487; Alexander Dordett, Domkapitel – Priesterrat, in: ÖAKR 27 (1976), S. 91 – 106; Paul Wesemann, Domkapitel nach dem II. Vatikanum. Abschaffung oder Reform?, in: Pontificia Universit— Gregoriana (Hrsg.), Investigationes Theologico-Canonicae. Festschrift für Wilhelm Bertrams, Rom 1978, S. 501 – 531; Hans Paarhammer, Das Kollegiatstift Seekirchen. Eine Institution bischöflichen Rechts im Dienste der Gemeindeseelsorge, Thaur/Tirol 1982; Hans-Jürgen Becker, Senatus episcopi. Die rechtliche Stellung der Domkapitel in Geschichte und Gegenwart, in: Jahres- und Tagungsbericht der Görres-Gesellschaft 1989, Köln 1990, S. 33 – 54; Eva Jüsten, Das Domkapitel nach dem Codex Iuris Canonici von 1983 unter besonderer Berücksichtigung der Rechtslage in Deutschland und Österreich (EHS.R [Europäische Hochschulschriften] 1386), Frankfurt am Main u. a. 1993; Johann Hirnsperger, Statuten der österreichischen Domkapitel (SICA 3), Metten 1992; Heribert Schmitz, Domkapitel in Deutschland nach der Vatikanischen Wende. Skizzen – Infos – Stolpersteine. Vollfassung des Beitrags zum Tag der Domkapitel am 10. September 1998 im Rahmen der 750-Jahrfeier der Hohen Domkirche Köln, Köln 1998; wieder abgedruckt: ders., Studien zur kirchlichen Rechtskultur (FzK 34), Würzburg 2005, S. 92 – 140; Richard Puza, Die Dom- und Stiftskapitel, in: HdbKathKR2, S. 475 – 479; Heribert Schmitz, Die Rechtsfigur des nichtresidierenden Domkapitulars, in: Josef Isensee/Wilhelm Rees/Wolfgang Rüfner (Hrsg.), Dem Staate, was des Staates – der Kirche, was der Kirche ist. Festschrift für Joseph Listl zum 70. Geburtstag (SKRA 33), Berlin 1999, S. 875 – 892; Gian Giacomo Sarzi Sartori, La cattedrale e il suo Capitulo: prospettiva canonistica, in: Annali di studi religiosi 4 (2003), S. 245 – 259; Stephan Haering/Burghard Pimmer-Jüsten/ Martin Rehak, Statuten der deutschen Domkapitel (SICA 6), Metten 2003; Stephan Haering, Bußkanoniker der deutschen Domkapitel. Can. 508 § 1 CIC und seine partikulare Anwendung, in: Andreas Weiß/Stefan Ihli (Hrsg.), Flexibilitas Iuris Canonici. Festschrift für Richard Puza zum 60. Geburtstag (AIC 28), Frankfurt am Main u. a. 2003, S. 179 – 202; ders., Rechtsgrundlagen und Strukturen der Domkapitel des deutschen Sprachraumes. Ein vergleichender Überblick, in: Annali di studi religiosi 4 (2003), S. 261 – 276; ders., Mitwirkung von Domkapiteln an der Bischofsbestellung in Deutschland. Rechtsfragen um die Wahl des Diözesanbischofs, in: Wilhelm Rees (Hrsg.), Recht in Kirche und Staat. Joseph Listl zum 75. Geburtstag (KStuT 48), Berlin 2004, S. 163 – 183; Wolfgang F. Rothe, Das Kollegiatkapitel: Organ des Verfassungs- oder Institut des Vereinigungsrechts? Eine kritische Analyse der einschlägigen Gesetzeslage im CIC von 1983, in: AfkKR 173 (2004), S. 409 – 440; Heribert Schmitz, Domkapitel zum Hl. Martinus der Diözese Rottenburg-Stuttgart, in: ders./Stephan Haering/Franz Kalde (Hrsg.), Kirchenrechtliche Gutachten und Stellungnahmen. Zum 75. Geburtstag des Verfassers (SICA 7), Metten 2004, S. 54 – 74; ders., Domkapitel der Diözese Trier, ebd. S. 75 – 95; ders., Geschäftsordnung für das Metropolitankapitel der Erzdiözese Paderborn, ebd. S. 96 – 116; Stephan Haering, Dignitäten der deutschen Domkapitel. Streiflichter zum geltenden Recht, in: Ulrich Kaiser/Ronny Raith/Peter Stockmann (Hrsg.), Salus animarum suprema lex. Festschrift für Offizial Max Hopfner zum 70. Geburtstag (AIC 38), Frankfurt am Main u. a. 2006, S. 151 – 170; Johann Hirnsperger, Das Kathedralkapitel zum hl. Martin in Eisenstadt. Dargestellt anhand der geltenden Statuten, in: Konrad Breitsching/Wilhelm Rees (Hrsg.), Recht – Bürge der Freiheit. Festschrift für Johannes Mühlsteiger SJ zum 80. Geburtstag (KStuT 51), Berlin 2006, S. 677 – 697; Hans Paarhammer, Das

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gaben zu erfüllen, die ihm vom Recht oder vom Diözesanbischof übertragen werden. Auch nach dem erneuerten Recht sind demnach die Kathedral- oder Domkapitel, die an Bischofskirchen errichtet werden, von den anderen Kanonikerkapiteln zu unterscheiden, die als Kollegiatkapitel bezeichnet werden. Da das Kanonikerkapitel als Kollegium von Priestern (sacerdotum collegium) verfasst ist, d. h. von Gläubigen, die die Priesterweihe empfangen haben, sind Diakone und Laien von der Mitgliedschaft im eigentlichen Sinn ausgeschlossen.2 Nicht dem Kapitel angehörende Kleriker können jedoch Aufgaben im Dienst des Kapitels und der Kanoniker übernehmen, sofern die Statuten dies vorsehen (c. 507 § 2 CIC). Aus der Verfasstheit als Kollegium ergibt sich, dass die Kanoniker das Handeln des Kapitels bestimmen und bei seinen Entscheidungen in kollegialer Form mitwirken (vgl. c. 115 § 2 CIC). Bei Wahlhandlungen und sonstigen kollegialen Akten sind, sofern nichts anderes im Recht oder in den Statuten bestimmt wird, die Vorschriften des c. 119 CIC anzuwenden. Kanonikerkapitel bedürfen der Errichtung durch die zuständige kirchliche Autorität. Errichtung, Änderung und Aufhebung von Kathedralkapiteln sind nach wie vor dem Apostolischen Stuhl vorbehalten.3 Bei den Kollegiatkapiteln ist im erneuerten Recht der Diözesanbischof für diese Akte zuständig; römische Reservationen bestehen diesbezüglich nicht mehr (c. 504 CIC; vgl. c. 392 CIC/1917). Wie der Vorgänger von 1917 äußert sich auch das Gesetzbuch von 1983 nicht direkt zur Rechtsfähigkeit der Kanonikerkapitel. Lehre und Praxis gehen jedoch einhellig davon aus, dass die Kathedralkapitel kirchliche Rechtspersönlichkeit besitzen, bei den Kollegiatkapiteln wird dies allgemein angenommen.4 Bei Neuerrichtungen sollte allein schon aus Gründen der Rechtsklarheit die Rechtspersönlichkeit ausdrücklich zuerkannt werden. Die in der jüngeren Vergangenheit vermehrt anzutreffende Praxis, in den Statuten explizit festzuhalten, dass das Kapitel die kirchliche bzw. auch die staatliche Rechtspersönlichkeit besitzt, ist daher zu begrüßen und insigne Kollegiatstift Mattsee in seiner gegenwärtigen Rechtsgestalt, in: Anna Egler/Wilhelm Rees (Hrsg.), Dienst an Glaube und Recht. Festschrift für Georg May zum 80. Geburtstag. (KStuT 52), Berlin 2006, S. 503 – 526; Johann Hirnsperger/Stephan Haering, Statuten der österreichischen Kathedral- und Kollegiatkapitel (SICA 8), Metten 2007; Wolfgang F. Rothe, Die Statuten der Kollegiatkapitel im deutschen Sprachraum. Rechtslage und Rechtspraxis (AIC 41), Frankfurt am Main u. a. 2007; Bernd Dennemarck, Die Statuten des Eichstätter Domkapitels von der Säkularisation bis zur Gegenwart. Mit einem kritischen Kommentar zum geltenden Statut (MthStkan 61), St. Ottilien 2008. 2 Zum Folgenden vergleiche bes. Hirnsperger/Haering, Statuten (Anm. 1), S. 10 – 23. 3 Die Angelegenheiten der Kanonikerkapitel fallen in den Kompetenzbereich der Kongregation für den Klerus. Vgl. Johannes Paul II., Ap. Konst. „Pastor Bonus“ v. 28. Juni 1988, Art. 97, Nr. 1, in: AAS 80 (1988), S. 841 – 912 [913 – 934], hier S. 884. 4 Vgl. Aymans-Mörsdorf KanR II, S. 403; Helmut Schnizer, Schuldrechtliche Verträge der katholischen Kirche in Österreich. Eine Untersuchung über die Gültigkeit von Verträgen kirchlicher Rechtsträger nach kanonischem und staatlichem Recht (Grazer rechts- und staatswissenschaftliche Studien 6), Graz-Köln 1961, S. 77 f.; Heimerl/Pree VermR, bes. S. 95, S. 382 – 385.

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dient der Rechtssicherheit und Transparenz. Kanonikerkapitel sind den öffentlichen kirchlichen juristischen Personen zuzurechnen, für die kennzeichnend ist, dass sie Aufgaben im Hinblick auf das öffentliche Wohl der Kirche wahrnehmen und im Namen der Kirche tätig sind (vgl. c. 116 § 1 CIC). Die öffentliche Rechtsfähigkeit hat u. a. zur Folge, dass der Besitz des Kapitels als Kirchengut gilt und den Vorschriften des kirchlichen Vermögensrechts unterliegt (vgl. c. 1258 CIC). Ob bzw. unter welchen Voraussetzungen die staatliche Rechtspersönlichkeit zuerkannt wird, richtet sich nach den staatsrechtlichen Vorschriften. Aufgrund des Konkordats von 1933/34 erhielten Kanonikerkapitel in Österreich von Rechts wegen die staatliche Rechtspersönlichkeit, wenn sie bei Inkrafttreten des Konkordats am 1. Mai 1934 bereits kanonische Rechtspersonen waren. Werden sie zu einem späteren Zeitpunkt errichtet, erlangen sie die staatliche Rechtspersönlichkeit dadurch, dass der zuständige Diözesanbischof die Anzeige über die kirchliche Errichtung bei der obersten staatlichen Kultusverwaltungsbehörde (Bundesministerium für Unterricht, Kunst und Kultur) hinterlegt (vgl. Art. 8; 10 § 2; 15 § 7 ÖK).5 Aufgrund des Konkordats zwischen dem Heiligen Stuhl und der Republik Italien vom 18. Februar 1984 und des Zusatzvertrages vom 15. November 1984 erhalten kirchliche Einrichtungen, die Zwecken der Religion und des Kultus dienen, in Italien die staatliche Rechtspersönlichkeit auf Antrag der zuständigen kirchlichen Autorität durch Dekret des Staatspräsidenten. Kirchliche Einrichtungen, die bei Inkrafttreten des Konkordats bereits zivilrechtlich anerkannt sind, behalten die staatliche Rechtspersönlichkeit, müssen sich aber innerhalb der gesetzlich vorgesehenen Fristen in das Register der Rechtspersonen eintragen lassen.6 Das Domkapitel von Brixen ließ diese Eintragung durchführen.7 2. Aufgaben Was die Aufgaben betrifft, ordnet c. 503 CIC an, dass den Kanonikerkapiteln der Vollzug der feierlicheren Gottesdienste in der Kathedral- bzw. Stiftskirche obliegt. Für die Kollegiatkapitel werden im allgemeinen Recht keine weiteren Aufgaben genannt. Den Kathedralkapiteln kommen zusätzliche Agenden zu, die entweder im Recht festgelegt sind oder vom Diözesanbischof übertragen werden. 5 Siehe dazu bes. Hugo Schwendenwein, Österreichisches Staatskirchenrecht (MK CIC, Beihefte 6), Essen 1992, S. 526 – 538; Herbert Kalb/Richard Potz/Brigitte Schinkele, Religionsrecht, Wien 2003, S. 458 f. 6 Vgl. Inter Sanctam Sedem et Italiam conventiones, in: AAS 77 (1985), S. 521 – 578; bes. Accordo tra la Santa Sede e la Republica italiana che apporta modificazioni al Concordato lateranense v. 18. Februar 1984, Art. 7, in: AAS 77 (1985), S. 521 – 535, 524 ff.; Norme circa gli enti e beni ecclesiastici in Italia e circa la revisione degli impegni finanzari dello Stato italiano e degli interventi del medesimo nella gestione patrimoniale degli enti ecclesiastici v. 3. Juni 1985, bes. Art. 1, 3, 5, 6, 14, in: AAS 77 (1985), S. 547 – 578, 548 f., 551 f. 7 Siehe dazu Josef Michaeler, Änderung von Rechtsstrukturen in der Diözese BozenBrixen. Der Vertrag zwischen dem Hl. Stuhl und der Republik Italien vom 15. 11. 1984 und seine Durchführung, in: Hans Paarhammer (Hrsg.), Kirchliches Finanzwesen in Österreich. Geld und Gut im Dienste der Seelsorge, Thaur/Tirol 1989, S. 359 – 408, bes. 373 – 375.

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Der CIC von 1983 nennt nur wenige einschlägige Aufgaben: Die Kathedralkapitel entsenden Vertreter zum Provinzialkonzil (c. 443 § 5 CIC) und ihre Mitglieder nehmen an der Diözesansynode teil (c. 463 § 1 n. 3 CIC). Der päpstliche Gesandte soll bei der Vorbereitung des Dreiervorschlags, der dem Apostolischen Stuhl vor der Neubesetzung eines Bischofsamtes oder der Ernennung eines Bischofskoadjutors vorgelegt wird, u. a. Mitglieder des betreffenden Domkapitels hören (vgl. c. 377 § 3 CIC). In den deutschsprachigen Kirchengebieten, wo die Domkapitel seit jeher eine bedeutende Rolle im Leben der Diözesen gespielt haben, kommen ihnen auch nach Abschluss der postkonziliaren Rechtsreform gewichtige Kompetenzen zu. Aufgrund vertragsstaatskirchenrechtlicher Regelungen, die gemäß c. 3 CIC auch nach dem Inkrafttreten des neuen Gesetzbuches unverändert in Geltung bleiben, besitzen die Domkapitel bedeutende Mitwirkungsrechte bei der Besetzung der Bischofsämter.8 In den bayerischen Diözesen und in Speyer legen die Bischöfe und die Domkapitel unabhängig von einem Besetzungsfall alle drei Jahre Listen mit Kandidaten dem Heiligen Stuhl vor, im Erledigungsfall das betreffende Domkapitel. Der Papst ernennt den Bischof in diesen Diözesen frei, ist jedoch an die vorgelegten Listen gebunden (vgl. Art. 14 BayK). In dem zum Geltungsbereich des preußischen Konkordats gehörenden Diözesen reichen bei Vakanz eines Bischofsamtes das betreffende Domkapitel und alle Diözesanbischöfe beim Apostolischen Stuhl Listen mit geeigneten Kandidaten ein. Unter Würdigung dieser Listen benennt der Heilige Stuhl dem Domkapitel drei Personen, aus denen es in freier und geheimer Abstimmung den Erzbischof oder Bischof zu wählen hat (vgl. Art. 6 PreußK).9 In den Diözesen Freiburg im Breisgau, Mainz, Rottenburg-Stuttgart und Dresden-Meißen legt im Erledigungsfall das betreffende Domkapitel dem Papst eine Liste mit geeigneten Kandidaten vor. Unter Würdigung dieser Liste und der vom Diözesanbischof jährlich einzureichenden Liste benennt der Apostolische Stuhl dem Domkapitel drei Kandidaten zur Wahl (vgl. Art. III BadK; Art. 14 RK). In Österreich besitzt das Salzburger Metropolitankapitel das Recht, den Erzbischof aus einem römischen Dreiervorschlag zu wählen (vgl. Art. IV ÖK). Von weitreichender Bedeutung für die künftige Stellung der Domkapitel in den Diözesen ist die Bestimmung des c. 502 § 3 CIC, die vorsieht, dass die zuständige Bischofskonferenz beschließen kann, die Aufgaben des Konsultorenkollegiums den Kathedralkapiteln zu übertragen. Die Deutsche Bischofskonferenz und die Österreichische Bischofskonferenz machten von dieser Möglichkeit Gebrauch, sodass in Deutschland und Österreich dort, wo Domkapitel bestehen, diese die Agen8 Vgl. bes. Haering, Mitwirkung (Anm. 1); Heribert Schmitz, Diözesanbischof, in: HdbKathKR2, S. 425 – 442, bes. 427 – 431. – Zu den Rechtsverhältnissen in der Schweiz siehe bes. Heinz Maritz, Das Bischofswahlrecht in der Schweiz unter besonderer Berücksichtigung der Entwicklung im Bistum Basel nach der Reorganisation (MthStkan 36), St. Ottilien 1977. 9 Die nach der Wiederherstellung der deutschen Einheit abgeschlossenen Verträge halten ausdrücklich fest, dass die einschlägigen Normen des Preußischen Konkordats auch in den neuen Diözesen Gültigkeit haben. Vgl. Heribert Schmitz, Diözesanbischof, in: HdbKathKR2, S. 429, Anm. 13.

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den des Konsultorenkollegiums wahrnehmen.10 In der Schweiz ist aufgrund eines entsprechenden Beschlusses der Bischofskonferenz der jeweilige Diözesanbischof befugt, die Aufgaben des Konsultorenkollegiums an das Domkapitel zu übertragen oder ein eigenes Konsultorenkollegium zu bestellen.11 Die Italienische Bischofskonferenz entschied, dass in ihrem Zuständigkeitsbereich Konsultorenkollegien einzurichten sind, sodass dort deren Agenden den Domkapiteln nicht zukommen.12 Wenn das Domkapitel als Konsultorenkollegium tagt, führt der Bischof bzw. der Leiter der Diözese den Vorsitz. Der Präses des Kapitels hat den Vorsitz nur, wenn bei Behinderung oder Vakanz des bischöflichen Stuhls das Kapitel in der Funktion als Konsultorenkollegium vorübergehend die Leitung der Diözese selbst wahrzunehmen hat (vgl. c. 502 § 2 CIC). Betrachtet man den Aufgabenkreis, den der CIC von 1983 dem Konsultorenkollegium zuweist, fällt auf, dass es im Wesentlichen jene Stellung in der Diözese einnimmt, die dem Domkapitel nach dem Recht des CIC von 1917 zukam.13 Wenn das Bischofsamt besetzt ist, hat das Konsultorenkollegium nur wenige Beispruchsrechte, die ausschließlich die Vermögensverwaltung betreffen. Bei Ernennung und Abberufung des Ökonomen (c. 494 §§ 1 – 2 CIC) und bei Akten der ordentlichen Vermögensverwaltung von größerer Bedeutung (c. 1277 CIC) sind der Diözesanvermögensverwaltungsrat und das Konsultorenkollegium zu hören. Die Zustimmung der beiden Gremien ist, außer den im allgemeinen Recht und in den Stiftungsurkunden genannten Fällen, gefordert für Akte der außerordentlichen Vermögensverwaltung gemäß c. 1277 CIC sowie bei Veräußerung von Vermögen der Diözese und der dem Diözesanbischof unterstellten juristischen Personen (c. 1292 § 1 CIC). Bei Behinderung und Erledigung des Bischofsamtes obliegen dem Konsultorenkollegium höchst bedeutende Agenden. Wenn bei Behinderung kein Bischofskoadjutor vorhanden ist oder auch er behindert ist und das in c. 413 § 1 CIC genannte Verzeichnis fehlt, wählt das Konsultorenkollegium einen Priester, der die Diözese interimistisch zu leiten hat (c. 413 § 2 CIC). Bei Sedisvakanz geht die Leitung der Diözese vorübergehend auf das Konsultorenkollegium über, wenn kein Weihbischof vorhanden ist und der Apostolische Stuhl nicht auf andere Weise vorgesorgt hat (c. 419 CIC). Es hat den Diözesanadministrator zu wählen, dem die interimistische Leitung der Diözese obliegt (c. 421 § 1 CIC). Der Administrator kann folgende Handlungen nur mit Zustimmung des Konsultorenkollegiums rechtsgültig setzen: Inkardination und Exkardination von Klerikern; Erteilung der Erlaubnis, in einer an10

Vgl. Heribert Schmitz/Franz Kalde, Partikularnormen der deutschsprachigen Bischofskonferenzen (SICA 2), Metten 1990, S. 20 f.; dies., Partikularnormen der Deutschen Bischofskonferenz. Text und Kommentar (SICA 5), Metten 1996, S. 11, 40 f.; Abl. der ÖBK, Nr. 1 v. 25. Jänner 1984, S. 6, Nr. 8; Nr. 3 v. 15. April 1989, S. 25, Nr. 33. 11 Vgl. Schmitz/Kalde, Partikularnormen der deutschsprachigen Bischofskonferenzen (Anm. 10), S. 21. 12 Vgl. Folium Dioecesanum Bauzanense-Brixinense 20 (1984), S. 67. 13 Vgl. Heribert Schmitz, Die Konsultationsorgane des Diözesanbischofs, in: HdbKathKR2, S. 447 – 463, bes. 457 – 459.

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deren Teilkirche Dienst zu tun (c. 272 CIC); Absetzung des Kanzlers oder der Notare an der Diözesankurie (c. 485 CIC); Ausstellung von Weiheentlassschreiben (c. 1018 § 1 n. 2 CIC). Außerdem nimmt das Konsultorenkollegium in der Sedisvakanz die Aufgaben des Priesterrats wahr und besitzt daher in dieser Zeit die Beispruchsrechte des Priesterrats (c. 501 § 2 CIC). Der Diözesanadministrator hat den Amtsverzicht gegenüber dem Konsultorenkollegium zu erklären (c. 430 § 2 CIC). Der neu ernannte Diözesanbischof ergreift Besitz vom Amt, indem er die päpstliche Ernennungsurkunde dem Konsultorenkollegium vorzeigt (c. 382 § 3 CIC). Der Bischofskoadjutor hat das Ernennungsschreiben dem Diözesanbischof und dem Konsultorenkollegium vorzuweisen, der Auxiliarbischof nur dem Diözesanbischof (c. 404 §§ 1 – 2 CIC). Bei Behinderung des Diözesanbischofs genügt es, wenn der Bischofskoadjutor und der Auxiliarbischof das Ernennungsschreiben dem Konsultorenkollegium vorzeigen (c. 404 § 3 CIC). Aufgrund teilkirchenrechtlicher Regelungen haben die Mitglieder der Domkapitel in den deutschsprachigen Diözesen häufig führende diözesane Ämter bzw. leitende Stellen in den bischöflichen Ordinariaten inne. In vielen Diözesen sind sie Mitglieder in den zentralen kirchlichen Beratungs- und Verwaltungsorganen und zählen zu den engsten Mitarbeitern der Bischöfe. Beispielsweise gehören in Österreich die Mitglieder des Salzburger Metropolitankapitels, des Gurker Domkapitels sowie der Domkapitel in Linz und St. Pölten von Rechts wegen dem bischöflichen Konsistorium als wirkliche Konsistorialräte an.14 Der Titel „Senat des Bischofs“ ist zwar universalrechtlich auf den Priesterrat übergegangen (vgl. c. 495 § 1 CIC), in vielen Diözesen des deutschen Sprachgebietes spielen jedoch die Domkapitel nach wie vor eine bedeutende Rolle in der Beratung und Unterstützung des Diözesanbischofs bei der Leitung der Diözese.15 3. Autonomie und Statuten Gemäß c. 505 CIC sind die Kanonikerkapitel verpflichtet, sich autonom durch rechtmäßigen Kapitelbeschluss ihre Statuten zu geben, die zur Rechtsgültigkeit der Bestätigung durch den Diözesanbischof bedürfen. Dieser ist verpflichtet, die Statuten zu prüfen, und darf die Bestätigung erst erteilen, nachdem er sich vergewissert hat, dass sie gegen Rechtsnormen nicht verstoßen und dem Geist des Kanonikerwe14

Vgl. Statuten des Domkapitels zu den hll. Rupert und Virgil an der Metropolitankirche in Salzburg (v. 19. Dezember 1983): 5. Aufgaben des Domkapitels, 5. 4, in: VOBl. der Erzdiözese Salzburg 67 (1984), S. 11 – 17, 14; Statuten des Gurker Domkapitels in Klagenfurt (v. 12. Jänner 1988): III. Aufgaben des Domkapitels, 2 (die Statuten wurden amtlich nicht publiziert); Statuten des Domkapitels in Linz (v. 30. Oktober 2004): Art. 3. Aufgaben des Domkapitels, 3, in: Linzer DiözBl. 151 (2005), S. 5 – 8, 6; Statuten des Domkapitels St. Pölten (v. 2. Mai 1985): § 4. Aufgaben im Dienst der Diözese, Abs. 2, in: St. Pöltner DiözBl. (1985), S. 134 – 137, 135. Siehe dazu auch Hirnsperger/Haering, Statuten (Anm. 1), S. 39 (Salzburg), 51 (Gurk), 83 (Linz), 93 (St. Pölten). 15 Vgl. dazu beispielhaft die Ausführungen bei Dennemarck, Statuten (Anm. 1), bes. S. 162 ff.

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sens entsprechen. Da die Approbation eine rechtliche Wirkung erzeugt, muss sie gemäß c. 474 CIC schriftlich erfolgen, unterschrieben und notarisiert sein. Bei der Abänderung oder Aufhebung von Statutenbestimmungen sind ebenfalls Kapitelbeschluss und oberhirtliche Genehmigung erforderlich. Nach c. 410 § 3 CIC/1917 war der Bischof verpflichtet, im Fall von Säumigkeit des Kapitels selbst die Statuten zu redigieren und zu erlassen. Diese Bestimmung scheint im CIC von 1983 nicht mehr auf. Geschäftsordnungen, Anweisungen zur Durchführung der Satzungsbestimmungen und ähnliche, den Statuten nachgeordnete Normen werden vom Kapitel selbstständig erlassen und bedürfen nicht der bischöflichen Approbation. Kapitelsatzungen sind Statuten im eigentlichen Sinn gemäß c. 94 §§ 1 und 2 CIC. Die zu diesem Kanon ergangenen Spezialnormen in c. 506 §§ 1 und 2 CIC zählen jene Materien auf, die in den Kapitelstatuten jedenfalls zu normieren sind: An erster Stelle wird die Verfassung genannt, die unter Beachtung der Stiftungsbestimmungen zu umschreiben ist, ohne dass sich der Gesetzgeber zum Begriff der Kapitelverfassung selbst äußert. In Lehre und Praxis geht man davon aus, dass jene Normen gemeint sind, die die rechtliche Grundstruktur des Kanonikerkapitels festlegen. Neben der Definition dessen, was unter Kapitel rechtsbegrifflich zu verstehen ist, gehören dazu vor allem die Bestimmungen, in denen Zusammensetzung, Mitgliedschaft, Ämter und organisatorische Struktur sowie das Verhältnis zwischen Kapitel und Pfarrei normiert werden.16 Die Zusammenfassung der einschlägigen Vorschriften in einem eigenen Statutenabschnitt erscheint sinnvoll, wird aber vom Gesetzgeber nicht angeordnet. In den Statuten muss die Zahl der Kanonikate festgelegt sein. Sie ist bei den heutigen Kapiteln in der Regel aufgrund der Errichtungsurkunde bzw. der Stiftungsbestimmungen vorgegeben. Ferner sind die Aufgaben zu nennen, die das Kapitel und seine Mitglieder zu erfüllen haben. Gemeint sind sowohl Aufgaben, die vom Recht oder durch oberhirtliche Beauftragung zugewiesen werden, als auch die Agenden, die das Kapitel und die Kanoniker selbst bestimmen. Fragen des Chordienstes, die Feier des Konventamtes und die Assistenzdienste bei den Gottesdiensten des Bischofs werden anders als im vormaligen kodikarischen Recht im Gesetzbuch von 1983 nicht mehr geregelt. Sie sind jetzt in den Statuten zu normieren oder, soweit sie den Vollzug der gottesdienstlichen Feiern selbst betreffen, in besonderen Ordnungen (vgl. c. 95 CIC). Weiters müssen die Statuten das Sitzungswesen regeln und klare Normen enthalten, in denen die Bedingungen definiert werden, die zur Gültigkeit und Erlaubtheit von Rechtsgeschäften einzuhalten sind. Wie eigens angeordnet wird, sind Bestimmungen zum Einkommen der Kanoniker in die Statuten aufzunehmen, wobei zwischen funktionsunabhängigen und funktionsbezogenen Einkünften differenziert werden soll. Das vormalige Recht ordnete an, bestimmte Einkommensteile an die Mitwirkung beim Chorgebet zu binden und als sogenannte Choranteile (distributiones quotidianae) zu reichen (vgl. bes. cc. 395, 418 – 422 CIC/ 1917). Fragen dieser Art sind jetzt in den Statuten zu klären. Schließlich muss aus den Statuten ersichtlich sein, welche Abzeichen die Kanoniker verwenden. 16 Vgl. u. a. Mörsdorf Lb. I, S. 438 – 442; Haering/Pimmer-Jüsten/Rehak, Statuten (Anm. 1), S. 25.

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Die Statuten enthalten daher keineswegs nur vom Kapitel autonom erlassene Bestimmungen, sondern immer auch Normen, die aus dem übergeordneten Recht zu übernehmen sind. Es kann sich z. B. um universalkirchliche Vorschriften handeln, um Dekrete der Bischofskonferenz bzw. diözesanrechtliche Weisungen, aber auch um Bestimmungen im Zusammenhang mit der Stiftung und Errichtung, staatliche oder staatskirchenrechtliche Rechtsnormen sowie vertragliche Vereinbarungen. Die Kapitel bleiben stets berechtigt, eigene, über den übertragenen Aufgabenkreis hinausgehende Initiativen zu setzen und die jeweiligen Agenden in den Statuten zu umschreiben. Hinsichtlich der Aufgaben der Kapitel und ihrer Organisation eröffnet der Codex Iuris Canonici von 1983 größere Gestaltungsspielräume als das vormalige Gesetzbuch von 1917. Laut den amtlichen Mitteilungen entspricht dies den Intentionen der CIC-Reformkommission.17 4. Ämter und Organisation Die wenigen Vorgaben, die im Codex Iuris Canonici von 1983 zu den Kapitelämtern verblieben sind, sehen vor, dass ein Kanoniker den Vorsitz im Kollegium innehat (c. 507 § 1 CIC). Die Art und Weise der Bestellung des praeses capituli, der nach c. 509 § 1 CIC der Bestätigung durch den Diözesanbischof bedarf, ist in den Statuten festzulegen. Sie kann, muss aber nicht durch Kapitelwahl geschehen.18 Der Vorsitzende ist primus inter pares und hat keine jurisdiktionellen Vollmachten über die Kanoniker. Die mit seinem Amt verbundenen Rechte und Pflichten sind in den Kapitelstatuten zu definieren. Er besitzt regelmäßig weitreichende Kompetenzen als Kapitelorgan wie z. B. Vorbereitung, Einberufung und Leitung der Sitzungen, Durchführung der Beschlüsse, Vertretungs- und Zeichnungsbefugnisse und weitere Vollmachten. Verpflichtend beibehalten wird universalrechtlich das Amt des Bußkanonikers (canonicus paenitentiarius). Dieses Amt, das der Unterstützung des Bischofs bei der Buß- und Beichtseelsorge dient, ist traditionell mit dem Domkapitel verbunden, bildet aber kein Element der Kapitelorganisation im eigentlichen Sinn. Der Bußkanoniker hat von Amts wegen Beichtvollmacht und besitzt die nicht weiter delegierbare Vollmacht, im sakramentalen Bereich von Beugestrafen zu befreien, sofern es sich um Tatstrafen handelt, die nicht festgestellt worden sind, und keine päpstlichen Reservationen bestehen. Diese Vollmacht ist personell und territorial determiniert und erstreckt sich innerhalb der Diözese auch auf Auswärtige, außerhalb des Bistums aber nur auf Diözesanangehörige (cc. 508 § 1; 968 § 1 CIC). Besteht in der Diözese kein Kanonikerkapitel, muss der Diözesanbischof einen anderen Priester bestellen, der die Aufgaben des Bußkanonikers erfüllt, und ihn mit den erforderlichen Vollmachten ausstatten (c. 508 § 2 CIC). Nach c. 478 § 2 CIC ist das Amt des Bußkano17

Vgl. Communicationes 5 (1973), S. 232 f. Vgl. Responsio des Päpstlichen Rates zur Interpretation von Gesetzestexten v. 24. Jänner 1989 (20. Mai 1989), in: AAS 81 (1989), S. 991. 18

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nikers mit dem des Generalvikars und des Bischofsvikars nicht kompatibel. Das Gesetzbuch von 1917 enthielt in c. 401 § 2 die Vorschrift, dass der Pönitentiarkanoniker in einem bestimmten Beichtstuhl in der Kapitelkirche zu einer für die Gläubigen günstigen Zeit regelmäßig anwesend sein musste. Der erneuerte CIC wiederholt diese Bestimmung zwar nicht, aus seelsorglichen Gründen scheint es aber geboten zu sein, durch geeignete Vorschriften sicherzustellen, dass die Gläubigen den Dienst des Bußkanonikers tatsächlich in Anspruch nehmen können. Eine entsprechende Dienstanweisung sollte daher in die Statuten oder die Geschäftsordnung aufgenommen werden. Neben Kapitelpräses und Bußkanoniker können weitere Ämter auf Statutenbasis eingerichtet werden. Die Gebräuche in der jeweiligen Region sollen dabei zur Geltung kommen (c. 507 § 1 CIC). In den deutschsprachigen Kirchengebieten begegnen traditionell folgende Ämter: Propst, Dekan (Dechant), Archidiakon, Kustos, Kantor, Scholastikus und Notar. Häufig sind die Inhaber dieser Ämter Würdenträger im Kapitel (Dignitäre, Dignitäten), denen bestimmte Aufgaben und vor allem Vorrechte zukommen (vgl. c. 393 § 2 CIC/1917). Der Codex Iuris Canonici von 1983 kennt die Unterscheidung zwischen Dignitäten und einfachen Kanonikern nicht mehr, sie kann jedoch in den Statuten weiterhin vorgesehen sein. Kapitelämter sollen nur weitergeführt bzw. neu eingerichtet werden, wenn konkrete Aufgaben mit ihnen verbunden sind, die auch in der Gegenwart Bedeutung haben. Gegebenenfalls sind dabei Vorgaben im höheren Recht zu berücksichtigen. Beispielsweise können staatskirchenrechtliche Verträge oder Stiftungsbestimmungen zur Errichtung oder Beibehaltung von Ämtern verpflichten (vgl. c. 3 CIC).19 Einer alten Gepflogenheit und Rechtstradition folgend legt c. 507 § 2 CIC fest, dass auf Grundlage der Statuten Hilfsämter und -dienste eingerichtet werden können, in denen Kleriker, die nicht Mitglieder im Kapitel sind, Aufgaben im Auftrag der Kanoniker erfüllen. Zu denken ist z. B. an Domchorvikare, Vorsänger oder Psalteristen, die die Kanoniker beim Chordienst unterstützen. Im außerliturgischen Bereich kommen z. B. die Ämter von Ökonom, Schriftführer (Kapitelnotar, -sekretär) und Archivar in Betracht. Diese Ämter können auch an Laien übertragen werden, wenn von den Aufgaben her keine Weihen erforderlich sind. Die Verleihung steht sowohl bei den Kapitelämtern als auch bei den Hilfsämtern dem Diözesanbischof zu, sofern nicht abweichende Regelungen zu beachten sind (vgl. c. 157 CIC). 5. Emeritierte Kanoniker und Ehrenkanoniker Die Kapitelstatuten sehen regelmäßig einen speziellen rechtlichen Status für Kanoniker vor, die aus dem Kapitel ausgeschieden sind (canonici emeriti). Die Emeritierung bringt den Verlust von Sitz und Stimme in der Kapitelversammlung mit sich, belässt aber die ehemaligen Kapitelmitglieder zumeist im Besitz bestimmter, in den 19 Zu den Rechtsverhältnissen in Deutschland und Österreich siehe u. a. Jüsten, Domkapitel (Anm. 1), bes. S. 48 – 51.

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Statuten definierter Kanonikerrechte, z. B. Wohnrechte, Ehrenrechte und Begräbnisrechte. Das Institut der Ehrenkanoniker (canonici honorarii, canonici ad honorem) scheint zwar im erneuerten Codex Iuris Canonici von 1983 nicht mehr auf, besteht aber bei vielen Kapiteln auf Basis der Statuten weiter (vgl. bes. cc. 406 – 409, 411 CIC/1917). Der wesentliche Unterschied zu den wirklichen Kanonikern besteht darin, dass die Ehrenkanoniker Sitz und Stimme in der Kapitelversammlung nicht besitzen und daher von der Willensbildung im Kanonikerkollegium ausgeschlossen sind. Ehrenkanonikern kommen lediglich bestimmte, meistens in den Kapitelstatuten benannte Kanonikerrechte bzw. -aufgaben zu. In der Regel handelt es sich um Ehrenrechte wie das Tragen der Kanonikerkleidung und der Abzeichen oder Präzedenzrechte. In Österreich bedeutet die Ernennung zum Ehrenkanoniker immer eine hohe bischöfliche Auszeichnung, die verdienten Priestern zuteil wird.20 6. Verleihung der Kanonikate Was die Besetzung der Kanonikate betrifft, statuiert das Gesetzbuch von 1983 unter Aufhebung gegenteiliger Privilegien eine ausschließliche Kompetenz des Diözesanbischofs. Ausdrücklich wird der Diözesanadministrator von der Verleihungsbefugnis ausgeschlossen (c. 509 § 1 CIC). General- und Bischofsvikare benötigen dafür ein Spezialmandat gemäß c. 134 § 3 CIC. Die Mitwirkungsrechte des Apostolischen Stuhls sind zur Gänze weggefallen. Der Bischof ist allerdings verpflichtet, vor der Ernennung eines Kanonikers die Meinung des Kapitels zu hören (vgl. c. 127 §§ 1 – 3 CIC). In Deutschland besitzen die Domkapitel aufgrund von Konkordatsbestimmungen erweiterte Mitwirkungsrechte. Die Besetzung der Kanonikate geschieht in Bayern und in Speyer abwechselnd durch den Diözesanbischof nach Anhörung des Domkapitels und aufgrund der Wahl des Kapitels mit bischöflicher Bestätigung (vgl. Art. 14 BayK). Nach dem Preußischen und dem Badischen Konkordat ernennt der Bischof die Domkapitulare abwechselnd nach Anhörung und mit Zu20

Vgl. Statuten des Domkapitels zu den hll. Rupert und Virgil an der Metropolitankirche in Salzburg (v. 19. Dezember 1983): 12. „Canonici honorarii“, in: VOBl. der Erzdiözese Salzburg 67 (1984), S. 11 – 17, hier S. 17; Statuten des Gurker Domkapitels in Klagenfurt (v. 12. Jänner 1988): IX. Canonici honorarii, (die Statuten wurden amtlich nicht publiziert); Statuten des Domkapitels an der Kathedralkirche zum hl. Ägydius in Graz (v. 8. Juni 1984): Art. XI. Ehrenkanoniker (die Statuten wurden amtlich nicht publiziert); Statuten des Domkapitels an der Metropolitankirche zu St. Stephan in Wien (v. 18. Mai 2005): X. Ehrenkanoniker (die Statuten wurden amtlich nicht publiziert); Statuten des Domkapitels in Linz (v. 30. Oktober 2004): Art. 10. „Canonici emeriti“ und „Canonici honorarii“, in: Linzer DiözBl. 151 (2005), S. 5 – 8, 8; Statuten des Domkapitels St. Pölten (v. 2. Mai 1985): § 10. Ehrenkanoniker, in: St. Pöltner DiözBl. (1985), S. 134 – 137, hier S. 137; Statuten des Kathedralkapitels zum hl. Martin in Eisenstadt (v. 16. März 1994), Nr. 18, in: Amtl. Mitteilungen der Diözese Eisenstadt, Nr. 408 v. 25. Juni 1994, S. 47 – 49, 49. Die Texte der Statuten sind abgedruckt bei Hirnsperger/Haering, Statuten (Anm. 1), S. 44 (Salzburg), 56 (Gurk), 68 f. (Graz), 80 (Wien), 88 (Linz), 97 f. (St. Pölten), 107 (Eisenstadt).

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stimmung des Domkapitels (vgl. Art. 8 PreußK; Art. II BadK; Art. 14 RK).21 Was die kanonischen Eignungskriterien angeht, ist universalrechtlich festgelegt, dass Kapitelstellen nur Priestern übertragen werden dürfen, die sich durch Rechtgläubigkeit und unbescholtenen Lebenswandel auszeichnen und die ihren bisherigen Dienst in lobenswerter Weise ausgeübt haben (c. 509 § 2 CIC). Wenn man davon ausgeht, dass der Gesetzgeber den priesterlichen Dienst vor Augen hat, kommen wohl nur Priester infrage, die bereits längere Zeit lang vorbildlich gewirkt und sich besonders bewährt haben. Im Teilkirchenrecht und in den Kapitelstatuten können die universalrechtlichen Kriterien konkretisiert werden oder weitere hinzukommen. Zur Frage, ob die Kanonikate auf Dauer oder für eine bestimmte Amtszeit zu vergeben sind, äußert sich der CIC nicht. Soweit nicht rechtliche Vorgaben entgegenstehen, ist das Kapitel befugt, autonom in den Statuten die einschlägigen Normen zu erlassen. Die Österreichische Bischofskonferenz ordnete im Konnex mit der Übertragung der Agenden des Konsultorenkollegiums an die Domkapitel an, in die Statuten Bestimmungen aufzunehmen, durch die die Domkapitulare verpflichtet werden, bei Vollendung des 75. Lebensjahres um Emeritierung anzusuchen, und die ermöglichen, priesterliche Leiter von diözesanen Ämtern ad tempus officii in das Kapitel aufzunehmen.22 Gegen die Koppelung von Kapitelmitgliedschaft und Übertragung weisungsgebundener Ämter werden allerdings gravierende Bedenken geäußert, weil das Domkapitel dadurch an Selbstständigkeit einbüße und enge Abhängigkeiten vom Bischof entstünden. Vom kodikarischen Konzept her sollte aber das Domkapitel, besonders wenn es die Aufgaben des Konsultorenkollegiums wahrzunehmen hat, ein vom Bischof nach Möglichkeit unabhängiges, extrakuriales, in sich stehendes und weisungsunabhängiges Ratsgremium sein.23 7. Kapitel und Pfarrei Gemäß c. 510 § 1 CIC dürfen in Zukunft Pfarreien nicht mehr mit Kanonikerkapiteln vereinigt sein. Bestehende Vereinigungen dieser Art sind vom Diözesanbischof aufzulösen. Da nach c. 520 § 1 CIC eine juristische Person nicht mehr Pfarrer sein kann, ist künftig auch ausgeschlossen, dass das Kanonikerkapitel als Pfarrer fungiert. Das Gesetzbuch folgt damit dem beim II. Vatikanischen Konzil aufgestellten 21 In den nach der Vereinigung der beiden deutschen Staaten abgeschlossenen Verträgen wurden die neu errichteten Bistümer, deren Gebiete dem preußisch geprägten Rechtskreis zugehören, ausdrücklich einbezogen. Siehe dazu bes. Jüsten, Domkapitel (Anm. 1), S. 52 – 59; Stephan Haering, Die Verträge zwischen dem Heiligen Stuhl und den neuen Bundesländern aus den Jahren 1994 bis 1998, in: Josef Isensee/Wilhelm Rees/Wolfgang Rüfner (Hrsg.), Dem Staate, was des Staates – der Kirche, was der Kirche ist. Festschrift für Joseph Listl zum 70. Geburtstag (SKRA 33), Berlin 1999, S. 761 – 794, bes. 774 f., 786. 22 Vgl. Abl. der ÖBK, Nr. 1 v. 25. Jänner 1984, S. 6, Nr. 8; Nr. 3 v. 15. April 1989, S. 25, Nr. 33; Schmitz/Kalde, Partikularnormen der deutschsprachigen Bischofskonferenzen (Anm. 10), S. 21. 23 Siehe dazu bes. Schmitz, Domkapitel in Deutschland (Anm. 1), bes. S. 65; ders., Konsultationsorgane (Anm. 13), bes. S. 457 – 459.

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Grundsatz, wonach die Pfarrei von Wesen und Zielsetzung her eine Einrichtung im Dienst der Seelsorge sein müsse, was auch die Schaffung entsprechender rechtlicher Strukturen verlange (vgl. VatII CD, Art. 32). Gemäß c. 510 § 2 CIC ist an einer Kapitelkirche, die gleichzeitig Pfarrkirche ist, ein Pfarrer zu bestellen, der aus den Kanonikern genommen werden kann, aber nicht muss, und der Pfarrer im Vollsinn mit allen Rechten und Pflichten ist (vgl. bes. cc. 528 – 534 CIC). Sache des Diözesanbischofs ist es, Regelungen zu erlassen, in denen die seelsorglichen Aufgaben des Pfarrers und die Agenden des Kapitels so aufeinander abgestimmt werden, dass sich pfarrliche Aktivitäten und Kapitelaufgaben nicht gegenseitig behindern. Bei Konflikten entscheidet der Diözesanbischof, der stets darauf zu achten hat, dass die Seelsorgebedürfnisse der Gläubigen keinen Schaden nehmen (c. 510 § 3 CIC). Nach c. 510 § 4 CIC wird präsumiert, dass die in einer Kapitelkirche, die zugleich Pfarrkirche ist, gegebenen Spenden der Pfarrei zukommen, sofern nicht die gegenteilige Intention des Spenders feststeht. Auch diese Bestimmung verdeutlicht, dass die Pfarrei und nicht das Kanonikerkapitel die übergeordnete Einrichtung bildet und daher die pfarrliche Seelsorge grundsätzlich Vorrang hat. II. Das Domkapitel von Brixen 1. Rechtliche Grundlagen – rechtsgeschichtliche Anmerkungen Die gegenwärtigen Rechtsverhältnisse im Brixner Domkapitel gestalten sich auf der Grundlage der „Statuten des Domkapitels von Brixen“24, die das Kapitel am 8. August 2002 beschloss, und der ebenfalls am diesem Tag vom Kapitel verabschiedeten „Geschäftsordnung zu den Statuten des Domkapitels von Brixen“25. Beide Dokumente erhielten am 11. Oktober 2002 die oberhirtliche Approbation durch Diözesanbischof Wilhelm Egger (1986 – 2008) und erlangten mit diesem Datum Rechtskraft. Wie die Statuten in der Präambel festhalten, war es seit seiner Gründung in der Mitte des 10. Jahrhunderts Aufgabe des Domkapitels von Brixen, dem Diözesanbischof als Ratskollegium zur Seite zu stehen und Sorge für die Liturgie und das Chorgebet in der Kathedralkirche zu tragen.26 Bereits im Mittelalter verfügte das Kapitel über eigenen, von den bischöflichen Gütern getrennten Besitz mit eigenständiger Verwaltung. Das alte Domkapitel umfasste schließlich insgesamt 19 Stellen: zwei Dignitäten (Propst, Dekan), zwei Personate (Kustos, Scholastikus) und 15 einfache

24 Statuten des Domkapitels von Brixen (v. 8. August 2002), in: Folium Dioecesanum Bauzanense-Brixinense 39 (2003), S. 115 – 123 (deutsch); 149 – 157 (italienisch); die deutsche Version ist abgedruckt bei: Hirnsperger/Haering, Statuten (Anm. 1), S. 111 – 122. 25 Geschäftsordnung zu den Statuten des Domkapitels von Brixen (v. 8. August 2002). Die Geschäftsordnung wurde amtlich nicht publiziert. Der Domdekan von Brixen Dr. Ivo Moser stellte sie dankenswerterweise zur Verfügung. 26 Vgl. Statuten: Präambel (Anm. 24), S. 115 f.

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Kanonikate.27 Um die gottesdienstlichen Aufgaben erfüllen zu können, waren 25 Dombenefizien eingerichtet worden, für deren Besetzung das Kapitel zuständig war. Die Säkularisation zu Beginn des 19. Jahrhunderts führte zum Verlust der Kapitelgüter und in der Folge zur Auflösung der Kanonikergemeinschaft. Das kaiserliche Säkularisationsdekret wurde am 4. Februar 1803 erlassen, also noch vor dem Reichsdeputationshauptschluss vom 25. Februar 1803. Bereits am 7. März 1803 wurde der Kapitelbesitz vom Staat eingezogen. Papst Leo XII. (1823 – 1829) gab mit der Bulle „Ubi primum“ vom 7. März 1825 dem Domkapitel eine neue Organisationsform, die in den Grundzügen bis in die Gegenwart fortbestehen sollte.28 Nachdem durch kaiserliches Dekret vom 26. Jänner 1826 die erforderlichen Voraussetzungen geschaffen worden waren, konnte Fürstbischof Karl Franz Graf von Lodron (1792 – 1828) das Kathedralkapitel am 2. April 1826 feierlich wieder einsetzen. Wie allgemein bei der Reorganisation der Kathedralkapitel in Deutschland und Österreich wurde auch in Brixen die Zahl der Kapitelstellen stark reduziert und betrug jetzt nur mehr sieben: drei Dignitäten (Propst, Dekan, Scholastikus) und vier einfache Kanonikate. Die Dombenefizien wurden gemäß Hofdekret vom 8. Mai 1835 wieder eingerichtet und das Besetzungsrecht des Kapitels bestätigt. Die Dotierung des Kapitels und der Benefizien geschah erst nach und nach. Den endgültigen Abschluss fand die Reorganisation des Brixner Domkapitels mit dem Erlass der Statuten, die Fürstbischof Simon Aicher (1884 – 1904) am 22. Februar 1887 ratifizierte. Die Reform des kirchlichen Rechts nach dem II. Vatikanischen Konzil und die Auswirkungen der jüngsten Revision des italienischen Konkordats veränderten die rechtliche Stellung des Domkapitels und machten die Neufassung der Kapitelstatuten unumgänglich. Das Kapitel musste den Titel und die Funktion des senatus episcopi an das Konsultorenkollegium abtreten, das in der Diözese Brixen zusammen mit dem Priesterrat eingerichtet wurde. Das Abkommen zwischen dem Heiligen Stuhl und der Republik Italien vom 18. Februar 1984, Art. 7, Nr. 6, und die Bestimmungen im Zusatzvertrag vom 15. November 1984, die mit Gesetz vom 20. Mai 1985, Nr. 222, Art. 28, in die italienische Rechtsordnung übernommen wurden, führten dazu, dass in Italien alle Benefizien jedweder Art und Benennung unterdrückt wurden.29 Davon betroffen waren u. a. die Benefizien an der Domkirche Maria Himmelfahrt in Brixen. Außerdem verloren die meisten Gotteshäuser die Rechtspersönlichkeit, was u. a. zur Folge hatte, dass die Kirchen Maria Verkündigung, St. Gotthard und

27 Vgl. Leo Santifaller, Das Brixner Domkapitel in seiner persönlichen Zusammensetzung im Mittelalter (Schlern-Schriften 7), Innsbruck 1924; Karl Wolfsgruber, Das Brixner Domkapitel in seiner persönlichen Zusammensetzung in der Neuzeit 1500 – 1803. Festschrift zu Ehren des Fürstbischofs von Brixen Msgr. Dr. Johannes Geisler im Jahre des 40-jährigen Priester- und des 20-jährigen Bischofsjubiläums (Schlern-Schriften 80), Innsbruck 1951. 28 Der Text von „Ubi primum“ ist abgedruckt in: Magnum Bullarium Romanum. Continuatio, tom. XVI, Rom 1854 (Nachdruck Graz 1964), S. 304 – 307. 29 Vgl. dazu bes. Michaeler, Rechtsstrukturen (Anm. 7), S. 359 – 408.

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St. Erhard sowie die St. Johannes-Kapelle zusammen mit ihren Liegenschaften auf das Brixner Domkapitel übertragen wurden. Nach längeren Vorarbeiten beschloss das Domkapitel am 22. Februar 1987 die revidierten Statuten, durch die jene vom 22. Februar 1887 außer Kraft gesetzt wurden.30 Nachdem sich gezeigt hatte, dass diese Bestimmungen nicht in allen Punkten befriedigten, und Änderungen bzw. Ergänzungen notwendig waren, wurden die Statuten von 1987 überarbeitet und am 8. August 2002 zusammen mit der Geschäftsordnung in der geänderten Fassung beschlossen. 2. Verfassung, Rechtspersönlichkeit, Aufgaben Wie die Statuten, die in zehn Kapitel und 28 Paragrafen unterteilt sind, im Kapitel zu Verfassung und Zweck darlegen, ist das Kathedralkapitel von Brixen ein Kollegium von sieben Diözesanpriestern.31 Es setzt sich aus den zwei Dignitäten Dompropst und Domdekan sowie aus fünf weiteren Kanonikern zusammen (§ 1). Die Statuten unterscheiden also so wie bisher zwischen Dignitäten und einfachen Kanonikern. Das Domkapitel ist eine öffentliche juristische Person des kirchlichen Rechts gemäß c. 116 CIC, die aufgrund des italienischen Gesetzes vom 20. Mai 1985, Art. 4 und 14, zivilrechtlich als Rechtsperson anerkannt und eingetragen worden ist. Was die Vermögensverwaltung angeht, unterliegt daher das Domkapitel der Aufsicht des Diözesanordinarius (§ 2). Die von der Verfassung her gegebene primäre Aufgabe des Kapitels ist die Feier der Gottesdienste gemäß c. 503 CIC sowie die Verkündigung des Wortes Gottes und die Spendung der Sakramente in der Domkirche (§ 3). In innerem Zusammenhang damit steht die in einem eigenen Punkt genannte weitere Aufgabe: die umfassende Verantwortung für die Domkirche Maria Himmelfahrt in Brixen, die ebenfalls zivilrechtlich als juristische Person anerkannt und eingetragen worden ist (§ 2). In den Kapitelstatuten sollte ausdrücklich gesagt werden, dass die Kathedralkirche von Brixen nicht zugleich Pfarrkirche ist. Dadurch wäre auch für Außenstehende klar ersichtlich, dass dieses Gotteshaus nicht den für Pfarrkirchen geltenden Rechtsnormen unterliegt. 3. Besetzung der Kapitelstellen Das Recht, die Kanoniker zu ernennen, steht dem Diözesanbischof zu.32 Ebenso ist nur er dafür zuständig, den Dompropst zu ernennen, der immer aus dem Kreis der 30 Vgl. Statuten des Domkapitels von Brixen (v. 22. Februar 1987), in: Folium Dioecesanum Bauzanense-Brixinense 26 (1990), S. 133 – 141 (deutsch), 155 – 163 (italienisch); in deutscher Sprache abgedruckt in: AfkKR 159 (1990), S. 216 – 233; Hirnsperger, Statuten (Anm. 1), S. 76 – 85. 31 Vgl. Statuten: 1. Kapitel: Verfassung und Zweck (Anm. 24), S. 116 f. 32 Vgl. Statuten: 2. Kapitel: Mitgliedschaft (Anm. 24), S. 117.

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Kanoniker zu nehmen ist. Da der Rechtstext explizit vom Diözesanbischof spricht, kommen die genannten Nominationsrechte dem Diözesanadministrator nicht zu, Generalvikare und Bischofsvikare bedürfen hiefür eines Spezialmandates gemäß c. 134 § 3 CIC. Der Bischof muss die Meinung des Kapitels vor der Ernennung eines neuen Kanonikers anhören, ist aber nicht daran gebunden (vgl. c. 509 § 1 i.V.m. c. 127 § 2 CIC). Die Bestellung der Kanoniker geschieht auf Dauer, kann aber auch befristet erfolgen. Ausdrücklich sehen die Statuten nämlich die Möglichkeit von Ernennungen munere durante vor, d. h. für die Zeit, in der der zu Ernennende ein bestimmtes Amt innehat (§ 4). Diese Bestimmung lässt darauf schließen, dass auch in Brixen Inhaber diözesaner Leitungsämter regelmäßig im Domkapitel vertreten sind. Kanonikate dürfen nach ausdrücklicher Weisung in den Statuten nur an Priester aus der Diözese Bozen-Brixen übertragen werden. Nicht dem Diözesanklerus angehörenden Priestern ist somit der Zutritt zu den Domkanonikaten verwehrt. Die Statuten sprechen nicht explizit vom Erfordernis der Inkardinierung, sodass anzunehmen ist, dass unter bestimmten Voraussetzungen auch nicht inkardinierte Priester Kanonikate erhalten können, besonders wenn sie aufgrund ihrer Tätigkeit in der Diözese faktisch dem diözesanen Klerus zuzurechnen sind. Bei den weiteren Eignungsvoraussetzungen werden an erster Stelle entsprechende Kenntnisse in der kirchlichen Lehre verlangt, was damit zusammenhängen dürfte, dass sich die Kanoniker in Brixen primär als Seelsorger verstehen und sie ihre pastoralen Dienste an der Domkirche in der gewünschten Weise nur erfüllen können, wenn sie über fundiertes Wissen in der Glaubens- und Sittenlehre der Kirche verfügen. Ansonsten sind die gemäß c. 509 § 2 CIC allgemeinrechtlich geltenden Kriterien bei Ernennungen anzulegen: Rechtgläubigkeit, unbescholtener Lebenswandel und Erfahrung im kirchlichen Dienst (§ 6). Der Domdekan, der den Vorsitz im Kapitel innehat, wird nicht ernannt, sondern vom Domkapitel aus dem Kreis seiner Mitglieder gewählt. Die Wahl, deren Ablauf in der Geschäftsordnung geregelt wird, bedarf der bischöflichen Bestätigung (§ 5 i.V.m. § 7).33 Erst mit der Amtseinführung werden die mit dem Amt verbundenen Rechte und Pflichten wirksam. Der Dompropst ist zuständig für die Amtseinweisung der Kanoniker und des Domdekans, beim Dompropst geschieht sie durch den Bischof selbst oder durch seinen Delegierten (§ 7). Laut Geschäftsordnung sollen Dignitäten und Kanoniker grundsätzlich im Rahmen eines öffentlichen Gottesdienstes in der Domkirche in ihre Ämter eingeführt werden, weil sie „Seelsorger im Dom sind“34. So wie bei zahlreichen anderen Dom- und Kollegiatkapiteln besteht auch in Brixen das Institut der Ehrenkanoniker. Im Unterschied zu den wirklichen Kanonikern besitzen sie keine rechtserhebliche Mitgliedschaft im Kapitel und können sich daher an den Abstimmungen nicht beteiligen. Ihre Zahl darf in Brixen höchstens vier be33 34

Vgl. Geschäftsordnung: IV. Wahl des Domdekans (Anm. 25), S. 2. Geschäftsordnung: III. Einführungsritus für Dignitäten und Kanoniker (Anm. 25), S. 2.

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tragen. Sie werden vom Diözesanbischof nach Anhörung des Domkapitels ernannt (§ 8). Es fällt auf, dass sich die Brixner Kapitelstatuten anders als die Statuten der österreichischen Domkapitel weder zu den Eignungskriterien noch zur Bedeutung der Berufung zum Ehrenkanoniker äußern. Bestimmungen zu den Ehrenkanonikern finden sich an verschiedenen Stellen in den Statuten von Brixen. Im Unterschied dazu sehen die Statuten der österreichischen Domkapitel eigene Punkte für die Ehrenkanoniker vor, was die Übersichtlichkeit fördert und rechtssystematisch auch deshalb nahe liegt, weil sich die Ehrenkanoniker in der rechtlichen Stellung von den wirklichen Kanonikern wesentlich unterscheiden.35 4. Liturgische Dienste in der Domkirche Dem Kathedralkapitel und seinen Mitgliedern obliegt ein breites Spektrum von gottesdienstlichen und seelsorglichen Aufgaben, denen die Statuten ein eigenes Kapitel widmen.36 Jeder Kanoniker hat die Feier der Gottesdienste stets als vorrangige Aufgabe zu betrachten. Von gottesdienstlichen Verpflichtungen darf nicht generell, sondern nur im Einzelfall dispensiert werden. Ausschließlich der Domdekan ist dispensberechtigt (§ 9). Die Statuten beschränken sich auf die Aufzählung der geistlichen Dienste, die Geschäftsordnung enthält die näheren Regelungen dazu:37 (1) Teilnahme an den feierlichen Gottesdiensten des Bischofs in der Kathedrale in Brixen bzw. auf Wunsch des Bischofs in der Konkathedrale in Bozen; (2) Feier der Gottesdienste an bestimmten Festtagen durch Dompropst oder Domdekan; (3) Teilnahme am sonntäglichen Konventamt; (4) Feier der Gottesdienste an Sonn- und Feiertagen in turnusmäßiger Reihenfolge; (5) Feier der Gottesdienste an den Werktagen; (6) Feier des Chorgebetes nach der Ordnung, wie sie in der Geschäftsordnung im Einvernehmen mit dem Bischof geregelt wird; (7) Angebot von täglichen Beichtgelegenheiten nach dem festgelegten Turnus; (8) Aufgaben im Zusammenhang mit der Tourismuspastoral: Andachten, Führungen von Touristen und Pilgern durch den Dom mit dem Kreuzgang sowie die Johanneskirche und die Frauenkirche. 5. Weitere Aufgaben und Rechte Grundsätzlich haben die Kanoniker die Aufgaben zu erfüllen, die ihnen von Rechts wegen zukommen oder vom Diözesanbischof übertragen werden (§ 10).38 35 Zu den einschlägigen Stellen in den Statuten der österreichischen Domkapitel siehe Anm. 20. 36 Vgl. Statuten: 3. Kapitel: Liturgischer Dienst im Dom (Anm. 24), S. 118. 37 Vgl. Geschäftsordnung: I. Gottesdienst im Dom (zu § 9 der Statuten), II. Gottesdienste der Dignitäten (Anm. 25), S. 1 f. – Da die Kathedralkirche von Brixen nicht Pfarrkirche ist, finden sich keine Bestimmungen zur Regelung des Verhältnisses zwischen Domkapitel und Pfarrei gemäß c. 510 § 3 CIC in den Statuten und in der Geschäftsordnung. 38 Vgl. Statuten: 4. Kapitel: Aufgaben und Rechte (Anm. 24), S. 118 f.

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Der Aufgabenkreis geht daher über jene Agenden hinaus, die in den Statuten ausdrücklich benannt werden. Zu den zentralen Aufgaben des Domkapitels gehört neben der Feier der Gottesdienste die Verwaltung der Güter und des Vermögens von Domkirche und Domkapitel (§ 11).39 Was die Wohnversorgung betrifft, hat jeder Kanoniker Anrecht auf Nutzung einer Wohnung in einem der Kapitelhäuser. Wohnungen können unter Einhaltung der Präzedenz optiert werden. Bei der Frage der Vermietung von Kapitelwohnungen an Dritte liegt die Entscheidungskompetenz beim Domkapitel selbst (§ 12 i.V.m. § 26). Was das Begräbnis angeht, haben die Kanoniker das Recht auf Bestattung in den Arkaden des Domklerus auf dem städtischen Friedhof in Brixen. Dieses Recht wird durch die Emeritierung nicht tangiert. Die Besoldung der Kanoniker geschieht nach dem Besoldungssystem, das in Italien entsprechend dem Gesetz vom 20. Mai 1985, Nr. 222, für die im Dienst der Diözese stehenden Priester gilt. Die Italienische Bischofskonferenz legt jeweils die Höhe der Beiträge fest, die das Domkapitel für die Gehälter seiner Mitglieder selbst aufbringen muss (§ 13). Die Kleidung der Brixner Domkanoniker besteht aus Talar, Mozetta und Birett in violetter Farbe sowie dem Chorrock. Das Kapitelkreuz wird nur zu bestimmten Anlässen getragen. Die Kapitelkleidung ist bei den Gottesdiensten im Dom zu verwenden, ansonsten nur bei der Begleitung oder Vertretung des Bischofs oder des Kapitels. Berechtigt zum Gebrauch der Kapitelkleidung sind die Mitglieder des Domkapitels, emeritierte Kanoniker und Ehrenkanoniker. Kanoniker, die munere durante ernannt wurden, verlieren mit dem Kanonikat auch das Recht auf Gebrauch der Kanonikerkleidung (§ 14).40 Der jährliche Urlaub, auf den Kanoniker Anspruch haben, beträgt sechs Wochen, die als Kontinuum oder zeitlich aufgeteilt genommen werden können. Da die Statuten einschränkende Bestimmungen nicht enthalten, ist davon auszugehen, dass die Kanoniker die Urlaubszeiten grundsätzlich frei wählen können. Sie müssen sich jedoch mit dem Domdekan absprechen (§ 15). Was die Präzedenz angeht, bestimmt sich die Rangordnung im Chor und bei Prozessionen entsprechend der Dignität bzw. dem Dienstalter im Kapitel. An die Präzedenzordnung sind auch die emeritierten Kanoniker gebunden. Bei liturgischen Funktionen nimmt grundsätzlich der Dompropst den ersten Rang ein. Bischöfe und Generalvikare der Diözese haben stets Vortritt vor den Kanonikern (§ 16).

39 40

Vgl. Geschäftsordnung: VI. Verwaltung des Vermögens (Anm. 25), S. 2 – 4. Vgl. Geschäftsordnung: VII. Chorkleidung (Anm. 25), S. 4.

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6. Ämter im Kapitel Im Domkapitel von Brixen sind folgende Ämter eingerichtet: Dompropst, Domdekan, Bußkanoniker, Verwalter, Kapitelsekretär, Domzeremoniär.41 Mit dem Amt des Dompropstes sind ausschließlich liturgische Aufgaben und Vorrechte verbunden, die in der Geschäftsordnung näher geregelt werden.42 Er ist die erste Dignität im Kapitel (§ 17). Das zentrale Kapitelamt ist das des Domdekans, der die zweite Dignität und das wichtigste Organ des Kapitels ist. Wie die Statuten eigens betonen, hat er seine Amtsaufgaben grundsätzlich persönlich wahrzunehmen und kann sich nur bei Abwesenheit oder Verhinderung vertreten lassen. Vertretungsbefugt sind der Dompropst bzw. bei dessen Verhinderung der dienstälteste Kanoniker (§ 18). Mit dem Amt des Domdekans sind folgende Amtsaufgaben verbunden: (1) Förderung der Gemeinschaft der Kanoniker; (2) gesetzliche Vertretung des Domkapitels und der Domkirche Maria Himmelfahrt sowie die Führung des Geschäftsverkehrs; (3) Sorge um die Erfüllung der liturgischen Verpflichtungen durch die Kanoniker; (4) hauptverantwortliche Leitung der Verwaltung des Vermögens von Domkapitel und Domkirche; (5) Sorge für die sichere Verwahrung der Geräte, Gefäße, Paramente und Kunstgegenstände der Kathedrale und entsprechende Überwachung; (6) Erstellung und Führung der Inventare der beweglichen und unbeweglichen Güter von Domkirche und Kapitel; (7) Einberufung der Kapitelsitzungen, Erstellung der Tagesordnung, Leitung der Sitzungen und Abstimmungen mit Entscheidungsbefugnis bei Stimmengleichheit, Unterzeichnung der Sitzungsprotokolle und Sorge um die Durchführung der Beschlüsse; (8) Dienstaufsicht über alle Mitarbeiter des Domkapitels und der Domkirche; (9) Verwahrung von Akten und Siegel von Domkapitel und Domkirche. Laut Geschäftsordnung ist es außerdem Pflicht des Domdekans, beim Tod eines Kapitelmitglieds die amtlichen Meldungen zu erledigen, das Testament sicherzustellen und dafür zu sorgen, dass die letztwilligen Verfügungen durchgeführt werden.43 Er ist auch dafür verantwortlich, dass die vom Verstorbenen angenommenen, aber noch nicht persolvierten heiligen Messen zelebriert werden. Der Bußkanoniker wird vom Bischof aus dem Kollegium der Kanoniker ernannt. Sein Amt ist inkompatibel mit den Ämtern von Generalvikar und Offizial. Er unterstützt den Bischof bei der Ausübung des Beicht- und Bußdienstes und besitzt von Amts wegen die ordentliche, jedoch nicht delegierbare Vollmacht, im sakramentalen Bereich von allen Zensuren zu befreien, soweit sie nicht dem Apostolischen Stuhl vorbehalten sind. Die Statuten erwähnen abweichend von c. 508 § 1 CIC nicht, dass auch festgestellte Tatstrafen seiner Befreiungsvollmacht entzogen sind. Möglicherweise handelt es sich um ein Versehen, weil die Statuten in diesem Zusammenhang ausdrücklich auf c. 508 § 1 CIC Bezug nehmen. Sollte kein Versehen vorliegen, 41 42 43

Vgl. Statuten: 5. Kapitel: Ämter im Kapitel (Anm. 24), S. 120 f. Vgl. Geschäftsordnung: II. Gottesdienste der Dignitäten (Anm. 25), S. 1 f. Vgl. Geschäftsordnung: V. Verpflichtungen des Domdekans (Anm. 25), S. 2.

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wären die Befugnisse des Bußkanonikers in Brixen umfangreicher als die im allgemeinen Recht festgelegten. Die Vollmacht des Bußkanonikers bezieht sich innerhalb der Diözese auch auf Diözesanfremde, außerhalb des Diözesangebietes nur auf Diözesanangehörige (§ 19). Der Verwalter ist vom Domkapitel durch Wahl zu ermitteln. Seine Aufgabe besteht darin, die Güter der Domkirche und des Domkapitels gemäß c. 1284 CIC mit der Sorgfalt eines guten Hausvaters zu verwalten. Er legt die Jahresrechnung in der vorgeschriebenen Form dem Domkapitel und dem Ordinariat vor. Die Geschäftsordnung normiert die Grundsätze für die Verwaltungsführung näher und ordnet darüber hinaus an, dass ein Verwaltungsausschuss einzurichten ist, der sich aus dem Dekan, dem Verwalter und einer dritten, vom Kapitel zu wählenden Person, die nicht dem Kapitel angehören muss, zusammensetzt.44 Der Ausschuss unterstützt den Domdekan bei der Vermögensverwaltung und besitzt Entscheidungsbefugnisse bei bestimmten, in der Geschäftsordnung aufgezählten Rechtsgeschäften der außerordentlichen Vermögensverwaltung (§ 20). Der Kapitelsekretär wird vom Kapitel bestimmt. Die Statuten ordnen zwar an, dass nur ein Mitglied des Kapitels dieses Amt erhalten darf, zum Modus der Bestellung äußern sie sich jedoch nicht. Als spezielle Amtspflichten werden die Führung der Sitzungsprotokolle, die er gemeinsam mit dem Dekan unterzeichnet, und die Verwahrung des Protokollbuchs genannt. Darüber hinaus ist der Kapitelsekretär dazu verpflichtet, den Domdekan zu unterstützen und ihm bei der Erfüllung seiner Aufgaben behilflich zu sein (§ 21). Der Domzeremoniär wird vom Bischof auf Vorschlag des Kapitels ernannt. Er ist verantwortlich für die Vorbereitung der liturgischen Feiern und trägt dafür Sorge, dass die Riten und Zeremonien entsprechend den liturgischen Vorschriften vollzogen werden. Wie die Statuten ausdrücklich unterstreichen, sind seine Weisungen für alle verbindlich, die bei der Liturgie mitwirken (§ 22). Aus den Statuten geht nicht hervor, ob nur ein Domkapitular für das Amt des Zeremoniärs infrage kommt oder ob es sich um ein Hilfsamt gemäß c. 507 § 2 CIC handelt, das mit einem nicht dem Kapitel angehörenden Kleriker zu besetzen ist. 7. Kapitelsitzungen Die statutarischen Bestimmungen zum Sitzungswesen sind auffallend kurz gehalten und äußern sich nur zur Häufigkeit und Art der Sitzungen, Anwesenheit und Beschlussfähigkeit und zur Beiziehung von Personen, die nicht dem Kapitel angehören.45 Auffällig ist, dass Regelungen zu den Sitzungen in der Geschäftsordnung vollständig fehlen.

44 45

Vgl. Geschäftsordnung: VI. Verwaltung des Vermögens (Anm. 25), S. 2 – 4. Vgl. Statuten: 6. Kapitel: Kapitelsitzungen (Anm. 24), S. 121 f.

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Bezüglich der Sitzungshäufigkeit ist vorgesehen, dass sechsmal im Jahr ordentliche Sitzungen abzuhalten sind, Sondersitzungen aber zu jeder Zeit einberufen werden können. Der Domdekan ist kompetent für die Einberufung, wobei die Ladungen acht Tage vor dem Termin erfolgen müssen; ausgenommen sind dringliche Fälle, wo Zusammenkünfte in kürzester Zeit anberaumt werden müssen. Nähere Angaben zu den Gründen, die Sondersitzungen verlangen bzw. rechtfertigen, fehlen, sodass es letztlich im amtlichen Ermessen des Domdekans liegt zu entscheiden, ob Materien bei den ordentlichen Sitzungen behandelt werden oder Sondersitzungen notwendig sind (§ 23). Beschlussfähigkeit ist gegeben, wenn wenigstens vier Kapitelmitglieder anwesend sind. Die vollzählige Anwesenheit der Kanoniker ist nur gefordert bei der Wahl des Domdekans sowie bei der Erstellung oder Abänderung der Statuten und der Geschäftsordnung.46 Beschlüsse werden grundsätzlich mit absoluter Mehrheit der anwesenden Mitglieder gefasst. Wenn Materien tangiert sind, die alle als einzelne betreffen, ist jedoch die Zustimmung aller verlangt (vgl. c. 119 n. 3 CIC). Nach ausdrücklicher Weisung der Statuten können Mitarbeiter zu Sitzungen beigezogen werden, wenn Fragen der Gottesdienstgestaltung auf der Tagesordnung stehen. Sie besitzen jedoch kein Stimmrecht. Da ein ausdrückliches Verbot in den Statuten fehlt, ist davon auszugehen, dass es zulässig ist, auch bei anderen Besprechungsmaterien nicht dem Kapitel angehörende Personen hinzuzuziehen. 8. Emeritierung Laut Statuten soll jedes Mitglied des Domkapitels bei Vollendung des 75. Lebensjahres den Verzicht auf das Kanonikat dem Bischof anbieten.47 Eine Sonderregelung gilt nur für Kanoniker, die Weihbischöfe sind. Die Statuten nehmen sie ausdrücklich von der Verpflichtung zum Anbieten des Rücktritts aus, schweigen jedoch dazu, wie bei ihnen die Emeritierung geschieht (§ 24). Mit der Annahme des Verzichts ist der Kanoniker eo ipso von den Pflichten als Kanoniker und von seinen Ämtern im Kapitel entbunden. Er verliert Sitz und Stimme in der Kapitelsitzung, sofern nicht der Bischof eine andere Regelung trifft. Emeritierte Kanoniker behalten das Recht auf freie Wohnung, auf Teilnahme an den Gottesdiensten des Kapitels im Dom und auf den Gebrauch der Kanonikerkleidung. Im Chor nehmen sie den Platz nach den im Amt befindlichen Kanonikern ein (§ 25). 9. Vermietung von Wohnungen Im Besitz von Domkapitel und Domkirche stehende Wohnungen können nur vermietet werden, wenn sie nicht von aktiven Kanonikern oder Kanonikern im Ruhe46 47

Vgl. Geschäftsordnung: IV. Wahl des Domdekans (Anm. 25), S. 2. Vgl. Statuten: 7. Kapitel: Emeritierung (Anm. 24), S. 122.

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stand benützt werden.48 Bei Vermietungen sind die zivilrechtlichen und die kanonischen Vorschriften genau zu beachten. Die Statuten verweisen in diesem Zusammenhang eigens auf einschlägige Bestimmungen der Italienischen Bischofskonferenz und der Diözese Bozen-Brixen (§ 26). Ein wirklicher Grund dafür, warum die Statuten einen eigenen Punkt der Vermietung der Wohnungen widmen, ist m. E. nicht ersichtlich. Bei einer allfälligen Novellierung der Statuten wäre daher zu überlegen, diese Vorschriften zu einem anderen Statutenpunkt hinzuzunehmen und sie dabei auch rechtssystematisch besser zu platzieren. 10. Geschäftsordnung, Inkrafttreten der Statuten Das Domkapitel ist verpflichtet, eine Geschäftsordnung zu den Statuten zu erlassen (§ 27).49 Die Statuten erlangen Rechtskraft mit dem Zeitpunkt der Bestätigung durch den Bischof (§ 28).50 Angefügt an den normativ-dispositiven Teil der Statuten sind die Liste mit den Namen der sieben Kanoniker des Brixner Domkapitels, die die Statuten am 8. August 2002 beschlossen haben, und die Abschrift des Dokuments mit der oberhirtlichen Bestätigung, die Diözesanbischof Wilhelm Egger am 11. Oktober 2002 erteilt hat. III. Schlussüberlegungen Der gesamtkirchliche Gesetzgeber ordnet in c. 503 CIC an, dass die Kathedralkapitel für die feierlicheren Gottesdienste in der Bischofskirche verantwortlich sind und darüber hinaus Aufgaben wahrzunehmen haben, die ihnen von Rechts wegen zukommen oder vom Diözesanbischof übertragen werden. Damit wird der Aufgabenkreis, der nach der kirchlichen Rechtsordnung verpflichtend wahrzunehmen ist, klar umschrieben, jedoch nicht gesagt, dass sich die Kapitel auf die einschlägigen Vorgaben beschränken müssten und eine darüber hinaus gehende Wirksamkeit nicht gewünscht oder gar untersagt wäre. Vielmehr stehen auch die Domkapitel so wie alle anderen Einrichtungen der Kirche unter dem Anspruch, ihr Aufgaben- und Organisationsprofil so zu gestalten, dass sie in bestmöglicher Weise an der Erfüllung des Sendungsauftrags der Kirche unter den jeweiligen Bedingungen und Verhältnissen mitwirken können. Wenn Kompetenzbereiche wegfallen oder entzogen werden, die von wesentlicher Bedeutung für das Domkapitel und seine Tätigkeit gewesen sind, ist es unumgänglich, dass sich das Kapitel neuen Aufgabenfeldern zuwendet, will es nicht an Bedeutung verlieren oder als Einrichtung letztlich überflüssig werden.

48 49 50

Vgl. Statuten: 8. Kapitel: Vermietung von Wohnungen (Anm. 24), S. 122. Vgl. Statuten: 9. Kapitel: Geschäftsordnung (Anm. 24), S. 123. Vgl. Statuten: 10. Kapitel: Schlussbestimmungen (Anm. 24), S. 123.

Das Domkapitel von Brixen

495

Infolge der Rechtsreform nach dem II. Vatikanischen Konzil und der Änderungen im italienischen Staatskirchenrecht sind Agenden, die das Kathedralkapitel von Brixen viele Jahrhunderte hindurch zu erfüllen hatte, verloren gegangen. Vor allem nimmt es nicht mehr Stellung und Funktion des bischöflichen Senates ein. Das Domkapitel nützt die neue Situation dazu, Liturgie und Seelsorge an der Bischofskirche und die Sorge um Erhaltung und Ausstattung dieses Gotteshauses als die primären Aufgabenfelder des Kapitels und der Kanoniker in den Vordergrund zu stellen. Damit knüpft man in gewisser Weise an die Tradition vor der Säkularisation zu Beginn des 19. Jahrhunderts an, als die Feier der Gottesdienste und das gemeinsame Chorgebet die erste Aufgabe von Kapitel und Kanonikern waren. Die erneuerten Statuten nennen die pastoralen und liturgischen Aufgaben bereits bei den Bestimmungen zur Verfassung des Kapitels und widmen den Weisungen zu den Diensten in der Domkirche ein eigenes Kapitel, das vor den Normierungen zu den sonstigen Aufgaben des Domkapitels eingereiht wird. Diese Normanordnung ist keineswegs nebensächlich, sondern unterstreicht den Vorrang, der dem gottesdienstlichen und pastoralen Aufgabenkreis nunmehr zukommt. Man könnte die Frage stellen, ob die neue Schwerpunktsetzung nicht einen noch deutlicheren Niederschlag in den rechtlichen Strukturen finden könnte bzw. müsste. Beispielsweise könnten Erfahrung und Bewährung in der Seelsorge und Verkündigung als weitere Eignungskriterien für angehende Brixner Domkanoniker in den Statuten ausdrücklich genannt werden. Sinnvoll schiene es, das Amt des Dompredigers einzuführen, dessen Aufgabe es wäre, den Dienst der Predigt in der Bischofskirche in einer für die ganze Diözese exemplarischen Weise zu leisten und bei Wunsch und Bedarf homiletische Schulung und Unterricht anzubieten. Dies wäre eine zeitgemäße Weiterentwicklung des nach dem Trienter Konzil (1545 – 1563) bei zahlreichen Kapiteln eingerichteten, heute aber nur mehr vereinzelt anzutreffenden Amtes des Domtheologen. Diese Bemerkungen wollen keine Kritik sein, sondern unterstreichen, dass der gewählte Arbeitsschwerpunkt im Bereich von Liturgie und Seelsorge den Anforderungen der Zeit entspricht und auf organisatorischer und normativer Ebene noch deutlicher profiliert werden könnte. Das Domkapitel in Brixen zeigt jedenfalls exemplarisch, dass der Wegfall angestammter Kompetenzen keineswegs zwangsläufig zum Bedeutungsverlust des Kapitels führt, sondern vielmehr als Herausforderung zu begreifen ist, neue zeitgemäße Sendungs- und Arbeitsfelder zu suchen und zu betreten.

Pastorale Neuordnungen und mittlere Ebene Kanonistische Schlaglichter Von Rüdiger Althaus Seit Ende der 1990er Jahre nahmen viele deutsche Diözesen tiefgreifende pastorale Umstrukturierungen auf pfarrlicher Ebene vor. Die Beweggründe hierfür sind vielfältig, liegen in der abnehmenden Zahl von Priestern, in tiefgreifenden demographischen Entwicklungen und (damit zusammenhängend) nachlassender Finanzkraft. Die im Detail divergierenden strukturellen Maßnahmen lassen sich auf zwei Grundmodelle zurückführen: Entweder werden mehrere Pfarreien unter Beibehaltung ihrer rechtlichen Selbständigkeit zu Gemeinschaften von Pfarreien zusammengefasst, in denen einem „Team“ (unter Leitung eines Pfarrers) die Seelsorge obliegt, oder es werden bisherige Pfarreien zu einer neuen „Groß-Pfarrei“ vereinigt.1 Diese Veränderungen stellen Anfragen an die mittlere Ebene (Dekanate und gegebenenfalls Regionen), an deren territoriale, personale und funktionale Ausgestaltung, was in der Literatur bislang – auch aus pastoraltheologischer Perspektive – kaum einen Niederschlag gefunden hat.2 Insofern der Jubilar vor über 20 Jahren im Münsterischen Kommentar zum Codex Iuris Canonici die die Dechanten betreffenden Canones 553 bis 555 erläutert hat3, sei dies Anlass, ausgewählte Aspekte der Entwicklung auf dieser Ebene in den deutschen Diözesen aus rechtlicher Perspektive zu skizzieren.4 1 Eine Übersicht bieten: Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Hrsg.), Mehr als Strukturen … Entwicklungen und Perspektiven der pastoralen Neuordnung in den Diözesen. Dokumentation des Studientages der Frühjahrs-Vollversammlung der Deutschen Bischofskonferenz (Arbeitshilfen 213), Bonn 2007, und (mit Angabe der Hintergründe und Motivation) dass., Mehr als Strukturen … Neuorientierung der Pastoral in den (Erz-)Diözesen. Ein Überblick (Arbeitshilfen 216), Bonn 2007. 2 Vgl. jedoch: Rüdiger Althaus, Anmerkungen zur Bedeutung des Dekanates im Zuge pfarrlicher Neustrukturierungen, in: Reinhild Ahlers/Beatrix Laukemper-Isermann/Rosel Oehmen-Vieregge (Hrsg.), Die Kirche von morgen. Kirchlicher Strukturwandel aus kanonistischer Perspektive (FS Klaus Lüdicke), Münster 2003, S. 69 – 87. 3 Klaus Lüdicke (Hrsg.), Münsterischer Kommentar zum Codex Iuris Canonici (Loseblattsammlung), Essen seit 1984, Ergänzungslieferung November 1989. Nachfolgend wird der in der offiziösen deutschen Übersetzung gebräuchliche Begriff Dechant verwendet, nicht die in süd- und mitteldeutschen sowie österreichischen Diözesen übliche Bezeichnung Dekan. 4 Eine das deutsche Partikularrecht auswertende Bestandsaufnahme nahm der Verf. dieses Beitrages im Jahre 1995 vor: Rüdiger Althaus, Amt und Aufgaben des Dechanten im katholischen Kirchenrecht (Beihefte zum MK CIC 17), Essen 1996.

498

Rüdiger Althaus

I. Organisatorische Maßnahmen 1. Die Neuumschreibung von Dekanaten Der kirchliche Gesetzgeber verpflichtet den Diözesanbischof, seine Diözese in Teile oder Pfarreien aufzuteilen (c. 374 § 1 CIC). Darüber hinaus weist er auf die Möglichkeit hin, benachbarte Pfarreien zur Förderung der Seelsorge durch gemeinsames Handeln zu besonderen Zusammenschlüssen vereinigen zu können, wie es die Dekanate sind (c. 374 § 2 CIC). Damit unterbleibt zwar eine zwingende Vorschrift wie zuvor in c. 217 § 1 CIC/19175, doch favorisiert der Gesetzgeber – wie der Wortlaut erkennen lässt – die Einrichtung von Dekanaten. Zudem setzt er solche in cc. 553 bis 555 CIC voraus, ja sieht eigens eine Beteiligung der Dechanten als Vorsteher dieser Einheiten bei der Besetzung von Pfarr- und Kaplanstellen vor.6 Welche Bezeichnung diese Zusammenschlüsse tragen, bleibt indes dem Partikularrecht überlassen; eine entsprechende Vielfalt lässt bereits c. 553 § 1 CIC in bezug auf die Amtsbezeichnung Dechant erkennen.7 Zudem eröffnet c. 374 § 2 CIC die Möglichkeit weiterer Untergliederungen neben den Dekanaten, wie es die Pfarrverbände waren bzw. die Pfarreien-Gemeinschaften sind oder – zwischen Dekanat und Diözese – Regionen (auch Bezirke, Stadt- bzw. Kreisdekanate genannt). Das Direktorium für den Hirtendienst der Bischöfe vom 22. Februar 2004 benennt einige Aspekte für die Zirkumskription der Dekanate, damit diese ihre seelsorgliche Zweckbestimmung verwirklichen können: „die Homogenität und die Gewohnheiten der Bevölkerung, die gemeinsamen Charakteristika des geographischen Bereichs (z. B. ein städtisches Viertel, ein Bergbaugebiet, ein Regierungsbezirk), die geographische und geschichtliche Nähe der Pfarreien, die Möglichkeit zu regelmäßigen Treffen der Kleriker und andere, ohne dass dabei die örtlichen Gebräuche ausgeschlossen werden.“8 Der Diözesanbischof bleibt in seiner Entscheidung frei, hat aber die von ihm festgelegte Zirkumskription im Statut der Dekanate zu verankern, hinsichtlich dessen dem Priesterrat ein Anhörungsrecht zukommt.9 5 War eine solche Dekanatseinteilung aufgrund der Umstände unmöglich oder unzweckmäßig, musste der Bischof den Hl. Stuhl angehen, sofern dieser nicht zuvor tätig geworden war (c. 217 § 2 CIC/1917). 6 Vgl. cc. 524 CIC, 547 CIC. Das Direktorium für den Hirtendienst der Bischöfe vom 22. Februar 2004 (Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz [Hrsg.], VApSt 173, Bonn 2006) legt den Bischöfen nahe, sich bezüglich der Ernennung der Pfarrer mit dem Dechanten zu beraten (Nr. 217). – Daher darf die Aussage „In einer Ortskirche können mehrere benachbarte Pfarreien zu Dekanaten vereinigt werden“ (Magdeburg Dekanatsstatut vom 1. Dezember 2008, in: Amtsblatt des Bistums Magdeburg 2008, S. 80 – 84, verlängert am 13. Dezember 2010, in: ebd. 2011, 1, § 1) nicht rein optional missverstanden werden. 7 Das Direktorium für den Hirtendienst der Bischöfe (Anm. 6) weist neben der wortgetreuen Übersetzung „Außenvikariat“ auf andere, übliche Bezeichnungen hin: Dekanate, Archipresbyterate, Seelsorgezonen oder Präfekturen (Nr. 217). 8 Direktorium für den Hirtendienst der Bischöfe (Anm. 6) Nr. 217. 9 Das Direktorium für den Hirtendienst der Bischöfe (Anm. 6) geht davon aus, dass es sich um ein Statut im eigentlichen Sinne handelt, das der Bischof approbiert (Nr. 217). Ein An-

Pastorale Neuordnungen und mittlere Ebene

499

Die bisherige Dekanatseinteilung vieler deutscher Diözesen stammte aus der Zeit der Umsetzung der Beschlüsse der Gemeinsamen Synode der Bistümer in der Bundesrepublik Deutschland (1971 – 1975), die auch über die mittlere Ebene gehandelt und neben einer Dekanats- auch eine mögliche Regionaleinteilung thematisiert hat, wobei Regionen als seelsorgliche Strukturform mehrere benachbarte, kulturell und soziologisch ähnlich geprägte Dekanate umfassen sollen.10 Ewa die Hälfte der ehemals bundesdeutschen Diözesen schufen nachfolgend solche zusätzlichen Strukturen, deren Aufgaben aber stark divergierten. In den letzten Jahren haben rund zwei Drittel der 27 deutschen Diözesen eine tiefgreifende Änderung der Dekanatseinteilung vorgenommen.11 Formal fällt auf, dass eine Reihe der entsprechenden Gesetze oder Dekrete einleitend ausdrücklich – obwohl nicht zwingend erforderlich – auf erfolgte Anhörungen hinweist.12 Beweggründe für die Maßnahmen werden nur zum Teil (jeweils zu Beginn) mitgeteilt. Ausführlich heißt es beispielsweise: „Die veränderten Rahmenbedingungen in Kirche und Gesellschaft und die damit verbundenen pastoralen Herausforderungen der kommenden Jahre erfordern eine Straffung des Organisationsgefüges im Erzbistum Paderborn. Hierzu gehört auch die Neustrukturierung der mittleren pastoralen Ebene (Regionen, Dekanate) mit dem Ziel einer Konzentration der Kräfte und Aufgabenstellungen hin auf eine schlanke und effektive Organisationsstruktur, die als zentrales Bindeglied zwischen den Pastoralverbünden und Pfarrgemeinden einerseits und der Bistumsebene anhörungsrecht des Priesterrates findet sich im CIC nicht ausdrücklich verankert, doch handelt es sich bei der Organisation der Dekanate sicher um eine Angelegenheit von größerer Bedeutung, hinsichtlich deren der Priesterrat angehört werden muss (c. 500 § 2 CIC). 10 Beschluss „Rahmenordnung für die pastoralen Strukturen und für die Leitung und Verwaltung der Bistümer in der Bundesrepublik Deutschland“ vom 26. Mai 1974, in: Offizielle Gesamtausgabe, Freiburg 1976, 1. Bd., S. 688 – 705, hier III.2 (S. 698 – 701) mit Musterstatuten für Dekanat und Region (ebd. S. 717 – 721). Auch die Pastoralsynode der Jurisdiktionsbezirke in der DDR befasste sich in ihrem Beschluss „Dienste und Ordnungen im Leben der Gemeinde“ vom 9. März 1976 (in: Konzil und Diaspora, Leipzig 1976, S. 103 – 133) mit Gliederung und Aufgaben der mittleren Ebene (Nr. 57, S. 77 – 84). Vgl. hierzu: Althaus, Dechant (Anm. 4) S. 138 – 141. 11 Keine größeren Reformen haben (zumindest bisher) die Diözesanbischöfe von Augsburg (36 Dekanate, 8 Regionen), Dresden-Meißen (9/0), Hamburg (16/0), Mainz (20/0), Münster (44 Dekanate, 8 Kreis- und Stadtdekanate, 4 „Weihbischofs“-Regionen sowie der Offizialatsbezirk Vechta), Speyer (10/0) und Würzburg (22/0) vorgenommen. 12 Ausführlich z. B. Görlitz (Dekrete: Auflösung der bisherigen Dekanate und Errichtung neuer Dekanate, in: Amtsblatt des Bistums Görlitz, 2004, S. 10 – 13): „Nach Anhörung des Domkapitels in seiner Eigenschaft als Konsultorenkollegium sowie des Priesterrates und Beratungen mit der Dekanekonferenz und dem Katholikenrat“; Passau (Statut für die Dekanate vom 10. Dezember 2009, in: Amtsblatt für das Bistum Passau 140 [2010] S. 3 – 6): Ordinariatsrat, Priesterrat, Konferenz der Dekane, Diözesanrat sowie Dekanatsräte. Eher allgemein spricht Paderborn (Gesetz zur Neuordnung der mittleren Ebene vom 27. Januar 2006, in: Kirchliches Amtsblatt für die Erzdiözese Paderborn 149 [2006], S. 17 – 19) von der „Durchführung eines breit angelegten Konsultationsprozesses unter Einbeziehung der Dekanate und Regionen und nach Anhörung der zu beteiligenden diözesanen Gremien“, fast gleichlautend Fulda (Gesetz zur Neuordnung der mittleren Ebene vom 19. März 2007, in: Kirchliches Amtsblatt für die Diözese Fulda 123 [2007], S. 29 – 31).

500

Rüdiger Althaus

dererseits fungiert.“13 Darüber hinaus mag wichtig gewesen sein, nicht „zu kurz zu greifen“, damit nicht in den nächsten Jahren weitere strukturelle Reformen erforderlich werden. Die vorgenommenen Änderungen verdeutlicht diese Übersicht14: Anzahl vorher15

Datum der Reform

Aachen

63 Dek. – 8 Reg.

01. 01. 200716 0 Dek. – 8 Reg.

Bamberg

21 Dek.

01. 09. 200017 21 Dek. – 6 Reg.

Berlin

26 Dek.

01. 01. 200118 17 Dek.

Eichstätt

15 Dek.

12. 06. 201119 8 Dek.

Erfurt

14 Dek.

01. 01. 200520 7 Dek.

Essen

29 Dek. – 11 Stadt- und Kreisdekanate

01. 08. 200821 0 Dek. (10 Stadt- und Kreisdekanate)

Freiburg

39 Dek. – 9 Reg.

01. 01. 200822 26 Dek. – 7 Reg.

Fulda

21 Dek. – 4 Reg.

01. 04. 200723 10 Dek. – 0 Reg.

Görlitz

5 Dek.

01. 09. 200424 3 Dek.

Anzahl nachher

13 Paderborn (Gesetz Neuordnung 2006, Anm. 12), wiederum Fulda (Gesetz Neuordnung 2007, Anm. 12) größtenteils wörtlich übereinstimmend. 14 Dek. – Dekanate, Reg. – Regionen. – Kleinere Änderungen der Zirkumskription bleiben unberücksichtigt. 15 Angaben vgl. Althaus, Dechant (Anm. 4), S. 315 – 423. 16 Dekret: Auflösung der Dekanatsstruktur vom 29. Dezember 2006, in: Kirchlicher Anzeiger für die Diözese Aachen 77 (2007), S. 33. 17 Statut für die Regionaldekane vom 13. Juli 2000, in: Amtsblatt für die Erzdiözese Bamberg 123 (2000), S. 216 – 218. 18 Änderung in der Dekanatseinteilung für das Stadtgebiet von Berlin, in: Amtsblatt des Erzbistums Berlin 72 (2000), S. 97 – 98; zum 1. November 2004 wurde das Dekanat Vorpommern neu errichtet (in: ebd. 76 [2004], S. 126), zum 1. Januar 2006 das Dekanat PotsdamKuckenwalde (in: ebd. 78 [2006], S. 1). 19 Neuordnung der Dekanate vom 12. Juni 2011, in: Pastoralblatt des Bistums Eichstätt 158 (2011) S. 118 – 120. 20 Dekret über die Neuordnung der Dekanate zum 1. Januar 2005, in: Amtsblatt für das Bistum Erfurt 2004, S. 61 – 62. 21 Statut für die Stadt- und Kreisdekanate vom 11. Juni 2008, in: Kirchliches Amtsblatt für das Bistum Essen 51 (2008), S. 99 – 102. Eine förmliche Aufhebung der Dekanate erfolgte bislang nicht, doch gibt es ausweislich des Personalverzeichnisses keine Dechanten und Dekanate mehr. 22 Statut für die Dekanate vom 1. Dezember 2005, in: Amtsblatt der Erzdiözese Freiburg 2005, S. 239 – 250; geändert am 10. Dezember 2007, in: ebd. 2007, S. 185 – 186, 194 (Anlage). 23 Siehe Anm. 12. 24 Siehe Anm. 12.

Pastorale Neuordnungen und mittlere Ebene Hildesheim

33 Dek. – 7 Reg.

01. 05. 200725 18 Dek. – 0 Reg.

Köln

67 Dek. – 16 Stadt- und Kreisdekanate

-26

Limburg

31 Dek. – 11 Bezirke

01. 01. 200527 14 Dek. – 11 Bezirke

Magdeburg

13 Dek.

01. 01. 200928 8 Dek.

München und Freising

47 Dek. – 3 Reg.

01. 02. 200729 40 Dek. – 3 Reg.

Osnabrück

16 Dek.

02. 01. 200730 10 Dek.

Paderborn

40 Dek. – 7 Reg.

01. 07. 200631 19 Dek. – 0 Reg.

Passau

16 Dek. + Stadtkommissariat Altötting

01. 01. 201032 10 Dek.

Regensburg

45 Dek. – 8 Reg.

01. 01. 200133 33 Dek. – 8 Reg.

RottenburgStuttgart

44 Dek. – 10 Reg.

01. 01. 200634 25 Dek. – 0 Reg.

Trier

82 Dek. – 10 Reg.

01. 04. 200435 35 Dek. – 0 Reg.

501

56 Dek. – 16 Stadt- und Kreisdekanate

Deutlich lässt sich die angezielte und mitunter auch ausdrücklich angesprochene Verschlankung der mittleren Ebene erkennen, die mancherorts sinnvoll oder gar notwendig 25

Die Umstrukturierung erfolgte in mehreren Schritten; besonders genannt sei: Urkunde über die Auflösung der Dekanate Hannover-Mitte/Süd … sowie über die Errichtung des Dekanates Hannover vom 23. April 2007, in: Kirchlicher Anzeiger für das Bistum Hildesheim 2007, S. 101 – 102. Als Regionen förmlich errichtet waren nur Braunschweig und Hannover. Beim Regionaldekanat Hannover handelt es sich um ein Dekanat, für das in Anbetracht seiner Größe ergänzende Vorschriften erforderlich waren (vgl. Präambel der Ordnung für das Regionaldekanat Hannover vom 14. März 2011, in: Kirchlicher Anzeiger für das Bistum Hildesheim 2011, S. 152 – 156). 26 Die Umstrukturierung erfolgte in mehreren Schritten. 27 Verordnung zur Neustrukturierung der Dekanate vom 28. Februar 2005, in: Amtsblatt des Bistums Limburg 2005, S. 18. Dekanate gibt es nur noch in den Bezirken Frankfurt, Limburg und Westerwald (vgl. auch Bistum Limburg, Schematismus 2009); ansonsten nehmen die Bezirksdekane die Aufgaben des Dekans wahr. 28 Neuordnung der Dekanate zum 1. Januar 2009, in: Amtsblatt des Bistums Magdeburg 2008, S. 70 – 71, berichtigt am 1. Dezember 2008, in: ebd. 2008, S. 84. 29 Die Umstrukturierung erfolgte in mehreren Schritten. 30 Dekret: Neuerrichtung der Dekanate vom 12. Oktober 2006, in: Kirchliches Amtsblatt für die Diözese Osnabrück 122 (2006), S. 104. 31 Siehe Anm. 12. 32 Siehe Anm. 12. 33 Dekret: Neugliederung der Dekanate vom 15. November 2000, in: Amtsblatt für die Diözese Regensburg 2000, S. 111 – 117. 34 Vgl. Grundsätze und Maßnahmen zur Stärkung und Neustrukturierung der Dekanate vom 20. Juli 2005, in: Kirchliches Amtsblatt für die Diözese Rottenburg-Stuttgart 50 (2005), S. 213 – 216. 35 Neuordnung der Dekanate vom 15. März 2004 mit entsprechenden Verlautbarungen und Dekreten, in: Kirchliches Amtsblatt für das Bistum Trier 148 (2004), S. 110 – 151.

502

Rüdiger Althaus

war. So haben manche Diözesen die Anzahl der Dekanate erheblich (mitunter um 50 %) reduziert, andere verzichten auf die Doppelstruktur Dekanat – Region. In den Diözesen Aachen und Essen entfällt die Dekanatseinteilung gänzlich; während in Aachen die Regionen als Seelsorgeräume im Sinne der Dekanate erhalten bleiben, kommt in Essen dem Stadt- bzw. Kreisdechanten lediglich die Vertretung ihres Gebietes gegenüber Kommune bzw. Kreis und Öffentlichkeit zu36; dabei stellt sich die Frage, wer nun die originären Zuständigkeiten des Dechanten (vgl. c. 555 CIC) wahrnimmt. Das Bistum Limburg behält nur noch in drei Bezirken Dekanate bei, doch kam diesen ohnehin eher die Aufgaben eines Pfarrverbandes zu37, während die Bezirke als mittlere Ebene und die Bezirksdekane quasi als Dechanten fungierten. Die Bistümer Fulda, Hildesheim, Paderborn, RottenburgStuttgart und Trier verzichten künftig auf die Regionen – in Trier mit einer Stärkung der Dekanate verbunden38 – und damit auch auf eine seelsorgliche Koordinationsinstanz; diese Maßnahme geht zum Teil mit nicht unerheblichen territorialen Vergrößerungen der Dekanate einher. Von dieser Tendenz weicht nur das Erzbistum Bamberg mit der Neuerrichtung von Regionen ab, denen aber keine administrative Funktion zufällt.39 Bei erheblichen Vergrößerungen der Dekanate bleibt zu bedenken, dass diese der Förderung der Pastoral dienen und der Dechant für Seelsorge und Seelsorger Verantwortung trägt (vgl. c. 555 CIC). Dabei kann wohl kaum eine konkrete numerische Bezugsgröße genannt werden; obgleich die ursprüngliche Bedeutung des Wortes decanus nahelegt, dass er Sprecher bzw. Vorsteher von etwa zehn Pfarrern (in zehn Pfarreien) war, ermöglichen heute allein schon die verkehrs- und kommunikationstechnischen Möglichkeiten größere Einheiten. Gleichwohl sollte bedacht werden: (1) Ein einheitliches pastorales Vorgehen im Dekanat setzt eine ähnliche Ausprägung der soziologischen Gegebenheiten voraus. (2) Der Dechant muss die spezifischen Verhältnisse in den einzelnen Pfarreien seines Dekanates kennen (können). (3) Die Aufgabe des Dechanten als „Seelsorger der Seelsorger“ setzt die Möglichkeit eines persönlichen und vertrauensvollen Kontaktes des Dechanten zu den einzelnen Mitarbeitern in der Seelsorge voraus, gerade auch zu den neu Hinzukommenden sowie zu den älteren Priestern. (4) Die Mitarbeiter in der Pastoral müssen einander kennen und sich austauschen können, vor allem, aber nicht nur auf der

36

Vgl. Statut Stadt- und Kreisdekanate 2008 (Anm. 20) Nr. 1. Dem Stadt- bzw. Kreisdechanten zugeordnet sind ein Jugendseelsorger und ggf. weitere Beauftragte (Nr. 2.3); der Katholikenrat ist Koordinationsgremium für das Laienapostolat (Nr. 3.1), die Stadt- bzw. Kreiskonferenz als Gremium von Mitarbeitern in der Seelsorge und Verbänden usw. „sorgt in besonderer Weise für die funktionale und pastorale Zusammenarbeit von Bistum, Pfarreien, Verbänden und kirchlichen Einrichtungen und Werken“ (Nr. 4.1). 37 Vgl. Althaus, Dechant (Anm. 4), S. 368. 38 In Trier kam – ähnlich wie in Limburg – dem Dekanat die Funktion eines Pfarrverbandes zu, während die Region die eigentliche Organisationseinheit der mittleren Ebene war (vgl. Althaus, Dechant [Anm. 4], S. 416). 39 Die Regionaldekane haben vielmehr die Aufgabe, die Anliegen der Region bei den Beratungen in der Bistumsleitung unmittelbar zur Sprache zu bringen und den Erzbischof in der Region zu vertreten (vgl. Statut für die Regionaldekane vom 5. Juni 2008, in: Amtsblatt für die Erzdiözese Bamberg 131 [2008], S. 220 – 222, Nr. 1).

Pastorale Neuordnungen und mittlere Ebene

503

Dekanatskonferenz. Die so erforderlichen persönlichen Kontakte legen in (aus administrativen Gründen) großen Dekanaten eine Substruktur nahe.40 2. Neufassung der Ordnungen für die mittlere Ebene Vor allem mit der Neuordnung der mittleren Ebene haben viele Diözesen eine Novellierung der rechtlichen Bestimmungen für Dekanat, Region und deren Leiter vorgenommen41: Ordnungen Dekanate

Ordnungen Regionen

alt42

neu

alt41

neu

Aachen

01. 08. 1973

-

27. 12. 2004

08. 12. 200643

Augsburg

01. 01. 1985

01. 05. 200144

17. 01. 1989

17. 05. 200445

25. 03. 1997

05. 06. 2008

46

13. 07. 2000

05. 06. 200847

48

Bamberg Berlin

23. 04. 1990

26. 09. 2003

Dresden-Meißen

04. 02. 1977

14. 04. 200549

Eichstätt

25. 04. 1986

12. 06. 201150

Erfurt

24. 04. 1997

01. 10. 200451

40

Siehe unten Abschnitt 4. Das Bistum Görlitz bleibt nachfolgend unberücksichtigt, weil – unbeschadet der Dienstanweisung für die Erzpriester vom 1. März 1926 (in: Diözesansynode des Bistums Breslau 1925, S. 74 – 76) – eine Dechantenordnung lediglich auf gewohnheitsrechtlicher Basis besteht (frdl. Mitteilung des Ordinariates Görlitz vom 4. März 2011). – Weitere Zuständigkeiten etc., die nicht in den genannten Dekanats- bzw. Dechantenordnungen geregelt werden, finden hier und in den nachfolgenden Auswertungen keine Beachtung. 42 Etwaige spätere Modifikationen, die die Materie nicht wesentlich veränderten, werden nicht eigens aufgeführt. 43 Statut für die Regionen (Regionalstatut) vom 8. Dezember 2006, in: Kirchlicher Anzeiger für die Diözese Aachen 77 (2007), S. 30 – 32; Bestellung der Regionaldekane vom 15. November 2009, in: ebd. 80 (2010), S. 7 – 8. 44 Statut für die Dekane und stellvertretenden Dekane (Prodekane) vom 10. April 2001, in: Amtsblatt für die Diözese Augsburg 111 (2001), S. 185 – 196. 45 Regionalstatut vom 17. Mai 2004, in: Amtsblatt für die Diözese Augsburg 114 (2004), S. 342 – 349. 46 Statut für die Dekane vom 5. Juni 2008, in: Amtsblatt für die Erzdiözese Bamberg 131 (2008), S. 223 – 230. 47 Siehe Anm. 39. 48 Statut für Dienste und Ämter in den Dekanaten vom 26. September 2003, in: Amtsblatt des Erzbischöflichen Ordinariates Berlin 75 (2003), S. 131 – 134. 49 Amt und Aufgaben des Dekans vom 14. April 2005, in: Kirchliches Amtsblatt für das Bistum Dresden-Meißen 15 (2005), S. 53 – 57. 50 Dekanatsstatut vom 12. Juni 2011, in: Pastoralblatt des Bistums Eichstätt 158 (2011), S. 121 – 126. 51 Dechantenstatut vom 1. Oktober 2004, in: Amtsblatt für das Bistum Erfurt 2004, S. 64 – 65. 41

504

Rüdiger Althaus Ordnungen Dekanate

Ordnungen Regionen

alt42

neu

alt41

neu

31. 08. 2004 08. 01. 1980

01. 12. 200553

03. 03. 1983

11. 06. 200852 15. 07. 199854

Fulda

20. 12. 1984

19. 03. 2007

55

20. 12. 1984

-

Hamburg

04. 12. 1995

20. 02. 1998 04. 12. 199856

Hildesheim

27. 01. 2007 30. 05. 1998

10. 02. 2011 15. 02. 200857

(23. 04. 2007)

(14. 03. 2011)58

Köln

29. 11. 1989

30. 06. 199859

29. 11. 1989

30. 06. 199859

Limburg

01. 02. 1989

28. 02. 2005

60

15. 05. 2002

26. 10. 200461

Magdeburg

12. 12. 1974

01. 12. 200862

Mainz

24. 10. 1991

10. 11. 199963

München und Freising

01. 01. 1995

27. 11. 200264

07. 07. 1966

17. 02. 200465

Essen Freiburg

52

Siehe Anm. 21. Siehe Anm. 22. 54 Statut für die Regionen vom 15. Juli 1998, in: Amtsblatt der Erzdiözese Freiburg 1998, S. 397 – 400. 55 Statut für die Dekanate (Dekanatsstatut) vom 19. März 2007, in: Kirchliches Amtsblatt für die Diözese Fulda 123 (2007), S. 32 – 34. 56 Dekanatsstatut vom 20. Februar 1998, in: Kirchliches Amtsblatt für die Erzdiözese Hamburg 4 (1998), S. 104 – 105; Dechantenstatut vom 4. Dezember 1998, in: ebd. 5 (1999), S. 10 – 11; zudem: Ordnung der Wahl des Dechanten und der Mitglieder des Priesterrates in den Dekanaten vom 16. Februar 1996, in: ebd. 2 (1996), S. 80 – 81. 57 Ordnung für die Dekanate vom 10. Februar 2011, in: Kirchlicher Anzeiger für das Bistum Hildesheim 2011, S. 149 – 152; Dechantenstatut vom 15. Februar 2008, in: ebd. 2008, S. 60 – 62; zudem: Ordnung für die Wahl der Dechanten vom 6. Mai 2006, in: ebd. 2006, S. 110 – 112, geändert am 15. Februar 2008, in: ebd. 2008, S. 62. 58 Betrifft nur Hannover: Die geltende Ordnung (siehe Anm. 25) löste die Satzung für das Dekanat Hannover vom 23. April 2007 (in: ebd. 2007, S. 103 – 105) ab. 59 Ordnung für die Dekanate und die Stadt- und Kreisdekanate vom 30. Juni 1998, in: Amtsblatt des Erzbistums Köln 138 (1998), S. 137 – 143, ergänzt am 18. Januar 2006, in: ebd. 146 (2006), S. 34. 60 Statut für Dekane vom 28. Februar 2005, in: Amtsblatt des Bistums Limburg 2005, S. 17 – 18, verlängert am 11. November 2009, in: ebd. 2009, S. 259. 61 Statut für die Bezirksdekane und die Bezirksreferenten/innen vom 26. Oktober 2004, in: Amtsblatt des Bistums Limburg 2004, S. 351 – 354, korrigiert in: ebd. 2005, 18, verlängert am 11. November 2009, in: ebd. 2009, S. 259. 62 Siehe Anm. 6. 63 Dekanatsstatut vom 10. November 1999, in: Bischöfliches Ordinariat Mainz, Statuten der Pastoralen Räte und Gremien, Mainz 2000, S. 95 – 113. 64 Statut für die Dekanate und Dekane vom 27. November 2002, in: Amtsblatt für das Erzbistum München und Freising 2002, S. 362 – 366. 65 Die Regionen wurden nicht förmlich errichtet. Hier zu den Dekanen der Landkreise: Statut für die Landkreisdekane vom 17. Februar 2004, in: Amtsblatt für das Erzbistum München und Freising 2004, S. 98 – 100. 53

Pastorale Neuordnungen und mittlere Ebene Ordnungen Dekanate alt42

505

Ordnungen Regionen alt41

neu

66

22. 02. 200267

neu

Münster Osnabrück

14. 04. 1981 01. 03. 2000

05. 05. 2003 06. 11. 2008 16. 11. 200968

01. 01. 1978

Paderborn

01. 03. 1968

27. 01. 200669

31. 05. 1978

Passau

16. 08. 1985

01. 01. 2010

70

Regensburg

08. 05. 2001

15. 11. 200571

01. 01. 1991

15. 08. 200172

Rottenburg-Stuttgart

26. 07. 1995

08. 12. 2006

73

27. 04. 2004

-

Speyer

15. 08. 1995 16. 10. 1980

02. 02. 2002 15. 08. 199574

Trier

15. 12. 1999

15. 03. 200475

10. 06. 1992

-

Würzburg

01. 02. 1995

07. 05. 199976

66 Dechantenstatut vom 5. Mai 2003, in: Kirchliches Amtsblatt für die Diözese Münster 137 (2003), S. 104 – 107. 67 Statut für die Kreisdekanate im nordrhein-westfälischen Teil vom 22. Februar 2002, in: Kirchliches Amtsblatt für die Diözese Münster 136 (2002), S. 66 – 68. 68 Dekanatsordnung vom 6. November 2008, in: Kirchliches Amtsblatt für die Diözese Osnabrück 125 (2009), S. 299 – 304; Dechantenstatut vom 16. November 2009, in: ebd. 125 (2009), S. 304 – 306; zudem: Ordnung für die Wahl der Dechanten … vom 16. November 2009, in: ebd. 125 (2009), S. 308 – 310; Statut für Dekanatsreferenten vom 16. November 2009, in: ebd. 125 (2009), S. 310 – 311. 69 Statut für die Dekanate (Dekanatsstatut) vom 27. Januar 2006, in: Kirchliches Amtsblatt für die Erzdiözese Paderborn 149 (2006), S. 19 – 23, geändert am 23. Oktober 2008, in: ebd. 151 (2008), S. 165. 70 Statut für die Dekane vom 1. Januar 2010, in: Amtsblatt für das Bistum Passau 140 (2010), S. 1 – 3. 71 Ordnung für die Dekanate vom 15. November 2005, in: Amtsblatt für die Diözese Regensburg 2005, S. 143 – 150. 72 Statut für die Regionaldekane vom 15. August 2001, in: Amtsblatt für die Diözese Regensburg 2001, S. 151 – 152. 73 Ordnung für die Dekanate (Dekanatsordnung – DekO) vom 8. Dezember 2006, in: Kirchliches Amtsblatt für die Diözese Rottenburg-Stuttgart Bd. 50, 2006, S. 294 – 305. 74 Ordnung für die Dekanate vom 2. Februar 2002, in: Oberhirtliches Verordnungsblatt für das Bistum Speyer 95 (2002), S. 92 – 97, geändert am 6. Dezember 2005, in: ebd. 2005, S. 552 – 553; Ordnung für die Dekane und deren Mitarbeiter vom 15. August 1995, in: ebd. 88 (1995), S. 504 – 508, geändert am 6. Dezember 2005, in: ebd. 2005, S. 553; zudem: Ordnung für die Wahl der Dekane und Prodekane vom 6. Dezember 2005, in: ebd. 98 (2005), S. 553 – 557. 75 Ordnung für die Dekanate vom 15. März 2004, in: Kirchliches Amtsblatt für das Bistum Trier 148 (2004), S. 111 – 116, geändert am 23. Oktober 2009, in: ebd. 153 (2009), S. 236 – 236. 76 Dekanestatut vom 7. Mai 1999, in: Würzburger Diözesanblatt 145 (1999), S. 185 – 189.

506

Rüdiger Althaus

II. Bestellung und Amtszeit des Dechanten C. 553 § 2 CIC enthält heute hinsichtlich der Bestellung des Dechanten dispositives Recht77 und damit eine flexiblere Regelung als sein Vorgänger, der in c. 446 § 1 CIC/1917 bestimmte: „episcopus eligat“. Dies trug dem historischen Befund nicht hinreichend Rechnung, insofern den Dechantem – obgleich regional unterschiedlich gewichtet – stets eine Doppelfunktion zukam: Repräsentant des Dekanatspresbyteriums (was sich in einer kanonischen Wahl niederschlug) und Vertreter des Bischofs in der Leitung des Dekanates (was in der freien Ernennung seinen Ausdruck fand).78 Vor diesem rechtsgeschichtlichen Hintergrund erklären sich die sehr unterschiedlichen Regelungen in den deutschen Diözesen, wobei man – oftmals mit Varianten im Detail – bestrebt ist, sowohl die Interessen der pastoralen Mitarbeiter in den Pfarreien als auch die des Diözesanbischofs zur Geltung zu bringen.79 Gehören die Dechanten zudem noch als gewählte Mitglieder dem Priesterrat an80, muss auch dessen Wahlrecht Beachtung finden.81

77 Der Gesetzgeber formuliert „Nisi aliud iure particulari statuatur“. Somit sieht c. 554 § 1 CIC lediglich hilfsweise vor, dass der Bischof einen Priester auswählt, den er angesichts der örtlichen und zeitlichen Umstände für geeignet hält. Zuvor war ihm nahegelegt, nach klugem Ermessen die Priester anzuhören, die im Dekanat einen Dienst ausüben (c. 553 § 2 CIC). Auch das Direktorium für den Hirtendienst der Bischöfe (Anm. 6) spricht eine unterschiedliche Regelungsmöglichkeit an (Nr. 218): „Sofern das teilkirchliche Recht oder die rechtmäßige Gewohnheit nichts anderes vorsehen – z. B. dass sie ein Wahlsystem oder ein gemischtes System festlegen oder dass das Amt den Inhabern einiger hervorragender Pfarreien übertragen wird – wählt der Bischof persönlich die Dekane aus, wobei er jedoch berücksichtigen soll, wem die Priester des Dekanats den Vorzug geben.“ 78 Vgl. Althaus, Dechant (Anm. 4), S. 24 – 41. Das Direktorium für den Hirtendienst der Bischöfe (Anm. 6) äußert zur Eignung des Dechanten (Nr. 218) u. a.: „Er muss sich die Wertschätzung des Klerus und der Gläubigen durch seine Klugheit und seine gesunde Lehre, seine Frömmigkeit und seinen pastoralen Eifer erworben haben; er muss das Vertrauen des Bischofs verdienen, der ihm so, wenn es nötig sein sollte, Befugnisse delegieren kann; er muss ausreichende Fähigkeiten zur Leitung und zur Arbeit im Team besitzen.“ 79 Diese doppelte Perspektive sprechen auch mehrere Dechantenstatuten an: „Als Beauftragter des Erzbischofs und vom Vertrauen der Priester, der Diakone und den hauptberuflichen pastoralen Mitarbeiterinnen und Mitarbeit des Dekanates getragen …“ (Hamburg Dechantenstatut [Anm. 56] 1998 § 2; vgl. Hildesheim Dechantenstatut 2008 (Anm. 57) § 1 Abs. 1, Osnabrück Dekanatsordnung 2008 [Anm. 68] § 4 Abs. 1, Dechantenstatut 2009 [Anm. 68] § 2 Abs. 1). 80 Dies trifft derzeit zu für die Bistümer Hamburg (Wahlordnung 1996 [Anm. 56] § 3), Hildesheim (Wahlordnung 2006 [Anm. 57] §1), Köln (Ordnung 1998 [Anm. 59] § 8) und Speyer (Satzung für den Priesterrat i. d. F. v. 6. Dezember 2005, in: Oberhirtliches Verordnungsblatt für das Bistum Speyer 98 [2005], S. 557 – 561, § 2 Abs. 2); zu Hildesheim und Speyer ist anzumerken, dass auch Diakone und Laien im pastoralen Dienst aktives Wahlrecht – für den Priesterrat – besitzen. In Osnabrück (Wahlordnung 2009 [Anm. 68] §§ 10 – 12)

Pastorale Neuordnungen und mittlere Ebene

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Vereinfachend gesagt gibt es bis heute die freie Ernennung durch den Bischof (nach Anhörung der Mitarbeiter in der Pastoral) oder eine kanonische Wahl aus einer vom Diözesanbischof vorgelegten Kandidatenliste. Analysiert man die Fortschreibungen bei den Bestellungsmodalitäten in den letzten 15 Jahren, so lassen sich gewisse Tendenzen ausmachen82 : 1. Über die Kleriker (Priester und ständige Diakone) hinaus werden auch die Laienmitarbeiter im pastoralen Dienst (Gemeinde- bzw. Pastoralreferenten/innen bzw. -assistenten/innen) in die Benennung (an den Bischof) oder Wahl des Dechanten einbezogen83, wie es in einer ganzen Reihe von Diözesen schon länger üblich war.84 Dies erfolgt die Wahl des Vertreters des Dekanates im Anschluss an die Wahl des Dechanten, wobei dessen Wahl in den Priesterrat präferiert wird, die Wahl eines anderen Priesters aber auch nicht ausgeschlossen ist. In Aachen gehören die Regionaldekane als geborene Mitglieder dem Priesterrat an (Statut Regionen 2006 II.8). Zur Thematik auch: Rüdiger Althaus, Dechantenkonferenz und Priesterrat – Anmerkungen zur Kompatibilität zweier Gremien; in: Cesare Mirabelli u. a. (Hrsg.), Winfried Schulz in memoriam, Schriften aus Kanonistik und Staatskirchenrecht (AIC 8), Frankfurt 1999, I, S. 11 – 40. 81 Vgl. c. 498 CIC. 82 Lediglich geringfügige Modifikationen bleiben nachfolgend außer Betracht. 83 Der Bestellungsmodus kann nur kurz skizziert werden: Aachen: (Regionaldekan) Regionalpastoralrat benennt dem Bischof bis zu drei Kandidaten, der den Vorschlag prüft und diesen dem Wahlgremium (Dekanatskonferenz und Vertreter der Gremien) zur kanonischen Wahl vorlegt (Bestellung Regionaldekane 2009 [Anm. 43]; Augsburg: Vorschlag der Dekanatskonferenz an den Bischof, der daraus den Klerikern im Dekanat drei Kandidaten zur Wahl benennt (Statut Dekane 2001 [Anm. 44] Art. 3 – 5); Bamberg: Kanonische Wahl durch die Dekanatskonferenz (Statut Dekane 2008 [Anm. 46] Art. 8 und 9); Berlin: Vorschlag der Dekanatskonferenz an den Erzbischof (Statut 2003 [Anm. 48] IV. 3b, 3c); Dresden-Meißen: Priesterkonferenz des Dekanates benennt dem Bischof zwei Kandidaten (Ordnung [Anm. 49] 2005 Nr. 2); Eichstätt: Bischof ernennt nach Anhörung von Priestern, Diakonen und Laienmitarbeitern frei (Dekanatsstatut 2011 [Anm. 50] § 4); Erfurt: Bischof ernennt in Würdigung des Vorschlages der Dekanatskonferenz (Statut 2004 [Anm. 51] Nr. 4); Freiburg: Wahl der Dekanatskonferenz als Designation zur Ernennung durch den Erzbischof (Statut Dekanate [Anm. 22] § 15 Abs. 1, § 16); Fulda: Wahl der Dekanatskonferenz als Vorschlag an den Bischof (Statut 2007 [Anm. 55] § 3 Abs. 2); Hamburg: Vorschlagsrecht der Laienmitarbeiter, Wahl durch Priester (Dechant gewähltes Mitglied des Priesterrates) (Dechantenstatut 1998 [Anm. 56] § 5, Wahlordnung [Anm. 56] 1996); Hildesheim: Kanonische Wahl durch Dekanatskonferenz (Wahlordnung 2006 [Anm. 57] v. a. §§ 2, 7); Köln: Dekanatskonferenz schlägt dem Erzbischof Kandidaten vor, aus denen er den Priestern mindestens zwei zur Wahl benennt (Dechant gewähltes Mitglied des Priesterrates) (Ordnung 1998 [Anm. 59 §§ 39 – 55); Magdeburg: Bischof ernennt in Würdigung des Vorschlages der Dekanatskonferenz (Statut 2008 [Anm. 6] § 4 Abs. 2); Mainz: Vorschlag von Kandidaten an den Bischof, der der Dekanatskonferenz eine Terna benennt (Statut 1999 [Anm. 63] § 4 Abs. 2); München und Freising: Kanonische Wahl durch die Dekanatskonferenz (Statut 2002 [Anm. 64] Art. 8 – 10); Münster: Ernennung aufgrund der Vorschläge der Dekanatskonferenz, der Pfarrgemeinderäte und der anderen Dechanten des Kreisdekanates (Dechantenstatut 2003 [Anm. 66] §§ 16 – 22); Osnabrück: Dekanatskonferenz schlägt dem Bischof Kandidaten vor, von denen er drei Kandidaten zur Wahl benennt (Wahlordnung 2009 [Anm. 68] § 4); Paderborn: Dekanatskonferenz schlägt dem Erzbischof Kandidaten vor, aus denen dieser drei zur Wahl benennt (Statut 2006 [Anm. 69] Art. 2 § 5); Passau: Kanonische Wahl durch Dekanatskonferenz als Vorschlag an den Bischof (Statut 2010 [Anm. 70] II.); Regensburg: Vorschlag der Dekanatskonferenz an die

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Rüdiger Althaus

trägt der Tatsache Rechnung, dass die Laienmitarbeiter in den Pfarreien einen wesentlichen Beitrag in der Pastoral leisten, für deren Förderung und Koordination der Dechant Verantwortung trägt (c. 555 § 1, 18 CIC). Eine gegenläufige Entwicklung lässt sich lediglich in Dresden-Meißen erkennen; hier schlagen nur noch die Priester (nicht mehr die Diakone) dem Bischof Kandidaten zur Ernennung vor, was den Dechanten als Vorsteher des Dekanatspresbyteriums hervorhebt.85 2. Die formale Bestimmung, ob es sich diözesanrechtlich um eine kanonische Wahl (die einer Bestätigung – confirmatio – bedarf86) oder eine freie Ernennung handelt, bleibt wegen der diffusen Terminologie ein schwieriges Unterfangen und kann oftmals nur nach eingehender Analyse der Modalitäten im Detail, gegebenenfalls gar der Verwaltungspraxis erfolgen.87 Eine Abkehr von der bisherigen Bestellungsart lässt sich in mehreren Diözesen feststellen: So kann man heute in Augsburg, Hildesheim und Speyer von einer kanonischen Wahl sprechen, während zuvor der Bischof aus einem ihm unterbreiteten Vorschlag letztlich frei auswählte.88 In Eichstätt, Magdeburg, Passau und Regensburg trat an die Stelle einer Wahl die Ernennung durch den Bischof aufgrund des Votums der Dekanatskonferenz.89 Im Blick auf die Diözese Limburg lässt sich festhalten, dass die Bestellungsordnungen zwar im wesentlichen unverändert blieben (d. h. Ernennung des Bezirksdekans durch den Bischof, Wahl der Dekane, jeweils unter Einbeziehung der pastoralen Laienmitarbeiter), doch gibt es oft nur noch Bezirksdekane.90

Pfarrerkonferenz, die dem Bischof eine Terna unterbreitet (Ordnung Dekanate 2005 [Anm. 71] Art. 3 – 4); Rottenburg-Stuttgart: Wahl durch Dekanatskonferenz aus einer vom Bischof genehmigten Kandidatenliste (Ordnung 2006 [Anm. 73] § 7 Abs. 2); Speyer: Kanonische Wahl durch die Dekanatskonferenz (Wahlordnung 2005 [Anm. 74]); Trier: Ernennung unter Berücksichtigung der Vorschläge der Dekanatskonferenz (Ordnung 2004 § 5 Abs. 1); Würzburg: Kanonische Wahl durch Dekanatskonferenz (Dekanestatut 1999 [Anm. 76] Art. 8 – 19). 84 Genannt seien: Augsburg, Freiburg, Köln, Limburg. Mainz, München und Freising, Münster, Paderborn, Passau, Rottenburg-Stuttgart, Speyer, Trier, Würzburg, auch Aachen und Essen (vgl. Althaus, Dechant [Anm. 4], S. 428 – 430 Übersicht 3). 85 Siehe Anm. 83. 86 Vgl. c. 179 CIC. Vgl. auch Althaus, Dechant (Anm. 4), S. 158 – 159. 87 Siehe auch Anm. 83. In Erfurt heißt es, der Bischof ernennt in Würdigung des Vorschlages der Dekanatskonferenz, doch deuten die Modalitäten auf eine kanonische Wahl hin (Statut 2004 [Anm. 51] Nr. 4). In Passau (Statut 2010 [Anm. 70] II.1) werden dem Bischof in einer kanonischen Wahl drei Kandidatenvorschläge unterbreitet, „aus denen der Bischof einen erwählen kann“. 88 Belege siehe Anm. 83. 89 Belege siehe Anm. 83. In Regensburg sind nun auch die Laienmitarbeiter in der Pastoral an der entfernteren Vorbereitung beteiligt, was zuvor (wegen der Verknüpfung mit dem Priesterrat) auf Priester und Diakone (!) beschränkt war; sie unterbreiten nun der Pfarrerkonferenz ihre Vorschläge. 90 Vgl. Statut Bezirksdekane 2004, § 8; Statut Dekane 2005, §§ 8 – 10.

Pastorale Neuordnungen und mittlere Ebene

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3. Das Bistum Passau löst die Bindung des Dechantenamtes in Altötting und Passau an die bedeutendste Pfarrstelle (Stiftspropstei bzw. Dompfarrei).91 Im Erzbistum Paderborn gibt es hingegen mit dem Pfarrer der Propsteigemeinde Dortmund seit 2006 einen decanus natus für das (aus vier Dekanaten) neu geschaffene Dekanat Dortmund.92 Eine solche Koppelung an eine herausragende Pfarrstelle gibt es ansonsten nur noch in Heiligenstadt (Propstei)93, Frankfurt (Dompfarrei) und Wiesbaden (St. Bonifatius).94 Hatte das Motuproprio Ecclesiae Sanctae vom 6. August 1966 auf der Aufhebung einer solchen Verbindung insistiert95, um auf diese Weise (und durch eine befristete Amtszeit des Dechanten) eine bessere Förderung der pastoralen Arbeit zu gewährleisten, stellt c. 554 § 1 CIC einfach fest, der Bischof wählt einen Priester für das Amt des Dechanten aus, das nicht mit einer bestimmten Pfarrei verbunden ist.96 Das Direktorium für den Hirtendienst der Bischöfe von 2004 schließt die Ernennung der Pfarrer bedeutender Pfarreien zu Dechanten nicht mehr grundsätzlich aus.97 Für einen solchen decanus natus spricht zweifelsohne, dass gewissen Pfarrstellen (historisch bedingt) eine Vorrangstellung zuerkannt wird. Gleichwohl bleibt zu bedenken, dass ein Pfarrer (und damit auch ein decanus natus) vom Bischof frei ernannt wird98, die Auffassung der Mitarbeiter (Kleriker und Laien) in dieser Frage, wer zur Koordination und Leitung der pastoralen Arbeit im Dekanat besonders geeignet scheint, indes keine Berücksichtigung findet. Zudem fördert eine Entkoppelung die pastorale Dimension des Dechantenamtes auch insofern, als dass ein Wechsel im Amt des Dechanten neue Impulse für dessen Arbeit geben kann. – Eine freie Ernennung des Dechanten ohne Beteiligung der Mitarbeiter im Dekanat findet 91

Das geltende Statut sieht dies nicht mehr vor. Der Pfarrer der Propsteikirche Dortmund war zuvor Stadtdechant, dem insbesondere Repräsentationsaufgaben zukamen. Hierzu heißt es im Paderborner Statut (2006 [Anm. 69] Art. 6 § 1 Abs. 1): „In Anerkennung und Achtung der in der Stadt Dortmund seit vielen Jahren geübten und bewährten Praxis des Amtes eines Stadtdechanten soll, sofern nicht zwingende Gründe entgegenstehen, jeweils der amtierende Propst der Propsteipfarrei St. Johannes Baptist Dortmund zum Dechanten ernannt werden. Die Ernennung erfolgt befristet für die Dauer von fünf Jahren, längstens bis zum Ausscheiden aus dem Amt als Propst der Propsteipfarrei.“ 93 Vgl. Erfurt Statut [Anm. 51] 2004, 4.4. 94 Hier mit dem Amt des Bezirksdekans (vgl. Limburg Statut Bezirksdekane 2004 [Anm. 61] § 8.3). 95 Vgl. Motuproprio Ecclesiae Sanctae vom 6. August 1966, in: AAS 58 (1966), S. 757 – 782. 96 Aus dem Wortlaut des c. 554 § 1 CIC könnte heraus gelesen werden, dass – in Abkehr von Ecclesiae Sanctae – eine solche Verbindung weiterhin möglich ist, doch steht dies in Spannung zu § 2, der eine Bestellung für eine bestimmte Amtszeit vorschreibt. 97 Siehe Anm. 77. Zu bedenken ist, dass es sich bei diesem Direktorium nicht um ein Gesetz, sondern um eine Instruktion handelt, die nur bestehende Gesetze auslegt (vgl. c. 34 CIC). 98 Freilich bleibt der Diözesanbischof gehalten, gemäß c. 524 CIC den Dechanten anzuhören. Dies bedeutet jedoch konkret, dass der stellvertretende Dechant angehört werden muss, weil aufgrund c. 153 § 1 CIC die Pfarrstelle – und damit auch das Dechantenamt – vakant sein muss. 92

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Rüdiger Althaus

sich (abgesehen von ergebnislosen Wahlen) weiterhin in Bremen99, neuerdings aber auch im Bistum Hildesheim für die Dekanate Braunschweig, Hannover und Untereichsfeld.100 Die deutschen Bistümer haben an der – in Umsetzung der in c. 554 § 2 CIC festgelegten Vorgabe einer befristeten Bestellung des Dechanten – fünf- oder sechsjährigen Amtsperiode zumeist festgehalten. Dies erlaubt den Schluss, dass sich diese in der Praxis bewährt hat.101 Ein solch überschaubarer Zeitraum mag helfen, dass sich geeignete Kandidaten für die Übernahme dieses Amtes bereit finden, aber auch einem Ausgleich zwischen Kontinuität und Wandel im Amt und in der Amtsführung mit ihren Schwerpunkten Rechnung zu tragen. Vor diesem Hintergrund sei auf zwei mögliche Phänomene aufmerksam gemacht: 1. Zunehmend schwierig dürfte sich das Finden geeigneter Kandidaten gestalten. Die Anzahl der Priester (bzw. Pfarrer), die überhaupt in Betracht kommen, nimmt ab; zudem werden sie wohl noch stärker in die komplexer werdenden Strukturen auf pfarrlicher Ebene eingebunden, während auch die mit der Leitung eines (größer werdenden) Dekanates verbundenen Aufgaben zunehmen. Dabei sollte es möglichst nicht mit einem einzelnen Kandidaten sein Bewenden haben, sondern eine Wahlbzw. Auswahlmöglichkeit bestehen. 2. Die sinkende Zahl der Priester bei zugleich wachsender Zahl von Diakonen und Laien im pastoralen Dienst führt bei einer gleichberechtigten Beteiligung an der Bestellung des Dechanten zu einer Verschiebung des Proporzes zu den Nichtpriestern. Dies tangiert nicht nur den alten Gedanken des Dechanten als Präses des Dekanatspresbyteriums, sondern auch die Tatsache einer graduell verschiedenen Art der Beteiligung von Klerikern und Laien (Mitwirken bzw. Mithelfen) an der Seelsorge gemäß c. 519 CIC. Eine interessante Regelung bietet vor diesem Hintergrund Rottenburg-Stuttgart: Die pastoralen Mitarbeiter jeder Seelsorgeeinheit entsenden einen Vertreter für die Wahl des Dechanten, an der die Priester und Diakone teilnehmen.102 III. Die Vertretung des Dechanten und weitere Mitarbeiter Der Vertreter des Dechanten wird heutzutage oft rein funktional als Stellvertretender Dechant (bzw. Dekan) bezeichnet, in wenigen Diözesen des bayerischen Rechts99

Vgl. Osnabrück Dekanatsordnung 2008 [Anm. 68] § 4 Abs. 4. Vgl. Hildesheim Wahlordnung Änderung 2008 [Anm. 57] 2. 101 Dafür spricht auch, dass Paderborn die Amtsperiode von acht (bis dahin die längste in Deutschland) auf fünf Jahre reduziert hat (vgl. Statut 2006 [Anm. 69] Art. 2 § 6 Abs. 1); Dresden-Meißen hat die Amtszeit von sechs auf vier Jahre verkürzt (vgl. Ordnung [Anm. 49] 2005, Nr. 3). Rottenburg-Stuttgart hält an einer siebenjährigen Periode fest (vgl. Ordnung 2006 [Anm. 73] § 11 Abs. 1), für die sich nun auch Trier entschieden hat (statt bisher fünf Jahre; vgl. Ordnung 2004 [Anm. 75] § 5 Abs. 4). Eichstätt hat die Amtszeit von fünf auf sechs Jahre verlängert (Dekanatsstatut 2011 [Anm. 50] § 4 Abs. 1). 102 Vgl. Ordnung 2006 § 7 Abs. 2 Ziff. 3. 100

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kreises Prodekan103, wobei die Abkehr von historisch bedingten Amtsbezeichnungen in den letzten Jahren auffällt.104 Diese bleiben lediglich in zwei Diözesen der Kölner Kirchenprovinz erhalten (Definitor in Köln und Münster)105. Dem Stellvertreter des Dechanten kommt neben dessen Vertretung im Falle der Verhinderung mitunter ausdrücklich auch die interimistische Leitung des Dekanates zu106, darüber hinaus die Übernahme bestimmter Aufgaben, die entweder der Dechant seinem Vertreter zuweist bzw. mit ihm abspricht107 oder von Rechts wegen ihm zukommen, vor allem eine Beteiligung an der Visitation108, (mit einem gewissen 103

So in Augsburg (Statut Dekane 2001 [Anm. 44] Art. 33 – 34), Passau (vgl. Schematismus des Bistums Passau 2009, 113, 131 u. ö.), Regensburg (optional, vgl. Ordnung 2005 [Anm. 71] Art. 8) und Speyer (vgl. Statut Dekane 1995 [Anm. 74] § 7). 104 Heute Stellvertretender Dechant bzw. Stellvertretender Dekan statt Kammerer in Bamberg (Statut Dekane 2008 [Anm. 46] Art. 19, S. 20), Eichstätt (Dekanatsstatut 2011 [Anm. 50] § 8, die bisherige Amtsbezeichnung wird noch für den ersten Stellvertretenden Dekan verwendet: Abs. 2), Freiburg (Statut Dekanate 2005 [Anm. 22] § 21) und Regensburg (Ordnung Dekanate 2005 [Anm. 71] Art. 8), statt Kamerar in Hamburg (Dechantenstatut 1999 [Anm. 56] §§ 7 und 8) und Osnabrück (Dekanatsordnung 2008 [Anm. 68] § 5, Dechantenstatut 2009 [Anm. 68] § 3), statt Definitor in Magdeburg (Statut 2008 [Anm. 6] § 4 Abs. 3), Paderborn (Statut 2006 [Anm. 69] § 4) und Trier (Ordnung Änderung 2009 [Anm. 75]), statt Pastoralreferent in Erfurt (Statut 2004 [Anm. 51] 2.1). – Zum Stellvertreter des Dechanten und den Amtsbezeichnungen vgl. auch Althaus, Dechant (Anm. 4), S. 185 – 187. 105 Vgl. Köln Ordnung 1998 (Anm. 59) §§ 17, 18, Münster Dechantenstatut 2003 (Anm. 66) § 2, Trier Ordnung 2004 (Anm. 75) § 6. In Speyer führt (unbeschadet der Aufgaben des Prodekans) der Definitor die Aufsicht über die „Pfarrliteralien“ (Statut Dekane 1995 [Anm. 74] § 9). 106 So vor allem in Dresden-Meißen (Ordnung 2005 [Anm. 49] Nr. 6), Freiburg (Statut Dekanate 2005 [Anm. 22] § 21 Abs. 2), Hildesheim (Dechantenstatut 2008 [Anm. 57] § 4 Abs. 3), Köln (Ordnung 1998 [Anm. 59] § 18), Münster (Dechantenstatut 2003 [Anm. 66] § 2), Passau (Statut 2010 [Anm. 70] II.9) und Regensburg (Ordnung Dekanate 2005 [Anm. 71] Art. 8). 107 Vgl. Augsburg: allgemeine Unterstützung und Übernahme bestimmter Aufgaben (Statut Dekane 2001 [Anm. 44] Art. 34 Abs. 1); Eichstätt: Einbeziehung in die Amtsgeschäfte des Dekans (Dekanatsstatut 2011 [Anm. 50] § 8 Abs. 7); Freiburg: bestimmte Bereiche wie z. B. Kategorialseelsorge und caritative Dienste (Statut Dekanate 2005 [Anm. 22] § 21); Fulda: Teilbereiche (Statut 2007 [Anm. 55] Art. 3 § 3); Hamburg: bestimmte Aufgaben (Dechantenstatut [Anm. 56] 1998 § 8); Hildesheim: bestimmte Aufgabenfelder (Dechantenstatut 2008 [Anm. 57] § 4 Abs. 1); Köln: regionale oder funktionale Aufgaben (Ordnung 1998 [Anm. 59] § 17); Magdeburg: bestimmte Aufgaben außer Mitarbeitergesprächen (Statut 2008 [Anm. 6] § 4 Abs. 1.11, Abs. 3.1); Mainz: bestimmte Aufgaben (Statut 1999 [Anm. 63] § 3 Abs. 4); München und Freising: regelmäßige Aufgaben (Statut 2002 [Anm. 64] Art. 11); Paderborn: bestimmte Aufgaben (Statut 2006 [Anm. 69] Art. 2 § 4 Abs. 2); Regensburg: bestimmte Aufgaben (Ordnung Dekanate 2005 [Anm. 71] Art. 6 Abs. 2 Ziff. 12, Art. 8); Speyer: bestimmte Aufgaben (Statut Dekane 1995 [Anm. 74] § 7); Würzburg: ständige Übertragung eines Teiles der Aufgaben (Dekanestatut 1999 [Anm. 76] Art. 3). 108 Vgl. Augsburg Statut Dekane 2001 (Anm. 44) Art. 21 Abs. 2; Bamberg Statut Dekane 2008 (Anm. 46) Art. 45 (Unterstützung des Dekans); Dresden-Meißen Ordnung 2005 (Anm. 49) Nr. 4 (Unterstützung des Dechanten); Erfurt Statut 2004 (Anm. 51) 1.5; Hamburg Dechantenstatut 1998 (Anm. 56) § 8 (Begleitung des Dechanten bei der Visitation); Osnabrück Dechantenstatut 2009 (Anm. 68) § 3 Abs. 1 (Unterstützung des Dechanten); Trier

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Schwerpunkt bei der früheren Kölner Kirchenprovinz) gelegentlich noch die Verwaltungs- bzw. Vermögensaufsicht109, vereinzelt auch andere Aufgabenfelder.110 Diesen mitunter historisch bedingten Zuständigkeiten kommt gerade in Anbetracht eines arbeitsteiligen Vorgehens zwecks Entlastung des Dechanten besondere Bedeutung zu. Dies darf freilich nicht die Letztverantwortung des Dechanten einschränken. Die Ordnungen mancher Diözesen erwähnen weitere Mitarbeiter, die für bestimmte Aufgabenbereiche (z. B. Schule, Jugend, Caritas) Verantwortung tragen, sei es als förmlich durch den Ordinarius Beauftragte, sei es aufgrund eines Entscheides im Dekanat.111 Auch wenn auf diesem Feld keine ausgeprägten Entwicklungen zu erkennen sind, darf die Bedeutung weiterer Mitverantwortlicher nicht unterschätzt werden. Dabei ist eine Ergänzung allgemeiner Vorgaben der Diözese Ordnung 2004 (Anm. 75) § 6 Abs. 2; Würzburg Dekanestatut 1999 (Anm. 76) Art. 43. – Hinzu kommt öfter die Visitation des Stellvertreters in der Pfarrei des Dechanten. 109 Vgl. Freiburg Statut Dekanate 2005 (Anm. 22) § 21, Hamburg Dechantenstatut 1998 (Anm. 56) § 8, Köln Ordnung 1998 (Anm. 59) § 18 („aufgrund alter Tradition“), Osnabrück Dechantenstatut 2009 (Anm. 68) § 3 Abs. 1, Speyer Statut Dekane (Anm. 74) 1995 § 9 (hier der Definitor in Bezug auf die „Pfarrliteralien“). 110 Eichstätt: Dekanatskasse und Abrechnung der Kollekten (Dekanatsstatut 2011 [Anm. 50] § 87 Abs. 8); Erfurt: Förderung und Koordinierung der Zusammenarbeit im Bereich der Seelsorge (Statut 2004 [Anm. 51] 2.1 [daher die frühere Amtsbezeichnung „Pastoralreferent“]); Regensburg: Verwaltung der Konten des Dekanates (Ordnung Dekanate 2005 [Anm. 71] Art. 6 Abs. 2 Ziff. 12, Art. 8). 111 So in Bamberg: Beauftragte für Schulwesen, auch für bestimmte pastorale Bereiche: v. a. geistliche Berufe, Jugendarbeit, Kirchenmusik (Statut Dekane 2008 [Anm. 46] Art. 4 und 5); Berlin: Seelsorgereferent, Dekanatsjugendseelsorger, Caritasreferent und andere (Statut 2003 [Anm. 48] II., VII. – IX.); Erfurt: Caritasreferent, Dekanatsjugendseelsorger, Arbeitskreise für bestimmte Sachfragen und Weltaufgaben des heutigen Christen (Statut 2004 [Anm. 51] 2.2, 2.3); Freiburg: Schuldekan, Jugendreferent, Beauftragte für bestimmte Zielgruppen- und Kategorialseelsorge (Statut Dekanate 2005 [Anm. 22] §§ 22, 23, 25); Fulda: Beauftragte z. B. für Gottesdienst, Schule, Jugendseelsorge, Familienseelsorge, soziale Fragen, Caritas (Statut 2007 [Anm. 55] Art. 2 § 2 Abs. 22); Hamburg: Beauftragte z. B. für kirchliche Berufe, Liturgie, verschiedene Dekanatsarbeitgemeinschaften (Dekanatsstatut 1998 [Anm. 56] § 7); Magdeburg: Pastoralbeauftragter, Caritasbeauftragter, Dekanatsjugendseelsorger (Statut 2008 [Anm. 6] § 4 Abs. 4 – 6); Mainz: Dekanatsbeauftragte für bestimmte pastorale Aufgaben (Statut 1999 [Anm. 63] § 7 Abs. 5, § 23); München-Freising: verpflichtend: Schulbeauftragte, Dekanatskirchenmusikpfleger, fakultativ: Beauftragte für Caritas, Ehe und Familie, geistliche Berufe, Jugendarbeit, Sport und Kirche u. a. (Statut 2002 [Anm. 64] Art. 4); Osnabrück: Beauftragter für Jugendpastoral, Regionalkirchenmusiker, ggf. weitere Beauftragte (Dekanatsordnung 2008 [Anm. 68] §§ 7 – 9); Paderborn: Dekanatsjugendseelsorger, Dekanatskatechet, Dekanatsreferent für Jugend und Familie (Statut 2006 [Anm. 69] Art. 3 §§ 1, 2, 4); Passau: Schuldekane (Statut 2010 [Anm. 70] III.8); Regensburg: Beauftragte für Schule, Liturgie, Kirchenmusik, Jugendseelsorge, Ehe und Familie, evtl. auch für andere Seelsorgebereiche (Ordnung Dekanate 2005 [Anm. 71] Art. 9); Speyer: Schuldekane, Dekanatsseelsorger für bestimmte Zielgruppen (z. B. Jugend, Männer, Frauen, Familien, ältere Menschen) und für kirchliche Verbände (Statut Dekane 1995 [Anm. 74] § 10, § 11 Abs. 1); Würzburg: Beauftragter für Schulen, Verantwortliche für Caritas, für Liturgie und Kirchenmusik, für Fortbildung und Erwachsenenbildung, bei Bedarf für andere Bereiche (Dekanestatut 1999 [Anm. 76] Art. 5, 40).

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durch eine flexible Gestaltung in Anbetracht spezieller Gegebenheiten und Erfordernisse im Dekanat zu begrüßen.112 Auch wäre beispielsweise daran zu denken, dass rüstige pensionierte Priester Verantwortung für ältere Mitbrüder übernehmen, um einer Vereinsamung vorzubeugen.113 Aufmerksamkeit verdient indes, dass mehrere Diözesen nun ausdrücklich einen Dekanatsreferenten114 vorsehen, der den Dechanten in organisatorisch-administrativer Hinsicht bei der Leitung des Dekanates unterstützt. Diesem neuen Funktionsträger dürfte gerade in Anbetracht der bereits angesprochenen Arbeitsbelastung des Dechanten durch seine eigene(n) Pfarrei(en) und des (territorial wesentlich vergrößerten) Dekanates künftig eine zentrale Rolle zufallen. Das Erzbistum Berlin sieht einen Mitarbeiter im Ordinariat als Ortsreferent und damit als Ansprechpartner des Dechanten vor.115 IV. Die pastorale Sorge des Dechanten für das Dekanat und die Mitarbeiter Das kirchliche Gesetzbuch benennt in c. 555 in einem ausführlichen Katalog die Zuständigkeiten des Dechanten, die partikularrechtlich konkretisiert und zum Teil erweitert werden.116 Von diesen seien einige angesprochen. Die gleichsam programmatische Vorgabe des c. 555 § 1, 18 CIC, dem Dechanten obliege die Förderung und Koordinierung der pastoralen Tätigkeit, findet in den diözesanen Ordnungen Aufnahme. Neben anderen Explikationen (z. B. seelsorgliche Felder, die die Ressourcen einzelner Pfarreien übersteigen), sprechen diözesane Ordnungen nicht nur allgemein die Konkretisierung und Realisierung pastoraler Vorgaben der Diözese an, sondern nehmen mitunter Bezug auf die pastoralen Konzepte der jeweiligen Diözesen, die es aufgrund notwendiger Umstrukturierungen zu verwirk-

112 So sieht Regensburg eine Förderung der Seelsorge durch gemeinsames Handeln im Dekanat u. a. dadurch vor, „dass – soweit vorhanden – seelsorgliche, pädagogische, kirchenrechtliche, liturgische und sonstige einschlägige Spezialisierungen von Klerikern und Laien dem ganzen Dekanat zur Verfügung gestellt werden“ (Ordnung Dekanate 2005 [Anm. 71] Art. 1 Abs. 2). 113 Eigens thematisiert Osnabrück die „Einbindung der Priester und Diakone im Ruhestand“ in das Dekanat (Dekanatsordnung 2008 [Anm. 68] § 16). 114 So in Freiburg (Statut Dekanate 2005 [Anm. 22] § 24), Limburg (Bezirksreferent: Statut Bezirksdekane 2004 [Anm. 61] § 9), Mainz (Statut 1999 [Anm. 63] § 6 Abs. 5), München und Freising (fakultativ: Statut 2002 [Anm. 64] Art. 12), Osnabrück (Dekanatsordnung 2008 [Anm. 68] § 7, Statut Dekanatreferent 2009), Paderborn (Statut 2006 [Anm. 69] Art. 3 § 3), Regensburg (Ordnung Dekanate 2005 [Anm. 71] Art. 14 Abs. 3), Trier (Ordnung 2004 [Anm. 75] § 10). 115 Vgl. Berlin Statut [Anm. 48] 2003 II.4. 116 Osnabrück normiert gar: „Durch die Ernennung des Bischofs wird der Dechant mit ordentlicher stellvertretender Gewalt ausgestattet“ (Dekanatsordnung 2008 [Anm. 68] § 4 Abs. 1).

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lichen gilt.117 Insofern es sich hierbei um zentrale seelsorgliche Herausforderungen handelt und eine Dechantenordnung konkreten zeitlich bedingten Anliegen Rechnung tragen sollte, ist eine solche Nennung durchaus sachgerecht; eine detaillierte Regelung muss indes in anderem Kontext erfolgen. Gerade im Dienste einer gediegenen Kenntnis der einzelnen Gemeinden steht die gemäß c. 555 § 4 vorgesehene Visitation durch den Dechanten. Einen konkreten Turnus benennen die diözesanen Ordnungen nur gelegentlich118, öfter verweisen sie auf die diözesane Visitationsordnung bzw. die Anordnung des Bischofs.119 Auch lässt sich – sofern sich die Dechantenordnungen überhaupt dazu äußern – eine unterschiedliche Schwerpunktsetzung erkennen, mal (in Anbetracht der Auflistung in c. 555 § 1, 38 CIC) auf den administrativen, vermögensrechtlichen Bereich, mal 117 Vgl. v. a. Augsburg: Förderung der Pastoral „insbesondere durch den Aufbau von Pfarreiengemeinschaften“ (Statut Dekane 2001 [Anm. 44] Art. 12 Abs. 1); Bamberg: Förderung der kooperativen Pastoral und der „Pastoral im Netzwerk“ (Statut Dekane 2008 [Anm. 46] Art. 33); Freiburg: Impulse und Konkretisierung der Pastoralen Leitlinien, Förderung der Seelsorgeeinheiten (Statut Dekanate 2005 [Anm. 22] §§ 3 – 4); Limburg: Fortentwicklung der Pastoralkonzepte der Pastoralen Räume (Statut Bezirksdekane 2004 [Anm. 61] § 2 Abs. 1 und 3, § 4 Abs. 2 und 3, § 6); Magdeburg: Gestaltung der „Pastorale Prozesse und Projekte des Bistums im Dekanat“ durch den Dekanatspastoralbeauftragten (Statut 2008 [Anm. 6] § 4 Abs. 4.2); Münster: Förderung der Zusammenarbeit der Seelsorgeeinheiten bzw. Pfarrverbände (Dechantenstatut [Anm. 66] 2003 § 14); Osnabrück: „Verwirklichung der Planungen und Ziele/Zielvereinbarungen der Diözese“ (Dekanatsordnung 2008 [Anm. 68] § 2); Regensburg: Kooperative Seelsorge als zentraler Aspekt der Visitation des Dekans (Ordnung Dekanate 2005 [Anm. 71] Art. 7 Abs. 1 und 2); Rottenburg-Stuttgart: Vermittlung und Umsetzung pastoraler Ziele, Konzepte und Prozesse der Diözese (Statut 2006 [Anm. 73] § 3 Abs. 1; vgl. § 4 Abs. 1); Speyer: Sorge um gute Zusammenarbeit der Pfarrverbände (Statut Dekane 1995 [Anm. 74] § 4 Abs. 1), Anpassung und Verwirklichung der Richtlinien und Maßnahmen des Bistums (Statut Dekanate 2002 § 3 Abs. 1). 118 Augsburg: wenigstens alle sechs Jahre (Statut Dekane 2001 [Anm. 44] Art. 21 Abs. 1); Bamberg: alle fünf Jahre (Statut Dekane 2008 [Anm. 46] Art. 45); Freiburg: alle fünf Jahre (Statut Dekanate 2005 [Anm. 22] § 13 Abs. 2); Osnabrück: einmal zwischen den bischöflichen Visitationen (Dechantenstatut 2009 [Anm. 68] § 2 Abs. 1c); Paderborn: alle zwei Jahre (Statut 2006 [Anm. 69] Art. 2 § 2 Abs. 5 i.V.m. Visitationsordnung vom 9. Mai 2007, in: Kirchliches Amtsblatt für die Erzdiözese Paderborn 150 [2007] 86 – 87, § 4); Passau: alle fünf Jahre (Statut 2010 [Anm. 70] III.5); Würzburg: fünfjährlich (Dekanestatut 1999 [Anm. 76] Art. 43). 119 Aachen: gemäß den Bestimmungen des Bischofs (Statut Regionen 2006 II.12); Berlin: zu den vom Erzbischof angeordneten Zeiten (Statut [Anm. 48] 2003 V.3); Dresden-Meißen: gemäß Visitationsordnung (Ordnung 2005 [Anm. 49] Nr. 4); Eichstätt: nach Bestimmungen des Bischofs (Dekanatsstatut 2011 [Anm. 50] § 5 Abs. 9); Erfurt: gemäß Diözesanordnung (Statut 2004 [Anm. 51] 1.5); Fulda: zu vom Bischof festgesetzten Zeiten (Statut 2007 [Anm. 55] Art. 2 § 2 Abs. 10); Hamburg: gemäß c. 555 § 4 (Dechantenstatut 1998 [Anm. 56] § 4); Köln: gemäß c. 555 § 4 (Ordnung 1998 [Anm. 59] § 11); Limburg: gemäß Visitationsordnung (Statut Bezirksdekane 2004 [Anm. 61] § 6); Magdeburg: im Auftrag des Bischofs (Statut 2008 [Anm. 6] § 4 Abs. 1.10); Mainz: in dem vom Bischof festgelegten Umfang (Statut 1999 [Anm. 63] § 9 Abs. 1); Regensburg: nach Weisung des Bischofs (Ordnung Dekanate 2005 [Anm. 71] Art. 7 Abs. 1 und 2); Speyer: gemäß Visitationsordnung (Statut Dekane 1995 [Anm. 74] § 5 Abs. 1); Trier: gemäß Visitationsordnung (Ordnung 2004 [Anm. 75] § 4 Abs. 3.7).

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auf die Pastoral.120 Gerade letzterem dürfte heute aufgrund der Ausrichtung des § 1, 18 berechtigt Priorität zukommen, während die Aufsicht über die Temporalien – sollte sie dezidiert erfolgen – spezielle Sachkenntnis erfordert, die von einem Dechanten nicht unbedingt erwartet werden kann. Im Kontext der Seelsorge kommt auch dem in jüngeren Statuten zum Teil ausdrücklich thematisierten Mitarbeitergespräch mit den Leitern der Seelsorgeeinheiten bzw. mit den Pfarrern große Bedeutung zu121, um auf diese Weise über situative Gegebenheiten, Motivationen und Frustrationen in der Leitung ihres Gebietes zu erfahren sowie weiteres Vorgehen zu erwägen. Hinzu treten Konferenzen dieser Priester.122 Eine wesentliche Aufgabe des Dechanten besteht in der Hinführung der verschiedenen Mitarbeiter im Dekanat zur Gemeinschaft (auch geistlicher Art) und zur Zusammenarbeit.123 Als bewährtes Instrument pastoraler Koordination und Kooperati120 Abgesehen von den genannten allgemeinen Formulierungen sprechen als konkrete Objekte der Visitation an: Augsburg: Dekan erwirbt sich gute Kenntnis der Situation und der Entwicklung in den Pfarreien (Statut Dekane 2001 [Anm. 44] Art. 9); Freiburg: pastorale Situation, Feier eines Gottesdienstes (Statut Dekanate 2005 [Anm. 22] § 13 Abs. 2); Fulda: Empfehlung der Feier eines Gottesdienstes (Statut 2007 [Anm. 55] Art. 2 § 2 Abs. 10); Köln: Pastoral und Temporalien (Ordnung 1998 [Anm. 59] § 11); Limburg: Vorbereitung und Begleitung der Bischöflichen Visitation, Verwaltungsvisitation (Statut Bezirksdekane 2004 [Anm. 61] § 6); Münster: Vorbereitung der Bischöflichen Visitation, pastoraler Besuch zu Beginn der Amtszeit, Aufsicht über Gebäude (Dechantenstatut 2003 [Anm. 66] §§ 8 und 9); Osnabrück: Vorbereitung der Bischöflichen Visitation, Verwaltung und Vermögen (Dechantenstatut 2009 [Anm. 68] § 2 Abs. 1c); Paderborn: Verwaltung (Statut 2006 [Anm. 69] Art. 2 § 2 Abs. 5 i. V. m. Visitationsordnung 2007 § 4); Passau: Pastoralbesuch (Statut 2010 [Anm. 70] III.5); Regensburg: vor allem hinsichtlich kooperativer Seelsorge (Ordnung Dekanate 2005 [Anm. 71] Art. 7 Abs. 1 und 2); Trier: Vorbereitung der bischöflichen Visitation (Ordnung 2004 [Anm. 75] § 4 Abs. 3.7). 121 So in Bamberg: Mitarbeitergespräche nach Maßgabe diözesaner Regelungen (Statut Dekane 2008 [Anm. 46] Art. 39); Freiburg: regelmäßige Zielvereinbarungsgespräche mit den Leitern der Seelsorgeeinheiten (Statut Dekanate 2005 [Anm. 22] § 11. Abs. 8); Fulda: jährliches Gespräch mit dem Moderator eines jeden Pastoralverbundes (Statut 2007 [Anm. 55] Art. 2 § 2 Abs. 7); Hildesheim: jährliches Mitarbeitergespräch (Dechantenstatut 2008 [Anm. 57] § 2 Abs. 1); Magdeburg: jährlich mit Gemeindeverbundsleiter bzw. Pfarrern (Statut 2008 [Anm. 6] § 4 Abs. 1.4); Paderborn: jährlich mit dem Leiter jedes Pastoralverbundes (Statut 2006 [Anm. 69] Art. 2 § 3 Abs. 2); Rottenburg-Stuttgart: jährliches Mitarbeitergespräch mit Pfarrern (Ordnung 2006 [Anm. 73] § 5 Abs. 8). 122 Aachen: kollegialer Austausch der Leiter der Gemeinschaften von Gemeinden (Statut Regionen 2006 II.11); Fulda: Konferenz der Moderatoren der Pastoralverbünde (Statut 2007 [Anm. 55] Art. 4 § 4); Osnabrück: Konferenz der leitenden Pfarrer (Dekanatsordnung 2008 [Anm. 68] § 14); Paderborn: Konferenz der Leiter der Pastoralverbünde mindestens vierteljährlich (Statut 2006 [Anm. 69] Art. 4 § 1 Abs. 4); Regensburg: regelmäßige Pfarrerkonferenz (Ordnung Dekanate 2005 [Anm. 71] Art. 11); Trier: regelmäßige Pfarrerkonferenz (Ordnung 2004 [Anm. 75] § 4 Abs. 3). 123 Vgl. Augsburg Statut Dekane 2001 (Anm. 44) Art. 10 Abs. 1, Bamberg Statut Dekane 2008 (Anm. 46) Art. 22, Berlin Statut 2003 (Anm. 48) V.2b,d, Dresden-Meißen Ordnung 2005 (Anm. 49) Nr. 4, Erfurt Statut 2004 (Anm. 51) 3.1, Freiburg Statut Dekanate 2005 (Anm. 22) § 11 Abs. 2, Fulda Statut 2007 (Anm. 55) Art. 2 § 2 Abs. 6, Limburg Statut Bezirksdekane

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on dient die Dekanats(pastoral)konferenz, an der heute – quasi im Sinne einer Vollversammlung – nicht mehr nur die Priester, sondern auch die ständigen Diakone sowie Gemeinde- bzw. Pastoralreferenten/-innen teilnehmen.124 Manche Diözesen sehen diese Konferenzen heute nur mehr zweimal jährlich vor, andere halten an einem vierteljährlichen oder gar monatlichen Turnus fest.125 Dies hängt auch von der Ausdehnung des Dekanates bzw. der Anzahl der Mitarbeiter ab. Insofern Versammlungen mit vielen Teilnehmern eine gewisse Anonymität anhaftet, bedarf es ergänzender Zusammenkünfte. Abgesehen von den bereits genannten Pfarrerkonferenzen werden auch Priesterkonferenzen und Konveniats eigens gefordert, um das – früher auch, aber nicht nur auf Dekanatskonferenzen gepflegte – priesterliche Miteinander zu pflegen und spezifische priesterliche Fragen zu besprechen, zunehmend auch – sachlich entsprechend – vergleichbare Treffen der Laien im pastoralen Dienst sowie geistliche Einkehrtage für alle oder bestimmte Dienstgruppen.126 Eine dezi2004 (Anm. 61) § 2 Abs. 2, Magdeburg Statut 2008 [Anm. 6] § 1, Mainz Statut 1999 (Anm. 63) § 5 Abs. 1, München und Freising Statut 2002 [Anm. 64] Art. 2 Abs. 1, Art. 7 Abs. 1a, Münster Dechantenstatut 2003 (Anm. 66) § 13 Abs. 1, Passau Statut 2010 (Anm. 70) III. 2, Regensburg Ordnung Dekanate 2005 (Anm. 71) Art. 1 Abs. 2, Speyer Statut Dekane (Anm. 74) 1995 § 3 Abs. 3, § 4 Abs. 6, Würzburg Dekanestatut 1999 (Anm. 76) Art. 36. 124 Zur Dekanatskonferenz erklärt Hamburg, sie diene dazu, den Kontakt und die communio zwischen Klerikern und hauptberuflichen pastoralen Mitarbeitern und den jeweiligen Pensionären zu fördern (Dekanatsstatut [Anm. 56] 1998 § 2 Abs. 4). – Magdeburg betont: „In der Regel gehören zum Verlauf der Dekanatskonferenz ein Bibelkreis, Recollectionsvortrag oder gemeinsames Gebet; die Bearbeitung eines theologischen oder pastoralen Themas; die Klärung pastoraler Aufgaben, die sich aus Bistumsvorgaben oder Pastoralvereinbarungen ergeben und umgesetzt werden sollen; organisatorische Aufgaben“ (Statut 2008 [Anm. 6] § 2 Abs. 4). Geistliche (z. B. gemeinsames Stundengebet) und gesellige Elemente gehören häufig zur Dekanatskonferenz. 125 Bamberg: mindestens zweimal im Jahr (Statut Dekane 2008 [Anm. 46] Art. 42); Berlin: wenigstens zweimal jährlich (Statut 2003 [Anm. 48] III); Dresden-Meißen: einmal jährlich (Ordnung 2005 [Anm. 49] Nr. 4); Freiburg: fünf- bis sechsmal jährlich (Statut Dekanate 2005 [Anm. 22] § 27); Fulda: mindestens halbjährlich (Statut 2007 [Anm. 55] Art. 4 § 1); Hamburg: wenigstens vierteljährlich (Dekanatsstatut 1998 [Anm. 56] §§ 3 und 4); Hildesheim: monatlich (Dechantenstatut [Anm. 57] § 2 Abs. 3); Limburg: ein- bis viermal jährlich (Statut Bezirksdekane 2004 [Anm. 61] § 7); Magdeburg: monatlich, mindestens sechsmal im Jahr (Statut 2008 [Anm. 6] § 2 Abs. 1); Mainz: mindestens viermal im Jahr (Statut 1999 [Anm. 63] § 21 Abs. 1); Osnabrück: vier- bis achtmal jährlich (Dekanatsordnung 2008 [Anm. 68] § 17); Paderborn: mindestens halbjährlich (Statut 2006 [Anm. 69] Art. 4 § 1 Abs. 1); Rottenburg-Stuttgart: regelmäßig, mindestens einmal jährlich, sonst eventuell auch regional (Ordnung 2006 [Anm. 73] § 4); Trier: viermal im Jahr (Ordnung 2004 [Anm. 75] § 8); Würzburg: monatlich (Dekanestatut 1999 [Anm. 76] Art. 39). – Keinen Turnus geben vor: Augsburg (Statut Dekane 2001 [Anm. 44] Art. 1 Abs. 3), Köln (Ordnung 1998 [Anm. 59] § 10), München und Freising (Statut 2002 [Anm. 64] Art. 3), Münster (Dechantenstatut 2003 [Anm. 66] § 6 Abs. 3), Passau (Statut 2010 [Anm. 70] III.3) und Regensburg (Ordnung Dekanate 2005 [Anm. 71] Art. 6 Abs. 2 Ziff. 1 Art. 10). 126 Aachen: Konveniats und Recollectionen (Statut Regionen [Anm. 43] 2006 II.12); Augsburg: Regelmäßige Zusammenkünfte der Priester und Diakone, Rekollektionen (auch für Laienmitarbeiter), mindestens jährlich Priesterkonferenz (Statut Dekane 2001 [Anm. 44] Art. 1 Abs. 3, Art. 10, Art. 12); Bamberg: Konveniat für Priester und Diakone (Statut Dekane 2008 [Anm. 46] Art. 43); Berlin: wenigstens zweimal jährlich Dekanatskonvent von Priestern

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dierte Vorgabe darf als hilfreich für die konkrete Praxis angesehen werden. Zudem helfen diese kleineren Kreise, spezifische Fragen und Angelegenheiten dieses Lebens- bzw. Berufsstandes anzusprechen, ja sich überhaupt näher kennen zu lernen. Der Dechant gilt in wenigen Diözesen ausdrücklich als Sprecher der Mitarbeiter in der Pastoral.127 Ihm kommt aber auch eine persönliche Sorge für diese zu, die in Anbetracht der (territorialen und personalen) Größe mancher Dekanate nicht zugunsten anderer Prioritäten vernachlässigt werden darf, sondern einer effizienten Realisierung bedarf, geht es doch darum, dass der Dechant auch „Seelsorger der Seelsorger“ ist. So bezeichnet Paderborn den Dechanten ausdrücklich als „Vertrauensperson und Diakonen, zudem gesellige Zusammenkünfte (Statut 2003 [Anm. 48] III, V.1c); DresdenMeißen: regelmäßige Priesterkonferenzen (Ordnung 2005 [Anm. 49] Nr. 4); Eichstätt: Kapitelsjahrtag, Konferenz der Geistlichen und gemeinsame Konferenz der Geistlichen mit den pastoralen Mitarbeitern (Dekanatsstatut 2011 [Anm. 50] § 5 Abs. 7); Erfurt: regelmäßiger Austausch der Priester (Statut 2004 [Anm. 51] 2.4), „Arbeitsbesprechungen, Recollectiones, Einkehrtage, gesellige Zusammenkünfte, Dekanatsausflüge und andere gemeinsame Veranstaltungen“ für alle Mitarbeiter in der Pastoral (ebd. 3.1); Freiburg: Treffen einzelner pastoraler Dienste, Konveniat der Priester und Diakone, Frühjahrskonferenz der Kleriker zu einem vorgegebenen Thema, Treffen der Gemeinde- bzw. Pastoralreferenten drei- bis fünfmal im Jahr (Statut Dekanate 2005 [Anm. 22] § 28); Fulda: Konferenz (Konveniat) aller Kleriker mindestens zweimal jährlich (Statut 2007 [Anm. 55] Art. 4 § 2); Konferenz aller Laien im pastoralen Dienst mindestens einmal jährlich (ebd. § 3); Hildesheim: Conveniat der Priester und Diakone (Dechantenstatut 2008 [Anm. 57] § 2 Abs. 1); Köln: Geistliche Zusammenkünfte aller pastoralen Dienste (Ordnung 1998 [Anm. 59] § 10); Limburg: regelmäßiges Konveniat der Geistlichen (Statut Dekane 2005 [Anm. 60] § 2 Abs. 2); Magdeburg: siehe Erfurt (Statut 2008 [Anm. 6] § 4 Abs. 1.11); Mainz: Recollectio und Konveniat der Mitarbeiter im pastoralen Dienst (Statut 1999 [Anm. 63] § 2 Abs. 3.1); Münster: regelmäßiges Konveniat und regelmäßige Recollectio aller Mitarbeiter (Dechantenstatut 2003 [Anm. 66] § 5 Abs. 5, § 6); Osnabrück: geistliche Hilfen für Mitarbeiter und deren geistliche und theologische Fortbildung, Konveniat der Diakone und Priester, Priesterkonveniat, Besinnungstag für Ausflug der Dekanatskonferenz (Dekanatsordnung 2008 [Anm. 68] § 3 Abs. 3, § 10 Abs. 4, § 15, Dechantenstatut 2009 [Anm. 68] § 2 Abs. 1); Paderborn: mindestens jährlich Klerikerkonferenz und Konferenz aller hauptamtlichen Laien im pastoralen Dienst, mindestens vierteljährlich Fachkonferenzen der für einen bestimmten pastoralen Aufgabenbereich Verantwortlichen (Statut 2006 [Anm. 69] Art. 4 § 1 Abs. 2, 3 und 5); Passau: mindestens zweimal jährlich Recollectio der Geistlichen, Bildungsveranstaltungen auch der Laienmitarbeiter in Zusammenarbeit mit dem Ordinariat (Statut 2010 [Anm. 70] III.3); Regensburg: Kleruskonferenz sowie Konferenz der Laien im pastoralen Dienst (Ordnung Dekanate 2005 [Anm. 71] Art. 6 Abs. 2); Rottenburg-Stuttgart: mindestens jährlich geistlicher Tag und theologisches Seminar für alle Mitarbeiter (Ordnung 2006 [Anm. 73] § 13 Abs. 5); Speyer: regelmäßiges Konveniat der Geistlichen, regelmäßige geistliche Erneuerung der Mitarbeiter (Statut Dekane 1995 [Anm. 74] § 4 Abs. 3); Trier: Fachkonferenzen Caritas, Erwachsenenbildung, Gemeindekatechese, Jugend, Kirchenmusik, Religionsunterricht und weltkirchliches Engagement (Ordnung 2004 [Anm. 75] § 8 Abs. 2.2); Würzburg: allgemein Sorge um priesterliche Gemeinschaft und die des gesamten Seelsorgepersonals, geistliches Leben und berufliche Weiterbildung (Dekanestatut 1999 [Anm. 76] Art. 26). 127 So in Bamberg (Statut Dekane 2008 [Anm. 46] Art. 21), Fulda (Statut 2007 [Anm. 55] Art. 2 § 2 Abs. 2), Passau (Statut 2010 [Anm. 70] III.), Regensburg (Ordnung Dekanate 2005 [Anm. 71] Art. 3 Abs. 4); in Dresden-Meißen nur Sprecher der Priester (Ordnung 2005 [Anm. 49] Nr. 1).

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der im Dekanat in der Seelsorge Tätigen“128, andere statuieren, dass er diesen mit Rat zur Seite stehen soll.129 So soll seine Aufmerksamkeit Mitarbeitern in besonderen Situationen gelten, den Neuen im Dekanat, den Älteren, aber auch den in Schwierigkeiten Befindlichen.130 Historisch bedingt lässt sich in den diözesanen Ordnungen eine gewisse Priorität hinsichtlich der Sorge um Priester erkennen. Eine Beibehaltung legt sich aus Gründen der Leistbarkeit dieser Verantwortung in dem Sinne nahe, dass dem Pfarrer eine primäre Zuständigkeit hinsichtlich der ihm zugeordneten Mitarbeiter zukommt, doch darf dies das Angehen der Dechanten in bestimmten Fällen (auch wenn es um Schwierigkeiten geht, in die der Pfarrer involviert ist) nicht ausschließen. In den Kontext dieser helfenden Funktion des Dechanten gehört auch, dass er bei auftretenden Differenzen vermitteln soll, sei es unter den Mitarbeitern131, sei es mit dem Pfarrgemeinderat132 oder einzelnen Gemeindegliedern133, doch bleibt zu beachten, dass er keine Weisungskompetenz besitzt. 128

Vgl. Paderborn Statut 2006 (Anm. 69) Art. 2 § 1. Vgl. Fulda Statut 2007 (Anm. 55) Art. 2 § 2 Abs. 14. Erfurt (Statut 2004 [Anm. 51] 3.4) und Mainz (Statut 1999 [Anm. 63] § 5 Abs. 7) sprechen diesbezüglich nur von den Geistlichen. 130 Aachen: Kennen der Sorgen und Nöte der pastoralen Mitarbeiter, Sorge um ältere und kranke Geistliche (Statut Regionen [Anm. 43] II.12); Augsburg: Unterstützung jüngerer Mitbrüder (Statut Dekane 2001 [Anm. 44] Art. 10 Abs. 3), Sorge für kranke und alte Geistliche (ebd. Art. 27); Bamberg: neue Mitarbeiter im Dekanat, alte und kranke Priester (Statut Dekane 2008 [Anm. 46] Art. 22, 26); Berlin: jüngere und kranke Mitbrüder (Statut 2003 [Anm. 48] V.1c,d); Dresden-Meißen: kranke Mitbrüder (Ordnung 2005 [Anm. 49] Nr. 4.); Eichstätt: neue sowie kranke und sterbende Mitbrüder (Dekanatsstatut 2011 [Anm. 50] § 6 Abs. 3 und 4); Erfurt: jüngere und kranke Mitbrüder (Statut 2004 [Anm. 51] 3.2.); Freiburg: neue und kranke Priester (Statut Dekanate 2005 [Anm. 22] § 11.12); Fulda: neue Mitarbeiter, vor allem Priester, Mitarbeiter in Schwierigkeiten und kranke Mitarbeiter (Statut 2007 [Anm. 55] Art. 2 § 2 Abs. 8, 12, 16); Köln: Mitarbeiter in Schwierigkeiten, alte und kranke Mitbrüder (Statut 1998 [Anm. 59] § 9 Abs. 8, 10), Antrittsbesuch neuer Mitarbeiter bei ihm (ebd. § 9 Abs. 5); Limburg: kranke Geistliche und solche im Ruhestand (Statut Dekane 2005 [Anm. 60] § 3 Abs. 3), Mitarbeiter in Schwierigkeiten (ebd. § 4); Magdeburg: jüngere und kranke Mitbrüder (Statut 2008 [Anm. 6] § 4 Abs. 1.3); Mainz: neue, kranke und sterbende Mitbrüder (Statut 1999 [Anm. 63] § 5 Abs. 3 und 5); München und Freising: alte, kranke und ausländische Mitbrüder und Mitarbeiter (Statut 2002 [Anm. 64] Art. 7 Abs. 1 – 2); Münster: Antrittsbesuch neuer Mitarbeiter (Dechantenstatut 2003 [Anm. 66] § 5 Abs. 2); Osnabrück: neue Mitarbeiter (Antrittsbesuch), Mitarbeiter in Schwierigkeiten, alte und kranke Mitbrüder (Dechantenstatut 2009 [Anm. 68] § 2 Abs. 1a); Paderborn: neue und schwer erkrankte Mitarbeiter (Statut 2006 [Anm. 69] Art. 2 § 2 Abs. 7 und 9); Regensburg: kranke Mitarbeiter und solche in Schwierigkeiten (Ordnung Dekanate 2005 [Anm. 71] Art. 6 Abs. 7 und 9); Speyer: Mitbrüder, „die seiner besonderen Aufmerksamkeit und Hilfe bedürfen“ (Statut Dekane 1995 [Anm. 74] § 3 Abs. 4); Würzburg: neue Mitarbeiter (Dekanestatut 1999 [Anm. 76] Art. 27). 131 Vgl. Aachen Statut Regionen II.12, Augsburg Statut Dekane 2001 (Anm. 44) Art. 11 Abs. 2, Art. 18 Abs. 1, Bamberg Statut Dekane 2008 (Anm. 46) Art. 24 und 35, Berlin Statut 2003 (Anm. 48) V.1e, Dresden-Meißen Ordnung 2005 (Anm. 49) Nr. 4, Erfurt Statut 2004 (Anm. 51) 2.6, 3.4, Fulda Statut 2007 (Anm. 55) Art. 2 § 2 Abs. 14, Köln Ordnung (Anm. 59) 1998 § 9 Abs. 7, Limburg Statut Dekane 2005 (Anm. 60) § 4, Magdeburg Statut 2008 (Anm. 6) § 4 Abs. 1.5, Mainz Statut 1999 (Anm. 63) § 5 Abs. 7, Münster Dechantenstatut 2003 [Anm. 66] § 5 Abs. 4, Osnabrück Dechantenstatut 2009 (Anm. 68) § 2 Abs. 1a, Paderborn Statut 2006 (Anm. 69) Art. 2 § 2 Abs. 8, Regensburg Ordnung Dekanate 2005 (Anm. 71) 129

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Die wachsenden seelsorglichen Herausforderungen mögen – gerade auch in Anbetracht des Priestermangels – dazu verleiten, dass Mitbrüder den ihnen zustehenden Erholungsurlaub nicht (in vollem Umfang) nehmen. Dies kann sich auf längere Zeit negativ auf ihre Leistungsfähigkeit auswirken. So wird oft dem Dechanten aufgetragen, darauf zu achten bzw. dafür zu sorgen, dass die Priester ihren Urlaub nehmen können. Konkret bedeutet dies, auf die Organisation der Vertretungen untereinander zu achten.134 Gelegentlich kommt ihnen die Genehmigung des Urlaubs zu135, die Bestellung eines förmlichen Urlaubsvertreters mit allen Rechten und Pflichten – abgesehen von wenigen Tagen bis zu einer Woche – bleibt auch heute insgesamt die Ausnahme.136 Nur in drei Bistümern kommt dem Dechanten die Bestellung eines Pfarradministrators bei Vakanz zu.137 Art. 6 Abs. 4, Speyer Statut Dekane 1995 (Anm. 74) § 4 Abs. 7, Trier Ordnung 2004 (Anm. 75) § 4 Abs. 11, Würzburg Dekanestatut 1999 (Anm. 76) Art. 29. 132 Vgl. Augsburg Statut Dekane 2001 (Anm. 44) Art. 18 Abs. 2, Fulda Statut 2007 (Anm. 55) Art. 2 § 2 Abs. 15, Mainz Statut 1999 (Anm. 63) § 7 Abs. 5, Münster Dechantenstatut 2003 (Anm. 66) § 5 Abs. 4, Paderborn Statut 2006 (Anm. 69) Art. 2 § 2 Abs. 8, Regensburg Ordnung Dekanate 2005 (Anm. 71) Art. 10 Abs. 10 (durch Ausschuss der Dekanatskonferenz). 133 Vgl. Augsburg Statut Dekane 2001 (Anm. 44) Art. 18 Abs. 1, Bamberg Statut Dekane 2008 (Anm. 46) Art. 24 und 35, Dresden-Meißen Ordnung 2005 (Anm. 49) Nr. 4, Fulda Statut 2007 (Anm. 55) Art. 2 § 2 Abs. 15, Magdeburg Statut 2008 (Anm. 6) § 4 Abs. 1.5, Mainz Statut 1999 (Anm. 63) § 7 Abs. 5, Münster Dechantenstatut 2003 (Anm. 66) § 5 Abs. 4, Paderborn Statut 2006 (Anm. 69) Art. 2 § 2 Abs. 8, Regensburg Ordnung Dekanate (Anm. 71) Art. 10 Abs. 10, Trier Ordnung 2004 (Anm. 75) § 4 Abs. 11, Würzburg Dekanestatut 1999 (Anm. 76) Art. 29. 134 Vgl. Augsburg Statut Dekane 2001 (Anm. 44) Art. 12 Abs. 1, Bamberg Statut Dekane 2008 (Anm. 46) Art. 25, Berlin Statut 2003 (Anm. 48) V.3b, Dresden-Meißen Ordnung 2005 (Anm. 49) Nr. 4, Eichstätt Dekanatsstatut 2011 (Anm. 50) § 6 Abs. 8, Köln Ordnung 1998 (Anm. 59) § 9 Abs. 9, Magdeburg Statut 2008 (Anm. 6) § 4 Abs. 1.6, Mainz Statut 1999 (Anm. 63) § 5 Abs. 4, Münster Dechantenstatut 2003 [Anm. 66] § 5 Abs. 5, Osnabrück Dechantenstatut 2009 (Anm. 68) § 2 Abs. 1a, Paderborn Statut 2006 (Anm. 69) Art. 2 § 3 Abs. 4, Passau Statut 2010 (Anm. 70) III. 2, Regensburg Ordnung Dekanate 2005 [Anm. 71] Art. 7 Abs. 3 Ziff. 2, Rottenburg-Stuttgart Statut 2006 (Anm. 73) § 5 Abs. 7, Trier Ordnung 2004 (Anm. 75) § 4 Abs. 9, Würzburg Dekanestatut 1999 (Anm. 76) Art. 32. 135 Berlin: Sonderurlaub bis zu drei Tagen (Statut 2003 [Anm. 48] V.3b); Dresden-Meißen: unterhalb der Woche (Ordnung 2005 [Anm. 49] Nr. 4); Erfurt: bis zu einer Woche (Statut Erfurt 2004 [Anm. 51] 3.5); Freiburg: bis zu einer Woche (Statut Dekanate 2005 [Anm. 22] Art. 2 § 2 Abs. 20); Mainz: bis zu einer Woche (Statut 1999 [Anm. 63] § 5 Abs. 4). Damit dürfte jedoch auch die Befugnis verbunden sein, einen Vertreter zu bestellen. 136 Bamberg: bis zu einer Woche (Statut Dekane 2008 [Anm. 46] Art. 26); Hildesheim: ab drei Tagen (Dechantenstatut 2008 [Anm. 57] § 2 Abs. 1); Köln: ab einer Woche (wenn kein Kaplan vorhanden) (Ordnung 1998 [Anm. 59] § 13 Abs. 2); Limburg: Ernennung eines vicarius substitutus (Statut Bezirksdekane 2004 [Anm. 61] § 5 Abs. 4); Münster: Ernennung eines vicarius substitutus ab einer Woche (Dechantenstatut 2003 [Anm. 66] § 10 Abs. 3); Paderborn: Bestellung des Pfarrstellvertreters ab einer Woche (Statut 2006 [Anm. 69] Art. 2 § 3 Abs. 3); Regensburg: bis zu zwei Wochen im Rahmen des Jahresurlaubs (Ordnung Dekanate 2005 [Anm. 71] Art. 7 Abs. 3 Ziff. 1); Würzburg: Bestellung eines Vertreters bis zu einer Woche (Dekanestatut 1999 [Anm. 76] Art. 33).

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Obgleich der Codex Iuris Canonici zu Konferenzen des Bischofs mit den Dechanten schweigt, haben sich solche Dechantenkonferenzen in den deutschen Diözesen seit vielen Jahren bewährt.138 Das Direktorium für den Hirtendienst der Bischöfe bezeichnet diese im Blick auf den Bischof als „sinnvoll, … um die Probleme der Diözese zu behandeln und um in der erforderlichen Weise über die Situation der Pfarreien unterrichtet zu werden“139. Entsprechend sehen mehrere diözesane Ordnungen in der Regel zweimal im Jahr entsprechende Zusammenkünfte vor.140 Darüber hinaus gehört in mehreren Diözesen der Dechant als gewähltes Mitglied dem Priesterrat an.141 V. Fazit Auf der mittleren Ebene lässt sich in einer Reihe von Diözesen eine strukturelle Verschlankung erkennen, verbunden jedoch mit einer erhöhten Arbeitsbelastung für die Dechanten, die mehr denn je einer personellen Unterstützung durch Beauftragte für bestimmte Ressorts, aber auch im Sinne persönlicher Referenten bedürfen. Die Art der Bestellung des Dechanten erfährt in einigen Diözesen einen Wandel, entweder zu einer kanonischen Wahl oder zu einer freien Ernennung aufgrund von Vorschlägen, was dem Doppelcharakter der Stellung des Dechanten – mit unterschiedlicher Schwerpunktsetzung in den einzelnen Diözesen – entweder als Sprecher des Dekanates und der Mitarbeiter oder als Vertreters des Bischofs gerecht wird sowie dem Faktum einer sinkenden Zahl geeigneter Kandidaten. Insgesamt lassen die Modalitäten eine stärkere Einbeziehung der Laienmitarbeiter in der Pastoral erkennen. Die Dekanatskonferenz als zentrale „Dienstbesprechung“ erfährt gerade in Diözesen mit erheblich vergrößerten Dekanaten Ergänzung durch Zusammenkünfte der Sachund Dienstgruppen. – Auch künftig steht zu erwarten, dass seelsorgliche Herausforderungen sowie personelle Gegebenheiten und Desiderate weiterhin Auswirkungen auf die Organisationsstruktur der mittleren Ebene haben werden. 137

Vgl. Aachen Statut Regionen 2006 (Anm. 43), II.12, Köln Ordnung 1998 (Anm. 59) § 13 Abs. 1, Speyer Statut Dekane 1995 (Anm. 74) § 3 Abs. 9. In Münster schlägt der Dechant dem Generalvikariat einen Pfarradministrator vor (Dechantenstatut 2003 [Anm. 66] § 10 Abs. 3). 138 Vgl. Althaus, Dechant (Anm. 4), S. 41, S. 258 f. 139 Nr. 218. 140 So ausdrücklich in Bamberg (Statut Dekane 2008 [Anm. 46] Art. 50), Berlin (Statut 2003 [Anm. 48] V.1 f), Dresden-Meißen (Ordnung 2005 [Anm. 49] Nr. 4), Erfurt (Statut 2004 [Anm. 51] 1.3), Freiburg (Statut Dekanate 2005 [Anm. 22] § 14 Abs. 2), Fulda (Statut 2007 [Anm. 55] Art. 5), Limburg (Bezirksdekane gehören der Plenarkonferenz des Bischöflichen Ordinariates an: Statut Bezirksdekane 2004 [Anm. 61] § 4 Abs. 1), Magdeburg (Dekane sind Mitglieder des Bistumsrates: Statut 2008 [Anm. 6] § 4 Abs. 1.2), Mainz (Statut 1999 [Anm. 63] § 11; Geschäftsordnung für die Konferenz der Dekane vom 28. Januar 2007, in: Kirchliches Amtsblatt für die Diözese Mainz 2007, 83 – 84), München und Freising (Statut 2002 [Anm. 64] Art. 7 Abs. 1c), Münster (Dechantenstatut 2003 [Anm. 66] § 4), Paderborn (Statut 2006 [Anm. 69] Art. 5), Osnabrück (Dekanatsstatut 2009 [Anm. 68] § 2 Abs. 4), Regensburg (als Ausnahme gedacht: Ordnung Dekanate 2005 [Anm. 71] Art. 13), RottenburgStuttgart (Ordnung 2006 [Anm. 73] § 5 Abs. 2), Würzburg (Ordnung der Dekanekonferenz vom 8. November 1994, in: Würzburger Diözesanblatt 141 [1995], S. 14 – 15). 141 Siehe Anm. 80.

Die rechtliche Vertretung der Pfarrei durch den Pfarrer Kanonistische Erwägungen aufgrund gewandelter Verhältnisse Von Heribert Hallermann Im Zusammenhang mit den laufenden strukturellen Veränderungen der pfarrlichen Organisation in deutschsprachigen Diözesen1 wird – direkt oder indirekt, bewusst oder unbewusst, von „oben“ ebenso wie von „unten“ – die Aufgabe des Pfarrers als Leiter der ihm anvertrauten Pfarrei in Frage gestellt. Dabei fällt generell auf, dass die jeweils verwendete Begrifflichkeit in der Regel sehr unscharf ist.2 Diese Unschärfe gilt ebenso für den Begriff Seelsorge, der mitunter als Antinomie zum Begriff Leitung verwendet wird. In dieser Perspektive wäre Seelsorge das Eigentliche des Pfarrers, der in diesem Kontext dann gerne ebenso unscharf als Priester oder als Seelsorger bezeichnet wird. Und Leitung, oft eng geführt auf die Verantwortung für das Vermögen und die Gebäude der Pfarrei, für Gremien, Personal und Verwaltung3, wäre dabei das Belastende, von dem ein Priester – zumal in Zeiten des Priestermangels – möglichst entlastet werden sollte.4 Die Frage nach alternativen Möglichkeiten der Leitung einer Pfarrei wird oft unter dem Stichwort der Gemeindeleitung verhandelt5, ein Begriff, der aus mehreren Gründen für die hier zu untersuchende Frage un1 Vgl. hierzu Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Hrsg.), „Mehr als Strukturen … Entwicklungen und Perspektiven der pastoralen Neuordnung in den Diözesen (Arbeitshilfen 213), Bonn 2007; dass. (Hrsg.), „Mehr als Strukturen …“ Neuorientierung der Pastoral in den (Erz-)Diözesen. Ein Überblick (Arbeitshilfen 216), Bonn 2007, sowie Heribert Hallermann, Seelsorgliche Raumplanung als Teil der bischöflichen Hirtensorge, in: AfkKR 173 (2004), S. 384 – 408; ders., Die rechtliche Vereinigung von Pfarreien, Kirchengemeinden und Kirchenstiftungen, in: KuR 2005, S. 145 – 159; ders., Was ist eine „rechtlich selbstständig bleibende Pfarrei“? Kanonistische Anmerkungen zu laufenden strukturellen Veränderungen in deutschen Diözesen, in: AfkKR 176 (2007), S. 394 – 418; ders., Leitender Pfarrer oder leidender Pfarrer? Überlegungen zum Dienst des Pfarrers in einer Pfarreiengemeinschaft, in: Heribert Hallermann (Hrsg.), Menschendiener – Gottesdiener. Anstöße – Ermutigungen – Reflexionen, Würzburg 2010, S. 141 – 171. 2 Vgl. Arbeitshilfen 213 (Anm. 1), S. 84. 3 Vgl. ebd., S. 84 f. 4 Vgl. Hallermann, Leitender Pfarrer (Anm. 1), S. 144. 5 Vgl. z. B. Kurt Koch, Rückfragen zu „Zukunft der Gemeindeleitung“, in: Diakonia 32 (2001), S. 422 – 428; Paul M. Zulehner, Gemeindeleitung der Zukunft, in: LS 57 (2006), S. 105 – 109; Helmut Eder, Gemeindeleitungsmodelle mit Beteiligung Ehrenamtlicher in der

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tauglich ist: Weder ist der Begriff Gemeinde im Sinne des kirchlichen Verfassungsrechts definiert noch ist er mit dem Rechtsbegriff der Pfarrei identisch, und auch der in diesem Zusammenhang verwendete Begriff Leitung wird meist einfach vorausgesetzt, ohne weiter theologisch und rechtlich reflektiert zu werden.6 Im Zusammenhang solcher Diskussionen kann es auch vorkommen, dass die Frage nach der Leitung einer Pfarrei – ganz in den Kategorien des CIC/1917 – ausschließlich auf den Begriff und das Konzept der potestas reduziert wird.7 Sehr praktisch und mitunter nicht entsprechend theologisch und kanonistisch reflektiert stellt sich das Problem der Leitung und der rechtlichen Vertretung einer Pfarrei insbesondere in den Diözesen, in denen eine rechtliche Vereinigung mehrerer bisheriger Pfarreien zu einer neuen, größeren Pfarrei abgelehnt wird und stattdessen nach Maßgabe des c. 526 § 1 CIC/1983, 2. Teilsatz, mehrere benachbarte Pfarreien ein und demselben Pfarrer anvertraut werden. Dabei wird in der Regel behauptet, dass jede dieser Pfarreien rechtlich selbständig bleibt; als entscheidendes Kriterium gilt dabei das Fortbestehen der pfarrlichen Räte und Gremien.8 Um zwischen solchen Pfarreien, die gemeinsam ein und denselben Pfarrer haben, eine Zusammenarbeit zu erreichen, setzen die Diözesen in der Regel nicht auf die Fähigkeit des Pfarrers, die betreffenden Pfarreien zu einer größeren Gemeinschaft zusammenzuführen,9 sondern auf rechtlich verbindliche Vereinbarungen zwischen diesen Pfarreien, die in der Regel als Kooperationsvereinbarungen bezeichnet werden.10 Dabei stellt sich unter anderem die Frage, wer in so einem Fall mit wem eine rechtsverbindliche Kooperationsvereinbarung abschließen soll, wenn jede der kooperierenden Pfarreien ein und denselben Pfarrer hat. Tatsächlich wird aber bei solchen Vereinbarungen seitens der Diözesen größter Wert auf die – angeblich rechtsverbindlichen – Unterschriften von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, Pfarrgemeinderäten und Kirchenverwaltungen neben der des Pfarrers gelegt, und ohne die Zustimmung aller beteiligten Gruppen und Parteien kann eine solche Kooperationsvereinbarung auch nicht mehr abgeändert werden11, so dass sie selbst einen Nachfolger im Amt des Pfarrers Diözese Linz, in: ThPQ 157 (2009), S. 48 – 54; Michael Böhnke / Thomas Schüller (Hrsg.), Gemeindeleitung durch Laien? Internationale Erfahrungen und Erkenntnisse, Regensburg 2011. 6 Vgl. Heribert Hallermann, Art. Gemeindeleitung, II. Kath., in: LKStKR II, S. 30 – 32; ders., Art. Leitung, II. Kath., in: ebd., S. 727 – 729. 7 Vgl. etwa Andreas Rudiger, Können Laien Gemeinden leiten? Theologische Erwägungen zu pastoraler Vollmacht und kanonischer Sendung, in: FKTh 22 (2006), S. 161 – 185. 8 Vgl. Arbeitshilfen 213 (Anm. 1), S. 17. – Vgl. zu dieser Problematik ausführlich Hallermann, Was ist eine „rechtlich selbstständig bleibende Pfarrei“? (Anm. 1). 9 Ludwig Schick, Die Pfarrei, in: HdbKathKR2, S. 484 – 496, hier: S. 488, sieht in dieser Fähigkeit geradezu eine Kernkompetenz des kanonischen Pfarrers. 10 Vgl. Arbeitshilfen 213 (Anm. 1), S. 17. Vgl. auch Arbeitshilfen 216 (Anm. 1), z. B. S. 35, 77 oder 79. 11 Vgl. etwa für das Bistum Würzburg: Muster einer Kooperationsvereinbarung zur Gestaltung der Zusammenarbeit, in: http://www.pfarreiengemeinschaft.bistum-wuerzburg.de/ bwo/dcms/sites/bistum/pfarreien/pgs/regelungen.html (Zugriff: 03. 04. 2011).

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zu binden beansprucht. Zudem wird im Rahmen solcher Vereinbarungen etwa der Leiter der Hauptabteilung Seelsorge im Bischöflichen Ordinariat oder der Dekan als Schiedsinstanz mit weitgehenden Eingriffsrechten in den Amtsbereich des Pfarrers eingeführt.12 Solche Vorgaben und Regelungen lassen die Frage aufkommen, ob sich manche Diözese, trotz anders lautender Bekundungen13, in der Praxis nicht längst schon vom Pfarrer als dem Leiter der Pfarrei verabschiedet hat.14 Die Frage nach dem Pfarrer als dem Leiter der ihm anvertrauten Pfarrei ist aufgrund der gewandelten pastoralen Verhältnisse von hoher Aktualität, ohne dass damit einer falsch verstandenen Allein- oder Allzuständigkeit des Pfarrers15 das Wort geredet werden soll. Bei dieser Frage geht es auch nicht allgemein und undifferenziert um das Priesterbild16, sondern vielmehr spezifisch um das Kirchenamt17 des Pfarrers im Sinne des c. 145 CIC/1983, das um seiner Identität willen weder auf bestimmte Aspekte der Seelsorge reduziert noch durch Eingriffe von außen in seiner Kompetenz beschnitten werden darf. Die vorliegende kurze Studie geht die zu behandelnden Fragen kanonistisch an; das bedeutet vor allem, dass sie sich der geltenden Rechtsordnung der lateinischen Kirche verpflichtet weiß. Sie geht daher nicht von dem kanonistisch unbestimmten Begriff Gemeinde aus, sondern nimmt die Pfarrei in ihrer Qualität als öffentliche juristische Person zum Ausgangspunkt der folgenden Erwägungen. In diesem Zusammenhang muss darauf hingewiesen werden, dass der Bedeutungsgehalt des einschlägigen Fachbegriffs paroecia durch die Neukodifizierung einen tiefgreifenden Bedeutungswandel erfahren hat: Er bezeichnet nicht mehr, wie im CIC/1917, in erster Linie 12 Vgl. ebd., § 5, Nr. 1: „Sollten bei der Umsetzung dieser Vereinbarung Meinungsverschiedenheiten zwischen den Pfarrgemeinderäten und Kirchenverwaltungen oder zwischen dem Pfarrer bzw. dem Seelsorgeteam und den Pfarrgemeinderäten und Kirchenverwaltungen auftreten, so kann die beratende Unterstützung des Dekans und der Hauptabteilung II – Seelsorge / Gemeindeentwicklung beansprucht werden. Sollten sich auf diesem Wege die Unstimmigkeiten nicht beheben lassen, entscheidet der Bischof oder der von ihm dazu Bevollmächtigte (der Leiter der Hauptabteilung II – Seelsorge / der Dekan) nach Anhörung der Beteiligten, unbeschadet der Geltung von can. 1491 CIC im Falle wirklicher Rechtsstreitigkeiten.“ – Vgl. ähnlich Arbeitshilfen 216 (Anm. 1), S. 49. 13 Vgl. Hallermann, Leitender Pfarrer (Anm. 1), S. 141 – 144. 14 Vgl. demgegenüber Papst Johannes Paul II., Ansprache am 23. 11. 2001 bei der Audienz für die Teilnehmer an der Vollversammlung der Kongregation für den Klerus, in: OssRom (dt.) Nr. 50 vom 14. 12. 2001, S. 9: „Es wird deshalb notwendig sein, jede Form zu vermeiden, die de facto dahin tendiert, die Leitung des Pfarrers und Priesters zu untergraben, weil sonst die Physiognomie der Pfarrgemeinde entstellt wird.“ 15 Vgl. Sabine Demel, Handbuch Kirchenrecht. Grundbegriffe für Studium und Praxis, Freiburg / Basel / Wien 2010, S. 482 – 483. Auch nach Meinung von Mathias Wolf, Auf zwei Beinen stehen. Ein Zwischenruf zu den aktuellen Strukturveränderungen, in: AnzSS 4/2011, S. 34 f., hier: S. 34, soll bei den Strukturveränderungen alles darauf hinauslaufen, dass jede „(jetzt größere) Pfarrei wieder ihren eigenen Pfarrer [hat] und der hat auch wieder alle entscheidenden Fäden in der Hand.“ 16 Vgl. Hallermann, Leitender Pfarrer (Anm. 1), S. 143 f. 17 Vgl. Peter Erdö, Art. Amt, III. Kath., in: LKStKR I, S. 78 – 81.

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das Pfarramt und die Pfarrpfründe im Sinne des officium beneficiale18, sondern die als Teil der diözesanen portio populi Dei verfasste Personengemeinschaft mit ihrem zugehörigen Pfarrer als dem eigenen Hirten, die von Rechts wegen die öffentliche kirchliche Rechtspersönlichkeit besitzt.19 Aufgrund dessen und mit Rücksicht auf c. 118 CIC/1983, der für jede juristische Person die Notwendigkeit der Vertretung (representare) normiert, wird anstelle des oft unscharfen Begriffs Leitung der Begriff rechtliche Vertretung der Pfarrei verwendet, der dem italienischen kanonistischen Fachbegriff rappresentanza (giuridica) entspricht.20 I. Der Begriff und das Konzept der rechtlichen Vertretung Die rechtliche Vertretung einer anderen Person, die rechtssprachlich auch als Stellvertretung bezeichnet wird21, ist sowohl dem Begriff als auch dem Konzept nach nicht nur dem kirchlichen, sondern auch dem weltlichen Recht bekannt. Im Bürgerlichen Gesetzbuch der Bundesrepublik Deutschland beispielsweise wird diese Rechtsmaterie im fünften Titel des ersten Buches unter der Überschrift „Vertretung. Vollmacht“ in den §§ 164 – 181 BGB behandelt. Voraussetzung für eine rechtliche Vertretung ist, dass eine physische oder eine juristische Person nicht selbst und in eigenem Namen handeln kann oder will und deshalb einen Vertreter hat, der aufgrund einer entsprechenden Vertretungsmacht in fremdem Namen handelt und Willenserklärungen abgibt, die gemäß § 164 Abs. 1, Satz 1 BGB unmittelbar für und gegen die bzw. den Vertretenen wirken.22 Eine solche Vertretungsmacht, das heißt die Berechtigung zum Handeln nach außen im fremden Namen, kann sich entweder unmittelbar aus dem Gesetz herleiten und wird dann als gesetzliche Stellvertretung bezeichnet, oder sie wird durch ein Rechtsgeschäft im Sinne des § 167 BGB erteilt und dann gewillkürte Stellvertretung genannt. Der Umfang der Vertretungsmacht ergibt sich, je nachdem, aus dem betreffenden Gesetz selbst oder aus dem Rechtsgeschäft. Einen gesetzlichen Stellvertreter benötigen insbesondere Personen, die selbst nicht die volle Geschäftsfähigkeit besitzen, etwa weil sie minderjährig sind und deshalb durch ihre Eltern oder ihren Vormund vertreten werden, oder Personalgesellschaften, die durch den vertretungsberechtigten Gesellschafter handeln.23 18

Vgl. Rudolf Köstler, Wörterbuch zum Codex Iuris Canonici, München 1927, S. 252, sowie Klaus Mörsdorf, Die Rechtssprache des Codex Iuris Canonici. Eine kritische Untersuchung, Paderborn 1967 (unveränderter Nachdruck der Ausgabe 1937), S. 161 – 163. 19 Vgl. cc. 374 § 1 und 515 CIC/1983; vgl. auch Ochoa Index CIC, S. 330 f. 20 Vgl. Luigi Chiappetta, Dizionario del Nuovo Codice di Diritto Canonico, Napoli 21986, S. 894; dort wird auf die cc. 118, 393, 238 § 2, 532 und 543 § 2 n. 3 CIC/1983 verwiesen. 21 Vgl. etwa Art. Stellvertretung, in: Klaus Weber (Hrsg.), Rechtswörterbuch, begründet von Carl Creifelds, München 182004, S. 1235 – 1237, sowie den diesbezüglichen Rückverweis vom Lemma Vertretung, ebd., S. 1470. 22 Vgl. auch Art. Stellvertretung (Anm. 6), S. 1235. 23 Vgl. ebd., S. 1236.

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Das geltende Gesetzbuch der lateinischen Kirche verwendet für das Rechtsinstitut der rechtlichen Vertretung oder Stellvertretung ganz unterschiedliche Begriffe: So bleibt beispielsweise eine minderjährige physische Person gemäß c. 98 § 2 CIC/ 1983 „in der Ausübung ihrer Rechte der Gewalt der Eltern oder eines Vormunds unterstellt“ (in exercitio suorum iurium potestati obnoxia manet parentum vel tutorum), während die Leitung, das heißt die rechtliche Vertretung einer universitas rerum im Sinne des c. 115 § 3 CIC/1983 mit dem Verb moderare zum Ausdruck gebracht wird. Demgegenüber verwendet c. 118 CIC/1983 für die Vertretung einer juristischen Person das Verb repraesentare.24 Für die rechtsgeschäftliche Vertretung einer Pfarrei, die selbst gemäß c. 515 § 3 CIC/1983 als nichtkollegiale juristische Person konzipiert ist25, verwendet c. 532 CIC/1983 den Begriff personam gerere26, während die Leitung einer mit Vermögen ausgestatteten Person in c. 1279 § 1 CIC/1983 mit dem Verb regere zum Ausdruck gebracht wird. Unbeschadet der unterschiedlichen rechtssprachlichen Ausdrucksformen wird in den angeführten Beispielen stets vom Rechtsinstitut der Vertretung oder Stellvertretung gehandelt. Der CIC/1983 kennt sowohl die gesetzliche als auch die gewillkürte Stellvertretung. Um Fälle gesetzlicher Stellvertretung handelt es sich beispielsweise bei der Vertretung minderjähriger Kinder durch die eigenen Eltern oder durch einen Vormund im Sinne des c. 98 § 2 CIC/1983 oder bei der Vertretung solcher Personen, die dauerhaft des Vernunftgebrauchs entbehren.27 Gesetzliche Stellvertretung liegt auch vor, wenn es um die rechtliche Vertretung der Pfarrei durch den Pfarrer gemäß c. 532 CIC/1983 geht, um die Verwaltung von Kirchenvermögen im Sinne des c. 1279 § 2 CIC/1983 oder um jeden Fall einer Vertretung von juristischen Personen, wobei die Vertretungskompetenz entweder vom allgemeinen oder vom partikularen Recht oder auch von nachgeordneten Rechtsbestimmungen wie Satzungen und Statuten geregelt wird.28 Von gewillkürter Stellvertretung hingegen handelt der CIC/1983, wenn er die Möglichkeit einräumt, dass ein Verwaltungsakt auch durch einen Stellvertreter vollzogen29 oder ein Kirchenamt durch einen Stellvertreter übertragen werden kann.30 Auch die Eheschließung durch einen Stellvertreter im Sinne der cc. 1104 § 1 und 1105 CIC/1983 ist als ein Beispiel von gewillkürter Stellvertretung zu betrachten, wenngleich der kirchliche Gesetzgeber in c. 1105 CIC/1983 im 24

Vgl. auch cc. 631 § 1, 1419 § 2, 1480 §§ 1 und 2 CIC/1983. – Dem entspricht der italienische rechtssprachliche Begriff rappresentanza; vgl. Julio Garc†a Mart†n, Le norme generali del Codex Iuris Canonici, Roma 31999, S. 409. 25 Vgl. Helmuth Pree, c. 115, Rdnr. 5, in: MK CIC (Stand: Juni 2000). Vgl. auch Heribert Hallermann, Pfarrei und pfarrliche Seelsorge. Ein kirchenrechtliches Handbuch für Studium und Praxis, Paderborn / München / Wien / Zürich 2004, S. 142 – 146. 26 Vgl. auch cc. 238 § 2, 363 § 2, 393, 543 § 2 CIC/1983. 27 Vgl. c. 99 CIC/1983. – Vgl. auch Aymans-Mörsdorf KanR, 1. Bd., S. 285, sowie Helmuth Pree, c. 99, in: MK CIC (Stand: November 1995). 28 Vgl. hierzu auch Helmuth Pree, c. 118, in: MK CIC (Stand: Juni 2000). 29 Vgl. c. 43 CIC/1983. 30 Vgl. c. 155 CIC/1983.

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Hinblick auf deren Gültigkeit sehr klare Vorgaben für die Form des Vertretungsauftrags und für dessen Ausführung macht. Für die rechtliche Stellvertretung gilt als notwendige Voraussetzung, dass die zu vertretende Person volle Rechtsfähigkeit besitzt und somit eigenständige Trägerin von Pflichten und Rechten in der kirchlichen Rechtsordnung ist, die ihrer Eigenart entsprechen; dies gilt in gleicher Weise für physische wie auch für juristische Personen.31 Vor diesem Hintergrund regelt der c. 118 CIC/1983 die Handlungsfähigkeit der betreffenden Person, das heißt, er „ordnet nur an, wer für die juristische Person handlungsbefugt und nach welcher Rechtsgrundlage dies zu bestimmen ist“32. Dabei ist, allerdings nur bei der juristischen Person, zu unterscheiden zwischen dem Handeln im Inneren einer juristischen Person wie z. B. der Willensbildung einerseits und dem Handeln mit Außenwirkung gegenüber Dritten andererseits. Die Handlungsfähigkeit für den Innenbereich einerseits und die für den Außenbereich andererseits kann bei juristischen Personen auf verschiedene Organe verteilt sein; bei rechtlichen Vertretern physischer Personen, die selbst uneingeschränkt handlungsfähig sind, ergibt sich diese Unterscheidung aus der Natur der Sache heraus. In jedem Fall gilt aber, dass die nach außen gerichtete Handlungsmacht stets an den rechtmäßig gebildeten Willen der vertretenen Person gebunden ist.33 Der Vertreter bzw. das Vertretungsorgan einer Person kann entweder von dieser verschieden sein oder er bzw. es kann auch Teil der zu vertretenden juristischen Person sein und dieser selbst angehören wie etwa der Diözesanbischof der Diözese oder der Pfarrer der ihm anvertrauten Pfarrei.34 Gemäß dem Wortlaut des c. 118 CIC sollen die Vertretungsorgane öffentlicher juristischer Personen35 in der Kirche primär durch universales oder partikulares Gesetz bestimmt werden36 ; für öffentliche juristische Personen in der Kirche jedoch, die ihre Rechtspersönlichkeit gemäß c. 116 § 2 CIC/1983 ex ipso iuris praescriptio erhalten, wie dies etwa gemäß c. 515 § 3 CIC/1983 für die Pfarrei gilt, wird die Vertretung durch dasselbe Gesetz geregelt, welches das Rechtsinstitut als solches begründet, und nicht etwa untergeordneten Rechtsbestimmungen überlassen. Wenn diese Regelung durch universalkirchliches Recht erfolgt ist, dann hat das unter anderem gemäß c. 135 § 2 CIC/1983 zur Folge, dass ein untergeordneter Gesetzgeber wie etwa eine Bischofskonferenz oder ein Diözesanbischof gültig keine davon abweichende Ver31

Vgl. c. 113 § 2 CIC/1983. – Vgl. auch Aymans-Mörsdorf KanR, 1. Bd., S. 283 f.; Garc†a Mart†n, Le norme generali (Anm. 24), S.387 f., sowie Helmuth Pree, c. 113, Rdnr. 5, in: MK CIC (Stand: Juni 2000). 32 Pree, c. 118 (Anm. 28), Rdnr. 2. 33 Vgl. ebd. sowie Aymans-Mörsdorf KanR, 1. Bd., S. 285. 34 Vgl. cc. 391 § 1 und 393 i.V.m. c. 369 CIC/1983; vgl. c. 515 § 1 i.V.m. c. 532 CIC/1983. – Vgl. auch Pree, c. 118 (Anm. 28), Rdnr. 3. 35 Zum Unterschied zwischen privaten und öffentlichen juristischen Personen in der Kirche vgl. Helmuth Pree, Art. Juristische Person, kirchliche. II. Kath., in: LKStKR II, S. 359 – 362. 36 Vgl. Garc†a Mart†n, Le norme generali (Anm. 24), S. 409 f.

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tretungsregelung festlegen kann, indem etwa andere oder zusätzliche Vertretungsorgane bestimmt werden.37 Der Umfang der Vertretungsmacht wird regelmäßig durch dieselben Rechtsgrundlagen festgelegt, in denen das Vertretungsorgan bestimmt wird, das entweder eine Einzelperson oder aber ein Kollegialorgan sein kann. Wenn die Organstellung aus einem spezifischen Kirchenamt herrührt wie etwa dem des Diözesanbischofs oder dem des Pfarrers, dann handelt es sich dabei um amtliche Vertretungsorgane mit allgemeiner, das heißt mit umfassender Vertretungsbefugnis, die nicht auf einzelne Arten von Rechtsgeschäften wie etwa die Vermögensverwaltung eingeschränkt ist.38 Dem entsprechend legt c. 393 CIC/1983 die Vertretungsmacht des Diözesanbischofs mit den Worten fest: „In omnibus negotiis iuridicis dioecesis, Episcopus dioecesanus eiusdem personam gerit.“ Und im selben Sinne formuliert c. 532 CIC/1983 für den Pfarrer einer Pfarrei: „In omnibus negotiis iuridicis parochus personam gerit paroeciae, ad normam iuris.“39 Diese jeweils umfassende Vertretungsmacht schließt aber keinesfalls aus, dass von Rechts wegen für bestimmte, sachlich abgegrenzte Bereiche und Aufgaben wie etwa für die Vermögensverwaltung eigene Vertretungsorgane bestehen können.40 Zu beachten ist auch, dass die in c. 532 CIC/1983 verwendete Wendung ad normam iuris unter anderem auf etwaige Mitwirkungs- und Beispruchsrechte Dritter verweist41 und dass auf diese Weise die umfassende Vertretungsmacht des Pfarrers eingebunden und rückgebunden wird in bzw. an die gesamte communitas paroeciae. II. Der Normgehalt des c. 532 CIC/1983 Die rechtliche Vertretung der Pfarrei ist in c. 532 CIC/1983 von Rechts wegen so geregelt, dass sie durch den Pfarrer erfolgt.42 Dasselbe universalkirchliche Recht, das in c. 515 § 3 CIC/1983 jeder rechtmäßig errichteten Pfarrei ipso iure die kirchliche Rechtspersönlichkeit zuspricht, die aufgrund der hoheitlichen Errichtung gemäß c. 116 CIC/1983 als öffentliche Rechtspersönlichkeit in der Kirche bestimmt werden 37

Vgl. Pree, c. 118 (Anm. 28), Rdnr. 4. Vgl. ebd., Rdnr. 5. 39 Der beigefügte 2. Halbsatz „curet ut bona paroeciae administrentur ad normam cann. 1281 – 1288.“ darf nicht im Sinne einer Einschränkung der Vertretungsmacht des Pfarrers auf vermögensrechtliche Geschäfte missverstanden werden. Vgl. ebd. sowie Hallermann, Pfarrei (Anm. 25), S. 308 – 310. 40 Insofern kann aus der umfassenden Vertretungsmacht des Pfarrers nicht eine Alleinoder Allzuständigkeit gefolgert werden. Vgl. hierzu weiter oben Anm. 5. 41 Vgl. Hallermann, Pfarrei (Anm. 25), S. 309. 42 Im Fall der solidarischen Leitung einer Pfarrei durch ein Priesterteam gemäß c. 517 § 1 i.V.m. cc. 542 – 544 CIC/1983 fällt diese Vertretungsaufgabe gemäß c. 543 § 2, n. 3 CIC/1983 dem jeweiligen Moderator zu. Vgl. zur Teampfarrei Hallermann, Pfarrei (Anm. 25), S. 114 – 124. – Im Folgenden wird auf diesen Fall nicht im Einzelnen eingegangen, weil für den Moderator in einer Teampfarrei bezüglich der rechtlichen Vertretung dasselbe gilt wie für den Pfarrer. 38

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muss43, weist in c. 532 CIC/1983 dem jeweiligen Pfarrer kraft seines Kirchenamtes die rechtliche Vertretung der Pfarrei zu: „In omnibus negotiis iuridicis parochus personam gerit paroeciae.“ Aus dieser universalkirchlichen Regelung ergibt sich als eine erste Konsequenz, dass im Hinblick auf die rechtliche Vertretung der Pfarrei kein untergeordneter Gesetzgeber, also weder eine Bischofskonferenz noch ein Diözesanbischof, gültig ein Gesetz erlassen kann, das dieser universalkirchlichen Norm widerspricht.44 A fortiori gilt dies auch für alle Arten von Regelungen, die dem partikularkirchlichen Gesetz nachgeordnet sind und bzw. oder nicht vom Diözesanbischof als dem diözesanen Gesetzgeber45, sondern von nachgeordneten Personen oder Stellen erlassen werden. Im Vergleich zum CIC/1917 stellt der c. 532 CIC/1983 eine neue Norm dar, die erstmals in der neunten Sitzung der Arbeitsgruppe De Sacra Hierarchia formuliert worden ist46 ; dem entsprechend wurde der numerischen Bezeichnung des Canons bis hin zum Schema Canonum Libri II De Populo Dei von 1977 in Klammern der erläuternde Hinweis novus beigefügt.47 Mit dieser erläuternden Beifügung wird, wie der Vergleich zu anderen Canones während der Revisionsarbeit zeigt, zum Ausdruck gebracht, dass die betreffende Norm im CIC/1917 keine Entsprechung findet. Aus den in Communicationes veröffentlichten Akten ergibt sich kein expliziter Hinweis darauf, warum der spätere c. 532 CIC/1983 in die Normen über die Pfarrei und den Pfarrer neu aufgenommen wurde. Eine sachliche Notwendigkeit für diese Norm ergibt sich aber aus der Tatsache, dass die Pfarrei als certa communitas christifidelium in Ecclesia particulari stabiliter constituta im geltenden CIC/1983 von Rechts wegen als persona iuridica publica definiert ist48, die wie jede andere öffentliche juristische Person in der Kirche gemäß c. 118 CIC/1983 eines rechtlichen Vertreters bedarf, der vorrangig durch allgemeines oder partikulares Gesetz bestimmt werden muss. Insofern stellt c. 532 CIC/1983 im Hinblick auf die Pfarrei die erforderliche Spezialnorm zu c. 118 CIC/1983 dar. Auch bei der ersten Diskussion über die zu erarbeitenden Normen zur Pfarrei und zum Pfarrer in der achten Sitzung der zuständigen Arbeitsgruppe De Sacra Hierarchia wurde – zumindest implizit – ein solcher Zusammenhang hergestellt, wenn auf Vorschlag eines Konsultors zunächst die pa43 Vgl. Francesco Coccopalmerio, La Parrocchia. Tra Concilio Vaticano II e Codice di Diritto Canonico, Cinisello Balsamo 2000, S. 56 und 71; Schick, Die Pfarrei (Anm. 9), S. 490; Hallermann, Pfarrei (Anm. 25), S. 142 – 146, sowie John Anthony Renken, The Parochus as Administrator of Parish Property, in: StCan 43 (2009), S. 487 – 520, hier S. 490 f. 44 Vgl. c. 135 § 2 CIC/1983, 2. Teilsatz: „… a legislatore inferiore lex iuri superiori contraria valide ferri nequit.“ 45 Vgl. c. 391 § 2 CIC/1983. Vgl. auch Myriam Wijlens, Art. Gesetzgeber, II. Kath., in: LKStKR II, S. 118 – 120, hier S. 119. 46 Vgl. Communicationes 24 (1992), S. 153 und 174. Vgl. auch Hallermann, Pfarrei (Anm. 25), S. 308. 47 Vgl. Communicationes 24 (1992), S. 153, 174, 238; ebd. 25 (1993), S. 191, 206; Pontificia Commissio Codici Iuris Canonici Recognoscendo, Schema Canonum Libri II De Populo Dei (Reservatum), Typis Polyglottis Vaticanis 1977, S. 140. 48 Vgl. c. 515 §§ 1 und 3 CIC/1983. Vgl. auch Hallermann, Pfarrei (Anm. 25), S. 308.

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roecia definiert und anschließend deren rechtliche Vertretung behandelt werden sollte.49 Die rechtliche Vertretung der Pfarrei wurde dabei mit der Wendung paroeciam gerere zum Ausdruck gebracht, die seit der ersten Formulierung des neuen Canons in der neunten Sitzung und seitdem unverändert bis zu c. 532 CIC/1983 mit der präziseren Wendung personam gerere paroeciae zum Ausdruck gebracht wird.50 Die ursprüngliche und sehr knappe Formulierung des heutigen c. 532 CIC/198351 hat im Lauf der Redaktionsgeschichte nur wenige Änderungen und Ergänzungen erfahren: In der zehnten Sitzung der Arbeitsgruppe wurde gewünscht, dass im Hinblick auf die Beifügung aut curae pastoralis moderator klargestellt werden müsse, dass es nur ein Priester sein könne, dem die cura pastoralis anvertraut wird, und dass deswegen auch nur ein Priester die Pfarrei im rechtlichen Sinne vertreten oder repräsentieren könne.52 Für die Mitglieder der Arbeitsgruppe war offenkundig unstrittig, dass es einen notwendigen Zusammenhang zwischen der Verantwortung für die cura pastoralis einerseits und der rechtlichen Vertretung der Pfarrei andererseits gibt. Auch wenn in dieser Sache kein Dissens bestand, blieb der damalige c. 20 (novus) gemäß dem Verzeichnis der Schemata probata in Xa Sessione Coetus zunächst unverändert.53 In der siebzehnten Sitzung der Arbeitsgruppe wurde gewünscht, dass im Hinblick auf die rechtliche Vertretung der Pfarrei ein einschränkender Hinweis auf den c. 1526 CIC/191754 eingefügt werden sollte, damit sich der Pfarrer nicht ohne Erlaubnis des eigenen Diözesanbischofs in weltliche Rechtsgeschäfte einmischt. Im Zusammenhang der folgenden Diskussion wurde festgehalten, dass die Wendung in omnibus negotiis iuridicis im Sinne von in omnibus negotiis canonicis zu verstehen sei, das heißt, dass alle kanonisch bestimmten und geforderten Aufgaben und Handlungen der Pfarrei und nur diese von diesem Vertretungsauftrag umfasst werden. Als Ergebnis der Diskussion wurde dem Canon die Wendung ad normam iuris beigefügt, die entsprechend einer in Klammern beigefügten Erläuterung zum Ausdruck bringen sollte, dass die rechtliche Vertretung der Pfarrei ad normam praescriptorum totius CIC, also unter Beachtung aller kanonischen Vorschriften zu leisten sei.55 Gemäß

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Vgl. Communicationes 24 (1992), S. 109: „… prius definiatur paroecia, deinde vero agatur de modo gerendi paroeciam: geri nempe debet a parocho cum adiuctoribus, qui non sunt pastores proprii.“ 50 Vgl. Anm. 32. – Vgl. auch Karl Ernst Georges, Ausführliches lateinisch-deutsches Handwörterbuch, unveränderter Nachdruck der 8., verbesserten und vermehrten Auflage von Heinrich Georges, 2. Bd., Darmstadt 1995, Sp. 1642, der als Beispiel des klassischen Lateins die Wendung personam civitatis gerere im Sinne von „den Staat repräsentieren“ anführt. 51 Vgl. Communicationes 24 (1992), S. 153 und 174: „In omnibus negotiis iuridicis parochus, aut curae pastoralis moderator, personam gerit paroeciae.“ 52 Vgl. ebd., S. 207. 53 Vgl. ebd., S. 238. 54 Dieser findet seine sachliche Entsprechung im c. 1288 CIC/1983. 55 Vgl. Communicationes 25 (1993), S. 191 f. – Vgl. Heribert Heinemann, Der Pfarrer, in: HdbKathKR2, S. 496 – 514, hier: S. 503, sowie Reinhild Ahlers, c. 532, Rdnr. 3 und 4, in: MK CIC (Stand: Februar 2009), die mit ihren Beispielen und erläuternden Hinweisen viel enger

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der Zusammenstellung der Canones probati in XVII Coetus Sessione de Paroeciis et de Parochis wurde die nach nunmehriger Zählung als c. 19 (novus) bezeichnete Norm um einen weiteren Hinweis auf die Sorge des Pfarrers um die gute Vermögensverwaltung der Pfarrei ergänzt, ohne dass sich aus den veröffentlichten Akten ein Hinweis auf den Grund für diese Ergänzung ergibt.56 Im c. 366 (novus) des Schema von 1977 wurde an dieser Stelle der Hinweis auf den moderator curae pastoralis gestrichen und in den Sachzusammenhang der Teampfarrei in den damaligen c. 375 § 3 eingefügt57, so dass der Wortlaut des heutigen c. 532 CIC/1983 bis auf die Zählung der vermögensrechtlichen Bestimmungen seitdem unverändert blieb. Aufgrund der Exegese des c. 532 CIC/1983, deren Ergebnis durch die Redaktionsgeschichte gestützt wird, ergibt sich hinsichtlich des diesbezüglichen Normgehalts der folgende Befund: Der c. 532 CIC/1983 handelt von der rechtlichen Vertretung der Pfarrei. Die Pfarrei ist im Sinne ihrer Legaldefinition in c. 515 § 1 CIC/1983 als eine bestimmte Gemeinschaft von Personen zu verstehen, deren Hirtensorge einem Pfarrer als ihrem eigenen Hirten anvertraut ist. Die Pfarrei besitzt von Rechts wegen öffentliche Rechtspersönlichkeit in der Kirche und bedarf gemäß c. 118 CIC/ 1983 im Hinblick auf ihre Handlungsfähigkeit eines rechtlichen Vertreters, in diesem Fall des Pfarrers. Der Begriff des parochus ist im Sinne des c. 519 CIC/1983 zu verstehen. Die Aufgabe der rechtlichen Vertretung bezieht sich auf alle kanonischen Belange, das heißt auf alle Aufgaben, Handlungen, Rechte und Pflichten, die der Pfarrei nach kanonischem Recht zukommen. Vor diesem Hintergrund ist der zweite Teilsatz mit dem Hinweis auf die Sorge für die rechte Vermögensverwaltung gemäß cc. 1281 – 1288 CIC/1983 nicht als eine Einschränkung der Vertretungsmacht des Pfarrers auf den Bereich der Vermögensverwaltung zu verstehen. Vielmehr wird vorausgesetzt, dass der Pfarrer gemäß c. 1279 § 1 CIC/1983 für den Regelfall auch Verwalter des pfarrlichen Vermögens und diesbezüglich an die spezifischen Normen der cc. 1281 – 1285 CIC/1983 gebunden ist.58 Während die im ersten Teilsatz normierte rechtliche Vertretung der Pfarrei durch den Pfarrer aber absolut gilt, besitzt der Aufgabenbereich der pfarrlichen Vermögensverwaltung nur eine relative Geltung59 und kann von daher nach dem Wortlaut von c. 1279 § 1 CIC/1983 auch rechtmäßig vom Kirchenamt des Pfarrers und der ihm übertragenen cura pastoralis getrennt sein. Nach dem Konzept des CIC/1983 sind jedoch die pfarrliche Hirtensorge60 einerseits

greifen, als dies der Intention des Gesetzgebers entspricht und damit eher am Konzept der paroecia im Sinne des CIC/1917 orientiert bleiben. Vgl. hierzu weiter oben Anm. 16. 56 Vgl. Communicationes 25 (1993), S. 206: „In omnibus negotiis iuridicis parochus, aut curae pastoralis moderator, personam gerit paroeciae, ad normam iuris; curet ut bona paroeciae administrentur ad normam cann …“ 57 Vgl. Schema Canonum Libri II (Anm. 32), S. 140 und 144. 58 Vgl. Reinhild Ahlers, c. 532, Rdnr. 5 (Anm. 40). 59 Vgl. Aymans-Mörsdorf, KanR, 2. Bd., S. 433 f. 60 Vgl. Heribert Hallermann, Art. Hirtendienst, in: LKStKR II, S. 245 f.

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und die rechtliche Vertretung der Pfarrei andererseits nicht voneinander zu trennen; beide fallen im Kirchenamt des Pfarrers zusammen.61 III. Konsequenzen aus dem Konzept der rechtlichen Vertretung der Pfarrei Aus dem grundlegenden Verständnis der Pfarrei als nichtkollegiale Personengesamtheit oder Körperschaft62 und dem Konzept der rechtlichen Vertretung der Pfarrei durch den Pfarrer ergeben sich Konsequenzen, die mit dem – vor allem nicht näher bestimmten – Begriff Leitung nicht ohne weiteres gefasst und die im Rahmen dieser Studie nur stichwortartig angedeutet werden können: 1. Der Pfarrer als Teil der Pfarrei Das Kirchenamt des Pfarrers gehört nicht nur auf einer allgemein-abstrakten Ebene begrifflich zur Pfarrei, sondern ist mit der rechtmäßigen Errichtung einer jeden Pfarrei von Rechts wegen gegeben und für deren Funktion unabdingbar.63 Von daher gilt, dass eine „Pfarrei“ ohne Pfarrer, das heißt ohne dass in ihr das Kirchenamt des Pfarrers eingerichtet und, mit Ausnahme legitimer Vakanzzeiten, auch besetzt ist, keine Pfarrei im kanonischen Sinne ist.64 Das Amt des Pfarrers ist konstitutiv für die Pfarrei.65 Es gibt also im kanonischen Sinn weder eine Pfarrei ohne Pfarrer noch einen Pfarrer ohne Pfarrei.66 Diese notwendige Zu- und Einordnung des Pfarrers zur bzw. in die Pfarrei hängt eng mit dem Grundverständnis der Pfarrei als juristische Person im Sinne einer nichtkollegialen Personengemeinschaft67 zusammen, die zu ihrer Handlungsfähigkeit notwendig des Pfarrers als des gesetzmäßigen rechtlichen Vertreters bedarf.68 61

Vgl. Coccopalmerio, La Parrocchia (Anm. 43), S. 68 f. Vgl. Schick, Die Pfarrei (Anm. 9), S. 490, sowie Renken, The Parochus (Anm. 43), S. 490. 63 Vgl. Aymans-Mörsdorf, KanR, 2. Bd., S. 415. – Schick, Die Pfarrei (Anm. 9), S. 488 bezeichnet von daher zutreffend das Kirchenamt des Pfarrers als Grundamt. In der Bezeichnung des Pfarrers als „Vorsteher der Pfarrei“, wie sie Heinemann, Der Pfarrer (Anm. 53), S. 497 verwendet, kommt diese notwendige Beziehung nicht in derselben Weise zum Ausdruck. 64 Vgl. demgegenüber die problematische Rede von der „rechtlich selbständig bleibenden Pfarrei“. Vgl. hierzu Hallermann, Was ist eine „rechtlich selbstständig bleibende Pfarrei“? (Anm. 1), S. 401 – 413. 65 Vgl. Aymans-Mörsdorf, KanR, 2. Bd., S. 417. 66 Die großzügige Verleihung des „persönlichen Titels“ Pfarrer in manchen Diözesen an Priester, die eben nicht Pfarrer im Sinne des c. 519 CIC/1983 sind, muss von daher sehr kritisch betrachtet werden. 67 Vgl. Schick, Die Pfarrei (Anm. 9), S. 490. 68 Vgl. cc. 118 und 532 CIC/1983. – Vgl. Hallermann, Was ist eine „rechtlich selbstständig bleibende Pfarrei“? (Anm. 1), S. 413. 62

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Heribert Hallermann

Dabei steht der Pfarrer nicht über der Pfarrei und auch nicht der Pfarrei gegenüber, sondern er steht mitten in der Pfarrei und kann nur in der Mitte aller Gläubigen, welche gemäß c. 515 § 1 CIC/1983 gemeinsam mit ihrem eigenen Hirten in einer Teilkirche eine Pfarrei bilden, seinen spezifischen Dienst ausüben.69 Im Unterschied zu c. 100 § 3 CIC/1917, der jede moralische, das heißt juristische Person in der Kirche70 Minderjährigen gleichgestellt und sie von daher gemäß c. 89 CIC/1917 einem Vormund (tutor) unterstellt hatte, kennt der geltende CIC diese vormundschaftliche Unterordnung der juristischen Person nicht mehr; dieser wird vielmehr ausdrücklich die Rechtssubjektivität zugesprochen, d. h., dass jede juristische Person in der Kirche eigenständige Trägerin von kanonischen Pflichten und Rechten ist, die ihrer jeweiligen Eigenart entsprechen.71 Damit aber die Pfarrei die ihr zukommenden Pflichten und Rechte im Sinne der Handlungsfähigkeit tatsächlich verwirklichen kann, bedarf sie des Pfarrers als ihres gesetzmäßigen rechtlichen Vertreters.72 Diese gegenseitige Zuordnung und Verwiesenheit zwischen Pfarrei und Pfarrer wird auch erkennbar in den Aufgabenbereichen, die mit dem Kirchenamt des Pfarrers verbunden sind und die funktional nach den drei Diensten des Heiligens, des Lehrens und des Leitens unterschieden werden können. Zwar gilt gemäß c. 150 i. V. m. c. 521 CIC/1983, dass das Amt des Pfarrers als ein Amt mit umfassender Seelsorge oder Hirtensorge gültig nur einem Priester übertragen werden kann, der zudem die erforderliche kanonische Eignung besitzen muss; jedoch müssen in diesem Zusammenhang auch die cc. 519 und 528 – 529 CIC/1983 beachtet werden, die jeweils auf ihre Weise deutlich machen, dass die pfarrliche Hirtensorge nur im Zusammenwirken (cooperatio) zwischen dem Pfarrer, den der Pfarrei zugehörigen Gläubigen und weiteren Amtsträgern verwirklicht werden kann.73 Der Pfarrer soll nämlich „alle Gemeindeglieder fähig machen, ihre eigenen Aufgaben in der Pfarrei wahrzunehmen. … Er soll die Pfarrei zu einer lebendigen und wirksamen Gemeinschaft formen, in der die Kirche am Ort lebt und wirkt“74.

69 Die Rede vom Pfarrer als dem „geistlichen Haupt der Pfarrfamilie“ – vgl. AymansMörsdorf, KanR, 2. Bd., S. 415 – oder als paterfamilias der Pfarrfamilie – vgl. hierzu kritisch Hallermann, Leitender Pfarrer (Anm. 1), S. 144 – 148, – verdunkelt diese grundlegende Zuordnung zwischen Pfarrer und Pfarrei. 70 Vgl. Pree, c. 113, Rdnr. 4 (Anm. 31). 71 Vgl. c. 113 § 2 CIC/1983. Vgl. auch Pree, c. 113, Rdnr. 2 (Anm. 31). 72 Coccopalmerio, La Parrocchia (Anm. 43), S. 39 – 73 entwickelt vor diesem Hintergrund das Konzept von der Pfarrei als einem einheitlich handelnden Rechtssubjekt. Vgl. hierzu auch Hallermann, Pfarrei (Anm. 25), S. 142 – 146. 73 Vgl. Hallermann, Pfarrei (Anm. 25), S. 268 – 275, sowie Thomas Meckel, Die Herde am Laufen halten. Lebendige Hirtensorge mit dem Kirchenrecht, in: Hallermann, Menschendiener – Gottesdiener (Anm. 1), S. 181 – 211. 74 Schick, Die Pfarrei (Anm. 9), S. 488. – Im selben Sinn kann auch Demel, Handbuch Kirchenrecht (Anm. 15), S. 482 verstanden werden.

Die rechtliche Vertretung der Pfarrei durch den Pfarrer

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2. Die umfassende Vertretungsbefugnis des Pfarrers Mit dem Kirchenamt des Pfarrers ist eine allgemeine und umfassende Befugnis zur rechtlichen Vertretung der Pfarrei verbunden, die keinesfalls auf vermögensrechtliche oder verwaltungsrechtliche Rechtsgeschäfte beschränkt werden kann.75 Der c. 532 CIC, der die Vertretungsbefugnis des Pfarrers ausdrücklich regelt, will dies mit der Wendung in omnibus negotiis iuridicis zum Ausdruck bringen. Die Möglichkeit eines Missverständnisses dieser Ausdrucksweise war bereits während der Redaktionsarbeit zum Ausdruck gekommen, als in der Arbeitsgruppe klargestellt wurde, dass damit alle kanonisch bestimmten und geforderten Aufgaben und Handlungen der Pfarrei und nur diese vom gesetzlichen Vertretungsauftrag des Pfarrers umfasst werden sollen.76 Aus der Verbindung zwischen dem Pfarramt mit dem wesentlichen Inhalt der cura pastoralis einerseits und der Pfarrei mit dem umfassenden Auftrag andererseits, in cooperatio mit dem zuständigen Pfarrer die pfarrliche Hirtensorge in toto und nicht nur in einzelnen, beliebig festgelegten Aufgabenbereichen zu verwirklichen77, ergibt sich, dass sich der Umfang der Vertretungsbefugnis des Pfarrers zwingend aus der kanonischen Normierung des Pfarramtes ergibt. Dieses ist, wie c. 519 CIC/1983 deutlich macht, nicht auf die Vermögensverwaltung und andere Verwaltungsaufgaben, sondern primär auf die Verwirklichung der umfassenden pfarrlichen Hirtensorge in Zusammenarbeit mit anderen Gläubigen ausgerichtet.78 Jede Einschränkung dieses Handlungs- und Vertretungsspektrums etwa durch so genannte Kooperationsvereinbarungen oder durch den Eingriff Dritter wie etwa eines Dekans oder einer Abteilung des Ordinariats79 stellt demgegenüber eine Beeinträchtigung des Pfarramtes und somit der geltenden universalkirchlichen Rechtsordnung dar. 3. Die Willensbildung im Innenbereich der Pfarrei Weil die pfarrliche Hirtensorge nur im Zusammenwirken zwischen den pfarrangehörigen Gläubigen, dem Pfarrer sowie den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Pfarrers verwirklicht werden kann80, kommt innerhalb des gesamten Aufgabenspektrums der rechtlichen Vertretung der Pfarrei und somit der Sicherstellung ihrer Handlungsfähigkeit der Willensbildung im Innenbereich eine ganz besondere Bedeutung zu: Immerhin besteht die grundlegende Aufgabe des Pfarrers nicht darin, die Pfarrei umfassend mit Heilsmitteln und pastoralen Dienstleistungen zu versorgen, sondern 75

Vgl. Pree, c. 118 (Anm. 28), Rdnr. 5. Vgl. Communicationes 25 (1993), S. 19: „… quia per expressionem ,in omnibus negotiis iuridicisÐ subintellegitur ,in omnibus negotiis canonicisÐ.“ 77 Vgl. cc. 528 – 529 CIC/1983. – Vgl. dem gegenüber die Aussage, dass nicht jede Pfarrei alles machen muss, in: Arbeitshilfen 216 (Anm. 1), z. B. S. 28. 78 Vgl. Renken, The Parochus (Anm. 43), S. 490. 79 Vgl. weiter oben Anm. 8, 9 und 10. 80 Vgl. Hallermann, Pfarrei (Anm. 25), S. 142 – 146, sowie Meckel, Die Herde am Laufen halten (Anm. 71), S. 181 – 187. 76

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darin, alle Glieder der Pfarrei zu befähigen und zu motivieren, dass sie ihre je eigenen Aufgaben leisten und so die Sendung verwirklichen, die ihnen kraft der Taufe als Hauptsubjekten in der Kirche zukommt.81 Der Begriff Willensbildung darf in diesem Zusammenhang nicht auf den üblicherweise verwendeten Begriffsinhalt der demokratischen Willensbildung etwa durch Abstimmungen reduziert werden, so, als ob der Pfarrer für die rechtliche Vertretung auf ein zustimmendes Votum der Pfarrangehörigen angewiesen wäre; es geht vielmehr um die Bildung des Willens aller Glieder der Pfarrei, im Sinne des c. 519 CIC/1983 ihren je eigenen aktiven Anteil dazu beizutragen, dass die Pfarrei ihren gesetzlichen Auftrag in umfassender Weise verwirklichen kann. Insofern werden von diesem weiter zu verstehenden Begriff Willensbildung unter anderem auch katechetische Aufgaben im Sinne der cc. 776 – 777 CIC/ 1983 umfasst wie auch die Motivation der Gläubigen zur Verwirklichung des gemeinsamen Priestertums oder die Entdeckung und Förderung von spezifischen Charismen und Begabungen in der Pfarrei.82 Ebenso geht es bei dieser Willensbildung darum, die geistlichen und seelsorglichen Bedürfnisse und Anliegen der Pfarrangehörigen zu erkunden, um ihnen durch gemeinsames Handeln möglichst gut entsprechen zu können. Möglicherweise muss die Forderung, dass der Pfarrer die seiner Sorge anvertrauten Gläubigen kennen soll83, in dieser Perspektive neu verstanden und interpretiert werden. 4. Der Schutz der je eigenen Sendung und Aufgaben Im engen Zusammenhang mit der so verstandenen Willensbildung im Innenbereich der Pfarrei ergibt sich als eine weitere Konsequenz, dass der Pfarrer im Rahmen seiner rechtlichen Vertretung die je eigene Sendung und die je eigenen Aufgaben der verschiedenen an den Aufgaben, Pflichten und Rechten einer Pfarrei beteiligten Gläubigen zur Geltung bringen und schützen muss; dies betrifft die einzelnen Gläubigen ebenso wie Räte und Gremien. Je nachdem handeln die Gläubigen nämlich im eigenen Namen oder, kraft einer übertragenen Aufgabe oder eines übertragenen Amtes oder einer Delegation, im Namen der Kirche oder, sofern sie die Priesterweihe empfangen haben, innerhalb des von ihrem jeweiligen Kirchenamt bestimmten Pflichten- und Aufgabenbereichs im Namen Jesu Christi als des Hauptes der Kirche.84 Die verbreitete Rede von den Hauptamtlichen einerseits und den Ehrenamtli-

81 Vgl. Schick, Die Pfarrei (Anm. 9), S. 488; Heribert Hallermann, Art. Gläubige, II. Kath., in: LKStKR II, S. 154 – 156, sowie ders., Art. Gleichheit aller Gläubigen, II. Kath., in: LKStKR II, S. 159 – 161. 82 Vgl. Schick, Die Pfarrei (Anm. 9), S. 488, Hallermann, Pfarrei (Anm. 25), S. 294 – 296, sowie Meckel, Die Herde am Laufen halten (Anm. 71), S. 190 – 196 und 209 – 211. 83 Vgl. c. 529 § 1 CIC/1983, 1. Teilsatz. 84 Vgl. Ilona Riedel-Spangenberger, Art. Sendung, in: LKStKR III, S. 547 – 548, sowie Meckel, Die Herde am Laufen halten (Anm. 71), S. 194 – 196.

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chen andererseits85 nivelliert die je eigene Sendung, Aufgabe und Verantwortung der verschiedenen Gläubigen in einer Pfarrei und erweckt zudem den Eindruck, als ob alles Handeln in der Kirche in irgendeiner Form an ein Amt oder eine Delegation gebunden wäre – und sei es nur ein Ehrenamt. Diese polare Gegenüberstellung von Hauptamtlichen einerseits und Ehrenamtlichen anderseits ist insofern geeignet, sowohl die Tatsache des gemeinsamen Priestertums aller Gläubigen in den Hintergrund zu drängen als auch das klerikal geprägte Konzept einer Betreuungspastoral86 auf das Wirken von Laien auszudehnen, die als Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Pfarrers im Sinne des c. 228 § 1 CIC/1983 zu kirchlichen Ämtern und Aufgaben herangezogen werden.87 Zu diesem bipolaren Konzept passt auch die meist unterschiedslose Rede von einem Pastoralteam oder Seelsorgeteam88, dem regelmäßig alle in der betreffenden Pfarrei oder Seelsorgeeinheit beruflich tätigen Priester, Diakone und Laien angehören. Wenn tatsächlich die Pfarrei als Personengemeinschaft im Hinblick auf die Verwirklichung der umfassenden Hirtensorge handlungsfähig werden soll, dann muss der Pfarrer als rechtlicher Vertreter insbesondere die aus dem gemeinsamen Priestertum aller Gläubigen resultierende Sendung stärken, schützen und zur Geltung bringen. Die Aufgaben der pastoralen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter hingegen, seien es nun Laien, Diakone oder Priester, müssen vom Pfarrer ebenso wie dessen eigenes Handeln im Rahmen der rechtlichen Vertretung konsequent auf dieses Ziel ausgerichtet werden.89

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In den Arbeitshilfen 216 (Anm. 1) taucht in den systematischen Darstellungen der einzelnen Diözesen durchgehend die Kategorie der Ehrenamtlichen auf, worunter jedoch zwar nicht ausschließlich, aber doch schwerpunktmäßig Mitglieder von Pfarrgemeinderäten und anderen pfarrlichen Gremien verstanden werden; anstelle von Hauptamtlichen findet sich jedoch durchgängig die Kategorie hauptberufliche pastorale Laienmitarbeiter; die DBK will in ihren Veröffentlichungen nämlich regelmäßig dem Eindruck entgegenwirken, als ob Gemeinde- und Pastoralreferenten/-innen ein (im dogmatischen, nicht im kirchenrechtlichen Sinne verstandenes) Amt ausüben. 86 Vgl. Ulrich Stutz, Der Geist des Codex Iuris Canonici, Stuttgart 1918, S. 83. 87 Vgl. Heribert Hallermann, Kirchliche Ämter ohne sakramentale Grundlage? Die Ämter der Pastoral- und Gemeindereferenten in der kirchlichen Rechtsordnung, in: TThZ 108 (1999), S. 200 – 219; ders., Art. Gemeindereferent/-in, in: LKStKR II, S. 35 – 37; ders., Art. Pastoralreferent/-in, in: LKStKR III, S. 165 – 167. 88 Vgl. Arbeitshilfen 216 (Anm. 1), z. B. S. 12, 13 (mit dem Pfarrer als Leiter), 18, 23, 34, 43, 48, 61 (mit Hervorhebung des Pfarrers als Leiter des Seelsorgeteams), 67, 71, 80, 84, 102, 107 (mit Hervorhebung des Pfarrers als Leiter des Seelsorgeteams), 108, 111, 113, 118 (unter Vorsitz des Pfarrers), 122, 130. 89 Die häufige Betonung der Dienstvorgesetzenfunktion des Pfarrers wird diesem Anliegen nicht ohne weiteres gerecht, kann ihm aber durchaus dienlich sein. Vgl. Arbeitshilfen 216 (Anm. 1), z. B. S. 19, 23, 47, 70, 75, 117.

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5. Die Vertretungsbefugnis des Pfarrers im Außenbereich Auch im Außenbereich kann die Vertretungsbefugnis des Pfarrers nicht auf Vermögensgeschäfte, Personalangelegenheiten und andere vergleichbare rechtliche Tätigkeiten reduziert werden. Gerade angesichts der in vielen Diözesen zu beobachtenden Zentralisierungstendenzen etwa durch die Stärkung der so genannten Mittleren Ebene in Form von Dekanaten oder Regionen muss daran erinnert werden, dass der Pfarrer einer Pfarrei gemäß c. 519 CIC/1983 wesentlich als pastor proprius der ihm anvertrauten Pfarrei bestimmt ist. Das heißt, dass er etwa im Hinblick auf die Planung und Strukturierung der pfarrlichen Hirtensorge eine eigene, nicht abgebbare und unvertretbare Verantwortung trägt, von der ihn auch der Diözesanbischof nicht dispensieren kann und darf – sofern er ihn nicht seines Amtes als Pfarrer entheben will.90 Insofern kann und muss sich die rechtliche Vertretung der Pfarrei im Außenbereich auch als ein Schutz legitimer Vielfalt und relativer Autonomie von Pfarreien innerhalb einer diözesanen Teilkirche bewähren, die ihr Maß an der salus animarum der Gläubigen vor Ort nimmt. IV. Zusammenfassung und Ausblick Angesichts der strukturellen Veränderungen in vielen Diözesen und der damit verbundenen Gefahr, das Rechtsinstitut der Pfarrei nachhaltig zu beschädigen, muss die Frage nach der rechtlichen Vertretung der Pfarrei neu und mit Dringlichkeit gestellt werden. Dabei geht es weder um die gewöhnlich mit dem Begriff Leitung verbundene Frage der Macht noch um die einseitig an der potestas interessierte geistliche Vollmacht und somit um den Unterschied zwischen Pfarrer und Pfarrei, sondern es geht um die Verwirklichung der Pfarrei als Personengemeinschaft von Getauften, innerhalb derer der Pfarrer – in Zusammenarbeit mit anderen Gläubigen sowie mit den pastoralen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern – seinen spezifischen Dienst leistet, um die Pfarrei als Ganze handlungsfähig zu machen und sie so ihrem Ziel näher zu bringen, die Sendung der Kirche in einer und durch eine bestimmte Gemeinschaft von Gläubigen an einem konkreten Ort zu verwirklichen.

90 Vgl. Hallermann, Pfarrei (Anm. 25), S. 195 – 198, hier: S. 197; zustimmend Reinhild Ahlers, c. 519, Rdnr. 1, in: Mk CIC (Stand: Januar 2008).

Die Beichtbefugnis Eine erneute Anfrage Von Thomas A. Amann I. Einführung Wiederholt wurden in der Piusbruderschaft Priesterweihen gespendet, die vom Apostolischen Stuhl nicht erlaubt waren. Zu diesen Feiern kam jeweils eine Vielzahl von Gläubigen zusammen, um dem Weihegottesdienst beizuwohnen, die Predigt zu hören, die Sakramente zu empfangen und den Segen der Neupriester zu erbitten. An der Gültigkeit des Heiligen Messopfers durch die Zelebration gültig geweihter Priester hat die katholische Kirche niemals Zweifel gehabt. Anders sieht es jedoch mit der Spendung des Beichtsakramentes aus. Nach kanonischem Recht ist der Spender des Sakramentes über die Priesterweihe hinaus an weitere Gültigkeitsanforderungen gebunden. Dies gibt berechtigten Anlass, eine erneute Anfrage zu stellen an die rechtliche Qualität der Beichtbefugnis. Im Anschluss an das Zweite Vatikanische Konzil und mit der Reform des Codex Iuris Canonici war die Frage im Zusammenhang mit der sacra potestas-Lehre bereits in ganz grundsätzlicher Weise aufgeworfen und diskutiert worden. Hatte das vorausgehende universale Recht der Kirche nämlich in c. 872 CIC/1917 für die gültige Spendung des Bußsakramentes den Besitz von Weihe- und Jurisdiktionsvollmacht gefordert, so trat mit der Rechtsreform eine nicht nur sprachliche Veränderung ein. Anstelle von potestas iurisdictionis verwendet der CIC durchweg den Begriff der potestas regiminis.1 Die inhaltliche Identität beider Begriffe wird in c. 129 CIC/1983 zum Ausdruck gebracht. Dies war notwendig, um die Kontinuität zur potestas iurisdictionis des CIC/1917 in c. 196 CIC/1917 anzuzeigen.2 Undeutlich bleibt allerdings, ob die potestas regiminis materiell denselben Umfang hat wie die potestas iurisdictionis im CIC/1917. Denn das geltende Recht spricht in c. 966 § 1 CIC/1983 davon, dass zur gültigen Spendung des Bußsakramen1 Xaverius Ochoa, Index verborum ac locutionum, Citt— del Vaticano 1984, S. 362 f. Iurisdictio erscheint nur noch viermal (ohne potestas) in der Bedeutung von richterlicher Gewalt (cc. 1417 § 2, 1469 § 1, 1512 38 CIC/1983). Vgl. Thomas A. Amann, Laien als Träger von Leitungsgewalt? Eine Untersuchung aufgrund des Codex iuris canonici (MthStkan 50), St. Ottilien 1997, S. 78 – 83. 2 Communicationes 14 (1982), S. 146. Aymans-Mörsdorf KanR, 1. Bd. (1991), S. 386; Pontificium Concilium de legum textibus interpretandis, Congregatio Plenaria, Diebus 20 – 29 octobris 1981 habita, Typis Polyglottis Vaticanis 1991, S. 67.

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tes zum Erfordernis der Weihegewalt eine facultas hinzukommen muss. Nach altem Recht wurde diese zusätzliche Vollmacht der vollziehenden Jurisdiktionsvollmacht zugerechnet. Damit stellt sich die Frage, ob in der Umbenennung des Begriffes potestas iurisdictionis in potestas regiminis im CIC/1983, trotz grundsätzlicher Identität beider Begriffe, nicht doch eine deutliche inhaltliche Einschränkung gegeben ist. Als gesetzgebende, ausführende und richterliche Gewalt (c. 135 § 1 CIC/1983) wird potestas regiminis grundsätzlich im äußeren Bereich ausgeübt (c. 130 CIC/1983). Für ein Zusammenwirken mit der Weihegewalt bei der Sakramentenspendung gibt es keinen gesetzlichen Anhaltspunkt mehr. Die facultas, welche zur Spendung des Bußsakramentes nötig ist, wird in c. 966 § 1 CIC/1983 als Bevollmächtigung definiert, die potestas ordinis, also die Weihegewalt auszuüben. Aber kann denn die Kirche Weihegewalt in ihrem Vollzug bis zur Ungültigkeit behindern? Diese Frage wirft ein Licht auf die grundsätzliche Zuordnung von Weihe- und Leitungsgewalt. Davon wiederum sind weitere Problemstellungen betroffen, so die gültige Spendung von Sakramenten auch in den nichtkatholischen Kirchen, die Ausübung von Leitungsgewalt von Personen, die keine Weihe empfangen haben, und schließlich eine pastoral sinnvolle Ordnung der Beichtvollmacht.

II. Die geltende Gesetzgebung im CIC/1983 Minister sacramenti paenitentiae est solus sacerdos. C. 965 CIC/1983 regelt unmissverständlich, dass alleiniger Spender des Bußsakramentes der Priester ist. Im Gegensatz zum lateinischen Begriff presbyterus meint hier der Begriff sacerdos sowohl den geweihten Bischof als auch den Priester. Damit wird rechtlich erklärt, dass der Empfang der Priesterweihe zur Spendung des Bußsakramentes befähigt. Allerdings legt sich der lateinische Text von c. 965 nicht wirklich darauf fest, wie das Sakrament der Buße tatsächlich zustande kommt. Minister sacramenti paenitenitiae gibt theologisch nicht vor, in welcher Weise der Priester und der Poenitent am Zustandekommen des Sakramentes beteiligt sind. Gemäß folgendem c. 966 § 1 wird jedoch zum Ausdruck gebracht, dass es sich nicht nur um eine amtliche Erklärung der Sündenvergebung aufgrund von Reue und Bekenntnis handelt. Die Sünden werden sakramental durch die priesterliche Absolution vergeben, die den Besitz von Weihegewalt, von potestas ordinis, voraussetzt. Durch denselben c. 966 § 1 wird zugleich festgestellt, dass die Absolution nur Gültigkeit besitzt, wenn dem Priester eine entsprechende Befugnis gegeben wurde, die Weihegewalt hinsichtlich der Sündenvergebung auch gegenüber den Gläubigen auszuüben. Diese Befugnis wird mit facultas bezeichnet, ein Begriff, der auch sonst im kodikarischen Recht Verwendung findet. Die Beichtbefugnis kann dem sacerdos von Rechts wegen zukommen oder eigens verliehen worden sein. Von Rechts wegen ist die Beichtbefugnis entweder mit einem Amt verbunden oder durch gesetzliche Verfügung erteilt. So besitzen von Rechts

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wegen Papst, Kardinäle und Bischöfe die Beichtbefugnis überall und üben diese in erlaubter Weise aus. Von Amts wegen besitzen für ihren Bereich die Beichtbefugnis der Ortsordinarius, der Bußkanoniker und der im gleichgestellte Priester (c. 508 § 2) sowie der Pfarrer und derjenige, der an dessen Stelle steht (c. 968 § 1). Mit Letzterem kann gemeint sein, wer dem Pfarrer gleichgestellt ist, so etwa der Pfarradministrator oder priesterliche Leiter einer Quasipfarrei, oder aber auch derjenige, der ihn nötigenfalls vertritt, so etwa der Vikar. Unter „Ortsordinarius“ versteht das kanonische Recht qua Definition (c. 134 § 1 – 2) neben den Diözesanbischöfen auch die sonstigen Vorsteher einer Teilkirche oder einer der Teilkirche gleichgestellten Gemeinschaft, auch wenn sie die Bischofsweihe nicht empfangen haben, und diejenigen, die darin allgemeine ordentliche ausführende Gewalt besitzen, also Generalvikar und Bischofsvikar. Außer als von Rechts wegen wird die Beichtfakultas einem Priester auch durch die zuständige Autorität verliehen (c. 966 § 2 i. V. m. c. 969), für Einzelfälle oder allgemein auf unbestimmte oder bestimmte Zeit (c. 972) und regelmäßig in schriftlicher Form (c. 973). Die Eignung des Priesters muss feststehen (c. 970). Als hierfür zuständig wird gem. c. 967 § 2 der Ortsordinarius des Inkardinationsverbandes oder des Wohnortes des Priesters festgestellt. Bei nur Wohnortszuständigkeit muss zur Erlaubtheit der Erteilung einer ständigen Beichtbefugnis, wenn möglich, vorab der Inkardinationsordinarius gehört werden (c. 971). Allein der Ortsordinarius ist zugleich zuständig, die Beichtbefugnis jeglichem Priester für jedweden Gläubigen zu verleihen (c. 969 § 1), die dann nur für den Zuständigkeitsbereich dieses Ortsordinarius Geltung beanspruchen kann. Bei Ordenspriestern bedarf es zur legitimen Ausübung zusätzlich der Erlaubnis des Ordensoberen, die wenigstens zu vermuten ist. Von Rechts wegen und damit durch kirchliches Gesetz wird der legitime Besitz von Beichtbefugnis über den eigenen Zuständigkeitsbereich ausgeweitet, so dass wer Beichtbefugnis von Amts wegen oder durch Verleihung seitens des Inkardinations- oder Wohnortordinarius besitzt, diese gemäß c. 967 § 2 überall ausüben kann, außer der Ortsordinarius verwehrt dies im Einzelfall. Da nach § 1 dieses Canons einem Bischof nur der Diözesanbischof für seinen Zuständigkeitsbereich die Ausübung der Beichtbefugnis verbieten, nicht aber verungültigen kann3, handelt es sich in § 2 um die Beichtbefugnis in Zusammenhang mit nicht-bischöflichen Ämtern oder mit der Verleihung an Priester. Zwar wird auch in § 2 dasselbe Verbum renuere (verwehren) verwendet, doch steht es hier ohne den Bezug zur Erlaubtheit, so dass einem NichtBischof die Beichtbefugnis vom Ortsordinarius in seiner Gültigkeit verwehrt werden kann. Von Rechts wegen wird die Beichtfakultas erteilt bzw. ersetzt, wenn diese bei einem tatsächlich vorliegenden oder rechtlich anzunehmendem Irrtum und bei einem positiven und begründeten Rechts- oder Tatsachenzweifel nicht vorliegen soll3 Vgl. Gianni Trevisan, La facolt— di confessare, in: Egidio Miragoli (Hrsg.), Il sacramento della penitenza. Il ministro del confessore, Ancora 1999, S. 91 – 99, hier S. 96.

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te (c. 144 §§ 1 – 2). Jeder Priester, selbst wenn er keine Beichtbefugnis besitzt oder nicht einmal mehr dem Klerikerstand angehört, absolviert jeden Pönitenten in Todesgefahr gültig und erlaubt von allen Sünden und Beugestrafen (c. 976), auch wenn ein anderer Priester mit Beichtbefugnis zugegen wäre. Dem Wortlaut des Gesetzestextes nach wird hierbei die Gültigkeit und Erlaubtheit des Handelns zugestanden, ohne dass die Fakultas suppliert würde. In Todesgefahr besteht die grundsätzliche Pflicht für jeden Priester, die Beichte entgegen zu nehmen (c. 986 § 2). Für die klerikalen Ordensinstitute und klerikalen Gesellschaften des apostolischen Lebens sieht das kodikarische Recht ausdrücklich eigene Regelungen vor. Kraft Amtes besitzen hierin die Oberen, denen ausführende Leitungsgewalt zukommt, die Beichtbefugnis für ihren Zuständigkeitsbereich, also für die Untergebenen und für die Hausbewohner (c. 968 § 2). Innerhalb dieser Grenzen verleihen diese Oberen die Beichtbefugnis auch anderen Priestern (c. 969 § 2). Diese Beichtbefugnis wird durch Gesetz ausgeweitet, so dass sie gegenüber den genannten Personen auch überall und erlaubter Weise ausgeübt werden kann (c. 967 § 3), wenn es nicht im Einzelfall verwehrt wird. Der Verlust der Beichtbefugnis geschieht durch den Verlust des entsprechenden Amtes oder dadurch, dass der Priester aus dem Zuständigkeitsbereich des Ortsordinarius heraustritt, also durch Exkardination oder Wohnungswechsel (c. 975). Die mit einem Amt verbundene Beichtbefugnis kann nur durch Entzug des Amtes selbst verloren gehen.4 Die eigens verliehene Beichtbefugnis erlischt durch Widerruf, die bei auf Dauer verliehener Fakultas nur aus schwerwiegendem Grund zurück genommen werden darf (c. 974 § 1). Bei einer zeitlich begrenzten Beichtbefugnis (c. 972) entfällt diese mit Ablauf der Zeit. Wird die Beichtbefugnis vom Ortsordinarius des Inkardinationsverbandes oder des Wohnortes entzogen, so verliert sie der Priester überall; ansonsten nur für das jeweilige Gebiet (c. 974 § 2), was dem Inkardinationsordinarius oder Ordensoberen mitzuteilen ist (c. 974 § 3). Wird einem Ordenspriester von dessen eigenem Ordensoberen die Beichtbefugnis entzogen, so verliert er sie gegenüber den Mitgliedern des Instituts überall. Wird sie von einem anderen Oberen widerrufen, so verliert er sie nur gegenüber den Untergebenen in dessen Amtsbereich (c. 974 § 4). Die anderen Hausbewohner sind bei der Verleihung, nicht aber beim Widerruf genannt. Innerhalb der Beichte kann der Priester von Kirchenstrafen, die durch die Tat eingetreten und nicht festgestellt sind und nicht dem Papst reserviert sind, im inneren Bereich lossprechen (cc. 1331, 1332). Dabei handelt es sich um ein gültiges kirchliches Forum mit Rechtsrelevanz, auch wenn es nur das Gewissen des Pönitenten betrifft und im äußeren Bereich keine Geltung beanspruchen kann. Daher darf die Lossprechung von der Strafe nur aus dringender Gewissensnot erfolgen. Der Beichtvater, nicht aber der Bußkanoniker, muss dem Pönitenten auferlegen, die Lossprechung beim zuständigen Ordinarius auch im äußeren Bereich anzugehen. In Todesgefahr kann jeder Priester von allen Kirchenstrafen im inneren Bereich lösen. Nach einer 4

Klaus Lüdicke, c. 975, Rdnr. 1 – 2, in: MK CIC.

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Genesung muss der Pönitent innerhalb Monatsfrist die Befreiung auch im äußeren Bereich angehen, unter Androhung des Wiedereintritts der Strafe (cc. 976, 1357 § 3). Im Fall der Tatstrafe der Exkommunikation bei Abtreibung haben die deutschen Bischöfe bei der Absolution im sakramentalen Bereich auf den Rekurs an den Ordinarius verzichtet, wenn eine angemessene Buße und Wiedergutmachung auferlegt wurde. Die Beichtbefugnis wird auch in außerordentlicher Form des Bußsakramentes in der Generalabsolution ausgeübt (c. 961 § 1). Hierfür sind sowohl zur Erlaubtheit als auch zur Gültigkeit bestimmte Voraussetzungen erforderlich, die kodikarisch festgelegt und vom Apostolischen Stuhl bestätigt worden sind.5 Insofern hiermit die Gültigkeit der Sakramentenspendung betroffen ist, handelt es sich um ein irritierendes oder inhabilitierendes Gesetz gemäß c. 10. Bei Rechtszweifel verpflichtet ein solches Gesetz nicht (c. 14); Unkenntnis oder Irrtum behindern die Gesetzeswirkung hingegen nicht (c. 15). III. Die rechtsgeschichtliche Entwicklung der Beichtvollmacht 1. Von den Anfängen bis zur Hochscholastik Die theologisch-systematische Reflexion des Bußsakramentes beginnt mit der Frühscholastik und unter dem Einfluss der Sammlung und Vereinheitlichung des kirchlichen Rechtes im 12. Jahrhundert. Im ersten Jahrtausend ist das Institut der Buße erst im Entstehen begriffen. Daher finden sich hier nur Ansätze im Hinblick auf die Regelung der Beichtvollmacht. Zunächst steht das zweigliedrige Institut der öffentlichen Buße ganz in der Zuständigkeit des Bischofs, der dem Büßer nach einer Bußzeit die Rekonziliation gewährt und ihn so wieder in die lebendige Kirchengemeinschaft aufnimmt.6 Erst mit dem Aufkommen der Privatbuße und deren häufigem Empfang ab dem 7. Jahrhundert beginnt auch die Notwendigkeit, die Beichtvollmacht zu regeln. Diese bleibt wegen ihres Bezugs zur Kirchengemeinschaft in ihrer Ausübung an die ordnende Hand der bischöflichen Hirtengewalt rückgebunden. Mit dem Entstehen des Pfarrzwanges als ausschließliche Zuständigkeit eines Pfarrers für seine Pfarrangehörigen wird die Privatbeichte beim eigenen Pfarrpriester verpflichtend. Die Beichtvollmacht dazu wird vom Bischof eigens übertragen. Ohne die Erlaubnis des Bischofs, so die Synode von Picenza 1095, darf kein 5 Vgl. Johannes Paul II., Apostolisches Schreiben Reconciliatio et Paenitentia, in: AAS 77 (1985), S. 185 – 275; dt.: VApSt 60 (1984); ders, Apostolisches Schreiben Misericordia Dei als „Motu proprio“ erlassen über einige Aspekte der Feier des Sakramentes der Buße (7. 4. 2002), in: AAS 94 (2002), S. 452 – 459; dt.: VApSt 153 (2002). Vgl. Christoph Ohly, Das Motu Proprio „Misericordia Dei“, in: AfkKR 171 (2002), S. 72 – 92; ders., Ein Plädoyer für die Belebung einer außerkodikarischen Form des Bußsakraments, in: AfkKR 170 (2001), S. 74 – 105. 6 Vgl. Klaus Mörsdorf, Der hoheitliche Charakter der sakramentalen Lossprechung, in: ders., Schriften zum Kanonischen Recht, hrsg. v. W. Aymans/K.-Th. Geringer/H. Schmitz, Paderborn 1989, S. 534 – 547, hier S. 538.

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Priester einen Poenitenten zur Buße zulassen. Auch wenn hier mit den Begriffen der Erlaubtheit und des Verbotes operiert wird, bleibt zu bedenken, dass im ersten Jahrtausend die Kirchengewalt noch nicht so weit in Weihe- und Leitungsgewalt unterschieden ist, dass eine klare Definition möglich wäre. Ohne Zweifel jedoch bleibt das Bußverfahren an das Zuordnungsverhältnis von Weihegewalt und oberhirtlicher Vollmacht rückgebunden. Mit der Frühscholastik wird das Zusammenwirken von Reue, Sündenbekenntnis und Bußleistung auf Seiten des Poenitenten zur Gültigkeit des Bußsakramentes entwickelt und herausgestellt. Über die Funktion des Priesters bei der Beichte herrscht hingegen geteilte Auffassung. Während sich die bestimmende Meinung Abaelard und Petrus Lombardus anschließt, die der Absolution des Priesters deklaratorische und damit eine nur feststellende Bedeutung zumisst, wird von der Schule des Hugo und Richard von St. Viktor der priesterlichen Absolution die definitive Sündenvergebung zugesprochen.7 Im 12. Jahrhundert entwickelt sich die Lehre von der Schlüsselgewalt des Priesters. Sind es am Anfang der Entwicklung die beiden Schlüssel der Unterscheidung und des Bindens bzw. Lösens, die zur Diskussion stehen, so setzt sich die einheitliche Lehrmeinung durch, wonach der Binde- und Lösegewalt das eigentliche Gewicht zukomme. Diese bezieht sich zunächst auf die Exkommunikation und ist Teil des priesterlichen Dienstamtes. Mit Gratian bürgert sich bezüglich der Schlüsselgewalt die Unterscheidung von potestas und executio potestatis ein. Letztere ist an die licentia des zuständigen Bischofs oder Pfarrers gebunden.8 In dessen Folge sehen die Dekretisten darin ein Element, das unverlierbar mit der Weihe verbunden ist, und eines, das durch cura animarum übertragen wird und dementsprechend auch wieder entzogen werden oder verloren gehen kann. Die Binde- und Lösegewalt wird in der executio potestatis oder iurisdictio verankert, die dem Jurisdiktionsträger für ein bestimmtes Zuständigkeitsgebiet zukommt. Doch löst sich die unbedingte Bezogenheit auf das Pfarramt bereits, so dass auch Ordenspriestern die entpsrechende iurisdictio übertragen werden kann. Weihe und Jurisdiktion sind die beiden Gültigkeitsvoraussetzungen für die Beichtabsolution. Die Weihegewalt allein reicht jedenfalls nicht aus.9 Doch führt die theoretische Unterscheidung mit Ende des 12. Jahrhunderts bereits zu einer Trennung von Weihe- und Schlüsselgewalt in der Kirche. Die Jurisdiktion wird als gestuft 7 Vgl. Christoph Lerg, Die Beichtbefugnis. Ihre historische Entwicklung von den ersten Anfängen bis zur Hochscholastik auf dem Hintergrund der jeweiligen Erkenntnisse der Bußtheologie, St. Ottilien 1994, S. 30 – 33. 8 C. 6, q. 3, c. 1: Alterius parrochianum alicui iudicare non licet. Dic. Gratiani p. D. 6, c. 2 de poen.: ut nemo videlicet alterius parrochiarum iudicare praesumat. D. 6, c. 3 de poen.: ut deniceps nulli sacerdotum liceat quemlibet commissum alteri sacerdoti ad penitenciam suscipere sine eius consensus. 9 Eugen Heinrich Fischer, Die Notwendigkeit hoheitlicher Hirtengewalt zur Bußspendung, in: FS Mörsdorf, S. 231 – 251, hier S. 237, schließt aus der freien Beichtvaterwahl, dass mit der Weihe die Absolutionsvollmacht mitgegeben sei. Aus den Quellen ist dieser Schluss jedoch nicht notwendig oder konsequent.

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verstanden. Priester besitzen eine nur einfache Ausübung der Schlüsselgewalt, Bischöfe eine größere, der Papst die größte, Häretiker keine.10 Die Exkommunikation verlässt den Zusammenhang mit der Schlüsselgewalt und wird eine reine Strafsache, deren Ausübung auch Nicht-Priestern zuerkannt wird. Das IV. Laterankonzil (1215) bestätigt universalkirchlich den Stand der Kanonistik, wonach ein Priester ohne Jurisdiktion keine gültige Absolution erteilen kann. Die Beichte bleibt nach wie vor stark an das Pfarramt gebunden. Die Absolution wirkt sich aber entsprechend zeitgenössischer Vorstellung nach wie vor ex opere operato nur auf die zeitlichen Strafen aus, während die Vergebung der Sündenschuld aufgrund der Reue des Poenitenten allein Gottes Wirken ist. Erst mit der Hochscholastik wird die Absolutionsvollmacht auch wirkmächtig für den Sündennachlass verstanden, insofern sie die Wandlung der attritio als unvollkommene Reue zur contritio, zur vollkommenen Reue bewirkt. Die aristotelischen Denkkategorien von Form und Materie bei der Sakramentenspendung werden auf das Bußsakrament übertragen. Thomas von Aquin und seine Schule weisen die Materie dem Tun des Poenitenten in Reue, Bekenntnis und Wiedergutmachung zu, die Form der priesterlichen Absolution. Mit Johannes Dun Scotus und seiner Schule liegt dann die Betonung der Wirkursächlichkeit der Beichte auf der priesterlichen Absolution. Sie bewirkt den Nachlass von Schuld und ewiger Strafe dadurch, dass sie die rechte Disposition des Poenitenten herbeiführt. Die Theologen der Hochscholastik stimmen darin überein, dass zur Schlüsselgewalt durch die Weihe die Jurisdiktion als akzidentielle, d. h. ordnende Kraft im Zuordnungsverhältnis zu einer Gemeinschaft, hinzukommen muss. Diese Jurisdiktion besitzt richterliche Qualität, so dass die Absolution als sacramentum iudiciale verstanden wird, die im forum poenitentiale bzw. forum conscientiae ausgeübt wird.11 Die Jurisdiktion für die gültige Erteilung der Absolution im Bußsakrament kommt dem Papst und den Bischöfen zu und wird den Priestern durch ein Amt oder durch besondere Übertragung zuteil. 2. Die Lehre von der Beichtvollmacht vom Tridentinum bis zur Kodifizierung des Rechtes im CIC/1917 Die Individualisierung des Bußsakramentes und der Frömmigkeit sowie eine zunehmende Hierarchisierung im Zuge der gregorianischen Reform einerseits, ein verstärktes Aufkommen von Laienbewegungen andererseits, die aus strengen Armutsidealen heraus die Würdigkeit und damit Vollmacht bestimmter Kleriker bestritten, waren Nährboden für die Bußlehre der Reformatoren. Für Martin Luther wird der Sünder durch die fides von Gott gerechtfertigt. Die Schlüsselgewalt sei ein Vergebungsdienst am Bruder, der jedem Christen zukomme, der darum gebeten

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Lerg, Beichtbefugnis (Anm. 7), S. 50. Klaus Mörsdorf, Der Rechtscharakter der iurisdictio fori interni, in: ders, Schriften zum Kanonischen Recht (Anm. 6), S. 548 – 560, hier S. 554. 11

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werde.12 Daher sei die Beichte eher ein Ort der freiwillig entgegengenommenen Unterweisung auf dem Weg der Rückkehr zur Taufe. Weil ihr die Sichtbarkeit fehle, sei die Buße auch kein Sakrament. Diesem reformatorischen Gedanken widerspricht das Konzil von Trient.13 Die Beichtabsolution besteht nicht nur in der Verkündigung des Evangeliums und die Schlüssel kommen nicht jedem Christen zu. In der Sprachregelung der Tradition und unter Verwendung skotistischen Gedankengutes greift das Konzil in can. 914 und in der doktrinellen Auslegung Kap. 5 – 715 den Begriff des actus iudicialis auf. Das Sündenbekenntnis ist notwendig, damit die Schlüsselgewalt des Priesters ausgeübt werden könne. Allerdings sollte damit kein Lehrstreit über differenzierende Meinungen auch in der katholischen Tradition entschieden werden. Dem gerichtlichen Charakter des Bußsakramentes wird die Analogizität nicht genommen.16 In c. 10 und Kap. 6 lehrt das Konzil, dass nur Bischöfe und Priester ministri der Absolution sein können. Sie bedürfen, wie es der richterlichen Tätigkeit entspricht, der Jurisdiktion über die Untergebenen, sei es in ordentlicher oder in übertragener Weise (Kap. 717). Darin kommt dem Papst höchste Autorität, den Bischöfen ebenso Vollmacht in ihrem Zuständigkeitsbereich zu, sowohl für den äußeren Bereich der Exkommunikation wie für den inneren Bereich der Sündenvergebung mit Geltung vor Gott. In Todesgefahr besitzt jeder Priester Absolutionsvollmacht auch in den sonst reservierten Fällen. Klaus Mörsdorf hat aufgewiesen, dass die Rechtssprache des Tridentinums den actus iudicialis in einer weiteren und noch nicht in der sich später entwickelnden engeren, d. h. fachlichen Bedeutung von Gerichtstätigkeit versteht.18 Während das Konzil den hoheitlichen Akt des Gnadenerweises der bloßen Dienstleistung (nudum ministerium) im Verständnis der Reformatoren gegenüberstellt, hat sich die Kanonistik des 17. und 18. Jahrhunderts mit einer entsprechenden Zuordnung der Beichtvollmacht zur iurisdictio contentiosa und iurisdictio voluntaria, wie sie aus der römischen Zivilrechtspflege übernommen wurde, auseinandergesetzt. Durch einen veränderten Sprachgebrauch wurde der iurisdictio voluntaria alle hoheitliche Tätigkeit zugewiesen, die nicht gerichtlicher Art ist, also die Gesetzgebung und die teils freiwil12 Vgl. Herbert Vorgrimler, Buße und Krankensalbung, in: M. Schmaus/A. Grillmeier/ L. Scheffczyk (Hrsg.), Handbuch der Dogmengeschichte, Bd. IV, 3. Aufl., Freiburg 1978, S. 160 f. 13 Vgl. Bernhard Poschmann, Die innere Struktur des Bußsakraments. in: MThZ 1 (1950), S. 12 – 30, hier S. 14; Fischer, Notwendigkeit hoheitlicher Hirtengewalt (Anm. 9), S. 241 f. 14 Konzil von Trient (14. Sitzung, 25. 11. 1551) Lehre über das Sakrament der Buße, Can. 9, in: Heinrich Denzinger, Enchiridion symbolorum definitionum et declarationum de rebus fidei et morum, Freiburg/Basel/Rom 1991, Rdnr. 1709. 15 Ebd., Rdnr. 1679 – 1688. 16 Ebd., Rdnr. 1685. Vgl. Vorgrimler, Buße (Anm. 12), S. 182 f.; J. Ternus, Die sakramentale Lossprechung als richterlicher Akt, in: ZKTh 71 (1949), S. 214 – 230. 17 Konzil von Trient (Denzinger [Anm. 14], Rdnr. 1686 – 1688). 18 Mörsdorf, Der hoheitliche Charakter (Anm. 6), S. 543.

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lige, teils zwangsmäßige Verwaltung. Die Kanonisten waren sich über den Charakter der iurisdictio im Bußsakrament nicht einig. Sie wurde der iurisdictio voluntaria oder der potestas iudicialis zugerechnet.19 In der gleichen Zeit wächst die Einsicht, dass die iurisdictio voluntaria, etwa die Erteilung einer Dispens, sowohl im forum externum wie auch im forum internum tätig sein kann, wobei die iurisdictio in foro interno zwar gültig ist, aber keine Wirkung für das forum externum nach sich zieht. So ist die Zeit nach dem Konzil von Trient in der Frage der Beichtvollmacht geprägt von ausführlichen Abhandlungen über die Beichte in theologischer wie kanonistischer Hinsicht, wobei man sich an die Weisungen des Konzils anlehnte und sie auf die Praxis übertrug.20 Ausführlich befasst sich Franciscus Suarez 1602 in seinem Traktat ,De poenitentiaÐ mit den damit verbundenen Problemstellungen. Solum sacerdotem esse ministrum hujus sacramenti sei definierte Lehre und ungebrochene Praxis der Kirche.21 Mit Berufung auf Augustinus, Thomas und Scotus tritt Suarez dafür ein, dass minister poenitentiae est judex, der die facultas absolvendi et remittendi peccatum für seinen Richterspruch benötige. Auch wenn von mehreren Schlüsseln gesprochen werde, handle es sich nur um die eine Kirchengewalt. Die beiden Schlüssel, wie sie von den Theologen gelehrt würden (clavium scientiae, clavium potentiae), beträfen die potestas ordinis, doch müssten sie ebenso auf die potestas jurisdictionis bezogen werden.22 Die potestas ordinis werde durch die Priesterweihe vermittelt. Zur gültigen Absolution müsse jedoch die Jurisdiktion hinzukommen, quia hoc sacramentum essentialiter est judicium. Der Weihe nach sind alle gleich, doch hinsichtlich der Jurisdiktion gebe es eine dreifache Stufung. Der Papst besitze die Jurisdiktion aufgrund göttlichen Rechts. Auch das Bischofsamt sei qua göttlichen Rechts mit der Jurisdiktion verbunden, doch werde das Bischofsamt durch den Papst verliehen. Hierin gebe es aber unterschiedliche Meinungen. Die dritte Stufe von Jurisdiktion komme den Pfarrern qua kirchlichen Rechts zu, nam illi etiam sunt judices ordinarii in hoc foro. Die Jurisdiktionsvollmacht könne auch durch Delegation übertragen werden: a iure, ex consuetudine, per concessionem hominis. Die Kanonisten des 18. Jahrhunderts sind geprägt von der Aufklärung. Die pastorale Ausrichtung und damit die medizinale und lehrhafte Seite des Bußsakramentes werden herausgestellt. Die kanonistischen Autoren bestätigen in ihren ausführlichen Traktaten über das Bußsakrament, dass die Beichtvollmacht auf drei Bevollmächtigungen aufbaut. Sie wird in der Priesterweihe grundgelegt oder übertragen23, mit der Jurisdiktion zu einer ausübbaren Kraft und mit der Approbation des Bischofs oder 19

Ebd., S. 541. Nach Mörsdorf sei die Lossprechung von Besserungsstrafen und von Sünden der iurisdictio voluntaria zugerechnet worden. 20 Vgl. z. B. Marinus Georgius, Constitutiones ad usum Cleri Brixiani, Brixen 1614. 21 Franciscus Suarez, Opera Omnia XXII, Paris 1861, S. 520. 22 Ebd., S. 359 f. 23 Johannes P. Gibert, Corpus Juris Canonici, Coloniae Allobrogrum 1735, pars IV tit. VI sec. IV, 31.

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Pfarrers legitim und gültig. Die Weihevoraussetzung ist geklärt, insofern Diakone und Laien ausgeschlossen sind. Die Jurisdiktion beruht auf einem konkreten Zuordnungsverhältnis und auf dem richterlichen Spruch des Beichtvaters und hat nur dafür Geltung. Zum Teil wird der richterliche Charakter aufgrund einer erhöhten sittlichen Anforderung, die jetzt an den Christen gestellt wurde, zusätzlich unterstrichen. Dass die Jurisdiktionsvollmacht zur Gültigkeit nötig sei, ist inzwischen ebenso unangefochten. Wie sie wirkt und in welchem Verhältnis sie zur Vollmacht aus der Weihe steht, bleibt nach wie vor in der Diskussion.24 Die Approbation wird zum eigentlichen Thema, das zu klären ist. Sie dient der grundlegenden Bestätigung der Befähigung, das Sakrament würdig spenden zu können, und der Erlaubtheit durch den zuständigen Ordinarius oder Pfarrer. Aus der Pastoral kommen dazu die drängenden Fragen: Ist die Approbation des Pfarrers nötig? Welcher Ordinarius erteilt die Approbation? Reicht die Approbation über Grenzen der Pfarrei und der Diözese? Wie wirken sich Gewohnheiten aus? Aus der Beantwortung der Fragen kristallisieren sich Grundsätze heraus, die zu allgemeiner Gültigkeit gelangen. Die Approbation ist mit einem Pfarramt oder Seelsorgeamt verbunden.25 Andernfalls bedarf es der ausdrücklichen Approbation des Bischofs des Beichtortes. Neben der bischöflichen Approbation durch Amt oder Delegation ist zusätzlich die Zustimmung (consensus) des zuständigen Pfarrers erforderlich.26 Durch Approbation und Zustimmung wird die territoriale Zuständigkeit sanktioniert, die dem Gerichtswesen eigen ist, während die iurisdictio voluntaria auch außerhalb des eigenen Gebietes ausgeübt werden kann.27 Unterstützt und angeregt wird die Klärung der Approbationsfrage durch lehramtliche Entscheidungen. Auch hierin wird deutlich, dass die Approbation an ein Pfarrbenefizium oder an eine andere Bestätigung der Eignung gebunden ist28. Zuständig ist der Ordinarius des Beichtortes, nicht des Pönitenten, selbst bei freier Beichtvaterwahl.29 Der Ordinarius muss seine Approbation wenigstens stillschweigend geben. 24 Johannes Clericatus, Decisiones sacramentales theologicae, canonicae et legales, Ed. novissima, Tom. II, Venedig 1757, De poenitentiae, Dec. XIX, 56. 25 Bernardus Van Espen, Jus ecclesiasticum universum hodiernae disciplinae, praesertim Belgii, Galliae, Germaniae et vicinarum provinciarum accomodatum, tom. I, Coloniae Agrippinae 1748, tit. VI cap. V, 318 f.; Georg Christoph Neller, Juribus parochi primitivi, ex jure communi, et statutario trevisensi confecta (1752), in: Antonius Schmidt, Thesaurus iuris ecclesiastici, Heidelberg 1777, Bd. 4, S. 466 – 501, hier S. 471. 26 Jean F. M. Lequeux, Manuale Compendium Juris Canonici, Paris 1839, 1. Bd., Nr. 436, 450, S. 430; 439. 27 Vgl. Mörsdorf, Der hoheitliche Charakter (Anm. 6), S. 541, verweist darauf, dass der CIC/1917 die rein territoriale Zuständigkeit nicht übernommen und damit die kanonistische Tradition der Beichtvollmacht als iurisdictio voluntaria wenigstens darin bewahrt habe. 28 Gregor XV., Const. „Inscrutabili“ (5. 2. 1622), § 1, in: CIC-Fontes/1917, 1. Bd., Nr. 199, S. 379 – 381; Benedikt XIV., Ep. encycl. „Apostolicum ministerium“ (30. 5. 1753), § 7 (ebd., Nr. 425, S. 390 – 404). 29 Benedikt XIV., Const. „Apostolica indulta“ (5. 8. 1744), in: ebd., Nr. 344, S. 819 – 823, § 3.

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Er muss sie auf jeden Fall geben.30 Wird die fehlende Approbation zunächst noch als unerlaubt und strafbar bewertet31, so sprechen die päpstlichen Entscheide ab dem beginnenden 18. Jahrhundert zusätzlich von einer irritierenden und verungültigenden Wirkung.32 Zudem wurden dem Tridentinum widersprechende theologische Thesen zum Bußsakrament lehramtlich verworfen.33 Die Beichtabsolution sei kein deklaratorischer Spruch, sondern actus iudicialis. Bereits 1769 hatte die Konzilskongretation verworfen, dass der Priester bereits mit seiner Weihe die nötige Vollmacht zur Beichtabsolution besitze.34 In Zusammenhang mit der Auseinandersetzung um die Reformsynode von Pistoja (1786) wurde dies von Papst Pius VI. bestätigt und als falsch verurteilt, dass der Priester bereits durch die Weihe im Besitz der Absolutionsvollmacht sei. Auch die kanonistische Lehre im 19. Jahrhundert bis zur Kodifizierung des Rechts beruft sich auf die kirchlichen Erlasse und die Doktrin des Tridentinums.35 Die Spendung des Bußsakramentes wird in Übereinstimmung mit der Dogmatik der Zeit als ein auch richterlicher Akt verstanden.36 Demnach absolviert der Priester mit Pfarrjurisdiktion oder ein anderer vom Bischof dafür speziell eingesetzter Priester gültig im Sakrament der Buße. Daraus entwickelt sich die Institution der Beichtdelegation für jeglichen Priester durch den Ortsordinarius für den Bereich seiner Zuständigkeit.37 Ausgenommen von der gültigen Absolution sind diejenigen bestimmten Sünden, die sich der apostolische Stuhl oder der Bischof jeweils in seiner Diözese vorbehalten und dadurch den Priestern entzogen hat. P. Hinschius unterscheidet die ordentliche, also durch Amt verliehene Jurisdiktion, in eine ordinaria (eigenberechtigt) und in eine quasi ordinaria (stellvertretend).38 Wo Hilfspriester in Seelsorgeäm30

SC. S. Off., Decr. 24. 9. 1665, in: ebd., 4. Bd., Nr. 734, S. 16 – 19. Innozenz X., Const. „Cum sicut“ (14. 5. 1648), in: ebd., Nr. 232, S. 441 – 445, § 4. 32 Innozenz XII., Const. „Cum sicut“ (19. 4. 1700), in: ebd., Nr. 263, S. 520 – 522; Innozenz XIII., Const. „Apostolici ministri“ (23. 5. 1723), in: ebd., Nr. 280, S. 582 – 592, § 19; Benedikt XIII., Const. „In supremo“ (23. 9. 1724), in: ebd., Nr. 283, S. 598 – 609, § 16, und Const. „Pastoralis officii“ (27. 3. 1726), in: ebd., Nr. 292, S. 633 – 636, §3, § 6; Clemens XII., Const. „Admonet Nos“ (11. 8. 1735), in: ebd., Nr. 297, S. 652 – 654, § 1, § 3. 33 Vgl. Fischer, Notwendigkeit (Anm 9), S. 242 f.; Vorgrimler, Buße (Anm. 12), S. 189 f. 34 SC. Conc., 16.9./18. 11. 1769, Nr. 3767, 60 – 62, in: CIC Fontes/1917, Bd. 4 (1932) (Anm. 28). 35 Michael Permaneder, Handbuch des katholischen Kirchenrechtes, Landshut 21853, S. 644; Joseph Hollweck/Philipp Hergenröther, Dr. Philipp Hergenröthers Lehrbuch des katholischen Kirchenrechts, Freiburg i. Br. 21905, S. 679; Johannes. B. Sägmüller, Lehrbuch des katholischen Kirchenrechts, 2. Bd., Freiburg i. Br. 31914, S. 43, 45. 36 Vgl. Paul Hinschius, System des katholischen Kirchenrechts, 4. Bd. (1888) (Nachdruck Graz 1959), S. 86; Mörsdorf, Der hoheitliche Charakter (Anm. 6), S. 542. 37 Vgl. Isidor Silbernagl, Lehrbuch des katholischen Kirchenrechts, Regensburg 1895, S. 501; Hollweck, Hergenröthers Lehrbuch (Anm. 35), S. 679; Sägmüller, Lehrbuch (Anm. 35), S. 46. 38 Hinschius, System (Anm. 36), S. 86. Als ordinaria besitzen Beichtjurisdiktion der Papst über alle Gläubigen, Bischöfe über ihre Diözesanen, Pfarrer über ihre Pfarrangehörigen, Or31

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ter nicht mehr vom Pfarrer, sondern vom Bischof eingesetzt werden, gibt nicht mehr der Pfarrer die Jurisdiktion weiter. Die Frage der Beichtjurisdiktion wird in dieser Phase moraltheologischer und kanonistischer Auseinandersetzung heftig diskutiert. Lehmkuhl nennt die drei gängigen Erklärungsmodelle der Zeit, wie die Jurisdiktionsvollmacht verstanden wird.39 Eine erste Lehrmeinung geht davon aus, dass mit der Priesterweihe die Vollmacht gegeben sei, die vom Oberen nur unterbunden werden könne. Eine zweite Meinung sehe die Priesterweihe als entscheidende Übertragungsweise an, doch bedürfe es noch der Zuweisung eines Bereichs von Untergebenen, die aber nur als conditio sine qua non aufzufassen sei. Bereits mit der Priesterweihe werde durch den Bischof dem Priester wurzelhaft die Gewalt zum Beichthören mitgeteilt. Diese bedürfe nur noch mittels bischöflicher Approbation und Jurisdiktion der Zuweisung eines Wirkungskreises. Eine dritte Lehrmeinung halte sich an Thomas und Suarez und gehe davon aus, dass potestas ordinis und potestas iurisdictionis zusammen wirken. Deutlich wird unter Berufung auf das Konzil von Trient noch unterschieden zwischen der notwendigen Beichtjurisdiktion und der ebenfalls zur Gültigkeit oder wenigstens Erlaubtheit erforderlichen Approbation. Beide Arten der Bevollmächtigung müssten unterschieden werden, auch wenn sie regelmäßig vom Bischof in einem Akt übertragen würden.40 Dadurch entfiel auch die Approbation durch den Pfarrer zur Erlaubtheit bis zum CIC/1917. Die Jurisdiktion sei ein Akt des Willens und bestehe in der Übertragung einer Vollmacht. Die Approbation hingegen beruhe auf einer juridischen Erklärung, dass ein Priester die nötige Eignung besitze.41 Die Jurisdiktion sei ein Akt des Willens; daher müsse die generelle Befähigung in Todesgefahr als ein Akt der Übertragung durch den Papst angesehen werden, nicht a iure. Auch in einer Gewohnheit müsse der Wille des Ordinarius erkenntlich sein. Daher, so Hinschius, reiche eine stillschweigende Duldung für die Übertragung von Jurisdiktion in Todesgefahr nicht aus, sie müsse per Gesetz delegiert werden.42 Das Supplieren von Jurisdiktionsvollmacht im Falle des Irrtums wird konträr beurteilt. Nach Hinschius ist die Supplierung eine sehr verbreitete Meinung; dafür gebe es aber keinen rechtlichen Anhaltspunkt. Anders hingegen Lehmkuhl, der bei error communis cum titulo colorato die fehlende Jurisdiktion als von der Kirche suppliert ansieht.43 Aufgrund pastoraler Erfordernisse sind die Kanonisten der Auffassung, dass bei Beichtaushilfen in benachbarten Bistümern die Duldung als stillschweigend erteilte densobere über die ihnen zugeordneten Mitglieder. Als quasi ordinaria besitzen Beichtvollmacht der Generalvikar, Kapitularvikar, Coadjutor und Apostolischer Vikar. 39 Augustinus Lehmkuhl, Kirchliche Jurisdiction und das Suppliren derselben, in: ZKTh 6 (1882), S. 659 – 691, hier S. 664. 40 H. Nolden, Die Jurisdiction über Pönitenten aus fremden Diöcesen, in: ZKTh 5 (1881), S. 451 – 498, hier S. 451 – 460; Hinschius, System (Anm. 36), S. 89. 41 Nolden, Jurisdiction (Anm. 40), S. 454. 42 Hinschius, System (Anm. 36), S. 88. 43 Lehmkuhl, Kirchliche Jurisdiction (Anm. 39), S. 674.

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Jurisdiktion anzusehen oder durch Gewohnheitsrecht gegeben sei, wobei auch diese zudem als stillschweigende Approbation anzusehen sei.44 Hinsichtlich der gültigen Jurisdiktion über Pönitenten aus fremden Diözesen werden drei Ansichten vertreten: Die Jurisdiktion stamme vom Ortsordinarius des Ortes, des Priesters oder des Pönitenten. Im Übrigen sind bereits vor 1917 interdiözesane Vereinbarungen über die gegenseitige Übertragung der Beichtvollmacht an die Priester der je anderen Diözese getroffen. 3. Die Normierung im CIC/1917 Die Kodifizierung des kirchlichen Rechtes im CIC/1917 fasst die Entwicklung der Tradition zusammen und bringt sie in ein System abstrakter Normen. Für den Spender des Bußsakramentes werden die cc. 871 – 892 CIC/1917 formuliert. Sie gehen davon aus, dass die Absolution von Sünden durch eine doppelte Befähigung des Sakramentenspenders zustande kommt. Zur gültigen Absolution bedarf es auf Seiten des Spenders der priesterlichen Weihegewalt und einer Jurisdiktionsgewalt oder oberhirtlichen Gewalt über den Büßer (c. 872 CIC/1917). Von welcher Art diese Jurisdiktion sei, darüber streiten sich auch nach der Kodifizierung von c. 872 CIC/1917 die Gelehrten. Nach wie vor wird die Jurisdiktion im Vollzug der Beichtabsolution im Sinne des Tridentinums als sententia iudicialis und damit als richterliche Vollmacht verstanden. Doch inzwischen ist durch Mörsdorf auch die Einsicht gewachsen, dass das Konzil nicht einen Akt richterlicher Gewalt im eigentlichen Sinne gemeint haben kann, sondern einen Akt hoheitlicher Gewalt, der der nur deklaratorischen Auffassung der Reformatoren gegenübersteht. Die Beichtabsolution sei im Gegensatz zur weltlichen Gerichtsbarkeit als ein Akt der Gnade und Gerechtmachung zu verstehen und habe traditionell im Hinblick auf die priesterliche Beurteilung des Bekenntnisses und der Buße der frühkirchlichen Praxis unter dem Gedanken des Gerichts gestanden.45 Das Bußsakrament entbehre der Wesensmerkmale gerichtlicher Tätigkeit. Der Auflösung des Gerichtscharakters bei der Beichtabsolution widerspricht Ternus, da sich die sententia judicialis nicht so sehr auf die Beurteilung des Bekenntnisses und die Auferlegung der Buße beziehe, sondern auf das Lossprechen oder Behalten. Schuld werde dabei vorausgesetzt. Doch bleibe der Gerichtscharakter im Bußsakrament in unvergleichbarer Einmaligkeit gegenüber sonstiger kirchlicher oder weltlicher Gerichtsbarkeit.46 Dass es sich um einen hoheitlichen Akt handelt, bleibt daher für die kanonistische Interpretation von c. 871 CIC/1917 unangefochten.

44 Andreas Müller, Lexikon des Kirchenrechts und der römisch-katholischen Liturgie, Würzburg 1830, 1. Bd., S. 206 – 212, hier S. 210; Silbernagl, Lehrbuch (Anm. 37), S. 502; Sägmüller, Lehrbuch (Anm. 35), S. 47; Nolden, Jurisdiction (Anm. 40), S. 462. 45 Mörsdorf, Hoheitlicher Charakter (Anm. 6), S. 544. 46 J. Ternus, Die sakramentale Lossprechung als richterlicher Akt, in: ZKTh 71 (1949), S. 214 – 230, hier S. 227 f.

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Während nun der Besitz der Weihegewalt als selbstverständlich aufgefasst wird und keine weiteren Fragen aufwirft, muss der Besitz der Jurisdiktionsgewalt rechtlich entfaltet und geordnet werden. Die Grundeinteilung besteht darin, dass die oberhirtliche Gewalt entweder eine mit dem Amt verbundene und damit ordentliche Vollmacht ist oder durch Delegation übertragen wird und damit eine delegierte Vollmacht ist. Die kanonistische Lehre47 untergliedert die ordentliche Beichtvollmacht (c. 873 CIC/1917) in eine solche vollen Rechts, die jeweils den obersten Hirten für ihren Zuständigkeitsbereich zukommt: dem Papst für die Gesamtkirche, dem Ortsoberhirten innerhalb seiner Zuständigkeit, dem Personaloberhirten für seine Untergebenen. Eine Beichtvollmacht minderen Rechtes kommt den Kardinälen aufgrund des Privilegs für die gesamte Kirche zu, dem Bußkanoniker mit seinem Amt verbunden für den Bereich der Diözese und für die Untergebenen auch außerhalb, dem Pfarrer für seine Pfarrei und die Pfarrangehörigen auch außerhalb und dem Hausoberen gemäß Verbandsverfassung. Die Beichtvollmacht minderen Rechtes ist gegenüber der Beichtvollmacht vollen Rechtes dadurch qualifiziert, dass sie von der oberhirtlichen Gewalt abhängig bleibt, also nur für den inneren Bereich Geltung besitzt, außer mit ausdrücklicher Vollmacht des Oberen nicht delegiert werden und vom Oberen eingeschränkt oder behindert werden kann. Die mit einem Amt verbundene ordentliche Beichtvollmacht wird mit dem Amt erworben und geht mit dessen Niederlegung oder Entzug verloren sowie durch eine entsprechende Kirchenstrafe. Die Delegation der Beichtvollmacht geschieht durch Verwaltungsakt oder durch Gesetz. Die Delegation durch Verwaltungsakt kommt allein dem Oberhirten für seinen Zuständigkeitsbereich zu. Eine Subdelegation der Beichtvollmacht ist nicht möglich. Der Oberhirte kann die Bevollmächtigung zur Delegation auch Geistlichen mit Beichtvollmacht minderen Rechtes erteilen, so etwa dem Dechanten oder Pfarrer für Priesteraushilfen. Kraft allgemeinen Gesetzes ist die Beichtvollmacht jedem Priester bei Todesgefahr des Poenitenten delegiert (c. 882 CIC/1917). Sofern ein Priester die Beichtvollmacht besitzt, kann diese kraft gesetzlicher Delegation auch auf Schiffsreisen ausgeübt werden (c. 883 CIC/1917). Im teilkirchlichen Bereich haben die Pfarrer auch weiterhin über die Zuständigkeit ihres Pfarrsprengels hinaus durch partikularrechtliche Gesetzgebung aufgrund von interdiözesanen Vereinbarungen oder aufgrund von Gewohnheitsrecht delegierte Beichtvollmacht.48 Die Vollmacht zur Absolution von Sünden ist dem forum internum zugeordnet und durch das Beichtgeheimnis geschützt. Ist jedoch eine Kirchenstrafe verhängt, die dem Empfang der Absolution von Sünden entgegensteht, so muss zunächst die Strafe aufgehoben werden. Dies geschieht regelmäßig im äußeren Bereich durch den zuständigen Oberhirten. Ein Vorbehalt zur Absolution bei bestimmten Sünden kann 47

Eduard Eichmann, Lehrbuch des Kirchenrechts auf Grund des Codex Iuris Canonici, Paderborn 21926, S. 298 – 302; Mörsdorf Lb, 2. Bd. (81953), S. 71 – 72. 48 Matthäus Kaiser, Befugnis zur Entgegennahme der Beichten, in: AfkKR 154 (1985), S. 164 – 182, hier S. 168 – 175.

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vom apostolischen Stuhl (c. 894 CIC/1917) oder vom Oberhirten vorgenommen worden sein (cc. 897, 898 CIC/1917). In diesem Fall kann von untergeordneten Priestern nicht absolviert werden, außer in Todesgefahr. IV. Die Lehre des Zweiten Vatikanischen Konzils zur Spendung des Bußsakramentes Die Väter des Zweiten Vatikanischen Konzils wollten bewusst zugleich mit der Bewahrung der tridentinischen Lehre den mit dem 20. Jahrhundert wieder entdeckten und von der Theologie bejahten ekklesialen Charakter der Buße einbezogen wissen. In Art. 11 der Kirchenkonstitution Lumen gentium werden die beiden Wesenselemente des Bußsakramentes miteinander verbunden, das genauere Verhältnis zueinander aber offen gelassen: Vergebung der Schuld durch Gott und die Versöhnung des Sünders mit der Kirche (LG 11,2). Die Kirche ist durch die Sünde mit betroffen. Durch Liebe, Beispiel und Gebet beteiligt sie sich an der Wiederversöhnung. Wer aber der Kirche eingegliedert ist, nicht aber in der Liebe und damit auch dem Herzen nach in der Kirche verbleibt, findet keine Rettung (LG 14,2). Der Gerichtscharakter des Bußsakramentes wird vom Konzil allerdings an keiner Stelle erwähnt. Nach der Lehre des Zweiten Vatikanischen Konzils ist in jeder rechtmäßigen Teilkirche die Kirche Christi wahrhaft anwesend (LG 26,1). Diese Teilkirchen werden von den Bischöfen als Stellvertreter und Gesandte Christi geleitet durch Rat, Zuspruch und Beispiel, aber auch in Autorität und heiliger Vollmacht (sacra potestate) (LG 27,1). Ihnen ist das Hirtenamt in vollem Umfang anvertraut (LG 27,2). Die Bischöfe sind mit der Fülle des Weihesakramentes ausgezeichnet (LG 26,1). Daher steht jede Eucharistiefeier unter der Leitung des Bischofs. Er leitet die Taufspendung. Er ist der erstberufene Firmspender, erteilt die heiligen Weihen und regelt die Bußdisziplin (LG 26,249). Die Bischöfe, durch die Apostel als dessen Nachfolger der Weihe und Sendung Christi teilhaftig, haben die Aufgabe ihres Dienstamtes in mehrfacher Abstufung weitergegeben (LG 28,1). So hängen die Priester in Ausübung ihrer Gewalt vom Bischof ab und sind zur Verkündigung der Frohbotschaft, zum Hirtendienst an den Gläubigen und zur Feier des Gottesdienstes geweiht. Für die büßenden oder von Krankheit heimgesuchten Gläubigen walten sie vollmächtig des Amtes der Versöhnung und der Wiederaufrichtung. Im Sakrament der Buße versöhnen sie die Sünder mit Gott und der Kirche (PO 5,1). Dazu besitzen sie heilige Weihevollmacht (sacra ordinis potestas, PO 2,1). Sie unterweisen die Gläubigen im Geist Christi des Hirten, ihre Sünden reumütig der Kirche im Sakrament der Buße zu unterwerfen (PO 5,3). So üben die Priester entsprechend ihrem Anteil an der Vollmacht (auctoritas) das Amt Christi des Hauptes und Hirten aus (PO 6,1). 49 LG 26,2: Ipsi sunt ministri originarii confirmationis, dispensatores sacrorum ordinum et moderatores disciplinae poenitentialis. Vgl. SC 26,1; 41 f.

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Diese Aussagen des Konzils stellen den besonderen Dienst des Priesters dem Dienst aller Gläubigen im allgemeinen Priestertum zur Seite. Daher sind ausdrücklich die drei dem Priester aufgrund seiner Weihevollmacht besonders aufgetragenen Sakramentenspendungen genannt: Eucharistie, Beichte und Krankensalbung. Eine Jurisdiktionsvollmacht wird für das Bußsakrament in diesem Zusammenhang nicht eigens angeführt. Ob daher das Bußsakrament aufgrund der bereits in der Priesterweihe gegebenen Weihevollmacht gespendet wird oder Leitungsgewalt darin ebenfalls tätig wird, findet in den Konzilsdokumenten keine Antwort. Ebenso wird auf eine Darstellung der Wirkweise des Bußsakramentes verzichtet. Deutlich wird jedoch bestätigt, dass dem Bischof die Kirchengewalt in seiner Teilkirche zukommt, an der die Priester teilnehmen. Daher wurde auch der Übertragung der sacra potestas im Bischofsamt in Lumen gentium Art. 21 und in der dazu gehörenden ,Nota explicativa praeviaÐ (NEP) in der kanonistischen Diskussion eine zentrale und ganz grundsätzliche Rolle zugestanden. In der Konstitution heißt es von der Bischofsweihe, dass durch sie das munus sanctificandi übertragen werde; zugleich würden die munera docendi et regendi gegeben, welche aber nur in der hierarchisch geordneten Communio ausgeübt werden können. Die NEP fügt klärend bei, dass mit Bedacht der Ausdruck munera verwendet werde und nicht potestates, weil das letztgenannte Wort als „zum Handeln freie“ Vollmacht missverstanden werden könnte. Dazu bedarf es aber noch der kanonischen Bestimmung durch die hierarchische Autorität. Wie sich aber ontologica participatio und potestas ad actum expedita und damit letztlich Weihe- und Leitungsvollmacht zueinander verhalten, wird vom Konzil nicht weiter beantwortet. Daher mussten sich, auch im Hinblick auf die Reform des Kirchenrechts, die Gelehrten in breitem Umfang mit der Interpretation der Textgeschichte und der Konzilstexte in diesem Punkt beschäftigen.50 Mehrere Lösungen wurden dargeboten. Mit G¦rard Philips, der am Schema zu Art. 21 LG mitgearbeitet hatte, und W. Bertrams geht ein Großteil gewichtiger Theologen davon aus, dass das Prinzip der Einheit der sacra potestas durch das Konzil dadurch gewahrt wurde, dass mit der ontologica participatio durch die Weihe die Kirchengewalt wesenhaft und vollständig übertragen wird und nur noch einer rechtlichen Determination bedürfe.51 Anders sieht Klaus Mörsdorf, der ebenfalls an der Erarbeitung des Schemas beteiligt war, die ganze Vollmacht nicht bereits durch die Weihe vermittelt. Die Weihe übertrage von der sacra potestas das eine Konstitutivelement, nämlich die potestas ordinis, für das zweite Konstitutivelement, die potestas iurisdictionis, aber nur die seinsmäßige Befähigung zum Empfang. Die potestas iurisdictionis müsse durch die nähere recht-

50 Vgl. Amann, Laien (Anm. 1), S. 66 – 72; Heribert Schauf, Zur Textgeschichte grundlegender Aussagen aus „Lumen Gentium“ über das Bischofsamt, in: AfkKR 141 (1972), S. 5 – 147, hier S. 43, 125. 51 Vgl. ebd., S. 59 f.; Adriano Celeghin, Origine e natura della potest— sacra. Posizioni postconciliari, Brescia 1987, S. 186 f.

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liche Bestimmung übertragen werden.52 Schließlich vertritt Jean Beyer die Ansicht, mit der Weihe würden die tria munera als eine einheitliche geistliche Gabe in einer personalen Prägung vermittelt und die Weihevollmacht übertragen. Die Leitungsgewalt werde hingegen durch missio canonica davon unabhängig übertragen, so dass sie auch ohne den Empfang der Weihe ausübbar sein könne.53 V. Die Fakultas als Erfordernis für die gültige Spendung des Bußsakramentes 1. Die ungelöste Streitfrage Die Geschichte des Kirchenrechts und der Theologie zur Buße sowie die lehramtlichen Zeugnisse der Kirchen können keinen Aufweis dafür bringen, ob die priesterliche Vollmacht zur Absolution im Bußsakrament bereits mit der Weihe gegeben wird oder ob sie als in der Weihe grundgelegte Vollmacht erst in Verbindung mit der Übertragung von Leitungsgewalt wirksam werden kann. Faktum ist jedoch, dass die Kirche von Anfang an in Praxis und Theorie daran festgehalten hat, dass die priesterliche Weihe allein nicht zur gültigen Absolution – von zumindest schweren Sünden – ausreicht, sondern die potestas aufgrund von Weihe von einer iurisdictio geordnet oder mitbestimmt oder zur Ausübung freigegeben werden muss. Auch nach der Kodifizierung von 1983 bleibt die Frage in der kanonistischen Wissenschaft strittig, mit durchaus grundlegender Auswirkung auf die Verfassung der Kirche. Während daher in manchen kirchenrechtlichen Darstellungen heute die Frage offen gelassen und undefiniert bleibt, die Beichtbefugnis auf dem Fundament der Priesterweihe als Ordnungsfunktion qualifiziert wird, nehmen die Autoren im Wesentlichen die beiden grundsätzlichen Positionen ein, wie sie die Tradition und die Interpretation des II. Vaticanums vorgeben. Die einen sehen in der Sprachregelung von c. 966 § 1 CIC/1983 lediglich eine terminoloigsche Änderung gegenüber dem CIC/1917 und halten diese Bevollmächtigung für inhaltlich identisch mit der in c. 872 CIC/1917 genannten potestas iurisdictionis54. Die facultas werde in gleicher 52 Klaus Mörsdorf, Heilige Gewalt, in: Karl Rahner u. a. (Hrsg.), Sacramentum Mundi. Theologisches Lexikon für die Praxis, 2. Bd., Freiburg i. Br. 1968, S. 582 – 597, hier S. 593 – 595; Aymans-Mörsdorf KanR, 1. Bd., S. 393 – 395; Peter Krämer, Dienst und Vollmacht in der Kirche. Eine rechtstheologische Untersuchung zur Sacra Potestas-Lehre des II. Vaikanischen Konzils, Trier 1973, S. 73 – 86. 53 Jean Beyer, „Hierarchica Communio“. Una chiave dellÏecclesiologia della „Lumen Gentium“, in: CivCatt 132/2 (1981), S. 464 – 473; Celeghin, Origine e natura (Anm. 51), S. 283 f. 54 Matthäus Kaiser, Potestas iurisdictionis?, in: FS May, S. 81 – 107, hier S. 101; Eugenio Corecco, Natur und Struktur der sacra potestas in der kanonistischen Doktrin und im neuen CIC, in: AfkKR 153 (1984), S. 354 – 383, hier S. 382; Hubert Socha, c. 130, Rdnr. 5, in: MK CIC (Stand: Nov. 1986); Helmut Pree, Die Ausübung der Leitungsvollmacht, in: HdbKathKR1, S. 131 – 141; Rudolf Weigand, Das Bußsakrament, in: HdbKathKR1, S. 692 – 707.

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Weise wie die potestas regiminis übertragen, für sie gelte daher auch die Bestimmung über die Ergänzung bei fehlender Leitungsgewalt. Ein anderer Teil der Kanonisten misst der facultas bei der Sakramentenspendung lediglich formalen Charakter bei, auch wenn diese aufgrund von Leitungsgewalt übertragen werde. Die facultas habe keinen eigenen Inhalt und sei daher nicht als potestas zu interpretieren55. Innerhalb dieser Position kann nochmals unterschieden werden, ob dann die Beichtabsolution aufgrund von Weihe- und Leitungsvollmacht gespendet wird, weil als ganze sacra potestas in der Weihe übertragen, oder ob sie allein aufgrund von Weihegewalt vollzogen wird. Im letzeren Fall handle der Priester mit Leitungsvollmacht nur bei der Lossprechung von Strafen oder der Dispenserteilung von Ehehindernissen im sakramentalen Bereich. Die Ungültigkeit der Spendung des Bußsakramentes bei fehlender Fakultas wird dann der mangelnden Form zugerechnet, entsprechend der Verungültigung bei mangelnder Eheschließungsform. 2. Kodikarische Exegese im Hinblick auf die Bewertung der Beichtbefugnis Der Begriff der facultas besitzt im CIC/1983 ein breites Bedeutungsspektrum. Es reicht von der Fähigkeit im allgemeinen Sinn (c. 799) über die Möglichkeit zur Stimmabgabe (c. 167 § 1) und die Gelegenheit zur Verteidigung (cc. 695 § 2, 697 28, 1569 § 1, 1720 18) bis hin zu einer Berechtigung (c. 667 § 4) und prozessrechtlichen Ermächtigung (c. 1482 § 1). Neben der facultas im sakramentalen Bereich und zur erlaubten Predigt (c. 764) bezeichnet sie gleichstellende Befugnisse (cc. 517 § 2, 533 § 3, 566 §§ 1 – 2, 510 § 2) und Sonderbefugnisse (cc. 364 88, 403 §§ 2 – 3, 555 § 1). Potestates et facultates können aufzählend verbunden werden, wobei die Abgrenzung beider Begriffe undeutlich bleibt (cc. 409 § 2, 517 § 2). Facultas ist zuweilen für die Deutung im Sinne von Leitungsgewalt offen (z. B. cc. 403 §§ 2 – 3, 132 § 1). Was die facultas ordinaria des Bußkanonikers angeht, im sakramentalen Bereich von Beugestrafen loszusprechen, ist facultas als Leitungsgewalt zu verstehen. Dementsprechend muss festgehalten werden, dass die nicht strenge Unterscheidung der Begriffe licentia, facultas und potestas der Rechtstradition und auch des CIC/ 191756 rechtssprachlich auch im geltenden Recht des CIC weitergeführt ist. Die Bedeutung von facultas muss demnach jeweils aus Text und Kontext erschlossen werden. Der Begriff für sich genommen gibt keinen Aufschluss über seinen Inhalt. Für die inhaltliche Bestimmung der facultas im sakramentalen Bereich sind als erste Anhaltspunkte die cc. 130 und 144 § 2 CIC/1983 aus den allgemeinen Normen heranzuziehen. Nach c. 130 wird die Leitungsgewalt in der Regel im äußeren Be55 Hubert Müller, Zur Frage nach der kirchlichen Vollmacht im CIC/1983, in: ÖAKR 35 (1985), S. 83 – 106, hier S. 95, 105; Peter Krämer, Die geistliche Vollmacht, in: HdbKathKR1, S. 124 – 131, hier S. 126; ders., Kirchenrecht II. Ortskirche – Gesamtkirche, Stuttgart/Berlin/ Köln 1993, S. 51. 56 Klaus Mörsdorf, Die Rechtssprache des Codex Iuris Canonici, Paderborn 1937, S. 89 f.

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reich, bisweilen nur im inneren Bereich, in Verbindung mit c. 1357 § 1 auch im Beichtsakrament ausgeübt. Die Lossprechung von Beugestrafen innerhalb der Beichte bei Todesgefahr (c. 976) ist sicher als ein Akt hoheitlicher Leitungsgewalt zu bewerten. Daher ist die Frage des Tätigwerdens der Leitungsgewalt bei der Absolution ebenfalls im forum internum damit nicht beantwortbar. In c. 144 § 2 wird die facultas von der potestas regiminis exsecutiva des § 1, anders als im c. 209 CIC/1917, terminologisch und gesetzessystematisch abgehoben. Für das Sakrament der Firmung (cc. 882, 883) und der Beichte (c. 966) sowie für die Eheschließungsassistenz (c. 1111 § 1) wird in errore communi de facto aut de iure die facultas suppliert. Durch die verkürzende Bezugnahme des c. 144 § 2 auf § 1, die sich dadurch erklären lässt, dass c. 144 § 2 bei der Reformarbeit erst nach dem Schema CIC/1982 vom Sakramentenrecht in die allgemeinen Normen eingefügt wurde57, wird eine zweifache Lesart möglich. Wenn durch c. 144 § 2 die Norm des § 1 auf die Befugnisse im sakramentalen Bereich Anwendung findet, dann kann dies bedeuten, dass entweder die facultas oder die potestas regiminis exsecutiva ergänzt wird. Im letzteren Fall wäre zum Ausdruck gebracht, dass die facultas selbst als potestas regiminis aufzufassen ist. Der Begriff der facultas würde dann den eigengeprägten Charakter der im sakramentalen Bereich wirksamen Kirchengewalt herausstellen. Diese Interpretationsmöglichkeit wird von c. 995 CCEO unterstrichen, wonach, im Gegensatz zum Bezug des c. 144 § 2 CIC/1983 nur auf § 1, alle Bestimmungen über die ausführende Leitungsgewalt auch für die facultates im sakramentalen Bereich Geltung bekommen. Dies ist ein wesentlicher Unterschied zum lateinischen Recht und könnte, insofern ein enger Bezug der facultas zur potestas regiminis hergestellt wird, als bewusste Korrektur gedeutet werden. Ein durchschlagendes Argument für oder gegen die jurisdiktionelle Natur der facultas kann daraus jedoch nicht gewonnen werden. Im Gegensatz zum CIC/1917, der die Vollmacht zur Entgegennahme von Beichten mit den Begriffen potestas (cc. 872, 881 § 2, 893 § 1 CIC/1917), iurisdictio (cc. 875 § 2, 873, 874 §§ 1 – 2, 877 – 881 § 1 CIC/1917), facultas (cc. 899 §§ 1 – 2, 900 28, 883 § 1, 339 § 1 18 CIC/1917) und approbatus (c. 882 CIC/1917) bezeichnet und dies als Ausübung von Jurisdiktionsgewalt verstanden wissen wollte, verwendet der CIC/1983 dafür nur noch den Begriff der facultas und einmal die Wendung sacerdos approbatus (c. 976). C. 966 § 1 legt zwar dem Wortlaut nach nahe, dass bei der Absolution allein Weihegewalt ausgeübt wird, welche von der facultas formal geregelt wird, doch wurde in der Diskussion um die Beichte bei der Codexreform der Gerichtscharakter des Bußsakramentes keinesfalls geleugnet. Allerdings unterblieb letzlich die Beifügung eines iudicialem.58 Die Beiträge in der Codexreform bleiben

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Coetus Studiorum De sacramentis (20 – 25.6.1977), in: Communicationes 10 (1978), S. 63 f. Im Schema CIC/1982 war diese Norm noch nicht bei den Allgemeinen Normen eingeordnet. 58 Communicationes 10 (1978), S. 50.

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zur Frage der Qualität der facultas letztlich uneinheitlich.59 Der Wunsch, auf die facultas ganz zu verzichten, weil die Vollmacht bereits mit der Priesterweihe gegeben sei, wurde abgelehnt. So ist es möglich, c. 966 § 1 CIC/1983 in dem Sinne zu interpretieren, dass bei der Absolution von Sünden Weihegewalt und Leitungsgewalt zusammen wirksam werden. Dass es der CIC vermeidet, im Zusammenhang mit dem Spender des Bußsakramentes von delegatio zu sprechen, darf, wie ein Blick auf die Firmung und Trauassistenz zeigt, nicht einseitig bewertet werden. Nach dem System des CIC/1917 war die Beichtjurisdiktion auf ordentliche Weise durch die Amtsübertragung vermittelt oder durch Delegation (c. 872: sive ordinaria sive delegata). Bei Irrtum oder im Zweifelsfall galt die Jurisdiktion als suppliert (c. 209: iurisdictionem supplet). In Todesgefahr wurde die Beichtvollmacht als Rechtstatsache formuliert (c. 882: valide et licite absolvunt). Das geltende Recht des CIC/1983 und ebenso des CCEO differenziert in neuer Systematik und Rechtssprache. Die Beichtbefugnis kann einem Priester von Rechts wegen oder durch Verleihung (c. 966 § 2 CIC/1983: sive ipso iure sive concessione) oder durch ein Amt (c. 968 § 1: vi offici) zukommen. Papst, Bischöfe und Kardinäle besitzen Beichtvollmacht von Rechts wegen, Ortsordinarien, Bußkanoniker, Pfarrer und Ordensobere von Lebensverbänden päpstlichen Rechts hingegen von Amts wegen. Alle anderen Priester erhalten die Beichtbefugnis vi concessionis. Eine Ausdehnung der Vollmacht kann wiederum von Rechts wegen erfolgen (c. 967 § 3) oder durch einfaches Zugeständnis (c. 967 § 2). Wer die Beichtbefugnis von Rechts wegen besitzt, kann diese immer gültig ausüben; sie kann nur im Einzelfall durch Verbot belegt werden. Besitzt ein Priester die Beichtvollmacht in Verbindung mit seinem Amt, so kann sie ihm nur zugleich mit dem Amt entzogen werden. Wird die Beichtbefugnis in einfacher Weise zugestanden, so kann sie vom Oberen innerhalb seiner Zuständigkeit im Vollzug verungültigt werden. Damit werden mit dieser Neuordnung im kodikarischen Recht nicht nur Tradition und die Anforderungen gegenwärtiger Pastoral in Ausgleich gebracht, sondern der ekklesiale Charakter der Buße insgesamt neu bewertet. 3. Rechtstheologische Erwägungen In welchem rechtlichen Verhältnis zueinander verhalten sich Weihegewalt und Beichtfakultas, und von welcher Qualität sind diese beiden Konstitutivelemente der gültigen Absolutionserteilung? Wir kommen auf diese Frage nun in rechtstheologischen Erwägungen zurück. Aus der Tradition bis hin zum Zweiten Vatikanischen Konzil, aus rechtssprachlichen Erwägungen und aus der Normierung des geltenden 59 Ebd., S. 56. Der Relator begründet den Verzicht auf den Begriff iurisdictio mit dem Verweis darauf, dass die iurisdictio jetzt mit der potestas regiminis zu identifizieren sei, die aber im äußeren Bereich und nicht im Gewissensbereich wirksam werde. Dabei wird übersehen, dass die Wirkung der Beichte gerade für den äußeren Bereich, nämlich für die volle Teilhabe am Leben der Kirche, bedeutsam ist. Der völlige Verzicht auf die facultas, weil bereits mit der Weihe diese Vollmacht gegeben sei, wird von der Kommission abgelehnt.

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Rechtes sind Hinweise, aber keine klare Erkenntnis zu gewinnen. Es scheint, dass mit allen Aussagen und gesetzlichen Bestimmungen die dahinter liegende dogmatische und kanonistische Streitfrage nicht entschieden werden sollte. Der Vollzug der gültigen Absolution in der Beichte bedarf der Grundlegung in der Priesterweihe. Das ist durch die unverbrüchliche Tradition bezeugt und auch im geltenden CIC/1983 wie im CCEO so normiert. Minister sacramenti paenitentiae est solus sacerdos (c. 965 CIC/1983). Er ist im Besitz der entsprechenden Weihegewalt (c. 966 § 1). Diese aber kann bei der Spendung des Bußsakramentes nur durch die Mitwirkung der zuständigen Autorität zu einer ausübbaren Vollmacht werden. Dass die Absolutionsvollmacht allein aufgrund von Weihegewalt frei ausübbar wäre, hat bislang weder im kirchlichen Recht noch in der Kanonistik Anerkennung gefunden. Dies führt zu der noch vorgelagerten Grundsatzfrage, warum es denn bei der Regelung des Bußsakramentes überhaupt einer facultas bedarf. Warum ist im Hinblick auf die Gültigkeit eine solcherart ordnende Hand, wie sie die gesamte Tradition und das geltende Recht vorgeben, nötig, sei es durch Übertragung von Leitungsgewalt, sei es durch die formale Freigabe des Exercitiums aufgrund von Leitungsgewalt? Wenn es sich um einen Gnadenakt der Sündenvergebung handelt, warum genügt dann nicht die Schlüsselvollmacht durch die Weihe? Warum wird nicht auch mit der Schlüsselvollmacht deren Ausübung grundsätzlich freigegeben? Für Gott gibt es doch keine territorialen Grenzen seiner Gnade. Warum bedarf es der Zuständigkeit eines Ordinarius, dessen Erteilung einer Fakultas dann doch wieder Geltung in der Gesamtkirche beanspruchen kann? Eine Erklärung kann wohl nur in der primär kirchlichen Funktion des Bußsakramentes gesucht und aus dem inneren Zusammenhang mit dem altchristlichen Bußverfahren verstanden werden. Aus der Beseitigung des gestörten Verhältnisses zur kirchlichen Gemeinschaft ergibt sich die Zuständigkeit der Hirtengewalt. Insofern die Kirche mystischer Leib Christi ist, bedarf es zugleich der Versöhnung mit der Kirche und der Versöhnung mit Gott. Durch das Bußsakrament wird die Versöhnung mit Gott in der Versöhnung mit der Kirche sichtbar und durch die Versöhnung mit der Kirche die Versöhnung mit Gott zugleich bewirkt. Die lebendige Gemeinschaft mit der Kirche muss wieder hergestellt werden, weil durch die schwere Sünde diese Gemeinschaft und damit die Gliedschaftsrechte und -pflichten verletzt wurden. Bei der Taufgnade, die mit sündenvergebender Kraft die Kirchengemeinschaft schenkt, war die Kirchengemeinschaft noch gar nicht vorhanden; sie war deshalb auch nicht verletzt worden. Die Wiederherstellung der Kirchengemeinschaft aber ist Instrumentalursache für die Gnadenwirkung. Erstere ist an die oberhirtliche Vollmacht, letztere an die potestas ordinis gebunden. Der Unterschied zwischen dem altkirchlichen Bußverfahren und der späteren Form des Bußsakramentes besteht im Öffentlichwerden der Communio, der vollen Kirchenzugehörigkeit, also im unterschiedlichen Forum von externum und internum. Diese Bezogenheit des Bußsakramentes auf die Communio wird im Denkmodell einer heilsökonomisch bestimmten Ausübung der sacra potestas rechtstheologisch

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sinnvoll.60 Wie schon das Konzil sagt, kann die sacra potestas als einheitliche Größe und geistliche Vollmacht nur als Dienst in der Kirche und für die Kirche verstanden werden. Sie ist in der sakramentalen Weihe konstituiert und wird durch die kanonische Sendung rechtlich näher bestimmt und in ihrer Ausübung zugewiesen. Weiheund Leitungsgewalt bilden daher zwei komplementäre Konstitutivelemente der einen heiligen Gewalt, die Jesus Christus seiner Kirche anvertraut hat. Sie verhalten sich zueinander wie Lebens- und Ordnungsprinzip der Communio. Daher kann die Leitungsgewalt auch nicht als eine zweite Gewalt verselbständigt werden. Der Dienst in geistlicher Vollmacht besteht in einem Veranwortungsverhältnis innerhalb der Kirche in Repräsentation von Christus als Haupt. Daher kann das Hirtenamt in der Kirche auch nicht in einer Über- und Unterordnung, vergleichbar staatlichen Machtverhältnissen, zum Ausdruck gebracht werden. Die sakramentale Lossprechungsvollmacht des Priesters besitzt gleichfalls Dienstcharakter in der Repräsentation Christi und in Verantwortung für die Kirche als mystischem Leib Christi. In dieser Weise muss und kann aber auch nur die Beichtabsolution mit einer richterlichen oder verwaltend gnadenerweisenden Tätigkeit gleichgesetzt werden. Aufgrund dieser Besonderheit wird verständlich, warum das kodikarische Recht nunmehr die Begriffe potestas iurisdictionis oder potestas regiminis im Zusammenhang mit dem Bußsakrament vermeidet. Die Beichtjurisdiktion ist wesenhaft mit der priesterlichen Weihevollmacht verbunden und wird doch wegen der Communiobezogenheit durch das apostolische Amt geordnet. Mit der Priesterweihe wird also die Weihegewalt übertragen und zugleich im Hinblick auf die Spendung des Bußsakramentes und ebenso der Firmung die damit konstitutiv verbundene Leitungsgewalt, die aber nur entsprechend dem Dienst und der Repräsentation Christi des Hauptes innerhalb der Communio erlaubt und gültig ausgeübt werden kann. Die geistliche Vollmacht ist in ihrer Ausübung in die Amtsgemeinschaft eingebunden und darf nicht individualistisch missverstanden werden. Die Priester bilden innerhalb der Teilkirche ein Presbyterium, die Bischöfe in der Gesamtkirche ein Bischofskollegium zusammen mit ihrem Haupt, dem Papst. Daher sind die Priester in der Ausübung ihrer geistlichen Vollmacht auch an den Bischof verwiesen, die Bischöfe an das Bischofskollegium und dessen Haupt. Demnach besitzen die geistlichen Hirten Absolutionsvollmacht gemäß ihrer kanonischen Sendung und ihrer Amtsgemeinschaft. Daher kommen dem Papst und den Bischöfen als Nachfolger der Apostel sowie den Kardinälen in ihrer besonderen Stellung von Rechts wegen auch im Rahmen des Kollegiums Absolutionsvollmacht in der gesamten Kirche zu. Die Ortsordinarien besitzen in Stellvertretung des Bischofs für die Teilkirche und die Pfarrer als Stellvertreter des Bischofs in der Pfarrei die Vollmacht, im Bußsakrament mit Gott und der Kirche zu versöhnen. Deshalb empfangen die Priester die Beichtfakultas auch in Bezogenheit zu ihrem Inkardinations- oder Wohnortsbischof in der Zugehörigkeit zum jeweiligen Presbyterium der Teilkirche. Auf demselben Weg geht die Beichtfakultas auch wieder verloren. 60 Vgl. Krämer, Dienst und Vollmacht (Anm. 52), S. 107 – 117; ders., Die geistliche Vollmacht (Anm. 55), S. 153 f.

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Die geistliche Vollmacht ist von Christus gestiftet, um die Kirche als Heilsgemeinschaft in Wort und Sakrament aufzuerbauen und ihre Heilssendung bis zum Ende der Tage fortbestehen zu lassen. So sollen alle Menschen zum Heil geführt werden durch die Gemeinschaft mit Christus, die in der Kirche sichtbar verwirklicht ist. Die Gemeinschaft mit Christus als heilsnotwendige Wirklichkeit und die Glaubwürdigkeit der Kirche als Heilsgemeinschaft werden im Sakrament der Buße greifbar. Deshalb bedarf es einer Heilsökonomie, einer Befähigung, Weitung oder Begrenzung der Lossprechungsvollmacht im Recht der Kirche um der salus animarum Willen, die oberstes Gesetz in der Kirche sein muss (c. 1752 CIC/1983). So wird vor einer Erteilung der Beichtfakultas die Prüfung der Befähigung gefordert. Um des Seelenheiles Willen und um die Gültigkeit nicht unnötig zu gefährden, wird die Beichtfakultas von Rechts wegen geweitet: In Todesgefahr wird die Beichtvollmacht jedes Priesters frei gegeben. Bei begründetem Irrtum oder Zweifel wird die Beichtfakultas von Rechts wegen ergänzt. Überall absolviert ein Priester gültig, wenn er die Fakultas von seinem Bischof erhalten hat. Um Gefahren und Missbrauch zu wehren, kann die Absolutionsvollmacht andererseits von der zuständigen Autorität in der Erlaubtheit eingeschränkt und in ihrer Gültigkeit unterbunden werden durch Reservation, zeitliche Eingrenzung oder Verwehrung des Vollzugs. Auch wird die Beichtvollmacht bei absolutio complicis qua Gesetz verungültigt (c. 977 CIC/1983). Nach Tradition und geltenem Recht kann also Priestern die zur gültigen Absolution erforderliche Beichtbefugnis nur durch ein Seelsorgeamt oder durch den zuständigen Ortsordinarius ihres Inkardinationsverbandes oder des Wohnortes übertragen werden. Ist dies nicht der Fall, bleibt ihnen diese Sakramentenspendung verwehrt. Ein Bischof, der zwar selbst immer gültig die Beichtvollmacht besitzt und damit von Rechts wegen über entsprechende Vollmacht verfügt, kann diese nur innerhalb seines Jurisdiktionsbereiches übertragen. Außerhalb dessen oder bei entsprechender Strafbelegung bleibt die Beichtfakultas unerlaubt und ungültig.

Omnium in mentem Ein notwendiger Schritt zur Klärung von Wesen und Sendung des Diakons? Von Christoph Ohly I. Hinführung zur Fragestellung Am 24. April 2005 übernahm nach der Wahl durch die Kardinäle im Konklave vom 19. April 2005 Papst Benedikt XVI. sein Amt als 265. Nachfolger des hl. Petrus. Sein Pontifikat ist seither durch eine spürbare lehramtliche Komponente bestimmt. Darunter fallen insbesondere die drei Enzykliken1, zwei umfassende Nachsynodale Apostolische Schreiben2 sowie zahlreiche Predigten, Vorträge, Botschaften, Ansprachen und Katechesen anlässlich der wöchentlichen Generalaudienzen3. Wenngleich sie ausdrücklich keinen lehramtlichen Akt, sondern den Ausdruck eines „persönlichen Suchens ,nach dem Angesicht des HerrnÐ (vgl. Ps 27,8)“4 darstellen, sind in diesem Zusammenhang ebenso die beiden bisherigen Jesus-Bücher zu nennen, die weltweit große Beachtung gefunden haben.5 Aber auch mit Blick auf die gesetzgeberische Tätigkeit des Papstes kann bis zum heutigen Zeitpunkt bereits eine Reihe von weitreichenden Initiativen erwähnt werden. Dazu zählen vor allem die Apostolische Konstitution Anglicanorum coetibus6 zur korporativen Aufnahme von anglikanischen Gläubigen in die volle Gemeinschaft 1 Papst Benedikt XVI., Enzyklika Deus caritas est vom 25. Dezember 2005, in: AAS 98 (2006), S. 217 – 252; dt. Übersetzung in: VApSt 171, Bonn 2006; ders., Enzyklika Spe salvi vom 30. November 2007, in: AAS 99 (2007), S. 985 – 1027; dt. Übersetzung in: VApSt 179, Bonn 2007; ders., Enzyklika Caritas in veritate vom 29. Juni 2009, in: AAS 101 (2009), S. 641 – 709; dt. Übersetzung in: VApSt 186, Bonn 2009. 2 Papst Benedikt XVI., Nachsynodales Apostolisches Schreiben Sacramentum Caritatis vom 22. Februar 2007, in: AAS 99 (2007), S. 105 – 180; dt. Übersetzung in: VApSt 177, Bonn 2007; ders., Nachsynodales Apostolisches Schreiben Verbum Domini vom 30. September 2010, in: AAS 102 (2010), S. 681 – 787; dt. Übersetzung in: VApSt 187, Bonn 2010. 3 Siehe dazu www.vatican.va. 4 Joseph Ratzinger/Papst Benedikt XVI., Jesus von Nazareth. Erster Teil: Von der Taufe im Jordan bis zur Verklärung, Freiburg/Basel/Wien 2007, S. 22. 5 Siehe Anm. 4; dazu ders., Jesus von Nazareth. Zweiter Teil: Vom Einzug in Jerusalem bis zur Auferstehung, Freiburg/Basel/Wien 2011. 6 Papst Benedikt XVI., Apostolische Konstitution Anglicanorum coetibus vom 4. November 2009, in: AAS 91 (2009), S. 985 – 990. Siehe dazu auch Kongregation für die Glaubenslehre, Normae complementares quoad Constitutionem Apostolicam Anglicanorum coetibus, in: Communicationes 41 (2009), S. 301 – 306.

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mit der Katholischen Kirche sowie einige Motuproprien, die verschiedene rechtliche Sachfragen in Lehre7, Verkündigung8, Liturgie9 und Disziplin10 normieren. Ein Gesetz, das in diesem Zusammenhang große Aufmerksamkeit auf sich zog, stellt das Motu Proprio Omnium in mentem dar. Es wurde von Papst Benedikt XVI. am 26. Oktober 2009 erlassen und am 15. Dezember desselben Jahres veröffentlicht.11 Das päpstliche Gesetz nimmt im Bereich des kirchlichen Ehe- und Weiherechts entscheidende Veränderungen an fünf Canones vor (cc. 1008, 1009, 1086, 1117 und 1124 CIC). Auch wenn mit der Promulgation des Codex Iuris Canonici von 1983 grundsätzlich vorgesehen war, in beständiger Weise notwendige Veränderungen an kodikarischen Normen in das Gesetzbuch einzuarbeiten, ist es zu dieser gesetzgeberischen Arbeitsweise bisher erst einmal in den nunmehr fast 30 Jahren gekommen. Papst Johannes Paul II. gliederte im Jahre 1998 auf dem Hintergrund der revidierten Formel der Professio Fidei und des Iusiurandum Fidelitatis12 den bis dahin geltenden c. 750 CIC in zwei gesonderte Paragraphen und korrigierte infolgedessen die diesbezüglich relevante strafrechtliche Norm des c. 1371 CIC.13 Mit dem MP Omnium in mentem 7

Papst Benedikt XVI., Motu Proprio Vor zwanzig Jahren vom 28. Juni 2005, in: OssRom (dt.) 35 (2005), Nr. 26, S. 7 (Promulgation des Kompendiums der Katholischen Kirche). 8 Papst Benedikt XVI., Motu Proprio Ubicumque et semper vom 21. September 2010, in: OssRom (dt.) 40 (2010), Nr. 42, S. 7 (Errichtung des Päpstlichen Rates „Förderung der Neuevangelisierung“). 9 Papst Benedikt XVI., Motu Proprio Summorum Pontificum vom 7. Juli 2007, in: AAS 99 (2007), S. 777 – 781; dt. Übersetzung in: VApSt 178, Bonn 2007 (Zulassung der außerordentlichen Form des einen Römischen Ritus); ders., Motu Proprio Ecclesiae unitatem vom 2. Juli 2009, in: AAS 101 (2009), S. 710 – 711 (Päpstliche Kommission „Ecclesia Dei“). Siehe dazu auch Päpstliche Kommission Ecclesia Dei, Instruktion Universae Ecclesiae vom 30. April 2011, in: OssRom (dt.) 41 (2011), Nr. 20, S. 12 – 13. 10 Papst Benedikt XVI., Motu Proprio über einige Änderungen in den Normen bezüglich der Wahl des Papstes vom 11. Juni 2007, in: OssRom (dt.) 37 (2007), Nr. 27, S. 7. 11 Papst Benedikt XVI., Motu Proprio Omnium in mentem vom 26. Oktober 2009, in: AAS 102 (2010), S. 8 – 10; dt. Übersetzung in: OssRom (dt.) 40 (2010), Nr. 25, S. 9; im Folgenden MP Omnium in mentem. 12 Siehe Kongregation für die Glaubenslehre, Erlass zur Ablegung von Glaubensbekenntnis und Treueid vom 9. Januar 1989, in: AAS 81 (1989), S. 104 – 106; dies., Reskript zur Veröffentlichung der Formeln für Glaubensbekenntnis und Treueid vom 19. September 1989, in: AAS 81 (1989), S. 1169. Dazu siehe Heribert Schmitz, „Professio fidei“ und „iusiurandum fidelitatis“ – Glaubensbekenntnis und Treueid – Wiederbelebung des Antimodernismuseides?, in: AfkKR 157 (1988), S. 353 – 429, sowie Alberto Monti, LÏobbligo di emettere la professione di fede (Pontificium Athenaeum Antonianum, Facultas Iuris Canonici, Theses ad Lauream 119), Roma 1998. 13 In gleicher Weise cc. 598 und 1436 CCEO. Siehe Papst Johannes Paul II., Motu Proprio Ad tuendam fidem vom 18. Mai 1998, in: AAS 90 (1998), S. 457 – 461; Kongregation für die Glaubenslehre, Formeln und lehrmäßiger Kommentar für Glaubensbekenntnis und Treueid bei der Übernahme eines im Namen der Kirche auszuübenden Amtes vom 29. Juni 1988, in: AAS 90 (1998), S. 542 – 551; dt. Übersetzung in: AfkKR 167 (1998), S. 178 – 188. Dazu hilfreich Winfried Aymans, Kanonistische Erwägungen zu dem Apostolischen Schreiben „Ordinatio

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hat der oberste Gesetzgeber ein weiteres Mal in den Rechtstext des CIC/1983 eingegriffen. Schon aufgrund dieser formalen Tatsache kommt dem päpstlichen Gesetz eine hohe Bedeutung im aktuellen Rechtsleben der Kirche zu. Aber auch inhaltlich lässt sich hinsichtlich der Normen des Motu Proprio von einem Meilenstein in der jüngsten päpstlichen Gesetzgebung sprechen. Zunächst wird die Frage der eherechtlichen Defektionsklauseln (cc. 1086 § 1, 1117 und 1124 CIC), die in der kanonistischen Literatur intensiv diskutiert worden war, durch deren Streichung entschieden.14 Seit Inkrafttreten des CIC/1983 waren jene Christgläubigen, die durch einen formalen Akt von der Katholischen Kirche abfielen (defectio ab Ecclesia catholica actu formali), von den drei eherechtlichen Bestimmungen befreit. Damit war zumindest für diesen Rechtsbereich der verfassungsrechtlich bedeutsame Grundsatz semel catholicus semper catholicus durchbrochen, wonach ein einmal in der Katholischen Kirche getaufter oder durch Konversion in sie aufgenommener Christgläubiger auch nach einer formal feststellbaren Distanzierung (z. B. durch die Vornahme des sog. „Kirchenaustritts“ in der Bundesrepublik Deutschland) an die Anforderungen der kirchlichen Gesetze gebunden bleibt (vgl. c. 11 CIC). Mit der Eliminierung der Klauseln ist die Kirche zu diesem ekklesiologischen Axiom zurückgekehrt. Da das Motu Proprio kein gesondertes Datum für das Inkrafttreten des Gesetzes nennt, hat die päpstliche Entscheidung mit der Promulgation des Gesetzestextes in den Acta Apostolicae Sedis gemäß cc. 7 und 8 § 1 CIC Rechtskraft gewonnen, so dass fortan der Katholik, der sich formal von der Kirche losgesagt hat, an die einschlägigen eherechtlichen Bestimmungen gebunden bleibt. Das bedeutet: (1) er ist möglicherweise vom Ehehindernis der Religionsverschiedenheit gemäß c. 1086 § 1 CIC betroffen und bedarf für die rechtmäßige Eheschließung einer Dispens, deren Gewährung an die Bestimmungen des c. 1086 §§ 1 und 2 CIC gebunden ist, (2) er ist der kanonischen Eheschließungsform nach c. 1117 CIC verpflichtet, von der gemäß c. 1127 § 2 CIC der Ortsordinarius dispensieren kann, und (3) er kann nach c. 1124 CIC ohne ausdrückliche Erlaubnis der zuständigen Autorität keine Ehe mit einem nichtkatholischen Christen (Mischehe) eingehen. Ohne Zweifel schafft die Aufhebung der Defektionsklauseln die ekklesiologisch fundierte und versacerdotalis“ im Lichte des Motu proprio „Ad tuendam fidem“, in: AfkKR 167 (1998), S. 368 – 388. 14 Ausführlich setzte sich mit den eherechtlichen Defektionsklauseln auseinander: Winfried Aymans, Die Defektionsklauseln im Kanonischen Recht. Plädoyer für die Tilgung des Befreiungstatbestandes eines „actus formalis defectionis ab Ecclesia catholica“ in den cc. 1086 § 1, 1117 und 1124 CIC, in: AfkKR 170 (2001), S. 402 – 440; auch Christoph Ohly, Kirchenaustritt ohne Folgen? Kanonistische Überlegungen zu einer neu entfachten Diskussion, in: ThGl 98 (2008), S. 24 – 36. Zur aktuellen Diskussion nach Erscheinen des Motu Proprio siehe: Rufino Callejo de Paz, Ventajes y algffln cuestionamiento a la reforma matrimonial introducida por el m. p. „Omnium in mentem“, in: EstE 85 (2010), S. 855 – 862; Javier Otaduy, Abandono de la Iglesia catýlica por acto formal. Comentario al motu proprio „Omnium in mentem“, in: IusCan 50 (2010), S. 601 – 627; Carmen PeÇa Garcia, La reforma matrimonial introducida por el m. p. „Omnium in mentem“, avance o retroceso?, in: EstE 85 (2010), S. 863 – 870; Martin Rehak, Änderungen im kirchlichen Eherecht durch das Motu Proprio „Omnium in mentem“ vom 26. Oktober 2009, in: KlBl. 90 (2010), S. 183 – 187.

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fassungsrechtlich notwendige Klarheit, die seit Jahren von Seiten der Kanonistik gefordert worden war. Doch ist aufgrund der fehlenden Rückwirkung des Gesetzes dem Urteil von Martin Rehak zuzustimmen, dass sich die kirchlichen Ehegerichte „im einen oder anderen Einzelfall noch längere Zeit mit der Frage zu beschäftigen haben, was eigentlich zwischen 1983 und 2010 ein ,formaler Akt des Abfalls von der KircheÐ gewesen ist“15. Im Fokus der Überlegungen dieses Beitrags stehen jedoch die weiherechtlichen Bestimmungen des MP Omnium in mentem. Mit ihnen sind die cc. 1008 und 1009 CIC als theologische Leitcanones des Weiherechts hinsichtlich der Stellung des Diakons – hier insbesondere die Frage einer möglichen Repräsentation Christi als Haupt der Kirche (in persona Christi capitis agere) – verändert worden. Das Ziel dieser gesetzgeberischen Maßnahme liegt laut Aussage des Motu Proprio darin, auf dem Hintergrund der Änderung von Nummer 875 des Katechismus der Katholischen Kirche durch Papst Johannes Paul II.16 nunmehr auch im kirchlichen Gesetzbuch „die Lehre der dogmatischen Konstitution Lumen gentium (Nr. 29) des Zweiten Vatikanischen Konzils hinsichtlich der Diakone angemessener zu erfassen“17. Danach ist ein Handeln in der Person Christi, des Hauptes der Kirche, durch den Diakon nicht möglich. Was offensichtlich als rechtliche Normkorrektur eines theologisch klarer erfassten Verständnisses von Wesen und Sendung des Diakons gedacht war, ist insbesondere in Beiträgen von dogmatischer Seite im deutschen Sprachraum als das Gegenteil aufgenommen worden. Der Gedanke einer „Degradierung des Diakonats“ kam auf.18 Deutlich wird in den Stellungnahmen, dass die Normveränderung zwar ein wichtiges theologisches Problem im Verständnis des Diakons in den Blick nehme. Gleichwohl kommen die Autoren gegenüber dem Motu Proprio zu einem anderen Ergebnis: „Wenn wir all die genannten Daten zusammenhalten, scheint es nicht möglich, den Diakon von dem amtlichen Handeln ,in der Person Christi des HauptesÐ auszuschließen.“19

15

Rehak, Änderungen (Anm. 14), S. 186. Katechismus der Katholischen Kirche. Neuübersetzung aufgrund der Editio typica Latina, München u. a. 2003. 17 MP Omnium in mentem, Einleitung. 18 Vgl. dazu vor allem Matthias Mühl, Degradierung des Diakonats? Drei kurze Anmerkungen zu Ordo und Diakonat im Motu Proprio „Omnium in mentem“, in: IKZ Communio 39 (2010), S. 205 – 212; Peter Hünermann, Anmerkungen zum Motu proprio „Omnium in mentem“, in: ThQ 190 (2010), S. 116 – 129; Manfred Hauke, Der Diakonat und das Handeln „in persona Christi capitis“. Randbemerkungen zum Motuproprio Omnium in mentem, in: FKTh 26 (2010), S. 191 – 205. Anders: Stephan Haering, Präzisierungen zum Diakonat im kirchlichen Gesetzbuch. Zur Anpassung weiherechtlicher Grundaussagen des CIC durch Papst Benedikt XVI., in: KlBl. 90 (2010), S. 155 – 158. Eine umfassende Studie dazu bietet Jo–o Paulo de M. Dantas, In persona Christi capitis. Il ministro ordinato como rappresentante di Cristo capo della Chiesa nella discussione teologica da Pio XII fino ad oggi, Siena 2010. 19 Hauke, Diakonat (Anm. 18), S. 205. 16

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An dieser Stelle eröffnen sich aus kanonistischer Perspektive die Fragen nach Wesen und Sendung des Diakons, das heißt (1) worin die Änderung der cc. 1008 und 1009 CIC ihre theologische Begründung erfährt und (2) welche Auswirkungen die Normkorrektur auf die kirchenrechtlich relevante Sendung des Diakons mit sich bringt. Ziel der Überlegungen soll es sein, das Motu Proprio als notwendigen Schritt auf dem Weg zur weiteren Klärung von Wesen und Sendung des Diakons zu erhellen. II. Genese der Normenkorrektur 1. Veränderung der Rechtsaussagen Das MP Omnium in mentem korrigiert die beiden theologischen Einleitungscanones zu dem sich anschließenden Weiherecht (cc. 1010 – 1054 CIC) an zwei Stellen. c. 1008 CIC (bisher) Sacramento ordinis ex divina institutione inter christifideles quidam, charactere indelebili quo signantur, constituuntur sacri ministri, qui nempe consecrantur et deputantur ut, pro suo quisque gradu, in persona Christi Capitis munera docendi, sanctificandi et regendi adimplentes, Dei populum pascant. Durch das Sakrament der Weihe werden kraft göttlicher Weisung aus dem Kreis der Gläubigen einige mittels eines untilgbaren Prägemals, mit dem sie gezeichnet werden, zu geistlichen Amtsträgern bestellt; sie werden ja dazu geweiht und bestimmt, entsprechend ihrer jeweiligen Weihestufe die Dienste des Lehrens, des Heiligens und des Leitens in der Person Christi, des Hauptes, zu leisten und dadurch das Volk Gottes zu weiden. c. 1008 CIC (neu) Sacramento ordinis ex divina institutione inter christifideles quidam, charactere indelebili quo signantur, constituuntur sacri ministri, qui nempe consecrantur et deputantur ut, pro suo quisque gradu, novo et peculiari titulo Dei populo inserviant. Durch das Sakrament der Weihe werden kraft göttlicher Weisung aus dem Kreis der Gläubigen einige mittels eines untilgbaren Prägemals, mit dem sie gezeichnet werden, zu geistlichen Amtsträgern bestellt; sie werden ja dazu geweiht und bestimmt, entsprechend ihrer jeweiligen Weihestufe unter einem neuen und besonderen Titel dem Volk Gottes zu dienen.

Die Veränderung des c. 1008 CIC besteht darin, dass die bisherige Aussage „die Dienste des Lehrens, des Heiligens und des Leitens in der Person Christi des Hauptes zu leisten und dadurch das Volk Gottes zu weiden“ gestrichen und durch die Formulierung „unter einem neuen und besonderen Titel dem Volk Gottes zu dienen“ ersetzt wird. Es entfällt damit die theologische Formel des Handelns in persona Christi capitis zugunsten des verstärkenden Hinweises, dass das Handeln des Klerikers einen Dienst am Volk Gottes darstellt. Blickt man in die angeführten Quellentexte des Canons, die sich auf das II. Vatikanische Konzil beziehen (Art. 10, 11, 20, 27 VatII LG sowie Art. 2, 5, 7, 12, 18 VatII PO), erscheint die Veränderung nachvollziehbar. Leitgedanke der relevanten Konzilsaussagen ist der Dienst an den Gläubigen, der vom Bischof, Priester und Diakon geleistet wird (vgl. bes. Art. 20 VatII LG). Die Formeln „in der Person Christi“ oder „im Namen Christi“ tauchen zwar auf, zumeist aber im

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Zusammenhang mit einer Aussage zum Bischof oder zum Priester (vgl. Art. 10, 11, 27 VatII LG). Das Handeln „in der Person Christi des Hauptes“ hingegen findet sich ausschließlich in Art. 2.3, 5.1 und 12.1 VatII PO mit Blick auf den Dienst des Priesters. Dieser bildet kraft seiner heiligen Vollmacht das priesterliche Volk heran und leitet es; er vollzieht das eucharistische Opfer in der Person Christi und bringt es im Namen des ganzen Volkes Gott dar. In Treue zu den angeführten Quellen ist es demzufolge konsequent und nachvollziehbar, dass in der allgemeinen Aussage zu den geistlichen Amtsträgern eine einzelne Weihestufen spezifizierende Formulierung fallen gelassen worden ist. c. 1009 CIC § 1 (alt, bleibt bestehen) Ordines sunt episcopatus, presbyteratus et diaconatus. Die Weihen sind Episkopat, Presbyterat und Diakonat. § 2 (alt, bleibt bestehen) Conferuntur manuum impositione et precatione consecratoria, quam pro singulis gradibus libri liturgici praescribunt. Sie werden erteilt durch die Handauflegung und das Weihegebet, welches die liturgischen Bücher für die einzelnen Weihestufen vorschreiben. § 3 (neu) Qui constituti sunt in ordine episcopatus aut presbyteratus missionem et facultatem agendi in persona Christi Capitis accipiunt, diaconi vero vim populo Dei serviendi in diaconia liturgiae, verbi et caritatis. Die die Bischofsweihe oder die Priesterweihe empfangen haben, erhalten die Sendung und die Vollmacht, in der Person Christi, des Hauptes, zu handeln; die Diakone hingegen die Kraft, dem Volk Gottes in der Diakonie der Liturgie, des Wortes und der Liebe zu dienen.

Die c. 1008 CIC entnommene Formulierung zum Handeln in der Person Christi des Hauptes wird für c. 1009 CIC insofern wieder verwendet, als der Canon nun die Möglichkeit und Notwendigkeit einer Differenzierung des Ordo in seinen Stufen eröffnet. Der umfassenden Aussage des c. 1008 CIC folgt die spezifizierende Ausgestaltung im neuen § 3 des c. 1009 CIC hinsichtlich der Charakteristika des Bischofs (Episcopus) und des Priesters (Presbyter), die aufgrund priesterlicher (sacerdotaler) Vollmacht in der Person Christi, des Hauptes der Kirche, handeln, während die Diakone die Kraft empfangen, dem Volk Gottes in der Diakonie der dreifachen Sendung der Kirche (Wort – Sakrament – Caritas) zu dienen. Rechtssystematisch ist somit eine stringente Abfolge der Normaussagen geschaffen worden, die gemäß der ekklesiologischen Ausrichtung des Gesetzbuches auf einer theologischen Erkenntnis ruht bzw. ruhen muss, die sowohl der Theologiegeschichte als auch den Aussagen des II. Vatikanischen Konzils verpflichtet ist.20 So 20 Vgl. dazu Papst Johannes Paul II., Constitutio Apostolica Sacrae Disciplinae Leges vom 25. Januar 1983, in: AAS 75.II (1983), S. VII–XIV. Ebenso: ders., Ansprache an die Teilnehmer eines Kurses zur Einführung des neuen Kodex des Kanonischen Rechts vom

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stellt sich zunächst die Frage, welche Beweggründe vorlagen, die Textkorrektur der cc. 1008 und 1009 CIC vorzunehmen. 2. Unmittelbare Gründe Anlässlich der Vorstellung des MP Omnium in mentem am 15. Dezember 2009 gab der Präsident des Päpstlichen Rates für die Interpretation von Gesetzestexten, Erzbischof Francesco Coccopalmerio, eine Stellungnahme ab, mit der er das neue päpstliche Gesetz und die kodikarischen Änderungen präsentierte. Der Text wird aktuell auf der Homepage des Apostolischen Stuhls als Beitrag des Päpstlichen Rates geführt und ist darüber hinaus der Fachwelt in dessen eigenem Publikationsorgan zugänglich gemacht worden.21 Diese amtliche Veröffentlichung legitimiert die Charakterisierung des Textes als einen „offiziellen Kurzkommentar“22. Er benennt drei wichtige Kriterien, die für das Verständnis der Textänderung hilfreich sind. a) Inhaltliche Korrektur Coccopalmerio weist zunächst auf den äußeren Anlass der Textkorrektur hin, indem er auf die einschlägige Aussage im Katechismus der Katholischen Kirche Bezug nimmt: „Die erste Ausgabe des Katechismus der Katholischen Kirche bekundete im allgemeinen, daß die Geweihten von Christus ,die Sendung und die Vollmacht [heilige Gewalt], ,in der Person Christi des HauptesÐ [in persona Christi Capitis] zu handelnÐ (Nr. 875), empfingen und (bei den Ausführungen zu den ,Wirkungen des WeihesakramentesÐ) die Weihe dazu ermächtige, ,als Vertreter Christi, des Hauptes, in dessen dreifacher Funktion als Priester, Prophet und König zu handelnÐ (zweiter Teil der Nr. 1581).“23

In der Zeit nach der Publikation des Katechismus im Jahre 1993 ist es jedoch zu einer differenzierteren Sicht des theologischen Sachverhaltes in Nr. 875 gekommen. Coccopalmerio führt diesbezüglich aus: „Später jedoch hielt es die Kongregation für die Glaubenslehre für notwendig – um die Ausdehnung der Vollmacht, ,in der Person Christi des Hauptes zu handelnÐ, auf den Grad des Diakonates zu vermeiden – die Formulierung dieser Nr. 875 in der Editio typica auf folgende Weise abzuändern: ,Von Ihm (= Christus) empfangen die Bischöfe und die Priester die Sendung und die Vollmacht, in der Person Christi des Hauptes zu handeln, die Diakone hingegen die Kraft, dem Volk Gottes in der ÏDiakonieÏ der Liturgie, des Wortes und der Liebe zu dienenÐ.“ 9. Dezember 1983, in: Communicationes 15 (1983), S. 128: „Ultimo documento conciliare, il Codice sar— il primo a inserire tutto il Concilio in tutta la vita.“ 21 Francesco Coccopalmerio, Le ragioni di due interventi, in: Communicationes 41 (2009), S. 334 – 337; in dt. Übersetzung von Alexander Pytlik, in: Die Tagespost, Nr. 151 vom 19. Dezember 2009, S. 5 f. 22 Haering, Präzisierungen (Anm. 18), S. 155. 23 Coccopalmerio, Ragioni (Anm. 21), S. 334 (gemäß Pytlik, S. 5).

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Mit der Approbation der Korrektur der Aussage in Nr. 875 KKK durch Papst Johannes Paul II. am 9. Oktober 1998 ist gleichzeitig angeordnet worden, die davon betroffenen Canones des kirchlichen Gesetzbuches anzupassen.24 Coccopalmerio verdeutlicht mit diesem Gedanken, dass das Motu Proprio nur das ausführt, was bereits lehramtlich zuvor auf der Grundlage theologischer Erkenntnis entschieden wurde. Der innere Zusammenhang von kirchlicher Glaubenslehre und rechtlicher Ordnung musste demzufolge auch hinsichtlich der aufgeworfenen Frage nach Wesen und Stellung des Diakons in der Struktur des Ordo wiederhergestellt werden. Fragt man nun um eines besseren Verständnisses wegen nach der exakten Intention der Normenänderung, bietet der kurze Verweis auf die Genese ein erstes Indiz. Glaubenslehre und rechtliche Ordnung können und dürfen sich nicht widersprechen. Gleichzeitig verweist die Genese aber auf die Tatsache, dass eine umfassende Antwort auf die Frage nach dem Sinn der Textänderung schließlich in der theologischen Durchdringung des Sachverhaltes gesucht werden muss. Darauf wird später einzugehen sein. b) Rechtssystematische Klärung Ein zweites Kriterium, das der Präsident des Päpstlichen Rates erwähnt, liegt in der rechtssystematischen Klärung, die durch die Textkorrektur erfolgt. Das bedeutet zunächst für c. 1008 CIC: „Das Motu proprio ,Omnium in mentemÐ ändert also den Text des can. 1008 CIC, der nicht mehr mit unterschiedslosem Bezug auf die drei Grade der Weihe kundtun wird, daß das Sakrament die Befähigung vermittle, in der Person Christi des Hauptes zu handeln, sondern der sich nun darauf beschränken wird, in allgemeinerer Form festzustellen, daß wer die heilige Weihe empfange, dazu bestimmt sei, dem Volk Gottes durch einen neuen und einzigartigen Titel zu dienen.“25

Demzufolge stellt c. 1008 CIC in seiner neuen Fassung nun deutlicher das Grundprinzip der Weihe an den Anfang der Rechtsaussagen. Wer in der Kirche die heilige Weihe empfängt, wird – wie Christus selbst – zum Dienst an der Kirche als dem Volk Gottes bestellt. Sein bisheriges Dasein wird durch die Weihe zu einem „Sein-Für“. Ohne das Konstitutivum des Dienstes ist der geistliche Amtsträger nicht zu denken. Rüdiger Althaus weist darauf hin, dass im neuen c. 1008 CIC die Wendung novo et peculiari titulo, die dem Ordensrecht entstammt (c. 573 § 1 CIC) und dort die Wirkung der Gelübde im Sinne einer neuen und besonderen Bindung an Gott ausdrückt, die sakramentale Grundlegung der Weihe bezeichnet.26 Der geweihte Amtsträger wird so – theologisch gesprochen – „ontologisch“ (seinsmäßig) in einen expliziteren Bezug zu Christus gestellt (Repräsentation) und von ihm auf unwiderrufliche Weise in seinen Dienst berufen. Sein Dasein von Gott her ist ein Dienst in der Kirche und für die Kirche. 24 25 26

Vgl. Coccopalmerio, Ragioni (Anm. 21), S. 334 (gemäß Pytlik, S. 5). Coccopalmerio, Ragioni (Anm. 21), S. 334 (gemäß Pytlik, S. 5). Rüdiger Althaus, c. 1008, Rdnr. 5, in: MK CIC (Stand: August 2010).

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Zugleich wird dieser Dienst jedoch entsprechend der jeweiligen Weihestufe verwirklicht und ausgeübt. Diese sakramentaltheologische Lehre fordert deshalb eine notwendige Differenzierung im Rechtstext, so dass Coccopalmerio konstatiert: „Die Unterscheidung, die diesbezüglich zwischen den drei Graden des Weihesakramentes besteht, wird nun im can. 1009 CIC mittels Hinzufügung eines dritten Paragraphen aufgenommen, in dem präzisiert wird, daß der in der Weihe des Episkopates oder des Presbyterates bestellte Diener die Sendung und die Vollmacht erhalte, in der Person Christi des Hauptes zu handeln, während die Diakone die Befähigung empfangen, dem Volk Gottes in der Diakonie der Liturgie, des Wortes und der Liebe zu dienen.“27

c) Vergleich zum CCEO Schließlich verweist der Präsident des Päpstlichen Rates auf die einschlägigen Parallelnormen im Gesetzbuch der katholischen Ostkirchen (cc. 323 § 1, 325 und 743 CCEO) und stellt fest, dass das Motu Proprio hier keine Veränderungen vornehmen musste, „weil in diesen Normen die Formulierung ,in der Person Christi des Hauptes handelnÐ nicht verwendet wird“28. Die geistlichen Amtsträger werden in c. 743 CCEO erfasst als munere et potestate a Christo Domino Apostolis suis concreditis, denen es so in den unterschiedlichen Stufen des Ordo (c. 325 CCEO) zukommt, das Evangelium zu verkünden, das Volk Gottes zu weiden und zu heiligen. Zwar fällt auf, dass hier mit Blick auf die Diakone auch die Rede davon ist, „das Volk Gottes zu weiden“. Doch Anteil an den tria munera der Kirche gewinnt jeder Christgläubige durch Taufe und Firmung (c. 204 CIC). Die Teilhabe wird indes in qualitativ unterschiedlicher Weise ausgeübt, sowohl zwischen Laien und Klerikern (cc. 207 und 208 CIC) als auch zwischen Bischöfen, Priestern und Diakonen (cc. 1008 und 1009 CIC). III. Theologisches Verständnis Der Blick in die unmittelbare Genese der Normen des MP Omnium in mentem hat mit dem Aufweis ihrer inneren rechtssystematischen Stringenz die Frage nach dem theologischen Verständnis aufgeworfen. Wie ist Wesen und Sendung des Diakons im Vergleich zum Bischof und zum Priester zu verstehen? Zu dieser Problematik gibt es eine umfangreiche Literatur.29 An dieser Stelle soll ergänzend dazu das Anliegen des 27

Coccopalmerio, Ragioni (Anm. 21), S. 334 (gemäß Pytlik, S. 5). Coccopalmerio, Ragioni (Anm. 21), S. 334 (gemäß Pytlik, S. 5). 29 Siehe Anm. 18. Dazu exemplarisch im dogmatisch-kanonistischen Bereich: Klemens Armbruster/Matthias Mühl (Hrsg.), Bereit wozu? Geweiht für was? Zur Diskussion um den ständigen Diakonat (QD 232), Freiburg/Basel/Wien 2009; Richard J. Lyons, The permanent Diaconate. A commentary on its development from the end of the second Vatican Council to the 1983 Codex Iuris Canonici, in: Canon Law Society of America (Hrsg.), Proceedings of the forty-ninth annual convention, Washington 1988, S. 77 – 100; Peter Erdö, Der ständige Diakon. Theologisch-systematische und rechtliche Erwägungen, in: AfkKR 166 (1997), S. 69 – 84; Richard Hartmann/Franz Rieger/Stefan Sander (Hrsg.), Ortsbestimmungen. Der Diakonat als kirchlicher Dienst (Fuldaer Studien 11), Frankfurt a. M. 2009; Carlos Ignacio Heredia, El 28

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Motu Proprio aufgenommen und sein Kerngedanke mit Hilfe einer theologischen Überlegung verdeutlicht werden. Das II. Vatikanische Konzil hat es vermieden, eine systematische Theologie zum Diakonat zu entwickeln. Das mag bedauerlich sein, doch lag die Intention der Konzilsväter zunächst darin, den altehrwürdigen Diakonat als eigenständige Weihestufe wiederherzustellen und ihn in eine theologische Beziehung zu den anderen Stufen (Episkopat, Presbyterat) zu stellen. Die Folge davon war, dass sich sowohl in den einschlägigen Dokumenten des kirchlichen Lehramtes30 als auch in der theologischen Diskussion unterschiedliche Standpunkte zu Wesen und Sendung des Diakons heraus kristallisierten. Grundüberzeugung des II. Vatikanischen Konzils und der (nachfolgenden) Theologie zum Diakonat ist dessen sakramentale Wirklichkeit, auch wenn sie nicht ausdrücklich definiert wurde (Art. 29 VatII LG; Art. 16 VatII AG). Zwar ist damit zunächst eine kirchenamtliche Lehre über die Verleihung eines untilgbaren Prägemals diaconado permanente en los recientes documentos pontificios, in: Anuario Argentino de Derecho Canýnico 5 (1998), S. 197 – 218; Manfred Hauke, Das spezifische Profil des Diakonates, in: FKTh 17 (2001), S. 81 – 127; Gerhard Ludwig Müller, Der sakramentale Diakonat. Geschichtliche Entfaltung – systematische Perspektiven, in: AfkKR (1997), S. 43 – 68; ders., Priestertum und Diakonat. Der Empfänger des Weihesakramentes in schöpfungstheologischer und christologischer Perspektive, Freiburg 2000; Luis Navarro, LÏidentit— e la funzione dei diaconi permanenti. Nota alle norme fondamentali per la formazione permanente dei diaconi permanenti e al Direttorio per il ministerio e la vita dei diaconi permanenti, in: Ius Ecclesiae 10 (1998), S. 587 – 598; Peter Nüsser, Das Proprium des Ständigen Diakons – Versuch einer spirituellen Ortsbestimmung, in: George Augustin/Günter Risse (Hrsg.), Die eine Sendung – in vielen Diensten. Gelingende Seelsorge als gemeinsame Aufgabe in der Kirche, Paderborn 2003, S. 175 – 186; Josef G. Plöger/Hermann J. Weber (Hrsg.), Der Diakon. Wiederentdeckung und Erneuerung seines Dienstes, Freiburg/Basel/Wien 1980; Leo Scheffczyk (Hrsg.), Diakonat und Diakonissen, St. Ottilien 2002 (Lit.: S. 359 – 376); Jan Vries, Der Diakon. Kanonistische Anmerkungen zu seiner Weihe, verfassungsrechtliche Position und kirchenamtlichen Funktion, in: Karl-Theodor Geringer/Heribert Schmitz (Hrsg.), Communio in Ecclesiae Mysterio. FS für W. Aymans zum 65. Geburtstag, St. Ottilien 2001, S. 609 – 627; Joseph Weier, Der ständige Diakon im Recht der lateinischen Kirche (MK CIC, Beihefte 2), Essen 1989; Andreas Weiß, Der Ständige Diakon. Theologisch-kanonistische und soziologische Reflexionen anhand einer Umfrage, Würzburg 21992. 30 Vgl. dazu u. a. Papst Paul VI., Motu proprio Sacrum diaconatus ordinem vom 18. Juni 1967, in: AAS 59 (1967), S. 697 – 704; dt. Übersetzung in: NKD 9, S. 26 – 45; ders., Motu proprio Ad pascendum vom 15. August 1972, in: AAS 64 (1972), S. 534 – 540; vgl. dazu Heribert Schmitz, Einführung und Kommentar, in: Kleriker- und Weiherecht. Sammlung neuer Erlasse. Lateinisch-Deutsch. Von den deutschen Bischöfen approbierte Übersetzung. Eingeleitet und kommentiert von Heribert Schmitz (NKD 38), Trier 1974, S. 12 – 23 u. S. 42 – 61; ebenso Codex Iuris Canonici, Katechismus der Katholischen Kirche (Anm. 16) und Kongregation für das katholische Bildungswesen/Kongregation für den Klerus, Ratio fundamentalis institutionis diaconorum permanentium vom 22. Februar 1998, in: AAS 90 (1998), S. 843 – 879; dt. Übersetzung in: VApSt 132, Bonn 1998, S. 19 – 66; dies., Directorium pro ministerio et vita diaconorum permanentium vom 22. Februar 1998, in: AAS 90 (1998), S. 879 – 926; dt. Übersetzung in: VApSt 132, Bonn 1998, S. 67 – 131; Gerhard Ludwig Müller (Hrsg.), Der Diakonat – Entwicklung und Perspektiven. Studien der Internationalen Theologischen Kommission zum sakramentalen Diakonat, Würzburg 2004.

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durch die Diakonatsweihe nicht verbürgt gewesen. Doch sprechen in Fortentwicklung dieses Ansatzes die nachkonziliaren Dokumente in kohärenter Weise von einem „unauslöschlichen Siegel“, das der Beständigkeit der Indienstnahme und der Gleichgestaltung mit dem „Diakon“ Christus Ausdruck verleiht.31 Der Diakon wird folglich durch die Weihe zum sakramental präsenten und wirkenden Diener (Diakon) Christus, der ihn in eine unaufgebbare Dienst-Beziehung zu den Gliedern der Kirche hineinstellt. Der Diakon handelt damit „in persona Christi Servi“32, ist sozusagen die sakramentale Vergegenwärtigung des christologischen Grundprinzips, dass jedes Handeln in der Person und im Namen Christi ein Geschehen des Dienens sein muss. Peter Nüsser bringt dies prägnant auf den Punkt, wenn er feststellt: „Während das gesamte kirchliche Amt (Bischof, Priester, Diakon) von seiner sakramentalen Natur her Dienstcharakter trägt, … versinnbildlicht der Diakon innerhalb des dreigliedrigen Amtes in besonderer Weise die Diaconia Christi, die im Liebesdienst der Fußwaschung, den Jesus im Abendmahlssaal zeichenhaft an seinen Jüngern verrichtet, ihren letzten und tiefsten Ausdruck findet.“33

Gegen diesen Gedanken wird in der theologischen Diskussion der Einwand vorgebracht, dass man damit die zentrale Bedeutung des Dienstes für den gesamten Ordo zu einem spezifischen Kriterium des diakonalen Dienstes erhebe. Deshalb wird mit Blick auf diesen Ansatz festgestellt: „Unter der Voraussetzung, dass der Dienst als ein gemeinsames Merkmal für jede Weihestufe betrachtet werden muss, ginge es dann darum, wie dieser Dienst im Diakonat eine vorrangige Bedeutung und eine besondere Dichte gewinnt“, ohne damit die Einheit der Person Christi und die Einheit des Weihesakramentes als Handeln für das Haupt, für den Diener, für den Hirten, für den Bräutigam Christus zu gefährden.34 Eine Lösung der Problematik taucht da auf, wo der Diakon als sakramental gegenwärtiger und dienender Christus sozusagen zum Spiegel für den Episkopat und Presbyterat wird. Er macht in seiner Person sichtbar, was Grundkriterium des sakramentalen Amtes ist, indem er selbst an diesem Amt teilhat. Auf diese Weise wird der Diakonat als unterste Stufe in zweifacher Perspektive erkennbar. Der Diakon empfängt die Handauflegung „non ad sacerdotium, sed 31 Vgl. Paul VI., Sacrum diaconatus ordinem (Anm. 30), S. 698: „Non tamquam merus ad sacerdotium gradus est existimandus, sed indelebile suo charactere ac praecipua sua gratia insignis ita locupletatur, ut qui ipsum vocentur, ii mysteriis Christi et Ecclesiae stabiliter inservire possint.“ Ebenso die Ratio Fundamentalis (Anm. 30), Nr. 7: „Prout gradus Ordinis sacri, diaconatus characterem imprimit et specificam gratiam sacramentalem communicat. Character diaconalis est signum configurativum-distinctum animae modo indelebili impressum …“, sowie der Katechismus mit Bezug auf LG 41 und AG 16 in Nr. 1570: „Diaconi missionem et gratiam Christi, modo speciali, participant. Ordinis sacramentum eos signat sigillo (,charactereÐ) quod nemo delere potest et quod eos configurat Christo qui factus est ,diaconusÐ, id est, omnium minister.“ 32 Müller, Der Diakonat (Anm. 30), S. 80. 33 Nüsser, Das Proprium (Anm. 29), S. 178. Der Gedanke gipfelt dort in der Aussage: „Im Diakon wird innerhalb des dreigliedrigen Amtes der dienende Christus geradezu personifiziert, herausgestellt und sichtbar, der ganz von Gott her für die Menschen gelebt hat.“ 34 Müller, Der Diakonat (Anm. 30), S. 80. Vgl. Mühl, Anmerkungen (Anm. 18), S. 209 f.

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ad ministerium“ (Art. 29 VatII LG) und übt dieses ministerium sowohl mit Blick auf den Bischof und die Priester35 als auch auf die Gläubigen der Kirche aus. Er hat von daher eine vermittelnde Position im Ordo inne, die gleichzeitig die tragende Grundlinie für die sacerdotes (Bischof und Priester) als auch darüber hinaus für die christifideles (alle Gläubigen) sakramental verkörpert.36 Das heißt: Die Existenz des Christen im Allgemeinen, vielmehr aber die Existenz des geistlichen Hirten, in dem und durch den Christus sakramental handelt, ist eine Existenz des Dienstes. Dieser Dienst beansprucht nichts für sich, sondern findet im Nächsten die Erfüllung der Hingabe seines Lebens, das er selbst von Gott empfangen hat. So drückt es nun auch die neue Formulierung des c. 1008 CIC aus, wenn das Weihesakrament die geistlichen Amtsträger zum Dienst in und am Volk Gottes bevollmächtigt („… Dei populo inserviant“). Mit Blick auf die diskutierte Formel agere in persona Christi capitis muss deshalb Folgendes festgehalten werden. Der Diakon handelt wahrhaft sakramental in persona Christi, aber nicht in persona Christi capitis, sondern in persona Christi Servi. Die bestimmende Kategorie, als geistlicher Amtsträger im Namen und in der Person Christi (in persona Christi) zu handeln, ist damit das verbindende und einheitsbewahrende Grundelement des sakramentalen Weiheamtes. Es findet zugleich aber seine Spezifizierung da, wo es durch den Bischof und den Priester als dessen Mitarbeiter in Stellvertretung des Hauptes der Kirche (in persona Christi capitis Ecclesiae) bzw. durch den Diakon in Stellvertretung und Sichtbarmachung des Dieners aller (in persona Christi Servi) vollzogen wird. Deshalb führt der neue differenzierende § 3 des c. 1009 CIC in Anschluss an Art. 29 VatII LG und Nr. 875 KKK aus, dass die Diakone in der Weihe die Kraft empfangen, „dem Volk Gottes in der Diakonie der Liturgie, des Wortes und der Liebe zu dienen“. Damit sind folglich weder sacerdotale Vollmachten des Priesters und des Bischofs (Konsekrations- und Absolutionsvollmacht) noch deren spezifische Leitungsvollmacht im Bereich des munus regendi (z. B. hoheitliche Akte, Leitung der Pfarrei, u. a.) verbunden.37 Diese sind Ausdruck der sakramental grundgelegten Repräsentation Christi als des Hauptes der Kirche. Gemäß dem scholastischen Axiom agere sequitur esse folgt diesem ontologischen Sein des Diakons sein konkretes Handeln in der Person Christi, des Dieners aller, wie es c. 1009 § 3 CIC grundsätzlich umschreibt: in der Diakonie der Liturgie, des Wortes und der Liebe (Caritas). Das „Direktorium für den Dienst und das Leben der Ständigen Diakone“ trägt diese Funktionen zusammen, indem es festhält: „Das Amt des Diakons wird vom II. Vatikanischen Konzil mit der Trias ,Diakonie der Liturgie, des Wortes und der NächstenliebeÐ zusammengefaßt. Auf diese Weise wird die diakonische Teilhabe am einzigen und dreifachen munus Christi im geweihten Dienst zum Aus35 Vgl. Christoph Ohly, Einheit oder Konkurrenz im Weihesakrament? Skizzen zur Zusammenarbeit von Priester und Ständigem Diakon, in: PastBl. 56 (2004), S. 235 – 241. 36 Vgl. dazu auch Hauke, Profil (Anm. 29), S. 125 f. 37 Vgl. auch Rüdiger Althaus, c. 1009, Rdnr. 6, in: MK CIC (Stand: August 2010).

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druck gebracht. Der Diakon leistet den Dienst ,des Lehrens, da er das Wort Gottes verkündet und erläutert; des Heiligens, da er das Sakrament der Taufe, der Eucharistie und die Sakramentalien spendet, an der Feier der hl. Messe als ,Diener des BlutesÐ teilnimmt, die Eucharistie bewahrt und austeilt; des Leitens als geistlicher Leiter der Gemeinde oder Bereichen des kirchlichen LebensÐ. So assistiert und dient der Diakon denen, die jeder liturgischen Feier vorstehen, über die Lehre wachen und das Volk Gottes leiten: den Bischöfen und den Priestern.“38

Kerngedanke ist auch hier – sowohl in ontologischer als auch in funktionaler Perspektive – der assistierende Dienst gegenüber den Bischöfen und Priestern, der so zum Dienst für die ganze Kirche wird. Das bringt im Bereich der drei munera der Kirche verschiedene Funktionen mit sich, die das kirchliche Gesetzbuch näher erfasst. IV. Kodikarische Umsetzung Der sakramental grundgelegte Dienst des geistlichen Amtsträgers zur Auferbauung des Volkes Gottes vollzieht sich in den drei munera des Lehrens, des Heiligens und des Leitens. Die Teilhabe an den drei Diensten des Herrn, die dieser der ganzen Kirche übertragen hat, geschieht im Vergleich zur Teilhabe der Laien (LG 30 – 38) in qualitativ verschiedener Weise. Die Laien (c. 207 § 1 CIC) sind gemäß c. 204 § 1 CIC durch die Taufe (und Firmung) „auf ihre Weise“ (suo modo) des priesterlichen, prophetischen und königlichen Amtes Christi teilhaftig geworden. Sie können darüber hinaus durch die Hirten der Kirche zu weiterführenden Diensten und Aufgaben herangezogen werden, die mit dem Hirtenamt verbunden sind, jedoch das Sakrament der Weihe nicht voraussetzen (vgl. c. 230 § 3 CIC). Die Erfüllung dieser Dienste „macht den Laien aber nicht zum Hirten: Nicht eine Aufgabe konstituiert das Amt, sondern das Sakrament des Ordo“39. Die Kleriker (c. 207 § 1 CIC) üben diese Teilhabe mittels sakramentaler Bevollmächtigung durch die Weihe sowie kanonischer Sendung im Namen und in der Person Christi aus. Die Verwirklichung des Dienstes formt sich entsprechend der jeweiligen Weihestufe in verschiedener Weise aus, wobei gemäß c. 1009 § 3 CIC die Bischöfe und Priester dies in persona Christi capitis, die Diakone in persona Christi Servi (vero vim populo Dei serviendi in diaconia liturgiae, verbi et caritatis) vollziehen. Wie das kirchliche Gesetzbuch für die Bischöfe40 und die Priester (bzw. Pfarrer)41 eigene Normen aufweist, die das spezifische Handeln in den drei munera thematisie-

38 Kongregation für das katholische Bildungswesen/Kongregation für den Klerus, Directorium (Anm. 30), Nr. 22. 39 Papst Johannes Paul II., Nachsynodales Apostolisches Schreiben Christifideles Laici vom 30. Dezember 1988, in: AAS 81 (1989), S. 393 – 521; dt. Übersetzung in: VApSt 87, Bonn 1989, Nr. 23. 40 Vgl. allgemein c. 375 CIC, spezifisch für den Diözesanbischof cc. 383 – 400 CIC. Mit Blick auf die gültige Sakramentenspendung siehe cc. 861 § 1, 882, 900, 910 § 1, 965, 967 § 1, 1003 § 1, 1012, 1108 § 1, 1013 i. V. m. 1382 CIC.

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ren, finden sich auch für den Diakon einschlägige Aussagen, die sein Handeln als sakramental bevollmächtigter Diener zum Inhalt haben. Zu bemängeln ist die Tatsache, dass diese jedoch nicht systematisch zusammengetragen worden sind. Was im Codex-Reformprozess offensichtlich noch nicht zu einer eigenen Norm (oder zu mehreren Normen) wie im Fall der Bischöfe und Priester (Pfarrer) heranreifen konnte, liegt heute als dringendes Desiderat auf der Hand.42 Zwar verleiht die Diakonatsweihe in rechtlicher Hinsicht keine Befugnis, „die nicht auch einem Laien kraft spezieller Beauftragung zukommen könnte“43. Doch werden alle rechtlichen Befugnisse in sakramental bevollmächtigter Weise – und das bedeutet in der Person Christi als Diener der Menschen – vollzogen. 1. Dienste im munus docendi Gemäß c. 757 CIC sind die Diakone dazu berufen, in Gemeinschaft mit dem Bischof und seinem Presbyterium dem Volk Gottes im Dienst am Wort zu dienen.44 Sie üben diesen Dienst vornehmlich aus in der Predigt (c. 764 CIC: facultas praedicandi), in der Homilie (c. 767 § 1 CIC), in der Katechese (c. 776 CIC) und durch den schulischen Religionsunterricht. Ebenso sind in diesem Zusammenhang die Dienste der Vorbereitung von Erwachsenen auf die Taufe (cc. 788 und 851 CIC), das Taufgespräch mit Eltern und Paten (c. 851 CIC) und das Ehevorbereitungsgespräch (c. 1063 n. 2 CIC) zu nennen. Grundsätzlich gilt festzustellen, dass der Diakon diesen Dienst der Verkündigung kraft Weihe und aufgrund der kirchenamtlichen Anweisung in eine spezifische Aufgabe ausübt. Da die Befugnis zur Verkündigung in der Weihe begründet ist, kann sie nur aus einem schwerwiegenden Grund verweigert bzw. entzogen werden. Deshalb erfasst das Gesetzbuch diesen Dienst des Diakons terminologisch – zusammen mit dem des Priesters (c. 764 CIC) – im Begriff der facultas praedicandi, da beide ihren Dienst der Verkündigung in einer rechtlichen Abhängigkeit vom Bischof ausüben. Dieser besitzt hingegen das ius praedicandi, das ihn als Bischof und Mitglied des Bischofskollegiums zugleich als authentischen Lehrer und Verkünder des Glaubens kennzeichnet (LG 19, c. 763 CIC). Mit Recht spricht deshalb Stephan Haering davon, dass Priester und Diakon im Bereich des Verkündi41 Vgl. allgemein c. 519 CIC, weiterführend bes. cc. 528 – 530 CIC. Bezüglich der Vollmacht zur Spendung der Sakramente siehe cc. 861 § 1, 900, 910 § 1, 1003 § 1 CIC; mit spezieller Befugnis zur gültigen Spendung siehe cc. 883 – 884, 965, 967 – 968, 1108 – 1111 CIC. 42 Zu bedenken ist in diesem Zusammenhang der Hinweis von Vries, Diakon (Anm. 29), S. 623, der den Grund für das Fehlen des Diakons in der Systematik des Gesetzbuches darin sieht, dass der Diakonat kein Kirchenamt ist: „Der Diakon besitzt erst ein Kirchenamt, wenn ihm ein Dienst (officium), der kraft kirchlicher Anordnung auf Dauer eingerichtet ist und der Wahrnehmung eines geistlichen Zweckes dient, durch kanonische Sendung übertragen wird.“ 43 Althaus, c. 1008, Rdnr. 5 (Anm. 26). Vgl. cc. 861, 910 und 1111 – 1112 CIC. 44 Vgl. näherhin Christoph Ohly, Der Dienst am Wort Gottes. Eine rechtssystematische Studie zur Gestalt von Predigt und Katechese im Kanonischen Recht (MthStkan 63), St. Ottilien 2008, hier S. 417 – 422.

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gungsdienstes im Unterschied zum Bischof in etwa auf derselben Stufe stehen, wenngleich die Repräsentation Christi mittels der Weihe eine verschieden akzentuierte bleibt.45 2. Dienste im munus sanctificandi Grundsätzlich formuliert c. 835 § 3 CIC, dass der Diakon – im Gegensatz zum Bischof und zum Priester nach c. 835 § 2 CIC – an der Feier des Gottesdienstes nach Maßgabe der Rechtsvorschriften beteiligt ist. Hier eröffnet sich im Vergleich zum Verkündigungsdienst eine größere Nähe zum Laien, der gemäß c. 230 CIC liturgische Dienste übernehmen kann. Zugleich aber stellt der Bereich des kirchlichen Heiligungsdienstes jenen Bereich dar, in dem der größte Teil rechtlicher Bestimmungen zu Aufgaben des Diakons vorzufinden ist. Sie reichen von der Assistenz bei der Eucharistiefeier46 bis hin zur Leitung von Gottesdiensten wie Taufe, Eheschließung, Wort-Gottes-Feiern und das kirchliche Begräbnis.47 Der Diakon wird demzufolge vor allem im Bereich der Liturgie tätig. Sein Handeln ist dabei ein Handeln in der Person Christi, des Dieners der Menschen, auch und gerade da, wo er die Aufgabe der Leitung einer gottesdienstlichen Handlung innehat. Sie ist Verweis auf Christus, welcher der eigentliche Handelnde ist. Die dienende Funktion kommt deshalb insbesondere in den assistierenden Aufgaben des Diakons in der Eucharistiefeier und anderen Gottesdiensten zum Ausdruck und prägt alles andere Tun. Bernhard Stürber fasst dies in die Worte: „Wenn auch der Diakon wie der Priester in persona Christi handelt, so ist doch seine Aufgabe beim Gebet im Gottesdienst von der des Vorstehers zu unterscheiden. Er ist auch hier ,DienerÐ, Diener des Betens, nicht Leiter, sondern Wegweiser und Helfer derjenigen, die beten möchten, aber nicht die rechten Worte finden.“48 3. Dienste im munus regendi Für den Bereich des munus regendi, in den von der Aussage in Art. 29 VatII LG und c. 1009 § 3 CIC her auch und gerade alle karitativen Schwerpunkte des diakonalen Handelns hinein gestellt werden müssen, nennt das kirchliche Gesetzbuch konkret mögliche Dispensvollmachten (cc. 89 und 1079 § 2 CIC), die Beteiligung an der Ausübung der Hirtensorge einer Pfarrei im Fall von Priestermangel (c. 517 § 2 CIC), das Amt des Richters (cc. 129 §1, 135 §§ 1 und 3, 1419 § 1 und 1421 § 1 CIC) sowie die Mitgliedschaft in konsiliaren Einrichtungen der kirchlichen Verfassung (z. B. c. 536 § 1 CIC). Alle Aufgaben stehen prinzipiell unter dem Leitgedanken des Dienens, da sie vom Charakter des Mitwirkens mit dem Bischof, dem Pfarrer oder deren Stellvertretern gekennzeichnet sind. Das Amt des Diakons umgreift 45

Haering, Präzisierungen (Anm. 18), S. 156. Vgl. dazu AEM 61 und 128 – 141. 47 Siehe Weier, Der ständige Diakon (Anm. 29), S. 100 – 134. 48 Bernhard Stürber, „In persona Christi“ – Überlegungen zum Beten des Diakons in der Liturgie, in: Diakon Anianus, Nr. 26, 11/1997. 46

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demzufolge in keinem Fall die volle Seelsorge (plena cura animarum nach c. 150 CIC), die nur dem übertragen werden kann, der die Priesterweihe empfangen hat. Der Diakon ist somit in den spezifischen Wahrnehmungen des munus regendi nicht Hirte (in persona Christi capitis), sondern als zum Dienst Geweihter auf das Handeln des Bischofs bzw. Priesters ausgerichtet (in persona Christi servi). Deshalb gilt auch mit Blick auf die aktuellen Fragen um die Leitung von Pfarreien der auf c. 517 § 2 CIC basierende Grundsatz, dass der Diakon (ebenso wie der Laie) nicht pastor propius einer Pfarrei sein kann, sondern – seinem Wesen entsprechend – an der Ausübung der Hirtensorge einer Pfarrei beteiligt werden kann, die ein dazu bestellter Priester mit den Vollmachten und Befugnissen eines Pfarrers leitet. Das Direktorium bezeichnet deshalb den Diakon in diesem Fall auch als „geistlichen Leiter der Gemeinde“49. Mit den Worten von Jan Vries bedeutet das hinsichtlich des Pfarrdiakons: „Das Kirchenamt des Pfarrdiakons ist deshalb zu qualifizieren als ein ordentliches stellvertretendes Hilfsamt mit Teilseelsorge. Zu ihm gehört keine ordentliche ,HirtengewaltÐ …, sondern einfache Leitungsgewalt.“50 Das Amt umgreift demzufolge keine Hirtenvollmacht im Sinne hoheitlichen Handelns, die allein den Bischöfen und Priestern zukommt, sondern eine Leitungsgewalt, die – auf der Grundlage empfangener Weihegewalt (potestas ordinis) – als dienende Funktion auf den Träger hoheitlicher Leitungsgewalt ausgerichtet bleibt. V. Degradierung oder Schritt zur Klärung? Stellen die Ausführungen des MP Omnium in mentem eine Degradierung des Diakons dar? Im Licht der vorausgehenden Darlegungen muss die Frage verneint werden. Im Gegenteil: Die durch das Motu Proprio korrigierten Normen der cc. 1008 und 1009 CIC tragen vielmehr im Gesamt des Weihesakraments dazu bei, das Proprium des Diakons als sakramental bevollmächtigter Repräsentant Christi zu erhellen. Der Diakon handelt in persona Christi, aber nicht wie Bischof und Priester in persona Christi capitis Ecclesiae (und damit als Hirt), sondern in persona Christi servi. Er ist damit so etwas wie der Spiegel im Ordo, der allen geistlichen Amtsträgern den Dienstcharakter als das Wesen des Handelns im Namen Christi vor Augen hält. Er tut dies durch die spezifische Weise der Ausübung der ihm übertragenen Funktionen, von der Matthias Mühl sagt: „In seinem amtlichen Handeln in Liturgie, Verkündigung und Caritas wird es dem Diakon deshalb immer wieder darum zu tun sein, etwas von der vorbehaltlos dienenden Dimension des amtlichen Dienstes und darin der Kirche insgesamt sichtbar und erfahrbar zu machen. Besonders sinnenfällig tritt dies in der Feier der Eucharistie mit diakonaler Assistenz zum Vorschein. In dieser verbleibt der Diakon zum einen stets einen Schritt hinter dem vorste49 Kongregation für das katholische Bildungswesen/Kongregation für den Klerus, Directorium (Anm. 30), Nr. 22. 50 Vries, Diakon (Anm. 29), S. 625.

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henden Bischof oder Priester und macht so in seiner Person den Grundzug jedes kirchlichamtlichen Tuns sichtbar: Das Sich-Zurücknehmen um den anderen, letztlich Christus groß zu machen und ihm zu folgen.“51

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Mühl, Anmerkungen (Anm. 18), S. 208.

Repraesentatio in persona Christi serviens Kanonistische Überlegungen zu den ordinationsrechtlichen Weichenstellungen für Diakone im Motu proprio „Omnium in mentem“, im nachsynodalen apostolischen Schreiben „Verbum Domini“ Benedikts XVI. und in der Instruktion „Universae Ecclesiae“ der Kommission Ecclesia Dei Von Matthias Pulte Seit seinem Amtsantritt am 19. April 2005 erweist sich Papst Benedikt XVI. als ein gesetzgeberisch aktiv gestaltender Papst. Seine Gesetzesänderungen wurden und werden auf jeden Fall seit der Wiedereinführung der tridentinischen Liturgie als usus extraordinarius des römischen Ritus durch das Motu proprio Summorum pontificum (SummPont) vom 7. Juni 2007 und den dazu schon seit längerer Zeit erwarteten Ausführungsbestimmungen der Kommission Ecclesia Dei, die auf den 30. April 2011 datieren und am 24. Mai 2011 vorgestellt wurden1, in der Öffentlichkeit höchst aufmerksam wahrgenommen und je nach Nähe zur Liturgie von 1962 ganz unterschiedlich kommentiert.2 Bereits am 26. Oktober 2009 hat Papst Benedikt XVI. durch ein weiteres Motu proprio das kirchliche Gesetzbuch von 1983 geändert. Während in weiten Teilen der Weltkirche diese Gesetzesänderungen für das kirchliche Leben weitgehend unbeachtlich zu sein scheinen, haben sie vor allem die Aufmerksamkeit der deutschsprachigen Pastoral, Kanonistik und Rechtspraxis erregt. Das Motu proprio Omnium in mentem3 befasst sich mit zwei Rechtsbereichen des CIC/1983, die materiell nichts miteinander zu tun haben, zum einem mit dem Weiherecht und zum anderen mit dem Eherecht. Im ersten Abschnitt, auf den wir uns hier beschrän-

1 Benedikt XVI., Litterae Apostolica Motu Proprio datae Summorum Pontificum, in: AAS 99 (2007), S. 777 – 781; dt. in: Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz,Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls 178, Bonn 2007. Pontificia Commissio Ecclesia Dei, Instructio Ad exsequendas Litteras Apostolicas Summorum Pontificum a S. S. Benedicto PP. XVI Motu Proprio datas, http://www.vatican.va/roman_curia/pontifical_commissions/ecclsdei/documents/ rc_com_ecclsdei_doc_20110430_istr-universae-ecclesiae_lt.html; dt. Übersetzung: http://www. vatican.va/roman_curia/pontifical_commissions/ecclsdei/documents/rc_com_ecclsdei_doc_ 20110430_istr-universae-ecclesiae_ge.html (Zugriff auf beide: 26. 5. 2011). 2 Vgl. den Überblick auf Kathweb, Neue Richtlinien Roms für die Messfeier in „außerordentlicher Form“: http://www.kathweb.at/site/nachrichten/database/39243.html (Zugriff: 26. 5. 2011). 3 Benedikt XVI., Litterae Apostolicae Motu Proprio datae quaedam in Codice Iuris Canonici immutantur Omnium in mentem, vom 26. 10. 2009, in: AAS 102 (2010), S. 8 – 10.

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ken, passt der Gesetzgeber die Normen über die Weihehierarchie den doktrinellen Aussagen der Editio typica von 1997 des Katechismus der Katholischen Kirche (Nr. 875)4 an.5 Diese Änderungen werden durch das Apostolische Schreiben „Laetamur magnopere“ vom 15. August 19976 in die Latina Catechismi Catholicae Ecclesiae typica editio eingeführt. Während diese doktrinelle Präzisierung auf die Aussagen des Zweiten Vatikanischen Konzils7 hin zur weiherechtlichen Stellung des Diakons 1997 noch weitgehend unbeachtet geblieben ist, erheben sich zu Anfang des Jahres 2010 Stimmen, die in dieser Gesetzgebung einen weiteren Hinweis dafür erkennen wollen, dass sich Benedikt XVI. den Traditionalisten annähert.8 Wird der Diakon nun wieder auf seine Stellung und Funktion zurückgestuft, wie sie nach dem Rituale Romanum von 1614 gegolten haben, also vornehmlich die Assistenz beim Hochamt und einige außerordentliche liturgische Funktionen, die der oberhirtlichen Genehmigung vorbehalten waren?9 Das ist die Spannung, unter der seit Anfang 2010 die für den Diakon einschlägigen Gesetzesänderungen von cc. 1008 und 1009 CIC diskutiert werden. Dabei geht es nicht einfachhin um ein mehr oder weniger an Kompetenzen, sondern bei manchen Autoren um grundlegendere Fragen, 4

Fälschlicherweise geht Martin Kirschner in seinem Beitrag von einer Änderung in Nr. 1581 KKK aus. Das ist aber nicht der Fall. Geändert wurde nur Nr. 875 KKK. Vgl. Martin Kirschner, Amtlich in der Person Christi handeln – als Diakon? Zur Theologie des Diakonats aus Anlass des Motu proprio „Omnium in mentem“ vom 15. Dezember 2009, in: Diakonia 45 (2010), S. 231 – 243, hier S. 231. 5 Nr. 875 a. F. KKK: „Der vom Herrn Gesandte spricht und handelt nicht in eigener Autorität, sondern kraft der Autorität Christi; er spricht zu der Gemeinde nicht als eines ihrer Glieder, sondern im Namen Christi. Niemand kann sich selbst die Gnade verleihen; sie muß geschenkt und angeboten werden. Das setzt Diener der Gnade voraus, die von Christus bevollmächtigt sind. Von ihm empfangen sie die Sendung und die Vollmacht (heilige Gewalt), ,in der Person Christi des HauptesÐ (in persona Christi Capitis) zu handeln. Dieses Amt, worin die von Christus Gesandten aus Gottes Gnade das tun und geben, was sie nicht von sich aus tun und geben können, nennt die Überlieferung der Kirche ,SakramentÐ. Das Dienstamt in der Kirche wird durch ein eigenes Sakrament übertragen.“ Nr. 875 n. F. KKK (1997): „… Von ihm empfangen die Bischöfe und Priester die Sendung und die Vollmacht [heilige Gewalt], ,in der Person Christi des HauptesÐ (in persona Christi Capitis) zu handeln, die Diakone die Kraft, in Gemeinschaft mit dem Bischof und seinem Presbyterium dem Volke Gottes in der ,DiakonieÐ der Liturgie, des Wortes und der Liebe zu dienen. … “ (Hervorhebungen von mir) 6 Johannes Paul II., Lit. Apost. Laetamur magnopere vom 15. 8. 1997, in: AAS 89 (1997), S. 819 – 821. 7 Vgl. z. B. LG 8, 28, 29; AA 2; PO 1; GS 42, 53, 75. 8 Vgl. N. N., Das Motu Proprio Omnium in mentem. Bestimmt Angst die Amtstheologie?, Münsteraner Forum für Theologie und Kirche (MFThK), http://www.muenster.de/~angergun/ neuesmp.html (Zugriff: 30. 04. 2010); vgl. Friedolf Lappen, Was wollen die Piusbrüder?, in: Fränkischer Tag vom 19. 1. 2010. 9 Vgl. Rituale Romanum Pauli Quinti Pontifici Maximi Iussu editum, Romae 1614, tit. VII cap. 3 n. 19; cap. 7 n. 5. Vgl. auch: Das Römische Rituale. Nach der typischen vatikanischen Ausgabe des Rituale Romanum (…), übersetzt von Paulus Lieger; Klosterneuburg: Volksliturgisches Apostolat, 1936, dt. Übertragung der vatikanischen Ausgabe von 1925. Matthäus Kaiser, Diakon, IV. Kirchenrechtlich, in: LThK2 III, Sp. 322 – 323.

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die das Selbstverständnis des Diakons berühren. Wir wollen diese Fragen stellen und aus der Perspektive des kanonischen Rechts versuchen Antworten zu geben, wenigstens aber Zugangswege zu juristisch vertretbaren Antworten erschließen. Dabei ist es eigentlich selbstverständlich und bedürfte keiner ausdrücklichen Betonung, dass das Kirchenrecht eine Anwendungswissenschaft ist, die der theologischen Durchdringung aller Regelungsgegenstände durch die anderen theologischen Disziplinen bedarf. Und weil das so ist, bleiben die Aussagen des Kanonisten auch in diesem Zusammenhang ein Fragment. Mit dem nachsynodalen apostolischen Schreiben „Verbum Domini“ vom 30. September 201010 bietet der Papst unter dem besonderen Blickwinkel der Verkündigung des Wortes Gottes ganz aktuell die gegenwärtige Sichtweise des Bischofskollegiums (vgl. c. 336) zum Diakonat dar. Daher ist dieses Dokument zu einer angemessenen Interpretation der jüngsten Gesetzesänderungen von besonders großem Wert. Das gilt auch, wenn es sich dabei nicht um eine authentische Interpretation des Gesetzgebers gemäß c. 16, sondern eher um eine Interpretation durch die Lehre und Forschung handelt, die gemäß c. 17 letzte Alternative, die sich die Bischofssynode zusammen mit dem Papst zu Eigen gemacht hat und die folglich die mens legislatoris in den Blick nimmt. I. Synopse der Normen und Texte CIC 1983 a. F.

CIC/1983 n. F. (inkraft seit Apostolisches Schreiben dem 8. April 2010) Verbum Domini

c. 1008 — Durch das Sakrament der Weihe werden kraft göttlicher Weisung aus dem Kreis der Gläubigen einige mittels eines untilgbaren Prägemals, mit dem sie gezeichnet werden, zu Inhabern eines geistlichen Amtes (ministri sacri) bestellt; sie werden ja dazu geweiht und bestimmt, entsprechend ihrer jeweiligen Weihestufe die Dienste des Lehrens, des Heiligens und des Leitens in der Person Christi des Hauptes zu leisten und dadurch das Volk Gottes zu weiden.

Durch das Sakrament der Weihe werden kraft göttlicher Weisung aus dem Kreis der Gläubigen einige mittels eines untilgbaren Prägemals, mit dem sie gezeichnet werden, zu Inhabern eines geistlichen Amtes bestellt; sie werden ja dazu geweiht und bestimmt, entsprechend ihrer jeweiligen Weihestufe dem Volk Gottes unter einem neuen und besonderen Titel zu Dienste zu sein.

78. Bischöfe, Priester und Diakone dürfen keinesfalls meinen, sie könnten ihre Berufung und Sendung leben ohne ein entschlossenes und erneuertes Bemühen um Heiligung, das im Kontakt mit der Bibel einen seiner Grundpfeiler besitzt.

10 Benedikt XVI, Nachsynodales Apostolisches Schreiben Verbum Domini vom 30. September 2010, dt. in: OssRom dt. 40 (2010), Nr. 47 vom 26. 11. 2010 (Sonderbeilage).

582 c. 1009 — § 1. Die Weihen sind Episkopat, Presbyterat und Diakonat. § 2. Sie werden erteilt durch die Handauflegung und das Weihegebet, welches die liturgischen Bücher für die einzelnen Weihestufen vorschreiben.

Matthias Pulte § 1. Die Weihen sind Episkopat, Presbyterat und Diakonat. § 2. Sie werden erteilt durch die Handauflegung und das Weihegebet, welches die liturgischen Bücher für die einzelnen Weihestufen vorschreiben. § 3. Die in der Weihe des Episkopates oder des Presbyterates bestellt sind, erhalten die Sendung und die Befähigung, in der Person Christi des Hauptes zu handeln; die Diakone die Kraft [Amtsgewalt (vero vim)], dem Volk Gottes in der Diakonie der Liturgie, des Wortes und der Liebe zu dienen (serviendi).

81. Dieser [der Diakon] ist ja gerufen, sein kompetenter Verkünder zu sein, der glaubt, was er verkündet, lehrt, was er glaubt, und lebt, was er lehrt. 94 (2). Bischöfe und Priester sind gemäß ihrer besonderen Sendung zu einem Leben berufen, das vom Dienst des Wortes ergriffen ist, zur Verkündigung des Evangeliums, zur Feier der Sakramente und zur Unterweisung der Gläubigen in der wahren Kenntnis der Schrift. Auch die Diakone sollen sich berufen fühlen, gemäß ihrer speziellen Sendung an dieser Evangelisationstätigkeit mitzuwirken.

Zunächst ist im Kontext der hier herangezogenen Dokumente zu betonen, dass die Gesetzesänderung, die durch Omnium in mentem vorgenommen wurde, die Einheit und die Sakramentalität der heiligen Weihe in ihren drei Stufen nicht zugunsten einer Sacerdotalisierung des Ordo verändert.11 Die Änderung setzt eine Stufe niedriger an, nämlich bei dem, wofür die heilige Weihe in den drei Weihestufen gespendet wird. Während die Aufgabe der Bischöfe und Priester vor allem der Hirtendienst (pascere) ist, wird die Zielrichtung für den diakonalen Dienst auf das Dienen (inservire) hin akzentuiert.12 Das ist der Sache nach nicht neu. Das diakonale Weiheamt ist seit seiner Wiederherstellung durch das letzte Konzil immer schon von seinem besonderen Dienstcharakter her verstanden und beschrieben worden. Bereits 1962 stellte Karl Rahner fest: „Es muss eine Hilfsfunktion hinsichtlich der Leiter der Kirche in einer Aufgabe übrig bleiben, die diesen Leitern eigentümlich ist, also dem Amt in der Kirche als solchem im Unterschied von den Laien zukommt.“13 Diese Aussage hat an ihrer Richtigkeit und Bedeutung nichts verloren. Konzil und Gesetzgeber sind 11 So auch Art. 81 Verbum Domini (Anm. 10): „Ich möchte auch den Platz des Wortes Gottes im Leben jener erwähnen, die zum Diakonat berufen sind, nicht nur als Vorstufe zur Priesterweihe, sondern als ständigen Dienst.“ 12 Vgl. Kirschner, Amtlich (Anm. 4), S. 234. 13 Karl Rahner, Die Theologie der Erneuerung des Diakonates, in: Karl Rahner/Herbert Vorgrimler, Diaconia in Christo – über die Erneuerung des Diakonates (QD 15/16), Freiburg 1962, S. 285 – 324, hier S. 287.

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ebenso wie Papst Paul VI. mit dem postkonziliaren Missale Romanum von 1969 dieser Aussage gefolgt.14 Es ist auch nicht erkennbar, dass die Institutio generalis missalis romani von 2003 ernsthaft hinter die konziliare Lehre zurücktritt, wenngleich dort und im Missale Romanum von 2002 selbst noch Tendenzen auszumachen sind, den Diakon in seinen liturgischen Funktionen deutlicher vom Priester abzugrenzen.15 II. Einige Fragen und Antworten aus kanonistischer Perspektive 1. Ist die Gesetzesänderung der Ökumene mit der Orthodoxie geschuldet? – Wird die bewährte Stellung des Diakons somit auf dem Weg zur Kirchengemeinschaft geopfert? Um diese Frage zu beantworten, müssen wir uns der rechtlichen Stellung des Diakons in den orientalischen Kirchen, uniert oder getrennt, vergewissern. Die gemeinsame Kommission der griechisch-orthodoxen Metropolie von Deutschland und der Deutschen Bischofskonferenz hat sich ausführlich mit den Fragen des Weihesakraments befasst.16 Das Konsenspapier stellt bezüglich des Diakons fest, dass die besondere Teilhabe am Priestertum Christi durch die sakramentale Weihe zum Bischof, Priester und Diakon verliehen wird (Nr. 4). Und unter Bezugnahme auf das Johannesevangelium heißt es: „Jedes dieser Dienstämter geht von Gott dem Vater aus und ist insbesondere mit der Person Jesu Christi verbunden, der selbst vom Vater gesandt (Joh 8,42; 10,36; 17,3)“ ist. Die Einheit des Weihesakraments, welches zum sakramentalen Dienstamt befähigt, wird sodann herausgestellt (Nr. 7). Der wesentliche Unterschied im Amtsverständnis beider Kirchen besteht darin, dass der Diakon in der orientalischen Tradition keine eigenständigen liturgischen Funktionen wahrnimmt. Im Kontext des orientalischen Liturgieverständnisses ist der Diakon das Bindeglied zwischen Bischof, Priester und Gottesvolk und als solches unabdingbar für die Feier der Liturgie. Die Bewertung des Konsenspapiers, als eine Synthese von orientalischem und okzidentalem Amtsverständnis zum Diakon geht u. a. zurück auf das Motu Proprio Sacrum diaconatus ordinem Papst Pauls VI. von 1967, mit dem der 14 Vgl. Paul VI., Apost. Konst. Missale Romanum vom 3. April 1969, dt. in: Die Feier der heiligen Messe. Meßbuch für die Bistümer des deutschen Sprachgebietes. Authentische Ausgabe für den liturgischen Gebrauch. Kleinausgabe. Das Meßbuch deutsch für alle Tage des Jahres, Freiburg i. Br. u. a. 1975, S. 19* – 22*. 15 Vgl. Grundordnung des Römischen Messbuchs. Vorabpublikation zum Deutschen Messbuch (3. Auflage), hrsg. vom Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Bonn, 12. Juni 2007; siehe z. B. Nr. 82. Vgl. Missale Romanum, Editio typica tertia 2002, Nr. 179, S. 53 „Durante Prece eucharistica, diaconus stat prope sacerdotem, aliquanto tamen post ipsum, ut, quando opus sit, ad calicem vel ad missale ministret. Inde ab epiclesi usque ad ostensionem calicis diaconus de more genuflexus manet. Si adsunt plures diaconi, unus ex eis ad consecrationem immittere potest incensum in thuribulum atque ad ostensionem hostiae et calicis incensare.“ 16 http://www.orthodoxie.net/de/Texte/Texte_Varia/GemKommission_Weihe_De.htm(Zugriff: 15. 11. 2010).

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Diakonat als beständige Weihestufe errichtet worden ist: „Alle diese Aufgaben sind in vollkommener Gemeinschaft mit dem Bischof und seinem Presbyterium auszuüben, das heißt, unter der Autorität von Bischof und Priester, die an dem betreffenden Ort die Leitung der Seelsorge haben.“17 Aus diesem Befund ergibt sich, dass die eingangs gestellte Frage negativ zu beantworten ist. Zwar gibt es hinsichtlich der Funktionen in der Liturgie Unterschiede im Amtsverständnis des Diakons zwischen den Orientalen und den Lateinern. Die wesentlichen Aspekte, die das Dienstamt ausmachen, werden aber hier wie dort nicht infrage gestellt. Dem entspricht auch die Formulierung von c. 326 CCEO: „Die Kleriker werden in die Weihestufe durch die heilige Weihe selbst eingesetzt; die Vollmacht (potestas) können sie aber nur nach Maßgabe des Rechts ausüben.“ Beim Recht der unierten Orientalen stellen wir fest, dass die Einheit der Weihe, wie sie die cc. 1008 und 1009 § 1 CIC nach wie vor beschreiben, dort nicht anders gesehen wird. Bemerkenswert ist jedoch ein Detail. Während c. 1009 § 3 davon spricht, dass den Diakonen durch die Weihe eine „vis“ übertragen wird, benennt c. 326 CCEO hier den klassischen Terminus technicus für Kirchengewalt. Diese Norm spricht nämlich von „potestas“. Insofern ist der CCEO von 1990 zumindest rechtssprachlich dem Motu proprio Omnium in mentem von 2009 überlegen. Fazit: Der Diakonat wird nicht auf dem Weg zur Kirchengemeinschaft mit den Orthodoxen Kirchen theologisch oder rechtlich reduziert. Ein Indiz für diese Feststellung besteht auch darin, dass der Gesetzgeber keine Rechtsangleichung mit dem Kirchenrecht der unierten Orientalen im Blick gehabt hat. Die cc. 1008 und 1009 a. F. und die einschlägigen Bestimmungen des CCEO bedurften keiner Angleichung, weil auf der Grundlage der Konzilsaussagen ohnehin keine theologische Differenz bestand. Offen bleibt freilich, warum eine rechtssprachlich gelungenere Formulierung aus dem Recht der unierten Orientalen nicht ins lateinische Kirchenrecht übernommen worden ist. 2. Die Erklärung der Glaubenskongregation Inter insigniores18 hat die Priesterweihe der Frau in der Weise ausgeschlossen, dass die Kirche nicht die Vollmacht habe, in dieser Frage anders zu entscheiden, als es die Tradition getan habe – Soll nun durch Omnium in mentem dem Frauendiakonat eine Tür geöffnet werden? Grundlegend richtig ist, dass in der Erklärung der Glaubenskongregation aus dem Jahr 1976 vom Diakonat nicht die Rede ist. Hinsichtlich der Ordination geht es in diesem Dokument nur um das Weihepriestertum, wie es § 23 Inter insigniores un-

17

Paul VI., Motu Proprio Sacrum Diaconatus ordinem, vom 18. Juni 1967, in: AAS 59 (1967), S. 697 – 704, Nr. 23. 18 Erklärung der Glaubenskongregation Inter insigniores zur Frage der Zulassung von Frauen zum Priestertum, 15. Okt. 1976, in: AAS 69 (1977), S. 101 – 115.

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missverständlich klarstellt.19 Weil das aber so ist, ist auch vom Diakonat der Frau dort nicht die Rede. Alle Überlegungen, die sich im Anschluss an dieses Dokument in diese Richtung anschlossen, sind Spekulation. Sie lassen überdies ein Diktum Magister Gratians außer acht: „Mulieres autem non solum sacerdotium, sed nec etiam ad diaconatum prohevi possunt“20. Die Forschung hat überdies schlüssig nachgewiesen, dass es zwischen der frühkirchlichen Diakonissenweihe und der Diakonenweihe einen substantiellen Unterschied gegeben hat, in etwa vergleichbar mit der Bischofs- und der Abts- bzw. Äbtissinenweihe.21 Es geht hier also um den kanonistisch relevanten Unterschied zwischen consecratio und benedictio. Auf diese Unterscheidung ist später noch in einem weiteren ordinationsrechtlichen Zusammenhang zurückzukommen. Soweit erkennbar, verändert Omnium in mentem hinsichtlich des sakramentalen Charakters der Diakonenweihe nichts gegenüber der bisherigen gesetzlichen Regelung.22 Die Diakonenweihe ist und bleibt eine consecratio innerhalb des einen dreigliedrigen Weiheamtes. Das wird auch an mehreren Stellen des Apostolischen Schreibens Verbum Domini deutlich, wo stets die Dreigliedrigkeit des einen Weiheamtes zum Ausdruck gebracht wird.23 Das ist im Übrigen, wie es in dankenswerter kanonistischer Klarheit c. 326 CCEO aufzeigt, unabhängig von der konkreten Übertragung spezifischer Vollmachten. Wir kommen auf diesen Aspekt noch zurück. Entgegen mancher theologisch oder auch kanonistisch motivierter Überlegungen ist derzeit nicht gesichert erkennbar, dass Omnium in mentem dem Diakonat der Frau aus kirchenrechtlicher Perspektive eine Tür öffnen würde.24 Das wäre aus rechtssystematischer Perspektive zudem denkbar ungünstig, weil hier erst einmal die systematische Theologie und in deren Rezeption das Lehramt gefragt wären zu klären, wel-

19 Ebd. § 23 „Diese Praxis der Kirche erhält also einen normativen Charakter: in der Tatsache, daß sie nur Männern die Priesterweihe erteilt, bewahrt sich eine Tradition, die durch die Jahrhunderte konstant geblieben und im Orient wie im Okzident allgemein anerkannt ist, stets darauf bedacht, Mißbräuche sogleich zu beseitigen. Diese Norm, die sich auf das Beispiel Christi stützt, wird befolgt, weil sie als übereinstimmend mit dem Plan Gottes für seine Kirche angesehen wird.“ (Hervorhebung von mir) 20 c. 15 q. 3 (Hervorhebung von mir). 21 Vgl. Gerhard Ludwig Müller (Hrsg.), Der Empfänger des Weihesakraments. Quellen zur Lehre und Praxis der Kirche, nur Männern das Weihesakrament zu spenden, Würzburg 1999, S. 21 – 32, hier S. 28; ders., Priestertum und Diakonat. Der Empfänger des Weihesakramentes in schöpfungstheologischer und christologischer Perspektive (Sammlung Horizonte NF 33), Freiburg 2000. 22 Das wäre darüber hinaus auch mit Blick auf die vom Zweiten Vatikanischen Konzil betonte Sakramentalität der Diakonenweihe (vgl. AG 16) dogmatisch und lehrrechtlich problematisch. 23 Vgl. Verbum Domini (Anm. 10), Artt. 78, 91 (Text siehe oben), 59, 62 (2). 24 Zumindest tendenziell anders: Sabine Demel, Ein Stand zwischen Kleriker und Laien – nun auch für Frauen möglich? Der Diakonat in der geänderten Rechtsbestimmung des kirchlichen Gesetzbuches, in: imprimatur Juni 2010, o. S.; dies., Handbuch Kirchenrecht. Grundbegriffe für Studium und Praxis, Freiburg i. Br. 2010, S. 625 – 629.

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chen Charakter eine Diakonissen- oder Diakoninnenweihe haben sollte.25 Daraus ergäben sich dann auch rechtliche Folgeprobleme. Während die sakramentale Weihe als consecratio ein Inkardinationsverhältnis erfordert, damit kein vaganter Klerus entsteht, braucht es dies bei einer Weihung/Segnung im Sinne einer benedictio nicht. In diesem Fall gäbe es aber einen theologischen und rechtlichen Unterschied zwischen dem Diakonat des Mannes und der Frau. Ob das in der kirchlichen Öffentlichkeit vermittelbar ist, bleibt eine offene Frage. 3. Wird durch die Gesetzesänderungen in den cc. 1008 und 1009 der Diakonat hinsichtlich seiner Einordnung im Gefüge des einen, dreifachen Weiheamtes herabgemindert? – Näherhin: Handelt der Diakon jetzt nicht mehr in persona Christi? – Handelt er nun nicht mehr sakramental? Diese Frage geht letztlich auf einen Beitrag des Tübinger Theologen Peter Hünermann zurück.26 Sie ist extrem zugespitzt. Die Anfrage an das Dokument lautet: Der Diakon sei zwar durch sakramentale Gnade gestärkt, handele aber, weil er nicht in persona Christi capitis agiere, ohne potestas. Kann man die Frage der Sakramentalität der Diakonenweihe auf die Frage des Zusammenhangs der Weihe mit der Übertragung von Leitungsgewalt reduzieren? Wenn ja, ist der Diakonat damit herabgestuft. Der Diakon handle mangels potestas nicht mehr in der Vertretung Christi. Er vermittle nicht mehr die Sakramente, die er spende. Hünermann weist zu Recht darauf hin, dass sich diese simplifizierte Sicht nicht mit jener der Internationalen Theologenkommission zur Deckung bringen lässt, die vor dem Erlass von Omnium in mentem zu diesem Thema tagte. Andere Autoren sehen ein Problem darin, dass nun in den modifizierten Canones eine Aussage zum Christusbezug der Diakonenweihe und der Diakone fehlt, wie er in Lumen Gentium 41 und in KKK 1570 enthalten sei. Das Weihesakrament bezeichnet auch den Diakon – und das steht überhaupt nicht infrage – mit einem unauslöschlichen Prägemal. Die Konsekration seiner Person sondert ihn aus der ausschließlichen Weltlichkeit aus. Anders als der Laie, dem gemäß den cc. 204 § 1, 225 § 2 CIC der Weltauftrag obliegt, wird der Kleriker in besonderer Weise zum Aufbau des Leibes Christi befähigt. Darauf weist c. 275 § 1 deutlich hin. 25

Vgl. Richard Giesen, Können Frauen zum Diakonat zugelassen werden?, Siegburg 2001. Der Autor zeichnet die lebhafte Diskussion um diese Frage bis zum Jahr 2000 nach und kommt nach seiner Analyse zu dem Ergebnis, dass die Weihe von Frauen zum Diakonat weder von der Lehre noch der Disziplin der Kirche gedeckt ist (S. 96). Hingegen ist es nicht vertretbar, dass dieser Ausschluss de iure divino sei (S. 98). So weit geht nicht einmal das Lehramt der Kirche. Vgl. Hans Waldenfels, Zum Verbindlichkeitsgrad von Inter insigniores und Ordinatio sacerdotalis und ihren dogmatischen Positionen, in: Kleine Bonner Theologische Reihe, hrsg. vom Professorenkollegium der Bonner Katholisch-Theologischen Fakultät, Alfter 1997, S. 20 – 38, hier S. 37. 26 Vgl. Peter Hünermann, Anmerkungen zum MP „Omnium in mentem“, in: ThQ 190 (2010), S. 116 – 129.

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Er wird durch den konsekrativen Akt der Weihe der Weltlichkeit enthoben, Christus in besonderer Weise gleichgestaltet, so dass sein Handeln nomine Ecclesiae immer eine repraesentatio Christi darstellt.27 Insofern ist der Geweihte nicht mehr Privatmann. Eine Aufspaltung seines Handelns in Amtsvollzug und Privataktion dürfte vor allem im geistlichen Dienst kaum möglich sein. Auf der Grundlage des geltenden kanonischen Rechts kann man daher diesen Infragestellungen nicht folgen. Der Diakon ist kraft sakramentaler Gnade gestärkt. D. h. er handelt aus dieser Gnade amtlich und repräsentiert in all seinen Vollzügen den dienenden Christus. Diesen realisiert er, unabhängig von irgendeiner Leitungsvollmacht, der es ohnehin nicht zwingend bedarf, um Seinsweisen des Herrn den Menschen glaubwürdig und sicher zu vermitteln. Die Internationale Theologenkommission stellt dazu nach eingehender Analyse des historischen und theologischen Befundes fest: Der Diakon ist kein Laie, den man zum höchsten Grad des Laienapostolats erhoben hat, sondern ein Mitglied der Hierarchie, und zwar auf Grund der sakramentalen Gnade und auf Grund des Charakters, der bei der Weihe empfangen worden ist.28 Der bischöfliche Beauftragte des Erzbistums Freiburg für den Diakonat spricht in diesem Zusammenhang von zwei Zielrichtungen der sakramentalen Weihe.29 Während die Priesterweihe im Dienste der salus (des Heils) der Menschen steht, richte sich die Diakonenweihe auf den profectus (Wohl, Fortschritt, Erfolg) der Gläubigen aus. Aber auch diese Differenzierung greift m. E. zu kurz, weil das Heil des Menschen, die salus animarum, als höchstes Ziel der Kirche für die Menschen in dieser endlichen Zeit, einen ganzheitlichen sakramentalen Dienst meint, der salus und profectus in einer Weise umschließt, der nicht einfachhin hierarchologisch aufzuspalten ist. Diakon und Priester wirken vielmehr auf ihre je eigene Weise an salus et profectus animarum mit. Die Frage, wer dann wie Leitungsvollmacht ausübt oder an ihr Anteil übertragen bekommt, ist eine des positiven Rechts, die der Gesetzgeber universal- oder teilkirchlich nach den Erfordernissen der Zeit regeln kann. Die zweite Anfrage ist aus rechtssystematischer Sicht kürzer und so zu beantworten, dass das Gesetz nicht alles enthalten muss, was in den Konzilsdokumenten steht. Das Kirchenrecht folgt immer der Lehre der Kirche. Das bedeutet, dass die Verbindlichkeit von Lehrsätzen, ihrem Inhalt und ihrer Zuspitzung nach auch dort gilt, wo der Gesetzgeber nicht alle Aspekte erwähnt. Gesetze sollen nur die rechtlich notwendigen Tatbestände klären. Zur Interpretation der Norm sieht der Gesetzgeber in den 27

Vgl. Eva-Maria Faber, Zur Theologie des sakramentalen Diakonates, Pastoralblatt 2005, S. 35 – 39, hier S. 37: „Der Diakon ist Repräsentation des dienend gegenwärtigen Christus, also nicht ein Vertreter dessen, der abwesend ist und nicht mehr selbst der Diener unter uns sein kann.“ 28 Vgl. Internationale Theologenkommission, Le Diaconat – Evolution e perspectives, Conclusion, in: http://www.vatican.va/roman_curia/congregations/cfaith/cti_documents/ rc_con_cfaith_pro_05072004_diaconate_fr.html. 29 Vgl. Leserbrief zu „Kommt vielleicht doch ein Diakonat der Frau?“, in: Christ in der Gegenwart 2/2010, S. 27, v. Pfarrer Klemens Armbruster, Bischöflicher Beauftragter für den Ständigen Diakonat in der Erzdiözese Freiburg.

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cc. 17 – 19 in verschiedenen Stufen die Heranziehung weiterer Dokumente, Lehren und Traditionen vor. Der oben schon angesprochene c. 326 CCEO kann in diesem Kontext als Interpretationshilfe zu den neuen Normen verstanden werden. Die potestas des Diakons liegt in der repraesentatio in persona Christi serviens.30 Das ist das sakramental wirkmächtige Handeln des Herrn ohne äußere Macht und Vollmacht, im Unterschied und Kontrast dazu, wie sie in den Kategorien der Welt als Leitungsvollmacht verstanden wird. Wird so das Christuszeugnis nicht viel klarer und auf seinen Kern hin geführt? Fazit: Omnium in mentem mindert den Diakonat nicht herab. Die Sakramentalität der Diakonenweihe steht nicht infrage und damit auch nicht das Handeln des Diakons in persona Christi, unabhängig davon, welche Vollmachten wem wann und wie übertragen werden.31 4. Kann man eine Unterscheidung treffen zwischen dem Handeln in persona Christi und dem Handeln in persona Christi capitis? Die Antwort auf diese Frage erschließt sich eigentlich aus dem, was soeben zur dritten Anfrage gesagt worden ist. Kanonistisch kann und muss man hier aber fundamentaler ansetzen. Das 2. Vatikanische Konzil handelt in Lumen Gentium nicht von Weihe- und Jurisdiktionsgewalt, sondern von „sacra potestas“, der einen heiligen Vollmacht. Das Konzil hatte ein Interesse daran, die Vollmacht in der Kirche als einheitliche, sakramental grundgelegte Wirklichkeit aufzuzeigen; eine von der Weihe losgelöste Jurisdiktionsgewalt, wie sie im Mittelalter verschiedentlich vorkam, wurde von vielen Konzilsvätern als geschichtliche Fehlentwicklung betrachtet. Das Konzil wollte aber nicht direkt zur relativen Ordination der Alten Kirche zurück; so wird in den Konzilstexten deutlich zwischen der in der Weihe grundgelegten potestas und dem exercitium, der Ausübung dieser potestas innerhalb eines konkreten Aufgabenbereichs, unterschieden.32 Diese una sacra potestas wird durch die sakramentale Weihe vermittelt. Sie dient dem Heil der Seelen, weil die salus animarum ohne repraesentatio Christi nicht zu denken ist. Diese Lehre des Konzils, die eine grundlegende, aber nicht ausschließliche Einheit von Weihe- und Leitungsgewalt bestimmt, hat im kirchlichen Gesetzbuch, getreu einer jahrhundertealten Rechtstradition, ihren entsprechend differenzierten Niederschlag gefunden. So definiert c. 129 § 1, dass die Empfänger des Weihesakraments (habiles sunt qui ordine sacro sunt insigniti) zur Übernahme von Leitungsgewalt (potestas regiminis et iurisdictionis) befähigt werden. Folgerichtig formuliert c. 274 § 1, dass ein Amt, das auf Laien über30 Vgl. Benedikt XVI., Nachsynodales Apostolisches Schreiben Verbum Domini (Anm. 10): „Das Vorbild schlechthin ist Christus, der Diener, der ganz dem Dienst für Gott zum Wohl der Menschen gelebt hat. Aus dieser Perspektive heraus versteht man, warum als ,charakteristischesÐ Merkmal das Wort Gottes die Spiritualität des Diakons prägt.“ 31 Vgl. Thomas Söding, Charisma und Amt des Apostels. Paulinische Impulse, in: Lebendiges Zeugnis 57 (2002), S. 5 – 13, hier S. 13. 32 Vgl. LG 22 (2), 27 (1), 28 (1).

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tragbar ist, keine Leitungsgewalt beinhalten kann. Diese Aussage ist allerdings vor der juristischen Tatsache problematisch, dass zahlreiche kirchliche Ämter auf Laien übertragbar sind, denen Elemente von Leitungsgewalt nicht abzusprechen sind. Insofern böte es sich hier an, weiter zu präzisieren. Eine Definition des Begriffes Jurisdiktionsgewalt, die zur genaueren Umschreibung des neu eingeführten Begriffs der Leitungsvollmacht erforderlich wäre, steht aus. Wird darunter das Wahrnehmen von Leitungsverantwortung in einem breiten Sinn verstanden oder nur das Vornehmen einiger weniger, gesetzlich umschriebener Rechtshandlungen?33 In diesem Kontext unterscheidet der Gesetzgeber mit Bedacht nicht zwischen den drei Weihestufen. Freilich gibt es hier keinen Automatismus. Leitungsgewalt wird unabhängig von der Weihestufe in den meisten Fällen durch einen gesonderten Rechtsakt verliehen, wie z. B. wenn einem Priester das Pfarramt übertragen oder einem Bischof eine Diözese anvertraut wird. Die Beispiele lassen sich vermehren. Für die jeweilige Übertragung von Leitungsvollmacht kommt es darauf an, in welcher notwendigen Beziehung und Nähe diese zur sacerdotalen Potestas steht.34 Denn es steht ganz außer Zweifel, dass Leitungsgewalt in ihrem Kern und insbesondere in der Ausprägung der nachstehenden Kirchenämter eine zutiefst diakonale Funktion hat, zu der der gradus servitii hinlänglich befähigt. Leitungsgewalt kann auf der Grundlage von c. 129 § 1 allen Nichtpriestern, also Diakonen ebenso wie Laien übertragen werden, wie an folgenden Ämtern zu erkennen ist, die der CIC/1983 nicht ausdrücklich Priestern reserviert: Diözesanrichter (c. 1421 § 1), Auditor (c. 1428 §§ 1 – 3), Promotor iustitiae (c. 1435), Defensor vinculi (c. 1435), Gerichtsnotar (c. 1437 § 1), Kanzler (c. 482 § 1) und Vizekanzler (c. 482 § 2) der Kurie, Notare der Kurie (c. 482 § 3), Sekretär der Kurie (c. 483 § 3) und schließlich Ökonom der Diözese (c. 494 § 1). Eine besondere Normierung, die für die Pastoral in einigen Bistümern von Bedeutung ist, enthält c. 517 § 2. Diese Bestimmung muss gesondert betrachtet werden, weil auf ihrer rechtlichen Grundlage, im Unterschied zu den vorgenannten Normen, nicht eine Übertragung von Leitungsvollmacht i. e. S. (potestas regiminis et iurisdictionis) stattfindet, sondern die entsprechend beauftragte Person, Laie oder Diakon, an der Ausübung der pfarrlichen Hirtensorge beteiligt wird. Man achte hier genau auf die Wortwahl des Gesetzgebers, die sich in der deutschen Übersetzung des CIC nur ungenau widerspiegelt. Zwei Aspekte sind hier zu beachten: (1) Die participatio in exercitio curae pastoralis paroeciae erstreckt sich nicht auf die pfarrliche Hirtensorge selbst, sondern nur auf deren Ausübung. D. h., juristisch gesprochen geht es hier nicht um Stellvertretung, sondern um einen Dienst, den man etwas zugespitzt als den eines „Verrichtungsgehilfen“35 des priesterlichen Inhabers der Vollmacht zur Aus-

33 34 35

Vgl. LG 21. Vgl. Kirschner, Amtlich (Anm. 4), S. 232. Vgl. die Definition bei Carl Creifelds, Rechtswörterbuch, München 71983, S. 1121.

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übung der pfarrlichen Hirtensorge bezeichnen kann.36 Diese Person handelt mit Wissen und Wollen des sacerdotis potestatibus et facultatibus parochi instructus weisungsgebunden in dessen Interesse und ist von dessen Weisungen abhängig. Wer in dieser Weise an der Ausübung der pfarrlichen Hirtengewalt teilhat, setzt in einem ganz beschränkten Rahmen eigener Gestaltungsfreiheit den Willen des Inhabers der Gewalt um. (2) Der Begriff concredere bedeutet sodann anvertrauen, mitteilen. Dieser Begriff verstärkt noch einmal den Willen des Gesetzgebers, Nichtpriestern in der pfarrlichen Seelsorge keine Leitungsgewalt im eben beschriebenen Sinne zu übertragen.37 Die verschiedenen, in deutschen Diözesen erprobten Modelle des/ der sogenannten Pfarrbeauftragten38, bei denen c. 517 § 2 graduell unterschiedlich, aber doch zumeist extensiv, d. h. über den soeben beschriebenen Wort- und Sinngebrauch hinaus ausgelegt worden ist, sind nach unterschiedlichen Erfahrungen in der jeweiligen Erprobungsphase in den meisten Diözesen nicht fortgeführt worden.39 Darüber scheint derzeit bei den deutschen Ortsordinarien ein Konsens zu bestehen. Halten wir fest: Auch nach der Neufassung der cc. 1008 und 1009 bleibt es dabei, dass Diakonen nach den Bestimmungen des CIC Ämter übertragen werden können, die eine Teilhabe und nicht nur eine Mitwirkung an der Leitungsvollmacht beinhalten. Es ist aber Sache des jeweiligen Jurisdiktionsträgers darüber zu entscheiden, wen er an seiner Jurisdiktion teilhaben lässt. Mit Blick auf die Formulierung von c. 1009 § 3 bleibt allerdings eine Spannung zu den eben genannten Bestimmungen festzustellen, weil die Klausel „diaconi vero vim populo Dei serviendi in diaconia liturgiae, verbi et caritatis“ zwar die zweite Redaktion des Weltkatechismus abbildet, nicht jedoch auf die angesprochenen Bestimmungen Rücksicht nimmt. Weil das aber so ist, muss man dem Gesetzgeber unterstellen, dass er, wie schon die Konzilsväter, die Differenzierung des Handelns in persona Christi mit und ohne Leitungsgewalt gewollt hat.40 Dass es diese Unterscheidung gibt, erschließt sich aus der in vielen bischöflichen Stellungnahmen immer wieder für den Diakon beschriebenen repraesentatio Christi serviens. Genau das betont c. 1009 § 3. 36 Vgl. John A. Renken, Chapter VI, Parishes, Pastors and Parochial Vicars, in: John P. Beal/James A. Coriden/Thomas J. Green (Hrsg.), New Commentary on the Code of Canon Law, New York 2000, S. 673 – 724, hier S. 684. 37 Vgl. Reinhild Ahlers, in: MK CIC, c. 517, Rdnr. 15 (Stand: 43. Erg.Lfg. 2008). 38 Vgl. Heribert Hallermann, Pfarrei und pfarrliche Seelsorge. Ein kirchenrechtliches Handbuch (Kirchen- und Staatskirchenrecht 4), Paderborn 2004, S. 141, m.w.N. 39 Vgl. z. B. Der Bischof von Limburg, Statut für die Pfarrseelsorge vom 19. März 1995, KABl. Limburg 1995, S. 295 – 260. Verlängert bis 31. 12. 2005, KABl. Limburg 2004, S. 291. Bischof von Limburg behält Seelsorgeleitung den Priestern vor, kath.net vom 30. 6. 2009: http://www.kath.net/detail.php?id=23317 (Zugriff: 22. 11. 2010). Eine gleichlautende Entwicklung findet sich aber auch im Bistum Würzburg (KABl. Würzburg 1997, S. 57) und der Erzdiözese München-Freising (KABl. München-Freising 1990, S. 127 f.). 40 Vgl. Heinrich Basilius Streithofen, Katholische Kirche im Problemstau, in: Die Neue Ordnung 53 (1999), Heft 6; Matthias Mühl, Christsein und Lebensform – Vergewisserung zu einer „Theologie der Stände“, Paderborn 2007; Jürgen Werbick, Den Glauben verantworten. Eine Fundamentaltheologie, Freiburg /Basel/Wien 32005, S. 765.

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5. Worin besteht die vis (Amtsgewalt) dem Volk Gottes in der Diakonie der Liturgie, des Wortes und der Liebe zu dienen? Ein Wort vorab zu den unterschiedlichen Übersetzungsvarianten von c. 1009 § 3, weil es hier um den Charakter des Dienstes des Diakons geht. Die zitierte Neufassung verwendet hier den Begriff servire. Das wird zutreffend und ausschließlich mit „dienen“ übersetzt. Völlig fraglich ist, wie der nicht bekannte Übersetzer von zenit.org hier zu dem Begriff „unterstützen“ kommt. Die über das World Wide Web ungesteuert verbreitete Übersetzung ist im Übrigen auch sonst höchst fehlerhaft, wenn dort vom Empfang des Amtes und der Möglichkeit des Handelns in der Person Christi des Hauptes gesprochen wird. Richtig ist es hingegen missio und facultas mit Sendung und Befähigung zu übersetzen. Die Kernfrage nach der Bedeutung von vis bedarf einer näheren Interpretation. Das beginnt schon damit, dass das Wort vis in der allgemein lexikalischen Übersetzung an die 30 zumindest graduell verschiedene Bedeutungen aufweist. Hinzu kommt die Frage der speziellen rechtssprachlichen Verwendungen. Ein Lexikon für das aktuelle kanonische Recht gibt es nicht. So bleibt einem nur ein entsprechendes Referenzhandbuch zum CIC/1917.41 Auch hier gibt es wenigstens drei verschiedene Grundbedeutungen des Wortes vis, die dann wieder je nach rechtlichem Zusammenhang unterschiedliche Übersetzungen und Sinngehalte zu Tage fördern. Im Kontext von c. 1009 § 3 CIC/1983 kommt eine Übersetzung mit „rechtlicher Kraft, Wirksamkeit“ in den Blick, die im altkodikarischen Recht im Zusammenhang von vis und officium (c. 368 § 1 CIC/1917) oder vis und ius (c. 101 § 1, 1 CIC/1917) steht. Der Präsident des Päpstlichen Rates für die Interpretation der Gesetzestexte spricht von der abilitazione (Befähigung) des Diakons.42 Diese Übersetzung erscheint mir ungenau, weil dies im kanonistischen Sprachgebrauch nur eine grundsätzliche Eignung für einen näher zu umschreibenden Dienst oder ein Amt bedeutet. Eine solche Interpretation von vis im Kontext des c. 1009 § 3 marginalisiert dann allerdings das, was in der sakramentalen Weihe geschieht. Im Kontext des Motu proprio Sacrum diaconatus ordinem43 kann das aber nicht ernstlich beabsichtigt gewesen sein, wenn die Geweihten „mit Hilfe der sakramentalen Diakonatsgnade“44 ihren Dienst wirksamer erfüllen können, wie es die einleitende Bestimmung von Sacrum Diaconatus Ordinem sprachlich fasst. Vielmehr geht es facettenreich um den Dienst an den Geheimnissen Christi, wie Paul VI. dort weiter ausführt. 41

Vgl. Rudolf Köstler, Wörterbuch zum Codex Iuris Canonici, München 1927, S. 370. Francesco Coccopalmerio, Il Motu proprio „Omnium in mentem“, Le ragioni di due modifiche, in: http://www.vatican.va/roman_curia/pontifical_councils/intrptxt/documents/ rc_pc_intrptxt_doc_20091215_omnium-in-mentem_it.html (Zugriff: 15. 10. 2010). Ders., Articus explan Motum proprium Omnium in mentem a Summo Pontifice die 16 mensis decembris 2009 datum ab Excan.mo D. Francisco Coccopalmerio, Praesidente Pontificii Consilii de Legum Textibus, conscriptus, in: Communicationes XLI (2009), S. 334 – 337, hier S. 335. 43 Paul VI., Motu proprio „Sacrum diaconatus ordinem“ vom 18. Juni 1967, in: AAS 59 (1967), S. 697 – 704. 44 Ebd., Einführung. 42

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Aufgrund dieses Befundes würde man es sich wünschen, dass der Gesetzgeber doch lieber den Begriff der potestas gewählt hätte, wie er es in c. 326 CCEO getan hat. Der ist nämlich rechtssprachlich eindeutig und bezeichnet in jedem kanonistischen Kontext eindeutig eine Form der Weihe- bzw. der Leitungsgewalt. Damit kann der Begriff vis nicht dienen. Legt man nun c. 326 CCEO als Auslegungsmaßstab für c. 1009 § 3 CIC zugrunde, so kommt unter Heranziehung von c. 368 § 1 CIC/ 1917, der von der vis officii, der Amtsgewalt also handelt, eine dem entsprechende Übersetzung in Betracht, die oben in der Gegenüberstellung bereits vorgenommen worden ist. Während nun auf der Grundlage der konziliaren una-sacra-potestas-Lehre der isolierte Potestasbegriff als eine mit der Weihe gegebene, in seiner Ausführung aber von einer zusätzlichen amtlichen Bevollmächtigung abhängige Teilhabe an der Leitungsgewalt zu verstehen ist, wird man den Begriff der Amtsgewalt aus c. 1009 § 3 CIC zutreffend als eine dem speziellen Amt immanente Gewalt zu definieren haben, die in keinem zwingenden Zusammenhang mit dem Vorliegen der Weihegewalt steht. Wie verhält sich dies aber zu der Lehre des Konzils, die alle Kirchengewalt an den Empfang einer hl. Weihe zurückbindet? Kehrt Omnium in mentem hier dem Konzil (LG 18, 1; 10, 2; 27, 1; PO 2, 2) wegen rechtssprachlicher Ungenauigkeit den Rücken? LG 18, 1 sagt ja: „Denn die Amtsträger (ministri), die mit heiliger Vollmacht (qui sacra potestate pollent) ausgestattet sind, stehen im Dienste ihrer Brüder, damit alle, die zum Volke Gottes gehören und sich daher der wahren Würde eines Christen erfreuen, in freier und geordneter Weise sich auf das nämliche Ziel hin ausstrecken und so zum Heile gelangen.“ Wenn das Ziel dieser Gesetzgebung darin bestünde, zu einer priesterzentrierten Kirche zurückzukehren, dann hätte man in c. 1009 nicht von dieser vis im Sinne einer Amtsgewalt reden dürfen. Dann hätte man zutreffend von einer sakramentalen Gnade gesprochen, die durch die Weihe vermittelt, den Weiheempfänger für seinen Dienst stärkt. Das wirft aber sogleich das Problem des Heilsindividualismus auf, den es zu vermeiden gilt. Welche Lösung bietet sich an? Natürlich nur eine, die mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil konform geht. Der CIC selbst weist durch c. 145 § 1 den Weg: Ein Kirchenamt ist ein vom Empfang des Weihesakraments unabhängiger, dauerhafter Dienst zur Wahrnehmung eines geistlichen Zwecks. Verbunden mit der Weihe, besteht der geistliche Zweck des Amtes auch darin, dass dem Adressaten des Sprechens oder Handelns des geweihten Amtsträgers die Gewähr gegeben wird, dass dieses Sprechen oder Handeln auch tatsächlich die göttliche Heilsgabe vermittelt, die durch Wort und Tat ausgedrückt werden.45 Die Weihe gibt dem Diakon außer der universalkirchlichen Predigterlaubnis aus c. 764 keine Vollmachten, die nicht auch Laien zumindest außerordentlich übertragen werden könnten. Der CIC sieht aber an den einschlägigen Stellen stets eine Rangfolge der Vollmachtsvergabe vor, die 45 Vgl. Hermann Joh. Weber, Der Dienst des Diakons an Wort und Buch, in: Hanns Peter Neuheuser (Hrsg.), Wort und Buch in der Liturgie. Interdisziplinäre Beiträge zur Wirkmächtigkeit des Wortes und der Zeichenhaftigkeit des Buches, St. Ottilien 1995, S. 353 – 384, hier S. 357.

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Diakone nicht nur vor den Laien vorsieht, sondern sie dann kraft Übertragung als ordentliche Inhaber dieser Vollmachten bzw. ordentliche Spender der näher bezeichneten Sakramente versteht. In diesem Sinne ist dann wieder die Einheit der una sacra potestas gewahrt, aber in einem weiteren Sinne, wie beschrieben. Der Diakon wird also durch Omnium in mentem nicht zum Kleriker zweiter Klasse. Es bleibt bei der konziliaren Lehre, dass der Diakon Helfer des Bischofs und des Priesters ist.46 Insoweit ist der Stand eigenberechtigt. Das nimmt c. 1009 § 3 nicht zurück. Gleichwohl bleibt es dabei, dass dieses Motu proprio Benedikt XVI. rechtssprachlich nicht wirklich gelungen erscheint. Insofern teilt es das Schicksal mit anderen Dokumenten dieses Papstes, die theologisch gehaltvoll, rechtssprachlich bisweilen aber unbeholfen daher kommen. Zweifellos ist es mit Blick auf die auch weiterhin in c. 1008 bestätigte Einheit des Weihesakraments in der Hinordnung auf den jeweiligen Dienst am Volk Gottes wünschenswert, rechtliche Formulierungen zu finden, die diese Einheit besser unterstreichen.47 Das „Dienen“ ist seit der Frühzeit der Kirche ein wesensbestimmendes Merkmal des dreigliedrigen sacramentum ordinis, und zwar einer jeden Weihestufe auf die je eigene Weise.48 Das hat zuletzt das Zweite Vatikanische Konzil (LG 8) deutlich gemacht. Diakone sollte Omnium in mentem daher bei genauerer Analyse des Textes nicht verunsichern. Sie werden in ihrem Dienst von den Bischöfen stets gestärkt und von vielen Priestern geschätzt. In den Pfarreien erfahren sie gerade in den Zeiten des kirchlichen Umbruchs als Brückenköpfe viel Zuspruch von den Menschen, deren Lebenssituation sie als Eheleute, Familienväter und häufig auch als in einem säkularen Beruf stehende Bürger oft noch direkter teilen, als ihre Mitbrüder im Bischofund Priesteramt. Das birgt Chancen genug, den Dienst im Weinberg des Herrn zu gestalten. Ob man dafür immer Leitungsgewalt braucht, sei vor allem in einer Zeit dahingestellt, in der das organisationsrechtliche Credo in der säkularen Gesellschaft immer deutlicher auf den Abbau überbordender hierarchischer Strukturen zielt.

46 Vgl. Johannes Paul II., Ständige Diakone – bereit zum Dienst und offen für alle, Ansprache an die Vollversammlung der Kongregation für den Klerus am 30. November 1994, dt. in: OssRom (dt.) vom 9. 1. 1995, S. 9. 47 Vgl. Karl Kardinal Lehmann, Brief an die Diakone im Bistum Mainz, Manuskript, Mainz im Februar 2010, S. 4, 6. 48 Vgl. Gerhard Ludwig Müller, Der sakramentale Diakonat. Geschichtliche Entfaltung – systematische Perspektiven, in: AfkKR 166 (1997), S. 43 – 68, hier S. 45.

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III. Die weiherechtlichen Implikationen der Instruktion Universae Ecclessiae49 der Kommission Ecclesia Dei vom 30. April 2011 Mit einem bedeutungsreichen Datum, nämlich dem Gedenktag an Papst Pius V., erlässt die Kommission Ecclesia Dei eine Instruktion zum Motu proprio Summorum pontificum. Dabei kommt es in dieser Instruktion weniger auf das Werben für die Feier der Liturgie nach dem Missale von 1962 an, als vielmehr auf die gesetzliche Wiedereinführung der Tonsur und niederen Weihen für jene geistlichen Gemeinschaften, die der Autorität der Kommission Ecclesia Dei unterstehen sowie für solche Gemeinschaften, die die liturgischen Bücher der forma extraordinaria verwenden. 1. Rechtscharakter der Instruktion Aus kanonistischer Perspektive ist zunächst der rechtliche Charakter von Universae Ecclesiae zu betrachten. Für die Beurteilung dieser kurialen Verlautbarung kommt es nämlich darauf an, ob durch diese Instruktion bestehendes Recht im Sinne einer Vollzugsanweisung ausgelegt und den Adressaten verbindlich auferlegt wird, oder ob es sich um eine Gesetzesänderung handelt, die den CIC/1983 in den cc. 230 und 1035 ändert. Dem Wortlaut nach handelt es sich um eine Instruktion, die gemäß c. 34 § 1 der Auslegung von Gesetzen dient, gemäß § 2 nicht aber neues Gesetzesrecht schafft.50 In diesem Fall genießt das Gesetz den rechtlichen Vorrang vor der Instruktion. Bei Unvereinbarkeit mit dem geltenden Recht wäre die Instruktion zur Gänze oder wenigstens in den mit dem Gesetz nicht vereinbaren Teilen nichtig, soweit diese für sich allein stehen können.51 Das würde bei wortgetreuer Auslegung von c. 34 § 2 bedeuten, dass die Regelungen zur Wiedereinführung der niederen Weihen bei jenen Gemeinschaften, die Ecclesia Dei unterstehen, ipso facto nichtig wären, weil sie der nachkonziliaren Gesetzgebung widersprechen. Die bisher in den Medien überwiegend wegen ihrer traditionalistischen Ausrichtung kritisierte Instruktion wäre davon unabhängig aus den genannten Gründen, kanonistisch-formalrechtlich betrachtet, keine Meisterleistung des verantwortlichen Dikasteriums. Für eine solche Interpretation spricht zunächst einmal, dass sich die Kommission ausdrücklich auf c. 34 beruft und hervorhebt, dass es darum gehe, die rechte Interpretation und Anwendung des Motu proprio Summorum Pontificum zu gewährleisten.52 Die Gefahr der Nichtigkeit der infrage stehenden Normen wäre also durch eine 49

Päpstliche Kommission Ecclesia Dei, Instruktion über die Ausführung des als Motu proprio erlassenen Apostolischen Schreibens „Summorum Pontificum“ von Papst Benedikt XVI., in: OssRom (dt.) (20) vom 20. Mai 2011, S. 12 – 13. 50 Vgl. Joseph Listl, Die Rechtsnormen, in: HdbKathKR2, S. 102 – 117, hier S. 104. 51 Vgl. Hans Heimerl/Helmuth Pree, Kirchenrecht. Allgemeine Normen und Eherecht, Wien/New York 1983, S. 56. 52 Vgl. Instructio Universae Ecclesiae Nr. 12: „Pontif†cia haec Commissio, vigore auctoritatis sibi commissae et facultatum quibus gaudet, peracta inquisitione apud Episcopos totius orbis, rectam interpretationem et fidelem exsecutionem Litterarum Apostolicarum Summo-

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neuere postkodikarische Gesetzgebung gebannt. Nun hat aber Summorum Pontificum das Weiherecht und/oder das Recht die kirchlichen Dienstämter betreffend, ebenso wenig geändert, wie irgendeine andere Gesetzgebung im bisherigen Pontifikat Benedikt XVI., wie die Instruktion in Ziffer 30 selbst bestätigt. Summorum pontificum spricht lediglich von den Sakramenten der Taufe, Buße, Eucharistie, Firmung und Ehe.53 Gleichwohl erlässt die Kommission als hierarchischer Oberer für den eigenen Jurisdiktionsbereich die Bestimmung, dass innerhalb der Grenzen ihrer Zuständigkeit die niederen Weihen wieder eingeführt werden. Damit gilt universal, was bislang für Einzelfälle indultweise genehmigt worden ist.54 Insofern überschreitet diese Instruktion den Rahmen, der ihr dem Begriffe nach in c. 34 §§ 1 und 2 vorgegeben ist. Hierin besteht der entscheidende Unterschied zur Instruktion Dignitas Connubii von 200555. Dort hatte der Päpstliche Rat zur Interpretation der Gesetzestexte für das Eheprozessrecht neue Regelungen geschaffen, die aber nicht mehr sind als eine Erklärung von bereits bestehenden Gesetzen und Vorgehensweisen.56 Wegen der durch Universae Ecclesiae vorgenommenen, gesamtkirchlichen Gesetzesänderung, die durchaus als eine Erweiterung des bestehenden Rechts verstanden werden darf, hätte an dieser Stelle eine Bezugnahme auf c. 327 CCEO erwartet werden können, welche die Beibehaltung der alten Praxis den Rituskirchen überlässt57 und diese Tradition für die lateinische Kirche in ihren exempten Gemeinschaften des usus antiquor einführt, ebenso wie eine förmliche Promulgation gemäß c. 7 CIC. rum Pontificum pro certo habere volens, hanc Instructionem edit, ad normam canonis 34 Codicis Iuris Canonici.“ 53 Art. 9 SummPont: „§ 1. Der Pfarrer kann – nachdem er alles wohl abgewogen hat – auch die Erlaubnis geben, dass bei der Spendung der Sakramente der Taufe, der Ehe, der Buße und der Krankensalbung das ältere Rituale verwendet wird, wenn das Heil der Seelen dies nahelegt. § 2. Den Bischöfen ist die Vollmacht gegeben, das Sakrament der Firmung nach dem alten Pontificale Romanum zu feiern, wenn das Heil der Seelen dies nahelegt. § 3. Die geweihten Kleriker haben das Recht, auch das Römische Brevier zu gebrauchen, das vom sel. Johannes XXIII. im Jahr 1962 promulgiert wurde.“ 54 Dekret der Päpstlichen Kommission Ecclesia Dei zur Errichtung des Instituts Philip Neri vom 26. Mai 2004, in: KABl. Berlin, 76. Jg. (Nr. 10/1. Oktober 2004), S. 115: „Denique membris huius Instituti privilegium confert celebrandi sacram Liturgiam utendo libris liturgicis – id est Missali Romano, Rituali Romano, et Pontificali Romano quoad Ordines conferendos – anno 1962 vigentibus necnon Officium Divinum recitandi secundum Breviarium Romanum eodem anno editum.“ (Hervorhebung von mir) Die Errichtung erfolgte dem kurialen Brauch entsprechend ad experimentum auf fünf Jahre. 55 Vgl. Dignitas Connubii. Instructio servanda a Tribunalibus diocesanis et interdiocesanis in pertractandis causis nullitatis matrimonii, Auctori: Pontificium Consilium de Legum Textibus, Libreria Editrice Vaticana, 10.2. 2005. 56 Vgl. Matthias Pulte, Von Provida Mater (1936) bis Dignitas Connubii (2005), NomoK@non-Webdokument: http://www.nomokanon.de/abhandlungen/019.htm, Rdnr. 1 – 50, hier 41 (Zugriff: 21. 6. 2011). 57 C. 327 CCEO: „Si praeter Episcopos, presbyteros vel diaconos alii etiam ministri in ordine minore constituti et generatim clerici minores vocati ad populi Dei servitium vel ad functiones sacrae liturgiae exercendas admittuntur vel instituuntur, iidem reguntur tantum iure particulari propriae Ecclesiae sui iuris.“

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Handelt es sich daher vielleicht um eine gesetzeswidrige Kompetenzüberschreitung durch das Dikasterium, weil es gemäß c. 838 §§ 2 und 4 nicht Sache eines partikularen hierarchischen Oberen ist, neue Riten einzuführen oder alte zu reaktivieren? Die Frage ist, ob in diesem Zusammenhang die Kommission als hierarchischer und damit partikularer Oberer über die traditionalistischen kirchlichen Gemeinschaften oder als Organ des Apostolischen Stuhls zu verstehen ist. Nr. 9 der Instruktion Universae Ecclesiae weist darauf hin, dass Papst Benedikt XVI. bereits durch die Artt. 11 und 12 des Motu proprio Summorum pontificum die Kommission mit ordentlicher stellvertretender Hirtengewalt ausgestattet hat.58 Die Kommission stellt dazu in Nr. 11 der Instruktion fest, dass es ihr zukomme, nach Absprache mit der Gottesdienstkongregation die erforderlichen liturgischen Bücher für den tridentinischen Ritus herauszugeben. Insofern dürfte eine Kompetenzüberschreitung nicht zu bejahen sein, wenn die Wiedereinführung der niederen Weihen und des Subdiakonates lediglich eine rituelle Handlung darstellt. Man könnte die Veröffentlichung von Universae Ecclesiae im Osservatore Romano als eine förmliche Veröffentlichung im Sinne des c. 7 bezeichnen, wenn dadurch (1) amtlich die Adressaten der neuen Normen als Personengesamtheit angesprochen worden sind59 und (2) der Gesetzgeber seinen Promulgationswillen im Text kundgetan hätte.60 Für diese Intention des Gesetzgebers spricht, dass die Herausgabe eines neuen Faszikels der AAS noch längere Zeit auf sich warten lassen wird und dem Gesetzgeber die Herstellung der Rechtssicherheit mit Blick auf die unterschiedlichen Traditionen in der lateinischen Kirche wichtig sein müsste. Diese Motive bleiben freilich Spekulation, erscheinen mir aber für den gewählten Weg nicht nur in diesem Fall plausibel. Insofern handelt es sich bei Universae Ecclesiae um eine Instruktion (c. 34 § 1) mit gesetzgebenden Komponenten eines allgemeinen Dekrets (c. 29), seitens eines formal zuständigen und berechtigten Gesetzgebers.

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Benedikt XVI., Litterae Apostolicae Motu Proprio datae Summorum Pontificum, in: AAS 99 (2007), S. 777 – 781; dt.: Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls 178, hrsg. vom Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Bonn 2007: „Art. 11. Die Päpstliche Kommission ,Ecclesia DeiÐ, die von Johannes Paul II. im Jahr 1988 errichtet wurde, fährt fort mit der Erfüllung ihrer Aufgabe. Diese Kommission soll die Form, die Amtsaufgaben und die Handlungsnormen erhalten, mit denen der Papst sie ausstatten will. Art. 12. Dieselbe Kommission wird über die Vollmachten hinaus, derer sie sich bereits erfreut, die Autorität des Heiligen Stuhles ausüben, indem sie über die Beachtung und Anwendung dieser Anordnungen wacht.“ (Hervorhebung von mir) 59 Vgl. Hubert Socha, MK CIC, 7,3. 60 So geschehen z. B. bei der Papstwahlordnung von 2007: „Hoc documentum cum in LÏOsservatore Romano evulgabitur statim vigere incipiet. Haec decernimus et statuimus, contrariis quibusvis non obstantibus.“ Benedikt XVI., Motu proprio „De aliquibus mutationibus in normis de electione Romani Pontificis“ am 22. Februar 2007, in: OssRom vom 26. 7. 2007 (ital. Ausgabe), OssRom (dt.) 27 (2007), S. 7.

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2. Materiellrechtliche Aspekte zur Renaissance überlebter Traditionen Die Regelung zur beschränkten Wiedereinführung der minores und des Subdiakonates verwundert wenigstens unter vier Gesichtspunkten. Erstens erscheint die juristische Präzision der Instruktion in Nr. 31 auf den ersten Blick kaum verständlich. Während Nr. 31 Satz 1 feststellt, dass das alte Pontifikale nur von den dort abschließend qualifizierten Gemeinschaften verwendet werden darf, die der Kommission Ecclesia Dei unterstehen, weitet der direkt folgende Satz durch das „et his“ den möglichen Anwendungsbereich des vorkonziliaren Pontifikale auf jene Gemeinschaften aus, die die tridentinische Liturgie feiern. Hier können, der Logik des Satzes folgend, nur Religiosengemeinschaften gemeint sein, die zwar nicht der Kommission unterstehen, aber doch in der tridentinischen Tradition stehen oder sich dieser zugewandt haben.61 Folglich werden ausschließlich Teilkirchen, in denen gegebenenfalls ein Wunsch bestehen könnte, die Weihen nach dem usus extraordinarius zu spenden, von der Neuregelung ausgeschlossen. Zweites wird die Spendung der minores und des Subdiakonates durch die Derogationsklausel der Nr. 28 rektifiziert, die im Lichte von c. 266 § 2 CIC/1983 bisher als rechtsmissbräuchlich zu qualifizierende Praxis mancher traditionalistischen Gruppen galt, nicht nur weil diese derogierte liturgische Handlungen vollzogen haben, sondern auch, weil sich an der dem Motu proprio Ministeria quaedam zugrunde liegenden Gegenwartsanalyse nichts Substantielles geändert hat.62 Drittens stellt sich die Frage nach der Sinnhaftigkeit der Wiedereinführung dieser Weihestufen, wenn mit der vorkodikarischen Tradition der Sinn einer Ordination in der inneren Befähigung zur Ausübung einer geistlichen Gewalt verstanden wird.63 Welche geistlichen Gewalten sind speziell hier gemeint? Viertens er61 Siehe z. B. die Rückkehr der Abtei Maria Wald OSCD (Heimbach/Eifel) zur tridentinischen Liturgie. http://www.kloster-mariawald.de/. Anderer, aber wohl unzutreffender Ansicht ist die Interpretation der Gruppe „Pro missa tridentina“ in ihrem Kommentar. Monika Rheinschmitt, Stellungnahme der Laienvereinigung für den klassischen römischen Ritus in der Katholischen Kirche zu „Universae Ecclesiae“, http://www.pro-missa-tridentina.org/news/ images/mpsp_pmt_komm_web_2.pdf (Zugriff: 20. 6. 2011). 62 Vgl. Paul VI., Motu proprio Ministeria quaedam vom 15. August 1972, in: AAS 64 (1972), S. 529 – 534, 529 f.; dt. Übersetzung in: Nachkonziliare Dokumentation – im Auftrag der Deutschen Bischofskonferenz, 38. Bd. Kleriker- und Weiherecht, Sammlung neuer Erlasse, lateinisch und deutscher Text, Trier 21977, S. 24 – 41, hier S. 24: „Da jedoch die niederen Weihen nicht immer dieselben geblieben sind und nicht wenige der mit ihnen verbundenen Aufgaben, wie dies auch heute der Fall ist, ebenfalls von Laien verrichtet wurden, scheint es angebracht zu sein, diese Praxis neu zu überdenken und den heutigen Bedürfnissen so anzupassen, dass alle jene Elemente, die in den genannten Ämtern veraltet sind, ausgeschieden werden; was nützlich ist, soll beibehalten, und was als notwendig erscheint, eingeführt werden, ebenso soll festgesetzt werden, was von den Weihekandidaten verlangt werden muss.“ 63 Vgl. Franz Heiner, Katholisches Kirchenrecht. 1. Bd.: Die Verfassung der Kirche nebst allgemeiner und spezieller Einleitung, Paderborn 41904, S. 124; Winfried Aymans, Die in besonderen Dienst genommenen Kirchenglieder, in: Grundriß des nachkonziliaren Kirchenrechts, hrsg. von Joseph Listl/Hubert Müller/Heribert Schmitz, Regensburg 1979, S. 126 – 134, hier S. 128; ders., Die Träger kirchlicher Dienste, in: HdbKathKR2, S. 242 – 252, hier S. 243 f.

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scheint die neue Instruktion widersprüchlich, weil einerseits in Nr. 30 bekräftigt wird, dass der Eintritt in ein Inkardinationsverhältnis durch ewige Gelübde bzw. die Diakonenweihe erfolge, andererseits gemäß Nr. 31 für einen Teil des zukünftigen Klerus liturgische Handlungen reetabliert werden, denen nach dem geltenden Recht jegliche, speziell diesen Ämtern vorbehaltene liturgische Funktion und/oder Rechtstellung abgeht, die nicht auch von Laien ausgeübt bzw. ausgefüllt werden könnten. Denn allen Laien, die rechtlich nicht daran gehindert sind, kommt gemäß cc. 204 und 230 aufgrund des gemeinsamen Priestertums aller Gläubigen und dem Grundsatz der participatio actuosa die habituelle Fähigkeit zu, liturgische Dienste nach Maßgabe des Rechts auszuüben.64 Freilich bedarf die Fähigkeit zu ihrer Aktuierung der konkreten Bevollmächtigung durch die zuständige kirchliche Autorität. C. 230 § 1 versteht diese Beauftragung aber wörtlich im Sinne eines ministerium und gerade nicht als officium ecclesiasticum gemäß c. 145 § 1. Das entspricht schon der Tradition der Kirchenväter. Nach Ambrosius von Mailand meint officium eine Pflichtverrichtung.65 Die minores und der Subdiakonat verpflichten hingegen de iure zu nichts, soweit sie nicht mit anderen Pflichten verbunden werden, die aber nicht Eigenart der Weihestufe sind. Eine diesbezügliche Anleihe bei c. 327 CCEO, der von functiones sacrae liturgiae für die Minoristen spricht, ist angesichts der pointierten Exklusivitätsklausel von c. 1 CCEO nicht vertretbar. Die Grundregel der Befähigung zu einem ministerium sine ordinationis aus cc. 204 und 230 gilt für die ganze lateinische Kirche und damit uneingeschränkt auch für jene Gemeinschaften, die der Kommission Ecclesia Dei unterstehen, weil der CIC/1983, unbeachtlich des bevorzugten usus latinus ordinarius vel extraordinarius, das für die gesamte lateinische Kirche geltende Gesetzbuch ist und bleibt. C. 6 § 1 wird durch Summorum Pontificum und Nr. 28 Instruktion Universae Ecclesiae nur insoweit in Teilen für traditionalistischen Gemeinschaften in der lateinischen Kirche aufgehoben, als dass kodikarische Regelungen unvereinbar mit den Rubriken der liturgischen Bücher von 1962 sind. Trifft das auf das Motu proprio Ministeria quaedam zu? Bedarf es der Minoristen und des Subdiakons zur Feier im usus antiquor? Die Frage bleibt offen, welchem theologischen, geistlichen oder pastoralen Zweck die Wiedereinführung der abgeschafften Weihestufen dient. Bereiten sie 64

Vgl. Heinrich J. F. Reinhardt, in: MK CIC 204, 2 – 3; 230, 1; Winfried Aymans, Kanonisches Recht: Lehrbuch aufgrund des Codex Iuris Canonici II, 131997, S. 124 f. Vor diesem Hintergrund ist es auch befremdlich, dass die Kommission Ecclesia Dei den Dienst von Ministrantinnen beim usus extraordinarius ausschließen will, weil es das 1962 nicht gegeben habe. Hier stellt sich nun tatsächlich nicht nur die Frage, ob liturgisch rechtliche Bestimmungen des CIC/1983 derogiert werden sollen, oder gar Beschlüsse des 2. Vatikanischen Konzils. Hier stellt sich die Frage, ob Nr. 28 Universae Ecclesiae geeignet ist, Art. 14 Sacrosanctum Concilium zu derogieren. Vgl.: Keine Messdienerinnen bei Liturgie im außerordentlichen Ritus, in: OssRom (dt.), 24/2011, S. 3. 65 Vgl. Ambrosius von Mailand, Von den Pflichten der Kirchendiener (De officiis), in: Des heiligen Kirchenlehrers Ambrosius von Mailand ausgewählte Schriften, aus dem Lateinischen übers. und ausgewählte kleinere Schriften, übers. und eingel. von Joh. Ev. Niederhuber (Des heiligen Kirchenvaters Ambrosius ausgewählte Schriften Bd. 3; Bibliothek der Kirchenväter, 1. Reihe, Bd. 32), Kempten/München 1917, Lib. 1, Cap. VIII, S. 36.

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der participatio actuosa der versammelten Gläubigen oder einer einseitigen Klerikalisierung der Liturgie den Weg? Schließlich ist die theologische Überzeugung spätestens durch das Zweite Vatikanische Konzil (LG 11, 41; OE 17) überwunden, dass jedwede Ausübung eines liturgischen ministerium (mit Ausnahme des Ministrantendienstes) den Empfang einer Weihe (wenigstens im Sinne einer Benediktion) voraussetze, weil damit eine Ausübung geistlicher Gewalt verbunden sei. Gleichfalls überwunden dürfte vor dem Hintergrund der tridentinischen Seminarerziehung die schon damals bemüht wirkende vorkodikarische Begründung sein, dass die Spendung der niederen Weihen dazu diene, den Oberen Kriterien zur Überprüfung der Eignung der Alumnen für den priesterlichen Dienst an die Hand zu geben.66 Fraglich erscheint, ob die Wiedereinführung der niederen Weihen von den Artt. 11 und 12 SummPont gedeckt ist. Handelt es sich dabei um mehr als die Wiedereinführung von derogierten Ritualen? Lediglich mit dem Lektorat waren Benediktionsvollmachten über Brot und Feldfrüchte verbunden.67 Die Beurteilung dieser Frage hängt davon ab, ob den niederen Weihen und dem Subdiakonat, außer dass es sich dabei um liturgische Feiern handelt, gegenwärtig irgendeine rechtliche Konsequenz zukommt. Mit Blick auf die ordinationsrechtlichen Bestimmungen des CIC/ 1983, der ja ausdrücklich auch für die der Kommission Ecclesia Dei unterstehenden Gemeinschaften gilt, dürfte das nach den bisherigen Feststellungen zu verneinen sein. Gemäß c. 1035 § 1 haben die Weihebewerber vor Empfang der Diakonenweihe die ministeria lectoris et acolythi eine ausreichende Zeit auszuüben. Der Subdiakonat findet im CIC/1983 folgerichtig keine Erwähnung. Diese lacuna legis kann gegebenenfalls über c. 1006 § 4 und c. 1009 § 3 CIC/1917 ausgefüllt werden. Aus den dortigen gesetzlichen Bestimmungen über die Weiheliturgie ohne Verbindung mit einer Messfeier und den Weiheort, für den jedwede Privatkapelle als geziemend bezeichnet ist, wird deutlich, welch untergeordnete Bedeutung der altkodikarische Gesetzgeber diesen Weihen beigemessen hatte. Die Literatur weist auf eine lange Tradition dieser Ämter hin.68 Zugleich wird mit höchster kirchlicher Autorität deutlich gemacht, dass seit dem ausgehenden Mittelalter die Sakramentalität dieser Weihen weitgehend infrage steht.69 Schließlich handelt es sich beim Subdiakonat und den or-

66 Vgl. Franz Ammon, Die geistlichen Weihen aus dem römischen Pontifikalbuche übersetzt und mit Einleitungen und Anmerkungen versehen, zum Gebrauche der Ordinanden, München 1832, S. 41. 67 Vgl. Pontificale Romanum jussu editum a Benedicto XIV et Leone XIII recognitum et castigatum, Romae 1895, S. 26. 68 Vgl. Ferdinand Walter, Lehrbuch des Kirchenrechts aller christlichen Konfessionen, Bonn 141871, S. 471 f.; Heiner, Katholisches Kirchenrecht (Anm. 63), S. 125 – 126, dort mit weiteren Quellennachweisen. 69 Vgl. Benedikt XIV., De synodo dioecesana, lib. VIII, cap. 9, edition novissima, Augustae Vindelicorum 1796, S. 349: „VI. Ideo autem Doctores in tot diversas scissi sunt opiniones, quia obscura, & incerta est Ordinum, infra Diaconatum, origio, (…). “ Vgl. Josephus Laurentius SJ, Institutiones Iuris Ecclesiastici quas in usum scholarum scripsit, edition altera emendate et aucta, Freiburg/Br. 1908, S. 46 f.

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dines minores lediglich um funktionale Ableitungen aus dem Diakonat.70 Wahrscheinlich haben sie auch deshalb schon früh in der Kirchengeschichte ihre Funktion als selbständige Ämter verloren. Ferner definiert das Pontificale Romanum Benedikt XIV. diese Weihen auch nicht als eine konsekrative, sondern lediglich als benedizierende Weihehandlungen.71 Insofern passen hier die kanonistische Würdigung und die liturgische Umsetzung durch ein und denselben Pontifex zusammen. Das Gleiche gilt für den Subdiakonat, der zwar seit dem 12. Jahrhundert zu den höheren Weihen gerechnet, jedoch auch als nichtsakramental und folglich auch nicht konsekrativ aufgefasst wird.72 Seine einzige „echte“ Funktion dürfte schon damals darin zu erkennen gewesen sein, dass an dieser Stelle dem Priesterkandidaten das Zölibatsversprechen abgenommen wurde.73 Diese Tatsachen begründeten schließlich ebenso wie die Voten vieler Konzilsväter aus der Zeit der Konzilsvorbereitung74 im Ergebnis die Abschaffung der minores durch das Motu proprio Ministeria quaedam von 1972. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, wozu die niederen Weihen im Jahr 2011 – eng umgrenzt – wieder eingeführt werden, wenn dadurch nicht, wie es bisweilen von Konzilsvätern angeregt, durch Zuweisung von munera vel ministeria wenigstens ein Beitrag zur Entlastung des Seelsorgeklerus erreicht wird. Das Zweite Vatikanische Konzil lehrt, dass die Communio in der Kirche eine Communio hierarchica ist (LG 9, 31, DV 8, AG 15). Wenn es richtig ist, den Begriff Communio von cum und munus abzuleiten und so als Geschenk, Liebensdienst und Gabe zu bezeichnen75, dann fragt man weiter, für wen diese niederen Weihen eben diese Gabe sein sollen, wenn sie doch weitgehend funktionslos bleiben und doch nur der Validierung der Eignung zum Priesterberuf dienen. Wie lässt sich die Wiedereinführung mit der Ekklesiologie des Zweiten Vatikanischen Konzils harmonisieren? Wir haben gesehen, aus kanonistischer Perspektive handelt es sich bei diesen Weihen um pontifikale liturgische Handlungen, bei denen entweder nicht erkennbar ist, zu welchem munus oder ministerium sie in der lateinischen Kirche überhaupt befä70 Vgl. Hermann Gerlach, Lehrbuch des katholischen Kirchenrechts, Münster/Paderborn 1885, S. 341 – 344. 71 So heißt es im Weihegebet: „Domine sancte, Pater omnipotens, aeterne Deus, benedicere dignare hos famulos tuos, quos ad subdiaconatus officium eligere dignatus est; (…).“ Pontificale Romanum (Anm. 67), S. 36. 72 Vgl. c. 1 D. 31; c. 4 D. 60; vgl. Dominicus M. Prümmer, Manuale Iuris Canonici, Freiburg i. Br. 61933, S. 82; Klaus Mörsdorf, Lehrbuch des Kirchenrechts auf Grund des Codex Iuris Canonici, 2. Bd., München/Paderborn/Wien 111967, S. 94; Gerlach, Lehrbuch (Anm. 70), S. 344. 73 Vgl. Pontificale Romanum (Anm. 67), S. 3: „ (…) sed Deo, cui servire, regnare est, perpetui famulari, et castitatem illo adjuvante, servare oportebit, atque in Ecclesiae ministerio semper esse mancipatos.“ 74 Vgl. zusammenfassend: Matthias Pulte, Das Missionsrecht ein Vorreiter des universalen Kirchenrechts. Rechtliche Einflüsse aus dem Missionen auf die konziliare und nachkonziliare Gesetzgebung der lateinischen Kirche, Nettetal 2006, S. 287. 75 Vgl. Hermann Weber, Diaconia Christi. Der Diakon im dreigliedrigen Amt nach der Kirchenkonstitution, in: Augustinus Frotz (Hrsg.), 25 Jahre Ständiger Diakonat (Kölner Beiträge – Neue Folge 15), Köln 1990, S. 30 – 40, hier S. 35. 4

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higen, oder bei denen eine Benediktion zur Ausübung eines munus oder ministerium gespendet wird, das außerhalb dieser Sondergruppe in der Weltkirche ohne diese spezielle Form der Beauftragung übertragen wird. Im Sinne der Rechtseinheit in der lateinischen Kirche ist diese Gesetzesänderung so nicht zu begrüßen, da der römische und in der Kanonistik seit Gratian etablierte Rechtsgrundsatz der aequitas canonica nicht beachtet worden ist, Gleiches rechtlich gleich zu behandeln.76 Daraus können sich Irritationen ergeben, die ohne Not infrage stellen, welches die rechtlichen und liturgischen Voraussetzungen für die Spendung einer sakramentalen Weihe sind. Das Zweite Vatikanische Konzil, der CIC/1983 und der CCEO/1990 hatten diese fruchtlose Diskussion eigentlich abgeschlossen. Dennoch wird aus der Gesetzesänderung in Universae Ecclesiae der Weltkirche kein Nachteil erwachsen. Trotz aller hier angestellten Überlegungen zu den kanonistischen Fragen, die die aktuelle ordinationsrechtliche Gesetzgebung des Apostolischen Stuhls mit sich gebracht hat, wird man summa summarum keine substantielle, die Weltkirche oder die Ortskirchen betreffende Änderung im Weiherecht feststellen dürfen, solange es dabei bleibt, dass die zuletzt in der Instruktion Universae Ecclesiae vorgenommene Erweiterung lediglich als ein liturgisch rechtliches Entgegenkommen an die traditionalistischen Gemeinschaften zu betrachten ist, die in Einheit mit der römischen Kirche stehen oder diese erstreben. Diese Entwicklung mag man insgesamt begrüßen oder ihr zurückhaltend gegenüberstehen. Aus kanonistischer Perspektive erscheint es allerdings wünschenswert, wenn eine Gesetzgebung für die Weltkirche, die der Einheit in der Vielfalt dient, es möglichst auch an Eindeutigkeit im universalen ritusgebundenen Recht nicht mangeln lässt. Daher bleibt der die Rechtsgeschichte von Kirche und Welt im Abendland durchziehende Rechtsgrundsatz stets eine wichtige Anspruchsnorm an jeden Gesetzgeber: „In omnibus quidem, maximum tamen in jure, aequitas spectanda est.“77

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Vgl. Leopold Volkmar (Hrsg.), Paroemia et regulae juris Romanorum, Germanorum, Franco-Gallorum, Britannorum, Berlin 1854, S. 18; Ferdinand Elsener, Gesetz, Billigkeit und Gnade im kanonischen Recht (Districtio legum, Aequitas canonica, Misericordia). Eine vorläufige Skizze, in: Summum ius summa iniuria (Tübinger Rechtswissenschaftliche Abhandlungen 9), Tübingen 1963, S. 168 – 190, hier S. 186. 77 Ebd., S. 18.

Friedhof – Recht und Ordnung Kanonistische Erwägungen zu aktuellen Fragen des Friedhofsrechts Von Elisabeth Kandler-Mayr In der Arbeit des Ordinariats ergab sich in den letzten Jahren eine große Zahl von Fragen zu Friedhofsordnungen und ihren Änderungen, zu Erweiterungsmöglichkeiten bei Friedhöfen, aber auch Uneinigkeiten bei Kostenfragen und der Gestaltung von Grabmälern. Der Wunsch nach Gestaltungsfreiheit ging z. B. so weit, dass ein Steinmetz ohne vorherige Absprache mit dem zuständigen Pfarrkirchenrat als Friedhofsverwalter ein Grabmal gestaltete, das den Vorgaben der örtlichen Friedhofsordnung in keiner Weise entsprach. Die auffallende Form mit runder Umfassung, verschiedenen Materialien und Gestaltung ohne christliche Symbole wurde mit einer „Eingebung“ des Verstorbenen begründet. Dessen Wunsch aus dem Jenseits sei Auftrag und Begründung genug; die Kirche sollte in ihrer Friedhofsordnung doch großzügiger werden. In der Pfarre führte dies zu Auseinandersetzungen mit den übrigen Friedhofsnutzern, die sich selbst an die örtliche Friedhofsordnung gebunden wussten. Dieses Problem konnte in verschiedenen Besprechungen einvernehmlich gelöst werden: Die Gestaltung des Grabes wurde der Friedhofsordnung angepasst, ohne dass es zu Zwangsmaßnahmen kommen musste; der Friede auf dem Friedhof war wieder hergestellt. Neben den verschiedenen konkreten Einzelfragen stellt sich die gesellschaftliche Änderung in der Haltung zum Umgang mit Begräbnis und Friedhof als das Thema dar, das durch die Kirche grundsätzlich überlegt werden muss. Tabubrüche lösen bei einzelnen Themen oft eine Flutwelle von neuen Veröffentlichungen aus, wie dies vor 25 Jahren Elisabeth Wunderli feststellte, damals bezogen auf Sterbeliturgie.1 Für wenige Themen gilt das so auffällig und unausweichlich wie für Fragen rund um den Umgang mit dem Tod und der Form der Bestattung. In den letzten etwa zehn Jahren gab es zum Thema Tod und Begräbnis Umfragen, Gesetzesänderungen, Veröffentlichungen, Symposien, ja sogar neue Berufe entwickelten sich: Der Begriff Riten- bzw. Ritualdesigner wäre noch vor wenigen Jahren eine undenkbare Berufsbezeichnung gewesen. Diese Entwicklung ist wohl irreversibel, wie viele Tabu- und Dammbrüche.

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Elisabeth Wunderli, Grenzerfahrung Sterben, in: Orientierung 50 (1986), S. 59 f.

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Was ist es, das die Beschäftigung mit der Verabschiedung anlässlich des Todes so besonders macht, und so unterschiedliche Zugänge aufbrechen lässt? Untersuchungen zeigen, dass der Verlust der kirchlichen Bindung auch ein Geringerwerden des Verständnisses für kirchliche Riten bedeutet. Mit dem Zurücktreten des christlichen Glaubens ging auch das Wissen um das Leben nach dem Tod verloren, das seinen Ausdruck in der Begräbnisliturgie und in der Gestaltung der letzten Ruhestätten fand. Viele Bräuche verloren in den letzten Jahren ihre Bedeutung, wenn z. B. Dorfgemeinschaften nicht mehr groß genug sind, sie durchzuführen. Die geringere Familiengröße oder der Wunsch, niemandem zur Last zu fallen, was als Schande empfunden würde2, spielen für die Regelungen zu Tod und Begräbnis eine Rolle. Grabpflege kann als lästige Pflicht, nicht als lieb gewonnener Besuch im Gedenken an den Toten verstanden werden, und all diese Überlegungen unterstützen die Vorstellungen, es wäre wünschenswert, im Tod sich aufzulösen, keine bestimmte Stelle einzunehmen, niemanden zur Grabpflege zu nötigen. Dies ist ein Teil der Motivation für neue Formen der Beerdigung wie die anonyme Bestattung, die Verstreuung der Asche oder die Bestattung der Asche im Meer. Daneben bleibt aber auch der Wunsch nach beständiger Präsenz, wie sich dies in Urnenaufbewahrung zuhause oder in Erinnerungskapseln3 und noch stärker in den Erinnerungsdiamanten ausdrückt, die technisch bereits hergestellt werden können und werbewirksam beworben werden, obwohl sie z. B. in Österreich noch nicht erlaubt sind4. Im vergangenen Jahrhundert gab es wohl noch eine weitgehende Übereinstimmung in den gesetzlichen Regelungen der Begräbnisfragen. Für die letzten Jahre ist jedoch festzustellen, dass sich gravierende Änderungen ergaben, die echte Verschiebungen im Verständnis des Friedhofs und der Sinnhaftigkeit von Grabstellen und Erinnerungsstätten darstellen. Dem christlichen Gedanken an die Auferstehung entspricht dies nicht unbedingt, da der Wunsch nach alternativer Bestattung oft auf sehr individuelle Begründungen Bezug nimmt, die nicht aus dem christlichen Glauben stammen. Symposien mit kirchlicher Beteiligung trugen der rasanten Entwicklung in den vergangenen Jahren bereits Rechnung.5 Vor allem in der Pastoral und 2 Thomas Klie, Der Tod und seine Kulissen. Sepulkralkultur im Sog der Modernisierung, in: Heiliger Dienst 65 (2011), S. 9 – 18, hier S. 16 f. 3 Vgl. die Werbeschaltung für Erinnerungskreuze mit Asche- oder Reliquien-Reservoir in: pia, Die Zeitschrift der Österreichischen Bestatter, 1/2011, S. 2. Die rechtliche Ermöglichung der Teilentnahme von Asche wird in Österreich allerdings noch uneinheitlich beantwortet. Zu bedenken ist z. B. die Regelung in Salzburg, die Asche eines Verstorbenen in ein Behältnis, eine Urne, aufzunehmen; eine Mehrzahl von Aufnahmegefäßen ist offenbar noch nicht vorgesehen, während die Ausnahme der Naturbestattung bereits ausdrücklich erlaubt wird. Vgl. § 21 und § 21 a Salzburger Leichen- und Bestattungsgesetz 1986, LGBl. Nr. 84/1986, in der geltenden Fassung. 4 Vgl. die Fachinformation für Bestattungsunternehmen von Algordanza, Nr. 1/2010, sowie www.Algordanza.org. 5 Zu nennen ist hier vor allem das Symposion der Liturgischen Kommission für Österreich am 11./12. Oktober 2010 im Bildungshaus St. Virgil Salzburg, Christliche Begräbniskultur. Trauernde trösten – Tote begraben, veröffentlicht in: Heiliger Dienst 65 (2011) Heft 1.

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Trauerbegleitung besteht die Notwendigkeit, mit diesen neuen Formen entsprechend umzugehen. Der kirchliche Gesetzgeber muss sich gesellschaftlichen Änderungen stellen und für eine angemessene Fassung von Normen sorgen; zudem müssen auch die liturgischen Bücher entsprechend überarbeitet werden. I. Friedhof und Bestattung 1. Gesetzliche Grundlagen In Österreich ist das Bestattungswesen Landessache.6 Für die Erzdiözese Salzburg bedeutet dies, dass für das Bundesland Salzburg das Salzburger Leichen- und Bestattungsgesetz7 zu beachten ist, für den Tiroler Anteil der Erzdiözese Salzburg das Tiroler Landesgesetz aus dem Jahre 19528. Diese sehen vor, dass unter anderem jede gesetzlich anerkannte Kirche und Religionsgesellschaft Bestattungsanlagen errichten und erhalten kann.9 Soweit die Errichtung und Erhaltung von Friedhöfen auf diese Weise nicht gesichert ist, hat die Gemeinde dafür zu sorgen. Die Stadt Salzburg selbst betreibt fünf Friedhöfe. Der bedeutendste in seiner Eigenart ist mit Sicherheit der Kommunalfriedhof, der mit seiner 132-jährigen Geschichte deshalb hervortritt, weil er städtebaulich bewusst als Ort der Durchgrünung und der Naherholung geplant war und sich an der Theorie des „Erbaulichen Friedhofs“ orientierte, im Gegensatz zum mittelalterlichen Gottesacker, der mit der dazugehörigen Kirche eine religiöse Einheit bildete. Damit bot man nicht nur einen Ort des Gedenkens, sondern einen Erholungsraum für Lebende, zu sehen in der Gestaltung, dass z. B. „Laubbäume durch ihr verändertes Erscheinungsbild im Wechsel der Jahreszeiten Abwechslung bieten und den düsteren Charakter des Friedhofs vermeiden sollten“.10 Die römisch-katholische Kirche betreibt in Salzburg einige Friedhöfe, die jüdische Religionsgemeinschaft hat ebenfalls einen eigenen Friedhof, Muslime haben dagegen seit einigen Jahren einen eigenen Bereich im Kommunalfriedhof von Salzburg.

6 Bundes-Verfassungsgesetz vom 1. Oktober 1920, wiederverlautbart durch VO BGBl. Nr. 1/1930, in der geltenden Fassung, Art. 15. 7 Salzburger Leichen- und Bestattungsgesetz 1986, LGBl. Nr. 84/1986, in der geltenden Fassung. 8 Tiroler Landesgesetz vom 8. 10. 1952 über die Regelung des Gemeindesanitätsdienstes, des Leichen- und Bestattungswesens und des Rettungswesens, LGBl Nr. 33/1952 in der geltenden Fassung. 9 Vgl. dazu Angelika Grobner, Der Rechtsstatus der Friedhöfe in Österreich, in: ÖAKR 37 (1987 – 88), S. 265 – 289. 10 Info der Stadt Salzburg, [email protected]; www.stadt-salzburg.at/ friedhoefe (Stand: Juli 2011).

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2. Bestattungsarten Auffallend ist das große Spektrum an Bestattungsarten, die durch die Gesetzesänderungen der letzten Jahre möglich wurden und an neuen gesellschaftlichen Ideen ausgerichtet sind: Neben der Erdbestattung, die in Salzburg nur mehr rund ein Drittel der Bestattungen ausmacht, können nach einer Einäscherung Urnen in Gräbern, Nischen oder Familiensäulen, halbanonym in einem Baumhain oder anonym auf einer im Kommunalfriedhof ausgewiesenen Fläche beigesetzt werden. Die Beisetzung von Urnen außerhalb von Friedhöfen durfte schon früher auf Ansuchen erfolgen, allerdings nur mit Genehmigung der Gemeinde bzw. des Amtes für öffentliche Ordnung.11 Eine Erlaubnis für die Beisetzung außerhalb eines Friedhofs wurde und wird nur gegeben, wenn die beabsichtigte Beisetzungs- bzw. Verwahrungsart nicht gegen den öffentlichen Anstand verstößt. In dem erforderlichen Antrag ist auch auszuführen, wie jener Teil der Liegenschaft, auf dem die Urne verwahrt bzw. beigesetzt werden soll, genutzt ist, z. B. als Wohnraum.12 3. Betreiber Die weitestreichende und grundlegende Änderung im Verständnis von Friedhöfen und Ruhestätten ist in der seit 2009 bestehenden Möglichkeit zu sehen, dass nun auch einzelne Personen und Vereine einen Friedhof errichten und erhalten können.13 Grundlage dafür ist, dass das Land Salzburg den neuen Ideen zu Bestattungsarten in moderater Form Rechnung tragen wollte. Den neuen Formen der Bestattung können neue Betreiber besser entsprechen als z. B. kirchliche Friedhöfe. Vorausgesetzt ist eine gewisse Garantie der Dauerhaftigkeit, um der Bedeutung des Themas, der Würde der Betroffenen, und der doch gegebenen Brisanz des gesamten Themas gerecht zu werden. Viele Ankündigungen in Medien beziehen sich derzeit jedoch noch auf nicht bewilligte Anlagen, die sich erst im Projektstadium befinden.14 4. Kirchliche Begründung Die Ermöglichung von konfessionellen Friedhöfen durch das Landesrecht entspricht dem Wunsch des kirchlichen Gesetzgebers, dass alle Christgläubigen an geweihten Stätten beerdigt werden sollen. Unter dem Titel I., Heilige Orte, in Buch IV, Heiligungsdienst der Kirche, finden sich in den cc. 1240 bis 1243 CIC die allgemei11 Dazu § 21 (3) Salzburger Leichen- und Bestattungsgesetz (Anm. 3). Für die Bewilligung wird derzeit nach dem Landes- und Gemeindeverwaltungsabgabegesetz 1969 eine Verwaltungsabgabe von E 331,– vorgeschrieben. 12 Vgl. Information des Amtes für öffentliche Ordnung, [email protected] (Stand: Juli 2011). 13 Vgl. § 24 Salzburger Leichen- und Bestattungsgesetz (Anm. 3). 14 Konkret errichtet ist in Salzburg die paxnatura Naturbestattungs GmbH, die z. B. eine Freifläche am Untersberg zur Verfügung stellt, siehe auch www.paxnatura.at.

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nen Normen für Friedhöfe. Dementsprechend soll man nach Möglichkeit eigene kirchliche Friedhöfe anlegen oder zumindest in anderen Friedhöfen bestimmte Teile für sie vorsehen und gemäß den liturgischen Vorschriften benedizieren. Pfarren können gemäß c. 1241 § 1 CIC einen Friedhof besitzen, ebenso andere juristische Personen oder auch Familien. C. 1180 CIC entspricht dem Gedanken, dass man im Sinne von Vorsorge und Selbstbestimmung selbst den Friedhof für ein Begräbnis wählen darf oder dies die Angehörigen tun können, auch wenn der Vorzug dem Friedhof der eigenen Pfarrgemeinde gelten sollte. Seitens des kirchlichen Gesetzgebers gibt es somit in den cc. 1240 bis 1243 CIC nur wenige und allgemeine Grundsätze für Friedhöfe, was die Errichtung, Benutzung und Verwaltung angeht. Nähere Regelungen, insbesondere zur Wahrung der Friedhofsordnung, besonders des Schutzes und der Pflege des heiligen Charakters des Friedhofs, sind partikularrechtlich zu treffen.15 II. Friedhofsordnungen 1. Allgemeines Die unterschiedlichen Betreiber sind von den für die Genehmigung der Errichtung, Erweiterung und Auflassung von Bestattungsanlagen bestehenden Vorschriften des zivilen Rechts gleich betroffen. In Salzburg erlässt dazu die Landesregierung nach Anhörung des Landessanitätsrates durch Verordnung die näheren sanitätspolizeilichen Bestimmungen über Fragen der Grundbeschaffenheit, der Grabtiefen, zu den notwendigen Einrichtungen ebenso wie über das bei Bestattungen zu beachtende Verhalten, die Beschaffenheit von Särgen und Urnen, andere Gegenstände und die Führung von Verzeichnissen etc., wobei auch die Erfordernisse des Umweltschutzes berücksichtigt werden.16 Für die erforderliche Genehmigung einer Bestattungsanlage ist weiters Voraussetzung, dass keine sanitätspolizeilichen Bedenken vorliegen und kein Widerspruch zum Flächenwidmungsplan einer Gemeinde besteht.17 Die Möglichkeit des Errichtens und Betreibens einer Bestattungsanlage bedeutet auch, dass vom jeweiligen Betreiber eine entsprechende Friedhofsordnung zu erstellen ist, die bestimmte Inhalte zu regeln hat.18 Das Landesrecht lässt Raum für unterschiedliche Regelungen. Ein einheitliches System der Friedhofsordnungen eines Bundeslandes oder aber einer Diözese ist nicht gefordert; vielmehr ist die Abstim15

Vgl. dazu Hans Paarhammer, Aktuelle Fragen der kirchlichen Vermögensverwaltung im pfarrlichen Bereich unter besonderer Berücksichtigung der Salzburger Verhältnisse, in: ders. (Hrsg.), Vermögensverwaltung in der Kirche. Administrator bonorum – Oeconomus tamquam paterfamilias, gewidmet Sebastian Ritter, Thaur 21988, S. 283 – 318, hier S. 307 – 310. 16 Vgl. § 24 (3) Salzburger Leichen- und Bestattungsgesetz (Anm. 3). 17 Vgl. § 25 (1) und (2) Salzburger Leichen- und Bestattungsgesetz (Anm. 3); zuständig ist die Landesregierung bzw. die Bezirksverwaltungsbehörde. 18 Vgl. § 44 (3) Salzburger Leichen- und Bestattungsgesetz (Anm. 3).

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mung auf die konkreten Umstände ermöglicht. Eine kirchliche Friedhofsordnung, die den Vorgaben des jeweiligen Landesgesetzes Rechnung trägt, bindet alle Nutzer des jeweiligen Friedhofs. 2. Vorgaben durch Zivilrecht Jede Friedhofsordnung im Bundesland Salzburg hat im Sinne einer allgemeinen Ordnung zumindest Bestimmungen über die Art und Beschaffenheit der Grabstellen (Erdgräber, Grüfte, Aschengrabstellen und dergleichen) sowie die Reihenfolge der Wiederbelegung der Grabstellen zu enthalten.19 Kirchliche Friedhöfe müssen zudem in ihre Ordnung die Bestimmung aufnehmen, dass die Beerdigung von Leichen von Personen, die dieser Kirche nicht angehören, zugelassen ist, wenn es sich um die Beisetzung in einem Familiengrab handelt oder wenn sich in der Ortsgemeinde, in der der Todesfall eintrat oder die Leiche gefunden wurde, ein für Angehörige der Kirche oder Religionsgesellschaft des Verstorbenen bestimmter Friedhof oder eine Bestattungsanlage der Gemeinde nicht befindet.20 Möglich sind Anordnungen über die würdige, gärtnerische und künstlerische Gestaltung des Friedhofes, sowie über die zulässigen Verhaltensweisen im Friedhof, soweit dies nicht ohnehin bereits durch das Landesgesetz geregelt ist.21 3. Kirchliche Regelungen a) Als Grundnorm für jeden kirchlichen Friedhof unserer Erzdiözese wurde 1989 die allgemeine Friedhofsordnung der Erzdiözese Salzburg22 erlassen, die zumindest subsidiär auch dort gilt, wo es lokale Friedhofsordnungen gibt. Sie ist immer dann verbindlich anzuwenden, wenn sich Widersprüche zwischen den beiden Ordnungen ergäben. Eine allgemeine Gebührenordnung ist in dieser Ordnung jedoch nicht enthalten, diese Regelung wird generell an die jeweiligen Friedhofsverwaltungen übertragen.23 Beinahe alle Friedhofsordnungen entsprechen der pastoralen Zielsetzung dadurch, dass sie eine theologische Begründung für die Sinnhaftigkeit des Bestat-

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Salzburger Leichen- und Bestattungsgesetz (Anm. 3), § 44 (1) 1. Satz. Auf die Notwendigkeit von Bewilligungen im Sinne des Gewerberechts oder des Bauwesens sei hier nur hingewiesen. 20 Salzburger Leichen- und Bestattungsgesetz (Anm. 3), § 44 (3). Sinngemäß gilt dies auch bei einem von einem Verein verwalteten Friedhof für Personen, die dem Verein nicht als Mitglieder angehörten. Vgl. auch Bruno Primetshofer, Die Beerdigung von Andersgläubigen auf konfessionellen Friedhöfen, in: Josef Kremsmair/Helmuth Pree (Hrsg.), Ars boni et aequi. Gesammelte Schriften von Bruno Primetshofer (KStuT 44), Berlin 1997, S. 957 – 960. 21 Salzburger Leichen- und Bestattungsgesetz (Anm. 3), § 44 (1) 2. Satz, und § 45. 22 Friedhofsordnung für die kirchlichen Friedhöfe in der Erzdiözese Salzburg vom 12. 12. 1989, in Kraft seit 1. 1. 1990, VBl. 1989, S. 173 – 179. 23 Vgl. ebd., Punkt VI.

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tungswesens im Zusammenhang mit dem Glauben an das ewige Leben und den Gedächtnischarakter der Friedhöfe erwähnen.24 In der Erzdiözese Salzburg finden sich zusätzlich einige lokale Ordnungen, die durchaus individuell gefasst sind – nicht nur durch die verschiedenen Entstehungszeiten bedingt, sondern auf die lokalen Besonderheiten bezogen. Bergfriedhöfe wie in Embach, die ihr besonderes Erscheinungsbild erhalten wollen, oder die ungewöhnlichen Formen der Grabeinfassungen im Friedhof von Lessach im Lungau sind genauso zulässig wie die Festlegung auf bestimmte Kreuztypen. Alle diese Vorschriften erhalten ihre Berechtigung aufgrund der erwähnten Grundnorm des § 44 (1) und (3) des Salzburger Leichen- und Bestattungsgesetzes, die unterschiedliche Lösungen erlaubt. Eine inhaltliche Überprüfung der Friedhofsordnungen kirchlicher Friedhöfe findet jeweils durch das Ordinariat statt. b) Bei der Festlegung auf die Art der Bestattung ist festzustellen, dass in den letzten Jahren auch auf kirchlichen Friedhöfen ein Wandel stattfindet. Üblich war lange ausschließlich die Erdbestattung. Durch die veränderte Sichtweise der Feuerbestattung einerseits und Platzprobleme andererseits ergeben sich jedoch zunehmend mehr Wünsche zur Urnenbestattung auf kirchlichen Friedhöfen. Pfarren und Bauämtern stellen sich damit ganz neue Fragen und ein neuer Planungsbereich, in dem verschiedenste Ideen überlegt werden können, sei das die Gestaltung von Urnenwänden oder die Errichtung von Kolumbarien. Diese Erweiterungen mit Blick auf die Urnenbestattung müssen dann nicht nur mit der zuständigen zivilen Behörde geregelt werden, sondern bedürfen als Maßnahme der außerordentlichen Verwaltung einer Pfarre auch der Erlaubnis des Ordinariats.25 c) Zur Gestaltung der Grabmäler muss in jeder Friedhofsordnung eine klare Vorgabe enthalten sein für die Vorlage von Plänen, für die Genehmigung durch den Friedhofsverwalter, für den nach Genehmigung zulässigen Beginn von Arbeiten, aber ebenso für die Möglichkeit der Entfernung eines Grabmals bei einem Verstoß gegen die Friedhofsordnung.26 Hilfreich ist hier der Vergleich mit Friedhofsordnungen z. B. der Stadt Salzburg, die für ihre Friedhöfe den einzuhaltenden Weg noch detaillierter festlegt: die Errichtung eines Grabdenkmals setzt ein schriftliches Ansuchen voraus. Der Benutzungsberechtigte und ein befugter Gewerbetreibender müssen es unterfertigen und eine planliche Darstellung der geplanten Ausführung vorlegen. Maßgebend für die Planung sind die Friedhofsordnung und die Sondervorschriften für die betreffende Gräbergruppe. Vor Einlangen der Genehmigung ist der Beginn der genehmigungspflichtigen Arbeiten verboten. Ohne Genehmigung aufgestellte

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Vgl. Reiner Kaczynski, Art. Begräbnis, in: LThK3 II (1994), Sp. 146 – 148. Zur Beurteilung als Akt der außerordentlichen Verwaltung im Sinne des c. 1281 § 2 CIC vgl. VBl. 1991, S. 78; die Zuständigkeit für die Genehmigung liegt in der Erzdiözese Salzburg beim eb. Ordinariat, vgl. VBl. 1991, S.79. 26 Subsidiär in jedem Fall geltend Punkt IV., Grabstätten, der Friedhofsordnung der Erzdiözese Salzburg (Anm. 22). 25

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Grabmale werden auf Kosten des Verpflichteten von der Friedhofsverwaltung entfernt.27 d) Hinsichtlich der Gebührenordnung kirchlicher Friedhöfe ist ebenfalls eine Orientierung an der Ordnung von Gemeinden oder der Stadt Salzburg denkbar.28 Dies empfiehlt sich schon deshalb, da Beschwerden sich oft auf Unzufriedenheit in Kostenfragen beziehen und dafür Vergleiche mit anderen Friedhöfen angestellt werden. Wird ein kirchlicher Friedhof an die Gemeinde verpachtet, dann ist die Friedhofsund Friedhofsgebührenordnung von der Gemeinde zu erlassen; alle Grabnutzungsberechtigten sind dann dieser Ordnung unterworfen.29 e) Auf einem kirchlichen Friedhof werden nicht mehr ausschließlich Katholiken beerdigt; eine Öffnung für Angehörige anderer Konfessionen oder Konfessionslose ergibt sich durch die Verweisung auf das geltende Landesgesetz, wie dies die Friedhofsordnung der Erzdiözese Salzburg vorsieht30 ; dadurch sind Probleme mit der Bestattung von Nicht-Katholiken im Grunde vermieden. Bei Überarbeitung von lokalen Friedhofsordnungen sollte allerdings dieser Standard, der noch nicht in allen Ordnungen gegeben ist, erreicht werden, und der nötige Verweis auf ein Beerdigungsrecht für Nicht-Katholiken gleich in einen entsprechenden Passus aufgenommen werden. f) Grundsätzliche Regelungen zur Haftung31 sollten in jeder Friedhofsordnung enthalten sein, da Schadensfälle nicht auszuschließen sind. Ein genereller Haftungsausschluss seitens der kirchlichen Verwaltung kommt nicht in Frage, auch wenn die Sicherungspflicht für die Grabstelle und das Grabdenkmal den Nutzungsberechtigten trifft. Die Erstellung einer eigenen Friedhofsordnung ermöglicht es dem Verwalter, in der Regel also dem Pfarrer mit dem Pfarrkirchenrat oder dessen Verwaltungsausschuss, innerhalb des vom allgemeinen Recht gesteckten Rahmens eine gewisse Eigenständigkeit zu wahren, auch wenn die bereits genannten Punkte enthalten sein müssen, sei es bezogen auf das Landesrecht oder auch auf kirchliches Recht. Bei der Anpassung älterer Ordnungen an das geltende Recht wird man z. B. das Verbot der Mitnahme von Tieren auf den Friedhof abändern und nicht nur eine Ausnahme für Blindenhunde machen, sondern generell für Begleithunde. Bei jeder Überarbeitung von Friedhofsordnungen ist weiters darauf zu achten, dass individuelle Regelungen von Pfarren nur mit unterschiedlichen örtlichen Erfordernissen oder Gegebenheiten

27 Vgl. die Information der Friedhofsverwaltung: stadt-salzburg.at/internet/leben_in_ salzburg/gesellschaft_soziales/friedhoefe (Stand: Juli 2011). 28 Friedhofsgebührenordnung 2011 gemäß § 44 des Salzburger Leichen- und Bestattungsgesetzes 1986, Zl. 07/04/59690/2010/002. 29 Punkt VIII., 1 Friedhofsordnung der Erzdiözese Salzburg (Anm. 22). 30 Punkt I., 1 u. 3 Friedhofsordnung der Erzdiözese Salzburg (Anm. 22). 31 Fehlt diese Regelung, so gilt jedenfalls Punkt VII., Schäden an Grabmälern – durch Grabmäler der Friedhofsordnung der Erzdiözese Salzburg (Anm. 22).

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oder einer speziellen Tradition eines Ortes begründet sind, um Probleme zu minimieren. Wenn sich in der Praxis gelegentlich Probleme mit Friedhofsordnungen zeigen, dann beziehen sich diese fast ausschließlich auf die Frage der Gestaltung des Grabdenkmals. 4. Gestaltung von Grabmälern a) Gestaltungsspielraum Ein wesentlicher Punkt in der Gestaltung eines Friedhofes ist neben der Entscheidung für die Art der Bestattung die Frage der Gestaltung der Grabstellen.32 In früheren Jahrhunderten war der Rahmen der Gestaltungsfreiheit noch geringer, bedingt durch die Vorstellungen der Gesellschaft, aus der man stammte. Verschiedene Vorlieben zeigen sich jedoch in jeder Periode. Durch die veränderten Wertvorstellungen löst man sich auch in der Gestaltung der letzten Ruhestätte von überkommenen Mustern; man fügt sich nicht mehr einfach dem, was als Zwang und Regulierung empfunden wird. Kirchliche Friedhofsordnungen mit ihren klar religiös ausgerichteten Gestaltungsvorstellungen, die dem Auftrag des c. 1243 CIC entsprechen, geraten so gelegentlich in Kritik, wie die Praxis zeigt, und das nicht nur aus der Sicht von nicht mehr kirchlich gebundenen Angehörigen. Die meisten Friedhofsordnungen geben ohnehin nur einen recht allgemein gefassten Rahmen für die Gestaltung von Grabmälern, für das, was erlaubt ist bzw. erwartet wird; meist werden möglichst verschiedene Formen sogar gewünscht, um Spielraum für die individuelle Gestaltung in künstlerischer, handwerklicher und gärtnerischer Hinsicht zu ermöglichen. Andere Teile jeder Friedhofsordnung sind allerdings nicht disponibel. Maße und Abstände bei den Grabdenkmälern und Gräbern sind einzuhalten, da es um praktische Fragen wie die Sicherung von Durchgängen, Pflegemöglichkeiten und die Wege für Besucher etc. geht. Nur ganz vereinzelt zeichnen sich kirchliche Friedhöfe durch ein einheitliches Bild aus, das bewusst so erhalten werden soll33 ; die meisten erlauben individuelle Freiheiten und Unterschiede, da eine Uniformität gerade nicht angestrebt wird. Im Blick auf die Möglichkeit, Angehörige einer anderen Konfession oder Konfessionslose auf dem kirchlichen Friedhof zur letzten Ruhe zu betten, wird auch die an sich übliche Bevorzugung von christlicher Symbolik nicht aufgedrängt; derartige Bestimmungen sind meist nur als „Soll“-Forderung formuliert und nehmen somit bereits die 32 Burkhard Kämper, Grabstein als Hobby-Anzeiger: Wie kirchlich darf ein kirchlicher Friedhof sein, in: KuR (Neuwied) 5 (1999) Heft 2, Sonderheft anl. des 70. Geb. v. Heiner Marr¦, S. 127 – 129 (= 540, S. 9 – 11). 33 Dies gilt besonders für die Pfarre Lessach im Lungau, der kulturgeschichtlich und volkskundlich im Hinblick auf seine sogenannten Truhengräber besonders wertvoll ist. Jedes Grab ist mit einer Holzeinfassung zu umrahmen, die „Sarche“ genannt wird; als Grabzeichen darf nur ein schmiede- oder gusseisernes Kreuz aufgestellt werden. Vgl. Friedhofsordnung der Pfarre Lessach 2011, Punkt V. c) und d).

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Möglichkeit einer anderen Lösung an. Hier wird jede Friedhofsverwaltung im Einzelfall abwägen und eine gut zu verantwortende Entscheidung treffen. b) Persönliche Ausdrucksweise und Persönlichkeitsrecht? Dennoch gibt es gerade in diesen Fragen zunehmend Anfragen und Probleme. Viele Menschen fühlen sich nicht mehr einer Kirche zugehörig. Manche scheuen, unterstützt durch die Mentalität der Rechtsschutzversicherung, die bei einem Streit das finanzielle Risiko anscheinend gering hält, vielleicht auch Auseinandersetzungen nicht mehr, um individuell durchzusetzen, was man als sein gutes Recht versteht. So kommt zunehmend mehr als Argument von Angehörigen bei der Gestaltung eines Grabdenkmals ein Verweis darauf, man hätte ein Recht auf eine nicht der Friedhofsordnung entsprechende Gestaltung des Grabs, da man hier ein Persönlichkeitsrecht ausdrücke und dieses durchsetzen wolle. Jede Reglementierung wird als Last und Eingriff gesehen34, und es wird nicht berücksichtigt, dass eine einheitliche Gestaltung des Friedhofs dem Betreiber ein Anliegen sein kann. Dies führt zu Belastungen in der Beziehung zwischen den Friedhofsverwaltern und den Angehörigen des Verstorbenen; der Ort, an dem man Trost, vielleicht sogar Frieden finden könnte, wird zum Stein des Anstoßes, wenn die Gestaltung des Grabes nicht einvernehmlich geregelt werden kann. Der Bezug auf das unbestimmte Persönlichkeitsrecht kann für die Frage der Genehmigung eines Grabdenkmals nur bedingt gelten. Nach österreichischem Recht dienen Persönlichkeitsrechte dem unmittelbaren Schutz der menschlichen Person und sichern ihr Achtung und Unversehrtheit35, wie § 16 ABGB36 aussagt, dass jeder Mensch angeborene, durch die Vernunft einleuchtende Rechte hat und daher als Person zu betrachten ist. Diese Aussage wird nicht näher konkretisiert, sondern muss aus den übrigen Bestimmungen des ABGB und aus anderen Gesetzen abgeleitet werden. Eine Ergänzung bietet § 17 ABGB mit dem Passus, dass alles, was den natürlich angeborenen Rechten angemessen ist, so lange als bestehend angenommen wird, als die gesetzmäßige Beschränkung dieser Rechte nicht bewiesen wird. Die Generalklausel des § 16 ABGB schützt die Menschenwürde; Eingriffe dürfen nur im erlaubten Rahmen erfolgen, ermittelt in einer Abwägung von Gütern und Interessen. Eingeräumt werden subjektive Rechte; geschützt ist eine Vielzahl von Rechten, insbesondere das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit, Freiheit, Namen, das eigene Bild, Schutz vertraulicher Aufzeichnungen, das Recht auf Ehre, aber auch Glaubens- und Gewissensfreiheit, Privatleben, Familienleben und Meinungsfreiheit etc. Geschützt ist man vor Erniedrigung, Ungleichbehandlung und Willkür unter Achtung des eigenen Wertes als menschliches Wesen, wobei Einschränkungen die34

Vgl. Klie, Der Tod und seine Kulissen (Anm. 2), S. 15. Vgl. dazu Helmut Koziol/Rudolf Welser, Bürgerliches Recht, Bd. 1: Andreas Kletecka, Allgemeiner Teil, Sachenrecht, Familienrecht, Wien 132006, S. 83 – 92. 36 Allgemeines Bürgerliches Gesetzbuch, JGS 1811/946, in der geltenden Fassung. 35

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ses Rechtsschutzes dann denkbar sind, wenn sie sachlich gerechtfertigt sind, nicht unverhältnismäßig sind und nicht den Wesensgehalt des Grundrechts berühren. Die Interessenabwägung kann immer nur im Einzelfall erfolgen, da die konkreten Umstände betrachtet werden müssen. Obwohl dies eine Zentralnorm unserer Rechtsordnung darstellt, ist die Rechtsprechung zurückhaltend in der Feststellung von Verletzungen – nicht jede Beeinträchtigung einer Person ist rechtswidrig, wenn man das Verhältnis der Freiheit des einen und des Schutzes des anderen bedenkt. Normale, selbstverständliche Beeinträchtigungen müssen in Kauf genommen werden; entscheidend für die Beschreibung des Schutzbereiches ist so die Interessenabwägung. Grundsätzlich gelten Rechte dieser Art für Lebende. Ein postmortales Persönlichkeitsrecht gibt es in gewissem Umfang über den Tod hinaus, z. B. gegen ehrenrührige Behauptungen; ansonsten enden Rechte dieser Art mit dem Tod.37 Im Zusammenhang mit der Gestaltungsmöglichkeit eines Angehörigen für ein Grabmal, das der Friedhofsordnung nicht entspricht, scheint das Heranziehen eines Persönlichkeitsrechts als Begründung kaum denkbar. Wenn ein Bezug auf diese Rechte der Abwehr ungerechtfertigter Eingriffe dienen soll, wobei ein solcher Eingriff zudem unverhältnismäßig sein müsste, dann erfüllt die Bindung an eine Friedhofsordnung, an die alle anderen Nutzer ebenfalls gebunden sind, dieses Kriterium wohl nicht. c) Vorgangsweise Lässt sich ein Gestaltungsvorschlag nach Ansicht der Friedhofsverwaltung keinesfalls mit der Friedhofsordnung vereinbaren, dann muss dies so früh wie möglich klar gesagt werden. Klare Vorgaben und das Einhalten der Friedhofsordnung durch den Verwalter selbst, z. B. in der Tätigkeit des Pfarrkirchenrats, den Entwurf eines Grabdenkmales vor der Aufstellung zu begutachten und zu genehmigen, sind unumgänglich, um Probleme gering zu halten. Muss ein Vorschlag abgelehnt werden, dann kann ein verbesserter Entwurf vorgelegt werden. Darüber entscheidet zunächst der Pfarrkirchenrat. Falls dessen Entscheidung nicht akzeptiert wird, entscheidet die Finanzkammer der Erzdiözese Salzburg endgültig über die Zulassung des Vorschlags.38 Nicht übersehen darf man dabei, dass ein Abgehen von den eigenen allgemeinen Vorgaben nicht ein Einzelfallproblem bleibt, sondern gerade in kleineren Gemeinden zu Unfrieden in der Gemeinde führt. Eine abweichende Einzelfallentscheidung muss für andere verständlich und nachvollziehbar sein, da sonst schnell der Vorwurf der Sonderbehandlung auftaucht. Mit diesen Fragen klug umzugehen, ist ein ganz entscheidender Teil der Pastoral der Trauerbegleitung.

37 Vgl. dazu Koziol/Welser, Bürgerliches Recht, Bd. 1: Kletecka, Allgemeiner Teil (Anm. 35), S. 51 – 53. 38 Punkt VIII. 3 der Friedhofsordnung der Erzdiözese Salzburg (Anm. 22).

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III. Regelungen zur kirchlichen Begräbnisfeier 1. Grundlagen In den letzten Jahrzehnten hat sich für Gläubige wohl viel in der Einstellung zur Feier eines Begräbnisses und der Beerdigung geändert. Gleich geblieben ist noch die Grundlage im kirchlichen Recht, gefasst als Aussage der cc. 1176 ff. CIC, dass man für die Verstorbenen geistlichen Beistand erfleht, ihren Leib ehrt und den Lebenden den Trost der Hoffnung gibt. Auf das kirchliche Begräbnis besteht ein Anspruch des Getauften, sofern dieser nicht ausdrücklich von Rechts wegen aberkannt ist; und dem steht die Pflicht des Pfarrers gegenüber, ein Begräbnis durchzuführen. Auch für Katechumenen kann das kirchliche Begräbnis gefeiert werden; zudem, wenn nicht ein Verbot entgegensteht, kann sogar Nichtkatholiken im Rahmen der Vorgaben der cc. 1170 bzw. 1183 – 1185 CIC ein solches gewährt werden. Für die Verabschiedung von Katholiken, die zur Zeit ihres Todes aus der Kirche ausgetreten waren, ist auf Sonderregelungen zu verweisen.39 2. Orte Hinsichtlich des Ortes bietet das kanonische Recht nur eine ganz allgemeine Erklärung, dass die Beisetzung in der eigenen Pfarrei stattfinde, oder nach dem Wunsch des Verstorbenen, jedoch in der Regel nicht in einer Kirche (c. 1242 CIC). Im Partikularrecht wird der Möglichkeit der Beisetzung von Urnen außerhalb eines Friedhofs bereits Rechnung getragen. Bitten die Hinterbliebenen anlässlich dieser Beisetzung um eine liturgische Feier, dann können die Texte für die Feier der Urnenbeisetzung verwendet werden.40

39 Ein Kriterium für die Überprüfung, ob ein kirchliches Begräbnis gewährt werden kann, ist die Frage des öffentlichen Ärgernisses, und das kann zu örtlich unterschiedlichen Lösungen führen, abhängig davon, wie die Struktur der Gemeinde und der Bekanntheitsgrad des Verstorbenen ist. Dieser Bezug auf die örtliche Gemeinde ist insofern berechtigt, weil diese durch das Begräbnis und die Teilnahme daran einen brüderlichen Dienst tut. In Zweifelsfällen ist aus pastoralen Gründen zugunsten der Gestattung zu entscheiden, wobei der Ortsordinarius zu befragen wäre. Vgl. Heinrich Reinhardt, Das kirchliche Begräbnis, in: HbdKathKR2, S. 1016 – 1020, hier S. 1017 f. In der Erzdiözese Salzburg ist auf zwei Regelungen zu achten: VBl. 1995, S. 12 – 14, Nr. 5: Gebet mit den Angehörigen bei Beerdigung eines aus der röm.-kath. Kirche ausgetretenen Verstorbenen, gedacht als Hilfe für die Angehörigen, die in besonderer Weise dessen bedürfen. Es findet keine Begräbnismesse statt; möglich ist aber, später mit den Angehörigen eine Messe zu feiern und des Verstorbenen zu gedenken. Gebühren werden nicht eingehoben; die Eintragung der Beerdigung erfolgt als konfessionslos. Laut VBl. 2001, S. 138, Nr. 108 wurde festgelegt, dass ein röm.-kath. Gotteshaus für die Begräbnisfeier nicht zur Verfügung gestellt werden kann, wenn in Anwendung von cc. 1184 f. CIC das Begräbnis und die Begräbnismesse verweigert werden muss. 40 Erzdiözese Salzburg, VBl. 2010, S. 74.

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3. Liturgie Zu den recht knappen Beschreibungen, wer ein kirchliches Begräbnis zu erhalten hat und wer dafür zuständig ist, findet sich der Hinweis auf die liturgischen Gesetze als der Grundrahmen, zu dem lokale Gewohnheiten passen können. Lokale Zeichen der Frömmigkeit und die Überlieferung von Bräuchen wie z. B. des Aufbahrens zuhause41, bestimmte Gebete im Haus usw., sind meist nicht Teil eines kirchlich vorgegebenen Ritus; sie benötigen zudem die Abklärung nach sanitätspolizeilichen Grundsätzen. Sonderbräuche wie eigene Aufbahrungsleintücher, die nur für die Hausaufbahrung benutzt wurden und besonders kunstfertig gewebt und bestickt waren, Nachbarschaftshilfen und andere lokale Bräuche werden, sofern sie in ihrer Sinnhaftigkeit noch klar zu machen sind und gewollt werden, weiter bestehen können. Sie alle sind Ausdruck einer Laienliturgie, wie das Johannes Pock nennt.42 Eine Begräbnisfeier stellt die Verkündigung der Osterbotschaft dar. Liturgische Regeln bieten eine weitere Begleitung des Abschieds und bilden den Rahmen der feierlichen Verabschiedung. Der aktuelle Status der liturgischen Vorgaben ist derzeit jedoch unklar. Nach der Neueinführung des neuen Ritus 200943 gab es intensive Kritik, die dazu führte, dass der bisherige Ritus weiter zu verwenden ist, bis die neuerliche Überarbeitung abgeschlossen wäre. Bedenkenswerte Hinweise zur aktuellen Diskussion über den neuen Ritus bietet Martin Klöckener. Darauf soll im Rahmen dieses Artikels nur hingewiesen sein, da die abschließende Entscheidung noch nicht erfolgt ist.44 Tiefgreifende Änderungen im Verständnis von Tod und Erinnerung an Verstorbene bedürfen neuer Überlegungen, wie man als Kirche damit umgeht. Das Monopol auf die Rolle des Trösters und Begleiters besteht nicht mehr; es gibt einen richtigen Markt von Mitbewerbern, was nicht negativ gesehen werden muss, fördert es doch die kritische Überlegung des eigenen Agierens und verlangt bessere Begründungen und letztlich auch Auftritte. Die Begründung für das kirchliche Begräbnis bleibt ja nach wie vor gut: Nur aus dem Glauben heraus kann angesichts des Todes eine Hoffnung bezogen werden, sonst bleibt es bei einer Abschieds- oder Gedenkfeier. Daher bleibt bei weitreichenden Änderungen im Lebensgefühl der Menschen die Sinnhaftigkeit und Bedeutung der kirchlichen Begleitung bestehen; dies wird weiter gefragt sein. Nicht nötig ist es zudem, völlig neue Riten zu erfinden oder – neu-deutsch – als

41

Vgl. auch § 18 Salzburger Leichen- und Bestattungsgesetz (Anm. 3). Johannes Pock, Wie finde ich Trost? Sterben, Tod und Trauer als pastorale Herausforderung, in: Heiliger Dienst 65 (2011), S. 30 – 41, hier besonders S. 33. 43 Die kirchliche Begräbnisfeier: Verbindliche Neuausgabe und Pastorale Einführung, zu verwenden ab 29. November 2009, herausgegeben vom Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Bonn 2009 (Arbeitshilfen 232); VBl. 2009, S. 130, Nr. 73. 44 Martin Klöckener, Das eine Rituale und die vielen Feiern. Die Begräbnisliturgie in der Diskussion, in: Heiliger Dienst 65 (2011), S. 42 – 67, hier besonders S. 55 – 59. 42

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Designer tätig zu werden.45 Notwendig ist es allerdings, den Sinn der Riten viel besser und jedes Mal wieder zu erklären, weil man von einem allgemeinen Wissen schon lange nicht mehr ausgehen darf.46 IV. Ausblick In der Gestaltung des Begräbnisses ist für jeden Friedhofsbetreiber der Bestatter ein wesentlicher Partner. Neueste Publikationen sprechen davon, dass die Ansprüche an diese Berufsgruppe steigen; deshalb versucht man unter anderem in Bestatterakademien, für Aus- und Weiterbildung zu sorgen, und arbeitet auch an einem verbesserten Qualitätsmanagement, wobei zum Teil der Schritt zu Änderungen durch Beschwerden motiviert ist.47 Wenn Bestatter die Notwendigkeit eines verbesserten Qualitätsmanagements erkennen, dann müssen sich das auch die Mitwirkenden in der kirchlichen Begräbnisfeier immer wieder vor Augen halten. Niemand ist mehr ein Monopolbetrieb, und die Vielfalt verlangt eine bessere Präsentation, um in einem beinahe wettbewerbsartigen Zustand bei der Gestaltung von Verabschiedungen nicht nur als Nischen-Besetzer bestehen zu können. Festzustellen sind sehr gegensätzliche Entwicklungen: Vor wenigen Jahren wurde die Idee der freieren Bestattung in Friedwäldern oder gänzlich unbeschränkt in Wasser oder auf Almen stark thematisiert. Für den Wunsch, im Tod in der Wechselwirkung der Elemente aufzugehen, sind verschiedene Begründungen denkbar; nicht alle davon sind vereinbar mit dem Glauben an die Auferstehung.48 Diesem modernen Wunsch nach Aufgehen und Auflösung und dem erlaubten Vergessen ist gegenüberzustellen, wie aufwendig oft Verabschiedungen und Gräber gestaltet werden. Seitens der Bestatter wird der Grundsatz ausgegeben, der Umgang mit den Toten zeige die Reife einer Gesellschaft.49 Es gilt jedenfalls, dass diese so unterschiedlichen Ansichten heute nebeneinander Platz haben und eine Vielzahl von Lösungen erlauben, was mittlerweile schon viele unserer Friedhöfe, aber auch die Vielzahl der Modelle in der Verabschiedung der Verstorbenen zeigen. Es trifft sicher zu, dass die Entwicklung der Gesellschaft dazu geht, dass es immer weniger Angehörige gibt, die sich für Grabpflege zuständig fühlen können. Nicht zuletzt ist eine Verringerung des allgemeinen christlichen Verständnisses der Sinnhaftigkeit von Riten und Begräbnisformen festzustellen, und schließlich gibt es zuneh45

Vgl. Nicole Kaiser, Seelsorgliche Chancen und Grenzen katholischer Bestattungsriten gegenüber außerkirchlichem Ritualdesign, Diplomarbeit, Freiburg 2010, besonders S. 65 – 79. 46 Vgl. Christoph Daxelmüller, Art. Totenbräuche, in: LThK3 X (2001), Sp. 122 – 125. 47 So z. B. der Bundesinnungsmeister der Bestatter, KommR Eduard Schreiner in seinem Vorwort, in: pia (Anm. 3), 01/2011, S. 3. 48 Vgl. Horst Bürkle, Art. Totenkult, in: LThK3 X (2001), Sp. 127 – 129; Winfried Haunerland, Grundlegende Vorbehalte! Zur katholischen Diskussion über Baumbestattungen und Friedwald, in: Im Dienst von Kirche und Wissenschaft, FS für A. Hierold zur Vollendung des 65. Lebensjahres, hrsg. v. W. Rees/S. Demel/L. Müller (KStuT 53), Berlin 2007, S. 689 – 699. 49 Theo Kust, Zur Kunst der Thanatopraxie, in: pia (Anm. 3), 01/2011, S. 8.

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mend einen Ausbruch aus der Normverbundenheit, der sich auch darin äußern kann, dass man meint, „im Tod frei zu sein“50. Grundlage für die Neuregelung des Salzburger Leichen- und Bestattungsgesetzes 2009 war eine Umfrage zu Bestattungskultur und -wünschen, die einen Trend neuer Bedürfnisse gegen herkömmliche Friedhofskultur und hin zu alternativen Bestattungsformen aufzeigen sollte, und die als Ausdruck einer Neuorientierung in Teilen der Bevölkerung sowie als Interesse für andere Riten und neue Formen der (Aschen-)Beisetzung verstanden wurde. Eine Konkurrenz zur christlichen Form der Bestattung sollte dies nicht sein, sondern eine Ergänzung. Seitens der Kirche sollte man derartige Umfragen nicht übergehen, sondern bedenken, was sie aussagen – z. B. wenn gefordert wird, es sei an der Zeit, den Menschen (im Tod) neue Alternativen zu bieten, einen Umdenkungsprozess über das Sterben einzuleiten, und die Denkweise über den Tod und das Jenseits zu verändern. Diese Überlegungen kann man eindeutig als an die Kirche gerichtet empfinden und darf sie nicht übergehen. Dies gilt für die Begleitung der Sterbenden und der Hinterbliebenen, in der Trauerpastoral und in der Gestaltung der kirchlichen Begräbnisfeier, aber auch in der Ordnung unserer kirchlichen Friedhöfe, die man mit einer gut erarbeiteten Friedhofsordnung erreichen kann. Zu bedenken ist, dass auf dem Friedhof kaum Ruhe und Ordnung und Frieden herrschen werden, wenn Unfrieden aus der unterschiedlichen Behandlung von ähnlichen Fragen entsteht. Dies gilt es zu vermeiden, was besonders für die kirchlichen Friedhöfe und ihre Verwalter aus dem theologischen Ansatz ihrer Arbeit heraus ein Bestreben sein muss. Nicht zuletzt in der Feier der Begräbnisliturgie heißt es, authentisch und präsent zu sein, damit sichtbar wird, was sichtbar werden soll, dass nämlich ein Christ dem Herrn gehört, ob wir leben oder sterben.51 Dies zeigt sich in allen Handlungen rund um Begräbnis und Friedhof, wenn sich die Kirche ihrer Identität deutlich bewusst ist und dies nach außen vermittelt.

50 So ein Zitat eines Diskussionsteilnehmers bei der Ausschussberatung im Salzburger Landtag am 12. 09. 2007. 51 Frank Walz, Impressionen, in: Heiliger Dienst 65 (2011), S. 2 – 8, hier S. 8.

Kirchliches Strafrecht und sexueller Missbrauch Minderjähriger Eine Problemanzeige Von Klaus Lüdicke Jahrelang habe ich in meinen Vorlesungen zum kirchlichen Strafrecht sagen können, dass die Beschäftigung mit dieser Rechtsmaterie eigentlich nur deswegen einen Sinn habe, weil man am Strafrecht die Werteordnung der Kirche, ihr Selbstverständnis als Gemeinschaft des Glaubens und der Glaubenden sowie ihren Umgang mit dem Recht des einzelnen Gläubigen in besonderer Deutlichkeit ablesen könne. Von einer praktischen Bedeutung des Strafrechts konnte kaum die Rede sein, hatte doch kaum ein Kanonist in Deutschland jemals an einem Strafprozess mitgewirkt. Die Zahl der bekannt gewordenen Fälle war verschwindend klein. Leider hat die Szene sich gewandelt: Es ist nicht nur die Strafbarkeit der Priesterweihe für Frauen diskutiert worden1, sondern die der unerlaubten Eucharistiegemeinschaft aus Anlass des gemeinsamen Kirchentages 2003 in Berlin. Vor allem aber steht das Problem des sexuellen Missbrauchs von Minderjährigen als weltweites Phänomen im Bewusstsein der Öffentlichkeit. Die Kirche hat darauf reagieren müssen und sie hat reagiert. Zunächst hat die Deutsche Bischofskonferenz am 26. September 2002 Leitlinien „Zum Vorgehen bei sexuellem Missbrauch Minderjähriger durch Geistliche im Bereich der Deutschen Bischofskonferenz“ verabschiedet, die sich mit Vorfragen zu einem eigentlichen Strafverfahren beschäftigten, zunächst aber einmal dazu dienten, der Öffentlichkeit zu signalisieren, dass die Kirche sich den Vorwürfen gegen ihre Bediensteten stellt. Sie hat diese Leitlinien im Jahr 2010 neu gefasst.2 Reagiert hat aber auch der Heilige Stuhl. Die Kongregation für die Glaubenslehre (Congregatio pro Doctrina Fidei) hat unter dem Datum vom 18. Mai 2001 eine „Epistula a Congregatione pro Doctrina Fidei missa ad totius Catholicae Ecclesiae Episcopos aliosque Ordinarios et Hierarchas quorum interest: de delictis gravioribus eidem Congregatione pro Doctrina Fidei reservatis“ herausgegeben, die im Novem1

Vgl. dazu Klaus Lüdicke, Schutz durch das Recht? Exkommunikation von Frauen aufgrund Empfanges der Priesterweihe, in: Orientierung 66 (2002), S. 178 – 181; ders., Der neue Entscheid der Glaubenskongregation, in: Orientierung 67 (2003), S. 47 – 48, jeweils mit Nachweisen der amtlichen Entscheidungen. 2 31. 8. 2010, http://www.dbk.de/fileadmin/redaktion/diverse_downloads/presse/ 2010 – 132a-Leitlinien.pdf.

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berheft 2001 der AAS abgedruckt wurde.3 Darin wurde eine Anzeigepflicht für die genannten Ordinarien statuiert, die sich auf dort aufgelistete Straftaten bezieht: Delikte gegen die Heiligste Eucharistie, Delikte gegen die Heiligkeit des Bußsakramentes und „delictum contra mores“, und zwar das Vergehen eines Klerikers gegen das Sechste Gebot des Dekalogs mit Minderjährigen unter 18 Jahren. Es wird dort angekündigt, dass die Kongregation nach der Anzeige einer vermutlichen Straftat normalerweise dem Ordinarius aufträgt, durch sein eigenes Gericht vorzugehen nach Normen, die ihm dabei mitgeteilt werden. Diese Normen sind durch ein Motu Proprio Papst Johannes Pauls II. mit dem Titel „Sacramentorum sanctitatis tutela“ vom 18. Mai 20014 für promulgiert erklärt worden.5 Sie sind nicht mit der erwähnten Epistula der Glaubenskongregation gleichzusetzen und nur dadurch bekannt geworden, dass sie einzelnen Diözesen zugeschickt wurden. Nachdem Papst Johannes Paul II. der Glaubenskongregation verschiedene Vollmachten erteilt hatte, die in den Normae nicht enthalten waren, hat diese im Jahre 2010 die Normae de gravioribus delictis samt den Verfahrensnormen aktualisiert. Diese Änderungen erhielten die päpstliche Billigung am 21. Mai 2010.6 Die kirchlichen Gerichte stehen also vor der Situation, im Auftrag der Glaubenskongregation Strafprozesse gegen Kleriker führen zu müssen, deren Akten unabhängig vom Ausgang des Verfahrens der Kongregation zu übersenden sind.7 Das bedeutet, dass die Prozesse sozusagen „unter den Augen der Kongregation“ zu führen sind, was die Motivation, korrekt und unanfechtbar zu arbeiten, noch verstärkt. Bei der Frage aber, wie denn ein Strafverfahren überhaupt abläuft – der Codex enthält ja nur wenige Normen über den Strafprozess und verweist in c. 1728 § 1 durch eine Generalklausel auf das Ordentliche Streitverfahren, soweit es der Natur der Sache nach übertragbar ist –, was zu prüfen ist, bevor man eine Person bestrafen kann, und welche Strafen denn in Betracht kommen, tun sich weite Felder auf. Im Rahmen dieses Beitrags zu Ehren des Kollegen Hans Paarhammer stelle ich mir nur die Aufgabe, die Probleme zu nennen und ihre Tragweite zu beschreiben. Ich kann nicht alle Schwierigkeiten an dieser Stelle lösen, und ich werde mich auch auf den gerichtlichen Strafprozess beschränken, also weder das Vorverfahren nach den Leitlinien der DBK behandeln noch das Strafdekretverfahren.8 3

AAS 93 (2001), S. 785 – 788. AAS 93 (2001), S. 737 – 739, im Folgenden abgekürzt: SST. 5 Diese Formulierung wähle ich, weil das MP die Normen – unterteilt in Normae substantiales und Normae processuales – nicht publiziert, sondern bloß erklärt, dass sie promulgiert würden und mit dem Tag ihrer Promulgation in Geltung träten. Auf die Problematik der Anwendbarkeit darin enthaltener Gesetzesänderungen gehe ich weiter unten ein. 6 Fundort (lateinische Originalfassung und mehrere Sprachen): http://press.ca tholica.va/ news_services/ bulletin/ news/25863.php?index=25863&lang=it. 7 Vgl. Art. 26 der Normae – es wird im Weiteren die Fassung von 2010 verwendet. 8 Ausführliche Kommentare zum gesamten Normenkomplex des Strafverfahrens einschließlich der Leitlinien bei Rüdiger Althaus/Klaus Lüdicke, Der kirchliche Strafprozess nach dem CIC/1983 und Nebengesetzen, Essen 2011. 4

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I. Strafrechtliche Fragen Um eine Person nach kirchlichem Recht bestrafen zu können – und das kann nur nach Maßgabe des Gesetzes geschehen, wie c. 221 § 3 allen Christgläubigen zusichert –, sind folgende Punkte immer zu überprüfen: - die Identität des Täters und der Besitz eventuell erforderlicher qualifizierender Eigenschaften (hier: Kleriker zu sein), - das Vorliegen einer Tathandlung, die strafrechtlich zu würdigen ist und die bewiesen sein muss, - die Verwirklichung eines gesetzlichen Straftatbestandes durch die Tathandlung, - die eventuelle Verjährung, - die Vollendung der Tat (im Unterschied zum Versuch), - die Tatbegehung mit Vorsatz – Fahrlässigkeit ist in der Regel nicht strafbar –, - die anwendbare Strafe und ihre angemessene Applikation. Aus diesem „Katalog“ greife ich die Stichworte heraus, die in den Fällen sexuellen Missbrauchs durch Kleriker besondere Fragen aufwerfen. 1. Gesetzlicher Tatbestand Die römischen Normtexte nennen das „delictum contra sextum Decalogi praeceptum cum minore infra aetatem duodeviginti annorum a clerico commissum“.9 In beiden Texten wird nicht auf c. 1395 § 2 CIC verwiesen, der dasselbe Delikt nur erfasst, wenn es mit Minderjährigen unter 16 Jahren begangen wurde. Die Fassung des Tatbestandes ist ein schwieriges Problem, weil sie den exakt arbeitenden Kanonisten in ein Dilemma stürzt. Die Regel sagt, dass Normen nach ihrem Wortlaut zu verstehen sind, und nur wenn dieser dunkel bleibt („obscurus“), sei auf verschiedene Auslegungskriterien zurückzugreifen.10 Das „Delikt gegen das sechste Gebot des Dekalogs“ ist vom Wortlaut her klar. Das sechste Gebot lautet: „Du sollst die Ehe nicht brechen!“11 Irgendwelche Verständnisprobleme sind nicht erkennbar – wenn nicht aus dem Kontext erkennbar würde, dass der Gesetzgeber etwas anderes meint. Jedenfalls meint er nicht nur den Ehebruch eines Klerikers mit Minderjährigen unter 16 Jahren – bei einem Ehefähigkeitsalter von 14 Jahren, das partikularrechtlich höher zu liegen pflegt! Eine kanonistische Begriffstradition 9 Art. 6 § 1, 1: „… die von einem Kleriker begangene Straftat gegen das Sechste Gebot mit einem Minderjährigen unter 18 Jahren.“ Dieser Tatbestand wird in der Fassung von 2010 erweitert auf Personen, die dauerhaft einen mangelnden Vernunftgebrauch besitzen. Ich beschränke mich aber bei der Erörterung der Probleme auf den bereits 2001 formulierten Tatbestand (damals Art. 4 § 1). 10 Vgl. c. 17 CIC. 11 Vgl. Ex 20,14 und Dtn 5,18.

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in ausgearbeiteter Form habe ich nicht ermitteln können.12 Im CIC/1917 kam das Delikt gegen das sechste Gebot des Dekalogs zunächst in c. 2358 vor, und zwar als Delikt von Klerikern niederer Weihen.13 Jone schreibt, als Delikte gegen das sechste Gebot gälten „nicht nur die Vergehen, die auch an Laien bestraft werden, sondern auch andere, z. B. jeder geschlechtliche Verkehr, schwer sündhafte Berührungen, unzüchtige Schriften usw“14. Mörsdorf vermeidet es, sich zum Tatbestand zu äußern und nennt nur „Sittlichkeitsvergehen von Geistlichen“15. Die Formel des heutigen Rechtes findet sich in c. 2359 § 2 CIC/1917, der eine Strafdrohung für höhere Kleriker enthält, ergänzt um eine recht konkrete Aufzählung von Missetaten im Bereich der Sexualität, die aber nicht als Erläuterung des Verstoßes gegen das sechste Gebot zu lesen sind. Der Rückgriff auf die Moraltheologie, den z. B. John Tuohey ausführt16, führt zu Plausibilitäts-Problemen: Die ältere Moraltheologie nach Trient bemisst die Sündhaftigkeit eines Verhaltens daran, ob unerlaubte Geschlechtslust erregt wird – erlaubt konnte sie natürlich nur zum Zwecke der Zeugung sein. Will man die Strafwürdigkeit eines Klerikers, der Kinder missbraucht hat, damit begründen, dass er sich damit selbst sexuell stimuliert hat? Die jüngere Begründungslinie in der Moraltheologie bewertet menschliches Sexualverhalten am Maßstab der Zeugungsabsicht, mindestens aber der Zeugungseignung. Strafbarkeit eines Täters auf dem hier zu erörternden Feld, weil sein Handeln nicht zu Nachkommen führen soll und kann? Wem will man eine solche Begründung für die Auslegung des Straftatbestandes „Delikt gegen das sechste Gebot des Dekalogs“ anbieten? Eine saubere Lösung gibt es meines Erachtens nicht! Es hätte in der Hand der Glaubenskongregation gelegen, die auch in anderen Fällen Tatbestände des CIC umformuliert hat17, nunmehr Klartext zu schreiben.18 Sie hat die Gelegenheit verpasst. Aber es kann auch nicht angehen, mit Berufung auf das Fehlen jeder Unklarheit im 12 Auffälligerweise sind alle Gesamtdarstellungen des kirchlichen Strafrechts aus der Zeit des CIC/1917, über die die Bibliothek unseres Instituts verfügt, unvollendet und haben den „Besonderen Teil“ des Strafrechts, d. h. die cc. 2314 – 2414 nicht behandelt. 13 „Clerici in minoribus ordinibus constituti, rei alicuius delicti contra sextum decalogi praeceptum, pro gravitate culpae puniantur etiam dimissione e statu clericali, si delicti adiuncta id suadeant, praeter poenas de quibus in c. 2357, si his locus sit.“ 14 Heribert Jone, Gesetzbuch des Kanonischen Rechts, 3. Bd., Paderborn 1940, S. 517, unter Berufung auf Vermeersch-Creusen. 15 Klaus Mörsdorf, Lehrbuch des Kirchenrechts, 3. Bd., Paderborn 111979, S. 457. 16 John Tuohey, The correct interpretation of canon 1395: The use of the sixth commandment in the moral tradition from Trent to the present day, in: Jurist 55 (1995), S. 592 – 631; vgl. auch John S. Grabowski, Clerical sexual misconduct and early traditions regarding the sixth commandment, in: Jurist 55 (1995), S. 527 – 591; Velasio de Paolis, Delitti contro il sesto comandamento, in: PerRCan 82 (1993), S. 293 – 316. 17 Beispiel: verbotene Gottesdienstgemeinschaft im Sinne des c. 1365. 18 Das Recht der katholischen Ostkirchen verwendet an der parallelen Stelle (c. 1453 § 1 CCEO) die Formel von der äußeren Sünde gegen die castitas. Das ist zwar auch unkonkret, verengt aber den Tatbestand wenigstens nicht so sehr.

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Wortlaut des sechsten Gebots des Dekalogs die Kleriker, die Kinder missbrauchen, für straffrei zu erklären. Man kann das Problem kanonistisch nur bewältigen, wenn man c. 1395 CIC (und soweit einschlägig Art. 6 Normae) nicht in moraltheologischer Kriteriologie liest, sondern von den in seiner Formulierung erkennbaren rechtlichen Schutzgütern her. Sie kommen in den Modalitäten zum Ausdruck, in denen der begangene Verstoß gegen das sechste Gebot strafbar gestellt wird: - minis patratum – unter Drohungen: Hier wird die Freiheit der sexuellen Selbstbestimmung des Opfers verletzt. - publice patratum – öffentlich: Hier wird die öffentliche Ordnung verletzt. - cum minore infra aetatem sedecim annorum patratum – mit einer minderjährigen Person unter sechzehn Jahren: Hier wird die sexuelle, und das heißt psychische und physische Integrität des Opfers verletzt, wobei es mangels Einwilligungsfähigkeit keinen Rechtfertigungsgrund gibt. Wir haben hier in der dritten Modalität, wenn auch nur im Wege der Auslegung zu erreichen, einen Tatbestand der Verletzung des sexuellen Persönlichkeitsrechtes vor uns, der erschlossen wird aus - dem durch das „sechste Gebot“ unzulänglich ausgedrückten Bezug auf den Sexualbereich, - der Qualifikation der Tat als mit Minderjährigen begangen, - der Perspektive der Verletzung der Rechte des Opfers. Als These lässt sich also aufstellen: Tatbestandsmäßig sind alle Handlungen, die verbal oder manuell die psychische und/oder physische sexuelle Integrität des minderjährigen Opfers verletzen. 2. Welche Norm gilt? Es wurde schon gesagt, dass Art. 6 der Normae von c. 1395 § 2 CIC darin abweicht, dass er das Alter des Opfers, dessen sexueller Missbrauch bestraft wird, von 16 auf 18 Jahre erhöht. Wir haben also einen erweiterten Tatbestand. Ab wann bzw. seit wann gilt er? Das wird relevant, wenn zu prüfen ist, ob ein Kleriker, der einen 17-Jährigen missbraucht hat, nach Normae oder nach CIC zu bestrafen ist. Das scheint einfach, ist es aber nicht. C. 9 CIC hält fest, dass Gesetze Zukünftiges betreffen, es sei denn, dass sie anderes ausdrücklich sagen oder der Natur nach rückwirkend gelten. Damit gilt die neue Altersgrenze ab Inkrafttreten der Normae. Das Motu Proprio ist mit dem 30. April 2001 datiert, die Normae treten nach Aussage des MP mit dem Tag ihrer Promulgation in Kraft, die durch das MP geschieht. Aber: Das MP ist im November-Heft der AAS publiziert, datiert mit dem 5. November 2001, und wenn man die Regel des c. 8 CIC beachtet, dass kirchliche Gesetze drei Monate nach dem Datum der entsprechenden Nummer der AAS in Kraft treten, dann kommt

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man vom 30. April 2001 zum 5. Februar 2002. Man muss c. 8 anwenden, weil das MP nichts anderes anordnet. Praktisch bedeutet das, dass der Missbrauch eines 17-Jährigen nur strafbar ist, wenn er nach dem 4. Februar 2002 begangen wurde; liegt die Tat früher, ist c. 1395 § 2 CIC anzuwenden, der die Vollendung des 16. Lebensjahres als Grenze nennt. 3. Verjährung? In c. 1362 CIC werden Verjährungsfristen für verschiedene Arten von Delikten genannt. Die „Normalfrist“ beträgt drei Jahre (§ 1, Initium). Fünf Jahre gelten für Straftaten nach cc. 1394, 1395, 1397 und 1398 (c. 1362 § 1, 2). Allerdings kollidiert diese Klausel mit der unbezifferten Ausnahme bei Taten, die der Glaubenskongregation vorbehalten sind (§ 1, 1). Diese war bei der Redaktion des CIC noch nicht konkretisiert worden. Nun haben aber die Normae SST (von 2001) den Fall des c. 1395 § 2 „cum minore“ der Reservation der Glaubenskongregation unterworfen und dafür eine eigene Verjährungsregelung aufgestellt: 10 Jahre Frist, bei Delikten gemäß Art. 4 § 1 beginnt die Frist mit Volljährigkeit des Opfers zu laufen.19 Das in Art. 4 genannte Delikt ist die Straftat gegen das sechste Gebot des Dekalogs mit einer Person unter 18 Jahren. Mit der Neufassung von 2010 ist die Verjährungsfrist für delicta graviora generell auf 20 Jahre heraufgesetzt worden; der Beginn bei Missbrauch Minderjähriger liegt weiter bei Vollendung des 18. Lebensjahres.20 Die Verjährung nach „normalen“ Maßstäben beginnt immer mit der letzten Tat, die noch unter die Altersgrenze des Opfers fällt. Durch die stufenweise Änderung in § 2 des Art. 5 (alt) und Art. 7 § 1 (neu) endet sie aber unabhängig davon immer erst mit Vollendung des 28. bzw. 38. Lebensjahres des Opfers. Ein großes Problem haben wir mit der Frage, welche Verjährungsfristen für Taten gelten, die „vor dem MP“ begangen worden sind. Die Frage ist: Gelten die in Art. 5 der Normae von 2001 statuierten Fristen rückwirkend, d. h. auch für Taten, deren Verjährungsfrist a) noch läuft, b) schon abgelaufen ist?21

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„§ 1. Actio criminalis de delictis Congregationi pro Doctrina Fidei reservatis praescriptione extinguitur decennio. § 2. Praescriptio decurrit ad normam c. 1362 § 2 Codicis Iuris Canonici et c. 1152 § 3 Codicis Canonum Ecclesiarum Orientalium. In delicto autem, de quo in Art. 4 § 1, praescriptio decurrere incipit a die quo minor duodevicesimum annum explevit.“ (Art. 5 der Normen von 2001). 20 Vgl. Art. 7 der Normae. 21 Ich erörtere die Frage hier nur an der Differenz zwischen CIC und den Normae von 2001. Sie stellt sich in analoger Weise für den Zeitraum zwischen 2001 und 2010, weil die Rechtslage hier erneut verändert worden ist.

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Das MP enthält die übliche Klausel: „Contrariis quibuscumque, etiam speciali mentione dignis, non obstantibus.“ Damit ist also das Codex-Recht des c. 1362 geändert. Aber auch die Regel des c. 1313 § 1: „Si post delictum commissum lex mutetur, applicanda est lex reo favorabilior“?

Bezieht sich diese Norm nur auf die Strafbarkeit überhaupt oder gegebenenfalls speziell auf das angedrohte Strafmaß? Oder auch auf „Nebenrechte“ wie die Verjährung? Dazu schweigen sowohl der Münsterische Kommentar22 als auch der Comentario Exeg¦tico23. Wenn man c. 9 dazu nimmt, der für eine Rückwirkung der Gesetze eine ausdrückliche Anordnung verlangt, muss man davon ausgehen, dass die Derogationsklausel des MP keine Rückwirkungsanordnung darstellt und auch keine dem c. 1313 § 1 widersprechende Anordnung enthält. Das bedeutet: - Wenn die Verjährungsfrist nach c. 1362 § 1, 2 abgelaufen ist – d. h. fünf Jahre seit der letzten Tathandlung vor Erreichung des 16. Lebensjahres des Opfers, denn die Nicht-Rückwirkung gilt auch für die Tatbestandsdefinition (siehe oben) –, entfällt die Möglichkeit eines Strafprozesses. - Wenn die Verjährungsfrist noch läuft, richtet sie sich nach Auffassung von Hubert Socha24 nach dem neuen Gesetz. Allerdings handelt Socha nicht von Verjährungsfristen des Strafrechts, so dass c. 1313 § 1 zu dem Ergebnis führt, dass die dem Täter günstigere Gesetzeslage anzuwenden ist. Damit verjährt die vor Inkrafttreten der Normae begangene Tat nach den allgemeinen Regeln des c. 1362 (Geltungsbeginn der Neuregelung 5. Februar 2002, siehe oben). 4. Welche Strafe? Die gesetzliche Strafdrohung in c. 1395 § 2 lautet: „… werde mit gerechten Strafen bestraft, nicht ausgeschlossen, falls erforderlich, die Entlassung aus dem Klerikerstand.“25

In Art. 6 § 2 der Normae heißt es: „Ein Kleriker, der Straftaten nach § 1 begangen hat, werde nach Schwere der Straftat bestraft, nicht ausgeschlossen die Entlassung oder Absetzung.“26 22 Münsterischer Kommentar zum Codex Iuris Canonici (MK CIC), hrsg. von Klaus Lüdicke, Essen seit 1984 (Loseblattwerk, Stand: 46. Lieferung August 2010). 23 Comentario Exeg¦tico al Cýdigo de Derecho Canýnico, hrsg. von A. Marzoa/J. Miras/R. Rodriguez OcaÇa, Pamplona 21997. 24 In: Lüdicke (Hrsg.), MK CIC 9, Rdnr. 5. 25 „… iustis poenis puniatur, non exclusa, si casus ferat, dimissione e statu clericali.“ 26 „Clericus qui delicta de quo in § 1 patraverit, pro gravitate criminis puniatur, non exclusa dimissione vel depositione.“

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Beide Texte drohen eine unbestimmte Strafe an, die zu verhängen allerdings verpflichtend ist: „puniatur“ bedeutet eine obligatorische Strafdrohung (Gegensatz fakultative Strafdrohung: puniri potest). Folgender Spielraum ergibt sich aus den Normtexten: - Es handelt sich nicht um eine poena latae sententiae, sondern um eine poena ferendae sententiae. Sie ist also vom Richter zu definieren und wird durch den Urteilsspruch erst existent. - Es ist durch die Normen nicht entschieden, ob eine poena medicinalis oder eine poena expiatoria zu verhängen ist, eine Beuge- oder eine Sühnstrafe. - Es ist ferner dem richterlichen Entscheid überlassen, ob eine Strafe auf Zeit oder auf immer (poena perpetua) verhängt wird. (Da wir vom gerichtlichen Prozess handeln, ist beides prinzipiell möglich, während im Verwaltungsstrafverfahren – Strafdekretverfahren – eine poena perpetua ausgeschlossen wäre, c. 1342 § 2.) Was steht im kirchlichen Strafrecht überhaupt zur Verfügung? a) Beugestrafen/Medizinalstrafen Als erste Strafart nennt c. 1312 § 1, 1o die poenae medicinales seu censurae, die in c. 1331 – 1333 als Exkommunikation, Interdikt und Suspension konkretisiert werden.27 Die Besonderheit der Zensuren, deren alternativ gebrauchte Bezeichnung als „poenae medicinales“ neu ist gegenüber dem CIC/1917 (nicht aber gegenüber dem mittelalterlichen Sprachgebrauch), wurde in c. 2241 § 1 CIC/1917 so beschrieben: „Die Zensur ist eine Strafe, durch die ein getaufter Mensch, der eine Straftat begangen hat und verhärtet ist, geistlicher oder mit Geistlichem verbundener Güter beraubt wird, bis er, von der Verhärtung ablassend, losgesprochen ist.“28

Diese Definition gilt im CIC/1983 fort, nur ist sie nicht mehr als solche aufgenommen. Ihre Elemente sind folgende: - Entzug geistlicher oder mit Geistlichem verbundener Güter: Das trifft auf die drei Zensuren der cc. 1331 – 1333 zu. Die Exkommunikation (c. 1331) betrifft die Teilhabe an Sakramenten, die Ausübung kirchlicher Dienste und den Erwerb von materiellen Gütern aus kirchlichen Diensten. Das Interdikt (c. 1332) bleibt dahinter zurück, indem es sich auf den Bereich der Sakramente und Sakramentalien beschränkt. Die Suspension (c. 1333) betrifft über die Ausübung von Diensten und den Bezug von materiellen Gütern aufgrund solcher Dienste hinaus eventuell 27

„Sanctiones poenales in Ecclesia sunt: 1o poenae medicinales seu censurae, quae in cc. 1331 – 1333 recensentur; …“ 28 „Censura est poena qua homo baptizatus, delinquens et contumax, quibusdam bonis spiritualibus vel spiritualibus adnexis privatur, donec, a contumacia recedens, absolvatur.“

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das Wohnrecht, aber nur, wenn es sich um ein durch das Amt bedingtes Recht handelt. - Grundsätzlich bedingte Geltung, d. h. Befristung bis zum Nachlass der Strafe, der wiederum durch das Aufgeben der Verhärtung bedingt und gefordert ist. Dass Zensuren nur einen Täter treffen können, der verhärtet ist, geht aus c. 1347 (im Umkehrschluss) hervor sowie aus c. 1358 § 1 (entsprechend c. 2248 § 2 CIC/ 1917). Mit der Bezeichnung „poena medicinalis“ wird ein wichtiger Akzent gesetzt: Der Blick wird auf den Täter gelenkt, die Strafe als Mittel betont, die Verfehlung und Verhärtung des Täters zu beenden und ihn zur Rückkehr in die Ordnung der Kirche zu bewegen.29 Für Straftäter wie die hier zur Debatte stehenden sind Medizinalstrafen kaum geeignet. Sie könnten nur den Zweck haben, einen Kleriker von der Fortsetzung einer „übergriffigen“ Praxis gegenüber Minderjährigen abzubringen. Ob man eine solche Wirkung durch die Exkommunikation erreichen kann? Anwendbar sind Medizinalstrafen eben nur, wenn und solange ein Täter in der Auflehnung gegen die Rechtsordnung verharrt. Doch hat eine Medizinalstrafe scheinbar den hier angemessenen Inhalt, nämlich die Suspension: „C. 1333 § 1. Die Suspension, die allein Kleriker treffen kann, verbietet: 1o alle oder einige Akte der Weihegewalt; 2o alle oder einige Akte der Leitungsgewalt; 3o die Ausübung aller oder einiger Rechte oder Aufgaben, die mit einem Amt verbunden sind. § 2. In dem Gesetz oder Befehl kann angeordnet werden, daß nach einem verhängenden oder erklärenden Spruch ein Suspendierter Akte der Leitungsgewalt nicht gültig setzen kann. § 3. Das Verbot trifft niemals: 1o Ämter oder Leitungsgewalt, die nicht unter der Gewalt des Oberen stehen, der die Strafe festsetzt; 2o das Wohnrecht, wenn es der Täter aufgrund seines Amtes besitzt; 3o das Recht zur Verwaltung von Gütern, die vielleicht zu dem Amt des Suspendierten gehören, sofern die Strafe Tatstrafe ist.

29 Die Medizinalstrafen sind im heutigen kirchlichen Leben kein sehr effektives Instrument. Wird dem Täter eine Gesinnungs- oder Überzeugungsstraftat vorgeworfen, z. B. Häresie, ist es der Kirche aufgrund der von ihr selbst proklamierten Freiheit des Gewissens und der Religionsfreiheit (vgl. DH 10) nur schwer möglich, jemanden mit Strafen zur Änderung seines Bekenntnisses zu nötigen. Natürlich darf sie ihn aus der Rechtsgemeinschaft soweit ausgliedern, dass seine Haltung die communio fidei und die communio fidelium nicht in Gefahr bringt.

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§ 4. Eine Suspension, die verbietet, Früchte, Unterhalt, Pensionen oder anderes derartiges zu empfangen, bringt die Verpflichtung mit sich zurückzuerstatten, was unrechtmäßig, wenn auch guten Glaubens empfangen wurde.“30

Der Umfang der Suspension wird laut c. 1334 § 1, wenn er nicht durch die Strafnorm vorgegeben ist, durch das Strafurteil bestimmt. An sich gibt die Suspension eine große Bandbreite von Maßnahmen, die zum Teil auch durchaus situationsgerecht sein können. Das wichtigste Bedenken gegen ihre Anwendung bleibt aber ihr Charakter als Medizinalstrafe. Sie kann nur verhängt werden, wenn der Täter sich noch gegen die Rechtsordnung auflehnt, und wenn er „umkehrt“, hat er einen Anspruch auf Lossprechung. Das passt aber meistens nicht zum vorliegenden Problem. Keine weiteren Taten mehr zu begehen, wird jeder Kleriker bereit sein, der vor das Strafgericht gestellt wird. Dann aber kann die Suspension gar nicht verhängt werden. b) Reinigungs- oder Sühnstrafen Demgegenüber haben die Reinigungs- oder Sühnstrafen (poenae expiatoriae, im alten Recht poenae vindicativae) absolute Geltung. C. 2286 CIC/1917 charakterisierte sie so: „Sühnstrafen sind solche, die unmittelbar auf die Sühne der Straftat zielen, so dass ihre Nachlassung und ihr Ende nicht von der Verhärtung des Täters abhängen.“31

Damit erscheinen sie generell geeignet, in Fällen des sexuellen Kindesmissbrauchs als Strafen verhängt zu werden. Welche Reinigungsstrafen der kirchliche Gesetzgeber sich vorstellt – c. 1312 § 2 sieht die Möglichkeit weiterer Strafen vor –, liest man in c. 1336: „§ 1. Reinigungsstrafen, die den Straftäter treffen können entweder für immer oder für bestimmte Zeit oder für unbestimmte Zeit, sind neben denen, die das Gesetz vielleicht festsetzt, diese: 30

„§ 1. Suspensio, quae clericos tantum afficere potest, vetat: 1o vel omnes vel aliquos actus potestatis ordinis; 2o vel omnes vel aliquos actus potestatis regiminis; 3o exercitium vel omnium vel aliquorum iurium vel munerum officio inhaerentium. § 2. In lege vel praecepto statui potest, ut post sententiam condemnatoriam vel declaratoriam actus regiminis suspensus valide ponere nequeat. § 3. Vetitum numquam afficit: 1o officia vel regiminis potestatem, quae non sint sub potestate Superioris poenam constituentis; 2o ius habitandi, si quod reus ratione officii habeat; 3o ius administrandi bona, quae ad ipsius suspensi officium forte pertineant, si poena sit latae sententiae. § 4. Suspensio vetans fructus, stipendium, pensiones aliave eiusmodi percipere, obligationem secumfert restituendi quidquid illegitime, quamvis bona fide, perceptum sit.“ 31 „Poenae vindicativae illae sunt, quae directe ad delicti expiationem tendunt ita ut earum remissio e cessatione contumaciae deliquentis non pendeat.“

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1o das Verbot oder das Gebot, sich an einem bestimmten Ort oder in einem bestimmten Gebiet aufzuhalten; 2o die Entziehung einer Gewalt, eines Amtes, einer Aufgabe, eines Rechtes, einer Befugnis, einer Gnade, eines Titels, eines Abzeichens, auch [wenn sie] nur der Ehre wegen [verliehen wurden]; 3o das Verbot, das auszuüben, was unter Nr. 2 genannt wird, oder das Verbot, es an einem bestimmten Ort oder außerhalb eines bestimmten Ortes auszuüben; diese Verbote gelten niemals mit der Folge der Nichtigkeit; 4o die strafweise Versetzung auf ein anderes Amt; 5o die Entlassung aus dem Klerikerstand. § 2. Tatstrafen können nur die Reinigungsstrafen sein, die in § 1 Nr. 3 genannt sind.“32

Einschlägig erscheinen hier die Aufenthaltsge- und -verbote der Nr. 1, die Amtsenthebungen der Nr. 2, die Strafversetzung nach Nr. 4 und die Entlassung aus dem Klerikerstand nach Nr. 5. Eine Problematik drängt sich aber auf: Sind nicht fast alle diese Maßnahmen mit Ausnahme der Entlassung aus dem Klerikerstand33 auch ohne ein Strafverfahren, allein aufgrund der Dienstaufsicht des Ordinarius, längst fällig gewesen, sofern dadurch die Begehung weiterer Straftaten verhindert wird? Ohne Rücksicht auf ein Strafverfahren – d. h. unabhängig von der Strafbarkeit des Klerikers allein aufgrund der Erfordernisse eines geordneten, glaubwürdigen kirchlichen Dienstes? Das Strafverfahren kann natürlich die schon getroffenen Maßnahmen auch noch einmal als Strafe verhängen und es kann bisherige Versäumnisse nachholen. Notwendig ist das Strafverfahren aber nur für eine Entlassung aus dem Klerikerstand. Bedeutet das, dass das Strafverfahren geradezu zwangsläufig auf diese Strafe hinausläuft, wenn denn alle Voraussetzungen eines strafbaren Verhaltens gegeben sind? Das hängt von den Strafzumessungskriterien ab.

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„§ 1. Poenae expiatoriae, quae delinquentem afficere possunt aut in perpetuum aut in tempus praefinitum aut in tempus indeterminatum, praeter alias, quas forte lex constituerit, hae sunt: 1o prohibitio vel praescriptio commorandi in certo loco vel territorio; 2o privatio potestatis, officii, muneris, iuris, privilegii, facultatis, gratiae, tituli, insignis, etiam mere honorifici; 3o prohibitio ea exercendi, quae sub n. 2 recensentur, vel prohibitio ea in certo loco vel extra certum locum exercendi; quae prohibitiones numquam sunt sub poena nullitatis; 4o translatio poenalis ad aliud officium; 5o dimissio e statu clericali. § 2. Latae sententiae eae tantum poenae expiatoriae esse possunt, quae in § 1, n. 3 recensentur.“ 33 Auszunehmen sind auch die Maßnahmen nach Nr. 2: Sie sind aber auch als Strafen ohne praktische Bedeutung.

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5. Strafzumessungskriterien Während bei den fakultativen Strafdrohungen („puniri potest“) dem Richter die Entscheidung darüber anheimgegeben ist, ob er einen Angeklagten – ceteris praemittendis datis – bestraft (vgl. c. 1343), schließt die obligatorische Strafdrohung das an sich aus. Aber die Pflicht zur Bestrafung ist doch nicht wirklich zwingend, sondern durch zwei Tatsachen durchbrochen: Wenn die Strafe unbestimmt ist (wie in unserem Fall), kann die Reduzierung des Strafmaßes auf null nicht von vornherein ausgeschlossen werden. Ferner bietet c. 1344 Entscheidungsspielräume an: „Auch wenn das Gesetz vorschreibende Worte verwendet, kann der Richter nach seinem Gewissen und seiner Klugheit: 1o die Verhängung der Strafe auf einen angemesseneren Zeitpunkt verschieben, wenn aus einer voreiligen Bestrafung des Täters größere Übel vorherzusehen sind; 2o von der Verhängung der Strafe absehen oder eine mildere Strafe verhängen oder eine Buße anwenden, wenn der Täter gebessert ist und das Ärgernis behoben hat, oder wenn er von der zivilen Autorität hinreichend bestraft worden oder bestraft zu werden vorherzusehen ist; 3o die Pflicht, eine reinigende Strafe zu beachten, aussetzen, wenn der Täter zum ersten Mal nach einem löblich geführten Leben eine Straftat begangen hat und keine Notwendigkeit drängt, Ärgernis zu beheben, jedoch in der Weise, daß der Täter, wenn er innerhalb eines Zeitraums, der vom Richter festgesetzt wird, erneut eine Straftat begeht, die für beide Straftaten geschuldete Strafe verbüßt, wenn nicht inzwischen die Zeit für die Verjährung der Strafklage für die frühere Straftat abgelaufen ist.“34

Es handelt sich bei Nr. 1 um eine Art Vertagung der Strafe, bei Nr. 2 um eine Möglichkeit der Strafmilderung, ja sogar der Freistellung von einer Strafe, und bei Nr. 3 um die Aussetzung der Strafe zur Bewährung. Zu Nr. 1: Nach Nr. 1 kann der Richter die Verhängung der Strafe verschieben, wenn er vorhersieht, dass aus einer voreiligen Bestrafung größeres Übel erwachsen könnte. Abgesehen von systematischen Bedenken – wie kann ein Richter ein Strafverfahren unterbrechen und irgendwann wieder aufnehmen, um eine Strafe zu verhängen? – ist 34

„Etiamsi lex utatur verbis praeceptivis, iudex pro sua conscientia et prudentia potest: 1o poenae irrogationem in tempus magis opportunum differre, si ex praepropera rei punitione maiora mala eventura praevideantur; 2o a poena irroganda abstinere vel poenam mitiorem irrogare aut paenitentiam adhibere, si reus emendatus sit et scandalum reparaverit, aut si ipse satis a civili auctoritate punitus sit vel punitum iri praevideatur; 3o si reus primum post vitam laudabiliter peractam deliquerit neque necessitas urgeat reparandi scandalum, obligationem servandi poenam expiatoriam suspendere, ita tamen ut, si reus intra tempus ab ipso iudice determinatum rursus deliquerit, poenam utrique delicto debitam luat, nisi interim tempus decurrerit ad actionis poenalis pro priore delicto praescriptionem.“

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nicht erkennbar, dass in unseren Fällen für diese Regel ein Anwendungsfeld gegeben wäre. Zu Nr. 2: Für den Fall, dass der Täter nicht mehr in der Auflehnung gegen die Rechtsordnung verharrt und auch das Ärgernis behoben ist, das aus der Straftat entstanden war – dass der Täter es behoben hat, dürfte nicht erforderlich sein –, gibt Nr. 2 dem Richter die Möglichkeit, - von einer Bestrafung abzusehen, - eine geringere Strafe zu verhängen, - eine Buße aufzuerlegen. An sich geht bereits aus c. 1341 hervor, dass es für ein Strafverfahren keinen Raum gibt, wenn die Strafziele erreicht sind oder ohne Strafverfahren erreicht werden können, nämlich die Besserung des Täters, die Behebung des Ärgernisses und die Wiederherstellung der Gerechtigkeit. Was immer das im Einzelnen bedeuten mag35: Man wird weder von einer Beseitigung des Ärgernisses ausgehen können noch von einer Wiederherstellung der Gerechtigkeit. Die kirchliche und weltliche Öffentlichkeit erwartet die klare Stellungnahme der kirchlichen Autorität zu den Fehltritten ihrer Bediensteten. Bedenkenswert sein kann die zweite Variante der Nr. 2: Sie gibt dem Richter, wenn der Täter für eine Tat bestraft werden soll, die auch nach staatlichem Recht strafbar ist, und der Täter schon „satis“ von der zivilen Autorität bestraft bzw. eine solche Strafe zu erwarten ist, die genannten Milderungsmöglichkeiten. So nachvollziehbar der Gedanke ist, den Täter zu verschonen, wenn die staatliche Strafe ihn bereits stark belastet hat, so wenig lässt sich eine Verbindung zwischen staatlicher und kirchlicher Strafe begründen. Letztere folgt ganz anderen Gesichtspunkten und Bedürfnissen, nämlich denen der kirchlichen communio, hat ihren Sinn wesentlich im Unwerturteil der Gemeinschaft über das Verhalten des Täters. Die Berücksichtigung einer staatlichen Strafe als solcher hat im Rahmen des kirchlichen Strafrechts keinen Sinn, weil durch sie weder das Ärgernis behoben noch der Täter in seinem Verhältnis zur kirchlichen Rechtsordnung beeinflusst wird. Auch hat die staatliche Strafe keinen Einfluss etwa auf die Zugehörigkeit zum Klerikerstand oder auf die Amtsinhaberschaft. Wenn auch der CIC Straftaten nennt, die nach beiden Rechten strafbar sind oder sein können36, so decken sich doch die Kriterien für die Strafbarkeit nicht unbedingt. Es ist zwar kaum anzunehmen, dass die Taten des c. 1395 jemals in Auflehnung gegen die kirchliche Rechtsordnung begangen werden, jedenfalls nicht in unserem Sprachbereich. Es ist aber dennoch wichtig, dass die Kirche ihre eigenen Wertvor35 36

Näheres dazu in MK CIC, 1341, Rdnr. 3 – 5. Z.B. cc. 1395, 1397, 1398.

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stellungen durch das Strafrecht nicht nur in Bereichen deutlich macht, aus denen sich das staatliche Strafrecht zurückzieht (z. B. die Abtreibung nach c. 1398), sondern auch in denen, die der Staat ebenfalls behandelt. Zu Nr. 3: Nach Nr. 3 kann der Richter eine Strafe zur Bewährung aussetzen, so dass sie nur dann wirksam wird, wenn der Täter innerhalb einer vom Richter festgesetzten Zeit erneut eine Straftat begeht. Voraussetzung für die Suspendierung der Strafe sind: - unbescholtenes Leben des Täters vor der Straftat, die die erste gewesen sein muss, - keine Notwendigkeit, Ärgernis zu beheben. In Betracht kommt die Aussetzung zur Bewährung also nur bei einmaligem Vergehen des Angeklagten. Es muss darüber hinaus der Fall für die kirchliche Öffentlichkeit „bereinigt“ sein, so dass kein Interesse mehr an einer strafrechtlichen Verfolgung des Täters besteht. Die Bedingungen, unter denen die Strafe, die ausgesetzt wurde, doch noch wirksam wird, sind: - der Täter begeht innerhalb der festgesetzen Bewährungsfrist erneut eine Straftat; es muss nicht ein Delikt gleicher Art sein; - die Strafverfolgung für das erste Delikt darf nicht verjährt sein. Wieweit eine solche Strafaussetzung zur Bewährung am Platze ist, ist Frage des Einzelfalles. Weitere Strafmilderungs- oder -verschärfungsgründe: C. 1345 räumt dem Richter die Möglichkeit ein, auf eine Strafe zu verzichten, wenn Strafmilderungsgründe vorliegen. „Wenn der Straftäter nur einen unvollkommenen Vernunftgebrauch besaß oder die Straftat aus Furcht oder Notwendigkeit oder im Sturm der Leidenschaft oder im Rausch oder einer anderen Verwirrung des Geistes begangen hat, kann der Richter auch von der Verhängung jedweder Bestrafung absehen, wenn er meint, es könne anders besser für dessen Besserung gesorgt werden.“37

Die Anwendung dieses Canons setzt voraus, dass keine Strafausschließungsgründe vorliegen, wie sie in c. 1323 aufgezählt sind. Unter diesen ist nur einer diskutierbar:

37 „Quoties delinquens vel usum rationis imperfectum tantum habuerit, vel delictum ex metu vel necessitate vel passionis aestu vel in ebrietate aliave simili mentis perturbatione patraverit, iudex potest etiam a qualibet punitione irroganda abstinere, si censeat aliter posse melius consuli eius emendationi.“

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„Keiner Strafe ist unterworfen, wer, als er das Gesetz oder den Befehl verletzte: 2o ohne Schuld nicht wußte, daß er ein Gesetz oder einen Befehl verletzte; der Unkenntnis aber werden die Unaufmerksamkeit und der Irrtum gleichgeachtet.“38

Der vom Gesetzgeber gemeinte Fall der Unkenntnis ist hier nicht einschlägig: Welcher Kleriker weiß nicht, dass er die sexuelle Integrität eines Minderjährigen nicht verletzen darf? Und selbst wenn es keine ausdrückliche Norm darüber gibt, weiß er, dass sein Stand ihn zu vollkommener Keuschheit (nicht nur zur Ehelosigkeit, vgl. c. 277 §§ 1 und 2) verpflichtet. Dazu braucht man keine differenzierte Auslegung des c. 1395 vorzunehmen. Aber etwas anderes ist zu bedenken: War sich der Kleriker, der sich in später Stunde des Jugendlagers in „übergriffiger“ Weise eines Jugendlichen annimmt, darüber im Klaren, dass er die Grenzen des Erlaubten überschreitet? Liegt hier nicht wenigstens eine inadvertentia vor? Der Gedanke, der hinter der Strafbefreiung liegt, dass nämlich der Täter die Rechtsordnung nicht hat verletzen wollen – es geht nach dem Wortlaut der Norm nicht um seine kirchenrechtliche Bildung, sondern um seine Wissens- und Willenshaltung im Moment der Tat – und deswegen nicht bestraft werden müsse, kann nur angewandt werden, wenn es sich um eine erst- und einmalige Tat handelt. Bei weiteren Taten muss dem Täter vorgeworfen werden, dass er nicht mehr unerwartet und unabsichtlich in die Tat „hineingeraten“ sein kann. Liegt ein solcher Strafausschließungsgrund nicht vor, sind die Strafmilderungsgründe des c. 1324 zu prüfen. C. 1345 spielt schon auf sie an: - Unvollkommener Vernunftgebrauch (vgl. c. 1324 § 1, 1): Das will man bei einem Kleriker nicht als Habitus annehmen. Mentis perturbationes sind aber noch eigens angesprochen. - metus und necessitas sind hier nicht einschlägig. - Sturm der Leidenschaft, die c. 1324 § 1, 3 wie folgt näher bezeichnet als Sturm „schwerer Leidenschaft, die aber nicht alle Überlegung des Geistes und alle Zustimmung des Willens ausschloß und verhinderte, und sofern die Leidenschaft nicht willentlich erregt oder unterhalten worden war.“39 Gedacht ist offenbar an Affekthandlungen, nicht an Taten der sexuellen Begierde, die in der kirchlichen Rechtsordnung wohl kaum als Strafmilderungsgrund anerkannt werden soll. - Trunkenheit: Sie ist nach c. 1314 § 1, 2 dann Strafmilderungsgrund, wenn deswegen der Vernunftgebrauch fehlte. Dabei wird eine zur Ermöglichung der Straftat herbeigeführte Trunkenheit nicht berücksichtigt (c. 1325).

38

„Nulli poenae est obnoxius qui, cum legem vel praeceptum violavit: 2o sine culpa ignoravit se legem vel praeceptum violare; ignorantiae autem inadvertentia et error aequiparantur.“ 39 „… gravis passionis aestus, qui non omnem tamen mentis deliberationem et voluntatis consensum praecesserit et impedierit, et dummodo passio ipsa ne fuerit voluntarie excitata vel nutrita.“

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- Andere Geistesverwirrung. Damit ist nach c. 1324 § 1, 2 eine perturbatio mentis gemeint, die culpabilis ist, die der Täter also zu verantworten hat. Wie gesagt, räumt c. 1345 dem Richter die Möglichkeit ein, von Strafe abzusehen, „wenn er meint, dass für die Besserung [des Täters] auf andere Weise besser gesorgt werden könne“40. Das aber ist in den Verfahren wegen sexuellen Kindesmissbrauchs in der Regel nicht der Punkt: Die Strafe dient nicht der Besserung des Täters, sondern der Selbstverteidigung der kirchlichen communio gegen das Verhalten von Klerikern, das den kirchlichen Dienst und das öffentliche Ansehen der Kirche in höchstem Maße gefährdet. An dieser Stelle komme ich auf ein Unbehagen zurück, das ich bereits artikuliert habe: Ist es richtig, gegen einen geständigen, reuigen, therapiebereiten und gutwilligen Kleriker einen Strafprozess zu führen, und dazu mit den Prinzipien des Strafrechtes hin und wieder recht „großzügig“ umzugehen, statt mit Disziplinarmaßnahmen die Funktionsfähigkeit des kirchlichen Dienstes wiederherzustellen und damit auch ein Signal an die Öffentlichkeit zu geben? Aber wir haben nicht die Wahl: Wenn die Glaubenskongregation die Durchführung des Strafprozesses verlangt, ist er zu führen. II. Strafprozessuale Fragen Im zweiten Teil dieses Beitrags will ich nur einige Punkte kurz ansprechen, die sich nicht ohne weiteres aus dem CIC entnehmen lassen. An sich richtet sich der Strafprozess nach den Spezialnormen der cc. 1721 – 1728 – die cc. 1717 – 1719 behandeln das Vorverfahren, c. 1720 das Strafdekretverfahren – und den anwendbaren Regeln über das Ordentliche Streitverfahren. Die Verweistechnik des Gesetzgebers überlässt es also den Fachleuten zu ermitteln, welche prozessualen Vorschriften nun gelten. 1. Zuständigkeit Nach den Regeln des CIC gibt es für Strafprozesse zwei Zuständigkeiten, nämlich aufgrund des Wohnortes – die allgemeine Regel des c. 1408 – und aufgrund des Tatortes, c. 1412. Es fällt auf, dass es keinen Zuständigkeitsgrund personaler Art gibt, also etwa beim Ordinarius der Inkardination. Damit sind z. B. die Ordinarien des Ordensbereichs nicht in der Lage, einen Strafprozess in Gang zu bringen, weil sie weder gegenüber dem Kirchenanwalt des Wohnsitzes noch dem des Tatortes weisungsberechtigt sind. Durch die Normae (alte wie neue Fassung) ergibt sich eine andere Lage: Anzeige wegen des geprüften Verdachts einer Straftat an die Glaubenskongregation zu erstatten, ist jedem Ordinarius möglich. Wenn die Kongregation dann einen Strafprozess in Auftrag gibt, wird sie angeben, welches Gericht tätig zu werden hat. Damit begründet sie eine eventuell durch den CIC nicht gegebene Zuständigkeit. Insofern können auch 40

„… si censeat aliter posse melius consuli eius emendationi.“

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Ordinarien des Ordensbereichs durch ihre Anzeige einen Strafprozess gegen einen Ordenskleriker anstoßen. 2. Zulässigkeit der Klage Es fragt sich, ob bei Anordnung eines Strafprozesses durch die Glaubenskongregation ein Gericht noch die Zulassung der Klageschrift ablehnen kann. Das wird man differenziert beantworten müssen. Von den vier in c. 1505 § 2 genannten Abweisungsgründen – Unzuständigkeit, Fehlen der Prozessfähigkeit des Klägers, Mängel in den Formalangaben, Fehlen jeder rechtlichen Grundlage – werden allenfalls die Mängel in den Formalangaben vorkommen (können). Denn - Unzuständigkeit des Gerichtes scheidet aus – die Glaubenskongregation begründet durch ihre Zuweisung eine Zuständigkeit; - die Regel über die Prozessfähigkeit des Klägers ist aus der Natur der Sache heraus nicht anwendbar; - dass jede rechtliche Grundlage der Klage fehlt, kann das Gericht nach Vorprüfung der Sache durch die Glaubenskongregation nicht annehmen. Formal-Fehler führen aber nicht zur Abweisung der Klageschrift, sondern zur Rückgabe zwecks Nachbesserung. Denn Fehler, die nicht korrigiert werden können, kommen nicht in Betracht, etwa das Fehlen jeden Beweisangebots. Da hätte die Glaubenskongregation bereits abwinken müssen. Die Klageschrift des Kirchenanwalts ist daher in jedem Falle, eventuell nach Korrektur und Ergänzung, anzunehmen. 3. Beteiligung des Beschuldigten/Angeklagten Der Kleriker, dem Straftaten vorgeworfen werden, ist zum Verfahren zu laden nach den üblichen Regeln: Die citatio ist die Benachrichtigung von der Erhebung der Klage, die mit der Mitteilung des Gerichtshofes und einem Vorschlag für den Streitgegenstand einhergeht. Zu diesem Streitgegenstand kann sich der Angeklagte – der Beschuldigte wird durch die Klage zum Angeklagten – zwar äußern, doch wird seine Stellungnahme keinen Einfluss haben. Die Formel wird mehr oder weniger notwendig so lauten: „Steht es fest, dass sich NN wegen sexuellen Missbrauchs Minderjähriger strafbar gemacht hat?“

Dass es ratsam ist, bereits im Streitgegenstand die Zahl der Fälle und die Opfer der Taten zu nennen, ist zu bezweifeln. Eine solche Aussage braucht nicht im Urteilstenor zu erscheinen, daher auch nicht im Streitgegenstand. Die Bestimmung des Strafmaßes gehört nicht in die Formel der Streitfestsetzung, wenn auch der Kirchenanwalt schon in seiner Klageschrift eine bestimmte Strafe fordern kann, etwa die Entlassung aus dem Klerikerstand. Da der Richter einen großen Spielraum in der Festsetzung des

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Strafmaßes hat, lässt sich dafür keine angemessene Formel im Streitgegenstand finden. Letztlich legt das Gericht den Streitgegenstand fest und ist an die Vorschläge der Parteien nicht gebunden. Im weiteren Verlauf des Verfahrens ist der Angeklagte vor allem selbst zu hören. Den Verteidiger, den er sich selbst wählt oder der ihm vom Gericht bestellt wird (c. 1723), kann das Gericht nicht zur Tat selbst hören, wenn etwa der Angeklagte nicht auszusagen bereit ist. Und dieser braucht nicht auszusagen, vor allem nicht zu gestehen. Das wird ihm in c. 1728 § 2 ausdrücklich zugesichert. Auch kann er nicht vereidigt werden. Damit wird man annehmen dürfen, dass der Angeklagte nicht dieselbe Wahrheitspflicht im Verfahren hat wie eine Partei im Ordentlichen Streitverfahren oder im Eheprozess (vgl. c. 1531 § 1). Nach allgemeinen Prinzipien darf er nicht die Unwahrheit sagen, er kann aber schweigen, um sich nicht selbst zu belasten. Es wird Sache seines Verteidigers sein, ihn richtig zu beraten, auch wenn der Richter aus dem Schweigen – anders als im normalen Prozess – keine Schlüsse ziehen darf, weil sonst das Recht des Angeklagten unterlaufen würde. 4. Rechtsmittel Gegen das Urteil des Diözesangerichts können je nach Interesse der Angeklagte und der Kirchenanwalt Berufung einlegen – oder auch beide, wenn sie nicht zufrieden sind. Abweichend von der Zuständigkeitsordnung des CIC ist die Glaubenskongregation alleinige Berufungsinstanz, wie sich aus Art. 20 der Normae ergibt. Ein Berufungsrecht hat auch der Kirchenanwalt der Kongregation, der unabhängig vom Ausgang des Verfahrens in erster Instanz alle Akten zu übersenden sind. Die Frist dafür läuft ab Kenntnisnahme des Kirchenanwalts (Art. 26 § 2 Normae). Über eine eventuelle Nichtigkeitsbeschwerde enthalten die Normen nichts. Sie würde sich also nach dem CIC richten. Dass die Kongregation das nicht gemeint hat, mag man aus folgenden Tatsachen entnehmen: - Die Akten gehen in jedem Fall an die Kongregation. - Die Kongregation hat sich am 7. Februar 2003 vom Papst die Vollmacht erteilen lassen, Verletzungen von Verfahrensnormen durch die Untergerichte zu sanieren, wenn es sich um einen Prozess handelt, der auf Weisung der Kongregation geführt wurde. Diese Vollmacht ist jetzt in Art. 18 der Normae aufgenommen. Damit „repariert“ die Kongregation also selbst, was ein Urteil in erster Instanz nichtig machen würde, und der an sich zuständige iudex a quo bekommt die Sache nicht zurück. 5. Besetzung der Gerichte Abschließend sei noch etwas zu den Personalproblemen dieser Strafprozesse gesagt. In der Epistula der Glaubenskongregation hatte es geheißen:

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„An Gerichten, die bei den Ordinarien oder Hierarchen errichtet sind, können in diesen Fällen nur Priester die Dienste des Richters, des Kirchenanwalts, des Notars und des Anwalts gültig ausüben.“ (S. 787)41

Und während es in den Normae über die Richter, die vom Präfekten der Kongregation berufen werden, um die Fälle an der Glaubenskongregation zu behandeln, heißt, dass sie nicht nur Priester sein sollen (sacerdotes sint oportet), sondern auch reiferen Alters, Doktoren des kanonischen Rechts, von guten Sitten und durch Klugheit und Rechtserfahrung ausgezeichnet (Art. 10), wiederholt Art. 14 für das Personal an den Untergerichten nur das Erfordernis des Priestertums – aber zur Gültigkeit! Bereits am 7. Februar 2003 hatte der Papst dem Präfekten der Glaubenskongregation die Befugnis abgezeichnet, vom Erfordernis des Priestertums und des Doktorats im Kanonischen Recht auch im Hinblick auf Art. 12 der (damals geltenden) Normae Sacramentorum sanctitatis tutela zu dispensieren – wo von einer kanonistischen Qualifikation des Personals an den Untergerichten überhaupt nicht die Rede war. Die Dispens geschah mit der Maßgabe, dass das Lizentiat im Kanonischen Recht indispensabel ist. Für die Richter sei c. 1421 CIC anzuwenden. Das bedeutete wohl, dass in einem Strafgericht nicht mehr als ein Laie Mitglied des Kollegiums sein kann – aber dieser eine Laie kann auch eine Frau sein. Das Dispensrecht der Kongregation ist jetzt in Art. 15 der Normae festgehalten. In der Konsequenz heißt das: Das Kollegialgericht (nach c. 1425 § 1, 2) kann aus zwei Priestern und einem Laien bestehen. An die Stelle der Priester können mit entsprechender Dispens andere Kleriker, d. h. Diakone treten. Für sie gibt es in c. 1421 keine Quote. Als übrige Prozessbeteiligte – Kirchenanwalt, Verteidiger, Notare – können nach entsprechender Dispens ebenfalls Nichtpriester eingesetzt werden. III. Schlussbemerkung Wir haben es beim sexuellen Kindesmissbrauch mit einem Feld zu tun, auf dem die Kirche ihren Innenraum nicht schützen kann und darf. Die Taten sind auch nach staatlichem Recht strafbar, es muss also Querverbindungen zwischen den staatlichen Strafverfolgungsbehörden und der Kirche geben. Und oft werden die Beweise für solche Taten nur durch das staatliche Strafverfahren hinreichend sicher feststehen. Zum anderen stehen diese Vorgänge im Licht der Öffentlichkeit, möge man das begrüßen oder nicht. Auch die kirchlichen Gerichte müssen damit rechnen, dass ihre Entscheidungen, die nach Art. 30 § 1 Normae dem secretum pontificium unterliegen, von irgendwem in die Medien gebracht werden. Es ist also nicht nur die Kontroll-In41 „In Tribunalibus apud Ordinarios vel Hierarchas constitutis, hisce pro causis munera Iudicis, promotoris Iustitiae, Notarii et Patroni tantummodo sacerdotes valide explere possunt.“

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stanz Glaubenskongregation, der sich ein Strafprozess an unseren Gerichten gegenübersieht, sondern auch das rechtsstaatliche Bewusstsein der Öffentlichkeit. Das wird für die kirchlichen Gerichte ein starker Ansporn sein, sehr gewissenhaft, sehr genau und ohne Ansehen der Person zu ermitteln und zu urteilen. Es wird sie vor allem vor der Versuchung bewahren, kirchenpolitische Interessen mit Mitteln umzusetzen, die nicht den strengen Maßstäben des Strafrechtes genügen.

Perspektiven für eine Reform des kirchlichen Strafrechts mit besonderem Blick auf den sexuellen Missbrauch Minderjähriger durch Geistliche Von Peter Platen I. Einführung Am 18. Januar 2011 meldete die Katholische Internationale Presseagentur, dass sich der jetzige Papst schon im Jahre 1988 als damaliger Präfekt der Kongregation für die Glaubenslehre für ein härteres Vorgehen gegenüber schwerwiegenden Verfehlungen von Priestern eingesetzt habe.1 Weitere Meldungen folgten.2 Anfang Dezember 2010 ist dieser Sachverhalt in zwei nahezu gleichlautenden Beiträgen3 aus der Feder des Sekretärs des Päpstlichen Rates für die Gesetzestexte, Titularbischof Juan Ignacio Arrieta, in der Zeitschrift „La Civilt— Cattolica“4 bzw. in der vatikanischen Zeitung „LÏOsservatore Romano“5 veröffentlicht worden. Der zweite Beitrag hat inzwischen einen Neuabdruck im Archiv für Katholisches Kirchenrecht erfahren.6 In der Agenturmeldung werden die vatikanischen Veröffentlichungen in den Zusammenhang gestellt, dass führende Kardinäle und Bischöfe an1

Vgl. kipa/apic-Meldung vom 18. 01. 2011 (kipa/r/am). Vgl. etwa die KNA-Meldung vom 19. 01. 2011 (ast/vre/). 3 Nach Auffassung von Armin Schwibach in seinem Beitrag „Alte Schätze – immer wieder neu entdeckt, wenn auch mit Verspätung“ (http://kath.net/detail.php?id=29778; eingesehen 23. 02. 2011) seien diese Beiträge zunächst weitgehend unbemerkt geblieben. 4 Nach Schwibach erfolgte die Veröffentlichung im Faszikel Nr. 3851 v. 04. Dezember 2010, was auch mit den Angaben des unter http://www.vatican.va/resources/resources_arrieta20101204_ge.html (eingesehen 23. 02. 2011) dokumentierten Beitrages des Sekretärs des Päpstlichen Rates für die Gesetzestexte, Titularbischof Juan Ignacio Arrieta, Der Einfluss Kardinal Ratzingers bei der Revision der kirchlichen Strafrechtsordnung, übereinstimmt. 5 Siehe hierzu den für den Osservatore Romano vom 02. 12. 2010 ebenfalls durch Titularbischof Arrieta verfassten Beitrag Kardinal Ratzinger und die Revision der kirchlichen Strafrechtsordnung. Eine entscheidende Rolle, der unter http://www.vatican.va/resources/resources_arrieta-20101202_ge.html (eingesehen 23. 02. 2011) dokumentiert ist. Schwibach hat bereits am Tag der Veröffentlichung des Artikels mit der Meldung „Kardinal Ratzinger und die Revision des Kirchenstrafrechts“ (http://kath.net/detail.php?id=29203; eingesehen 23. 02. 2011) auf diese Veröffentlichung hingewiesen. 6 Vgl. Juan Ignacio Arrieta, Kardinal Ratzinger und die Revision der kirchlichen Strafrechtsordnung. Drei bisher nicht veröffentlichte Schreiben von 1988, in: AfkKR 179 (2010), S. 108 – 116. 2

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gesichts von Vorwürfen, Papst Benedikt XVI. habe sexuellen Missbrauch in der katholischen Kirche vertuscht, wiederholt das frühe und entschiedene Eintreten des heutigen Papstes für ein unnachgiebiges Vorgehen in solchen Fällen hervorgehoben haben.7 Im Folgenden soll es jedoch nicht um die Kohärenz des Denkens und Handelns des jetzigen Papstes gehen. Stattdessen soll das Augenmerk auf die von Bischof Arrieta gegebenen Hinweise auf eine weit fortgeschrittene Revision der kirchlichen Strafrechtsordnung gelegt werden. So hat der Sekretär des Päpstlichen Rates für die Gesetzestexte darauf aufmerksam gemacht, dass eine Kommission von Strafrechtsexperten beinahe zwei Jahre an einer Revision des seit 1983 geltenden Textes gearbeitet habe, um einerseits den Grundansatz sowie die fortlaufende Nummerierung der Canones beizubehalten, andererseits aber auch einige der damals getroffenen Entscheidungen, die sich im Folgenden als weniger gelungen herausgestellt haben, eingehend zu modifizieren. Hierbei legt Bischof Arrieta dar, dass diese Initiative ihren Ursprung in einem Auftrag habe, den Papst Benedikt XVI. den neuen Oberen des Dikasteriums am 28. September 2007 erteilt habe.8 Nachdem der Päpstliche Rat seinen Mitgliedern und Konsultoren einen Entwurf mit verschiedenen Vorschlägen für die Reform des VI. Buches des CIC/1983 mit der Bitte um Stellungnahme zugesandt hat9, sind gegenwärtig die Bischofskonferenzen wie verschiedene kirchenrechtliche Hochschuleinrichtungen um ihre Rückmeldungen zu dem vorgelegten Entwurfstext gebeten. Wenn es in der Folge um mögliche inhaltliche Perspektiven für eine Revision des kirchlichen Strafrechts geht, soll aber keine Kaffeesatzleserei betrieben werden. Die durch Bischof Arrieta und – wie zu zeigen sein wird – durch den Papst selbst gegebenen Hinweise auf vorliegende Fragestellungen bieten für sich allein genommen Anlass zur Auseinandersetzung. In der Folge sollen hierbei mit besonderer Berücksichtigung des sexuellen Missbrauchs Minderjähriger durch Geistliche drei Aspekte näher beleuchtet werden: die Frage des geltenden Rechts, die Frage des Tatbestandes und die Frage des Verfahrensweges, bevor abschließend der Frage nachgegangen werden soll, ob es Hinweise für eine grundlegendere Neuausrichtung des kirchlichen Strafrechts gibt.

7

Vgl. kipa/apic-Meldung vom 18. 01. 2011 (kipa/r/am). Vgl. Arrieta, Kardinal Ratzinger (Anm. 6), S. 108. 9 Noch etwas zurückhaltender hatte sich vor einiger Zeit der Präsident des Päpstlichen Rates für die Gesetzestexte ausgedrückt, der in einer Einführung zu einem unter ausdrücklicher Leitung dieses Dikasteriums in Rom veranstalteten Strafrechtskongresses darauf verwiesen hat, wie notwendig eine fortgesetzte Reflexion des geltenden kirchlichen Strafrechts sei, um auch auf Zukunft sicherzustellen, dass die kirchliche Gesetzgebung tatsächlich kohärent bleibt und auf die Erfordernisse der Kirche antworte, vgl. Francesco Coccopalmerio, Introductory Remarks, in: Patricia Dugan (Hrsg.), Towards Future Developments in Penal Law: U.S. Theory and Practice, Montr¦al 2010, S. 3. 8

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II. Welches Recht gilt in Sachen des sexuellen Missbrauchs Minderjähriger durch Geistliche? Im CIC von 1983 findet sich in c. 1395 § 2 die Vorschrift, dass ein Kleriker, der andere Straftaten gegen das sechste Gebot des Dekalogs begangen hat, wenn nämlich die Straftat mit Gewalt oder mit Drohungen oder öffentlich oder mit einem Minderjährigen unter sechzehn Jahren begangen worden ist, mit gerechten Strafen zu bestrafen ist, nicht ausgeschlossen, wenn der Fall es erfordert, die Entlassung aus dem Klerikerstand.10 Weiter ist zu beachten, dass Papst Johannes Paul II. durch das Motu Proprio „Sacramentorum sanctitatis tutela“ (MP SacrSanctTut) vom 30. April 2001 neue Normen für die Kongregation für die Glaubenslehre erlassen hat11, ohne dass diese Normen im Wortlaut bekannt gegeben wurden. In Ermangelung einer besonderen Anweisung erfolgte die Promulgation des Motu Proprio zusammen mit den Normen durch die Veröffentlichung in den Acta Apostolicae Sedis am 05. November 2001. Abweichend von den allgemeinen Bestimmungen in c. 8 § 1 CIC/1983 wurden das Motu Proprio und die als „Normae de gravioribus delictis Congregationi pro Doctrina Fidei reservatis“ bezeichneten Bestimmungen aufgrund besonderer Anordnung mit der Promulgation am 05. November 2001 in Kraft gesetzt.12 Weiter kann dem Motu Proprio entnommen werden, dass die Normen in zwei Teile gegliedert sind; so schließen sich an „Normae substantiales“ sogenannte „Normae processuales“ an. Zu beachten ist, dass der Wortlaut der Normen in den Acta Apostolicae Sedis, dem offiziellen Publikationsorgan, nicht publiziert wurde, und nur dadurch bekannt wurde, „dass sie einzelnen Diözesen bereits zugeschickt wurden“13 und durch Weitergabe Verbreitung fanden. Zudem hat die Kongregation für die Glaubenslehre mit Datum vom 18. Mai 2001 zu dem genannten Motu Proprio einen „Brief an die Bischöfe der ganzen katholischen Kirche und an andere Bischöfe 10 Vgl. hierzu die Übersetzung von c. 1395 § 2 CIC durch Lüdicke im MK CIC (Stand: 35. Erg.-Lfg. November 2001). 11 AAS 93 (2001), S. 737 – 739. 12 Siehe hierzu Heribert Schmitz, Sexueller Missbrauch durch Kleriker nach kanonischem Strafrecht, in: AfkKR 172 (2003), S. 380 – 391, hier: S. 381 f., insbesondere Anmerkung Nr. 4 und 5, der hierbei auf den Schlusssatz von Abs. 7 des MP SacrSanctTut verweist: „Ipsae Normae vim legis exserunt eadem die qua promulgatae sunt“. Der Promotor iustitiae der Kongregation für die Glaubenslehre geht offenbar von einem Inkrafttreten zum 30. April 2001 aus; vgl. Charles J. Scicluna, The Procedure and Praxis of the Congregation for the Doctrine of the Faith Regarding Graviora Delicta, in: Patricia M. Dugan (Hrsg.), The Penal Process and the Protection of Rights in Canon Law, Montr¦al 2005, S. 235 – 243, hier S. 239. Für die Unsicherheiten über die zutreffende Bestimmung des Promulgations- und Inkraftsetzungszeitpunktes des MP nebst zugehöriger Normen siehe Markus Walser, Die besondere Vollmacht der Glaubenskongregation zur Derogation von Verjährungsfristen bei schwerwiegenden Straftaten von Klerikern. Inhalt der Sondervollmacht und Fragen zur Rechtskultur, in: AfkKR 175 (2006), S. 141 – 151, hier S. 146. 13 Klaus Lüdicke, Sexueller Missbrauch und kirchliches Strafrecht – eine neue Herausforderung für die kirchlichen Gerichte, in: DPM 11 (2004), S. 71 – 92, hier S. 72.

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und Hierarchen, die es angeht, über die der Glaubenskongregation vorbehaltenen schweren Straftaten“14 veröffentlicht. Dieser Brief wurde in den Acta Apostolicae Sedis abgedruckt. Das Schreiben der Kongregation für die Glaubenslehre enthält jedoch nicht die Normen im Wortlaut; es wurde lediglich der wesentliche Inhalt der neuen Normen amtlich kundgegeben.15 Mit Blick auf den CIC bestehen für die gegenwärtige Fragestellung die Änderungen des materiellen Rechts durch das Motu Proprio darin, – dass beim Verbrechen des sexuellen Missbrauchs Minderjähriger durch Geistliche das Schutzalter von sechzehn auf achtzehn Jahre angehoben wurde, – dass die Verjährungsfrist von fünf auf zehn Jahre verlängert wurde (wobei der Fristenlauf ab vollendetem 18. Lebensjahr des Opfers beginnt) und – dass klargestellt wurde, dass die Strafverfolgung der Kongregation für die Glaubenslehre reserviert ist. Beiden Texten, dem päpstlichen Motu Proprio wie dem Brief der Glaubenskongregation, ist hierbei gemeinsam, dass sie hinsichtlich der Zuständigkeit für die Verfolgung des genannten Sexualdeliktes nicht von einer Neubegründung der Zuständigkeit der Kongregation für die Glaubenslehre ausgehen, sondern die Auffassung wiedergeben, dass diese Reservierung im Jahre 2001 bereits bestanden hat.16 14 „Epistula a Congregatione pro Doctrina Fidei missa ad totius Catholicae Ecclesiae Episcopos aliosque Ordinarios et Hierarchas quorum interest: de delictis gravioribus eidem Congregatione pro Doctrina Fidei reservatis“ v. 18. 05. 2001 (AAS 93 [2001], S. 785 – 788). 15 Vgl. Heribert Schmitz, Der Kongregation für die Glaubenslehre vorbehaltene Straftaten, in: AfkKR 170 (2001), S. 441 – 462, hier S. 443. 16 Mit Blick auf die beiden Gesetzbücher ist zunächst festzustellen, dass der universalkirchliche Gesetzgeber eine Reihe von Straftaten dem Apostolischen Stuhl zur Nachlassung vorbehalten hat. Um eine solche Reservation geht es hier jedoch nicht. Dass die geltende kanonische Rechtsordnung auch einen Vorbehalt der strafrechtlichen Ahndung bestimmter Delikte kennt, findet sich lediglich an versteckter Stelle (so die Wertung durch Heribert Schmitz, Delicta graviora Congregationi de Doctrina Fidei reservata, in: DPM 9 [2002], S. 293 – 312, hier S. 297) im Zusammenhang der Verjährungsvorschriften in c. 1362 § 1 n. 1 CIC/1983 und ohne weitere Erklärung, was dieser Vorbehalt bedeutet (vgl. Klaus Lüdicke, Der Glaubenskongregation vorbehalten. Zu den neuen strafrechtlichen Reservationen des Apostolischen Stuhls, in: Andreas Weiß [Hrsg.], Flexibilitas iuris canonici [FS Puza 60], Frankfurt a.M. u. a., 2003 [AIC 28], S. 441 – 455, hier: S. 442). Deutlicher wird die Existenz solcher Vorbehalte zu Gunsten der Kongregation für die Glaubenslehre in den Spezialgesetzen für die römische Kurie zum Ausdruck gebracht. Während die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des CIC/1983 geltende Apostolische Konstitution nur von der Kompetenz dieses Dikasteriums zum Schutz des Beichtgeheimnisses sprach und auf die hierzu vorliegenden Normen verwies (vgl. Papst Paul VI., Apostolische Konstition „Regimini Ecclesiae Universae“ v. 15. 08. 1967, in: AAS 59 [1959], S. 885 – 928, hier n. 36: „Agit ad sacramenti Paenitentiae dignitatem tutandam, secundum suas emendatas et probatas normas procedens; quae quidem Ordinariis locorum significabuntur, facta reo sese defendendi facultate, eligendive patronum ex iis qui apud Congregationem approbati sunt“), ist das geltende Spezialgesetz für die Römische Kurie, die Apostolische Konstitution von Papst Johannes Paul II. „Pastor Bonus“ vom 28. 06. 1988 in dieser Hinsicht deutlicher. In Art. 52 AK Pastor Bonus heißt es: „Sie urteilt über Straftaten

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Papst Johannes Paul II. stellt hierzu auf eine bis in das Jahr 1741 zurückreichende Kontinuität der besonderen päpstlichen Gesetzgebung hinsichtlich des Schutzes der Heiligkeit der Sakramente, insbesondere des Bußsakramentes ab. Um Fälle des Beichtmissbrauches und andere damit verbundene Straftaten zu verhindern, habe die Kongregation des Heiligen Offiziums – der Vorläufer der heutigen Kongregation für die Glaubenslehre – eine auf den 16. März 1962 datierte Instruktion mit den Anfangsworten „Crimen sollicitationis“ allen Patriarchen, Erzbischöfen, Bischöfen und anderen Ortsordinarien zugestellt.17 Durch diese Instruktion18 wurde die richterliche Zuständigkeit sowohl auf dem Verwaltungsweg als auch auf dem Prozessweg für eine Reihe von Delikten exklusiv der genannten Kongregation übertragen, wie auch die Vorgehensweise in ebendiesen Straffällen festgelegt wurde.19 Ausgegen den Glauben und über schwerwiegendere Straftaten gegen die Sitten und solche, die bei der Feier der Sakramente begangen wurden, wenn diese ihr angezeigt wurden, und, wo es angebracht ist, wird sie nach Maßgabe des allgemeinen oder des besonderen Rechts kanonische Strafen feststellen oder verhängen“ (vgl. Papst Johannes Paul II., Apostolische Konstitution „Pastor Bonus” vom 28. 06. 1988, in: AAS 80 (1980), S. 841 – 934, die Wiedergabe von Art. 52 erfolgte nach der deutschen Übersetzung unter http://www.vatican.va/holy_father/ john_paul_ii/apost_constitutions/documents/hf_jp-ii_apc_19886028_pastor-bonus_ge.html (eingesehen 23. 10. 2010). 17 Vgl. Johannes Paul II., MP SacrSanctTut, Abs. 3. 18 Supremae Sacrae Congregationis Sancti Officii, Instructio de modo procedendi in causis sollicitationis „Crimen sollicitationis“, vom 16. 03. 1962, Typis Polyglottis Vaticanis 1962. Inzwischen bietet der Apostolische Stuhl eine – inoffizielle – englische Übersetzung dieser Instruktion unter http://www.vatican.va/resources/resources_crimen-sollicitationis-1962_en. html an (eingesehen 02. 11. 2010). Eine lateinische Fassung ist verfügbar unter: http:// www.bishop-accountability.org/resources/resource-files/churchdocs/CrimenLatin.pdf (eingesehen 02. 11. 2010), die zudem das der Instruktion beigegebene Formularset enthält. Wie John P. Beal dargelegt hat, stellte die Instruktion aus dem Jahr 1962 keine große Innovation dar, sondern wiederholte – bis auf wenige Ergänzungen mit Blick auf das Vorgehen gegen beschuldigte Ordensgeistliche – eine Instruktion ebendieses Dikasteriums aus dem Jahr 1922, die ebenfalls nicht veröffentlicht wurde. Siehe hierzu ausführlich John P. Beal, The 1962 Instruction Crimen sollicitationis: caught red-handed or handed a red herring?, in: Studia Canonica 41 (2007), S. 199 – 236, hier S. 201 f. 19 Die Instruktionen von 1922 und 1962 handelten hierbei in der Hauptsache von der Sollizitation. Mit diesem Begriff wird in der Kirchenrechtssprache „die Aufforderung eines Pönitenten durch einen Priester zu einer Sünde gegen das sechste Gebot des Dekalogs unter Missbrauch der Beichte“ (Wilhelm Rees, Art. Sollizitation, in: Stephan Haering/Heribert Schmitz [Hrsg.], Lexikon des Kirchenrechts, Freiburg i. Br. 2004, Sp. 900 f.) bezeichnet. Hinsichtlich der Vorgehensweise in Fällen von Sollizitation nach Maßgabe der Instruktion aus dem Jahre 1962 siehe Beal, Instruction (Anm. 18), S. 204 f. In den letzten vier Nummern (nn. 71 – 74) geht die Instruktion „Crimen sollicitationis“ auf das sogenannte „crimen pessimum“ ein. Demnach sollen die hinsichtlich der Sollizitation geltenden Vorgehensweisen – mutatis tantum pro rei natura necessario mutandis – auch für die strafrechtliche Ahndung von homosexuellen Handlungen von Kleriker wie auch für sexuelle Handlungen von Klerikern mit Kindern beiderlei Geschlechts sowie mit Tieren gelten, vgl. Instruktion „Crimen sollicitationis“ nn. 71 – 73. Zur Herkunft des Begriffes „crimen pessimum“ kann mit Beal, Instruction (Anm. 18), S. 206, auf die Vulgata-Fassung von Gen 37,2 verwiesen werden, wo es von Joseph heißt, er habe seine Brüder schlimmster Verbrechen bezichtigt. „Sie sind dort nicht spezifiziert. In der kirchlichen und kanonischen Tradition wurden sie als Homosexualität und

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drücklich stellt Papst Johannes Paul II. die Gesetzeskraft der Instruktion aus dem Jahre 1962 heraus20, wie auch der Brief der Kongregation für die Glaubenslehre konstatiert, dass die Instruktion „Crimen sollicitationis“ auch nach Inkrafttreten des CIC/ 1983 in Geltung geblieben sei, dass sie jedoch anhand der neuen kirchlichen Gesetzbücher habe überprüft werden müssen.21 Es soll an dieser Stelle nicht weiter erörtert werden, ob die Instruktion „Crimen sollicitationis“, deren Normtext geheim, aber „inhaltlich über die moraltheologische und kirchenrechtliche Fachliteratur wie aus der Priesterausbildung zumindest eine gewisse Zeit als bekannt geltend konnte“22, nach den Bestimmungen des CIC/ 1983 zum Außerkraftreten früherer Gesetze, insbesondere früheren Strafgesetze (vgl. c. 6 § 1 nn. 2 und 3 CIC/1983), bis zum Inkrafttreten der Normen aus dem Jahr 2001 tatsächlich als weiter geltend angesehen werden kann.23 Aber allein schon die Referenz auf dieses Regelwerk aus dem Jahre 1962 hat nach Ansicht von John P. Beal die meisten Beobachter und wohl auch die meisten Bischöfe in Erstaunen versetzt, gibt es doch keinerlei Belege dafür, dass der Apostolische Stuhl nach dem Losbrechen der Krise wegen der Fälle sexuellen Missbrauchs Minderjähriger durch Kleriker etwa seit Mitte der 1980er Jahre die Diözesanbischöfe an die Existenz dieses Dokuments und die Verpflichtung, es entsprechend zu befolgen, erinnert hätte.24 Verkehr mit Tieren identifiziert“ (Norbert Lüdecke, Sexueller Missbrauch von Kindern und Jugendlichen durch Priester. Statement aus kirchenrechtlicher Sicht. Erweiterte und um Belege ergänzte Fassung eines Kurzvortrags beim „Podium: Sexueller Missbrauch von Kindern in pädagogischen Einrichtungen. Informationen aus der Wissenschaft“, das am 07. Mai 2010 vom „Zentrum für Religion und Gesellschaft“ der Universität Bonn veranstaltet wurde, im Internet verfügbar [eingesehen 16. 10. 2010] unter: http://www.zerg.uni-bonn.de/veranstaltun gen/zerg-aktuell/sexueller-missbrauch-von-kindern-und-jugendlichen-durch-priester.-state ment-aus-kirchenrechtlicher-sicht-fussnoten, S. 13, Anm. 79, mit weiteren Nachweisen). 20 Vgl. Papst Johannes Paul II., MP SacrSanctTut, Abs. 3, letzter Satz: „In mente retinendum est quod huiusmodi Instructio vim legis habebat.“ 21 So wird in der „Epistula a Congregatione pro Doctrina Fidei missa ad totius Catholicae Ecclesiae Episcopos aliosque Ordinarios et Hierarchas quorum interest: de delictis gravioribus eidem Congregatione pro Doctrina Fidei reservatis“, in Abs. 2 von der Instruktion „Crimen sollicitationis“ ausgesagt, dass sie weiterhin in Geltung ist („hucusque vigens“), allerdings infolge der neuen Rechtslage der Rekognoszierung bedarf, vgl. Schmitz, Delicta (Anm. 16), S. 297. 22 Vgl. Lüdecke, Missbrauch (Anm. 19), S. 14, Anm. 82, unter Hinweis auf Beal, Instruction (Anm. 18), S. 229 f., und auf weitere Hinweise zum Stand der Verbreitung des Wissens um die Instruktion von 1962. 23 Siehe hierzu die beiden Beiträge von Joaquin Llobell, I delitti riservati alla Congregazione per la Dottrina della Fede, in: Gruppo Italiano Docenti di Diritto Canonico (a cura), Le sanzioni nella Chiesa, XXIII Incontro di Studio Abbazia di Maguzzano-Lonato (Brescia) 1 luglio – 5 luglio 1996, Milano 1997, S. 237 – 238, bzw. ders., Sulla promulgazione delle norme processuali proprie della Congregazione per la Dottrina della Fede in material penale, in: Ius Ecclesiae 9 (1997), S. 289 – 301. 24 Vgl. Beal, Instruction (Anm. 18), S. 230.

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In der Tat dürfte eine faktische Erklärung für das weitgehende Verschwinden der 1962er-Instruktion aus dem Bewusstsein auch der möglichen Rechtsanwender vor Ort darin bestehen, dass die bisherigen Informationskanäle über diese im Geheimarchiv der Kurie25 aufzubewahrenden Spezialnormen im Zuge einer um sich greifenden kirchenrechts- und kasuisitikskeptischen Mentalität in der Kirche verschüttet worden sind.26 Der Promotor Iustitiae der Kongregation für die Glaubenslehre, Prälat Charles Scicluna, räumt so auch ein, dass „es nach dem Erlass des Kodex des Kirchenrechts von 1983 eine Phase der Unsicherheit über die genaue Liste der ,delicta gravioraÐ [gab], die der Kompetenz dieses Dikasteriums vorbehalten sind. Erst mit dem ,Motu proprioÐ von 2001 ist das Vergehen der Pädophilie wieder in unsere exklusive Kompetenz zurückgekehrt“27. Eine Unsicherheit über die Zuständigkeit des Apostolischen Stuhles ergibt sich auch aus den Ausführungen, die mit „Historische Einführung zu den Normen des Motu Proprio ,Sacramentorum sanctitatis tutelaÐ (2001) 15. 07. 2010“28 überschrieben sind. In der auf der Homepage des Apostolischen Stuhles angebotenen englischen Übersetzung dieses Textes wird darauf verwiesen, dass der CIC/1983 durch die Gesetzgebung in c. 1395 § 2 ein „Update“ der gesamten Disziplin herbeigeführt habe, denn entsprechend dem CIC/1983 seien die fraglichen kirchlichen Strafprozesse in den Diözesen durchgeführt worden.29 Zu beachten ist weiter, dass die Bischöfe in den Vereinigten Staaten von Amerika im Jahre 1994 im Zusammenhang mit der Gewährung eines Indultes daran erinnert wurden, dass sie in ihren Bistümern bezüglich der hier einschlägigen Delikte kanonische Verfahren durchzuführen haben.30 Dieser faktische Befund kann mit Art.52 der Apostolischen Konstitution „Pastor Bonus“ vom 28. Juni 1988 kontrastiert werden, wonach u. a. schwerwiegende Delik25 Vor Beginn des Normtextes der Instruktion „Crimen sollicitationis“ findet sich der Hinweis: „Servanda diligenter in archivo secreto curiae pro norma interna non publicanda nec ullis commentariis augenda.“ 26 Vgl. Lüdecke, Missbrauch (Anm. 19), S. 14, unter Hinweis auf Beal, Instruction (Anm. 18), S. 230. Für die verschiedenen Problemfacetten hinsichtlich der Geheimhaltung im Kontext der Instruktion von 1962 siehe die Ausführungen von Beal, Instruction (Anm. 18), S. 227 – 235. Zusammenfassend bringt er dies wie folgt auf den Punkt: „The principal problem was not the secrecy that the instruction enjoined, but the fact that the instruction was rarely (if ever) used, and barely (if at all) known“ (Beal, Instruction [Anm. 18], S. 235). 27 Interview von Gianni Cardinali mit Msgr. Charles Scicluna, http.//vatican.va/resources/ resources_mons-scicluna-2010_ge.html, S. 2 von 4 (eingesehen 16. 09. 2010, nachfolgend zitiert als Scicluna, Interview). 28 Introduzione storica alle norme del Motu proprio „sacramentorum sanctitatis tutela“ (2001), 15. 07. 2010, http://press.catholica.va/news_services/bulletin/news/25864.php?index =25864&lang=it (eingesehen 16. 09. 2010, künftig zitiert: Introduzione). 29 Vgl. Introduzione (Anm. 28), S. 6 von 8. 30 Vgl. Introduzione (Anm. 28), S. 6 von 8.

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te gegen die Moral der ausschließlichen Strafgerichtsbarkeit der Kongregation für die Glaubenslehre unterliegen. Laut Bischof Arrieta sei diese Kompetenzzuweisung auf der Ebene der Rechtsanwendung allerdings noch unzureichend gewesen. Elementare Erfordernisse der Rechtssicherheit hätten es notwendig gemacht, zunächst einmal diejenigen schwereren Straftaten gegen die Moral konkret zu benennen, welche Pastor Bonus der richterlichen Zuständigkeit der Ordinarien entzogen und nunmehr der Kongregation zugewiesen habe.31 Diese konkrete Benennung der schwerwiegenden Delikte, die der Glaubenskongregation vorbehalten sind, sei hierbei durch den Erlass von „Normae de gravioribus delictis Congregationi pro Doctrina Fidei reservatis“ durch das Motu proprio „Sacramentorum sanctitatis tutela“ vom 30. April 2001 erfolgt. Nach Auffassung von Bischof Arrieta haben erst diese Bestimmungen aus dem Jahre 2001 dazu geführt, dass Art. 52 der Apostolischen Konstitution „Pastor Bonus“ wirksam geworden ist32, „indem sie konkret festlegten, welche Straftaten gegen die Moral und welche bei der Feier der Sakramente begangenen Straftaten als ,besonders schwerwiegendÐ zu gelten haben und daher der ausschließlichen Gerichtsbarkeit der Kongregation für die Glaubenslehre unterliegen“33. Mit Blick auf diese beträchtlichen Unsicherheiten ist es dann letztlich schon nachvollziehbar, dass der Apostolische Stuhl an seine dem Grundsatz nach nicht aufgegebene exklusive Zuständigkeit erst dann erinnert hat, als durch die Normen aus dem Jahre 2001 hierfür formalrechtlich eine Grundlage gegeben war.34 Am 15. Juli 2010 hat der Präfekt der Kongregation für die Glaubenslehre die Bischöfe der Katholischen Kirche und andere betroffene Ordinarien und Hierarchen mit einem bereits auf den 21. Mai 2010 datierten Schreiben darüber informiert, dass es zu einer Veränderung der „Normae de gravioribus delictis“ gekommen ist. Hierbei stellt der Präfekt dieses Dikasteriums darauf ab, dass es die Kongregation für erforderlich gehalten habe, die „Normae de gravioribus delictis“ in einigen Punkten zu überarbeiten. Papst Benedikt XVI. habe den Vorschlag zur Überarbeitung der Normen approbiert und die Promulgation der veränderten Normen am 21. Mai 2010 angeordnet35, was durch Abdruck in der im Dezember 2010 ausgelieferten Ausgabe 31

Vgl. Arrieta, Kardinal Ratzinger (Anm. 6), S. 113 f. Vgl. Arrieta, Kardinal Ratzinger (Anm. 6), S. 115. 33 Arrieta, Kardinal Ratzinger (Anm. 6), S. 115. 34 Vgl. Introduzione (Anm. 28), S. 6 von 8. Wenn man davon ausgeht, dass die Reservationen unbeschadet des Inkrafttretens des CIC/1983 bestanden, hätte dies jedoch nicht die Nichtigkeit etwaiger diözesangerichtlichen Strafurteilen wegen Vergehen im Sinne des c. 1395 § 2 CIC/1983 zur Folge. Die Reservation durch die Instruktion „Crimen sollicitationis“ hatte allerdings die Folge, dass Diözesangerichte nicht aufgrund eigenen Rechts, sondern aufgrund gesetzlicher Delegation (delegatio a iure) tätig werden konnten, vgl. hierzu die Instruktion „Crimen sollicitationis“, n. 2, ohne dass diese Gerichte von dem besonderen Charakter der ihnen zukommenden potestas iudicialis Kenntnis haben mussten. 35 Vgl. hierzu den Brief des Präfekten der Kongregation für die Glaubenslehre vom 21. Mai 2010. 32

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der Acta Apostolicae Sedis vom 02. Juli 2010 sodann erfolgt ist.36 Veröffentlicht wurden neben dem neugefassten Normtext zudem ein Rescriptum ex Audientia vom 21. Mai 2010, in dem der Promulgationsbefehl des Papstes enthalten ist, sowie der bereits erwähnte Brief des Präfekten der Kongregation für die Glaubenslehre vom 21. Mai 2010 und zudem eine kurze Erläuterung der eingeführten Änderungen der Normen.37 Hinsichtlich des Zeitpunkts des Inkrafttretens dieser neuen Normen ist aus dem erwähnten Rescriptum ex Audientia zu entnehmen, dass die neuen Normen „illico ligent“, also „sogleich binden“ was gemäß c. 8 § 1 CIC/1983 als Festlegung des Beginns der Verpflichtungskraft zu verstehen ist. Im konkreten Fall bedeutet dies, dass diese Normen bei ihrer öffentlichen Vorstellung im Juli 2010 bereits seit dem 21. Mai 2010 in Kraft waren. Mit Blick auf den Inhalt der veränderten Normen kann auf die hilfreiche Zusammenfassung verwiesen werden, die von der Kongregation für die Glaubenslehre als Anhang des o. g. Briefes vom 21. Mai 2010 vorgelegt worden ist. Dort ist auch dargelegt, dass sich diese Veränderungen an verschiedene Vollmachten anschließen, die von Papst Johannes Paul II. der Kongregation für die Glaubenslehre gewährt und die von seinem Nachfolger im Papstamt bestätigt wurden. Auf diese Weise greifen die neuen Normen ein aus Gründen der Rechtssicherheit besonders drängendes Desiderat auf. Denn nach Inkrafttreten der Normen am 05. November 2001 sind der Kongregation für die Glaubenslehre eine Reihe von Sondervollmachten gewährt worden, ohne dass eine offizielle Bekanntmachung dieser Sondervollmachten erfolgt wäre, darunter etwa die aus strafrechtssystematischer Hinsicht besonders bemerkenswerte Vollmacht, fallweise, auf Grund des Ansuchens einzelner Bischöfe, die Verjährungsfristen bei delicta graviora von Klerikern aufzuheben.38 Ungeachtet der unterbliebenen offiziellen Bekanntmachung blieben diese wie andere Sondervollmachten jedoch nicht geheim, sondern fanden über verschiedene inoffizielle bis offiziöse Wege eine gewisse, aber keineswegs umfassende Verbreitung.39 36

Vgl. AAS 102 (2010), S. 419 – 430. Vgl. AAS 102 (2010) S. 432 ff. Auch dieses Dokument ist im Internet verfügbar: http:// www.vatican.va/resources/resources_rel-modifiche_ge.html (eingesehen 26. 10. 2010). 38 Für die nicht nur hinsichtlich der Vollmacht zur Derogation, sondern insgesamt problematische Frage der Verjährung siehe – mit weiteren Nachweisen – die Ausführungen von Peter Platen, Das kirchliche Strafrecht – eine (leider?) vernachlässigte Disziplin – Überlegungen zur kirchenrechtlichen Ahndung des sexuellen Missbrauchs Minderjähriger durch Geistliche, in: KuR (Neuwied) 16 (2010), S. 192 – 209 (330). 39 Siehe hierzu die instruktiven Beiträge von Francis G. Morrissey, Penal Law in the Church Today: New Roman Documents Complementing the Code of Canon Law, in: Patricia M. Dugan (Hrsg.), Advocacy Vademecum, Montreal 2006, S. 33 – 47, sowie ders., Penal Law in the Church Today: Recent Jurisprudence and Instructions, ebd., S. 49 – 66. Vgl. zudem Lüdicke, MK CIC, Einführung vor 1717, Rdnr. 9 (Stand: 37. Erg.-Lfg. Dezember 2003). Walser, Vollmacht (Anm. 12), S. 142, fragt daher, ob Vorträge oder Merkblätter des Promotor iustitiae der Glaubenskongregation eine Promulgation in den Acta Apostolicae Sedis ersetzen, und verweist hierzu auf den Umstand, dass den Teilnehmern der deutschsprachigen Offizia37

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Da nun aber in den geänderten „Normae de gravioribus delictis“ vom 21. Mai 2010 die in der Zwischenzeit ergangenen Sondervollmachten in den Normtext selbst eingefügt sind, kommt es für die Kenntnis des Rechts nicht mehr auf besondere Fertigkeiten in der „archeologia legislativa“40 oder auf die Weitergabe von Vortragsmanuskripten an. Das kann nur begrüßt werden. Angesichts der aufgezeigten Ungewissheiten über das geltende Recht sollte der Gesetzgeber die bevorstehende Revision des kirchlichen Strafrechts hinsichtlich der von ihm zu treffenden Entscheidungen über Bekanntmachung, Promulgation und Inkrafttreten der dann neugefassten Normen daher in der Weise durchführen, dass die Gesetzesunterworfenen zu keinem Zeitpunkt in Unkenntnis über das jeweils geltende Strafrecht sind. III. Die Frage des erfassten Tatbestandes An dieser Stelle soll nicht das wiederholt werden, was vor allem Klaus Lüdicke und Heribert Schmitz völlig zu Recht hinsichtlich der Fassung des gesetzlichen Tatbestandes durch den Gesetzgeber des CIC/1983 wie der „Normae de gravioribus delictis Congregationi pro Doctrina Fidei reservatis“ ausgeführt haben.41 Im Kern geht es hierbei darum, ob durch das Abstellen des Gesetzgebers auf eine „Sünde gegen das sechste Gebot des Dekalogs“ eine sachgerechte Erfassung von Sexualstraftaten möglich ist. Noch vor wenigen Jahren ist Bernd Eicholt im Rahmen seiner juristischen Dissertation mit Blick auf die Strafbestimmung des c. 1395 § 2 CIC/1983 zu dem Ergebnis gekommen, dass diese Norm hinreichend konkret sei, mithin keinen Verstoß gegen den Grundsatz der inhaltlichen Bestimmtheit des Gesetzes – nulla poena sine lege certa – darstelle.42 Der Gesetzgeber hat nach meiner Auffassung mit der Neufassung der einschlägigen Normen vom 21. Mai 2010 indes einen Beleg dafür geliefert, dass die grundsätzliche Kritik von Lüdicke und Schmitz an der Fassung des Tatbestandes weiterhin berechtigt ist. So erklären die Normen in der Fassung vom 21. Mai 2010 in Art. 6 § 1 lenkonferenz im Oktober 2005 ein mit der Jahreszahl 2004 versehenes Merkblatt der Kongregation für die Glaubenslehre mit dem Titel „Delicta graviora. Verfahren und Praxis der Kongregation für die Glaubenslehre“ überreicht worden sei, in dem von der erwähnten Sondervollmacht hinsichtlich der Verjährungsvorschriften die Rede sei. Siehe hierzu auch Scicluna, Procedure (Anm. 12) S. 235 – 243. 40 Vgl. Llobell, Norme (Anm. 23), S. 299. 41 Siehe hierzu Lüdicke, Missbrauch (Anm. 13), S. 73 ff.; Lüdicke, MK CIC, 1395, 3 – 6 (Stand: 37. Erg.-Lfg. Dez. 2003); Schmitz, Missbrauch (Anm. 12), S. 383 – 388; Wilhelm Rees, Sexueller Missbrauch von Minderjährigen durch Kleriker, in: AfkKR 172 (2003), S. 392 – 426, hier S. 402. 42 Vgl. Bernd Eicholt, Geltung und Durchbrechung des Grundsatzes „Nullum crimen nulla poena sine lege“ im kanonischen Recht, insbesondere in c. 1399 CIC/1983 (AIC 39), Frankfurt a.M. u. a. 2006, S. 99.

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n. 2 den Erwerb, die Aufbewahrung und die Verbreitung pornographischer Bilder von Minderjährigen unter vierzehn Jahren43 in jedweder Form und mit jedwedem Mittel durch einen Kleriker in übler Absicht für tatbestandsmäßig. Bis zur Änderung der Normen durch Entscheidung vom 21. Mai 2010 wurden nach Auskunft des Promotor Iustitiae der Kongregation für die Glaubenslehre verschiedene als „indirekter Missbrauch“ qualifizierte Sachverhalte wie die Vorführung von Pornographie gegenüber Minderjährigen oder exhibitionistische Handlungen vor Minderjährigen44 in der Praxis der Kongregation ebenso als delictum gravius bewertet wie der Besitz oder der Internet-Download von Kinderpornographie45. Insofern die letztgenannten Sachverhalte in den neuen Normen zu eigenen Tatbeständen erklärt worden sind, dürften die erstgenannten Formen eines „indirekten Missbrauchs“ daher unter den Tatbestand „Straftat gegen das sechste Gebot mit einem Minderjährigen unter 18 Jahren“ fallen. Dass der Promotor Iustitiae aber überhaupt darlegt, welche Sachverhalte auch als tatbestandsmäßig erachtet werden, ist ein eindeutiger Hinweis darauf, dass die bisherige Bestimmung der erfassten Tatbestände außerhalb der Kongregation für die Glaubenslehre bislang nicht in der intendierten Deutlichkeit wahrgenommen wurde. Konkret dürfte diese mangelnde Klarheit über die tatbestandsmäßigen Verhaltensweisen dazu geführt haben, dass an sich notwendige Voruntersuchungen unterblieben sind, verbunden mit dem Ausfall der strafrechtlichen Würdigung des strafbaren Verhaltens. Dies ist ein mehr als bedauerlicher Umstand. Eine Neufassung des kirchlichen Strafrechts sollte von daher dazu genutzt werden, eine eindeutige Fassung der Tatbestände vorzunehmen und nunmehr „Klartext“ zu schreiben. Eine Orientierung an weltlich-rechtlichen Strafgesetzen wäre mit Blick auf die Rechtssicherheit gewiss kein Schaden. Dass solche Präzisierungen möglich sind, zeigt zum einen die Erfassung verschiedener Straftatbestände im Bereich der Kinderpornographie, zum anderen die eindeutige Fassung der Tatbestände, die der Kongregation für die Glaubenslehre mit Blick auf die verbotene Gottesdienstgemeinschaft im Sinne des c. 1365 CIC/1983 zur Verfolgung vorbehalten sind. Das seit einigen Wochen vorliegende Schema der Strafrechtsreform ist in dieser Hinsicht allerdings eine Enttäuschung. In der vorgesehenen Neufassung des c. 1395 § 2 CIC ist 43 Das deutsche Strafrecht differenziert Verbreitung, Erwerb und Besitz kinderpornographischer Schriften von ebensolchen Handlungen mit jugendpornographischen Schriften, auch hinsichtlich des Strafmaßes (vgl. § 184 b StGB und § 184 c StGB). Insofern die Normae in der Fassung vom 21. Mai 2010 in diesem Zusammenhang das Schutzalter auf 14 Jahre festlegen, kann der Erwerb, die Verbreitung und die Aufbewahrung jugendpornographischer Bilder jedenfalls nicht als delictum gravius angesehen werden, mit Konsequenzen für die Begründung einer Strafbarkeit entsprechender Verhaltensweisen. Auch von hier aus wäre es de lege ferenda wünschenswert, wenn im kanonischen Recht eine Umschreibung der gesetzlichen Tatbestände hinsichtlich des sexuellen Missbrauchs in der Deutlichkeit vorgenommen würde, wie dies in weltlichen Strafgesetzen der Fall ist. 44 Vgl. Scicluna, Procedure (Anm. 12), S. 238. 45 Vgl. ebd.

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weiter vorgesehen, von einem Delikt gegen das sechse Gebot des Dekalogs zu sprechen. IV. Die Entscheidung über den Verfahrensweg Wenn nun drittens auf die Entscheidung über den Verfahrensweg zu sprechen sein wird, erfolgt dies im Bewusstsein, dass es angesichts der hier in Rede stehenden Verbrechen kein populäres Anliegen ist, auf den Rechtsschutz und die Verteidigungsmöglichkeiten der Beschuldigten hinzuweisen. Die Möglichkeit, bei delicta graviora anstelle von Strafprozessen Verwaltungsstrafverfahren durchzuführen, geht auf die Gewährung einer Sondervollmacht des Papstes an den Präfekten der Kongregation für die Glaubenslehre zurück und ist nunmehr fester Bestandteil der Normen in der Fassung vom 21. Mai 2010. In einem Rundschreiben der Kongregation für die Glaubenslehre vom 03. Mai 2011 wird als Zielsetzung für diese im Jahre 2003 erteilte Sondervollmacht die Ermöglichung einer größeren Flexibilität in der Durchführung von Strafprozessen bei delicta graviora genannt.46 Dieses Anliegen einer größeren Flexibilität bei der Durchführung von Strafprozessen findet sich bereits in einem von Bischof Arrieta bekannt gemachten Briefwechsel zwischen den Kardinälen Ratzinger und Castillo Lara aus dem Jahre 1988 ausgedrückt. Hier war es der jetzige Papst, der von Kardinal Castillo Lara wissen wollte, „welche Möglichkeit bestehen könnte, in bestimmten Fällen ein schnelleres und vereinfachtes Verfahren vorzusehen“47. Der frühere Präfekt der Kongregation für die Glaubenslehre nahm vor allem daran Anstoß, dass bei Priestern, die sich schwerer und skandalöser Verhaltensweisen schuldig gemacht haben, wegen der Schwierigkeiten bei der Durchführung eines Strafprozesses gelegentlich auf das freiwillige Ansuchen des Schuldigen zurückgegriffen wurde, das Priestertum zu verlassen. Auch wenn auf beiden Wegen dasselbe Ergebnis, die Entfernung aus dem Klerikerstand, erreicht wurde, habe der „einfachere“ Weg über das Bittgesuch des Priesters nach Meinung des früheren Präfekten der Kongregation für die Glaubenslehre aber das Wohl der Gläubigen außer Acht gelassen. Bischof Arrieta legt dar, dass die Berücksichtigung des Wohles der Gläubigen das zentrale Anliegen der Anfrage des späteren Papstes gewesen sei. Aus dieser Rücksicht sei es verständlich, weshalb sich Kardinal Ratzinger dafür eingesetzt habe, dass in den dargestellten Fällen der Verhängung gerechter Strafen gegenüber freiwilligen Vorgehensweisen der Vorrang eingeräumt werden sollte.48

46 Vgl. Kongregation für die Glaubenslehre, Rundschreiben vom 03. Mai 2011 (eingesehen 13. 06. 2011 unter: http://www.vatican.va/roman_curia/congregations/cfaith/documents/rc _con_cfaith_doc_20110503_abuso-minori_ge.html). 47 Anfrage von Kardinal Ratzinger vom 19. 02. 1988, zitiert nach: Arrieta, Kardinal Ratzinger (Anm. 6), S. 111. 48 Arrieta, Kardinal Ratzinger (Anm. 6), S. 111.

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Der angefragte Präsident der (seinerzeit so bezeichneten) Päpstlichen Kommission für die Interpretation von Gesetzestexten hat das Grundanliegen Kardinal Ratzingers, dass strafrechtliche Sanktionen der Gewährung von Gnadenentscheidungen vorzuziehen sind, zwar geteilt, aber ebenso deutlich gemacht, dass die Vorschriften des geltenden Codex in der gebotenen Weise zu beachten sind. Nach Auffassung von Kardinal Castillo Lara sei es sogar gänzlich unangemessen, das gerichtliche Verfahren zur Verhängung oder Feststellung derart schwerer Strafen wie der Entlassung aus dem Klerikerstand weiter zu vereinfachen. Der Schutz des allgemeinen Wohls der Gläubigen sollte daher nicht auf dem Weg der Streichung einiger Verfahrensgarantien, sondern durch die Ermahnung an die Verantwortlichen, das geltende Recht anzuwenden, befördert werden.49 Mit anderen Worten: die Bitte Kardinal Ratzingers um Reform des Strafverfahrens wurde abgelehnt. Im Kontext der aktuell bevorstehenden Revision des kirchlichen Strafrechtes dürfte die Dokumentation der seinerzeit unerfüllten Forderungen von Kardinal Ratzinger neben dem Aufzeigen der Konsistenz in der Argumentation nun allerdings bedeuten, dass der bislang aus den Vorschriften der cc. 1718 § 1 n. 3 und 1342 § 1 CIC/ 1983 herauszulesende Vorrang für die Strafverhängung auf dem Wege eines Strafprozesses gegenüber der Strafverhängung auf dem Verwaltungswege bald der Kirchenrechtsgeschichte angehören und wohl auch aus dem Wortlaut der kodikarischen Bestimmungen gestrichen wird.50 Hierbei ist es gerade die von Kardinal Castillo Lara als unangemessen bewertete Streichung von Verfahrensgarantien, die die Durchführung eines Verwaltungsstrafverfahrens anstelle eines Strafprozesses, gerade für den Beschuldigten, heikel macht,

49

Vgl. Arrieta, Kardinal Ratzinger (Anm. 6), S. 112 f., unter Hinweis auf die Antwort durch Kardinal Castillo Lara vom 10. März 1988. 50 Nicht weiter eingegangen werden soll an dieser Stelle auf die von Bischof Arrieta erwähnten Vollmachten der Kongregation für die Evangelisierung der Völker wie der Kongregation für den Klerus, die es den genannten Dikasterien bereits seit 1997 bzw. in der Folgezeit – gemeint ist das Jahr 2009 – erlauben, in bestimmten Fällen von Straftaten auf dem Verwaltungsweg einzuschreiten, vgl. Arrieta, Kardinal Ratzinger (Anm. 6), S. 115 f. Am 18. April 2009 hat der damalige Präfekt der Kongregation für den Klerus, Claudio Kardinal Hummes, einen Brief „an alle Ordinarien an ihrem jeweiligen Sitz“ gerichtet, in dem er den Adressaten Mitteilung macht von neuen Vollmachten, die der Heilige Vater am 30. Januar 2009 der Kongregation erteilt hat; siehe hierzu ausführlich Stephan Haering, Verlust des klerikalen Standes. Neue Rechtsentwicklungen durch päpstliche Sondervollmachten der Kongregation für den Klerus, in: AfkKR 178 (2009), S. 369 – 395. Angesichts der durch das MP SacrSanctTut begründeten Zuständigkeit der Kongregation für die Glaubenslehre ist bemerkenswert, dass die Kongregation für den Klerus unter anderem eine Vorgehensweise für die strafweise Entlassung aus dem Klerikerstand von Klerikern vorsieht, die eine – wenn auch nur zivile Ehe – geschlossen haben oder die sich im Sinne von c. 1395 §§ 1 u. 2 CIC/1983 auf schwerwiegende Weise gegen das sechste Gebot verfehlt haben. Auf die naheliegende Frage nach der Koordination dieser Spezialbefugnisse der Kongregation für den Klerus mit den Zuständigkeiten der Kongregation für die Glaubenslehre kann an dieser Stelle nicht weiter eingegangen werden.

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da das Grundrecht auf Verteidigung gefährdet wird.51 Diese Problematik ist in der Literatur schon mehrfach aufgezeigt worden.52 In welche Richtung sich die Gewährleistung des Rechtsschutzes Beschuldigter künftig entwickeln könnte, kann den Ausführungen von Bischof Arrieta entnommen werden, der darauf hingewiesen hat, dass die Erfahrung gezeigt habe, dass „einige der Rechtsschutzmechanismen des Codex nicht in dem von der Gerechtigkeit zum Schutz der Rechte geforderten Ausmaß unverzichtbar waren und daß man sie durch andere, der kirchlichen Realität besser entsprechende Garantien hätte ersetzen können; in verschiedenen Fällen stellten die besagten Mechanismen sogar ein objektives, aufgrund der beschränkten Mittel manchmal unüberwindliches Hindernis für die wirkliche Anwendung des Strafrechts dar“.53 Diese Linie findet sich auch im Rundbrief der Kongregation für die Glaubenslehre vom 03. Mai 2011 wieder, worin hinsichtlich des Verfahrensweges und der Wahrung des Verteidigungsrechtes Folgendes gesagt wird: „Wenn sich die Anschuldigung als glaubwürdig erweist, muss der Fall an die Glaubenskongregation übermittelt werden. Nach Studium der Angelegenheit wird die Glaubenskongregation den Bischof oder höheren Oberen anweisen, wie weiter zu verfahren ist. Zugleich wird sie Hilfestellung leisten, um zu gewährleisten, dass geeignete Maßnahmen ergriffen werden. Dabei wird sowohl für ein gerechtes Verfahren für die beschuldigten Kleriker gesorgt, in dem ihr fundamentales Verteidigungsrecht gewahrt wird, als auch das Wohl der Kirche, einschließlich des Wohls der Opfer, sichergestellt. In diesem Zusammenhang ist daran zu erinnern, dass die Verhängung einer unbefristeten Strafe, wie etwa die Entlassung aus dem Klerikerstand, normalerweise ein gerichtliches Strafverfahren erfordert. Nach kanonischem Recht (vgl. 1342 can. CIC) können die Ordinarien unbefristete Strafen nicht durch außergerichtliches Dekret verhängen. Zu diesem Zweck müssen sie sich an die Glaubenskongregation wenden, der es zukommt, ein endgültiges Urteil über die Schuld und über eine eventuelle Ungeeignetheit des Klerikers für den pastoralen Dienst zu fällen und die entsprechende unbefristete Strafe zu verhängen.“ (SST Art. 21 § 2)54

Dass das fundamentale Verteidigungsrecht des Beschuldigten innerhalb des Verfahrens gewahrt werden soll, ist eine Zusage, die im Zuge der Revision des Strafrechtes durch die Festschreibung entsprechender Bestimmungen erst noch umzusetzen 51

Dies war jedenfalls die Auffassung von Kardinal Castillo Lara, vgl. Arrieta, Kardinal Ratzinger (Anm. 6), S. 112 f., wo die Äußerung des Präsidenten der Päpstlichen Kommission im Wortlaut dokumentiert ist. 52 Vgl. Rik Torfs, Die Entlassung aus dem Klerikerstand im Strafrecht, in: Andreas Weiß (Hrsg.), Flexibilitas iuris canonici (FS Puza 60), Frankfurt a.M. u. a., 2003 (AIC 28), S. 477 – 497, hier: S. 490 f.; Gregory Ingels, Dismissal from the Clerical State. An Examination of the Penal Process, in: Studia Canonica 33 (1999), S. 169 – 212, hier S. 190. Siehe auch Hugo Schwendenwein, Probleme um die disziplinäre Verantwortung im kirchlichen Dienst. Zur Frage der Unterscheidung von Straf- und Disziplinarstrafrecht, in: Anna Egler/Wilhelm Rees (Hrsg.), Dienst an Glaube und Recht (FS May), Berlin 2006 (KStuT 52), S. 611 – 634, hier S. 617, wonach auch eine sorgfältige Beweiserhebung bei einem prozessualen Vorgehen gewährleistet sei. 53 Arrieta, Kardinal Ratzinger (Anm. 6), S. 109. 54 Kongregation für die Glaubenslehre, Rundschreiben vom 03. Mai 2011 (Anm. 46).

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ist. Ansonsten bliebe der Haupteinwand von Kardinal Castillo Lara gegen die auf dem Verwaltungswege erfolgende Entlassung aus dem Klerikerstand weiter aktuell. So oder so wird das Ergebnis der Reform des kirchlichen Strafverfahrensrechtes auch unter von Rik Torfs aufgezeigten Perspektive zu analysieren sein, wonach die Art und Weise des Umgangs mit einer Strafe wie der Entlassung aus dem Klerikerstand überraschend viel über das Selbstverständnis der Kirche und ihres Rechtssystems aussagt.55 Hierbei sollte der von Friedrich Wilhelm Graf im Anschluss an Harold Berman56 formulierte Hinweis auf die einstige Bedeutung des kanonischen Rechts für die Entwicklung rationaler Rechtsnormen Ansporn sein, bei der Ausgestaltung des strafrechtlichen Umgangs mit den Verbrechen einzelner Geistlicher nicht hinter den prozeduralen Legitimitätsstandards rechtstaatlichen Rechts zurückzubleiben.57 V. Fortschreibung des Grundansatzes oder doch grundlegende Neuausrichtung des kirchlichen Strafrechts? Abschließend möchte ich nun viertens fragen, ob es bei der anstehenden Strafrechtsreform zu einer Fortschreibung des Grundansatzes oder doch eher um eine grundlegende Neuausrichtung des kirchlichen Strafrechts kommt. Bereits vor den Veröffentlichungen von Bischof Arrieta ließen sich in verschiedenen päpstlichen Äußerungen Hinweise auf eine Unzufriedenheit des Papstes mit dem bestehenden Strafrecht der Kirche finden. So spricht Papst Benedikt XVI. in seinem Hirtenbrief an die Katholiken in Irland vom 19. März 2010 davon, dass es „die wohlmeinende, aber fehlgeleitete Tendenz [gab], Strafen für kanonisch irreguläre Umstände zu vermeiden“58. In dieselbe Richtung zielen Äußerungen des Papstes aus dem Interviewbuch von Peter Seewald, in dem der Papst auf einen ihm gegebenen Hinweis des Erzbischofs von Dublin aufmerksam macht: „Er sagte, dass das kirchliche Strafrecht bis in die späten 50er Jahre hinein funktioniert hat; es war zwar nicht vollkommen – vieles ist daran zu kritisieren – , aber immerhin: Es wurde angewandt. Doch seit der Mitte der 60er Jahre wurde es einfach nicht mehr angewandt. Es 55

Vgl. Torfs, Entlassung (Anm. 52), S. 478. Vgl. Harold J. Berman, Recht und Revolution. Die Bildung der westlichen Rechtstradition, Frankfurt a.M. 1991 (Titel der Originalausg.: Law and Revolution. The Formation of the Western Legal Tradition, Cambridge, Mass. u. a. 1983). 57 Vgl. hierzu den Beitrag von Friedrich Wilhelm Graf, Das Elend eines kirchlichen Strafrechts, in: FAZ vom 05. 04. 2001, S. 31, in dem Graf auf ein jüngst ergangenes Urteil der Disziplinarkammer der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern einging. 58 Papst Benedikt XVI., Hirtenbrief an die Katholiken in Irland vom 19. 03. 2010, Punkt 4, in deutscher Übersetzung vorgelegt als Pressemitteilung der Deutschen Bischofskonferenz vom 20. 03. 2010, S. 3, siehe auch: http://www.vatican.va/holy_father/benedict_xvi/letters/2010/documents/hf_ben-xvi_let_20100319_church-ireland_ge.html (eingesehen 10. 11. 2010). 56

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herrschte das Bewusstsein, die Kirche dürfe nicht Rechtskirche, sondern müsse Liebeskirche sein; sie dürfe nicht strafen. So war das Bewusstsein dafür, dass Strafe ein Akt der Liebe sein kann, erloschen. Damals kam es auch bei ganz guten Leuten zu einer merkwürdigen Verdunkelung des Denkens.“59 Und weiter, möglicherweise programmatisch für die anstehende Revision des kirchlichen Strafrechts: „Heute müssen wir wieder neu erlernen, dass die Liebe zu dem Sünder und die Liebe zu dem Geschädigten dadurch im rechten Ausgleich stehen, dass ich den Sünder in der Form bestrafe, die möglich und die angemessen ist. Insofern gab es in der Vergangenheit eine Bewusstseinsänderung, durch die eine Verdunkelung des Rechts und der Notwendigkeit von Strafe eingetreten ist – letztendlich auch eine Verengung des Begriffs von Liebe, die eben nicht nur Nettigkeit und Artigkeit ist, sondern die in der Wahrheit ist. Und zur Wahrheit gehört auch, dass ich denjenigen strafen muss, der gegen die wirkliche Liebe gesündigt hat“60 – so im Wortlaut Papst Benedikt XVI. Es soll an dieser Stelle nicht unterschlagen werden, dass sich vergleichbare Äußerungen bereits bei Papst Johannes Paul II. finden, nach dessen Auffassung auch die Verhängung einer Strafe als eine pastorale Maßnahme zu verstehen sei.61 Auch wurde von einzelnen Kanonisten durchaus festgestellt, dass im Kirchenrecht eine Kultur entstanden sei, bei der Verhängung einer Strafe eine geringere Rolle zugemessen werde, als vom Gesetzgeber ursprünglich beabsichtigt worden sei.62 Es liegt daher ganz auf der Linie der angeführten päpstlichen Äußerungen, wenn Bischof Arrieta im Zusammenhang der Skizzierung der anstehenden Revision des kirchlichen Strafrechts auch auf „einige Canones des Codex selbst“ verweist, in denen sich Ermahnungen zur Toleranz fänden, die „bisweilen – freilich zu Unrecht – als Anregung an den Ordinarius interpretiert werden könnten, von der Verhängung

59 Benedikt XVI., Licht der Welt. Der Papst, die Kirche und die Zeichen der Zeit. Ein Gespräch mit Peter Seewald, Freiburg i. Br. u. a. 2010, S. 42 f. 60 Benedikt XVI., Gespräch Seewald (Anm. 59), S. 43. 61 Vgl. P¦ter Erdö, Die Wirksamkeit des kanonischen Strafsystems. Fragen zur Verhängung von Strafen auf dem Verwaltungsweg, in: Winfried Aymans/Stephan Haering/Heribert Schmitz (Hrsg.), Iudicare inter fideles (FS Geringer), St. Ottilien 2002, S. 77 – 91, hier S. 87, unter Hinweis auf Johannes Paul II., Ansprache an die Rota Romana zur Eröffnung des Gerichtsjahres vom 18. Januar 1990, in: AAS 82 (1990), S. 873 f., Nr. 3. 62 Vgl. Torfs, Entlassung (Anm. 52), S. 486. In eine vergleichbare Richtung zielt der Hinweis von Lüdicke, wonach der über die Grenzen der Strafgesetzgebung handelnde c. 1317 CIC/1983 mit Blick auf die gesetzgeberische Androhung von Strafen für definierte Tatbestände nicht als Einschränkung, sondern als Gesetzgebungsauftrag formuliert sei; vgl. Lüdicke, MK CIC, 1317, 5. (Stand: 18. Erg.-Lfg. Juli 1992). In deutscher Übersetzung nach dem Münsterischen Kommentar (Stand: 18. Erg.-Lfg. Juli 1992) lautet c. 1317 CIC/1983: „Strafen sollen soweit festgesetzt werden, wie sie wirklich notwendig sind, um für die kirchliche Disziplin angemessen vorzusorgen. Die Entlassung aber aus dem Klerikerstand kann durch ein Partikulargesetz nicht festgesetzt werden.“

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der Strafsanktionen abzusehen, wo diese aus Gründen der Gerechtigkeit erforderlich wären“63 – so Bischof Arrieta. In Rede dürfte hier vor allem die Vorschrift des c. 1341 CIC/198364 stehen, worin der Gesetzgeber der Strafe nur einen subsidiären Charakter beimisst. So soll der Ordinarius gegen einen Straftäter nur dann ein Strafverfahren einleiten, wenn die in dieser Norm genannten Strafziele der Behebung des Ärgernisses, der Wiederherstellung der Gerechtigkeit und der Besserung des Täters weder durch eine brüderliche Zurechtweisung, noch durch Tadel, noch auf anderen Wegen pastoraler Sorge erreicht werden können. Wenn es im Zuge der anstehenden Revision des Strafrechtes darum geht, dass gegenwärtig bestehende Hürden für die faktische Verhängung von Strafen abgebaut werden sollen, wird weiter daran zu denken sein, dass der Gesetzgeber künftig von dem Institut fakultativer Strafen65 absieht, bei denen es dem Richter oder Ordinarius überlassen ist, ob er über strafbare Täter eine Strafe verhängt oder nicht, und statt dessen flächendeckend obligatorische Strafen vorsieht. Das vorliegende Schema bestätigt sowohl die Modifikation von c. 1341 CIC wie den Rückbau der fakultativen Strafen. Auf den Punkt gebracht mögen angesichts der angeführten Äußerungen Papst Benedikts XVI. über die Zwecke kirchlichen Strafens daher Zweifel angebracht sein, ob die avisierte Reform der kirchlichen Strafrechtsordnung – wie Bischof Arrieta ausführt – tatsächlich den bisherigen Grundansatz beibehält.66 Oder anders ausgedrückt: die von der kanonistischen Literatur begründet vorgetragenen Anforderungen an eine „konzilsgemäße Strafrechtstheorie“67 müssen vor diesem Hintergrund zumindest teilweise als überholt bezeichnet werden. Aufgrund der deutlichen Positionierung des Papstes dürften durchgreifende Abstriche an dieser Neuausrichtung wenig wahrscheinlich sein. Mit Blick auf die Frage einer eindeutigen Fassung der Tatbestände wie auf die Festschreibung von Rechtsschutzstandards auch in Verwaltungsstrafverfahren mag man hingegen weiterhin auf die Überzeugungskraft der Argumente setzen können, 63

Arrieta, Kardinal Ratzinger (Anm. 6), S. 110. In deutscher Übersetzung nach dem Münsterischen Kommentar (Stand: 22. Erg.-Lfg. November 1993) lautet diese Norm: „Der Ordinarius soll für die Durchführung eines gerichtlichen oder verwaltungsmäßigen Verfahrens zur Verhängung oder Erklärung von Strafen nur dann sorgen, wenn er erkannt hat, daß weder durch brüderliche Zurechtweisung noch durch Tadel noch auf anderen Wegen pastoraler Sorge ausreichend das Ärgernis behoben, die Gerechtigkeit wiederhergestellt und der Täter gebessert werden kann.“ 65 Die Einrichtung fakultativer Strafen wird in den cc. 1315 § 3 sowie 1343 CIC/1983 vorausgesetzt. Im „Besonderen Teil“ des Strafrechts des CIC/1983 findet sich achtmal die fakultative Strafdrohung („puniri potest“), davon dreimal bezogen auf Strafen, die zu verpflichtenden Strafen hinzugefügt werden können. 66 Vgl. Arrieta, Kardinal Ratzinger (Anm. 6), S. 108. 67 Lüdicke, MK CIC, Einleitung vor 1311, Rdnr.11 (Stand: 18. Erg.-Lfg. Juli 1992). 64

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wobei dies freilich unter der Voraussetzung steht, dass die aktuell angeschriebenen Bischofskonferenzen und kirchenrechtlichen Hochschuleinrichtungen diese Anliegen aufgreifen und in den laufenden Revisionsprozess einbringen.

Der Anwalt im kanonischen Prozess zwischen Einzelinteresse der Partei und öffentlichem Interesse der Kirche Von Ludger Müller I. Der Dienst des Anwalts – Kirchenamt und privater Auftrag Prozesse in der Kirche haben stets zumindest letztlich mit der Sendung der Kirche, mit ihren Wesensvollzügen in Wort, Sakrament und Diakonie zu tun. Das wird besonders deutlich bei den typisch kirchlichen Verfahren (in Bezug auf die Gültigkeit von Sakramenten, die Sanktionierung mit Exkommunikation oder Interdikt und die Kanonisation von Dienern Gottes), in denen auch die Frage nach dem Heil des betreffenden Menschen im Hintergrund steht.1 In der Praxis geht es an den Diözesangerichten fast ausschließlich um Ehesachen, also v. a. um die Frage nach der Gültigkeit des Sakramentes. Die Gültigkeit einer Ehe aber ist ebenso wie die Gültigkeit der Weihe und manche andere von kirchlichen Gerichten zu beantwortende Frage von öffentlichem Interesse, so dass die kirchliche Gemeinschaft selbst an einer Klärung dieser Fragen interessiert ist.2 Wer an einem kirchlichen Prozess als Kläger, als nichtklagende Partei oder als Angeklagter im Sanktionsprozess beteiligt ist, kann sich der Hilfe eines am kirchlichen Gericht zugelassenen Anwalts bedienen. Anwälte an kirchlichen Gerichten wirken im Regelfall daran mit, dass auf gerichtlichem Weg die objektive Wahrheit in einer Frage gefunden wird, die (zumindest) auch den Glauben betrifft. An der Feststellung dieser Wahrheit sind sowohl die Parteien als auch die kirchliche Öffentlichkeit interessiert. Deshalb steht die Person des Anwalts an einem Schnittpunkt von Einzelinteresse der Partei und öffentlichem Interesse der Kirche. Der Anwalt handelt aufgrund eines Auftrags einer Partei, also im Interesse der ihn beauftragenden Person, und wenn er zusätzlich die Aufgabe des Prozessbevollmächtigten übernimmt, hat er jene Anträge zu stellen, die im Sinne seiner Mandantschaft 1 Vgl. hierzu Eugenio Corecco, Das Urteil im kanonischen Recht, in: ders., Ordinatio Fidei. Schriften zum kanonischen Recht, hrsg. von Libero Gerosa/Ludger Müller, Paderborn/ München/Wien/Zürich 1994, S. 55 – 81; Libero Gerosa, Das Recht der Kirche (AMATECA. Lehrbücher zur katholischen Theologie 12), Paderborn 1995, S. 147 – 155; Ludger Müller, Rechte in der Kirche. Die Begründung kirchlichen Verfahrensrechts, in: ders. (Hrsg.), Rechtsschutz in der Kirche (Kirchenrechtliche Bibliothek 15), Wien/Berlin 2011, S. 9 – 24. 2 Andere Streitverfahren, z. B. um materielle Güter, sind zwar theoretisch möglich, kommen aber faktisch nicht vor.

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sind. Zugleich stellt die Anwaltstätigkeit aber auch einen kirchlichen Dienst dar, was sich im Erfordernis der Zulassung des Anwalts durch den Bischof niederschlägt. Der Anwalt handelt aber nicht im Namen der Kirche, sondern vor allem im Interesse und, sofern er zugleich Prozessbevollmächtigter ist, auch im Namen einer Partei in einem kirchlichen Verfahren; dennoch ist die Tätigkeit des Anwalts am kirchlichen Gericht immer auch im Interesse der Kirche, selbst wenn er unter Umständen einmal einen Kläger berät, der gegen die kirchliche Autorität klagt. An der Feststellung der Gerechtigkeit muss die Kirche auch in einem solchen Fall interessiert sein. Wenn man die Legaldefinition des Kirchenamtes zugrunde legt, wie sie sich in c. 145 § 1 CIC findet3, muss man den Dienst des Anwalts als ein Kirchenamt bezeichnen, denn er entspricht allen Voraussetzungen des c. 145: 1. Der Dienst des Anwalts ist durch kirchliche Anordnung auf Dauer eingerichtet, und zwar konkret in den cc. 1481 – 1490 CIC und 2. er dient der Wahrnehmung eines geistlichen Zweckes – das insbesondere in Eheverfahren.4 Auch das jeweilige Diözesangericht hat einen Vorteil durch die Beteiligung eines Anwalts am Verfahren. Vor allem kann der Anwalt durch seinen fachlichen Rat und als „Vermittler“ und „Übersetzer“ zwischen Gericht und Partei zu einem zügigen Verfahren und zu einer Entlastung der Gerichte beitragen. Nicht jedes Schreiben des Diözesangerichts, auch wenn es in der Landessprache abgefasst ist, ist für die Partei leicht verständlich.5 Und es ist selbst für den erfahrenen Kanonisten nicht immer leicht abzuschätzen, ob angesichts der Beweislage weitere Anträge erforderlich sind oder nicht. Diesbezüglich wird das Gericht in der Phase des Verfahrens vor dem Aktenschluss durch die beratende Tätigkeit des Anwalts von eventuellen Anfragen der Partei verschont, und die Mitarbeiter des Gerichts kommen nicht in die Verlegenheit, hinsichtlich der Notwendigkeit weiterer Beweismittel einen Rat geben zu müssen, der seitens der anfragenden Partei als mehr oder minder verbindliche Auskunft des Gerichts verstanden wird.

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Vgl. Aymans-Mörsdorf KanR, 1. Bd., S. 445 – 449. Vgl. hierzu z. B. Paul Wesemann, Das erstinstanzliche Gericht und seine pastorale Aufgabe, in: Z[enon] Grocholewski/V[incentius] C[‚rcel] Orti (Hrsg.), Dilexit iustitiam. Studia in honorem Aurelii Card. Sabattani, Citt— del Vaticano 1984, S. 93 – 118; Karl-Heinz Selge, Der kirchliche Richter als Seelsorger im ordentlichen Ehenichtigkeitsverfahren erster Instanz, in: Elmar Güthoff/Karl-Heinz Selge (Hrsg.), Adnotationes in iure canonico [sic!]. Festgabe Franz X. Walter zur Vollendung des 65. Lebensjahres, Fredersdorf 1994, S. 30 – 41; Federico R. Aznar Gil, La dimensiýn pastoral del proceso de nulidad matrimonial. Anotaciones al Discurso del Romano Pont†fice al Tribunal Apostýlico de la Rota Romana (28 de enero 2006), in: REDC 63 (2006), S. 747 – 766. 5 Das gilt umso mehr, wenn den Parteien lateinisch abgefasste Schriftsätze z. B. der Römischen Rota zugesandt werden, ohne dass eine unzweideutig als solche gekennzeichnete Übersetzung beigefügt wird. 4

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Zu einer Entlastung des Gerichts kommt es insbesondere dann, wenn ein verantwortungsbewusster Anwalt einer Hilfe suchenden Person von einem offensichtlich aussichtslosen Verfahren abrät, wovon im Regelfall das Gericht noch nicht einmal Kenntnis erlangt.6 Eingeräumt werden muss jedoch, dass bei freiberuflich tätigen Anwälten die Gefahr besteht, dass sie wegen ihrer Einkünfte zu einem Verfahren raten, obwohl keine wirkliche Aussicht auf Erfolg besteht.7 Auch die Anwälte müssen jedoch ihr Amt als im Dienst der Seelsorge verstehen und bemüht sein, die mit einem Prozess verbundenen Belastungen von allen Beteiligten abzuwenden, wenn sie nicht wirklich notwendig sind. Mit rechtlichen Mitteln lässt sich das hier erforderliche hohe Standesethos der Anwälte an kirchlichen Gerichten aber wohl kaum herbeiführen. Der kirchliche Anwalt kann sich niemals unabhängig von der Kirche fühlen, denn er übt ein Kirchenamt aus. Er muss jedoch sowohl in seiner vertretenden – sofern er zugleich Prozessbevollmächtigter ist –, aber auch in seiner rein beratenden Tätigkeit unabhängig vom kirchlichen Gericht sein. Einige konkrete Auswirkungen dieser Spannung zwischen öffentlichem Interesse der Kirche und Einzelinteresse des Gläubigen hinsichtlich der Rechtsstellung des Anwalts sind im Folgenden zu untersuchen. II. Die Zulassung des Anwalts 1. Notwendigkeit und Sinn der Zulassung C. 1483 sieht vor, dass der Anwalt vom Diözesanbischof zugelassen sein muss.8 Ziel der Zulassung ist die grundsätzliche Feststellung, dass eine bestimmte Person den Dienst des Anwalts in kirchlichen Verfahren übernehmen kann; als Konsequenz hieraus ergibt sich die Aufnahme dieser Person in die Anwaltsliste des betreffenden kirchlichen Gerichts.9 Ein Rotaanwalt hat die Zulassung an jedem Diözesangericht; ihm kann aber vom Bischof, welcher der zuständige Gerichtsherr ist, aus schwerwiegendem Grund die Tätigkeit an seinem Diözesangericht untersagt werden.10

6 Die Mitteilung über ein Beratungsgespräch, das nicht zur Klageeinreichung geführt hat, ist jedenfalls unnötig; sie wäre ohne Einwilligung der beratenen Person sogar unzulässig, weil es diese bei einer eventuell trotz des Rates oder z. B. bei veränderter Beweislage später eingereichten Klage behindern könnte, insofern u. U. mit einer gewissen Voreingenommenheit des Gerichtspersonals durch die Vorinformation seitens des Anwalts gerechnet werden müsste. 7 Vgl. Wesemann, Das erstinstanzliche Gericht (Anm. 4), S. 100. 8 Vgl. auch Art. 105 § 1 DC. 9 Vgl. Art. 112 § 1 DC. Vgl. zum Ganzen auch Markus Müller, Die Rechtslage zur Aufnahme in das und zur Streichung aus dem Verzeichnis der am Gericht zugelassenen Advokaten und der am Gericht tätigen Prokuratoren nach Art. 112 der Eheprozessordnung Dignitas Connubii, in: DPM 14 (2007), S. 273 – 288. 10 Gegen diese Entscheidung besteht die Möglichkeit des Rekurses an die Apostolische Signatur (vgl. Art. 105 § 2 DC).

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Die Aufgabe des Anwalts, die nach kanonischem Recht von jener des Prozessbevollmächtigten klar zu unterscheiden ist, liegt in der rechtsberatenden Tätigkeit bis hin zur Verfassung von Verteidigungsschriftsätzen. Es muss daher für Personen, die beim kirchlichen Gericht Hilfe suchen, erkennbar sein, wer in der Lage ist, ihre Rechtsberatung zu übernehmen. Diesem Zweck dient die Zulassung des Anwalts. Die hierfür erforderliche Überprüfung durch den Gerichtsherrn betrifft zum einen die fachliche, zum anderen aber auch die persönliche Eignung; für beide Bereiche hat der CIC einige Vorgaben formuliert.11 Der Anwalt muss aufgrund seiner Vorbildung fachlich die Gewähr einer guten Beratung der Parteien bieten und aufgrund seiner Persönlichkeit eine ordnungsgemäße Prozessführung erwarten lassen. Abgesehen von Rotaanwälten gilt die Zulassung als Anwalt immer nur für die Tätigkeit an jenem Gericht, dessen Gerichtsherr der zulassende Bischof ist. Sie gilt keineswegs für ein ganzes Verfahren – auch dann, wenn sie ad casum beantragt und gewährt worden ist12 – und noch nicht einmal für die Teilnahme an einer Vernehmung vor einem anderen Gericht, die im Rahmen eines Rechtshilfeersuchens stattfindet. Sofern der Anwalt nicht die Zulassung an dem mit der auswärtigen Vernehmung beauftragten Gericht hat oder erlangt, muss er nötigenfalls mit einem anderen Anwalt zusammenarbeiten, der im Auftrag seines Mandanten an der Vernehmung teilnehmen kann. Die Bindung an das einzelne Diözesangericht ergibt sich einfach aus dem Faktum, dass die Diözesangerichte je einen eigenen Gerichtsherrn haben. Der Gerichtsherr allein aber ist für sein Diözesangericht zuständig – inklusive der Sorge für eine ordnungsgemäße Ausübung der Tätigkeit der Anwälte. 2. Zuständigkeit des Diözesanbischofs Für die Zulassung des Anwalts ist der Diözesanbischof zuständig. Art. 105 § 1 DC macht deutlich, dass es sich um den Diözesanbischof in seiner Funktion als Gerichtsherr handelt, denn mit den Worten „et ab eodem Episcopo approbatus“ („und von demselben Bischof zugelassen“) greift der zweite Halbsatz von Art. 105 § 1 DC auf die Formulierung „Episcopus Moderator“ aus dem ersten Halbsatz desselben Paragraphen zurück. Die deutsche Übersetzung des Päpstlichen Rates für Gesetzestexte13 verschiebt allerdings den Akzent, wenn es hier heißt: „und er muss vom Bischof

11

Siehe hierzu unten II.4. Die ohnedies nicht als zumindest sehr sinnvoll erscheinende und in der geltenden Rechtslage nicht vorgesehene Zulassung für den Einzelfall (siehe hierzu unten II.5.) stellt eine Einschränkung, keineswegs aber eine Erweiterung der Zulassung (insbesondere nicht über das eigene Gericht hinaus) dar. Eine solche ist wegen der Unzuständigkeit eines anderen als des jeweiligen Gerichtsherrn für die Zulassung von Anwälten an seinem eigenen Gericht unmöglich. 13 Pontificium Consilium de Legum Textibus, Instructio servanda a tribunalibus dioecesanis et interdioecesanis in pertractandis causis nullitatis matrimonii, lat.-dt. Ausg., Citt— del Vaticano 2005, S. 95. 12

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selbst zugelassen sein“. Jedoch hat auch diese Akzentsetzung sachlich ihre Berechtigung, wie aus dem Folgenden deutlich werden kann. Der Gerichtsherr und nur er kann den Anwalt auch wieder von der Anwaltsliste streichen. Das stellt eine Maßnahme speziellen Disziplinarstrafrechts dar, die den Anwalt dann treffen kann, wenn er wiederholt gegen die Ordnung im Gericht verstößt (c. 1488).14 Der Richter dagegen kann den Anwalt und den Prozessbevollmächtigten aus schwerwiegendem Grund, auch strafweise, des Dienstes nur in dem betreffenden Verfahren entheben (vgl. cc. 1487, 1488).15 Nach c. 1470 § 2 hat der Richter die Möglichkeit, dem Anwalt bei Fehlverhalten vor dem Gericht die Disziplinarstrafe der Suspension von der Wahrnehmung anwaltlicher Funktionen aufzuerlegen. Damit ist jedoch gerade keine dauerhafte Maßnahme gemeint16, wie auch das hier verwendete Wort suspendere anzeigt, das ein „Verbot der Ausübung eines Rechtes“17 zum Ausdruck bringt und gerade nicht den „Entzug“18 des Rechtes, an kirchlichen Gerichten als Anwalt tätig zu sein. Das ergibt sich schon daraus, dass es dem Richter nicht möglich ist, einem Anwalt die Zulassung an einem fremden Gericht zu entziehen. Ob es ihm möglich ist, seine Tätigkeit an einem anderen als dem eigenen Gericht auch nur zeitweise zu untersagen, erscheint jedoch ebenfalls zweifelhaft. Insofern dürfte die Neuformulierung der Regelung des c. 1640 § 2 CIC/1917 in c. 1470 § 2 CIC/1983 nicht völlig zufriedenstellend gelungen sein. Die Suspension der anwaltlichen Tätigkeit kann sich nur auf jenes Gericht beziehen, dessen Richter diese Disziplinarstrafe verhängt. Zusammenfassend kann man jedenfalls festhalten, dass alle Entscheidungen, welche die Tätigkeit des Anwalts am kirchlichen Gericht grundsätzlich und dauerhaft betreffen, dem jeweiligen Gerichtsherrn zugewiesen sind. Im Unterschied dazu können vom Richter nur vorübergehende Maßnahmen zur Aufrechterhaltung der Ordnung im Prozess vorgenommen werden. Dem Gerichtsvikar dagegen weist der 14 Die in c. 1488 genannten Fälle, dass der Anwalt die Streitsache der Partei abkauft oder sich vertraglich einen übermäßigen Vorteil oder einen Anteil an der Streitsache zu sichern versucht, haben den Fall einer Streitklage um Vermögensgegenstände im Blick, die in der Praxis kaum vorkommt. Eine Sanktionierung des Anwalts ist auch möglich, wenn er Sachen in betrügerischer Absicht den zuständigen Gerichten entzieht, damit sie von anderen Gerichten günstiger entschieden werden. Zur Kritik an c. 1488 § 2 vgl. Mario F. Pompedda, Studi di diritto processuale canonico, Milano 1995, S. 59 f.; anders: Martha Wegan, Zur Bedeutung der anwaltlichen Begleitung und vor allem Beratung für die Parteien im Vorfeld und im Rahmen des kirchlichen Ehenichtigkeitsverfahrens, in: DPM 12 (2005), S. 85 – 105, hier S. 103 f. 15 In c. 1488 wird nicht ausdrücklich gesagt, wer für die „suspensio ab officio“ des Anwalts zuständig ist. 16 So galt es schon aufgrund der schärferen Rechtslage des CIC/1917, in welchem von einer „privatio“ des Rechtes der Anwaltstätigkeit an kirchlichen Gerichten die Rede war (c. 1640 § 2 CIC/1917); vgl. Mörsdorf Lb., Bd. III, S. 88. 17 Klaus Mörsdorf, Die Rechtssprache des Codex Juris Canonici, Paderborn 1937 [Nachdruck 1967], S. 322. 18 So jedoch die Übersetzung der lat.-dt. Ausg. des CIC zur Stelle.

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CIC bezüglich der Anwälte keinerlei Zuständigkeit zu; eine solche kommt ihm nur insofern zu, als er in einem Verfahren als Richter tätig ist. 3. Zulassung durch einen anderen Amtsträger im Auftrag des Gerichtsherrn? Wie Art. 105 § 1 DC erläutert, liegt die Zulassung des Anwalts konkret in der Zuständigkeit jenes Diözesanbischofs, welcher der Gerichtsherr des betreffenden kirchlichen Gerichts ist. Nun kommt nach c. 134 § 3 das, was im Bereich der Verwaltung ausdrücklich dem Diözesanbischof zugewiesen wird, ausschließlich diesem und einem Amtsträger zu, der nach c. 381 § 2 – genauer gesagt in Verbindung mit c. 368 – dem Diözesanbischof gleichgestellt ist, also dem Gebietsprälaten und Gebietsabt sowie dem Apostolischen Vikar, Präfekten oder Administrator. Ausdrücklich fordert c. 134 § 3 für die Übertragung einer dem Diözesanbischof im Bereich der ausführenden Vollmacht zugewiesenen Aufgabe durch den General- oder Bischofsvikar ein Spezialmandat. Bei der Zulassung von Anwälten handelt es sich aber nicht einfachhin um einen Akt der ausführenden Gewalt, sondern um einen solchen der Gerichtsverwaltung, so dass eine unmittelbare Anwendung von c. 134 § 3 ausgeschlossen und die Zuweisung dieser Funktion an General- oder Bischofsvikar jedenfalls unmöglich ist. Die Gerichtsverwaltung steht in ordentlicher Weise dem Gerichtsvikar zu; c. 1483 aber sieht die Zulassung von Anwälten ausdrücklich als Entscheidung des Diözesanbischofs vor.19 Könnte diese in analoger Anwendung von c. 134 § 3 auch durch den Gerichtsvikar aufgrund eines Spezialmandats vorgenommen werden, wie dies gelegentlich geschieht? Diesbezüglich muss zunächst festgestellt werden: Im CIC ist die Zulassung von Anwälten durch den Gerichtsvikar nicht vorgesehen. Eine solche Vorgehensweise müsste sich auch den Vorwurf gefallen lassen, dass auf diese Weise der Sinn des c. 1483 missachtet würde. Anwälte gehören nicht zum Gerichtspersonal.20 Das zeigt schon der gesetzessystematische Ort der Normen über den Anwalt, der Titel über die Prozessparteien (cc. 1476 ff.), während sich die Regelungen zu den Richtern, den amtlichen Prozessparteien, nämlich Kirchenanwalt und Bandverteidiger, und zum übrigen Gerichtspersonal im Titel über die verschiedenen Instanzen und Arten von Gerichten finden (cc. 1417 ff.).21 Schon deshalb, weil die Anwälte nicht zum Gerichtspersonal gehören, ist eine Zuständigkeit des Gerichtsvikars als Leiter der Gerichtsverwaltung für 19 Auch Pio Vito Pinto weist darauf hin, dass der CIC ausdrücklich vom Diözesanbischof (und nicht vom Ordinarius) spricht (vgl. Pio Vito Pinto, I processi nel Codice di Diritto Canonico. Commento sistematico al Lib. VII, Citt— del Vaticano 1993, S. 202, Anm. 287). 20 Siehe dazu auch unten V. 21 Ebenso der Ort in Dignitas Connubii: Kapitel III („Prozessbevollmächtigte und Anwälte“, Art. 101 – 113 DC) findet sich in Titel IV („Prozessparteien“, Art. 92 – 113 DC), und nicht in Titel II, Kapitel II („Gerichtspersonen“, Art. 33 – 64 DC).

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die Anwälte nicht gegeben22; sie dürfen nicht vom Gerichtsvikar abhängig sein. Eine solche Abhängigkeit entstünde aber dann, wenn die Zulassung und gegebenenfalls auch der Entzug der Zulassung als Anwalt vom Gerichtsherrn, also dem Diözesanbischof, dem Leiter der Gerichtsverwaltung, also dem Gerichtsvikar, übertragen würde. Die Zulassung von Anwälten ist eine Entscheidung von längerfristiger Bedeutung, die eher selten zu treffen ist. Trotz der sicher hohen Belastung der Diözesanbischöfe wäre daher zu fordern, dass sie diese Aufgabe persönlich erledigen – nur in einem begründeten Ausnahmefall mag die Zulassung eines Anwalts einmal delegiert werden können. 4. Zulassung weltlicher Rechtsanwälte Der CIC verlangt als Qualifikation des Anwalts im Regelfall das kanonistische Doktorat, wenigstens aber wirkliche Fachkenntnisse (c. 1483). Hinsichtlich des Gerichtsvikars und des beigeordneten Gerichtsvikars (c. 1420 § 4), des Diözesanrichters (c. 1421 § 3), des Kirchenanwalts und des Bandverteidigers (c. 1435) nennt der CIC das kanonistische Doktorat, mindestens aber das Lizentiat des kanonischen Rechts als genügende fachliche Mindestqualifikation; im Unterschied dazu wird für den Anwalt als Qualifikation außer dem selbstverständlich immer genügenden Doktorat im kanonischen Recht (Dr. iur. can.) gefordert, dass er im Ausnahmefall zumindest „wirklich sachkundig“ (alioquin vere peritus) sein müsse. Dadurch wird lediglich auf das Vorliegen eines bestimmten akademischen Grades verzichtet, auf die inhaltliche Qualifikation jedoch keineswegs. Als ordentliche Qualifikation wird auch bezüglich des Anwalts am kanonistischen Doktorat festgehalten (und nicht z. B. nur das kanonistische Lizentiat gefordert), mithin gilt für ihn grundsätzlich das Erfordernis derselben Qualifikation, wie sie für das Gerichtspersonal vom Offizial bis zum Bandverteidiger im Regelfall gefordert wird. Mit den Worten „Doktor im kanonischen Recht“ in c. 1483 ist weder der akademische Grad eines Dr. theol. im Hauptfach Kirchenrecht gemeint noch ein juristischer Doktorgrad im Kirchen-, Staatskirchen- oder Religionsrecht, auch wenn es sich um einen Doktor beiderlei Rechts (Dr. iur. utr.) handelt. In all diesen Fällen ist allenfalls zu überprüfen, ob eine sonstige „wirkliche Sachkunde“ gegeben ist. 22 Es verbietet sich im Übrigen auch jede andere analoge Anwendung von Normen, welche die Mitarbeiter des Gerichts betreffen, auf die Anwälte. So bedürfen die Anwälte nach Beendigung der Sedisvakanz des bischöflichen Stuhles keineswegs einer Bestätigung durch den neuen Diözesanbischof, wie dies nach c. 1420 § 5 für den Gerichtsvikar und den beigeordneten Gerichtsvikar gilt. Anderer Meinung, aber zu Unrecht: Franz Xaver von Weber, Der Rechtsanwalt im kanonischen Recht. Ausgewählte Fragen zum Anwaltsrecht nach dem Codex Iuris Canonici von 1983 (Freiburger Veröffentlichungen aus dem Gebiete von Kirche und Staat 29), Freiburg/Schweiz 1990, S. 31, der außerdem – ebenfalls irrig – behauptet, dass c. 1420 § 5 „alle bestellten Richter, Ehebandverteidiger und Kirchenanwälte“ betrifft; das gilt gerade nicht, sondern nur für den Gerichtsvikar und dessen Stellvertreter. Hierbei ist zu bedenken, dass der Gerichtsvikar der Vertreter des Diözesanbischofs in der Gerichtsbarkeit ist, was ein besonderes Vertrauensverhältnis voraussetzt.

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Schon diese Notwendigkeit einer hohen speziellen Qualifikation verbietet normalerweise die Zulassung eines weltlichen Rechtsanwalts als Anwalt am kirchlichen Gericht, sofern dieser kein kanonistisches Spezialstudium absolviert hat. Denn selbst wenn im Studium der Rechtswissenschaft das Fach „Kirchenrecht“ noch begegnet oder – vor Jahren – begegnete, reichen die hier erworbenen Kenntnisse zumeist nicht aus. Vor allem fehlen einem weltlichen Rechtsanwalt normalerweise die notwendigen theologischen Kenntnisse und Kompetenzen, und der Umfang der kanonistischen Bestandteile juristischer Studien ist nur in wenigen Fällen einigermaßen bemerkenswert. Die Inhalte dieser Studienanteile betreffen in der Regel eher den Bereich des Staatskirchenrechts, die Rechtsgeschichte oder die kirchliche Verfassung, aber kaum die notwendigen Themen aus dem Ehe- und (Ehe-)Prozessrecht; jedenfalls werden diese im Studium der Rechtswissenschaft nicht in der notwendigen Gründlichkeit gelehrt und studiert. Weitere Probleme ergeben sich aus den Erwartungen, Erfahrungen und Gewohnheiten weltlicher Anwälte.23 Ein Rechtsanwalt wird es aus seiner alltäglichen Praxis gewohnt sein, lediglich das zu tun bzw. zu empfehlen, was seinem Mandanten nützt. Dass er aber in einem kirchlichen Verfahren daran mitwirken soll, die objektive Wahrheit hinsichtlich der Prozessfrage zu ermitteln, wird ihm oftmals fremd sein.24 5. Zulassung für den Einzelfall Eine weitere Frage ist die, ob Anwälte nur für den Einzelfall zugelassen werden können. Auch das ist – anders als es in c. 1658 § 2 CIC/1917 der Fall war – weder im CIC von 1983 noch in der Eheprozessordnung Dignitas Connubii (DC) vorgesehen.25 In dieser Streichung der Möglichkeit einer Zulassung des Anwalts ad casum, wie sie in c. 1658 § 2 CIC/1917 vorgesehen war, wird man eine bewusste Entscheidung des Gesetzgebers erkennen müssen. Angesichts der Zweistufigkeit hinsichtlich des Eintritts des Anwalts in das kirchliche Verfahren – (1) Zulassung beim kirchlichen Gericht, (2) Vorlage der Vollmacht für die Beratung einer Partei in einem bestimmten Verfahren – erscheint die Zulassung des Anwalts für den Einzelfall als nicht sehr sinnvoll. Zudem sind für die Ausübung des Anwaltsberufs nicht nur besondere Fachkenntnisse erforderlich, sondern auch einschlägige Erfahrungen zumindest sehr wünschenswert. Der Beruf des Anwalts an kirchlichen Gerichten stellt hohe Ansprü23

Vgl. hierzu ausführlich Wegan, Bedeutung (Anm. 14), S. 98 – 100. Mit dem Ziel der Feststellung der objektiven Wahrheit, um das es im kirchlichen Prozess geht, nicht zu vereinbaren wäre beispielsweise der Rat des Anwalts an die von ihm beratene nichtklagende Partei, eine Entbindung des von ihr vor und während der Ehe konsultierten Psychiaters von der ärztlichen Schweigepflicht nicht vorzunehmen. Natürlich hat jeder das Recht, auf der Wahrung einer beruflichen Schweigepflicht zu bestehen; im kirchlichen Verfahren wäre es aber im Gegenteil die erste Aufgabe des Anwalts, seinen Mandanten dazu zu bewegen, diesem Arzt die Mitwirkung als fachlich besonders qualifizierter Zeuge zu ermöglichen. Einer eventuellen Einschränkung der Interessen des Betreffenden könnte dadurch begegnet werden, dass der Anwalt an dieser Vernehmung teilnimmt. 25 Auch c. 1141 CCEO sieht eine Zulassung ad casum nicht vor. 24

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che. Wenn diese Voraussetzungen erfüllt sind, kann es keinen hinreichenden Grund geben, die Zulassung nur für den Einzelfall zu gewähren; wenn sie nicht erfüllt sind, kann eine Zulassung auch nicht für einen Einzelfall erteilt werden. Im Unterschied zur hier vertretenen Ansicht geht Martha Wegan offensichtlich von der Gleichwertigkeit der im Gesetz nicht (mehr) vorgesehenen beiden Möglichkeiten (generelle Zulassung und Zulassung für den Einzelfall) aus. Zum Beleg hierfür beruft sie sich aber auf Quellen, in denen nur von der generellen Zulassung die Rede ist.26 Ähnlicher Ansicht ist z. B. auch Helmuth Pree.27 Diese Auffassungen stützen sich offensichtlich auf die Rechtslage nach dem CIC/1917 und messen der Veränderung im CIC von 1983 keinerlei Bedeutung bei. Ähnlich argumentiert auch Weier, der sogar für eine künftige Fortschreibung des CIC eine ausdrückliche Norm diesbezüglich vorschlägt.28 Dagegen ist einzuwenden, dass die Zulassung des Anwalts nur für den Einzelfall aufgrund der oben genannten Erfordernisse von Ausbildung und Erfahrung keineswegs wünschenswert ist; durch die ausdrückliche Erwähnung einer solchen Möglichkeit im Gesetz würde sie dagegen fast schon als „normal“ erscheinen. Andererseits ist die Zulassung für einen Einzelfall aber auch nicht ausdrücklich untersagt. Deshalb ist es in einem besonderen Fall möglich, dass ein Anwalt von sich aus die Zulassung nur für den einzelnen Fall beantragt. Eine Entscheidung des Gerichtsherrn, den generellen Antrag auf Zulassung als Anwalt so zu bescheiden, dass die Zulassung nur für den Einzelfall gewährt wird, wäre jedoch unzulässig. Sie würde im Blick auf die weitere mögliche Tätigkeit des betreffenden Anwalts bedeuten, dass die Zulassung verweigert wird. Eine solche Verweigerung der Zulassung müsste sich auf die mangelnde Eignung der ansuchenden Person für die Tätigkeit des Anwalts stützen, die aber wiederum der Zulassung für den Einzelfall ebenfalls im Wege stünde. Insbesondere wäre der Hinweis auf fest am Gericht angestellte Anwälte kein hinreichender Grund für die Abweisung des Antrags auf generelle Zulassung als Anwalt. Ob ein freiberuflich tätiger Anwalt gegen fest angestellte Anwälte tatsächlich eine reelle Chance hat, ist zwar sehr fraglich; das aber ist ein Frage, die der Gerichts26

Vgl. Wegan, Bedeutung (Anm. 14), S. 96 mit Anm. 61. Vgl. Helmuth Pree, Die Rechtsstellung des advocatus und des procurator im kanonischen Prozeßrecht, in: Winfried Aymans/Karl-Theodor Geringer (Hrsg.), Iuri Canonico Promovendo. Festschrift für Heribert Schmitz, Regensburg 1994, S. 303 – 339, hier S. 305. Dessen weitere Aussage: „Der generell Zugelassene wird in das Album Advocatorum (vgl. c. 1488 § 1) eingetragen“ kann sich allerdings in dieser Formulierung nicht auf den zitierten c. 1488 § 1 berufen. Vielmehr sagt dieser Canon einfach aus, dass ein (also jeder) Anwalt, der wiederholt gegen seine Berufspflichten in schwerer Weise verstößt, vom Gerichtsherrn aus der Anwaltsliste gestrichen werden kann, was voraussetzt, dass jeder Anwalt in die Anwaltsliste aufzunehmen ist; ein Unterschied zwischen dem generell und dem ad casum zugelassenen Anwalt findet sich hier keineswegs. 28 Vgl. Joseph Weier, Der Anwalt im kirchlichen Eheprozeß. Neue Bestimmungen im CIC, in: Andr¦ Gabriels/Heinrich J. F. Reinhardt (Hrsg.), Ministerium Iustitiae. Festschrift für Heribert Heinemann zur Vollendung des 60. Lebensjahres, Essen 1985, S. 403 – 410, hier S. 408. 27

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herr sich nicht stellen muss; vielmehr geht es hier um das „unternehmerische Risiko“ des betreffenden Anwalts selbst. 6. Rechtsmittel gegen eine Nichtzulassung Ein Recht auf Zulassung als Anwalt findet sich im kirchlichen Gesetzbuch nicht ausdrücklich. Jedoch sieht c. 1481 vor: „Einer Partei steht es frei, für sich einen Anwalt und einen Prozessbevollmächtigten zu bestellen“. Aus diesem Recht auf freie Anwaltswahl kann sich mittelbar der Anspruch eines hinreichend gebildeten Katholiken von einwandfreiem Ruf auf Zulassung als Anwalt ergeben. Der Verweis auf eine ausreichende Anzahl anderer Anwälte oder auf die Existenz fest bestellter und vom Gericht entlohnter Anwälte ist kein Argument für die Verweigerung der Zulassung als Anwalt beim kirchlichen Gericht29, denn das Recht auf die freie Anwaltswahl gilt weiterhin, und c. 1490 sieht ausdrücklich vor, dass die fest am Gericht bestellten Anwälte nur ein Angebot darstellen: „pro partibus quae eos seligere malint“. Eine Pflicht der Parteien, sich entweder eines festangestellten Anwalts zu bedienen oder ohne anwaltliche Beratung vor Gericht zu handeln, ist durch die Formulierung des c. 1490 jedoch sicher ausgeschlossen. Welche Möglichkeit eines Vorgehens gegen die Nichtzulassung als Anwalt gibt es? Wenn die These zuträfe, dass jemand, der die notwendigen Voraussetzungen erfüllt, einen Anspruch auf Zulassung als Anwalt hat, müsste es die Möglichkeit einer Klage geben, da nach c. 1491 jedwedes Recht in der Kirche durch Klage – sofern nicht gesetzlich ausgeschlossen – und durch Einrede geschützt ist und die Gläubigen nach c. 221 § 1 das Recht haben, ihre Rechte geltend zu machen und vor dem zuständigen kirchlichen Forum zu verteidigen. Jedoch angesichts des Umstandes, dass das Recht auf Zulassung als Anwalt eher mittelbar durch das Recht einer Partei auf die freie Anwaltswahl gegeben ist, müsste am ehesten dieser Partei eine solche Klagemöglichkeit zustehen. Da diese Entscheidung auch nicht einfachhin in den Bereich kirchlichen Verwaltungshandelns (der potestas administrativa), sondern zur Gerichtsverwaltung gehört, dürfte c. 1400 § 2 nicht gegen die Beschreitung des Gerichtswegs im Falle der Nichtzulassung des Anwalts z. B. im Wege eines Zwischenstreits stehen. Angesichts der relativ langen Dauer von Prozessen in der Kirche dürfte der Klageweg jedoch nicht sinnvoll zu beschreiten sein. Auf jeden Fall aber gibt es die Möglichkeit der Beschwerde gegen einen ablehnenden Bescheid des Gerichtsherrn an die Apostolische Signatur, die nach Art. 124 Pastor bonus (unter anderem) Gerichtsaufsichtsbehörde ist. Die Frage der Nichtzulassung von Anwälten fällt unter die Kompetenz der Signatur zur „invigilatio rectae administrationi iustitiae“, also zur Aufsicht über die kirchlichen Gerichte.30 29

Siehe hierzu unten V. Vgl. auch Art. 111 § 1 der Lex propria Supremi Tribunalis Signaturae Apostolicae: Benedikt XVI., MP Antiqua ordinatione vom 21. Juni 2008, in: AAS 100 (2008), S. 513 – 538. 30

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III. Die Zusammenarbeit zwischen Anwalt und Gericht Mit der Zulassung wird ein gewisses Vertrauensverhältnis zwischen Anwalt und Gericht ermöglicht. Das schlägt sich darin nieder, dass dem Anwalt – anders als jeder anderen beteiligten Privatperson – erweiterte Möglichkeiten im Verfahren eingeräumt werden bzw. eingeräumt werden können. So darf der Anwalt (patronus) – im Ehenichtigkeitsverfahren ebenso wie der Kirchenanwalt und der Ehebandverteidiger – bei der Vernehmung der Parteien und der Zeugen anwesend sein (cc. 1559; 1678 § 1 n. 1)31, sofern nicht der Richter wegen besonderer Umstände entschieden hat, dass geheim vorgegangen werden muss (c. 1559). Eventuell an die Zeugen zu richtende Fragen kann der Anwalt dem Vernehmungsrichter vorlegen, damit dieser sie stellt; diese Regelung ermöglicht, dass der Vernehmungsrichter unter Umständen entscheidet, ihm vorgelegte Fragen nicht zu stellen, weil er sie für unzulässig oder offensichtlich unnötig hält. Im Ehenichtigkeitsverfahren kann der Anwalt außerdem die Gerichtsakten schon vor der Aktenoffenlegung einsehen und eventuell von den Parteien vorgelegte Urkunden prüfen (c. 1678 § 1 n. 2). Bei der Akteneinsicht können den Anwälten auf Antrag Abschriften der Akten ausgehändigt werden (c. 1598 § 1). Durch diese Möglichkeiten soll den Anwälten an kirchlichen Gerichten ihre Arbeit erleichtert werden, was wiederum der Findung der Wahrheit dienen kann. Auf diese Weise wird im Eheprozess zugleich eine „Waffengleichheit“ zwischen dem Anwalt einerseits und den amtlichen Prozessparteien, nämliche Ehebandverteidiger sowie ggf. Kirchenanwalt andererseits, herbeigeführt. Wenn dieselben Möglichkeiten nicht auch der Partei selbst eingeräumt werden, dann deswegen, weil beim Anwalt anders als bei Privatbeteiligten davon ausgegangen werden kann, dass er den Vernehmungen in der nötigen sachlichen Distanz beiwohnen und die ihm zur Verfügung gestellten Beweismittel nicht außerhalb des betreffenden kirchlichen Verfahrens verwenden wird. Dafür garantiert in einem gewissen Maß auch die Zulassung des Anwalts durch den Gerichtsherrn, die ja durch ein schweres Vergehen gegen die Gerichtsordnung in Gefahr geraten könnte. IV. Freie und fest bestellte Anwälte Wer für die Parteien und auch im Interesse der Kirche einen wichtigen Dienst ausübt, muss dafür entlohnt werden. Deshalb sieht c. 1649 § 1 n. 2 vor, dass der Bischof als Gerichtsherr Regelungen über die Honorare der Prozessbevollmächtigten und der Anwälte erlassen muss.32 Diesbezüglich hatte Michael Benz im Jahr 1996, also im31

Vgl. zum Folgenden auch Roch Pag¦, LÐavocat, le procureur et le curateur dans les causes matrimoniales, in: Studia Canonica 31 (1997), S. 293 – 310, hier S. 302. 32 Entgegen der ansonsten geltenden Regelung, dass der imperativische Konjunktiv („statuat“) als Muss-Vorschrift wiederzugeben ist (vgl. das Vorwort von Winfried Aymans zur ersten Auflage dieser Ausgabe [nicht paginiert], Nr. 3), übersetzt die im Auftrag der Bischofskonferenzen und Bischöfe des deutschen Sprachraums erstellte lateinisch-deutsche

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merhin 13 Jahre nach Inkrafttreten des CIC, berichtet: „Kein Bischof im deutschen Sprachraum ist bisher dieser Aufforderung nachgekommen; in keiner Diözese existiert eine Gebührenordnung für Anwälte und Prozessstellvertreter.“33 Zwischenzeitlich haben einzelne deutsche Diözesanbischöfe, aber bei weitem noch nicht alle, eine solche Gebührenordnung erlassen.34 Zur Ermöglichung des Dienstes des Anwalts, welcher dem Rechtsschutz der Parteien, aber auch der Bemühung kirchlicher Gerichte um Wahrheitsfindung dienen soll, ist eine solche Gebührenordnung jedoch dringend notwendig. Ohne eine solche Gebührenordnung wird das Verhältnis zwischen Anwalt und Mandantschaft durch allfällige Diskussionen um die Höhe des Honorars unnötig belastet, es gibt unterschiedliche Vorstellungen über die Höhe der Gebühren bei den verschiedenen Anwälten, und der Richter hat keinen Anhaltspunkt, wenn es um die Gewährung des unentgeltlichen Rechtsschutzes geht. Ein gewisses Hemmnis für die freiberufliche Tätigkeit von Anwälten am kirchlichen Gericht ergibt sich daraus, dass c. 1490 bei einem Gericht dauerhaft bestellte Parteibeistände (patroni stabiles)35 empfiehlt, die vom Gericht ein „stipendium“ erhalten sollen. Wenn die lateinisch-deutsche Ausgabe des CIC so übersetzt, dass diese fest bestellten Anwälte „vom Gericht entlohnt“ werden sollen, muss das nicht im Sinne einer Anstellung beim Gericht und eines regelmäßig gezahlten Gehalts verstanden werden, was die Verhältnisse einer Kirche mit regelmäßigen Einkünften aus Kirchensteuer oder Kirchenbeitrag vorauszusetzen scheint. C. 1490 gilt jedoch wie der CIC insgesamt für die Kirche weltweit, also auch für Teilkirchen, die ohne so gut kalkulierbare regelmäßige Einkünfte leben müssen. Es steht im übrigen nichts dagegen, im Rahmen der mit dem Urteil verbundenen Kostenfestsetzung (vgl. c. 1611) auch die Erstattung der vom Gericht gezahlten „Stipendien“ der Anwälte den Parteien aufzuerlegen. Fest bestellte Parteibeistände stellen natürlich eine erhebliche Konkurrenz für jeden dar, der den Beruf des Anwalts freiberuflich ausüben möchte. Das gilt um so mehr, wenn Gerichtsvikare sich befugt oder gar verpflichtet fühlen, die fest bestellten Parteibeistände vor der Konkurrenz mit anderen Anwälten dadurch zu schütAusgabe des CIC in c. 1649 § 1: „Der Bischof, dem die Leitung des Gerichts obliegt, soll Bestimmungen erlassen über …“ Dass die Verpflichtung des Bischofs zum Erlass dieser Normen irgendwie „rechtlich nicht nachprüfbar“ wäre oder „von rechtlich nicht abwägbaren Bedingungen“ abhinge (so die von Aymans, ebd., formulierte Voraussetzung für die Übersetzung mit „soll“), wird man wohl nicht sagen können, so dass auch in c. 1649 § 1 n. 2 eine zwingende Vorschrift vorliegt. 33 Michael Benz, Aufgabe, Stellung und Kosten eines kirchlichen Anwalts in Eheverfahren, in: AfkKR 165 (1996), S. 437 – 456, hier S. 446. 34 Das gilt v. a. für Speyer (ABl. Speyer 2000, S. 281; abgedruckt bei: Reinhard Wenner, Beschlüsse der Deutschen Bischofskonferenz. Partikularnormen und weitere Gesetze sowie Richtlinien, Statuten, Geschäftsordnungen, Verträge, Stellungnahmen, zusammengestellt, bearbeitet und herausgegeben von Reinhard Wenner (Loseblattwerk), St. Augustin 1999 ff. [Stand von 2001], Nr. 603), sodann für Freiburg, Limburg, Magdeburg, Mainz und Rottenburg-Stuttgart (vgl. ebd. Nr. 603, S. 2). 35 Art. 113 § 3 DC spricht von „stabiles advocati“.

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zen, dass die Zulassung weiterer Anwälte möglichst unterbunden oder deren Tätigkeit durch das Gericht nicht im vollen Umfang unterstützt wird, indem z. B. die gesetzlich vorgesehene Möglichkeit der Herausgabe von Kopien aus den Akten verweigert wird. Im Fall der fest am Gericht angestellten Anwälte kann das Verhältnis zwischen Anwalt, Gericht und Partei unklar werden, sofern ihre Entlohnung durch das Gericht geschieht. Das aber macht sie keineswegs zu „Gerichtspersonal“, wie hingegen Martha Wegan unter Berufung auf Javier Ochoa behauptet.36 Insbesondere wäre eine Weisungsbefugnis des Gerichtsvikars gegenüber den Anwälten geradezu sinnwidrig; der Anwalt muss im Interesse einer geordneten Rechtspflege unter Umständen auch einmal Entscheidungen oder Usancen des Gerichts kritisieren und ggf. eine Beschwerde gegen das „eigene“ Gericht einreichen können, ohne mit beruflichen Schwierigkeiten rechnen zu müssen. Daher kann der Gerichtsvikar nicht der Dienstvorgesetzte der fest bestellten Anwälte sein. Durch die feste Anbindung eines Anwalts an ein bestimmtes Diözesangericht ergibt sich natürlich ein gewisses Nahverhältnis, das für sich genommen indifferent ist. Es kann einer vertrauensvollen Zusammenarbeit zwischen Anwalt und Gericht sehr dienlich sein. Ein Angewiesensein des Anwalts auf ein bestimmtes Gericht und einen bestimmten Gerichtsvikar kann aber auch dazu führen, dass die notwendige kritische Distanz zu dem betreffenden Gericht verlorengeht. Hinsichtlich der „patroni stabiles“ muss daher gewährleistet sein, dass sie trotz Erhalts eines „stipendium“ durch das Gericht in hinreichender Weise selbständig bleiben. Es mag theoretisch klar sein, dass auch der fest bestellte Parteibeistand in einem privatrechtlichen Verhältnis zur vertretenen Person steht; das muss aber ebenso der Wirklichkeit in der gerichtlichen Praxis entsprechen. V. Ergebnis Der CIC von 1983 hat die Position des Anwalts im Vergleich zum Recht des CIC/ 1917 gestärkt. Der persönlich und fachlich geeignete und erfahrene Anwalt kann einen wichtigen Beitrag zur kirchlichen Rechtspflege leisten. Wenn Anwälte im kirchlichen Prozess mitwirken, kann das aber nur in Unabhängigkeit gegenüber dem jeweiligen Gericht geschehen. Zugleich müssen sie sich gegenüber der Kirche verpflichtet sehen. Ihr Beruf ist immer auch ein Dienst an der Kirche, ja sogar ein Kirchenamt. Ein hilfreicher Dienst der Anwälte ist jedoch nur dann möglich, wenn seitens der kirchlichen Gerichte kein Nachteil, sondern ein großer Vorteil darin erkannt wird, dass Anwälte gelegentlich die Entscheidungen des Gerichts kritisieren. Das dient der Wahrheitsfindung und einem gerechten Verfahren – nicht we36

Vgl. Wegan, Bedeutung (Anm. 14), S. 97; Javier Ochoa, La figura canýnica del procurador y abogado pfflblico, in: Dilexit iustitiam (Anm. 4), S. 249 – 284. Dagegen z. B. Weier, Der Anwalt im kirchlichen Eheprozess (Anm. 28), S. 404; umfassend zu Vor- und Nachteilen fest bestellter Anwälte vgl. ebd., S. 403 – 406; Jürgen Cleve, Inkompatibilität und Kumulationsverbot. Eine Untersuchung zu c. 152 CIC/1983, Frankfurt a. M. u. a. 1999, S. 227.

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niger als das „kontradiktorische Prinzip“ im kirchlichen Prozess überhaupt. Natürlich ist die Arbeit der Gerichte bequemer ohne Anwälte. Aber Bequemlichkeit kann kein Kriterium sein, wenn es darum geht, Gerechtigkeit in der Kirche herbeizuführen – eine Gerechtigkeit, die zugleich dem Heil der Seelen (vgl. c. 1752 CIC) dient.37

37 Auf diesen Zusammenhang zwischen kirchlicher Rechtsordnung und Seelsorge hat auch Hans Paarhammer hingewiesen: Das Kirchenrecht im Dienste der Seelsorge, in: ThPQ 139 (1991), S. 4 – 19; vgl. auch Libero Gerosa, Kirchliches Recht und Pastoral (Extemporalia. Fragen der Theologie und Seelsorge 9), Eichstätt/Wien 1991.

Die Arbeitsgerichtsbarkeit der Katholischen Kirche in der Bundesrepublik Deutschland Von Alfred E. Hierold Die Katholische Kirche zählt wie die Evangelische Kirche, wenn man von den verfassungsrechtlichen Untergliederungen absieht, zu den größten Arbeitgebern in der Bundesrepublik Deutschland.1 Dazu kommen noch die großen Bereiche der Ordensgemeinschaften, der Caritas und der Diakonie.2 Betrachtet man die verfassungsrechtlichen Ebenen für sich, dann ergibt sich ein sehr differenziertes Bild. So gibt es Pfarreien, die keine oder nur ganz wenige fest angestellte Dienstnehmer haben, z. B. Mesner, Organisten, Pfarrsekretärin und eventuell Kindergartenpersonal. Auch auf der Ebene der Deutschen Bischofskonferenz (DBK) ist die Zahl der Bediensteten beim Sekretariat der DBK und beim Verband der Diözesen Deutschlands (VDD) noch überschaubar.3 Die größten Anstellungsträger sind die Diözesen, bei denen das Personal für die Seelsorge, für das Ordinariat und für die Schulen in kirchlicher Trägerschaft angesiedelt ist.4 I. Der so genannte Dritte Weg Für die Kirche bestand nun die Frage, welches Arbeitsrecht sie für ihre Bediensteten anwendet, ob sie sich allein auf das staatliche Arbeitsrecht stützt oder nicht. Die Kirche entschied sich für einen eigenständigen Weg, der gemeinhin als der sog. Dritte Weg bezeichnet wird. Als Erster Weg gilt die hoheitliche Festsetzung der Anstellungs- und Arbeitsbedingungen sowie der Entlohnung durch den Arbeitgeber, wie dies z. B. der Staat für seine Beamten in der Regel per Gesetz tut. Der sog. Zweite Weg ist der in der Wirtschaft übliche, wo Arbeitgeber und Arbeitnehmer in Verhandlungen das Arbeits- und Tarifrecht regeln und wo notfalls im Arbeitskampf mit Streik und Aussperrung ein Ergebnis gesucht wird. Der sog. Dritte Weg enthält Elemente der beiden anderen Wege insofern, als das Dienstrecht für die Kleriker und Kirchenbeamten hoheitlich festgelegt, das Arbeitsrecht für angestellte Laien in der Regel in Kommissionen für die Ordnung des kirchlichen Arbeitsrechts (KODA) ausgehandelt wird, aber vom Bischof als Gesetz verkündet werden muss. Die Kirche hat diesen 1 2 3 4

Es dürfte sich um ca. 100 000 Personen handeln. Im Bereich der Caritas sind ca. 500 000 Personen hauptamtlich beschäftigt. Es sind ca. 130 Personen. Z. B. beschäftigt die Erzdiözese Bamberg ca. 6 800 Personen.

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Weg gewählt, weil so der Eigenart des kirchlichen Dienstes besser entsprochen werden konnte. Zudem war zu beachten, dass das gesamtkirchliche Recht des Codex Iuris Canonici (CIC) nur für die Kleriker ein ausführlicheres Dienstrecht enthält5, für die Laienbediensteten nur einen rudimentären Ansatz bietet.6 Die Kirchen nutzen hier einen Freiraum, den ihnen die Verfassung der Bundesrepublik Deutschland offen hält. Denn in Art. 140 Grundgesetz (GG) i.V.m. Art. 137 Abs. 3 Weimarer Reichsverfassung (WRV) heißt es: „Jede Religionsgesellschaft ordnet und verwaltet ihre Angelegenheiten selbständig innerhalb der Schranken des für alle geltenden Gesetzes.“ Nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bedeutet dies, dass die Kirchen für ihre Glieder rechtsverbindliche Anordnungen treffen, ihre Angelegenheiten verwalten und durch Gerichte Recht sprechen können. Dabei sind in Bezug auf das Arbeitsrecht die gängigen Standards einzuhalten, z. B. Verbot der willkürlichen Kündigung usw. Das gesamte kirchliche Arbeitsrecht (Arbeitsvertragsrecht, Mitbestimmungsrecht, Loyalitätsanforderungen usw.) wie auch die Kirchengerichtsbarkeit beruhen auf dem Selbstbestimmungsrecht der „verfassten“ Religionsgesellschaften. Das kirchliche Arbeitsvertragsrecht besteht im Wesentlichen in Arbeitsrechtsregelungen wie AVR, BAT-KF, die durch die KODA im katholischen und durch die ARRG im evangelischen Bereich geschaffen wurden und werden. Die Kirchen sind unmittelbar an die auf diesem Weg geschaffenen Regelungen gebunden; die Anwendung der Regelungen durch die kirchlichen Untergliederungen kann notfalls im Wege der Aufsicht durchgesetzt werden. Die in aller Regel privatrechtlich organisierten Verbände der Caritas und der Diakonie sind keine solchen Untergliederungen, noch weniger sind es die einzelnen Einrichtungen in der Caritas und der Diakonie. Weder den Verbänden noch deren Mitgliedern steht das Selbstbestimmungsrecht nach Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 Abs. 3 WRV zu. Die Zuordnung der Verbände beruht auf Kirchengesetz oder Satzung, die der Einrichtungen zu den Verbänden jedoch auf säkularem und kirchlichem Vereinsrecht. Die genannten Verbände und ihre Mitglieder können und müssen das kirchliche Arbeitsrecht anwenden, sonst können sie sich nicht auf das Selbstbestimmungsrecht der Kirche stützen, der sie zugeordnet sind. Der Kirche zugeordnet sind Einrichtungen nur, wenn die Kirche selbst einen beherrschenden Ein-

5

Vgl. cc. 273 – 293. C. 231 lautet: „§ 1. Laien, die auf Dauer oder auf Zeit für einen besonderen Dienst der Kirche bestellt werden, sind verpflichtet, die zur gebührenden Erfüllung ihrer Aufgabe erforderliche Bildung sich anzueignen und diese Aufgabe gewissenhaft, eifrig und sorgfältig zu erfüllen. § 2. Unbeschadet der Vorschrift des can. 230 § 1 haben sie das Recht auf eine angemessene Vergütung, die ihrer Stellung entspricht und mit der sie, auch unter Beachtung des weltlichen Rechts, für die eigenen Erfordernisse und für die ihrer Familie in geziemender Weise sorgen können; ebenso steht ihnen das Recht zu, dass für ihre soziale Vorsorge und Sicherheit sowie ihre Gesundheitsfürsorge, wie man sagt, gebührend vorgesehen wird.“ 6

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fluss hat. Der Einfluss ist nur beherrschend, wenn er hinreichend institutionalisiert ist und wenn er auch tatsächlich ausgeübt wird. II. Das kirchliche Arbeitsrecht Grundlegend für das kirchliche Arbeitsrecht im katholischen Bereich sind die Beschlüsse der KODA, die von den einzelnen Bischöfen zu Gesetzen erhoben worden sind, die Rahmenordnung für eine Mitarbeitervertretungsordnung (MAVO)7 und die „Grundordnung des kirchlichen Dienstes im Rahmen kirchlicher Arbeitsverhältnisse“, die bei der Vollversammlung der DBK am 22. September 1993 verabschiedet8 und von den Diözesanbischöfen für ihren Bereich als kirchliches Gesetz zum 1. Januar 1994 in Kraft gesetzt wurde. In Art. 10 dieser „Grundordnung“ (GO) wird bestimmt: „(1) Soweit die Arbeitsverhältnisse kirchlicher Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter dem staatlichen Arbeitsrecht unterliegen, sind die staatlichen Arbeitsgerichte für den gerichtlichen Rechtsschutz zuständig. (2) Für Rechtsstreitigkeiten auf den Gebieten der kirchlichen Ordnungen für ein Arbeitsvertrags- und des Mitarbeitervertretungsrechts werden für den gerichtlichen Rechtsschutz unabhängige kirchliche Gerichte gebildet.“

Nach Erlass der Grundordnung wurde eine Arbeitsgruppe der Personalwesenkommission des Verbandes der Diözesen Deutschlands (VDD) beauftragt, einen Gesetzesvorschlag für die Errichtung einer Kirchlichen Arbeitsgerichtsbarkeit auszuarbeiten (KAGO).9 Der Entwurf wurde als Beschlussvorlage am 15. Juni 1998 der Vollversammlung des VDD und am 11. Juni 2002 dem Apostolischen Stuhl mit der Bitte um Prüfung zugeleitet. Die Apostolische Signatur erteilte ein zustimmendes Votum, allerdings mit verschiedenen Auflagen und Anregungen.10 Da die DBK keine Gesetzgebungskompetenz in dieser Materie hatte, wurde auf der Herbstvollversammlung 2003 von den deutschen Bischöfen beschlossen, beim Apostolischen Stuhl die Gesetzgebungskompetenz durch Erteilung eines besonderen Mandats gemäß c. 455 § 1 CIC für die Kirchliche Arbeitsgerichtsbarkeit zu beantragen. Zugleich wurde die Bitte vorgetragen, den Entwurf der KAGO zu genehmigen. Laut Mitteilung des Staatssekretariats vom 22. März 2004 stimmte der Papst der Gesetzgebungszuständigkeit der DBK für die KAGO zu. Daraufhin wurde die KAGO am 21. September 2004 mit der notwendigen Zwei-Drittel-Mehrheit der DBK als Gesetz der DBK mit Wirkung vom 1. Juli 2005 beschlossen und die recognitio

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Vgl. Arbeitshilfen, H. 128, Bonn 1996. Vgl. Die Deutschen Bischöfe, H. 51, Bonn 1993; NJW 47 (1994) 1394 – 1398. 9 Zur Entstehung der Grundordnung vgl. Joachim Eder, CIC und KAGO. Die Arbeitsgerichtsbarkeit in der Katholischen Kirche, in: KuR (Neuwied) 12 (2006), S. 97 – 111. 10 Vgl. Eder, CIC (Anm. 9), S. 97 8

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beim Hl. Stuhl beantragt. Diese wurde am 31. Januar 205 zunächst „ad experimentum“ für fünf Jahre erteilt. Für die Bildung der überdiözesanen gemeinsamen Gerichte der I. und II. Instanz wurde die Billigung des Apostolischen Stuhls in der Form der „probatio“ eingeholt. Alle Errichtungsdekrete wurden vom Apostolischen Stuhl genehmigt, und als Datum für die Errichtung der Kirchlichen Arbeitsgerichte wurde der 1. Juli 2005 festgelegt. Die KAGO, die zunächst für fünf Jahre approbiert war, wurde in einigen Punkten novelliert, durch Beschluss der Vollversammlung der DBK vom 25. Februar 2010 angenommen und von der Apostolischen Signatur mit Datum vom 25. März 2010 auf Dauer rekognosziert.11 Mit der Errichtung der Kirchlichen Arbeitsgerichte trat ein grundlegender Paradigmenwechsel ein. Bis zum 30. Juni 2005 hatten die sog. „MAVO-Schlichtungsstellen“ die Funktion, den kirchlichen Rechtsschutz im Bereich des kollektiven kirchlichen Arbeitsrechts zu gewährleisten. Die Schlichtungsstellen hatten die Aufgabe sowohl des Schlichtens als auch des Richtens. Auch wenn sie im staatlichen Rechtskreis als ausreichende Rechtsprechungsorgane anerkannt wurden12, waren sie kirchenrechtlich keine „kirchlichen Gerichte“. Diese Aufgabe nehmen nun die Kirchlichen Arbeitsgerichte wahr. Neben der KAGO wurde das „Gesetz zur Anpassung arbeitsrechtlicher Vorschriften an die Kirchliche Arbeitsgerichtsordnung“ von den Diözesanbischöfen als diözesanes Gesetz erlassen. Mit ihm wurden die zugrunde liegenden kirchlichen Ordnungen zur Regelung des kollektiven Arbeitsrechts diözesanspezifisch modifiziert an die neue Gesetzeslage angepasst. Mit dem Erlass der KAGO wurde in dem von Papst Johannes Paul II. gewährten Mandat ausdrücklich von allen entgegenstehenden Normen des Prozessrechts des CIC dispensiert. Dies führte dazu, dass nahezu alle Normen der KAGO außerhalb des Prozessrechts des CIC liegen und teilweise diesem direkt widersprechen. III. Die Kirchliche Arbeitsgerichtsordnung 1. Gerichtsaufbau Die KAGO sieht Kirchliche Arbeitsgerichte in erster Instanz und den Kirchlichen Arbeitsgerichtshof für die zweite Instanz vor (§ 1). Für jedes Bistum/Erzbistum kann gemäß § 14 ein Kirchliches Arbeitsgericht als Gericht erster Instanz errichtet werden. Es kann aber auch für mehrere Bistümer/Erzbistümer durch Vereinbarung der Diözesanbischöfe ein gemeinsames Kirchliches Arbeitsgericht als Gericht erster Instanz errichtet werden. Dazu waren zusätzlich das „nihil obstat“ der Apostolischen

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2285.

Prot. Nr. 42443/10 VAR. Bundesarbeitsgericht (BAG), Beschluss v. 25. 4. 1989, in: NJW 42 (1989), S. 2284 –

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Signatur und die Approbation des jeweiligen von den einzelnen betroffenen Diözesanbischöfen unterschriebenen Errichtungsdekretes erforderlich. Als Gericht zweiter Instanz wurde der Kirchliche Arbeitsgerichtshof vorgesehen, der für den gesamten Bereich der DBK zuständig ist. Dazu bedurfte es gemäß c. 1423 § 1 und c. 1439 § 1 sowie Art. 124 n. 4 der Apostolischen Konstitution „Pastor Bonus“13 der Zustimmung des Apostolischen Stuhls. Der Sitz des Gerichts erster Instanz wird durch diözesanes Recht bestimmt, die Geschäftsstelle beim Erz-/Bischöflichen Diözesangericht (Offizialat) oder beim Erz-/Bischöflichen Generalvikariat/Ordinariat eingerichtet (§ 15 KAGO). Der Kirchliche Arbeitsgerichtshof hat seinen Sitz in Bonn (§ 21 KAGO). 2. Zuständigkeit Das Kirchliche Arbeitsgericht ist gemäß § 2 Abs. 1 und 2 KAGO sachlich zuständig für Rechtsstreitigkeiten aus dem Recht der nach Art. 7 GO gebildeten Kommissionen zur Ordnung des Arbeitsvertragsrechts und für Streitigkeiten aus der MAVO und der diese ergänzenden Ordnungen einschließlich des Wahlverfahrensrechts und des Verfahrens vor der Einigungsstelle. Nicht zuständig sind die kirchlichen Gerichte für Streitigkeiten aus dem Arbeitsverhältnis (§ 2 Abs. 3 KAGO) und für die Überprüfung der Rechtsmäßigkeit von kirchlichen Rechtsnormen (Normenkontrollverfahren). Örtlich zuständig ist gemäß § 3 KAGO das Gericht, in dessen Dienstbezirk eine beteiligungsfähige Person ihren Sitz hat, oder bei einer natürlichen Person, wo der Beklagte seinen dienstlichen Einsatzort hat. In Angelegenheiten mehrdiözesaner und überdiözesaner Rechtsträger ist das Gericht ausschließlich zuständig, in dessen Dienstbezirk sich der Sitz der Hauptniederlassung des Rechtsträgers eines Verfahrensbeteiligten befindet. 3. Besetzung der Gerichte Die kirchlichen Arbeitsgerichte sind gemäß § 4 KAGO mit Personen zu besetzen, die die Befähigung zum Richteramt nach staatlichem oder kirchlichem Recht besitzen, und mit ehrenamtlichen Richtern (beisitzenden Richtern) aus den Kreisen der Dienstgeber und Mitarbeiter, die nach Maßgabe der KAGO stimmberechtigt an der Entscheidungsfindung mitwirken. Das kirchliche Arbeitsgericht besteht aus dem Vorsitzenden, dem stellvertretenden Vorsitzenden, sechs beisitzenden Richtern aus den Kreisen der Dienstgeber, drei beisitzenden Richtern aus den Kreisen der Mitarbeitervertretungen und drei beisitzenden Richtern aus den Kreisen der KODA-Mitarbeiterseite (§ 16 Abs. 1 13 Johannes Paul II., Apostolische Konstitution „Pastor Bonus“ vom 28. Juni 1988, in: AAS 80 (1988), S. 841 – 934, u. 87 (1995), S. 588; AfkKR 157 (1988), S. 129 – 186, u. 164 (1995), S. 149.

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KAGO). Es entscheidet in der Besetzung mit dem Vorsitzenden (im Verhinderungsfall mit dem stellvertretenden Vorsitzenden), einem beisitzenden Richter aus den Kreisen der Dienstgeber und einem beisitzenden Richter aus den Kreisen der Mitarbeiter (§ 16 Abs.2 KAGO). Für die Ernennung zum Richter an den kirchlichen Arbeitsgerichten gelten folgende Voraussetzungen: (1) Zum Richter kann ernannt werden, wer katholisch ist und nicht in der Ausübung der allen Kirchenmitgliedern zustehenden Rechte behindert ist sowie die Gewähr dafür bietet, dass er jederzeit für das kirchliche Gemeinwohl eintritt (§ 18 Abs. 1 KAGO). (2) Der Vorsitzende und der stellvertretende Vorsitzende müssen die Befähigung zum Richteramt nach dem Deutschen Richtergesetz besitzen, dürfen weder einen anderen kirchlichen Dienst als den des Richters beruflich ausüben noch dem Leitungsorgan einer kirchlichen Körperschaft oder eines anderen Trägers einer kirchlichen Einrichtung angehören und sollen Erfahrungen auf dem Gebiet des kanonischen Rechts und Berufserfahrung im Arbeitsrecht oder Personalwesen haben (§ 18 Abs. 2 KAGO). (3) Die beisitzenden Richter der Dienstgeberseite müssen die Voraussetzungen für die Mitgliedschaft in einer KODA erfüllen. Die beisitzenden Richter der Mitarbeiterseite müssen die Voraussetzungen für die Wählbarkeit in die Mitarbeitervertretung erfüllen und im Dienst eines kirchlichen Anstellungsträgers im Geltungsbereich der KAGO stehen (§ 18 Abs. 3 KAGO). Der Vorsitzende und der stellvertretende Vorsitzende des Kirchlichen Arbeitsgerichts werden vom Bischof/Erzbischof für die Dauer von fünf Jahren ernannt, nachdem er zuvor bei den zuständigen Gremien (Domkapitel, Diözesancaritasverband usw.) Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben hat (§ 19 KAGO). Der Kirchliche Arbeitsgerichtshof besteht aus dem Präsidenten, dem Vizepräsidenten, einem Mitglied mit der Befähigung zum staatlichen Richteramt (§ 5 DRiG [Dt. Richtergesetz]) und dessen Stellvertreter, einem Mitglied mit der Befähigung zum kirchlichen Richteramt (c. 1421 § 3 CIC) und dessen Stellvertreter, sechs beisitzenden Richtern aus den Kreisen der Dienstgeber, drei beisitzenden Richtern aus den Kreisen der Mitarbeitervertretung sowie drei beisitzenden Richtern aus dem Kreis der KODA-Mitarbeiterseite (§ 22 § 1 KAGO). Der Präsident und die weiteren Mitglieder mit der Befähigung zum Richteramt werden auf Vorschlag des Ständigen Rates der DBK vom Vorsitzenden der DBK für die Dauer von fünf Jahren ernannt, nachdem er dem Verwaltungsrat des VDD, dem Deutschen Caritasverband, der Bundesarbeitsgemeinschaft der Mitarbeitervertretungen und der Mitarbeiterseite der Zentral-KODA Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben hat (§ 25 KAGO). Die beisitzenden Richter werden auf Vorschlag der zuständigen Gremien vom Vorsitzenden der DBK ernannt.

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Die Darlegung der Anstellungsvoraussetzungen für die kirchlichen Richter zeigt, dass zum ganz überwiegenden Teil Laien im theologischen Sinn abweichend von den kodikarischen Normen ein kirchliches Richteramt ausüben. Dies ruft erhebliche theologische und kanonistische Probleme hervor, die bislang nur wenig diskutiert worden sind.14 Der CIC bestimmt in der Konsequenz des II. Vatikanums, das die Einheit der sacra potestas gelehrt hat, in c. 129, dass zur Übernahme von Leitungsgewalt oder Jurisdiktionsgewalt diejenigen befähigt sind, die die heilige Weihe empfangen haben, und dass Laien bei der Ausübung dieser Gewalt nach Maßgabe des Rechtes mitwirken (cooperari) können. Außerdem besagt c. 274 § 1, dass allein Kleriker Ämter erhalten können, zu deren Ausübung Weihegewalt oder kirchliche Leitungsgewalt erforderlich ist. So verlangt c. 1420 § 4, dass sowohl der Gerichtsvikar als auch die beigeordneten Gerichtsvikare Priester sein müssen. Auch die Diözesanrichter müssen Kleriker sein (c. 1421 § 1). Der kodikarische Gesetzgeber hat dieses Prinzip selbst bereits im CIC durchbrochen und in Fortführung des Motu Proprio „Causas matrimoniales“15 die Möglichkeit geschaffen, dass in einem Kollegialgericht von drei oder fünf Richtern ein Laie neben zwei oder vier Klerikern als Richter mitwirkt. Dieses Vorgehen sieht man dadurch als gerechtfertigt an, dass bei der Überzahl der Kleriker der geistliche Charakter gewahrt sei. Denn bei der Urteilsfällung durch ein Kollegium sei dieses selbst Träger der Jurisdiktion, nicht jeder einzelne Richter für sich. Die „Instructio servanda a tribunalibus dioecesanis et interdioecesanis in pertractandis causis nullitatis matrimonii” des Päpstlichen Rates für die Gesetzestexte vom 25. Januar 2005, die mit den Worten „Dignitas connubii“16 beginnt, hat die Frage noch verschärft, indem sie dem Berichterstatter in einem Prozess, der auch ein Laie sein kann, gemäß Art. 47 § 2 weitreichende Vollmachten zuspricht. Er besitzt die Vollmachten des Vorsitzenden, die in Art. 46 § 2 nn. 8 – 16, 18 und 21 genannt sind. Darin sind Kompetenzen und Zuständigkeiten enthalten, die im Bereich richterlicher Vollmacht liegen und in Ausübung hoheitlicher Leitungsgewalt vollzogen werden. Die KAGO entfernt sich nun noch weiter vom kirchlichen Prozessrecht und eröffnet Laien ganz generell den Zugang zum kirchlichen Richteramt. Daher kommt Thomas A. Amann in seiner kritischen Würdigung zu dem Schluss, dass die Normen der KAGO den Prozessnormen des CIC widersprechen, die „für alle kirchlichen Gerichte als bindend anzusehen sind … Auch was … die Bestellung von Laien als kirchliche Richter anbelangt, widersprechen die partikularen Normen der KAGO der Verfas14

Vgl. Winfried Aymans, Laien als kirchliche Richter, in: AfkKR 144 (1971), S. 3 – 20. Paul VI., Motu proprio „Causas Matrimoniales“ vom 28. März 1971, in: AAS 63 (1971), S. 441 – 446. 16 Pontificium Consilium de Legum Textibus, Instructio servanda a tribunalibus dioecesanis et interdioecesani in pertractandis causis nullitatis matrimonii „Dignitas Connubii“ vom 25. Januar 2005, Vatikan 2005. 15

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sung der Kirche und insbesondere dem ius divinum innerhalb der Kirche … Die KAGO widerspricht der Verfassung der Kirche nicht nur aus einer Struktur rein kirchlichen Rechts heraus, sondern in ihrer Grundlegung im ius divinum.“17 Dieser massive Vorwurf richtet sich nicht nur gegen das partikulare Gesetz und den partikularen Gesetzgeber, die DBK, sondern auch gegen den Apostolischen Stuhl und den Papst, die beim Werden dieses Gesetzes mitgewirkt haben. 4. Verfahrensgrundsätze Die KAGO bietet keine umfassende Ordnung mit Anspruch auf Vollständigkeit, sondern formuliert nur die wesentlichen Grundsätze des Verfahrens und Abweichungen vom staatlichen Recht. Nach § 27 KAGO finden auf das Verfahren vor den Kirchlichen Arbeitsgerichten im ersten Rechtszug die Vorschriften des staatlichen Arbeitsgerichtsgesetzes über das Urteilsverfahren in ihrer jeweiligen Fassung Anwendung. Damit wird staatliches Prozessrecht rezipiert. Soweit allerdings Bereiche im Prozessrecht betroffen sind, die der Kirche vorgegeben sind, gelten auch für die Kirchlichen Arbeitsgerichte die kanonischen Normen, insbesondere in den Bereichen, die die Verfassungsstruktur der Kirche betreffen. 5. Verfahren im zweiten Rechtszug Auf das Verfahren vor dem Kirchlichen Arbeitsgerichtshof im zweiten Rechtszug finden gemäß § 46 KAGO die Vorschriften über das Verfahren im ersten Rechtszug (§§ 27 – 43 KAGO) Anwendung, wenn nichts anderes bestimmt wird. „Gegen das Urteil des Kirchlichen Arbeitsgerichts findet die Revision an dem Kirchlichen Arbeitsgerichtshof statt, wenn sie in dem Urteil des Kirchlichen Arbeitsgerichts oder in dem Beschluss des Kirchlichen Arbeitsgerichtshofes nach § 48 zugelassen worden ist“ (§ 47 Abs. 1 KAGO). Die Revision muss zugelassen werden, wenn die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat oder das Urteil von einer Entscheidung des Kirchlichen Arbeitsgerichtshofes abweicht oder ein Verfahrensmangel geltend gemacht wird, auf dem die Entscheidung beruhen kann (§ 47 Abs. 2 KAGO). Gegen die Nichtzulassung der Revision kann Beschwerde eingelegt werden (§48 Abs. 1 KAGO). IV. Geschäftsentwicklung Die Geschäftsstelle des Kirchlichen Arbeitsgerichtshofes hat die Geschäftsstellen der Kirchlichen Arbeitsgerichte I. Instanz gebeten mitzuteilen, wie die Geschäftsentwicklung war. Aus dem Zahlenmaterial lässt sich Folgendes ablesen:

17 Thomas Amann, Die Ausübung der Sacra postestas im kirchlichen Arbeitgericht, in: AfkKR 175 (2006), S. 435 – 451, hier S. 449.

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(1) In dem Zeitraum vom 1. Juli 2005 bis zum 31. Dezember 2007 gab es an den Kirchlichen Arbeitsgerichten insgesamt 575 Verfahren (Eingänge). In den ersten acht bis zehn Monaten nach Inkrafttreten der KAGO gab es verhältnismäßig wenig Eingänge. Danach ist die Zahl der Eingänge kontinuierlich angestiegen. (2) Auffallend sind die starken regionalen Unterschiede bei der Zahl der Verfahren. So hatten z. B. die Arbeitsgerichte in den Bistümern Rottenburg-Stuttgart und Paderborn etwa doppelt so viele Eingänge zu verzeichnen wie das Arbeitsgericht in Bayern, das für sieben Diözesen zuständig ist, oder das Arbeitsgericht NordOst mit Sitz in Hamburg, das für acht Bistümer zuständig ist. Zwar kann man den Unterschied in den Zahlen damit begründen, dass es in Rottenburg-Stuttgart oder Paderborn mehr Mitarbeiter im kirchlichen Dienst gibt. Aber andere Bistümer verfügen ebenfalls über eine hohe Zahl an kirchlichen Mitarbeitern (z. B. Freiburg oder Köln), weisen aber eine deutlich geringere Zahl an Verfahren auf. Beim Kirchlichen Arbeitsgerichtshof sind in den ersten zweieinhalb Jahren 21 Eingänge zu verzeichnen, davon 20 MAVO- und 1 KODA-Verfahren. Diese Zahl ist niedriger als erwartet und lässt sich zum einen dadurch erklären, dass die Gerichte der I. Instanz die Zulassung der Revision bisher restriktiv handhaben. Zum anderen verging eine längere Vorlaufzeit, bis überhaupt die ersten Verfahren nach Inkrafttreten der KAGO zur Revision vorgelegt wurden. Zurzeit verzeichnet der Kirchliche Arbeitsgerichtshof (KAGH) pro Jahr etwa 20 bis 25 Eingänge. (3) Die Regelungsstreitigkeiten, die in die Zuständigkeit der Schlichtungsstellen fallen, sind im Vergleich zu den Rechtsstreitigkeiten, die vor den Kirchlichen Arbeitsgerichten ausgetragen werden, nahezu bedeutungslos. Dies provoziert die Frage, ob man die Zweigleisigkeit des Verfahrens („hier richten, da schlichten“) aufrecht erhalten soll. (4) Die Zahl der MAVO-Streitigkeiten übersteigt die Zahl der KODA-Verfahren deutlich. Das hängt wohl damit zusammen, dass das Mitarbeitervertretungsrecht wesentlich konfliktträchtiger ist als das KODA-Verfahrensrecht. (5) Viele Verfahren werden nicht durch Urteile, sondern durch Klagerücknahme, Vergleiche oder in sonstiger Weise erledigt. Die „Urteilsquote“ liegt z. B. in Rottenburg-Stuttgart bei 28 %, in Freiburg bei 21 %, in Nord-Ost bei nur 8 % und beim KAGH bei 52 %. (6) Bislang ist erst einmal Berufung gegen ein Urteil des Kirchlichen Arbeitsgerichtshofs an die Apostolische Signatur eingelegt worden. Diese hob durch ein delegiertes Gericht die Entscheidung des Kirchlichen Arbeitsgerichtshofs auf.18 (7) Bisher hat es keine größeren Probleme bei der Vollstreckung der Gerichtsentscheidungen gegeben. Von den in der KAGO (§ 53) vorgesehenen Vollstreckungsmaßnahmen musste bislang kein Gebrauch gemacht werden. Dies zeugt von einem großen Vertrauen in die Unabhängigkeit und Autorität der 18

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Kirchlichen Arbeitsgerichte. Befürchtungen, ohne ein staatliches Vollstreckungswesen würden die Entscheidungen der Kirchlichen Arbeitsgerichte nicht ernst genommen und nicht beachtet werden, haben sich bislang nicht bestätigt. Im Gegenteil! Manche Parteien haben geradezu ein Urteil gefordert, um dem Rechtsfrieden zu dienen.

IV. Theologie und Recht der Ehe

„Der Bruder oder die Schwester ist nicht versklavt“ (1 Kor 7,15) Rezeptionsgeschichtliche, ethische und kanonistische Aspekte zu 1 Kor 7 Von Werner Wolbert Die Aussagen des Paulus über Ehe und Ehelosigkeit in 1 Kor 7 sind für den (die) heutige Leser(in) zunächst irritierend. Die Aussagen über die Ehe klingen allzu negativ, die über die Ehelosigkeit können irritieren; entsprechend hat das Kapitel auch eine problematische Rezeptionsgeschichte. Es hat in der Geschichte vor allem als Referenztext gedient für die Hochschätzung der Jungfräulichkeit und (neben der Erzählung vom reichen Jüngling) für die Begründung der Kategorie der evangelischen Räte, schließlich für eine Abwertung der Ehe im Vergleich zur Jungfräulichkeit1; außerdem dienen die Aussagen über die „Übrigen“ (1 Kor 7,12) als biblischer Beleg für die Praxis der Auflösung der sog. Naturehe. I. Die Vermeidung der Unzucht Gleich der erste Vers klingt befremdlich; sein Verständnis ist von entscheidender Bedeutung. Der Satz 1 Kor 7,1 („Es ist gut für den Mann, keine Frau zu berühren.“) wird heute gewöhnlich als Zitat aus dem Brief der Korinther an Paulus verstanden.2 Als These des Paulus gelesen, ergeben sich aus ihm Folgerungen wie etwa die von Hieronymus: „dann muss es doch etwas Böses sein, eine Frau zu berühren“. Wenn nun dennoch dem ehelichen Tun gegenüber Nachsicht geübt wird, so (nach Hieronymus) nur aus dem Grund, um weit Schlimmeres zu vermeiden. „Welchen Wert darf man aber einem Gut zuerkennen, das nur in Rücksicht auf die Verhütung von

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Für die Rezeptionsgeschichte beziehe ich mich vor allem auf Heinrich Klomps, Ehemoral und Jansenismus. Ein Beitrag zur Überwindung des sexualethischen Rigorismus, Köln 1964. Vgl. auch Werner Wolbert, Ist es „gut für den Mann, keine Frau zu berühren“? Zur Interpretation und Rezeption einiger biblischer Texte zur Sexualmoral, in: Konrad Hilpert (Hrsg.), Zukunftshorizonte kirchlicher Sexuallehre. Bausteine zu einer Antwort auf die Missbrauchsdiskussion, Freiburg 2011, S. 182 – 206. 2 Eine versuchte Rekonstruktion dieses Briefes findet sich bei Norbert Baumert, Mann und Frau bei Paulus. Überwindung eines Mißverständnisses, Würzburg 1991, S. 32 f. Vgl. ders., Ehelosigkeit und Ehe im Herrn: eine Neuinterpretation von 1 Kor 7, Würzburg 1984.

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Schlimmerem zugestanden wird.“3 Der Nutzen der Ehe liegt dann im Wesentlichen darin, dass sie den Fortbestand des Jungfrauenstandes sichert.4 In die Auslegung von V. 2 („Wegen der Gefahr der Unzucht soll jeder seine Frau haben.“) wird eigenartigerweise über lange Zeit ein Gesichtspunkt eingetragen, der im ganzen Kapitel von Paulus nicht erwähnt wird: die Zeugung von Nachkommenschaft. Nach Ambrosius hat alles seine Zeit; man soll dem Verlangen nachgeben, solange noch Hoffnung auf Kindersegen besteht.5 Vorbild sind hier die (nicht durch die Erbsünde verdorbenen) Tiere, die „durch die stumme Sprache ihres Verhaltens zu verstehen geben, daß sie der Trieb nach Geschlechtserhaltung, nicht die Gier nach Geschlechtsverkehr beseelt“6. Auch dieser Vergleich mit den Tieren ist Paulus völlig fremd. Nach Klemens von Alexandrien dagegen gilt die Mahnung für solche, die über die Zeugung hinaus den Verkehr suchen. Sie sollen es tun, damit sie nicht nach außerehelichem Geschlechtsgenuss Verlangen tragen, somit das kleinere Übel wählen.7 Dass Paulus den Korinthern auf diese Weise die Leistung der ehelichen Pflicht einschärft, passt andererseits Hieronymus nicht ganz: Diese Weisung gelte für die Korinther als Anfänger in der christlichen Vollkommenheit, nicht dagegen für die vollkommeneren Epheser. Der Christ lebe „in servitute Corinthi, aut Ephesi libertate“8 ;letztere sei anzustreben. Auch in anderen Kontexten spürt man eine Schwierigkeit, 1 Kor 7 und Eph 5 zu vereinbaren; je nach Kontext nimmt man nur einen von den beiden Texten zur Kenntnis: Wo man das hohe Lob der Ehe singt, orientiert man sich an Eph 5,21 – 33; bei kritischen Äußerungen (im Kontext des Lobes der Jungfräulichkeit) an 1 Kor 7.9 Von entscheidender Bedeutung ist auch das Verständnis von V. 6. Was ist das „Zugeständnis“, das Paulus hier macht, und worauf bezieht es sich: auf V. 2 (die Ehe) oder V. 3 (die Erfüllung des debitum)?10 Augustinus bezieht es auf V. 3, liest aber secundum veniam (die Vulgata liest: secundum indulgentiam) und folgert: 3

Contra Jovinianum I 7 (PL 23,218), zitiert nach Klomps, Ehemoral (Anm. 1), S. 19. Epistola 22,20 (PL 22, 406). 5 Expositio Evangelii secundum Lucam I 43 (CSEL 32,38); vgl. Klomps, Ehemoral (Anm. 1), S. 22. 6 Ebd. 7 Stromata III 15. 8 Commentarium in Epistolam ad Ephesios III 5,24 (PL 26,565 A/B). 9 Für die Beratungen des Konzils von Trient ist das eindrucksvoll belegt in der (leider ungedruckten) Salzburger Dissertation von Christine Maria Röhrenbacher, „Nehmen die Ehelosen eine Abkürzung auf dem Weg zu Gott?“ Die theologischen Hintergründe von Canon 10 des Ehedekrets von Trient. Dissertation, Salzburg 1997; dort findet sich reichlich Material zur Wirkungsgeschichte von 1 Kor 7. 10 Einige moderne Exegeten haben das Zugeständnis auf die Wiederaufnahme der leiblichen Gemeinschaft (V.5) bezogen; dann würde aber Paulus in der Ehe Enthaltsamkeit empfehlen – im Widerspruch zum Gedankengang der VV. 1 – 7; vgl. Werner Wolbert, Ethische Argumentation und Paränese in 1 Kor 7 (Moraltheologische Studien. Systematische Abteilung 8), Düsseldorf 1981, S. 85 – 90. 4

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„Wo Verzeihung gewährt werden muß, da liegt ohne Zweifel Sünde vor. Da nun das Beiwohnen in der Absicht auf Nachkommenschaft nicht schuldhaft ist, was anderes gestattet da der Apostel secundum veniam, als daß die Eheleute, wenn sie sich nicht enthalten, die eheliche Pflicht voneinander fordern voluptate propaginis, nicht libidinis voluptate.“11

Allerdings ist der Geschlechtsverkehr für Augustinus auch remedium infirmitatis; deswegen darf man sich dem Ehepartner nicht verweigern. Hier wird also „Verzeihung“ gewährt kraft apostolischer Autorität für Unmäßigkeit in einer an sich erlaubten Sache.12 Das debitum über die Notwendigkeit zu fordern, ist lässliche Sünde; es ist gestattet, damit das gänzlich Verbotene vermieden wird. Eine indulgentia im Unterschied zu einer venia könnte sich dagegen auch auf ein minus bonum beziehen; in dieser Weise interpretiert Thomas Sanchez: „Der hl. Paulus ist anders auszulegen. Man kann unter ,indulgentiaÐ ein Zweifaches verstehen: einmal die Gestattung eines geringeren Übels, zum anderen die eines geringeren Gutes. Wenn er den Beischlaf zur Vermeidung der Unzucht zulassen will, so erlaubt er diesen nur als ein geringeres Übel, verglichen mit der Unzucht, und demnach liegt läßliche Schuld vor. Aber er erlaubt ihn als ein, verglichen mit der Enthaltsamkeit, geringeres Gut, dann aber liegt keine Schuld vor. Und so muß unser Lösungsversuch verstanden werden: er hat den Fall im Auge, wo die Gatten auf keine andere Weise der Gefahr der Unzucht ausweichen können. Die Worte ,wegen eurer UnenthaltsamkeitÐ bestätigen die Richtigkeit unserer Lösung.“13

Man wird dieser Deutung von Sanchez folgen müssen; nach ihr ist es, wie auch Sanchez betont, legitim, die Lust zu suchen, da diese als solche erlaubt ist. Hier fehle es nur oft an der notwendigen Mäßigung.14 Die genannten Interpretationen bezogen V. 6 auf das debitum. Die Jansenisten dagegen haben nach Klomps15 diesen Vers ausnahmslos auf die Ehe bezogen; auf die Erfüllung des debitum bezogen, hieße es ja, dass man sündigen müsste, um seine Pflicht zu erfüllen; dann wäre die Leistung des debitum überhaupt zu verbieten.16 11 De bono coniugali I 14 (CSEL 42,229), zitiert nach Klomps, Ehemoral (Anm. 1), S. 33. („Ubi ergo venia danda est, aliquid esse culpae nulla ratione negabitur. Cum igitur culpabilis non sit generandi intentione concubitus qui proprie nuptiis imputandus est, quid secundum veniam concedit apostolus, nisi quod coniuges, dum se non continent, debitum ab alterutro carnis exposcunt non voluntate propaginis, sed libidinis voluptate? Quae tamen voluptas non propter nuptias cadit in culpam, sed propter nuptias accipit veniam.“) Vgl. zu Augustinus Hans J.Münk, Sexualpessimismus im Kontext der Erbsündenlehre. Gedanken im Anschluss an die Ehelehre des Hl. Ausgustinus, in: Hilpert (Hrsg.), Zukunftshorizonte (Anm. 1), S. 70 – 82. 12 Zur ganz anderen Position von Albertus Magnus, der Gattenliebe als wertvolles Motiv der christlichen Vereinigung sieht, vgl. Klomps, Ehemoral (Anm. 1), S. 40, sowie Leopold Brandl, Die Sexualethik des heiligen Albertus Magnus, Regensburg 1955. 13 Disputationum de Sancto Matrimonii Sacramento libri decem IX disp. 9; zitiert nach Klomps, Ehemoral (Anm. 1), S. 65. 14 Ebd., S. 170. 15 Ebd., S. 171. 16 Im Grunde haben die Jansenisten hier recht: Dass man eine Sünde begeht zur Vermeidung einer schwereren, macht keinen Sinn. Eine lässliche Sünde würde sonst gleichsam im

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Nach der Meinung der Jansenisten ist deshalb die Unzuchtsvermeidung Grund für die Eheschließung, nicht für den Ehevollzug. Der Schlusspunkt der vielfältigen Diskussionen zu dieser Thematik ist schließlich die heutige Position, gemäß der jeder eheliche Akt in se aptus ad prolis generationem sein muss. Folgt man solchen Interpretationen, scheint 1 Kor 7 nicht gerade zu einer positiven Sicht der Ehe beizutragen. Das gilt nicht nur bezüglich der Interpretation von Kirchenvätern und traditionellen Moraltheologen, sondern auch für manche exegetische Beiträge, die das Kapitel unter die Überschrift „Askese“ setzen.17 II. Die stoisch-kynische Kontroverse Ein durchaus modifiziertes Verständnis von 1 Kor 7 ergibt sich, wenn man das Kapitel auf dem Hintergrund der stoischen und kynischen Positionen zur Ehe liest.18 Für die Stoa ist es einerseits Pflicht des Mannes, das Leben des Junggesellen aufzugeben; das entspricht der Natur der Welt, des Kosmos, die den göttlichen Willen reflektiert. Diese Welt besteht aus Einzelstaaten, deren Bestand durch Ehe und Kinderzeugung gesichert wird. Die Hauptsache für den Mann ist nach Epiktet: „Daß er ein Bürger, ein Ehemann, ein Vater sei, daß er Gott ehre, daß er seinen Eltern Dank und Liebe erzeige, daß er überhaupt sein Begehren, sein Vermeiden, sein natürlichen Triebe oder Abneigungen so beherrsche, wie es jedesmal die Pflicht und die natürliche Bestimmung erfordert.“19

Die Ehe gehört zu den pqogco¼lema20, zu den „vorzuziehenden“ Dingen, die dem Bürger einer Polis obliegen, wenn sie auch prinzipiell zu den Mesa (mittleren Dingen), den Adiaphora gehört, die nicht konstitutive Bestandteile der Tugend sind.21 Eine gegensätzliche Perspektive ergibt sich aus der Betrachtung der Welt als Kosmopolis. Hier erhalten die Handlungen ihren Wert durch ihre Auswirkung auf das Ganze, nicht auf die einzelne Stadt; hier ist herauszustellen, dass die Tugend allein Gehorsam gegen Gott begangen. Augustinus müsste die Erfüllung des debitum als das geringere (nichtsittliche) Übel qualifizieren. Das ist ein gutes Beispiel, wie die Nichtunterscheidung zwischen sittlichen und nichtsittlichen Übeln zu einer an sich unakzeptablen Aussage führt; vgl. Bruno Schüller, Die Begründung sittlicher Urteile, Düsseldorf 31987, S. 73 – 78; und Andreas-Michael Weiß, Sittlicher Wert und nichtsittliche Werte. Zur Relevanz der Unterscheidung in der moraltheologischen Diskussion um deontologische Normen (Studien zur theologischen Ethik 73), Freiburg i. Ue./Freiburg i. Br. 1996. 17 Vgl. etwa das Buch von Kurt Niederwimmer, Askese und Mysterium: über Ehe, Ehescheidung und Eheverzicht in den Anfängen des christlichen Glaubens (Forschungen zur Religion und Literatur des Alten und Neuen Testaments 113), Göttingen 1975. 18 Vgl. Will Deming, Paul on Marriage and Celibacy. The Hellenistic Background of 1 Corinthians 7, Grand Rapids (Michigan) 22004, S. 47 – 104. 19 Diatriben III 7,26; Übersetzung nach der Übersetzung von R. Mücke, Heidelberg o. J. 20 Diatriben III 7,25 (Anm. 19). 21 Vgl. Hans Reiner, Die ethische Weisheit der Stoiker heute, in: Gymnasium 76 (1969) S. 330 – 357.

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zur Glückseligkeit ausreicht. Zwar entspricht die Ehe der Natur, in besonderen Umständen ist aber die Ehelosigkeit vorzuziehen. Diese Position lässt sich besonders gut beobachten in Epiktets Diatribe III 22 über den Kynismus. Der Kyniker zweifelt, dass sich – in der Regel – Weib und Kind mit seinem Stande vertragen; er heiratet nicht pqogcoul´myr ausgenommen: „Wenn Du eine Republik von lauter Weisen voraussetzest, …, so wird schwerlich einer unter ihnen auf den Einfall kommen, ein kynisches Leben zu führen.“22 In der gegenwärtigen Lage der Dinge – „muß da nicht der Kyniker ohne jede Abhaltung den Geschäften seines göttlichen Dienstes obliegen? Muss er nicht die Menschen besuchen können, an keine Privatpflichten gebunden und frei von allen Beziehungen, die er ohne Verletzung des Charakters eines Ordnung und Tugend liebenden Mannes nicht aufrecht erhalten und die mit Beibehaltung des Amtes eines Gesandten und Kundschafters und Herolds der Götter nicht beobachten könnte?“23

Die täglichen Sorgen würden also den Kyniker in der Erfüllung seines Auftrages beeinträchtigen. Für ihn ist die Philosophie eine„full time profession“; das erfordert Freiheit von konventioneller Verantwortung wie der von Eheleuten.24 Eine ähnliche Haltung findet sich schon früh bei Anaxagoras. Dieser nennt den Himmel sein Vaterland und kümmert sich nicht um irdische Verpflichtungen, gibt also wohl auch seine Ehe auf.25 Diese Position findet sich in radikaler Form besonders bei Diogenes von Sinope; da dieser ein Bettlerleben führte, war ihm die Gründung eines Hausstandes auch wohl kaum möglich.26 Freilich könnte man die Sache auch umgekehrt sehen: Könnte nicht die Frau dem Kyniker die Sorgen des Alltags abnehmen und ihn so gerade frei machen für einen unbelasteten Dienst an den Menschen? Diese Meinung vertritt in der Tat Xenophon.27 Musonius geht noch weiter: Damit Mann und Frau in der Ehe des Philosophen harmonieren, sollen auch die Frauen Philosophie studieren.28 MusoniusÐ Schüler Epiktet ist hier allerdings skeptischer. Auf

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Diatriben III 22,67 (Anm. 19). Diatriben III 22,69 (Anm. 19). 24 Vgl. auch Adolf Bonhoeffer, Die Ethik des Stoikers Epiktet, Stuttgart 1894, Nachdruck Stuttgart 1968, S. 86 – 89. 25 Vgl. Diogenes Laertios II 7; ähnlich Antiphon und Demokrit, später Theophrast und Epikur (vgl. ebd. X 119). 26 Vgl. ebd. VI 54: Dies musste übrigens nicht Sexualverzicht bedeuten. Als Ausweg ließ Diogenes die Masturbation gelten oder auch, dass mehrere Männer sich die Verantwortung für mehrere Frauen und Kinder teilen; vgl. Deming, Marriage (Anm. 18), S. 61 und Eduard Zeller, Die Philosophie der Griechen in ihrer geschichtlichen Entwicklung II 1, Leipzig 31875, S. 274 f. (er habe öffentlich masturbiert und dabei bedauert, dass er sich nicht auch den Hunger so leicht vertreiben könne). Vgl. auch Diogenes Laertios VII 33 über Zeno. 27 Vgl. Oeconomicus III 10 – 15; VII 32.36 – 42; IX 15.19. 28 Vgl. Otto Hense (Hrsg.), C. Musonii Rufi Reliquiae, Leipzig 1905, S. 8 – 13. Musonius bestreitet, dass die Ehe ein Hindernis für den Philosophen ist; vgl. ebd., S. 70 – 76. Zum Unterschied zwischen Stoikern und Kynikern in dieser Frage vgl. auch Cicero, de finibus III 20,68. 23

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den Einwand, Krates sei immerhin verheiratet gewesen, antwortet er, dessen Frau sei eben ein zweiter Krates gewesen: „Unsere Untersuchung dagegen gilt den landläufigen Verheiratungen ohne Nebenumstände; und solange wir bei unserer Untersuchung bleiben, finden wir nicht, daß bei der jetzigen Lage der Dinge der Ehestand dem Kyniker vorzüglich gut wäre.“29

Freilich ist Epiktets Position nicht eindeutig. Gegen die Epikureer betont er die staatsbürgerlichen Pflichten.30 Es finden sich Argumente für31 und gegen die Ehe, letztere speziell in der Diatribe über den Kynismus (III 22). Im Hinblick auf 1 Kor 7 ist interessant die Formulierung, der Kyniker müsse wegen seiner speziellen Sendung ohne Ablenkung ( !peq¸spastor) sein.32 Das erinnert an Martha, die abgelenkt ist (peqiesp÷to Lk 10,40), und Paulus empfiehlt den Korinthern die Ehelosigkeit, damit sie ungestört ( !peqisp²styr) dem Herrn dienen (1 Kor 7,35). Unter gewöhnlichen Umständen scheint für Epiktet solch ungestörter Dienst dem Philosophen in der Ehe nicht möglich zu sein, weshalb er selbst unverheiratet ist.33 Grundsätzlich ist freilich für ihn das Philosophendasein mit der Ehe nicht unvereinbar; insofern vertritt er eine mittlere Position, eine Art stoisierten Kynismus. Ein Vertreter dieser mittleren Position ist auch Philo. Für ihn ist die Ehe Pflicht, und der weise Mann hat sich gerade auch in Ehe und Haushalt zu bewähren. Alle sollen das Naturgesetz erfüllen und Nachkommen zeugen.34 Philo erwähnt aber auch die Essener und Therapeuten, die für die kynische Tendenz stehen. Hier gilt die Frau als selbstsüchtig, eifersüchtig und verführerisch;35 sie macht den Mann unfrei, macht ihn zum Sklaven. Die Therapeuten dagegen lebten ganz der Philosophie und der Gottesverehrung, frei von Verpflichtungen gegenüber Familie und Stadtstaat, und verstanden sich wie die Kyniker als Bürger der Welt und des Himmels. Bei Philo finden sich also stoische und kynische Elemente; er scheint Sympathie für die kynische Position zu haben, wenn er die verlorene Zeit der Muße betrauert;36 gleichwohl betont er den Primat des praktischen Lebens und verurteilt solche, die sich durch ungepflegtes Aussehen als Philosophen profilieren wollen.37 Neben 1 Kor 7 könnten auch zwei Stellen im Evangelium einen solchen kynischen Hintergrund haben: die Frage der Jünger in Mt 19,10, ob es „nützlich“ sei zu heiraten; und auch die Erzählung von Maria und Martha könnte eine Reflexion auf die Frage 29

Diatriben III 22,76. Diatriben III 7,19 – 28. 31 Diatriben III 23,37 f. und III 21,5 f. 32 Diatriben III 22,69. 33 Diatriben III 22,47 f. 34 De praemiis et poenis 108. 35 Vgl. Hypothetica 11,14; Quod omnis probus liber sit 62 – 63. 75 – 91; De vita contemplativa 90. 36 Vgl. De specialibus legibus 3,1 ff. 37 Vgl. De fuga et inventione 92 f. 30

„Der Bruder oder die Schwester ist nicht versklavt“ (1 Kor 7,15)

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sein, „whether involvement in domestic affairs distracted one from pursuing philosophy“38. III. Die Gefahr der Unzucht Aus der Perspektive der stoisch-kynischen Kontroverse erweisen sich manche Einordnungen von 1 Kor 7 im Sinne von Askese und Sexualfeindschaft als korrekturbedürftig. Mit den meisten Exegeten ist zunächst 7,1b (der die kynische Position vertritt) als Zitat aus dem Brief der Korinther einzuordnen; sonst läge ein Widerspruch zu 7,2 – 5 (der stoischen Position, wie sie vergleichbar bei Musonius formuliert ist) vor.39 Folgt man Demings Vorschlag, auch „jak¹m !mhqyp` t¹ ovtyr eWmai “ in 7,26 als eine Art Zitat zu lesen (was die sprachliche Holprigkeit des Verses beseitigen würde), hätte man zu präzisieren: An sich gilt nicht, dass es für den Mann gut ist, keine Frau zu berühren; aber wegen der anstehenden Not (di± tµm 1mest_sam !m²cjgm) , ist es gut für den Mann, so (ehelos) zu sein. Das würde der oben geschilderten mittleren Position entsprechen. Die sexuelle Enthaltsamkeit um des Gebetes willen ist keine stoische Idee. Deming verweist auf Testamentum Naphtali 8,7 – 10, nach dem beides seine Zeit hat, das Gebet für die Christen möglicherweise besonders in der Zeit der Erwartung der Parusie. Aber wie Test Napht 8,8 warnt auch Paulus vor Übertreibung. Dabei könnte das in V. 7 erwähnte Charisma, das nicht jeder hat, die Ehelosigkeit wie auch die zeitweilige Enthaltsamkeit meinen. Im letzteren Fall ginge es nicht um den Unterschied zwischen Verheirateten und Ehelosen, sondern zwischen Eheleuten, die das Charisma zeitweiliger Abstinenz haben, und solchen, die es nicht haben.40 Hier könnte also eine Mischung aus Ideen der Stoa und jüdischer Tradition vorliegen. IV. Gläubige und Ungläubige Die Verse 7,12 – 14 dürften von anderen Voraussetzungen ausgehen als die kirchenrechtlichen Bestimmungen über das „privilegium paulinum“. Nicht die Unwilligkeit des Ungläubigen, mit dem Gläubigen zusammen zu leben (contumelia creatoris), sondern die Bedenken des Gläubigen, diese Ehe fortzusetzen, sind das Problem, auf das Paulus antwortet. Die Angst vor einer Art Kontamination des Gläubigen durch den Ungläubigen (durch die sexuelle Vereinigung41) ist nach Paulus unbegründet; vielmehr wird der Ungläubige durch den Gläubigen sozusagen dekontami38

Deming, Marriage (Anm. 18), S. 95. Gegen die Rede vom ius in corpus alterius, wie man sie im Kirchenrecht findet, ist allerdings zu betonen, dass hier nicht ein Austausch von Rechten vorliegt, sondern dass Mann und Frau nicht mehr das alleinige Recht über ihren Leib haben. 40 So Deming, Marriage (Anm. 18), S. 125. 41 Solche Angst könnte in 2 Kor 6,14 – 7,1 ausgedrückt sein; vgl. Deming, Marriage (Anm. 18), S. 134 – 136. Zu ähnlichen Reserven vgl. Sir 13 und die stoischen Texte bei dems., Marriage (Anm. 18), S. 138 – 144. 39

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niert (7,14), was Paulus mit einer Art reductio ad absurdum unterstreicht: Offenbar hielt niemand die Kinder aus solchen Verbindungen für unrein, und diese Reinheit scheint unabhängig zu sein von der Erlösung durch Christus, also auch von der Taufe; deshalb gibt es keinen Grund für den Gläubigen zur Trennung. Anders verhält es sich beim Verkehr mit Unzüchtigen (1 Kor 5,9 – 12). Damit ergibt sich auch ein Hinweis auf die zunächst etwas rätselhafte Begründung für die Möglichkeit der Trennung, wenn der Ungläubige es will: der Gläubige sei nicht „versklavt“ (oq dedo¼kytai b !dekv¹r C B !dekvµ 1m to?r toio¼toir). Wenn die Einheitsübersetzung wiedergibt: „Der Bruder oder die Schwester ist in solchen Fällen nicht wie ein Sklave gebunden“, interpretiert sie im Sinn der Bindung an eine Vorschrift (gegen eine Trennung); in diesem Fall würde man allerdings ein d´detai erwarten (wie 7,39; Röm 7,2). Paulus dürfte vielmehr herausstellen, dass die Ehe nicht auf eine Art Sklaverei hinausläuft. Nach Philo suchen die Essener in ihrer Lebensweise eine !do¼kytor 1keuheq¸a;42 solche Freiheit scheint für einige ChristInnen in Korinth nur in der Ehe möglich gewesen zu sein. Versteht man die Nichtversklavung in diesem Sinne, würde sich der Abschnitt 17 – 24 nahtlos anschließen. Auch hier geht es darum, dass die Christen ihre Lebensumstände (Sklaverei oder Freiheit) nicht zu ändern brauchen. Wenn es sich allerdings anders ergibt, wenn der Ungläubige sich trennt oder wenn der Sklave freigelassen wird (7,21), dann soll er (sie) das Beste daraus machen.43 V. Das sogenannte privilegium paulinum Für die Rechtfertigung der Auflösung der Naturehe hat man diese Stelle oft im Sinne einer speziellen Erlaubnis interpretiert, die Gott als sittlicher Gesetzgeber hier dem Paulus mitteile. Der Text spricht aber eigentlich eindeutig gegen ein solches Verständnis; denn Paulus gibt hier sein eigenes Urteil ab („Den übrigen befehle ich, nicht der Herr“). Auf die letztere Schwierigkeit bin ich zum ersten Mal durch A. Vermeersch aufmerksam geworden44: „Estne privilegium immediate divinum, cuius S. Paulus non fuerit nisi praeco an, contra ipse S. Paulus divinitus concessa potestate utens quam nunc unus servat S. Pontifex, definivit discessum infidelis praebere causam sufficientem neglegendi matrimonium quod cum infideli contractum est: res controvertitur. Hactenus stilus Curiae, v. g. S.C.S. Officii, ad originem immediate divinam accommodatus est: describitur privilegium ut ,a Christo Domino concessum, et per apostolum Paulum promulgatumÐ. Et quamvis Ecclesia nihil haereticis ante conversionem concedere soleat, usum tamen privilegii ipsis non negat. 42 Vgl. die ebd. S. 148 f. zitierten Aphorismen, in denen der Ehemann als Sklave der Frau erscheint. 43 Vgl. zu dieser Deutung Scott S. Bartchy, Mallon Chresai. First Century Slavery and the Interpretation of 1 Corinthians 7,21 (Society of Biblical Literature Dissertation Series 11), Missoula 1973. 44 Arthur Vermeersch, Theologiae Moralis Principia – Responsa – Consilia III, Roma 4 1948, S. 496 n. 754.

„Der Bruder oder die Schwester ist nicht versklavt“ (1 Kor 7,15)

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Ita plerique scriptores. Melius tamen dicere videntur qui privilegium istud referunt ad generalem eam potestatem ministerialem apostolis et nunc S. Pontifici concessam, vi cuius, ob iustam causam, matrimonium quod non est ratum simul et consummatum, Apostolica auctoritate dissolvi potest. Ad hanc explicationem melius aptantur verba Apostoli: ,ceteris ego dico, non DominusÐ. Nec variae dispensationes quae concessae sunt videntur explicari posse nisi in matrimonia consummata in infidelitate S. Pontifex eadem possit quare in matrimonia rata non consummata. Semel autem admissa hac S. Pontificis facultate, cur gratis affirmaremus interventum divinum, non necessarium, et qui parum quadrat ad generalem oeconomiam Novi Testamenti, quae haec est, ut praeter necessaria praecepta de fide et sacramentis, Deus nullas alias leges positivas condiderit?“

M. E. hat Vermeersch hier völlig recht: Wie Paulus sein eigenes Urteil abgibt, macht der Papst von seiner apostolischen Vollmacht Gebrauch. Eine spezielle Verlautbarung Gottes als sittlichen Gesetzgebers liegt hier nicht vor. Aber hier ergibt sich sofort eine Frage, die Vermeersch nicht ausdrücklich stellt, aber sicher gespürt hat: Warum macht der Papst nur in den genannten Fällen von dieser Vollmacht Gebrauch? Müsste der Papst kraft seiner Schlüsselgewalt nicht auch die Vollmacht haben, die sakramentale und vollzogene Ehe dem Bande nach zu lösen? Vermeersch scheint auf Grund dieser möglichen Konsequenz Schwierigkeiten bezüglich der Auflösung der Naturehe überhaupt gehabt zu haben. Wenn diese möglich ist, warum soll sie unmöglich für die sakramentale Ehe sein? 1961 hat Pierre AdnÀs auf diese Frage geantwortet: „Die Kirche hat bis heute stets bestritten, diese Vollmacht zu besitzen … Daraus muss man folgern, daß sie diese Vollmacht tatsächlich nicht besitzt.“

AdnÀs weiß also nur das Traditionsargument anzuführen. Diese Antwort, wenngleich sie nur als provisorisch angesehen werden kann, imponiert, weil AdnÀs keine aus scheinbarer theologischer Tiefe geschöpfte Sicherheit vortäuscht. Auch andere Autoren sind in diesem Punkt ähnlich vorsichtig; so artikuliert etwa Prümmer die Schwierigkeit, die sich daraus ergibt, dass zur vollen Unauflöslichkeit zwei Faktoren notwendig sind: „Si quis inquirat in ultimam et adaequatam rationem istius perfectae indissolubilitatis matrimonii consummati, profecto non potest assignari unice lex naturalis; nam in Vetere Lege huiusmodi matrimonia licite solvebantur ,libello repudiiÐ, et in Nova Lege possunt solvi aliquando vi privilegii Paulini …; at in neutro casu potest dici, ipsam legem naturalem (saltem secundum principia primaria) violari. Nec etiam haec perfecta indissolubilitas desumi potest unice ex ratione sacramenti, quae competit matrimonio christiano; nam matrimonium quoque ratum est verum sacramentum; at nihilominus quoad vinculum solvi potest tam dispensatione pontificia quam professione religiosa. Quae cum ita sint, melius et verius dicitur, matrimonium consummatum christianorum esse penitus indissolubile ex positiva voluntate Dei manifestata in evangelio atque hanc indissolubilitatem esse convenientissimam et legi naturali et rationi sacramenti.“45 45 Dominicus M. Prümmer, Manuale Theologiae Moralis III, Friburgi Brisgoviae 1923, S. 465 f. n. 674; vgl. auch S. 473 n. 681: „Iam supra monuimus indissolubilitatem matrimonii non posse erui neque unice ex natura neque unice ex parte sacramenti, sed ex positiva vo-

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Hier wird nicht für die Auflösung der Naturehe, sondern für die Unauflöslichkeit der sakramentalen und vollzogenen Ehe eine positive Willenskundgebung Gottes postuliert. Der Ausdruck „convenientissima“ verrät dabei eine gewisse Verlegenheit: Was aus dem positiven Willen resultiert, könnte auch anders sein. Daraus ergäbe sich eine entscheidende Schwierigkeit für die kanonistische Fiktion, jeder Mensch wolle an sich eine Ehe nach katholischem Verständnis eingehen. Woher soll der NichtChrist den positiven Willen Gottes kennen? Andererseits bezieht sich das Wort Jesu im Evangelium ausdrücklich auf die „Naturehe“ („Im Anfang war es nicht so“ Mt 19,8), was wiederum eine Schwierigkeit für die Praxis von deren Auflösung darstellt. Warum ist die Antwort von P. AdnÀs nicht befriedigend? Wir sagen von Gott, dass er kein Ansehen der Person kenne. Wenn die Gefahr des Abfalls vom Glauben in einem Fall die Möglichkeit der Wiederheirat rechtfertigt, dann müsste sie es eigentlich in allen ähnlich gelagerten Fällen tun. Warum kann der Papst nicht auch „ob causam iustam“ eine sakramentale Ehe auflösen? VI. „Wenn du heiratest, sündigst du nicht.“ (7,28) Zunächst etwas befremdlich klingt die Aussage (7,28): „Wenn Du heiratest, sündigst Du nicht.“ Für den heutigen Leser ist das eine Selbstverständlichkeit, deren ausdrückliche Betonung eher suspekt erscheint. Nun gibt es aber stoische Stimmen, die exakt das Gegenteil sagen: Heiraten unter Umständen, die eher die Ehelosigkeit empfehlen, oder um des Geldes willen ist ein Fehler ("l²qtgla).46 Paulus verwendet nun dieses Wort im Unterschied zur Stoa in einem engeren ausschließlich moralischen Sinn: Die Heirat mag ein Fehler sein, aber „Sünde“ ist sie nicht. Liest man 1 Kor 7 in dieser Weise auf dem Hintergrund der stoisch-kynischen Kontroverse und jüdischer Weisheitstraditionen, ergibt sich eine im Vergleich zu traditionellen Interpretationen veränderte Perspektive. Die Bevorzugung der Ehelosigkeit erscheint modifizierter, die Ehe weniger abgewertet. Wenn nach Paulus die Ehe sogar mit dem oder der Ungläubigen keine „Sklaverei“ bedeutet, könnte das heute manche Argumente für den Zölibat mindestens relativieren. Man könnte also in 1 Kor 7 Argumente für und gegen den Zölibat finden. Kritisch ist auch die Einordnung luntate Dei. Praeterea videtur esse certum christianorum matrimonium ratum non minoris dignitatis et virtutis esse tam ratione contractus quam ratione sacramenti, quam matrimonium consummatum, quia reicienda est theoria copulalis … Quodsi nihilominus saepissime dissolverunt Summi Pontifices matrimonium ratum et numquam matrimonium consummatum christianorum, haec agendi ratio et facultas videtur esse desumenda ex positiva voluntate Christi, qui cum sua Ecclesia erit usque in finem saeculi neque sinit illam errare in re, quae tam intime attingit mores totius populi christiani.“ 46 Vgl. Belege bei Deming, Marriage (Anm. 18), S. 172; so heißt es in dem bei Deming im Anhang abgedruckten Ocellus Lucanus Fragment (S. 234 f.): „Viele sündigen (irren, "laqt²mousi), indem sie Ehen eingehen ohne Rücksicht auf die Qualitäten einer Person oder den Nutzen der Gemeinschaft“.

„Der Bruder oder die Schwester ist nicht versklavt“ (1 Kor 7,15)

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des Kapitels unter das Stichwort „Askese“ zu überprüfen. Manche Ausleger haben unter diesem Stichwort Paulus Sexual- und Ehefeindschaft attestiert, vielleicht um von vornherein Folgerungen aus den paulinischen Aussagen auf die heutige Zeit einen Riegel vorzuschieben. Mit Deming kann man dagegen festhalten, „that PaulÏs understanding of marriage is predicated on a positive evaluation of celibacy rather than a negative evaluation of sexuality or a theology of sexual asceticism”47. Schließlich ist immer zu bedenken, dass 1 Kor 7 kein generelles theologisches Positionspapier zum Thema Ehe und Jungfräulichkeit ist, sondern eine Antwort auf einen Brief der Korinther, und deshalb auf die korinthische Situation bezogen. Hätte Paulus das Thema auch im Römerbrief erörtert, hätte er vielleicht andere Akzente gesetzt. Paulus setzt den Wert der Ehe nicht zu hoch an; sein Lob der Ehelosigkeit unterminiert aber auch nicht die Institution Ehe. Insofern wäre zur Wertung der Ehe durchaus auch 1 Kor 7 zu lesen, und nicht nur Eph 5,22 – 33.48 Natürlich fehlen in 1 Kor 7 entscheidende Gesichtspunkte, etwa die Liebe zwischen den Eheleuten. Andererseits könnte die paulinische Reserve gegen zeitweilige Enthaltsamkeit heute eine kritische Frage an die Empfehlung periodischer Enthaltsamkeit darstellen, wenn es um Empfängnisverhütung geht. Schließlich hat die Reserve gegenüber der Ehe (vielleicht auch der Wiederheirat) mit dem apokalyptischen Motiv der Bedrängnis zu tun (7,28), und offensichtlich hat die Bevorzugung der Ehelosigkeit hier nichts mit einem Leib-Seele-Dualismus zu tun, wie er ab dem zweiten Jahrhundert ins Christentum eindringt. Auch bezüglich der späteren Idee eines vollkommeneren Weges oder Standes wäre mit Deming für Paulus festzuhalten: „it is not a matter of choosing a lower or higher standard of morality, but of forestalling important decisions in life on the basis of expediency.“49

Diesem Verständnis scheinen die VV. 32 – 35 zu widersprechen, gemäß denen die Eheleute „geteilt“ sind und weltliche Sorgen haben. Dabei ist es nicht die Ehe selbst, sondern die mit ihr gegebene Involvierung in weltliche Sorgen, die die Eheleute „teilt“. Dies ist aber wohl nicht im Sinn eines geteilten Herzens, geteilter Affekte im romantischen Sinn zu verstehen, sondern im Sinn der Mühen und des Aufwands, die die Sicherung des Unterhalts einer Familie damals erforderte. Diese und die damit gegebene „Ablenkung“ sind in heutiger Zeit – zumindest in den westlichen Ländern – wohl eher geringer. Nicht zuletzt ist hervorzuheben, wie sorgfältig Paulus hier zwischen dem Herrenwort, seiner privaten Meinung und einer autoritativen Belehrung unterscheidet, worum sich spätere kirchliche Autoritäten nicht immer bemüht haben.

47

Deming, Marriage (Anm. 18), S. 207. Für die asketische Deutung vgl. Niederwimmer, Askese und Mysterium (Anm. 17). 48 Vgl. Deming, Marriage (Anm. 18), S. 210 f. Das Schweigen zum Thema Nachkommenschaft könnte durch den Versuch bedingt sein, diese Balance zu halten (vgl. ebd., S. 212). 49 Deming, Marriage (Anm. 18), S. 219.

Das Ehehindernis der Blutsverwandtschaft in der Urversion des Decretum Gratiani (Mitte 12. Jh.) Von Heinz-Meinolf Stamm Vom Decretum Gratiani1 sind fünf sehr frühe Handschriften erhalten, die eine erheblich kürzere Form der Rechtssammlung bieten. Es sind dies der Codex 23 und 43 der Stiftsbibliothek Admont (Aa), der Codex Santa Mar†a de Ripoll 78 in Arxiu de la Corona dÏAragý in Barcelona (Bc), der Codex Conv. Soppr. A. 1402 in der Biblioteca Nazionale Centrale in Florenz (Fd)2, der Codex Nouvelles Acquisitions Latines 1761 in der BibliothÀque Nationale de France in Paris (P) und der Codex latinus 3884, vol. I, fol. 1, in der BibliothÀque Nationale de France in Paris (Pfr). Anders Winroth, Professor für Geschichte an der Yale University in New Haven, USA, konnte vor einigen Jahren nachweisen, dass es sich bei diesen codices nicht um eine Kurzfassung, son1 Vgl. Decretum Magistri Gratiani: concordia discordantium canonum [Decr. Grat.], in: Corpus iuris canonici [Corp. iur. can.], ed. Lipsiensis secunda, post A. L. Richteri curas ad librorum manu scriptorum et editionis Romanae fidem recognovit et adnotatione critica instruxit A. Friedberg, unveränd. Nachdr. der 1879 in Leipzig ersch. Ausg., 2 tom., Graz, 1959, tom. I, col. 1 – 1435. Zu Gratian selbst vgl. Jean Werckmeister, Wer war eigentlich Gratian?, in: Festg. Rößler, S. 183 – 192. Karl Weinzierl, Kirchliche Strafen im Dekret Gratians, in: Festg. Scheuermann, S. 677 – 689, hier S. 677, stellt das Decretum Gratiani vor: „Der Magister Gratian von Bologna hat in seiner Concordia discordantium canonum die Fülle des kirchenrechtlichen Stoffes der vorausgehenden Zeit gesammelt und lehrbuchmäßig verwertet. Dieser kanonistische Stoff verdient deshalb eine so starke Beachtung, weil das Dekret Gratians die bisherige Entwicklung abgeschlossen und eine neue Entwicklung der Kirchenrechtswissenschaft angebahnt hat. Die Gliederung des ganzen Werkes ist eigenartig und nicht allzu vollkommen. Immerhin kann als Materie herausgehoben werden: in der Pars I der Begriff und die Einteilung des Rechts mit den Quellen des kirchlichen Rechts und der Tractatus ordinandorum, die Lehre von den Klerikern und ihren Weihen, in der Pars II die negotia ecclesiastica mit Prozessrecht, Vermögensrecht, Ordensrecht und Eherecht … .“ Joseph Lortz, Die Geschichte der Kirche in ideengeschichtlicher Betrachtung, 2 Bde, Münster 1962, 1. Bd., S. 360, fasst das Verdienst Gratians zusammen: „Die Umschichtung der geistigen Art des abendländischen Denkens im 12. Jh. reicht noch weiter. Damals wurde auch das Kirchenrecht als eigene Wissenschaft geboren. Sozusagen als ein Gegenstück zu dem geschlossenen Corpus des römischen Rechts schuf der Kamaldulenser-Mönch Gratian um 1140 ein Lehrbuch des Kirchenrechts, das berühmte Decretum. Von nun an standen neben den … ,LegistenÐ die ,DekretistenÐ.“ 2 Vgl. Carlos Larrainzar, El Decreto de Graciano del Codice Fd, in: Ius Ecclesiae 10 (1998), S. 421 – 489; ders., La formaciýn del Decreto de Graciano por etapas, in: ZRG Kan.Abt. 87 (2001), S. 67 – 83; Anders Winroth, Le manuscript florentin du D¦cret de Gratien: critique des travaux de Carlos Larrainzar sur Gratien, in: RDC 51 (2001), S. 211 – 231.

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dern um die Urversion des Textes handelt3, die später – wahrscheinlich nicht von Gratian selbst, sondern von einem oder mehreren anderen Autoren – stark erweitert, an zahlreichen Stellen aber durch kontrastierende Einschübe in ihrer inhaltlichen Ausrichtung verändert, zum Teil sogar gänzlich verfälscht wurde.4 Obwohl keiner dieser codices vollständig erhalten ist – der letztgenannte codex umfasst nur ein Blatt –, konnte Winroth doch mit ihnen die ganze erste Version des Decretum rekonstruieren.5 Hier soll nun den Ausführungen Gratians über das Ehehindernis der Blutsverwandtschaft in der Urversion seiner Rechtssammlung nachgegangen werden.6 Sie sind enthalten im Decretum, pars secunda, causa 35, quaestio 1 – 9.7

3

Vgl. Anders Winroth, The Making of GratianÏs Decretum, Cambridge 2000. Die fünf codices werden ebd., S. 23 – 32, ausführlich vorgestellt. vgl. auch: Anders Winroth, Recent Work on the Making of GratianÏs Decretum, in: Bulletin of Medieval Canon Law, new series 26 (2006), S. 1 – 29. 4 Vgl. Anders Winroth, The Two Recensions of GratianÏs Decretum, in: ZRG Kan.Abt. 83 (1997), S. 22 – 31; ders., Lex deux Gratien et le droit romain, in: RDC 48 (1998), S. 285 – 298; Peter Landau, Patristische Texte in den beiden Rezensionen des Decretum Gratiani, in: Bulletin of Medieval Canon Law, new series, 23 (1999), S. 77 – 84. 5 Vgl. Winroth, The Making of GratianÏs Decretum (Anm. 3), S. 197 – 227. Die „Urfassung des Decretum gliedert sich danach in zwei Teile: einen ersten Teil mit 96 distinctiones – es fehlen hier noch die distinctiones 18, 52, 73, 78, 87 – und einen zweiten Teil mit 36 causae. Der dritte Teil fehlt hier noch ganz. Später wurden innerhalb der einzelnen distinctiones und causae zahlreiche Ergänzungen vorgenommen. Ferner wurde später der dritte Teil mit fünf distinctiones zum Recht der Kirchweihe, der Eucharistie, der kirchlichen Feste, der Taufe und der Firmung hinzugefügt. Diese Ergänzungen wichen aber häufig erheblich vom Denken Gratians ab. 6 Vgl. Willibald Maria Plöchl, Das Eherecht des Magister Gratianus, Leipzig/Wien 1935 (Wiener staats- und rechtswissenschaftliche Studien, neue Folge 24); ders., Geschichte des Kirchenrechts, 5 Bde., Bd. I – III: 2. Aufl., Wien/München 1960 – 1970, Bd. II, S. 321 – 322; Volkert Pfaff, Das kirchliche Eherecht am Ende des zwölften Jahrhunderts, in: ZRG Kan.Abt. 63 (1977), S. 73 – 117; Jean Werckmeister, Les deux versions du «De matrimonio« de Gratien, in: RDC 48 (1998), S. 301 – 315. 7 Vgl. Corp. iur. can., tom. I, col. 1261 – 1286. Auch: D¦cret de Gratien, causes 27 – 36: le mariage, ¦dition, traduction, introduction et notes par J. Werckmeister, Paris 2011 (RDC 58 – 59; Sources canoniques, 3), S. 580 – 669. In Wirklichkeit sind es nur acht quaestiones, da die zweite und dritte quaestio zusammengefasst werden. Nach den Angaben von Winroth, The Making of GratianÏs Decretum (Anm. 3), S. 226 – 227, umfasst die pars 2, causa 35, quaestio 1 – 9, in der Urversion folgende Texte: causa 35, dictum introductorium; – quaestio 1, dict. intr.; c. un.; c. un., dictum explicatorium; – quaestio 2 et 3, dict. intr.; c. 1; c. 3; c. 4; c. 7; c. 10 (Nec eam quam – et cunctis hominibus); c. 12; c. 13; c. 14; c. 16; c. 18; c. 19; c. 19, dict. expl.; c. 20; c. 21; c. 21, dict. explic. (Hac auctoritate dum – ducunt in uxorem); c. 22, dict. expl.; – quaestio 4, dict. intr.; c. un.; – quaestio 5, dict. intr.; c. 1; c. 2; c. 3; c. 6; c. 6, dict. explic.; – quaestio 6, dict. intr.; c. 1; c. 3; c. 4, dict. expl.; c. 5; c. 6; c. 11, dict. expl.; – quaestio 7, dict. intr.; c. un.; – quaestio 8, dict. intr.; c. 1; c. 2; c. 3, dict. expl.; – quaestio 9, dict. intr.; c. 1; c. 2, dict. expl.; c. 3 (Quod quis commisit – vult vitare damnabit); c. 6; c. 9.

Das Ehehindernis der Blutsverwandtschaft

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Controversia Gratian geht von einem konkreten Fall aus. Ein Mann heiratete nach dem Tode seiner Frau eine andere Frau, die mit ihm im sechsten Grade blutsverwandt war. Sie schenkte ihm mehrere Kinder. Nach drei Jahren wurde der Mann bei der Kirche wegen Ehe unter Blutsverwandten angeklagt. Er gab an, von der Blutsverwandtschaft nichts gewusst zu haben.8 Der Fall wirft für Gratian mehrere grundsätzliche rechtliche Fragen auf: I. Ist eine Ehe unter Blutsverwandten erlaubt? II. Wie weit reicht das Verbot der Ehe unter Blutsverwandten? III. Warum gilt diese Reichweite für das Verbot der Ehe unter Blutsverwandten? IV. Wie sind die Verwandtschaftsgrade zu berechnen? V. Wer kann als Kläger und Zeuge für eine vermutete Blutsverwandtschaft zugelassen werden? VI. Sind Kinder aus einer Ehe unter Blutsverwandten ehelich? VII. Kann bei Irrtum vom Verbot der Ehe unter Blutsverwandten befreit werden? VIII. Ist eine Ehe, die irrtümlich von der Kirche wegen vermeintlicher Blutsverwandtschaft getrennt wurde, nach Aufdeckung des Irrtums wiederherzustellen?9 I. Quaestio 1: Begründung des Ehehindernisses der Blutsverwandtschaft Als erstes stellt sich für Gratian die Frage, ob eine Ehe unter Blutsverwandten erlaubt ist. Er findet widerstreitende Auffassungen vor.10 1. Thesis: Allgemeine Erlaubnis zur Ehe unter Blutsverwandten Die Ehe unter Blutsverwandten scheint allgemein erlaubt zu sein. Im ganzen Alten Testament wird die Ehe unter Blutsverwandten als erlaubt vorgestellt. Abraham nimmt Sara11, seine Schwester12, zur Frau. Auch Lot heiratet seine Schwester.13 8

Vgl. Decr. Grat., pars 2, c ausa 35, dict. intr. Vgl. ebd. 10 Vgl. ebd., qu. 1, dict. intr. 11 Vgl. Gen 11,29 – 31. 12 Nach Gen 20,12 ist Sara eine Halbschwester Abrahams, da sie mit ihm den gleichen Vater, aber nicht die gleiche Mutter hat. Abweichend davon schreibt Gratian: „die Tochter seines Bruders“. In diesem Sinne gibt die Glossa ordinaria an, Sara sei die Tochter Harans, des Bruders Abrahams. Nach Gen 11,27 – 29 nimmt Nahor, der Bruder Abrahams, Milka, die Tochter seines Bruders Haran, zur Frau. Roland de Vaux, Die Patriarchenerzählungen und die Geschichte, Stuttgart 1965 (Stuttgarter Bibelstudien 3), S. 30 – 31, vermutet, es könnte bei all diesen Berichten der rechtliche Ehrentitel einer „Schwester-Frau“ eine Rolle spielen, wie er nach den im mesopotamischen Nuzi (genauer: Nuzu) gefundenen Texten bei den Hurritern üblich war: „Abraham bezeichnet seine Frau Sara zweimal als seine Schwester: gegenüber dem Pharao, Gn 12,10 – 13, und gegenüber Abimelek, dem König von Gerar, Gn 20,1 – 17. Isaak tut das gleiche mit Rebekka, wieder gegenüber Abimelek, Gn 26,1 – 11. Die drei Episoden haben alte und moderne Erklärer in gleicher Weise in Verlegenheit versetzt. Nun hat 9

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Isaak vermählt sich mit Rebekka14, der Tochter des Brudersohnes seines Vaters15, Jakob mit Lea und Rahel16, den Töchtern Labans, des Großneffen seines Großvaters17. Im Gesetz gebietet der Herr dem Mose18, niemand dürfe sich eine Frau von außerhalb seines Stammes und seiner Familie nehmen und, wenn ein Mann ohne Kinder stirbt, so müsse der Bruder die Witwe heiraten und seinem Bruder Nachkommenschaft erwecken.19 Die Gebote des Alten Testamentes gelten auch weiterhin bis zum gegenwärtigen Tag, wenn nicht nachgewiesen werden kann, dass durch das Evangelium oder durch die Apostel etwas anderes geboten wurde. Weder im Evangelium noch in den Schriften der Apostel findet sich aber eine Aufhebung dieser Gebote. Sie müssen somit als nach wie vor gültig angesehen werden. Ehen unter Blutsverwandten scheinen demnach allgemein erlaubt zu sein.20 2. Antithesis: Erlaubnis zur Ehe unter Blutsverwandten nur in Ausnahmesituationen Der These von der allgemeinen Erlaubnis zur Ehe unter Blutsverwandten wird jedoch entgegengehalten, dass eine solche Ehe lediglich der Notwendigkeit wegen erlaubt oder triftiger Gründe wegen sogar geboten wurde.21 jedoch nach den Nuzi-Texten eine Adoptivschwester Rechte und Pflichten wie eine Ehefrau. Mehr noch, eine Frau, die ihr natürlicher oder Adoptivbruder zur Ehe gab, wurde gesetzlich die ,SchwesterÐ ihres Mannes. Derartige ,Schwester-FrauenÐ genossen spezielle gesellschaftliche und rechtliche Privilegien. Der Brauch war besonders in den oberen Gesellschaftsschichten verbreitet … Eine Genealogie Saras bringt die Bibel nicht. Vielleicht war sie eine Adoptivtochter von Tärah [Terach, Vater Abrahams]. Unter dieser Vorraussetzung kam sie als ,Schwester-FrauÐ für Abraham in Betracht. Rebekka wurde Isaak durch ihren Bruder Laban zur Ehe gegeben. Auf diese Weise war sie eine ,Schwester-FrauÐ. Dieser Brauch dürfte also hinter den Erzählungen der Genesis stehen … Vielleicht haben sich Abraham und Isaak vor ihren königlichen Gastgebern des ehrenvollen Ranges ihrer Frauen rühmen wollen.“ 13 Gratian stellt es so dar, aus den biblischen Texten geht es aber nicht hervor. Lot ist der Sohn Harans, des Bruders Abrahams, vgl. Gen 11,27. 14 Vgl. Gen 24,15. Rebekka ist die Tochter Betuels, die Enkelin Nahors, des Bruder Abrahams. Sie ist die Schwester Labans. 15 Gratian schreibt irrtümlich: „Tochter des Schwestersohnes seiner Mutter“. 16 Vgl. Gen 29,16 – 31. Lea und Rahel sind die Töchter Labans, die Enkelinnen Betuels, die Urenkelinnen Nahors, des Bruders Abrahams. 17 Gratian schreibt irrtümlich: „Labans, des Bruders seiner Mutter“. 18 Vgl. Num 36,6 – 9; Dtn 25,5 – 6. Die Glossa ordinaria ergänzt, dass in Lev 18,7 – 18 der Herr durch Mose eine Vereinigung des Sohnes mit seiner Mutter, der Tochter mit ihrem Vater und des Bruders mit seiner Schwester untersagte. 19 Vgl. Decr. Grat., pars 2, causa 35, qu. 1, dict. intr. 20 Vgl. ebd. 21 Vgl. ebd. Einer der ersten Kommentatoren des Decretum Gratiani, der Magister Rolandus, Summa, hrsg. von F. Thaner, 2. Neudr. der Ausg. Innsbruck 1874, Aalen 1973, S. 208 – 209, fasst die Gründe, die eine Ehe unter Blutsverwandten erlauben oder sogar ge-

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Zu Anfang, als der Mann und aus seiner Seite die Frau geschaffen wurden, mussten die Brüder ihre Schwestern heiraten. Da dies aber lediglich wegen der Notwendigkeit zugestanden wurde, kann es nicht mehr gelten, sobald die Notwendigkeit wegfällt. Die Ehe unter Blutsverwandten ist deshalb umso verdammenswerter, je weniger eine Notwendigkeit vorliegt. Der Herr selbst sprach bereits im Gesetz zu Mose22: „Du sollst die Scham deiner Schwester nicht entblößen.“23 Aus vernünftigen Gründen konnte die Ehe unter Blutsverwandten sogar geboten werden. Als alle der Abgötterei verfielen, beharrte als einzige die Familie des Heber in der Verehrung des wahren Gottes.24 Abraham weigerte sich, das Feuer anzubeten. Von den Chaldäern wurde er zusammen mit Aram25 ins Feuer geworfen, damit er durch den Brand das Wesen der Göttlichkeit des Feuers empfinde. Doch er weigerte sich, es als göttlich zu verehren.26 Damit nun die Gläubigen nicht durch Verbindung mit den Ungläubigen der Abgötterei verfielen und hierdurch den wahren Gott beleidigten, wie es vor der Sintflut bei den Kindern Gottes geschah, die durch Vermischung mit den Töchtern ungläubiger Menschen die Strafe Gottes herausforderten, so wurde mit Recht vorgeschrieben, dass die heiligen Männer, die Patriarchen, nur aus ihrer Verwandtschaft, d. h. der Familie der Gläubigen, Frauen nähmen. Als die Kinder Israels im Begriff waren, das Land der Verheißung zu betreten, gebot ihnen der Herr, sie sollten nicht die Töchter der Kanaaniter heiraten, noch diesen ihre eigenen Töchter zur Ehe geben. Und er fügte hinzu27: „… damit sie euch nicht von eurem Gott abwenden und durch fremde Götter verunreinigen.“ Später befahl Esra28 den Kindern Israels, sich von den idumäischen Frauen und den Frauen aus anderen Nationen, durch die sie sich fremden Göttern zuwandten, zu trennen.29

bieten konnten, zusammen: „Tres rationes redduntur, quare institutum sit, ut consanguinei matrimonio copulentur: primo causa necessitatis, secundo ad distinctionem populi Dei conservandam, tertio propter signifationem.“ Zu der Summa des Magister Rolandus vgl. Rudolf Weigand, Glossen des Magister Rolandus zum Dekret Gratians, in: Miscellanea Rolando Bandinelli: Papa Alessandro III, a cura di F. Liotta, Siena 1986, S. 389 – 423. 22 Vgl. Lev 18,9. 23 Vgl. Decr. Grat., pars 2, causa 35, qu. 1, dict. intr. 24 Heber war der Sohn Berias, der Enkel Aschers, der Urenkel Jakobs, vgl. Gen 46,17; Num 26,45; 1 Chr 7,31 – 32. Die Glossa ordinaria erinnert daran, dass sich nach ihm die Sippe der Heberiter nannte, vgl. Num 26,45. 25 Aram war der Sohn Kemuels, der Enkel Nahors, des Bruders Abrahams, vgl. Gen 22,21. 26 Die Glossa ordinaria erläutert, dass die Chaldäer für Gott das Feuer hüteten. Sie sagten, wie Gott überall sei, so sei auch das Feuer überall, sogar in den Steinen. Schließlich identifizierten sie das Feuer mit ihrem Gott. Als die Chaldäer Abraham und seinen Großneffen Aram ins Feuer warfen, stieg Abraham, da er unbeirrt einzig an Gott und nicht an die Gottheit des Feuers glaubte, unverletzt aus dem Feuer empor. Aram dagegen hegte Zweifel und verbrannte im Feuer. 27 Vgl. Dtn 7,4. 28 Vgl. Esra 10,11. 29 Vgl. Decr. Grat., pars 2, causa 35, qu. 1, c. un., dict. expl.

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Es gibt noch einen weiteren Grund, weshalb die Ehe unter Blutsverwandten im Volke Gottes anfangs erlaubt oder sogar vorgeschrieben werden konnte. Gott bereitete das Heil des Menschengeschlechtes ursprünglich so vor, dass er seine erste Kirche in dem Volke errichtete, das durch die Bande des Blutes und Fleisches miteinander verbunden war. Er erwählte zuerst aus dem jüdischen Volke die Apostel und bestellte sie zu den Grundsäulen seiner Kirche. Durch deren Verkündigung wandten sich viele aus dem Volke Gott zu und begründeten unter sich den Beginn der Kirche. Später, als das jüdische Volk in der Blindheit seines Unglaubens verblieb, gelangte die Verkündigung des Evangeliums auch zu den Heiden, die im Glauben und in der Verwandtschaft des Fleisches Christus fremd waren. Christus erwählte sich somit, gleichsam die Verbindung mit einer Blutsverwandten verachtend, eine Gemahlin aus einem fremden Volk. Damit wurde erfüllt, was er durch den Propheten vorhergesagt hatte30 : „In euren Sünden habe ich eure Mutter verstoßen, als eine Ehebrecherin und Verschmähte.“ Und ebenso durch einen anderen Propheten31: „Ich werde mein Volk nicht mein Volk nennen.“ 3. Synthesis: Grundsätzliches Verbot der Ehe unter Blutsverwandten So gelangt Gratian zu der Erkenntnis, dass die Ehe unter Blutsverwandten grundsätzlich verboten ist.32 Durch die Gewohnheit, die vom Anfang der Verbreitung des Menschengeschlechtes herrührte und die später von keinem Gesetz durch eine Gegenanweisung untersagt wurde, werden Abraham, Isaak und Jakob und all die Übrigen entschuldigt, die Frauen aus ihrer eigenen Verwandtschaft nahmen.33 Auch der Kirchenvater und Kirchenlehrer Augustinus (354 – 430) führt aus:34 „Da das Menschengeschlecht nach der ersten Verbindung des aus dem Staube geschaffenen Mannes mit der aus der Seite des Mannes geschaffenen Frau der Verbindung der Männer mit den Frauen bedurfte, um sich durch Zeugung zu vermehren, und da es außer den Kindern jener beiden keine Menschen gab, mussten die Männer ihre Schwestern zur Frau nehmen. Je weniger dies nun, da keine dringende Notwendigkeit mehr dazu vorhanden ist, zu unseren Zeiten passt, desto verdammenswerter ist es durch das Verbot vonseiten unserer Religion. Denn mit vollem Recht ist sie auf die allgemeine Menschenliebe bedacht, damit die Menschen, zwischen denen eine fruchtbringende und ehrsame Einigkeit herrschen soll, aus verschiedenen Familien sich verbinden. Nicht sollen Mann und Frau aus einer Familie sein, vielmehr sollen sich aus verschiedenen Familien Verschiedene miteinander vermählen. So sollen sich die Menschen zum besseren Erreichen eines gemeinschaftlichen Zusammen30 31 32 33 34

Vgl. Jes 50,1. Vgl. Hos 2,25. Vgl. Decr. Grat., pars 2, causa 35, qu. 1, c. un., dict. expl. Vgl. ebd. Aurelius Augustinus, De civitate Dei, lib. 15, tit. 16, cap. 1 – 3.

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lebens mannigfaltig miteinander vermischen und zueinander gesellen. Vater und Schwiegervater sollen aus verschiedenen Familien stammen. Auf diese Weise vervielfältigt sich die Liebe. Adam war gezwungen, seinen Söhnen und Töchtern beides, Vater und Schwiegervater, zu sein. Denn die Brüder verbanden sich ehelich mit ihren Schwestern. Auch Eva war ihren Kindern Mutter und Schwiegermutter … Bei vergrößerter Zahl aber wurden Frauen gewählt, die nicht die eigenen Schwestern waren. Denn dazu bestand keine Notwendigkeit mehr, und es wäre auch eine Sünde gewesen. Bei den gottlosen Anbetern vielfältiger und falscher Götter finden sich perverse Gesetze, nach denen die Ehe zwischen Geschwistern erlaubt ist. Doch die bessere Sitte verabscheut eine solche Erlaubnis und wendet sich davon ab, als wenn es niemals erlaubt gewesen wäre, obwohl es in den ersten Zeiten des Menschengeschlechtes erlaubt war, die eigene Schwester zur Frau zu nehmen. So wird die Verbindung von Mann und Frau für das Menschengeschlecht zu einer Lehrstätte der Liebe. Das Himmelreich verlangt, dass hier alles Schädliche vermieden wird.“35

So war zunächst die Ehe unter Blutsverwandten im Volke Gottes erlaubt, jetzt aber ist sie untersagt. Auch findet sich das Volk der Gläubigen nicht mehr in nur einer Familie, sondern in der gesamten Menge der Völker. Deshalb darf man nicht mehr aus der eigenen Verwandtschaft, sondern nur noch aus einer anderen Familie eine Frau nehmen.36 Es ist allerdings wahr, dass die Vorschriften des Gesetzes weiterhin zu beobachten sind, wenn nicht bewiesen ist, dass sie durch die Evangelien oder die Apostel aufgehoben wurden. Aber der Apostel Paulus zeigt, dass alle äußeren Formen auf Zeit gegeben werden und nicht mehr zu beobachten sind, wenn die Wahrheit ans Licht kommt. Durch die Einsetzung des Sakramentes gelten die äußeren Formen nicht mehr, obwohl weder die Evangelien noch die Apostel sie außer Kraft gesetzt haben. Das bestätigt auch die Kirche auf den Rat der Vollkommenheit hin. Damit steht mit Sicherheit fest, dass die Ehe unter Blutsverwandten, obwohl weder durch die Evangelien noch durch die Apostel verboten, zu meiden ist, da sie durch die Ordnungen der Kirche beendet ist.37

35

Decr. Grat., pars 2, causa 35, qu. 1, c. un. Vgl. ebd., c. un., dict. expl. 37 Vgl. ebd. Bei dem Ehehindernis der Blutsverwandtschaft handelt es sich für Gratian um ein Verbot. Die Blutsverwandtschaft als ein trennendes Ehehindernis mit der Folge der Nichtigkeit der Ehe ist Gratian noch unbekannt. Zum Eherechtsverständnis Gratians vgl. Peter Fabritz, Sanatio in radice: Historie eines Rechtsinstituts und seine Beziehung zum sakramentalen Eheverständnis der katholischen Kirche, Frankfurt a. M., 2010 (Adnotationes in ius canonicum 49), S. 52 – 54. 36

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II. Quaestio 2 et 3: Umfang des Ehehindernisses der Blutsverwandtschaft Nachdem geklärt ist, dass man von der Ehe unter Blutsverwandten abstehen muss, fragt Gratian, bis zu welchem Grad die Ehe mit einem Blutsverwandten zu vermeiden ist. Auch hier begegnen ihm unterschiedliche Richtlinien.38 1. Thesis: Verbot der Ehe unter Blutsverwandten bis zum sechsten Grad Das Mainzer Partikularkonzil von 813 dehnt das Verbot bis zum sechsten Grad der Blutsverwandtschaft aus: „Wir verbieten, dass sich in Zukunft jemand im vierten, fünften oder sechsten Grade verheiratet. Wird eine Übertretung dieses Verbotes bemerkt, soll die Trennung der beiden verlangt werden.“39 2. Antithesis: Verbot der Ehe unter Blutsverwandten bis zum dritten Grad In einem Schreiben Papst Gregors I. von 601 an Augustinus, Bischof von Canterbury, wird das Verbot der Ehe unter Blutsverwandten bis zum dritten Grad ausgedehnt: „Ein weltliches Gesetz im römischen Staat gestattet, dass Sohn und Tochter des Bruders und der Schwester oder zweier leiblicher Brüder oder zweier Schwestern sich verheiraten dürfen. Aufgrund der gemachten Erfahrungen ist aber klar geworden, dass aus einer solchen Ehe keine gute40 Nachkommenschaft erwachsen kann. Daher sollen die Gläubigen sich nur im vierten oder fünften Grade erlaubterweise verheiraten dürfen.“41

3. Synthesis: Verbot der Ehe unter Blutsverwandten bis zum siebten Grad Gratian zeigt schließlich auf, dass die Päpste und Konzilien überwiegend die Ehe unter Blutsverwandten bis zum siebten Grad verbieten.42 38

Vgl. Decr. Grat., pars 2, causa 35, qu. 2 et 3, dict. intr. Ebd., c. 21. Gratian gibt irrtümlich ein Partikularkonzil von Chalon-sur-Saüne als Quelle an. 40 Gratian lässt irrtümlich das Wort bonam aus. Der Fehler wird aber von der Glossa ordinaria korrigiert. 41 Decr. Grat., pars 2, causa 35, qu. 2 et 3, c. 20. 42 Später grenzt das Concilium Oecumenicum Lateranense IV (a. 1215), Constitutiones, const. 50, in: Dekrete der ökumenischen Konzilien, hrsg. von J. Wohlmuth, 3 Bde., 2. Aufl., Paderborn 1998 – 2002, Bd. 2, S. 257 – 258, die Ausdehnung des Ehehindernisses der Blutsverwandtschaft in der Seitenlinie auf den vierten Grad ein: „In Zukunft geht das Eheverbot auch nicht über den vierten Grad der Verwandtschaft und Verschwägerung hinaus, da sich über diesen Grad hinaus ein solches Verbot ohne schweren Schaden allgemein nicht mehr einhalten 39

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Papst Gregor III. äußert sich 732 in einem Schreiben an Bonifatius, Missionsbischof in Deutschland: „Was die Blutsverwandtschaft angeht, so hat man angenommen, dass den Graden nach sieben Zeugungen zu beachten sind. Denn auch das durch die weltlichen Gesetze eingeführte Erbfolgerecht erstreckt sich bis zum siebten Grad. Das weltliche Gesetz kennt kein Erbrecht, das nicht auf dem Grunde der Blutsverwandtschaft beruht.“43

Das Partikularkonzil von Orl¦ans im Jahre 538 beschließt: „Wir gestatten niemandem, und zwar ohne Unterschied des Geschlechtes, aus seiner Blutsverwandtschaft … bis zum siebten Grad eine Person zu heiraten, d. h. sich in der Weise der Blutschande mit ihr zu verbinden.“44

Die Päpste Gregor II. 726 und Gregor III. 732 teilen Bonifatius, Missionsbischof in Deutschland, mit: „Wir verordnen, dass die Blutsverwandtschaft bis zum siebten Grad gelten soll. Solange sich welche als Verwandte erkennen, sollen sie keine Ehe eingehen dürfen. Wenn sie es trotzdem getan haben, sollen sie getrennt werden.“45

Das Partikularkonzil von Toledo im Jahre 681 legt fest: „Bis zum siebten Grad soll niemand aus seiner Blutsverwandtschaft eine Frau nehmen.“46

Das Wormser Partikularkonzil von 868 bestimmt: „Bei der Ehe zwischen Gläubigen setzen wir keine Zahl der Grade fest, sondern wir verordnen, dass es keinem Christen erlaubt sein soll, aus seiner Blutsverwandtschaft … eine Frau zu nehmen, solange man sich noch des Grades erinnert oder ihn kennt und im Gedächtnis hat.“47

Zu dieser Anweisung des Wormser Partikularkonzils erläutert Papst Alexander II. in einem Schreiben von 1063 an alle Bischöfe in Italien: „Auch ist jene Vorschrift der heiligen canones, die befiehlt, sich der eigenen Blutsverwandtschaft zu enthalten, solange man die Verwandtschaft nachweisen oder sie im Gedächtnis behalten kann, von der oben erwähnten Berechnungsart der Verwandtschaftsgrade keineswegs verschieden. Denn es werden, wenn man nach hergebrachter, kanonischer Weise zählt, alle lässt. Tatsächlich passt die Zahl Vier gut zum Verbot der leiblichen Verbindung … Denn vier Säfte sind im Körper, der aus vier Elementen besteht. Da nun also schon das Verbot ehelicher Gemeinschaft auf den vierten Grad eingegrenzt ist, ist es nach unserem Willen … so dauerhaft, dass alle, die gegen dieses Verbot eine Ehe eingehen, sich keineswegs durch die Länge der Jahre verteidigen können.“ 43 Decr. Grat., pars 2, causa 35, qu. 2 et 3, c. 1. Gratian nennt als Autor irrtümlich Papst Gregor I. in einem Partikularkonzil von Meaux. 44 Ebd., c. 7. Gratian schreibt die Autorschaft irrtümlich Papst Julius zu. 45 Ebd., c. 16. Gratian sieht irrtümlich Papst Gregor I. als Autor an, der ein Schreiben an die Bischöfe in Gallien gerichtet habe. 46 Ebd., c. 19. Gratian schreibt das Zitat irrtümlich einem Partikularkonzil von Lyon zu. 47 Ebd., c. 18.

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Fälle der Verwandtschaft in den sieben Graden einbegriffen. Über diese hinaus wird keine Blutsverwandtschaft mehr angenommen. Auch werden die Grade nicht mehr benannt, und ebenso wenig darf die Erbfolge darüber hinaus erstreckt werden, so wie man die Verwandtschaft nicht mehr nachweisen noch im Gedächtnis behalten kann.“48

Bei der Anordnung des Mainzer Partikularkonzils von 813, das die Ehe unter Blutsverwandten nur bis zum sechsten Grad untersagt, erkennt Gratian, dass es sich hier nicht um eine Abweichung von der allgemeinen Norm handelt, sondern lediglich um eine um ein Grad verkürzte Berechnung der Verwandtschaftsgrade. Die Grade, so erläutert er, werden gelegentlich in unterschiedlicher Weise berechnet. Während die einen den Vater in den ersten Grad setzen und die Kinder in den zweiten, nennen andere als ersten Grad den der Kinder und leugnen einen unterschiedlichen Verwandtschaftsgrad zwischen Vater und Sohn, da Vater und Sohn ein Fleisch seien. Die nun die Verheiratung innerhalb der Blutsverwandtschaft bis zum siebten Grad verbieten, stellen den Vater in den ersten Grad. Die aber, die sie bis zum sechsten Grad verbieten, nennen als ersten Grad den der Kinder. Darin liegt der Unterschied begründet, dass nämlich die gleiche Person von den einen als blutsverwandt im siebten Grade angesehen wird, von den anderen als im sechsten Grade.49 Und Papst Gregor I., so sieht Gratian, wollte, als er für England das Verbot der Ehe unter Blutsverwandten nur bis zum dritten Grad ausdehnte, keineswegs das allgemeine Verbot der Ehe unter Blutsverwandten bis zum siebten Grad aufweichen, sondern lediglich aus pastoralen Gründen den gerade zum christlichen Glauben gelangten Engländern in ihrer ersten schwierigen Zeit die mit dem neuen Glauben verbundenen Bürden ein wenig erleichtern, damit sie nicht mutlos werden. Das bringt er selbst in seiner Antwort an Felix, Bischof von Messina, zum Ausdruck: „Was ich, wie du dich erinnern wirst, über die Ehen mit Blutsverwandten an Augustinus, Bischof von England, deinen Schüler, geschrieben habe, das, so sollst du wissen, habe ich an ihn und an das Volk der Engländer, das sich erst jüngst zum Glauben bekehrt hat, nur als Ausnahme für dieses Volk und nicht als allgemeines Gesetz für alle Übrigen geschrieben, damit es sich nicht aus Furcht vor den Härten wieder vom Heile abwende. Das kann auch die ganze Stadt Rom bezeugen. Ich habe das in jenem Schreiben nicht in der Absicht erlassen, dass sie, nachdem sie feste Wurzeln im Glauben gefasst haben, bei Heirat innerhalb der eigenen Blutsverwandtschaft, d. h. bei Heirat innerhalb der Linie der Verwandtschaft bis zum siebten Grad, nicht getrennt werden sollen. Es war aber notwendig, ihnen, die Neulinge waren, zunächst noch Unerlaubtes zuzugestehen und sie durch Wort und Beispiel zu belehren. Auch der Apostel Paulus spricht:50 ,Milch habe ich euch zu trinken gegeben und nicht Speise.Ð Nur für jetzt, nicht für alle Zeiten, haben wir ihnen dies zugestanden, damit nicht das mit schwacher Wurzel gepflanzte Gute zerstört wird, sondern langsam erstarken und bis zur Vollkommenheit gedeihen kann.“51

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Ebd., qu. 5, c. 2. Vgl. ebd., qu. 2 et 3, c. 21, dict. expl. Vgl. 1 Kor 3,2. Decr. Grat., pars 2, causa 35, qu. 2 et 3, c. 20.

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III. Quaestio 4: Theologische Begründung des Umfanges des Ehehindernisses der Blutsverwandtschaft Um den Umfang des Ehehindernisses der Blutsverwandtschaft theologisch zu begründen, greift Gratian auf die großen Theologen des Mittelalters zurück.52 Diese sehen im Sechstagewerk bei der Erschaffung der Welt, in den sechs Lebensaltern des Menschen und in den sechs Zeitaltern der Welt die theologische Grundlage für die Festsetzung des Umfanges des Ehehindernisses der Blutsverwandtschaft. Gratian zitiert den Kirchenvater und Kirchenlehrer Isidor von Sevilla (um 560 – 636)53 : „Wenn die Blutsverwandtschaft allmählich in die verschiedenen Linien des Stammbaumes auseinandergegangen und bis zum letzten Grad gelangt ist und aufhört, nahe Verwandtschaft zu sein, so greift sie das Eherecht wieder auf und ruft gewissermaßen die Entflohene zurück. Die Blutsverwandtschaft ist aber darum bis zum sechsten Grad der Zeugung bestimmt worden, damit, wie die Erschaffung der Welt in sechs Tagen und das Leben des Menschen in sechs Lebensaltern zu Ende geführt wird, so auch die nahe Verwandtschaft eines Geschlechtes in so vielen Graden ihr Ende erreiche.“54

IV. Quaestio 5: Berechnung des Umfanges des Ehehindernisses der Blutsverwandtschaft Bezüglich der Berechnung der Grade der Blutsverwandtschaft war Gratian bereits auf unterschiedliche Berechnungsweisen gestoßen. Hier stellt er sie einander gegenüber. 1. Thesis: Berechnung der Grade beginnend in der geraden Linie mit den Enkeln und Enkelinnen, in der Seitenlinie mit den Neffen und Nichten Ivo von Chartres (um 1040 – 1115/1116) beginnt die Berechnung in der geraden Linie mit den Enkeln und Enkelinnen, in der Seitenlinie mit den Neffen und Nichten55 : 52

Vgl. ebd., qu. 4, dict. intr. Vgl. Isidorius Hispalensis, Etymologiae, lib. 9, tit. 6, cap. 29. Isidor berechnet die Verwandtschaftsgrade in der geraden Linie mit den Enkeln und Enkelinnen beginnend, in der Seitenlinie mit den Neffen und Nichten beginnend und dehnt deshalb das Ehehindernis der Blutsverwandtschaft nur bis zum sechsten Grad aus, was aber dem siebten Grad der allgemeinkirchlichen Berechnung entspricht, die in der geraden Linie mit den Söhnen und Töchtern, in der Seitenlinie mit den Brüdern und Schwestern beginnt. 54 Decr. Grat., pars 2, causa 35, qu. 4, c. un. 55 Vgl. Ivo Carnutensis, Decretum, lib. 9, cap. 46; Ivo Carnutensis, Panormia, lib. 7, cap. 76. Gratian weist irrtümlich die Autorschaft Isidor von Sevilla zu. Nepos und neptis haben im Lateinischen sowohl die Bedeutung von Enkel und Enkelin wie auch von Neffe und Nichte. Im Deutschen dagegen müssen sie getrennt aufgeführt werden. 53

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„Die Reihe der Blutsverwandtschaft gestaltet sich in sechs Graden auf diese Weise: Sohn und Tochter – filius et filia – bzw. Bruder und Schwester – frater et soror – sind der Stamm. Diese werden für sich gerechnet. Aus der Wurzel dieses Stammes steigen folgende Zweige empor: erstens: Enkel und Enkelin/Neffe und Nichte – nepos et neptis –; zweitens: Urenkel und Urenkelin/Großneffe und Großnichte – pronepos et proneptis –; drittens: Ururenkel und Ururenkelin/Urgroßneffe und Urgroßnichte – abnepos et abneptis –; viertens: Urururenkel und Urururenkelin/Ururgroßneffe und Ururgroßnichte – atnepos et atneptis –; fünftens: Ururururenkel und Ururururenkelin/Urururgroßneffe und Urururgroßnichte – trinepos et trineptis –; sechstens: Urururururenkel und Urururururenkelin/Ururururgroßneffe und Ururururgroßnichte – trinepotis trineptisque filius et filia56 –.“57

2. Antithesis: Berechnung der Grade in der Seitenlinie mit beidseitiger Gradzählung Einige, so zeigt sich in der Kirche, berechnen in der Seitenlinie beide Zweige zusammen und sehen so die leiblichen Brüder und Schwestern im zweiten Grade miteinander verwandt, deren Söhne und Töchter im vierten Grade und ihre Enkel und Enkelinnen im sechsten Grade.58 3. Synthesis: Berechnung der Grade beginnend in der geraden Linie mit den Söhnen und Töchtern, in der Seitenlinie mit den Brüdern und Schwestern und hier nur einseitig die Grade eines Zweiges zählend Die korrekte kirchliche Berechnung der Blutsverwandtschaft beginnt nach Gratian in der geraden Linie mit den Söhnen und Töchtern, in der Seitenlinie mit den Brüdern und Schwestern. Dies wird von den weltlichen Gesetzen so durchgeführt. Gratian zitiert deshalb den altrömischen Rechtsgelehrten Iulius Paulus59: „Im ersten Grade stehen in der aufsteigenden Linie Vater und Mutter – pater et mater –. In der absteigenden Linie stehen Sohn und Tochter – filius et filia –. Zu diesen kommen weiter keine Personen.

56 Gratian schreibt irrtümlich: trinepotis trineptisque nepos et neptis. Der Fehler wird aber von der Glossa ordinaria korrigiert. 57 Decr. Grat., pars 2, causa 35, qu. 5, c. 1. 58 Vgl. Ebd., c. 2. Es handelt sich um die altrömische Berechnungsart der Blutsverwandtschaft in der Seitenlinie. 59 Vgl. Iulius Paulus, Sententiae, lib. 4, tit. 11, sent. 1 – 8. Gratian nennt Isidor von Sevilla als Autor, der aber die Ausführungen des altrömischen Rechtsgelehrten Iulius Paulus in seine Etymologiae, lib. 9, tit. 6, übernommen hat. Die altrömische Berechnungsart zählt bei der Blutsverwandtschaft in der geraden Linie die Zahl der Zeugungen in dieser Linie, bei der Blutsverwandtschaft in der Seitenlinie die Zahl der Zeugungen in beiden Zweigen zusammen.

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Im zweiten Grade stehen in der aufsteigenden Linie Großvater und Großmutter – avus et avia –. In der absteigenden Linie stehen Enkel und Enkelin – nepos et neptis –. In der Seitenlinie stehen Bruder und Schwester – frater et soror – …. Im dritten Grade stehen in der aufsteigenden Linie Urgroßvater und Urgroßmutter – proavus et proavia –. In der absteigenden Linie stehen Urenkel und Urenkelin – pronepos et proneptis –. In der Seitenlinie stehen Sohn und Tochter des Bruders und der Schwester – fratris sororisque filius et filia –; Bruder und Schwester des Vaters – patruus et amita –; Bruder und Schwester der Mutter – avunculus et matertera –. Im vierten Grade stehen in der aufsteigenden Linie Ururgroßvater und Ururgroßmutter – abavus et abavia –. In der absteigenden Linie stehen Ururenkel und Ururenkelin – abnepos et abneptis –. In der Seitenlinie stehen Enkel und Enkelin des Bruders und der Schwester – fratris sororisque nepos et neptis –; Sohn und Tochter des Vatersbruders und der Vatersschwester – patrui amitaeque filius et filia, id est frater patruelis et soror patruelis atque amitinus et amitina –; Sohn und Tochter des Mutterbruders und der Mutterschwester – avunculi materteraeque filius et filia, id est consobrinus et consobrina –; Bruder und Schwester des Großvaters väterlicherseits – patruus magnus et amita magna –; Bruder und Schwester des Großvaters mütterlicherseits – avunculus magnus et matertera magna –. Im fünften Grade stehen in der aufsteigenden Linie Urururgroßvater und Urururgroßmutter – atavus et atavia –. In der absteigenden Linie stehen Urururenkel und Urururenkelin – atnepos et atneptis –. In der Seitenlinie stehen Urenkel und Urenkelin des Bruders und der Schwester – fratris sororisque pronepos et proneptis –; Sohn und Tochter der Vatersgeschwisterkinder – fratris patruelis sororisque patruelis atque amitini amitinaeque filius et filia –; Sohn und Tochter der Muttergeschwisterkinder – consobrini consobrinaeque filius et filia –; Sohn und Tochter von Bruder und Schwester des Großvaters väterlicherseits – patrui magni amitaeque magnae filius et filia –; Sohn und Tochter von Bruder und Schwester des Großvaters mütterlicherseits – avunculi magni materteraeque magnae filius et filia –; Bruder und Schwester der Urgroßeltern väterlicherseits – propatruus et proamita –; Bruder und Schwester der Urgroßeltern mütterlicherseits – proavunculus et promatertera –. Für die weiteren verwandtschaftlichen Beziehungen gibt es keine besonderen Bezeichnungen. Im sechsten Grade stehen in der aufsteigenden Linie Ururururgroßvater und Ururururgroßmutter – tritavus et tritavia –. In der absteigenden Linie stehen Ururururenkel und Ururururenkelin – trinepos et tineptis –. In der Seitenlinie stehen Ururenkel und Ururenkelin des Bruders und der Schwester – fratris sororisque abnepos et abneptis –; Enkel und Enkelin der Vatersgeschwisterkinder – fratris patruelis sororisque patruelis atque amitini amitinaeque nepos et neptis –; Enkel und Enkelin der Muttergeschwisterkinder – consobrini consobrinaeque nepos et neptis –; Enkel und Enkelin von Bruder und Schwester des Großvaters väterlicherseits – patrui magni amitaeque magnae nepos et neptis –; Bruder und Schwester der Ururgroßeltern väterlicherseits – abpatruus et abamita –; Bruder und Schwester der Ururgroßeltern mütterlicherseits – abavunculus et abmatertera. Für die weiteren verwandtschaftlichen Beziehungen finden sich keine besonderen Bezeichnungen. Im siebten Grade werden die Verwandten nicht mehr besonders bezeichnet … Es werden nur sieben Grade in der Erbfolge aufgestellt, weil es unmöglich ist, weitere Bezeichnungen aufzufinden, und weil es unmöglich ist, dass das Leben eines Menschen weiter reicht.“60

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Decr. Grat., pars 2, causa 35, qu. 5, c. 6.

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Bei der Blutsverwandtschaft in der geraden Linie, so Gratian, folgt die Kirche dieser Berechnungsart. Bei der Blutsverwandtschaft in der Seitenlinie jedoch folgt die Kirche ihr nur darin, dass sie ebenfalls mit den Brüdern und Schwestern beginnt. Die Kirche wendet dagegen nicht die von den altrömischen Gesetzen vorgesehene und auch hier von dem altrömischen Rechtsgelehrten Iulius Paulus durchgeführte beidseitige Gradzählung an, sondern zählt nur einseitig die Grade eines Zweiges. In einem Schreiben von 1063 an alle Bischöfe in Italien stellt Papst Alexander II. die kirchliche Zählweise in der Seitenlinie vor: „Wir haben es mit Gottes Hilfe unternommen, diese Frage zu erörtern, und zwar in einer eigens hierfür im Lateran gehaltenen Kirchenversammlung, zu der Bischöfe, Geistliche und Richter aus verschiedenen Provinzen zusammengerufen wurden. Nach langwieriger Erörterung der weltlichen Gesetze und der heiligen canones haben wir uns nun aus mannigfachen Gründen davon überzeugt, dass die weltlichen Gesetze bei der Berechnung der Grade zwar von einer anderen Grundtendenz ausgehen als die canones – die weltlichen Gesetze zielen auf die Erbfolge, die canones zielen auf die Blutsverwandtschaft –, … dass sich aber, wenn man die beiden Berechnungsarten aufmerksam und genau betrachtet, klar ergibt, dass beide denselben Sinn und Zweck haben und dass beide zu demselben Ziel gelangen … Hier ist es nun keine Frage, dass unter dem zweiten Grade die Söhne und Töchter der Brüder verstanden werden müssen. Wenn nun die Söhne und Töchter der Brüder im zweiten Grade gezählt werden, so müssen die Brüder selbst im ersten Grade stehen. Wenn aber die Brüder im ersten und ihre Söhne und Töchter im zweiten Grade gezählt werden, so ist kein Zweifel, dass ihre [der Brüder] Enkel und Enkelinnen im dritten Grade, ihre [der Brüder] Urenkel und Urenkelinnen im vierten Grade stehen und die Übrigen auf dieselbe Weise bis zum siebten Grad weitergezählt werden müssen.“61

Die Berechnungsart der Grade der Blutsverwandtschaft, die in der geraden Linie mit den Enkeln und Enkelinnen, in der Seitenlinie mit den Neffen und Nichten beginnt, so Papst Alexander II., stimmt in der Sache mit der allgemeinkirchlichen überein: „Damit jedoch bei dieser Berechnung der Verwandtschaftsgrade auch nicht der geringste Zweifel übrig bleibt, haben wir es für angemessen erachtet, bei dieser Erörterung noch eine andere Zählweise zu untersuchen, die von einigen aufgestellt wird. Manche fangen nämlich nicht von den Brüdern, sondern von deren Söhnen, d. h. den Söhnen der Brüder und Schwestern, an, die Zeugungen zu zählen, indem sie behaupten, dass die Söhne der Brüder in den ersten Grad gesetzt werden müssen, weil die Brüder gleichsam der Stamm sind, von dem die übrigen Zweige entsprießen. Doch auch diese Zählung der Grade kann, wenn sie recht verstanden wird, von der, die wir oben aufgestellt haben, im Endergebnis nicht verschieden sein. Denn die, die von den Söhnen der Brüder zu zählen beginnen, gehen nicht über den sechsten Grad hinaus, sondern, wie es sechs Zeitalter der Welt gibt und ebenso sechs Lebensalter des Menschen, so wollen sie auch, dass in der Blutsverwandtschaft nur sechs Grade gezählt werden, und sind der Meinung, dass nach deren Beendigung eine neue Verbindung angeknüpft werden kann … Diese Berechnungsart also, die von den Söh61 Ebd., c. 2. Es handelt sich um die altgermanische Berechnungsart der Blutsverwandtschaft in der Seitenlinie, die die Zahl der Zeugungen in nur einem Zweige, und zwar in dem längeren, zählt.

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nen der Brüder beginnt und bis zum sechsten Grade fortzählt, läuft mit der, die von den Brüdern beginnt und bis zum siebten Grad zählt, auf eins hinaus. Es findet auch im Sinne nicht die geringste Verschiedenheit statt, obgleich eine Abweichung in der Zahl der Grade vorhanden zu sein scheint. Denn wenn man anfängt, von den Brüdern zu zählen, so ist der letzte Grad der siebte, wenn man aber von den Söhnen der Brüder beginnt, der sechste.“62

Auch die Berechnungsart mit der beidseitigen Gradzählung der Blutsverwandtschaft in der Seitenlinie, so Papst Alexander II., gelangt in der Sache zu demselben Ergebnis wie die allgemeinkirchliche Berechnungsweise: „Es ist an den Apostolischen Stuhl eine neuerlich entstandene Frage über die Grade der Blutsverwandtschaft gelangt, die einige Personen aufgeworfen haben, die mit den Gesetzen und canones nicht vertraut sind und die Grade der Verwandtschaft im Widerspruch zu den heiligen canones und dem kirchlichen Gewohnheitsrecht zu zählen versuchen. Befangen in einem neuen und unerhörten Irrtum, stellen sie die Behauptung auf, dass leibliche Brüder oder Schwestern im zweiten Grade miteinander verwandt sind, ihre Söhne und Töchter im vierten, ihre Enkel und Enkelinnen im sechsten. Indem sie nun auf solche Weise die Zeugungen zählen und die Verwandtschaft mit dem so berechneten sechsten Grade schließen, sagen sie, dass die danach folgenden Männer und Frauen einander heiraten können. Um diesen unheiligen Irrtum zu bekräftigen, berufen sie sich auf die weltlichen Gesetze, die Kaiser Justinian über die Erbfolge unter den Blutsverwandten promulgiert hat. Auf diese gestützt, suchen sie zu beweisen, dass die Brüder im zweiten Grade gezählt werden, deren Söhne im vierten Grade und ihre Enkel im sechsten Grade. Hiermit beendigen sie die Reihe der Zeugungen und treten auf diese Weise der von den heiligen Vätern eingeführten und auf uns vererbten kirchlichen Berechnungsart vorsätzlich und störend entgegen … Beide Berechnungsarten gelangen aber … zu demselben Ziel. Denn zwei Grade nach den weltlichen Gesetzen bilden einen Grad nach den kirchlichen Gesetzen. Daher werden die Brüder, die nach dem weltlichen Gesetz im zweiten Grade stehen, nach den canones im ersten Grade gezählt. Die Söhne der Brüder, die dort im vierten Grade stehen, werden hier im zweiten Grade gezählt. Die Enkel, die dort im sechsten Grade stehen, werden hier im dritten Grade gezählt. So stehen auch die, die sich nach den weltlichen Gesetzen im achten und zehnten Grade befinden, nach den kirchlichen Gesetzen im vierten und fünften Grade. Auf die gleiche Weise sind auch die entfernteren Grade zu beurteilen, sodass die, die nach den weltlichen Gesetzen als zwölfter oder vierzehnter Grad zu verstehen sind, nach den canones als sechster oder siebter Grad gerechnet werden.“63

Papst Alexander II. schließt seine Ausführungen mit der Mahnung: „Nachdem wir nun in dieser Weise die Grade der Blutsverwandtschaft festgesetzt haben, ermahnen wir euch, geliebte Brüder und Söhne, kraft Apostolischer Autorität, dass ihr die Reihe der Zeugungen durchgängig so berechnet, wie die heiligen Väter sie zu zählen angeordnet haben und wie sie erwiesenermaßen der Brauch der heiligen, allgemeinen Kirche von alters her berechnet hat. Wenn sich aber jemand widersinnig und hartnäckig unterfangen sollte, diesen vom Apostolischen Stuhle vorgezeigten Weg zu verlassen und die Grade der Verwandtschaft in Bezug auf die Ehe anders als wir zu berechnen, so wird ihn

62 63

Ebd. Ebd.

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für seine Verwegenheit zunächst die Strafe des Himmels heimsuchen. Er soll aber wissen, dass ihn zudem das Schwert des ewigen Bannfluches treffen wird.“64

V. Quaestio 6: Klage wegen Verstoßes gegen das Ehehindernis der Blutsverwandtschaft Wer kann, so fragt Gratian, wenn bei einer Ehe das Vorliegen einer Blutsverwandtschaft vermutet wird, als Kläger und Zeuge auftreten?65 1. Normalerweise nur nahe Angehörige als Kläger und Zeugen Normalerweise können einzig die näheren Angehörigen als Kläger und Zeugen zugelassen werden. Die Synode von Ingelheim im Jahre 948 erklärt dazu: „Gegen Blutsverwandte soll kein Fremder auftreten, um über ihre Verwandtschaft vor der Synode Zeugnis abzulegen, sondern nur die Verwandten, die davon Kenntnis haben, d. h. Vater – pater –, Mutter – mater –, Bruder – frater –, Schwester – soror –, Bruder des Vaters – patruus –, Bruder der Mutter – avunculus –, Schwester des Vaters – amita –, Schwester der Mutter – matertera – sowie deren Söhne und Töchter. Wenn aber gar keine Verwandten vorhanden sind, soll der Bischof nach Vorschrift der canones bei reifen und wahrheitsliebenden Personen, denen diese Verwandtschaft gut bekannt ist, Erkundigungen einziehen. Werden die Eheleute als Verwandte befunden, sollen sie getrennt werden.“66

Ähnlich äußert sich Papst Urban II. 1089 in einem Schreiben an Cyriacus, Bischof von Genua: „Wir lassen dich hiermit wissen, dass, nachdem zwei oder drei von den Verwandten … oder zwei oder drei Genueser, denen diese Verwandtschaft bekannt ist und die von gutem Ruf und glaubhaftem Zeugnis sind, weder aus Gunst noch aus Furcht noch für Lohn noch aus irgendeiner bösen Absicht in der oben dargelegten Weise die Blutsverwandtschaft bestätigt haben, die Ehe ohne Verzug getrennt werden soll. Haben jedoch die Verwandten oder Nichtverwandten die Verwandtschaft nur mit Worten bezeugt, aber nicht eidlich bestätigen wollen oder können, so soll die Ehe nicht aufgelöst werden, sondern die Eheleute sollen, falls sie die

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Ebd. Vgl. ebd., qu. 6, dict. intr. 66 Ebd., c. 1. Gratian nennt irrtümlich Papst Fabian als Autor. Der Magister Rolandus, Summa (Anm. 21), S. 229 – 230, greift die Bestimmung auf und kommentiert sie: „Interdicitur extraneis accusare consanguineos, nisi forte nullus de consanguinitate supersit … Est etiam consuetudinis ecclesiae non solum consanguineos verum etiam extraneos ad consanguinitatis testificationem admittere. Ad quod dicimus semper consanguineis primo parentelae testimonium exigendum. Qui, si veritatem dicere voluerint, extraneorum nullus ad hanc testificationem vel accusationem … assumetur. Si vero consanguinitas tota defecerit, i. e. mortua fuerit, vel defecerit ab accusatione videlicet vel testificatione, tunc extranei procul dubio admittantur.“ 65

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Anrüchigkeit einer Schande oder Sünde auf sich geladen haben, mit einer Buße belegt werden.“67

2. Wenigstens zwei Zeugen Das Zeugnis eines Zeugen reicht jedoch nicht aus. Es entspricht auch nicht einem vernünftigen Urteil, wenn eine Ehe aufgrund der Aussage eines einzigen Zeugen getrennt wird. Der Herr selbst sagt68 : „Jedes Wort stehe im Munde von zwei oder drei Zeugen.“ So sieht es ebenfalls die Kirche: „Jeder Streit in kirchlichen Angelegenheiten soll nach dem göttlichen Gesetz durch zwei oder drei Zeugen beigelegt werden, sagt doch der Herr: ,Nicht stehe einer gegen einen anderen. Jedes Wort stehe im Munde von zwei oder drei Zeugen.Ð Und an anderer Stelle heißt es:69 ,Man glaube nichts aufgrund des Zeugnisses von nur einer Person.Ð Es ist also offenkundig, dass aufgrund eines einzigen Zeugnisses eine Ehe nicht getrennt werden darf.“70

3. Eidesformeln Wie nun der Kläger und die Zeugen den Eid abzulegen haben, zeigt Regino von Prüm (um 840 – 915) auf.71 Die Eidesformel für den Kläger lautet: „Du schwörst, dass du das, was dir über die Verwandtschaft, die zwischen N. und seiner Frau N., wie es heißt, bestehen soll, bekannt ist und was du darüber von deinen Nachbarn oder deinen älteren Verwandten gehört hast, weder aus Gunst noch aus Furcht noch aus Liebe noch für Belohnung noch um der Blutsverwandtschaft willen deinem Bischof oder seinem zur Untersuchung der Sache abgeordneten Gesandten, wenn er dich darüber vernimmt, vorenthältst. So wahr dir Gott helfe und die Reliquien dieser Heiligen.“72

67 Ebd., c. 3. Gratian nennt irrtümlich Richard, Bischof von Genua. Die Glossa ordinaria unterscheidet hier zwischen fama und rumor. Bei fama ist das factum allgemein bekannt, bei rumor handelt es sich lediglich um ein Gerücht unter den nahestehenden Personen. Bereits die Verursachung eines rumor kann und soll bestraft werden, erst recht die Verursachung einer fama. 68 Vgl. Dtn 19,15. 69 Vgl. Mt 18,16. 70 Decr. Grat., pars 2, causa 35, qu. 6, c. 11, dict. expl. Gratian glaubt irrtümlich, das Zitat stamme aus einem Partikularkonzil von L¦rida. Die Quelle konnte aber bisher nicht identifiziert werden. 71 Vgl. Regino Prumiensis, Libri duo de synodalibus causis et disciplinis ecclesiasticis, lib. 2, cap. 232 – 233. Gratian meint irrtümlich, die Eidesformeln seien dem Ordo Romanus vom Anfang des 10. Jhs. entnommen. 72 Decr. Grat., pars 2, causa 35, qu. 6, c. 5.

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Die Eidesformel für die Zeugen lautet: „Du schwörst, dass du die eidliche Aussage des Klägers über die Verwandtschaft, die zwischen N. und seiner Frau N. bestehen soll, soviel du weißt oder gehört hast, für wahr hältst. So wahr dir Gott helfe.“73

VI. Quaestio 7: Status der Kinder aus einer gegen das Ehehindernis der Blutsverwandtschaft geschlossenen Ehe Gratian fragt, ob die Kinder, die aus einer Ehe unter Blutsverwandten hervorgegangen sind, als ehelich zu betrachten sind.74 Er zitiert den Kirchenvater und Kirchenlehrer Augustinus75: „Was heißt das Schriftwort76: ,Wer mit seiner Blutsverwandten geschlafen, der soll ohne Kinder sterben?Ð Aus dieser Art Verbindungen wurden doch in der Vergangenheit Kinder geboren und werden auch heute Kinder geboren. Oder ist dies vielleicht als ein Gebot Gottes zu verstehen, dass alle Kinder, die von ihnen gezeugt worden sind, nicht als rechtmäßige Kinder erachtet werden sollen?“77

Daraus schließt Gratian, dass „die Kinder, die aus einer Ehe unter Blutsverwandten hervorgegangen sind, nicht ehelich genannt werden können“78. VII. Quaestio 8: Dispensmöglichkeit bei einer in Unkenntnis des vorliegenden Ehehindernisses der Blutsverwandtschaft geschlossenen Ehe Haben sich zwei Blutsverwandte geheiratet, ohne zu wissen, dass sie blutsverwandt sind, so fragt es sich, ob für sie eine Dispensmöglichkeit besteht. Es wurde von der Kirche dazu bestimmt79 : „Diejenigen, die, innerhalb des siebten Grades verwandt, eine Ehe geschlossen haben, sollen, wenn sie dies unwissentlich und schon vor langen Jahren getan und bereits Kinder gezeugt haben, sofern sie im sechsten oder fünften Grade miteinander verwandt sind, nicht getrennt werden, es sei denn, dass wir es, so es dem Herrn gefällt, ausdrücklich anzeigen. Dies verkündige ich jedoch nur aus Nachsicht, nicht als Anordnung. Die aber, die sich in diesen beiden Graden erst neuerlich, d. h. innerhalb Jahresfrist, verehelicht haben, müssen 73

Ebd., c. 6. Vgl. ebd., qu. 7, dict. intr. 75 Vgl. Aurelius Augustinus, Quaestiones in Heptateuchum, lib, 3, qu. 76. Gratian schreibt irrtümlich: qu. 77. 76 Vgl. Lev 20,20 – 21. 77 Decr. Grat., pars 2, causa 35, qu. 7, c. un. 78 Ebd., c. un., summarium. 79 Gratian gibt irrtümlich als Autor Papst Gregor I. an. Das Zitat konnte bisher nicht identifiziert werden. 74

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getrennt werden. Im Übrigen aber sollen allgemeine Verordnungen für die ganze Provinz erlassen werden, damit niemand sich unterfange, sich eines solchen Vergehens schuldig zu machen. Die, die ein solches Vergehen begangen haben, sollen ohne alles Mitleid und ohne Rücksicht mit harten Strafen belegt und getrennt werden.“80

Das Partikularkonzil von Toledo im Jahre 527 erlässt ähnliche Anweisungen81: „Wir haben die Verordnung für angemessen gefunden, dass kein Gläubiger eine Blutsverwandte zur Ehe begehre, solange die Grade der Verwandtschaft noch zu erkennen sind. Vielmehr verbleibe es weiterhin bei dem, was unsere Vorfahren in dieser Beziehung festgesetzt haben, sodass wir bis zum siebten Grad der Verwandtschaft niemandem gestatten, sich zu verehelichen, es mögen nun die fraglichen Personen vom Vater oder von der Mutter her Blutsverwandte sein. Diejenigen aber, die sich im vierten oder fünften Grade verehelicht haben, sollen getrennt werden, weil geschrieben steht82: ,Niemand geselle sich zu seiner Blutsverwandten, ihre Scham zu entblößen.Ð Und an einer anderen Stelle heißt es83 : ,Denn die solche Gräuel begehen, deren Seelen sollen ausgerottet werden aus ihrem Volke.Ð Allerdings haben die, denen eine unerlaubte Ehe verboten ist, die Freiheit, eine bessere einzugehen.“84

Es ergibt sich somit für Gratian, dass im Falle einer Ehe unter Blutsverwandten, ohne dass die Eheleute von der Blutsverwandtschaft wussten, von der Blutsverwandtschaft im sechsten und siebten Grade dispensiert werden kann. Bis zum fünften Grad der Blutsverwandtschaft kann es dagegen keine Dispens geben.85

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Decr. Grat., pars 2, causa 35, qu. 8, c. 1. Gratian erblickt irrtümlich in Papst Gregor I. den Autor, der ein Schreiben an Felix, Bischof von Messina, gerichtet habe. 82 Vgl. Lev 18,6. 83 Vgl. Lev 18,19. 84 Decr. Grat., pars 2, causa 35, qu. 8, c. 2. 85 Vgl. ebd., c. 3, dict. expl. Zum Dispensbegriff bei Gratian erläutert Peter Fabritz, Sanatio in radice (Anm. 37), S. 102 – 105: „Gratian scheint in der Dispensthematik vom Prolog des Ivo von Chartres beeinflusst zu sein. Im Dictum zu C. 1 q. 7 c. 5 sagt er: Nisi rigor disciplinae quandoque relaxetur ex dispensatione misericordiae. Dispensation bedeutet für Gratian eine Entspannung der strengen Vorschrift durch einen Akt der Barmherzigkeit … Lediglich in einer causa äußert sich Gratian über die Möglichkeit der Dispens bei Ehen. Über solche, die in Unwissenheit der Verwandtschaftsgrade geschlossen worden sind, sagt er: Hac auctoritate, qui in quarto vel in quinto gradu consanguinitatis coniuncti inventi fuerint, ab ecclesia separari iubentur. Gratian verfasst noch keine ausdrückliche Begriffsbestimmung der Dispens. Doch ist er der erste Kanonist, der das Rechtsinstitut der Dispens in das System des Kirchenrechts eingebaut hat. Bemerkenswert ist bei ihm die Ausschließlichkeit der päpstlichen Dispenshoheit bei kirchlichen Gesetzen.“ 81

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VIII. Quaestio 9: Wiederherstellung der vermeintlich gegen das Ehehindernis der Blutsverwandtschaft geschlossenen und irrtümlich von der Kirche aufgelösten Ehe Falls die Kirche, durch Betrug oder durch Unwissenheit des Klägers und der Zeugen getäuscht, Eheleute wegen vermeintlicher Blutsverwandtschaft getrennt hat und diese nach der Trennung eine neue Ehe eingegangen sind, später aber die List und die falsche Aussage des Klägers und der Zeugen aufgedeckt werden, fragt Gratian, ob die erste Ehe wiederherzustellen ist. Er trifft auf sich widerstreitende Auffassungen.86 1. Thesis: Unmöglichkeit der Revision eines rechtmäßig gefällten Urteils Die irrtümlich wegen vermeintlicher Blutsverwandtschaft aufgelöste Ehe scheint nicht wiederhergestellt werden zu können. Denn ein Urteil, das rechtmäßig gefällt und nicht innerhalb der vom Gesetz vorgeschriebenen Frist durch Berufung angefochten wurde, erlangt unwiderruflich Rechtskraft.87 Denn Papst Gregor I. erklärt in einem Schreiben von 598: „Der Disziplin und Ordnung in der Kirche ist es überaus angemessen, dass alles, was dem Gesetz gemäß angeordnet oder entschieden worden ist, in der Zukunft nicht durch nochmalige Erörterung angefochten werden darf.“88

2. Antithesis: Möglichkeit der Revision eines nicht rechtmäßig gefällten Urteils Aber es wird andererseits betont, dass die Entscheidung einer jeden Kirche, ja sogar des Römischen Stuhles, zum Besseren hin geändert werden kann, wenn erkannt wird, dass sie aufgrund eines Betruges getroffen wurde. Es ist dann vernünftig, sie zurückzunehmen. Die Römische Synode von 465 unter Papst Hilarius bestimmt: „Entdeckt einer, dass er selbst unrechtmäßig etwas erlassen hat oder dass sein Vorgänger unrechtmäßig etwas angeordnet hat, wird er der Verdammung verfallen, wenn er der Gefahr für sich aus dem Wege gehen will.“89

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Vgl. Decr. Grat., pars 2, causa 35, qu. 9, dict. intr. Vgl. ebd. 88 Decr. Grat., pars 2, causa 35, qu. 9, c. 1. 89 Ebd., c. 3. Die Glossa ordinaria weist darauf hin, dass diese Norm ursprünglich zur Bereinigung der vermögensrechtlichen Fehler erlassen wurde, dass sie aber auch zur Bereinigung spiritueller Fehler gilt. 87

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Papst Nikolaus I. schreibt 865 an Kaiser Michael III. von Byzanz: „Wir leugnen nicht, dass ein Urteil des Römischen Stuhles zum Besseren hin geändert werden kann, wenn es entweder erschlichen wurde oder in Anbetracht der Zeiten und Verhältnisse oder wegen schwerer Notstände als Ausnahme etwas anordnete. Denn auch beim großen Apostel Paulus lesen wir, dass er als Ausnahme etwas tat, was er zu einem späteren Zeitpunkt widerrief. Einer Entscheidung ist Folge zu leisten, wenn die Römische Kirche sie nach gründlicher Überlegung erlassen hat; nicht, wenn die Kirche selbst sie, weil noch nicht endgültig90 festgesetzt, erneut erörtern will.“91

3. Synthesis: Möglichkeit und Pflicht der Wiederherstellung der irrtümlich wegen vermeintlicher Blutsverwandtschaft von der Kirche aufgelösten Ehe Daraus folgt für Gratian, dass zu unterscheiden ist zwischen der Zurückweisung eines Urteils, der Störung des vernünftig Entschiedenen und der Korrektur dessen, was als durch Betrug erschlichen erkannt wird. Jedem ist es erlaubt, seinen Irrtum zu korrigieren. Deshalb darf er das, was er selbst unrechtmäßig erlassen hat oder was von seinem Amtsvorgänger unrechtmäßig angeordnet wurde, widerrufen und zum Besseren hin abändern. Nun wurden die Eheleute unrechtmäßig voneinander getrennt und, bei Lebzeiten des anderen, neu verheiratet, obwohl der Herr einzig wegen Ehebruchs gestattete, dass der eine vom anderen getrennt werde. Eine Frau, deren Mann für tot gehalten wird und die einen anderen Mann geheiratet hat, wird, wenn nach einigen Jahren der tot geglaubte erste Mann zurückkehrt, durch das Urteil der Kirche von ihrem zweiten Mann getrennt und gezwungen, zu dem zurückzukehren, den sie verlassen hat. Sie muss die erste Ehe wiederherstellen. Genauso ist der Bund der ersten Ehe, wenn entdeckt wird, dass er nicht unter Blutsverwandten geschlossen worden war und darum zu Unrecht aufgelöst wurde, wiederherzustellen. Das, was unrechtmäßig angeordnet wurde, ist zu korrigieren.92 Solutio controversiae Der zu Anfang genannte konkrete Fall einer unbewussten Ehe unter Blutsverwandten im sechsten Grade, aus der mehrere Kinder hervorgegangen waren und wegen der der Mann nach drei Jahren bei der Kirche angeklagt wurde, warf für Gratian insgesamt acht grundsätzliche rechtliche Fragen zum Ehehindernis der Blutsverwandtschaft auf. Auf alle Fragen konnte Gratian eine auf die Aussagen der Päpste, 90

Gratian schreibt irrtümlich: bene, statt: paene, wie es im Originaltext heißt. Decr. Grat., pars 2, causa 35, qu. 9, c. 6. 92 Vgl. ebd., c. 2, dict. expl. Auch der Magister Rolandus, Summa (Anm. 21), S. 232, bestätigt dies in seinem Kommentar: „Dicimus, si matrimonia fuerant carnali copula consummata atque post, excepta causa fornicationis, dissoluta, cognito errore sunt redintegranda.“ 91

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Konzilien und Kirchenväter93 gestützte Antwort finden. Indem er den Sinn ihrer Weisungen deutete, gelangte er zu sicheren Schlussfolgerungen.94 Er erkannte: Die Ehe unter Blutsverwandten ist grundsätzlich untersagt. Das Verbot reicht bis zum siebten Grad der Verwandtschaft. Die theologische Grundlage für die Festsetzung des Umfanges des Ehehindernisses der Blutsverwandtschaft ist im Sechstagewerk bei der Erschaffung der Welt, in den sechs Lebensaltern des Menschen und in den sechs Zeitaltern der Welt zu sehen. Die Berechnung der Verwandtschaftsgrade beginnt in der Kirche in der geraden Linie mit den Söhnen und Töchtern, in der Seitenlinie, bei einseitiger Zählung, mit den Brüdern und Schwestern. Im Falle einer Klage wegen Verstoßes gegen das Ehehindernis der Blutsverwandtschaft können normalerweise nur nahe Verwandte als Kläger und Zeugen zugelassen werden. Es müssen zudem immer wenigstens zwei Zeugen sein. Die aus einer Ehe unter Blutsverwandten hervorgegangenen Kinder sind unehelich. Wurde unbewusst eine Ehe unter Blutsverwandten geschlossen, kann vom sechsten und siebten Grad der Blutsverwandtschaft dispensiert werden, nicht jedoch bis zum fünften Grad. Wurde irrtümlich eine Ehe von der Kirche wegen vermeintlicher Blutsverwandtschaft aufgelöst, so muss bei Aufdeckung des Irrtums die Ehe wiederhergestellt werden. Dies angewandt auf den genannten konkreten Fall, ergibt sich für Gratian, dass die Ehe des Mannes grundsätzlich gegen das Ehehindernis der Blutsverwandtschaft verstößt und dass die Kinder grundsätzlich unehelich sind, dass der Mann aber in diesem Fall, da er sich der Blutsverwandtschaft nicht bewusst war und da es sich um eine Blutsverwandtschaft im sechsten Grade handelt, von dem Ehehindernis dispensiert werden kann. Bei der gegen ihn erhobenen Klage ist darauf zu achten, dass norma93

Zu den von Gratian herangezogenen Rechtsquellen vgl. Tatsushi Genka, Hierarchie der Texte, Hierarchie der Autoritäten: zur Hierarchie der Rechtsquellen bei Gratian, in: ZRG Kan.Abt. 95 (2009), S. 101 – 127. 94 Zu der von Gratian entwickelten kirchenrechtswissenschaftlichen Arbeitsweise vgl. Peter Landau, Gratians Arbeitsweise, in: FS Schmitz, S. 691 – 707; Carlo FantappiÀ, Introduzione storica al diritto canonico, 2a ed., Bologna, 2003, S. 95 – 100. Hans Erich Feine, Kirchliche Rechtsgeschichte. Die katholische Kirche, 5. Aufl., Köln/Graz 1972, S. 276 – 277, resümiert: „Gratian stellte allgemeine Rechtssätze auf (distinctiones), fingierte Rechtsfälle (causae) und warf Rechtsfragen auf (quaestiones), die er durch Quellenstellen (auctoritates, capitula) belegte. Den Quellenstoff entnimmt das Werk nur vereinzelt den Originalen, … überwiegend aber ohne Kritik den älteren echten wie gefälschten Sammlungen des kirchlichen Rechtsstoffes, insbesondere Pseudoisidor und den Kanonessammlungen der letzten Jahrzehnte. Auch zahlreiche patristische Stellen sind aufgenommen (besonders Augustinus und Hieronymus, auch Ambrosius, Gregor d. Gr., Isidor von Sevilla, Cyprian, Johannes Chrysostomus), vermittelt durch ältere Rechtssammlungen (wie die Hibernensis, Pseudoisidor, Ivo von Chartres, Burchard, Regino u. a.). Um Widersprüche des Materials zu beheben und Übergänge zu gewinnen, wurden kurze Erörterungen eingeschaltet (paragraphi, später dicta Gratiani genannt). Entsprechend ihrem scholastischen Hauptzweck, Einheitlichkeit in das kirchliche Recht zu bringen, wurde die Sammlung, und zwar wohl schon durch den Verfasser selbst, Concordia discordantium canonum genannt, … später einfach Decretum (Gratiani), welcher Name bis heute gebräuchlich geblieben ist.“

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lerweise nur nahe Angehörige als Kläger und Zeugen zugelassen werden können und dass es wenigstens zwei Zeugen sein müssen, die die Blutsverwandtschaft bestätigen. Sollte von der Kirche keine Dispens gewährt und die Ehe aufgelöst werden, so muss, wenn sich später herausstellt, dass doch keine Blutsverwandtschaft vorlag, die Ehe wiederhergestellt werden.95

95 Vgl. Decr. Grat., pars 2, causa 35, qu. 1, c. un., dict. expl.; – qu. 2 et 3, c. 1; c. 7; c. 16; c. 19; – qu. 4, c. un.; – qu. 5, c. 6; – qu. 6, c. 1; c. 3; c. 11, dict. expl.; – qu. 7, c. un., summarium; – qu. 8, c. 1; c. 2; – qu. 9, c. 2, dict. expl.

Die unauffällige Eheunfähigkeit Nichtigkeit der Ehe auf Grund einer passiv-aggressiven Persönlichkeitsstörung Von Severin J. Lederhilger Der Umgang mit schwierigen Menschen stellt im gesellschaftlichen und mehr noch im persönlichen Beziehungsgeflecht eine permanente Herausforderung dar. Nicht selten wird die Belastung innerhalb des Zusammenlebens so stark, dass lediglich die Trennung als Ausweg gesehen wird. Die Beurteilung von derart gescheiterten Ehen kann dann kanonistisch methodenkonform bloß durch die prozessuale Überprüfung der Gültigkeit bzw. Ungültigkeit der ursprünglichen Konsenserklärung erfolgen1, wenngleich mit einer gewissen pastoralen Unzulänglichkeit.2 Das Spektrum psychisch begründeter Faktoren, welche die Ehefähigkeit von Personen so wesentlich beeinträchtigen, dass sie die Konsenserklärung rechtlich nichtig machen, wird durch fortschreitende Erkenntnisse in Psychiatrie, Psychologie und Psychotherapie sowie deren Rezeption in der kirchlichen Judikatur kontinuierlich erweitert. Diese vertiefte Kenntnis stellt jedoch keine latente Infragestellung des Unauflöslichkeitsgrundsatzes für die Ehe dar, da selbstverständlich der beständigen Mahnung des päpstlichen Lehramtes Rechnung getragen wird, das wiederholt – zuletzt durch Benedikt XVI. – fordert3, dass nur ein tatsächliches Nicht-Können auf 1 Als ehemaliger Offizial des erzbischöflichen Diözesan- und Metropolitangerichtes Salzburg und derzeitiger Richter am Linzer Diözesangericht nimmt Prof. Hans Paarhammer neben seiner Lehrtätigkeit auch eine wichtige Funktion in der Rechtsprechung wahr, wobei er im Rahmen der kirchenrechtlichen Vorgaben das pastorale Wohl der betroffenen Menschen sehr klar im Blick behält. 2 Vgl. Severin J. Lederhilger, „… und schrieb mit dem Finger auf die Erde“. Betrachtungen zur kirchlichen Ehegerichtsbarkeit, in: Hanjo Sauer/Franz Gmainer-Pranzl (Hrsg.), Leben – Erleben – Begreifen. Zur Verbindung von Person und Theologie, Festg. für Johannes Singer (Linzer Philosophisch-Theologische Beiträge 5), Frankfurt u. a. 2001, S. 122 – 133; Karl-Heinz Selge, Möglichkeiten einer Kooperation von Ehegerichtsbarkeit und Ehepastoral, in: Rüdiger Althaus/Klaus Lüdicke/Matthias Pulte (Hrsg.), Kirchenrecht und Theologie im Leben der Kirche (FS Heinrich J. F. Reinhardt, 65) (Beih. MK CIC 50), Essen 2007, S. 389 – 410. Vgl. andererseits den eigenwilligen Vorschlag von Markus Güttler, Die Ehe ist unauflöslich! Eine Untersuchung zur Konsistenz der kirchlichen Eherechtsordnung (Beih. MK CIC 34), Essen 2002. 3 Vgl. Gabriele Fattori, Scienze della psiche e matrimonio canonico. Le norme delle allocuzioni pontificie alla Rota Romana (1939 – 2009), Siena 2009; Benedikt XVI., Ansprache an die Rota Romana vom 29. 1. 2009, in: OssRom (dt.) Nr. 7 vom 13. 2. 2009, S. 10; Juan Ignacio BaÇares, La incapacidad ps†quica para contraer matrimonio. Consideraciones en torno

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Grund schwerwiegender Umstände, keinesfalls aber ein bloßes Nicht-Wollen in einer Beziehung zur Nichtigerklärung auf Grund psychisch bedingter Eheunfähigkeit führen kann. Zudem kommt, dass bei den jeweiligen psychopathologischen Bewertungen auch deren ideologisch-anthropologische Grundlagen im Blick auf Kompatibilität mit dem christlichen Menschenbild zu beachten sind (vgl. Art. 56 §4; 205 §2 DC).4 Zugleich ergeben sich aus diesen Erfahrungen höhere Ansprüche an die Ehepastoral, insofern schon bei der Vorbereitung auf eine Hochzeit – etwa im Rahmen der jetzt ganztägigen Einführungskurse5 – persönlichkeitsbedingte Verhaltensweisen stärker Beachtung finden und unter dem Aspekt der Ehefähigkeit zur Sprache kommen könnten. Dabei ist allerdings ebenso wie in den richterlichen Entscheidungen „eine realistische Sicht des Menschen“ als Maßstab anzulegen und nichts Unmögliches als generelle Voraussetzung zu verlangen6, darf doch das Grundrecht auf (eine gültige) Ehe nicht unterlaufen werden. Aber lassen sich ungültige Konsenserklärungen auf Grund einer psychisch bedingten Eheunfähigkeit tatsächlich schon vorab mit der nötigen Klarheit erkennen, sodass eine Zulassung zur Heirat zumindest fraglich, wenn nicht unmöglich ist?7 Mit Rücksicht auf die begrenzten Möglichkeiten für eine abschließende Beurteilung ist wohl davon auszugehen, dass es einem Pfarrer allenfalls zukommt, mit pastoraler Klugheit eine längere Vorbereitungszeit für die Hochzeit anzuraten, kaum aber die al Discurso de Benedicto XVI a la Rota Romana el 29 de enero de 2009, in: Janusz Kowal/ Joaqu†n Llobell (Hrsg.), „Iustitia et Iudicium“. Studi di diritto matrimoniale e processuale canonico in onore di Antoni Stankiewicz, 1. Bd., Vatikan 2010, S. 521 – 540. 4 Vgl. Giorgio Zannoni, Matrimonio e antropologia nella giurisprudenza rotale. Presupposti e orizzonte dellÏapprocio personalista, Rom 1995; Claudia Izzi, Valutazione del fondamento antropologico della perizia. Studio sulla recente giurisprudenza rotale in tema dÏincapacit— consensuale, Rom 2004; 5 Vgl. Päpstlicher Rat für die Familie, Vorbereitung auf das Sakrament der Ehe, 13. 5.1996, in: Sekretariat der deutschen Bischofskonferenz (Hrsg.), Menschliche Sexualität: Wahrheit und Bedeutung. Die Vorbereitung auf das Sakrament der Ehe (VApSt 127), Bonn 1996; im Bereich der Österreichischen Bischofskonferenz: Standards der Eheseminare für Brautpaare, in: ABl. ÖBK Nr. 45 vom 1. 5. 2008, S. 11 – 17 (LDBl. 154, 2008, S. 37 – 42); vgl. zuletzt auch die Ausführungen des Papstes hinsichtlich des Zusammenhangs von Pastoral, Ehevorbereitung und Ehegerichtsbarkeit: Benedikt XVI., Ansprache an die Römische Rota am 22. 1. 2011, in: OssRom (dt.) Nr. 5 vom 4. 2. 2011, S. 8 f. 6 Johannes Paul II., Ansprache an die Römische Rota am 27. 1. 1997, n. 5, in: DPM 4 (1997), S. 335 – 338, hier S. 338; vgl. Nikolaus Schöch, Die kirchenrechtliche Interpretation der Grundprinzipien der christlichen Anthropologie als Voraussetzung für die eheprozessrechtliche Beurteilung der psychischen Ehekonsensunfähigkeit (AIC 15), Frankfurt 1999: „Die Elemente der kanonischen Unfähigkeit dürfen nicht auf der Grundlage eines Idealbildes des Menschen gesammelt werden, sondern auf der Grundlage des menschlichen Alltags, der durch die Gegenwart von gegensätzlichen Kräften charakterisiert wird“ (S. 185). 7 Vgl. Feliciano Gil de las Heras, Valutazione della capacit— per sposarsi nellÏammissione al matrimonio, in: Miguel A. Ortiz (Hrsg.), Ammissione alle nozze e prevenzione della nullit— del matriomonio, Mailand 2005, S. 77 – 104.

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Ehe überhaupt zu verbieten.8 Selbst wenn c. 1066 vorsieht, dass „bevor die Ehe geschlossen wird, … feststehen (muss), dass der gültigen und erlaubten Eheschließung nichts im Wege steht“, geht man in der Regel doch von der Ehefähigkeit erwachsener Brautleute aus, sogar wenn die Erfahrung lehrt, dass ein relativ hoher Anteil von später nichtig erklärten Ehen gerade psychische Faktoren zur Begründung anführt. Dabei ist mit zu berücksichtigen, dass persönlichkeitsbezogene Störungen und Erkrankungen im familiären, sozialen oder kulturellen Umfeld oft nur schwer zu erkennen sind oder in ihrer Symptomatik nicht angemessen gedeutet werden.9 Dies gilt speziell auch von einer passiv-aggressiven Charakterstörung, deren Phänomenologie und Relevanz im Kontext der erforderlichen Beziehungs- und Ehefähigkeit im Folgenden dargestellt werden soll, um einige Argumentationskriterien für die Rechtsprechung anzubieten und in der Ehepastoral hellhörig zu werden, damit gegebenenfalls entsprechende Begleitung und professionelle Unterstützung angeboten oder angeraten werden kann.

I. Die passiv-aggressive (negativistische) Persönlichkeitsstörung 1. Eine Typologie der Widersprüche Verwickelte Machtspiele, zerstörerische Taktiken und versteckte Ablehnung machen es schwer, mit einem Partner in einer Freundschafts- oder Ehebeziehung zu leben oder auch nur am Arbeitsplatz mit Personen zu tun zu haben, die eine passiv-aggressive Persönlichkeit entwickelt haben. Unter der entnervten Feststellung aus dem Umfeld solcher Menschen: „Er/Sie macht mich verrückt“ lässt sich erst bei genauerer Analyse ein auf den ersten Blick eher unauffälliges Verhaltensmuster bei den Betroffenen erkennen, das wissenschaftlich derzeit den negativistischen Persönlichkeitsstörungen zugeordnet wird. Doch was versteht man darunter? Historisch wurde der Begriff „passiv-aggressiv“ während des II. Weltkrieges auf Klienten angewandt, die als Soldaten eine unerklärlich stark ablehnende Reaktion gegenüber militärischen Anordnungen und Erwartungen zeigten.10 Innerhalb dieses auf Gehorsam und Fremdentscheidung basierenden Systems gab es – abgesehen von einer streng sanktionierten direkten Auflehnung oder Desertion – lediglich den Ausweg in indirekte, meist passive Ausdrucksformen des persönlichen Widerstandes, bei denen Befehle missachtet, schlecht oder verzögert ausgeführt wurden, wo es zu spontanen Wutausbrüchen und unterschwelliger Aggression kam oder die Grundhaltung in eine resignativ-hinhaltende innere Emigration abglitt. Es handelte sich dabei um 8 Vgl. H¦ctor Franceschi, Preparazione al matrimonio e prevenzione della nullit—, in: ders./Miguel A. Ortiz (Hrsg.), Verit— del consenso e capacit— di donazione. Temi di diritto matrimoniale e processuale canonico, Rom 2009, S. 63 – 102, hier S. 92 – 97, 96. 9 Vgl. Franco Poterzio, ð possibile prevenire le nullit— matrimoniali per incapacit— consensuale? La prospettiva psicopatologica, in: Ortiz (Hrsg.), Ammissione alle nozze (Anm. 7), S. 311 – 339. 10 Vgl. Peter Fiedler, Persönlichkeitsstörungen, Weinheim 2001, S. 327 f.

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Aggressionsweisen eines Schwächeren, der es zwar nicht wagt, dem übermächtigen Gegenüber offen entgegenzutreten, aber versucht, zumindest indirekt-verdeckten Widerstand zu leisten. Im Kontext unseres gesellschaftlichen Berufs- und Familienalltags erweist sich die skizzierte Problematik – bei aufmerksamer Betrachtung – als durchaus weit verbreitetes und bis zu einem gewissen Grad toleriertes Phänomen. Dabei geht es jedoch nicht so sehr um einen realen Konflikt zwischen Schwachen und Starken, sondern vielmehr um das schwer verständliche Verhalten eines Menschen, „der sich für schwach und machtlos hält, so dass er die passive Aggression als einzige Reaktion auf Menschen ansieht, von denen er glaubt, sie seien stärker“11. Damit werden die Beziehungen im privaten und beruflichen12 Bereich auf die Ebene von Machtkämpfen reduziert und zugleich permanent missdeutet. Die Entwicklung einer Leistungsund Konkurrenzgesellschaft hat diese Persönlichkeitsstörung ebenso begünstigt wie die Veränderung der Geschlechterrollen und ein – in unseren Breiten – medial und sozialpolitisch propagiertes Gender-Mainstreaming. Frauen und Männer flüchten sich dann zuweilen in eine selbst konstruierte „Opferrolle“13, um so jene subtile Machtposition zu erreichen, in der das Gegenüber stets im Unklaren über die tatsächlichen Wünsche, Bedürfnisse und Anliegen gelassen wird, da sie nie genau sagen, was sie wirklich meinen und wie es ihnen tatsächlich geht. Symptomatisch werden ambivalente Botschaften und Signale weitergegeben, die zum einen auf den Charme der Bedürftigkeit setzen, zum anderen aber jegliche Hilfsbereitschaft ablehnen. Es handelt sich – entgegen einem vorschnellen Eindruck – hier aber nicht um wankelmütige Persönlichkeiten, die sich heute zurückhaltend, grüblerisch oder passiv verhalten und morgen dominant, feindselig, aggressiv auftreten, vielmehr findet sich bei ihnen „beides gleichzeitig“, denn der Widerspruch entsteht gerade, weil die Aggression geleugnet wird, sobald sie auftritt.14 Während sich eine solche Persönlichkeit nach außen hin gern als „netter Kerl“ ausgibt und jeden Konflikt bestreitet, muss man bei diesem Erscheinungsbild auch die vielfach destruktiven, hinhaltenden, obstruktiv-intriganten Handlungsweisen zur Kenntnis nehmen. Das fällt einem mitunter schwer, denn diese Menschen verstehen es äußerst geschickt, jede Situation durch permanente Doppelbotschaften in der Schwebe zu halten. Dabei ist zudem zu beachten, dass es sowohl gesunde als auch neurotisch geprägte passive Aggression gibt: „Es ist der Unterschied zwischen Takt und Vermeidung, Humor und Gehässigkeit, zivilem Ungehorsam und blanker Zerstörungswut. Man bemerkt (den Unterschied), wenn man die Taten sieht. Ein Gesunder setzt die passive Aggression ein, um seine Ziele zu erreichen. Die neurotische passive Aggression vernebelt die eigent11 Vgl. auch im Folgenden: Scott Wetzler, Warum Männer mauern. Wie Sie Ihren passivaggressiven Mann besser verstehen und mit ihm glücklich werden, München 52003 (orig. New York 1992), hier S. 14. 12 Vgl. Wetzler, Warum Männer mauern (Anm. 11), S. 214 – 239. 13 Vgl. den bezeichnenden Titel von Vera Kast, Abschied von der Opferrolle. Das eigene Leben leben, Freiburg 122011 (11998). 14 Wetzler, Warum Männer mauern (Anm. 11), S. 23.

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lichen Fragen und führt nirgendwo hin.“15 Gerade Letzteres lässt Angehörige oder Berufskollegen in der Beurteilung negativ gestimmter Verhaltensweisen lange zweifeln, weil deren Sinnhaftigkeit einfach nicht nachvollziehbar ist. Hinzu kommt, dass darin nicht bloß innere Widersprüche zum Ausdruck kommen, sondern auch verschiedene Schichten von „Wahrheiten“, an denen sich diese Personen orientieren. „Wenn man genau hinsieht, erkennt man einen verärgerten Mann, der vor seinem Ärger Angst hat: Er brodelt vor Groll und brütet über seiner Furcht, und das alles versteckt er hinter einer Fassade aus Gleichmut. Seine Nettigkeit ist reine Tarnung. Er ist ein Pionier des Selbstschutzes, der sich mühsam durch den reißenden Strom seiner feindseligen Gefühle kämpft.“16 Was die passiv-aggressive Persönlichkeitsstörung dabei so destruktiv macht, ist, dass es sich hier offensichtlich um den seelischen Konflikt einer einzelnen Person handelt, der jedoch im Rahmen einer Zweierbeziehung ausgetragen, somit als „Beziehungsproblem“ angesprochen und auf einen anderen abgeschoben wird. Genau hierin liegt das Problem: Menschen mit passiv-aggressiver Persönlichkeitsstörung sind kaum konfliktfähig und verstecken sich deshalb hinter einem Schleier von Arglosigkeit und einer Fülle von vermeintlich guten Absichten, durch die sie sich aus der Verantwortung für die Folgen ihres Tuns stehlen wollen – bei gleichzeitig bestehender, aber verdrängter Streitlust. Deshalb kommt es selten zur offenen Auseinandersetzung, während viele kleine Bemerkungen die unterschwellige Feindseligkeit spüren lassen, wenngleich wenig fassbar und schon gar nicht zugestanden. Scott Wetzler sieht als Kern eines passiv-aggressiven Persönlichkeitsprofils vor allem das Vorhandensein unterschiedlich begründeter Ängste und Unsicherheiten:17 Angst vor Abhängigkeit (man lässt den Partner glauben, dass man nicht auf ihn angewiesen ist, klammert sich jedoch, ohne es zuzugeben, umso fester an ihn); Angst vor Nähe (unfähig, sich die eigenen „schwachen“ Gefühle zuzugestehen, bricht man mutwillig einen Streit vom Zaun, um so eine „starke“ Distanz zum anderen zu erhalten); Angst vor Konkurrenz (mangelndes Selbstwertgefühl verhindert fairen Sportsgeist, sodass man vorab entweder als Versager handelt oder mögliche Gegner beseitigt); Zerstörungswut (verlangt man etwas, erhält man zwar eine Zusage, aber das Versprechen wird absichtlich langsam, verzögert oder gar nicht eingelöst, um den anderen zu enttäuschen, dessen Erfolg man nie akzeptieren könnte); Chaos erzeugen (es werden immer mehr Aufgaben übernommen, aber nicht zu Ende geführt, bis das Leben aus lauter unerledigten Pflichten völlig unübersichtlich wird, wobei man den Partner darin verwickelt, ohne auf dessen Lösungsvorschläge einzugehen); Sich als Opfer fühlen (eigene Fehler werden nie zugestanden, sondern man fühlt sich ungerecht beschuldigt, weshalb man sich als hilfloses Opfer übertriebener Ansprüche und Vorwürfe beschwert); Ausflüchte machen und lügen (Entschuldigungen werden zu 15 16 17

Wetzler, Warum Männer mauern (Anm. 11), S. 33. Wetzler, Warum Männer mauern (Anm. 11), S. 35. Vgl. im Folgenden: Wetzler, Warum Männer mauern (Anm. 11), S. 38 – 42.

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verwickelten Geschichten in einer Mischung von Halbwahrheiten und Märchen zu seinen Gunsten ausgestaltet, die es jedem Partner schwer machen, die tatsächlichen Gründe des Verhaltens zu durchschauen); Hinauszögern (auf Grund eines eigenwilligen Zeitgefühls werden Termine nicht eingehalten, Zusagen so lange verschoben, bis die Geduld anderer zu Ende ist und am Ende alle guten Gelegenheiten versäumt sind); Ständiges Zuspätkommen und Vergesslichkeit (Unpünktlichkeit zählt zu den ärgerlichsten passiv-aggressiven Eigenschaften ebenso wie eine eklatant unglaubwürdige selektive Vergesslichkeit, um bestimmte Pflichten zu vermeiden); Zweideutigkeit (ungenaue Vorschläge, widersprüchliche Aussagen und dauernde Unschlüssigkeit verhindern, sich auf den Partner wirklich verlassen zu können, erhält man doch stets den Vorwurf, dass gerade diese Erwartung nie versprochen wurde); Schmollen (unter dem Druck der Verpflichtungen zieht man sich seufzend zurück, um es dem Gegenüber zu erschweren, näher an die Person heran zu kommen). 2. Forschungsoffene Kriteriologie in der Diagnostik Das komplexe Krankheitsbild der passiv-aggressiven Persönlichkeitsstörung wurde 1952 bereits in die erste Ausgabe des Standard-Lehrbuches der Amerikanischen Psychiatrischen Vereinigung „Diagnostisches und Statistisches Manual Psychischer Störungen“ (DSM) aufgenommen18 und in den USA zeitweilig zu einer der häufigsten Diagnosen, während sie die „Internationale Klassifikation psychischer Störungen“ der Weltgesundheitsorganisation (WHO) zunächst überhaupt nicht erwähnt und nun namentlich nur unter „Sonstige spezifische Persönlichkeitsstörungen“ (F 60.81) auflistet.19 Stand in der Auflage von 1987 (DSM-III-R) noch das Kriterium des passiven Widerstandes gegen persönliche und berufliche Anforderungen im Zentrum der Symptombeschreibung, wurde das Konzept der passiv-aggressiven Persönlichkeitsstörung neben den verwandten pathologischen Erscheinungsformen einer Borderline-, einer depressiven oder einer vermeidend-selbstunsicheren Persönlichkeitsstörung in der aktuellen Ausgabe des DSM-IV-TR (2003) erweitert und weitere Interaktionsstörungen durch angstgetönte, abwertende und negativistische Grundhaltungen hinzugenommen. Dies führte zur neuen Zusatzbezeichnung als „negativistische Persönlichkeitsstörung“, die systematisch aber in den Anhang B verwiesen wurde für „Kriterien und Achsen, die für weitere Forschung vorgesehen sind“.20 18

DSM-I unterschied innerhalb der passiv-aggressiven Persönlichkeitsstörung drei Formen: den passiv-dependenten, den passiv-aggressiven und den aggressiv-impulsiven Typ. Der DSM-II (1968) gab diese Unterteilung allerdings wieder auf. DSM-III (1980) griff jedoch auf eine Aufteilung in eine dependente und eine passiv-aggressive Persönlichkeitsstörung zurück. Vgl. Fiedler, Persönlichkeitsstörungen (Anm. 10), S. 328 – 331. 19 Weltgesundheitsorganisation (Hrsg.), Internationale Klassifikation Psychischer Störungen. Klinisch-diagnostische Leitlinien, Bern 62008, S. 253. 20 DSM-IV-TR: Henning Saß/Hans-Ulrich Wittchen/Michael Zaudig/Isabel Houben (Hrsg.), Diagnostisches und Statistisches Manual Psychischer Störungen – Textrevision, Göttingen u. a. 2003, S. 863 – 865.

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Hauptmerkmal ist somit jetzt „ein tiefgreifendes Muster negativistischer Einstellungen und passiven Widerstands gegenüber Forderungen nach angemessener Leistung, das im frühen Erwachsenenalter beginnt und in einer Vielzahl von Zusammenhängen auftritt, angezeigt durch mindestens vier der folgenden Kriterien: „1. widersetzt sich passiv der Erfüllung sozialer und beruflicher Routineaufgaben, 2. beklagt sich, von anderen missverstanden und missachtet zu werden, 3. ist mürrisch und streitsüchtig, 4. übt unangemessene Kritik an Autoritäten und verachtet sie, 5. bringt denen gegenüber Neid und Groll zum Ausdruck, die offensichtlich mehr Glück haben, 6. beklagt sich übertrieben und anhaltend über persönliches Unglück, 7. wechselt zwischen feindseligem Trotz und Reue.“21

Demnach ist den Betroffenen die Angewohnheit eigen, nachtragend zu sein, zu opponieren und sich zu weigern, den Leistungsforderungen anderer nachzukommen. Schon kleinste Provokationen führen zu massiver – aber nicht offen vorgetragener – Kritik und zu verbalen Feindseligkeiten auf Autoritätspersonen. Das derart auf mehr oder minder kaschierten Trotzreaktionen basierende Lebenskonzept passiv-aggressiver Persönlichkeiten ist charakteristisch geprägt von einem permanenten Gefühl des Missverstandenseins, weshalb sich diese Menschen andauernd über persönliches Unglück beklagen, das sie zum Gutteil bewusst oder unbewusst selbst inszenieren. Sie finden darin dann die rechtfertigende Begründung für ihr uneingestanden mürrisches und abweisendes Verhalten. „Diese Personen sind oft offenkundig ambivalent, schwanken unentschlossen von einer Vorgehensweise zu deren Gegenteil. Sie folgen häufig einem unbeständigen Weg, welcher zu endlosen Streitigkeiten mit anderen und zu Enttäuschungen für sie selbst führt. Ein intensiver Konflikt zwischen der Abhängigkeit von anderen und dem Wunsch nach Geltendmachung eigener Rechte ist charakteristisch für diese Menschen. Ihr Selbstvertrauen ist oft trotz oberflächlichen prahlerischen Mutes gering. Für die meisten Situationen sehen sie den schlechtestmöglichen Ausgang voraus, selbst wenn alles gut geht.“22 Verständliche Folge der passiv-aggressiven Verhaltensweisen ist eine ziemlich „ineffiziente Lebensführung“, zumal diese Handlungen habituell werden und sich im Laufe des Lebens als „bemerkenswert konstant“ erweisen.23 3. Die psycho-soziale Problematik einer passiv-aggressiven Persönlichkeitsstörung Es zählt zur eigenwilligen Wechselwirkung und dem für eine Partnerschaft auf Dauer recht destruktiven Verhaltensmuster, dass sowohl eine offen feindselige wie 21

Ebd., S. 864 f. Ebd., S. 864. 23 Vgl. Rainer Tölle/Klaus Windgassen, Psychiatrie. Einschließlich Psychotherapie, Heidelberg 152009, S. 119. Hier wird das passiv-aggressive Persönlichkeitsprofil eingeordnet in die „sensitive/ängstliche/vermeidende Persönlichkeitsstörung“: ebd., S. 118 f. 22

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auch eine bloß unterschwellige Aggression es schafft, dass ein Partner immer wieder Zugeständnisse macht, die eigenen Gefühle übergeht, an sich selbst zweifelt und die Beschimpfungen des anderen geradezu als eigene Schuld hinnimmt.24 Durch Verdrehung der Wirklichkeit und Inszenierung der Opferrolle verstehen es diese Menschen ausgezeichnet, den Partner in einer Konfliktsituation zu manipulieren. „Wenn sich die Grenzen verwischen, lässt sich nicht mehr genau feststellen, wer was als Erster empfunden hat, und in der Folge wird dann die ganze Geschichte neu geschrieben. Am Ende sind beide verwirrt und wissen nicht mehr, ,wer Recht hatÐ und ,was eigentlich geschehen istÐ.“25 Erst im Gespräch mit anderen oder in einem gewissen zeitlichen Abstand zur Auseinandersetzung wird erkannt, was tatsächlich passiert ist, fühlt sich nun aber zugleich ohnmächtig, dies dem anderen zu vermitteln. Das gilt umso mehr, als eine aufrichtige Entschuldigung nicht zum Repertoire passiv-aggressiver Persönlichkeiten zählt. Allenfalls abgerungene Zugeständnisse klingen deshalb in der Regel hohl und unglaubwürdig. Da beim Partner zwar Wut, Feindseligkeit, Ärger spürbar sind, von diesem aber konsequent verleugnet werden, ist an eine Konfliktbearbeitung auf kommunikativem Wege einfach nicht zu denken. Charakteristisch für passiv-aggressive Persönlichkeiten ist nämlich, dass sie sich kaum vernehmbar auf betont sachliche Auseinandersetzungen einlassen, vielmehr äußern sie allenfalls boshafte Bemerkungen auf recht subtile Weise mit lächelndem Gesicht, wobei die aufgesetzte Freundlichkeit merklich situationsunangemessen ist und umso provokanter wirkt. Ein „faires Streiten“ ist einer passiv-aggressiven Persönlichkeit nicht möglich, weil für sie jeglicher Kompromiss, bei dem sie auch nur im Geringsten zurückstecken müsste, bereits eine so gewaltige Niederlage darstellt, dass sich der Partner schon deshalb schuldig zu fühlen habe, weil er ein „echtes Opfer“ erpresst.26 Durch diese sozialkommunikativen Defizite bestehen hinsichtlich des Aufbaues und der gemeinsamen Gestaltung von langfristigen Beziehungen gravierende Schwierigkeiten, da diesen Personen eben oft „die Mittel zu vertrauter Verständigung“ fehlen, also „die Fähigkeit, die richtigen Worte zu finden, und die Reife, ihre Empfindungen auszudrücken“.27 Gerade das notwendige Zulassen von Nähe und Emotionalität sowie der daraus sich ergebenden Verpflichtungen lähmt nicht bloß den passiv-aggressiven Partner, sondern ebenso dessen Gegenüber, da es entnervend ist, stets nur erahnen zu müssen, was der andere 24

Vgl. Wetzler, Warum Männer mauern (Anm. 11), S. 46 – 51. Wetzler, Warum Männer mauern (Anm. 11), S. 50. 26 Vgl. Wetzler, Warum Männer mauern (Anm. 11), S. 142, 128 – 147; Francois Lelord/ Christophe Andr¦, Der ganz normale Wahnsinn. Vom Umgang mit schwierigen Menschen, Berlin 92010 (orig. Comment g¦rer les personnalit¦s difficiles, 1996), S. 241 – 260, hier S. 244 f.: „Die Devise einer passiv-aggressiven Persönlichkeit könnte sein: ,Sich unterzuordnen kommt einer Niederlage gleich.Ð Eine Weisung, manchmal schon eine Bitte, löst bei ihr Frustration aus und ein Gefühl, sich auflehnen zu müssen. Aber sie wird diese Auflehnung selten in aufrichtiger Weise ausdrücken, denn ihre zweite Devise könnte lauten: ,Man riskiert zuviel, wenn man sagt, was man denkt.Г 27 Wetzler, Warum Männer mauern (Anm. 11), S. 148, 148 – 166. 25

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will, wobei dieser es zudem nicht zugeben kann, falls es tatsächlich einmal gelungen ist. Dieses Verhalten erstreckt sich auch auf den Bereich der Sexualität sowie auf alle Ansprüche, die sich aus Ehe und Elternschaft ergeben.28 Für der Sicht einer Frau lässt sich das recht anschaulich so beschreiben: „Die Ehe mit einem passiv-aggressiven Mann kann eine einsame Erfahrung sein: Sie fühlen sich, als seien Sie außerhalb seines Lebens eingefroren, gefühlsmäßig und körperlich. Wenn Sie offen sind, ist er distanziert; brauchen Sie seine Aufmerksamkeit, ist er gedanklich woanders. Er kann Sie problemlos aus seinen innersten Gedanken und Gefühlen heraushalten, auf Ihre Offenheit geht er nicht ein, auf Ihre Leidenschaft, Ihren Humor und Ihre Verletzlichkeit reagiert er nicht. Er kann in Gesellschaft anderer allein sein, und – welcher Widerspruch – er hat Angst davor, mit Ihnen allein zu sein.“29 Zu einem solchen Partner vorzudringen, sich gar bei ihm zu beklagen, gibt diesem nur umso mehr Grund, sich zurückzuziehen, sich in eine Fernsehsendung zu vertiefen oder den anderen schroff abzuweisen. Es ist dieser Persönlichkeit ebenso wenig möglich, mit den oft sehr direkten Gefühlen, Fragen und Anforderungen von Kindern umzugehen, weshalb eine aktive Erziehungsrolle weitgehend vermieden wird. Dass dabei trotzdem oft leichtfertige Versprechen abgegeben und schließlich doch nie eingehalten werden, ist für Kinder im familiären Zusammenleben überaus belastend. Zur Erklärung der passiv-aggressiven Persönlichkeitsstörung finden sich mehrere Ansätze.30 In einem psychodynamischen Verständnismodell wird vor allem ein selbst erlebtes Elternverhalten angeführt, „das kindliche Äußerungen von Eigenständigkeit und Durchsetzungsstreben zu bestrafen geneigt ist“, wobei Abhängigkeitsbedürfnisse des Kindes zwar gefördert werden, allerdings „mit ambivalenter Tönung“.31 So wird ihnen beispielsweise selbst dann, wenn sie sich bemühen, „gut“ zu sein, beständig das – schließlich verinnerlichte – Gefühl vermittelt, nie gut genug sein zu können. Die dadurch bedingte Antriebsschwäche und eine Strategie der Verweigerung führen in der Folge nicht nur zur Vermeidung von Frustrationserfahrungen, sondern zugleich in eine Situation, wo es auch keine Erfolgserlebnisse mehr gibt. Letztlich wird so eine eigenverantwortliche Gestaltung des Lebens massiv behindert, indem weder die eigenen Ressourcen adäquat genutzt noch die persönlichen Wünsche umgesetzt werden. Die daraus sich entwickelnde tiefe Unzufriedenheit macht es dabei – durch negativ besetzte Projektionen – unmöglich, die soziale Umgebung so wahrund anzunehmen, wie sie tatsächlich ist. In diesem Sinne scheint der Umgang mit (realen oder vermeintlichen) Abhängigkeiten nicht unwesentlich mit dem Entstehen dieser Psychopathologie zusammenzuhängen. Die Erfahrung der Unzulänglichkeit wird als Bedrohung erlebt, bei der man sich der Hilfe ausgeliefert fühlt, weshalb 28

Vgl. Wetzler, Warum Männer mauern (Anm. 11), S. 167 – 213. Wetzler, Warum Männer mauern (Anm. 11), S. 201. 30 Vgl. Fiedler, Persönlichkeitsstörungen (Anm. 10), S. 334 f.; Wetzler, Warum Männer mauern (Anm. 11), S. 86 – 109. 31 Tölle/Windgassen, Psychiatrie (Anm. 23), S. 119. 29

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dagegen auch mit einer gewissen Ohnmacht innerlich rebelliert wird, denn man hat ja von klein auf ebenso gelernt, dass offene Äußerungen von Aggressionen aus Wut, Enttäuschung oder Ärger nicht erwünscht und falsch sind. Deshalb werden Konflikte lieber verleugnet oder kleingeredet, kommen allerdings verdeckt doch zum Ausdruck durch ärgerliche Versäumnisse, angebliches Vergessen von Arbeitsaufträgen oder betontes Ignorieren von Unmutsäußerungen anderer. Dieses provozierende Verhalten stellt aber keinen vernünftigen Lösungsansatz dar, denn passive Aggression ist „nie der Weg zur Entwicklung einer wirklich gesicherten, selbständigen Identität“32, sondern – in einer Ehe – bloß die selbstinszenierte Verirrung in eine Dilemmasituation, in der vom Partner zwar Initiative erwartet wird, doch nur um dessen Bemühungen dann zu unterlaufen und sich durch das Scheitern wieder in der Opferrolle zu bestätigen. Damit vermittelt man dem Partner Schuldgefühle und rechtfertigt so die eigene Passivität und Beibehaltung der bisherigen Konstellationen. Nach psychoanalytischer Auffassung33 bildet sich der typische Abwehrmechanismus im Kontext der Unterdrückung eigener Bedürfnisse aus Furcht vor Zurückweisung oder Bestrafung aus. Deshalb kommt dieses Reaktionsmuster besonders in den zwischenmenschlichen Beziehungen zum Tragen, bei denen Abhängigkeiten vorhanden sind, man aber Ärger und Wut über mögliche Frustrationen nicht direkt zeigt. Der kognitiv-behaviorale Verstehensansatz sieht in der passiv-aggressiven Persönlichkeitsstörung vor allem ein Defizit an nicht erlernter sozialer Kompetenz, wenn innere Ängste die Durchsetzung von Bedürfnissen hemmen oder situationsangemessene Ärgerreaktionen durch die Antizipation von Bestrafung verhindert werden. Man entwickelt „ein spezifisches Muster, Ärger in sozialen Beziehungen auszudrücken, und zwar in einer maladaptiven verbalen und nichtverbalen Art, die zugleich selten oder nie zu befriedigenden Problemlösungen führt“34. Es ist letztlich das unberechenbare und permanent ambivalente Verhalten von passiv-aggressiven Partnern, die Unbehagen und Frustration hervorrufen und Ehegatten an die Grenzen ihrer Belastbarkeit bringen. Diese bekommen nämlich stets das Gefühl vermittelt, dass sie nichts richtig machen und keinerlei Ansprüche erheben dürfen. Gerade weil die Betroffenen selbst unschlüssig sind gegenüber den eigenen Zielen und Wünschen im Leben, können sie anderen nicht vermitteln, was sie wirklich wollen. Deshalb wird etwa in der Paartherapie der Fokus auf die Notwendigkeit und Form gemeinsamer Entscheidungsfindung gerichtet.35

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Wetzler, Warum Männer mauern (Anm. 11), S. 115, vgl. S. 110 – 127. Vgl. Fiedler, Persönlichkeitsstörungen (Anm. 10), S. 334. 34 Vgl. ebd., S. 334 mit Verweis auf J. Christopher Perry/Raymond B. Flannery, Passiveaggressive Personality Disorder. Treatment Implications of a clinical typology, in: Journal of Nervous and Mental Disease 170 Nr. 3, 1982, S. 164 – 173, hier S. 166. 35 Vgl. Steven Slavik/Jon Carlson/Len Sperry, Adlerian Marital Therapy with the Passiveaggressive Partner, in: The American Journal of Family Therapy 20, 1992, S. 25 – 35; dies., The Passive-aggressive Couple, in: Jon Carlson/Len Sperry (Hrsg.), The Disordered Couple, Bristol 1998, S. 299 – 314. 33

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II. Die kirchenrechtliche Beurteilung der Ehefähigkeit bei passiv-aggressiver Persönlichkeitsstörung 1. Ehefähigkeit als Grunderfordernis zur Konsensleistung Nach katholischem Verständnis kommt der Ehebund durch einen menschlichen Akt zustande, in dem die Ehegatten als „rechtlich dazu befähigte Personen“ (c. 1057 § 1) eine „innige Gemeinschaft des Lebens und der Liebe“ (GS 48) durch eine formelle Ehewillenserklärung begründen. Inhaltlich richtet sich der dabei geforderte Ehekonsens, „der durch keine menschliche Macht ersetzt werden kann“, auf jenen Willensakt, „durch den Mann und Frau sich in einem unwiderruflichen Bund gegenseitig schenken und annehmen“ (c. 1057 § 2; FC 11; 13). Die eheliche Liebe, von der die Pastoralkonstitution des II. Vatikanischen Konzils spricht, ist somit „nicht nur und vor allem Gefühl“, sondern – nach den Worten des Sel. Papstes Johannes Paul II. – ganz „wesentlich eine Verpflichtung gegenüber der anderen Person, eine Verpflichtung, die man durch einen bestimmten Willensakt übernimmt“, nämlich „die bewusste und verantwortliche Übernahme einer Verpflichtung durch einen Rechtsakt, mit dem Braut und Bräutigam im gegenseitigen ,ÜbereignenÐ einander ganzheitliche und endgültige Liebe versprechen“36. Diese umfassende und verantwortungsvolle Selbstverpflichtung setzt eine entsprechende Befähigung voraus, was Konsequenzen für die menschlichen Erfordernisse und Umstände hat, welche die rechtliche Gültigkeit eines solchen vertraglichen Bundes definieren, an der nach einer formellen Eheschließung so lange festzuhalten ist, bis das Gegenteil bewiesen wird (vgl. c. 1060). Hinsichtlich der rechtlichen Befähigung zur Ehe erklärt das kirchliche Gesetzbuch in c. 1095, dass jene Personen „unfähig eine Ehe zu schließen sind“, die entweder überhaupt „keinen hinreichenden Vernunftgebrauch haben“ (Nr. 1) oder die „an einem schwerwiegenden Mangel des Urteilsvermögens leiden hinsichtlich der wesentlichen ehelichen Rechte und Pflichten, die gegenseitig zu übertragen und zu übernehmen sind“ (Nr. 2) oder aber die „aus Gründen der psychischen Beschaffenheit wesentliche Verpflichtungen der Ehe zu übernehmen nicht imstande sind“ (Nr. 3). Von Judikatur und Doktrin wurde damit eine fundamentale personale Kategorie eingebracht, die inzwischen in einer geradezu unübersehbaren Fülle von Kommentaren dargelegt und interpretiert wird.37 36 Johannes Paul II., Ansprache an die Römische Rota vom 21. 1. 1999, in: DPM 7 (2000), S. 217 – 222, hier S. 219. – Vgl. zum Verhältnis von Ehekonsens und ehelicher Liebe: Francisco Lýpez-Illana, Consenso matrimoniale ed amore coniugale nelle decisioni rotali, in: Kowal/Llobell (Hrsg.), Iustitia et Iudicium (Anm. 3), 1. Bd. (2010), S. 281 – 302. 37 Vgl. Aymans-Mörsdorf KanR, 3. Bd. (2007), S. 467 – 469 (Lit.); Luigi Sabbarese, Il matrimonio canonico nellÏordine della natura e della grazia, Rom 32010, S. 239 – 247; Giordano Caberletti, LÏinsufficiente uso di ragione ed il defectus discretionis iudicii, in: La giurisprudenza della Rota Romana sul matrimonio (1908 – 2008) (Studi giuridici 87), Vatikan 2010, S. 77 – 107; Massimo Mingardi, LÏincapacit— di assumere gli obblighi essenziali del matrimonio, in: ebd., S. 109 – 126; Carlos Baccioli, I contributi della Medicina, la Psichiatria

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Als eine der wesentlichsten menschlichen Entscheidungen muss jede Willensbekundung zur Begründung eines Ehebandes von entsprechender Freiheit und persönlicher Verfügungsfähigkeit getragen sein, wobei die intellektuelle und volitive Dimension der Entscheidungsfindung in angemessener und harmonischer Weise zusammenspielen. Gemeint ist hier jenes Unterscheidungs- und Beurteilungsvermögen, wodurch ein Nupturient in der Lage ist, sich mit der zu ehelichenden Person auseinanderzusetzen und dabei die mit der Ehe verbundenen wesentlichen Rechte und Pflichten entsprechend sorgfältig abzuwägen. Bei der hier geforderten discretio iudicii geht es nicht bloß um irgendeine psychiatrisch-psychologische Definition, sondern um einen juridischen Terminus, „der nicht nur die Reife der formalen Aktivität des Intellekts und des Willens bezeichnet, sondern vielmehr die Reife der Tätigkeit der ganzen menschlichen Persönlichkeit, welche durch Intellekt und Willen handelt“38. Auf Seite des Intellekts ist somit zum einen die kritische Erkenntnis- und Unterscheidungsfähigkeit (capacitas critice cognoscendi) und die Fähigkeit zur selbstbewussten Situationsbeurteilung (capacitas aestimationis reflexivae) erforderlich sowie zum anderen auf der Ebene der Willensbildung die Fähigkeit zu einer unabhängigen Selbstbestimmung (capacitas sese determinandi).39 Diese Grundfähigkeiten können jeweils durch unbewusste psychische Konflikte, neurotische Entwicke la Psicologia al Diritto Matrimoniale Canonico, in: Kowal/Llobell (Hrsg.), Iustitia et Iudicium (Anm. 3), 1. Bd. (2010), S. 427 – 454; Angelo Amati, LÏimmaturit— psico-affettiva e matrimonio canonico (can. 1095, 2 – 3 CIC) (Studi giuridici 85), Vatikan 2009; Angelo DÏAuria, Il consenso matrimoniale. Dottrina e giurisprudenza canonica, Rom 2007, bes. S. 85 – 257; Gianfrancesco Zuanazzi, Psicologia e psichiatria nelle cause matrimoniali canoniche (Studi giuridici 73), Vatikan 2006, bes. 111 – 122; Cristiano Barbieri/Alessandra Luzzago/Luciano Musselli, Psicopatologia forense e matrimonio canonico (Studi giuridici 67), Vatikan 2005 (bes. S. 46 – 69 Persönlichkeit; S. 141 – 149 zu c. 1095); Mario Francesco Pompedda, Il canone 1095, nn. 1 – 2 nellÏeconomia della disciplina del matrimonio, in: Piero Antonio Bonnet/Carlo Gullo (Hrsg.), Diritto matrimoniale canonico, Bd. II: Il consenso (Studi giuridici 61), Vatikan 2003, S. 19 – 33; Piero A. Bonnet, La capacit— di intendere e di volere, in: ebd., S. 35 – 71; Paolo Bianchi, Il difetto di discrezione di giudizio circa i diritti e doveri essenziali del matriomonio, in: ebd., S. 73 – 89; Jos¦ M. Serrano Ruiz, La novit— normativa e la collocazione sistematica del can. 1095 n. 3, in: ebd., S. 91 – 119; Pedro-Juan Viladrich, Il consenso matrimoniale, Mailand 2001, S. 7 – 166: La capacit— alla donazione e allÏaccettazione coniugale e il suo difetto (can. 1095). 38 ARRT [= Apostolicum Rotae Romanae Tribunal, Decisiones seu sententiae] 76, 1989, S. 170 – 181, 173 n. 5, Urteil vom 22. 3. 1984 coram Stankiewicz; vgl. ARRT 83, 1994, S. 342 – 362, 343 – 350, Urteil vom 28. 5. 1991 coram Stankiewicz; ARRT 89, 2002, S. 874 – 885, 876, Urteil vom 10. 12. 1997 coram De Lanversin; ARRT 94, 2010, S. 56 – 63, 59, Urteil vom 7. 2. 2002 coram Erlebach. 39 Vgl. (mit Bezug auf die Judikatur) Angelo DÏAuria, Il difetto di libert— interna nel consenso matrimoniale come motivo di incapacit— per mancanza di discrezione di giudizio, Roma 1997, S. 69 – 73; ders., Il consenso matrimoniale (Anm. 37), S. 154 – 212, hier S. 154 – 160; Federico R. Aznar Gil, Derecho matrimonial canýnico, Salamanca 2002, S. 67; Antoni Stankiewicz, La relazione tra mancanza di libert— interna e discrezione di giudizio, in: Franceschi/Ortiz (Hrsg.), Verit— del consenso (Anm. 8), S. 221 – 240; Gabriele Stork, Kanonistische und psychologische Kriterien zur psycho-affektiven (Un-)Reife gemäß c. 1095, 2o CIC, in: Rüdiger Althaus/Franz Kalde/Karl-Heinz Selge (Hrsg.), Saluti hominum providendo, FS für Wilhelm Hentze (Beih. MK CIC 51), Essen 2008, S. 341 – 358.

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lungsdefizite in der Persönlichkeitsreife wie auch emotionale Abhängigkeiten beeinträchtigt sein, sodass keine „effektive Freiheit“ mehr in der konkreten Wahl besteht, was dann zu einer ungültigen Konsensabgabe führt, wenn es sich um eine gravierende Beeinträchtigung handelt, ohne dass dadurch schon völlige Verantwortungslosigkeit gegeben wäre. Hinsichtlich des Elementes der „Schwere“ mangelnder Ehefähigkeit ist zu beachten, dass sich dieses nicht einfach auf den Grad der psychischen Erkrankung oder Persönlichkeitsstörung bezieht, sondern auf die konkrete Auswirkung auf die Konsens- bzw. Ehefähigkeit.40 Üblicherweise wird hier als Bewertungskriterium auch angeführt, dass es sich um eine für das jeweilige Lebensalter untypische Beeinträchtigung handelt.41 Zum Eheschließungszeitpunkt muss also eine derartige „Abweichung von dem geistig-seelischen Normalzustand“ vorliegen, dass der davon betroffene Partner sich nicht im vollen Sinne bewusst ist, welchen psychischen Handlungszwängen er unterliegt, welche eine kritische Beurteilung der ehelichen Partnerschaft als einer von freier Erkenntnis getragenen Entscheidung massiv einschränken und die entsprechende Willensbildung unreflektiert determinieren. Denn für die Erfüllung des Bestehens der Ehevertragsunfähigkeit ist es notwendig, dass „bereits zum Zeitpunkt der Eheschließung eine besondere psychische Anomalie vorhanden ist“, welche beim Betroffenen „die Kritik- und Wahlfähigkeit zum Fällen gewichtiger Entscheidungen, insbesondere im Hinblick auf die freie Wahl des Lebensstandes, schwerwiegend beeinträchtigt“.42 Aber auch wer den Ehekonsens aufgrund seiner Erkenntnis- und Willensfähigkeit grundsätzlich leisten kann, jedoch nicht fähig ist, den Inhalt des Eheversprechens faktisch umzusetzen, dem ist es von Anfang an unmöglich, eine derartige Verpflichtung rechtswirksam zu übernehmen. Dies ist dann gegeben, wenn trotz einer intellektuell angestrebten Eheabsicht bestimmte psychisch bedingte Umstände vorliegen, die es jemandem unmöglich machen, eine Ehe in ihrer wesentlichen Ganzheit, personalen Bezogenheit und Dauerhaftigkeit zu verwirklichen. Zu den Verpflichtungen des Ehebundes gehört nämlich die Bereitschaft zu einer engen „Gemeinschaft des ganzen Lebens, welche durch ihre natürliche Eigenart auf das Wohl der Ehegatten und auf die Zeugung und Erziehung der Nachkommenschaft hingeordnet ist“ 40 Vgl. Pedro-Juan Viladrich, Il consenso matrimoniale, Mailand 2001, S. 7 – 166, hier S. 21 f.: „In definitiva, la gravit— non À una attribuzione della causa psichica, ma del difetto di capacit— consensuale. Ne deriva che non À propriamente la gravit— dellÏanomalia psichica – concetto medico e dato di fatto – la causa dellÏincapacit— consensuale e della nullit— del consenso. In realt— À lÏinsufficienza nellÏuso della ragione, il grave difetto nel possesso della discrezione di giudizio o lÏimpossibilit— di assumere i doveri coniugali essenziali ci! che costituisce ,la misura di gravit— giuridica del difetto di capacit—Ð, e quando una causa psichica determina quella dose di grave difetto di capacit—, allora per questo difetto giuridico della capacit— il consenso À nullo.“ 41 Vgl. ARRT 84, 1995, S. 483 – 492, 484 – 488, Urteil vom 15. 10. 1992 coram Burke; ARRT 89, 2002, S. 342 – 351, 345 f., Urteil vom 22. 4. 1997 coram Sable; ARRT 89, 2002, S. 493 – 506, 497 ff., Urteil vom 11. 6. 1997 coram De Lanversin. 42 Benedikt XVI., Ansprache an die Rota Romana vom 29. 1. 2009, in: OssRom (dt.) Nr. 7 vom 13. 2. 2009, S. 10; vgl. DC Art. 209.

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(c. 1055 §1). Diese Lebens- und Schicksalsgemeinschaft (consortium totius vitae) bedeutet nicht bloß ein Zusammenwohnen oder gemeinschaftliches Arbeiten, sondern zielt auf eine umfassende interpersonale partnerschaftliche Beziehung, wie sie nur der Ehe institutionell – und damit unabdingbar – zu eigen ist. Diese Qualifizierung des unwiderruflichen Ehekonsenses als sowohl rechtliche wie personale Wirklichkeit weitet den Blick aus über das bloße Gewähren und Empfangen von bestimmten Rechten und Pflichten auf jene gegenseitige Übereignung der Person selbst, bei der sich die Partner „gegenseitig schenken und annehmen“ (c. 1057 §2). Wem aber von vornherein aus bestimmten Gründen die Fähigkeit zu einem derartigen Sich-Schenken und Annehmen des Ehegatten mangelt, wem es daher auch nicht möglich ist, eine – im ganzheitlichen Sinne einschließlich der Generativität43 – auf das gemeinsame Gattenwohl (bonum coniugum)44 ausgerichtete Beziehung aufzubauen und im gemeinsamen Leben durchzuhalten, ist nach kirchenrechtlichem Verständnis als „eheführungsunfähig“ zu beurteilen.45 Die Ursache dafür, wesentliche Verpflichtungen der Ehe nicht erfüllen und damit auch nicht rechtlich verpflichtend übernehmen zu können, muss nachweislich in der psychischen Natur des Ehepartners begründet sein (ob causas naturae psychicae). Tatbestandsmäßig kommen daher nicht nur gravierende psychische Erkrankungen in Frage, sondern ebenso psychopathologische Störungen, strukturelle psychische Eigenarten sowie mangelnde Reife, wenn diese zum Zeitpunkt der Konsensleistung vorliegen, wodurch sich ein relativ breites Spektrum von psychischen und charakterlichen Defiziten ergibt, die innerhalb des Anwendungsbereiches der Nichtigkeitsbe-

43 Vgl. Carlos A. Cerezuela Garc†a, El contenido esencial del bonum prolis. Estudio histýrico-jur†dico de Doctrina y Jurisprudencia (TG 84), Rom 2009; Klaus Lüdicke, Some Sentences on Exclusio Boni Prolis, in: Jurist 69 (2009), S. 562 – 582; Alberto Vanzi, LÏincapacit— educativa dei coniugi verso la prole come incapacit— ad assumere gli oneri essenziali del matrimonio (can. 1095, 3O) (Tesi Gregoriana 73), Rom 2006; Prole e matrimonio canonico (Studi giuridici 62), Vatikan 2003. 44 Vgl. Il „Bonum coniugum“ nel matrimonio canonico (Studi giuridici 40), Vatikan 1996; Klaus Lüdicke, A Theory of Bonum Coniugum, in: Jurist 69 (2009), S. 703 – 730; ders., Was ist die Ehe – kirchenrechtlich gefragt?, in: Althaus u. a. (Hrsg.), Kirchenrecht und Theologie (Anm. 2), S. 311 – 331; Fabrizio Turriziani Colonna, „Bonum coniugum“. Dal „mutuum adiutorium“ al „consortium totius vitae“, in: Kowal/Llobell (Hrsg.), Iustitia et Iudicium (Anm. 3), 1. Bd. (2010), S. 155 – 168; Carlos Jos¦ Err‚zuriz Mackenna, Riflessioni circa il „bonum coniugum“ e la nullit— del matrimonio, in: ebd., S. 169 – 182. 45 Vgl. Klaus Lüdicke, MK CIC, zu c. 1095 CIC, Essen 2006 (41. Lfg.), hier bes. Rdnr. 41 – 60; Joseph Prader/Heinrich J. F. Reinhardt, Das kirchliche Eherecht in der seelsorgerischen Praxis. Orientierungshilfen für die Ehevorbereitung und Krisenberatung. Hinweise auf die Rechtsordnungen der Ostkirchen und auf das islamische Eherecht, Essen 42001, S. 129 – 132; Luigi Sabbarese, Il matrimonio canonico nellÏordine della natura e della grazia, Rom 32010, S. 244 – 247; Jos¦ Maria Serrano Ruiz, La novit— normativa e la collocazione sistematica del c. 1095 n.3, in: Bonnet/Gullo (Hrsg.), Diritto matrimoniale canonico II (Anm. 37), S. 91 – 119; Aznar Gil, Derecho matrimonial (Anm. 39), S. 78 – 95, bes. S. 85 – 90; LÏincapacit— di assumere gli oneri essenziali del matrimonio (Studi giuridici 48), Vatikan 1998.

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stimmung liegen.46 Damit ist auch jede Art von Charakterstörung beachtlich, die den Aufbau einer Lebensgemeinschaft unmöglich macht und hinsichtlich ihrer Auswirkungen eine eindeutige Signifikanz im Gesamtverhalten aufweist. Nach bewährter Rechtsprechung wird nämlich auch unter dem Nichtigkeitsgrund von c. 1095 Nr. 3 das Vorliegen derart gravierender Wirkungen verlangt, dass die interpersonale Beziehung der Eheleute in der Folge moralisch unmöglich und völlig untolerierbar geworden ist.47 Maßgebliches Kriterium stellt die tatsächliche Unfähigkeit zur Verwirklichung essentieller Wesenselemente bzw. Wesenssektoren48 des Ehebundes – speziell des Gattenwohles – dar. 2. Nichtigkeit des Ehekonsenses bei passiv-aggressiver Persönlichkeitsstörung Zu den markanten Beispielen relevanter Umstände für eine kanonische Eheunfähigkeit zählen wegen ihrer unmittelbaren Auswirkung auf Partnerschaft und Familie die Persönlichkeitsstörungen.49 Diese finden ihren Ausdruck in einem breiten Spektrum von Verhaltensweisen, die sich sowohl als reizbar, haltlos, fanatisch und aggressiv beschreiben lassen, aber ebenso als krankhaft ängstlich, zurückgezogen, vermeidend, zwanghaft usw. bis hin zu gemütsmäßiger Instabilität.50 Das von der gesell46 Vgl. Aznar Gil, Derecho matrimonial (Anm. 39), S. 91 – 95; Roberto Picardi, Matrimonio canonico. Aspetti medico-legali, Rom 2003, S. 71 – 99; Krzysztof Gorski, Das personenbezogene Eheverständnis und relatives Erfüllungsunvermögen (AIC 37), Frankfurt u. a. 2006, S. 111 – 116. 47 Vgl. ARRT 83, 1994, S. 463 – 477, 464 – 469, Urteil vom 19. 7. 1991 coram Bruno: „Ideo non sufficiunt mala voluntas, leves indolis vitiositates vel deordinationes personalitatis quae relationem interpersonalem difficiliorem vel minus perfectam reddunt, sed requiritur ut causa naturae psychicae relationem interpersonalem moraliter impossibilem ac intolerabilem reddant“ (S. 466, n. 6). 48 Vgl. Norbert Lüdecke, Der Ausschluß des bonum coniugum. Ein Ehenichtigkeitsgrund mit Startschwierigkeiten, in: DPM 2 (1995), S. 117 – 192, hier S. 136; Gorski, Das personenbezogene Eheverständnis (Anm. 46), S. 83 – 89; Hermann Kahler, Der Ausschluss des bonum coniugum – ein Ehenichtigkeitsgrund?, in: Dominicus M. Meier/Peter Platen/Heinrich J. F. Reinhardt/Frank Sanders (Hrsg.), Rezeption des zweiten Vatikanischen Konzils in Theologie und Kirchenrecht heute (FS Klaus Lüdicke 65) (Beih. MKCIC 55), Essen 2008, S. 295 – 318; Paolo Bianchi, Alla ricerca degli obblighi essenziali del matrimonio rimasti inevasi: can. 1095, 3o, in: Quaderni di diritto ecclesiale 22 (2009), S. 65 – 84; ders., Incapacit— di assumere gli obblighi essenziali del matriomonio (can. 1095, 3o), in: La prova della nullit— matrimoniale secondo la giurisprudenza della Rota Romana (Studi giuridici 91), Vatikan 2011, S. 169 – 186. 49 Vgl. Sabine Heidl, Psychische Störungen und ihre Begutachtung im Ehenichtigkeitsprozess (AIC 48), Frankfurt 2009, hier S. 97 – 117. 50 Vgl. Henning Saß/Sabine C. Herpertz, Persönlichkeitsstörungen, Stuttgart 2003; Henning Saß, Persönlichkeitsstörungen, in: Hanfried Helmchen u. a. (Hrsg.), Psychiatrie der Gegenwart, 6. Bd.: Erlebens- und Verhaltensstörungen, Berlin u. a. 2000, S. 275 – 330; ders., Persönlichkeitsstörungen, in: Volker Faust (Hrsg.), Psychiatrie – Ein Lehrbuch für Klinik, Praxis und Beratung, Stuttgart u. a. 21996, S. 215 – 222; ders., Psychopathie – Soziopathie –

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schaftlichen Norm merklich abweichende Verhalten wirkt sich jeweils unterschiedlich und mit differenziertem Störungspotential auf das soziale Leben der Betroffenen und ihr Umfeld aus. Dabei ist allerdings zu berücksichtigen, dass hinsichtlich der pathologischen Qualifikation der Charakterstrukturen eine erhebliche Divergenz in der Wahrnehmung besteht, insofern Betroffene oft kaum unter ihrer Störung leiden und diesbezügliche Symptome oder Konflikte konsequent dissoziieren, während ihr Verhalten für die gesellschaftliche und familiäre Umwelt in der Mehrzahl der Fälle eine erhebliche Belastung darstellt. Die Vielfalt an Krankheitsbildern führte letztlich dazu, dass auch in der Kanonistik und Rechtsprechung eine entsprechend spezifizierte Klassifikation persönlichkeitsbedingter Beeinträchtigungen Eingang gefunden hat.51 In einem Nichtigkeitsverfahren vor der Römischen Rota wurde die passiv-aggressive Persönlichkeitsstörung erstmals 1979 in einem Urteil coram Stankiewicz thematisiert, wobei zwar trotz der vom Gutachten attestierten psychisch bedingten Unfähigkeit eine Entscheidung „pro vinculo“ erfolgte, die allerdings auf eine bei der aufgerufenen Frau erst nach der Heirat nachgewiesene pathologische Manifestation zurückzuführen ist.52 Wenig später gab es nämlich ein affirmatives Urteil coram Stankiewicz, in dem eine gravierende Beeinträchtigung der „facultas aestimativa“ hinsichtlich wesentlicher Eheverpflichtungen gegenüber dem Gatten auf Grund passiv-aggressiver Persönlichkeitsstörung der Frau als erwiesen festgestellt wurde.53 Nach Inkrafttreten des CIC/1983 finden sich weitere höchstgerichtliche Urteile, die insbesondere im Blick auf den Nachweis einer Ehevertragsunfähigkeit gemäß c. 1095 n. 2 wiederholt zu einer negativen Entscheidung bezüglich der Nichtigkeit führten. So wurde etwa im Fall eines ehemaligen Seminaristen, der wegen mehrfacher Untreue und einem auffallend grausamen und inhumanen Verhalten gegenüber seiner Frau („ob viri modum agendi crudelem inhumanumque“) das Scheitern seiner Ehe herbeiführte, zwar vom Gutachter anhand der Aktenlage eine passiv-aggressive Persönlichkeitsstörung diagnostiziert, die mit einer spezifisch egoistischen Symptomatik einherging, weshalb die Fähigkeit zur Übernahme der ehelichen Rechte und Pflichten stark in Frage gestellt sei, doch habe diese „Unreife das Beurteilungsver-

Dissozialität. Zur Differenzialtypologie der Persönlichkeitsstörungen, Berlin u. a. 1987; Fiedler, Persönlichkeitsstörungen (Anm. 10). 51 Vgl. Juan J. Garc†a Fa†lde, Nuevo estudio sobre trastornos ps†quicos y nulidad del matrimonio, Salamanca 2003, hier S. 395 – 424; Roberto Palombi, La prova del difetto di uso di ragione e del difetto di discrezione di giudizio, in: La prova (Anm. 48), S. 125 – 167; Paolo Bianchi, Disturbi di personalit— e capacit— matrimoniale, in: Franceschi/Ortiz (Hrsg.),Verit— del consenso (Anm. 8), S. 191 – 220, bes. S. 209 – 214. 52 ARRT 71, 1988, S. 306 – 322, Urteil vom 31. 5. 1979 coram Stankiewicz. 53 ARRT 73, 1987, S. 383 – 391, Urteil vom 23. 7. 1981 coram Stankiewicz; vgl. J. J. Garc†a Fa†lde, Nuevo estudio (Anm. 51), S. 417; in der Begründung der Rechtslage beispielhaft angeführt wird die passiv-aggressive Persönlichkeitsstörung auch bei: ARRT 92, 2007, S. 127 – 137, Urteil vom 28. 1. 2000 coram Pinto, hier: S. 130, n. 7.

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mögen in Bezug auf die der Ehe wesentlichen Rechte und Pflichten nicht berührt“.54 In einer Entscheidung coram Burke aus dem Jahr 1993 widmet sich der Sachverständige ebenfalls dem Zusammenhang zwischen der passiv-aggressiven Persönlichkeitsstörung und einer möglichen Beeinträchtigung des Urteilsvermögens: „Man kann die impulsive Entscheidung des Klägers, eine ältere und vom Charakter her klar dominante Frau zu heiraten, eindeutig als misslungenen Versuch verstehen, Erleichterung in seiner Einsamkeit zu erhalten, eine Befriedigung seiner Abhängigkeitsbedürfnisse“, wobei „eine solche Persönlichkeit dem Kläger beim Akt der Eheschließung nicht die Diskretionsfähigkeit für einen gültigen Konsens ermöglicht habe ebenso wenig wie die Fähigkeit, die der Ehe inhärenten Verpflichtungen zu erfüllen“.55 Der negative Urteilsspruch zu Gunsten der Gültigkeit der Ehe erfolgte letztlich aber wegen einer für die Richter offenbar nicht ausreichend nachvollziehbaren Argumentation des Gutachters, der bloß „ein Etikett (,labelÐ)“ ohne allen Hinweis auf den Schweregrad verwendet habe, denn „etiamsi peritalis diagnosis fundamentum in Actis habuisset, quidquid opinandum foret de eius possibili momento relate ad can. 1095 n. 3, iuridice nullius ponderis esse videtur sub commate 2 canonis“.56 Eine Nichtigkeit wegen Ehevertragsunfähigkeit gemäß c. 1095 Nr. 2 scheint nach herrschender Rechtsprechung eben vor allem dann vorzuliegen, wenn starke Abhängigkeitsverhältnisse bestehen, die – wie in den jüngeren Urteilen coram Serrano57 und coram Erlebach58 – unter den Begriff einer „passiv-dependenten Persönlichkeit“, ursprünglich ein Sub-Typus der passiv-aggressiven Persönlichkeitsstörung, gefasst werden können, doch reicht diese Symptomatik nach moderner Systematik eher in den eigens klassifizierten Bereich der „abhängigen Persönlichkeitsstörung“ hinein.59 Berücksichtigt man die im vorangehenden Teil beschriebenen Manifestationen einer passiv-aggressiven Persönlichkeitsstörung, sind – je nach Intensität – durchaus jene Auswirkungen auf die Urteils- und Willensbildungsfähigkeit vorhanden, die zur Nichtigerklärung des Ehekonsenses führen können.60 Argumentativ lassen sich nach Roberto Palombi dafür einerseits erhebliche Defizite hinsichtlich der inneren Entscheidungsfreiheit bei der Willensbildung anführen, die in pathologischen Konflikt54

ARRT 82, 1994, S. 31 – 51, Urteil vom 30. 1. 1990 coram Faltin, hier: S. 48 f., n. 21; vgl. Palombi, La prova (Anm. 51), S. 156. 55 ARRT 85, 1996, S. 702 – 715; 712, n. 27, Urteil vom 25. 11. 1993 coram Burke. 56 Ebd., 712 n. 28; vgl. Palombi, La prova (Anm. 51), S. 156 f. 57 ARRT 93, 2009, S. 392 – 405, Urteil vom 15. 6. 2001 coram Serrano Ruiz, hier: 395, n. 7, S. 402, n. 22. 58 ARRT 94, 2010, S. 56 – 63, Urteil vom 7. 2. 2002 coram Erlebach, hier: S. 59, n. 6; S. 62 f., n. 11. 59 Vgl. DSM-IV (301.6); WHO, ICD-10 (F 60.7); Heidl, Psychische Störungen (Anm. 49), S. 115 f.; Garc†a Fa†lde, Nuevo estudio (Anm. 51), S. 415 f.; Palombi, La prova (Anm. 51), S. 154 f.; Cristiano Barbieri, Il c. d. disturbo dipendente di personalit—: aspetti psichiatrici, in: Dipendenze psichologiche e consenso matrimoniale (Studi giuridici 84), Vatikan 2009, S. 17 – 36; Paolo Bianchi, Il disturbo dipendente di personalit— e la capacit— matrimoniale, in: ebd., S. 37 – 64. 60 Vgl. das summarische Ergebnis bei Palombi, La prova (Anm. 51), S. 157.

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situation bestehen, und zwar durch die psychische Abhängigkeit von anderen und den gleichzeitigen Wunsch nach Selbstbestimmung sowie die Unschlüssigkeit in Bezug auf die zu übernehmende Rolle in einer Beziehung und den inneren Widerstand gegen Veränderungen, die als gefährlich und unkontrollierbar erlebt werden. Andererseits ist in einem Annullierungsverfahren an jene schwerwiegenden Fälle zu denken, in denen die Fähigkeit zu einer realitätsnahen und kritischen Auseinandersetzung durch eine eigenartige Prahlsucht gravierend beeinträchtigt wird, wobei ein höchst unsicheres Selbstvertrauen mit einer negativistischen Grundhaltung einhergeht, die immer nur das Schlimmste befürchtet. Aus den bisherigen Ausführungen wird m. E. ebenso deutlich, warum es durchaus Sinn macht, wie etwa Angelo DÏAuria, eine passiv-aggressive Persönlichkeitsstörung eher unter dem Nichtigkeitsgrund der Eheführungsunfähigkeit gemäß c. 1095 n. 3 zu betrachten.61 So stellt beispielsweise ein affirmatives Urteil coram Bruno aus dem Jahr 1991 besonders auf die (fehlende) soziale Kompetenz in der Kommunikations- und Konfliktfähigkeit ab.62 Demnach ist es nämlich geradezu unmöglich, mit Personen dieses Charaktertyps zu diskutieren oder in eine sachliche Auseinandersetzung einzutreten, was in einer ehelichen Beziehung aber gleichsam zum Sprengstoff werden kann, wie der Sachverständige in diesem Verfahren ausführt: „Eine passiv-aggressive Persönlichkeit will gewinnen und wenn sie dies nicht erreicht, bleibt sie einfach stumm und der andere Teil findet sich ohne Möglichkeiten. Wenn sich dies im Verlauf der Jahre hinzieht, kommt der andere Teil zu einem Punkt, in dem er sich unwahrscheinlich frustriert fühlt, weil er mit seinem eigenen Ehegatten einfach nicht interagieren kann. Ich kenne praktisch niemanden, der es aushält, mit einer voll entwickelten passiv-aggressiven Persönlichkeit zusammen zu leben.“ Damit wurde für die Richter deutlich, dass auf Grund der vorangehend bestehenden Psychopathologie eines Teils die Verwirklichung des ,bonum coniugumÐ und somit auch eine gültige Ehekonsenserklärung unmöglich war.63 In diesem Sinne wurden auch in Linz mehrere Entscheidungen getroffen64, die sich mit dieser Thematik beschäftigten. Wiederholt basierte dabei die eingegangene Verbindung eher auf der Unselbständigkeit und Unsicherheit eines von der Hilfe des anderen abhängigen Partners als auf einer frei gewählten Bindung, die diesen Persönlichkeiten so einfach nicht möglich war. Die stark eingeschränkte Fähigkeit zu partnerschaftlichem Verhalten kam sowohl in verbalen Aggressionen zum Ausdruck, die bei 61 Vgl. Angelo DÏAuria, Il consenso matrimoniale. Dottrina e giurisprudenza canonica, Rom 2007, S. 221. 62 ARRT 83, 1994, S. 463 – 477, 464 – 469, Urteil vom 19. 7. 1991 coram Bruno, hier bes. S. 468, n.8. 63 Ebd. 468: „Et revera si vir vel mulier vel uterque coniux capacitate instaurandi relationes interpersonales careat, impossibile pro eis evadit tolerabilem conviventiam instaurare, et ,bonum coniugumÐ, quod est finis et elementum essentiale pacti iugalis, disperanter in discrimen vocatur“. 64 Vgl. die (bestätigten) affirmativen Urteile des Linzer Diözesangerichtes vom 15. 6. 2001, vom 25. 11. 2003 und vom 29. 4. 2005 (alle unveröffentlicht).

Die unauffällige Eheunfähigkeit

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allem Bedürfnis nach Zuwendung wegen des geringen Selbstwertgefühls eine Distanz schaffende Abwehrhaltung vermittelte, als auch in heftigen Eifersuchtsreaktionen mit dauernder Beobachtung und Beschuldigung des Partners, was zuweilen den Eindruck feindseligen Misstrauens erweckte. Symptomatisch wurde zur Verdrängung dieser ambivalenten Beziehung zum Ehegatten dessen Abwertung eingesetzt. Dadurch kann vermieden werden, sich mit dessen Ansprüchen befassen zu müssen, was bedeutet – wie die Gutachterin im Verfahren ausführt –, „dass weder dem Partner eine maßgebliche Rolle zugestanden noch die eigene Persönlichkeit in den Prozess eingebracht wird“. Dadurch wird offensichtlich, „dass es sich weniger um eine Nichtwollen als um ein Nicht-können handelt“65. Das Kommunikations- und Konfliktverhalten war durchwegs von einer beständigen Abwehr gegenüber den Ansprüchen der Umgebung gekennzeichnet, da die erforderliche Ich-Stärke zur Durchsetzung eigener Bedürfnisse fehlte und deshalb Konfrontationen vermieden wurden, wobei diese Taktik aber für die Betroffenen selbst allerdings nicht bewusstseinsfähig gewesen ist. 3. Die Nachvollziehbarkeit kirchlicher Entscheidungen Eine bemerkenswerte Erfahrung der gerichtlichen Praxis stellt der Umstand dar, dass Parteien mit passiv-aggressiver Persönlichkeitsstörung die Nichtigkeit ihrer Ehe auf Grund der eigenen Entwicklungsdefizite und Verhaltensweisen trotz ausführlicher Begründungen und ausreichender beweismäßiger Feststellungen nicht nachvollziehbar ist. Dies liegt besonders darin begründet, dass es oft um zunächst wenig auffällige Handlungen geht, die sich erst in der Zusammenschau auf ein pathologisches Persönlichkeitsprofil zurückführen lassen. Hinzu kommt, dass es charakteristisch für diese Störung ist, dass die jeweiligen Handlungen als ich-synton, also eben nicht wie bei den Symptomneurosen als fremd und störend, sondern trotz erheblicher intrapsychischer Spannungen als Bestandteil der eigenen Persönlichkeit erlebt werden. Deshalb fällt es den Betroffenen sichtlich schwer, nicht nur das diagnostische Ergebnis zur Kenntnis zu nehmen, sondern sie können schon aus ihrer subjektiven Sicht als „Opfer“ keinerlei Verständnis für die Reaktionen des anderen Teils und in der Folge für das Scheitern der Ehe aufbringen. Gerade deshalb lässt sich zu Recht sagen: „Die passive Aggression ist insofern die schwierigste Aggression, weil sie sich so harmlos gibt und im Grunde genommen sehr zerstörerisch ist, denn sie entwertet den anderen Menschen ganz entscheidend.“66 Eben weil viele symptomatische Geschichten sonstigen Alltagserfahrungen sehr ähneln und der Wechsel von der Normalität in die Anormalität graduell erfolgt, ist klar festzuhalten, dass eine echt negativistische Persönlichkeitsstörung als „obviously pathological in its full expression“ anzusehen ist.67 So schwer es daher für 65

Diözesangericht Linz, Urteil vom 15. 6. 2001, S. 10 (unveröffentlicht) mit Bezug auf die Klinische Psychologin und gerichtlich beeidete Sachverständige Dr. Daniela Buder. 66 Kast, Abschied (Anm. 13), S. 71. 67 Theodore Millon, Personality Disorders in Modern Life, Hoboken (NJ) 22004, S. 551 f., vgl. S. 548 – 558.

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die Betroffenen ist, die Wahrheit diesbezüglich anzuerkennen, so sehr gilt es, das nähere und weitere Umfeld über die daraus sich notwendiger Weise ergebenden Auswirkungen aufzuklären und die Dramatik innerhalb einer ehelichen Beziehung deutlich zu machen. Lange Zeit sind es nämlich die Partner selbst, die durch ihr ständiges Entgegenkommen und Mitspielen dafür sorgen, dass selbst guten Bekannten die eigentlichen Probleme und das permanente Scheitern aller Bemühungen nicht auffallen. Dies führt dazu, dass sogar erfahrenen Seelsorgern die Nachvollziehbarkeit kirchlicher Entscheidungen über die Ehenichtigkeit schwer fällt. Dennoch hilft bei dieser auf den ersten Blick so „unauffälligen Eheführungsunfähigkeit“ nur die Konfrontation mit der Wahrheit der personalen Defizite, die mit der Diagnose einer passiv-aggressiven Persönlichkeit verbunden sind, sowie mit der Therapiebedürftigkeit, welche in den meisten Verfahren die Verhängung eines Eheverbotes für den betroffenen Teil rechtfertigt. Das ist der Moment, wo die Ehegerichtsbarkeit an ihre Grenzen kommt und die Ehepastoral erneut gefordert ist.

Das Ehehindernis der öffentlichen Ehrbarkeit und die Zivilehe Anmerkungen zum Text des c. 1093 CIC Von Hugo Schwendenwein Wenn man Verbesserungen der Rechtsbestimmungen des Codex Iuris Canonici von 1983 ins Auge fasst, so könnte in Erwägung gezogen werden, den das „Impedimentum publicae honestatis“ betreffenden Text des c. 1093, 1. Satz, durch den Text des c. 810 § 1 CCEO1 zu ersetzen. Meines Erachtens wäre es sinnvoll, die betreffende Passage des lateinischen Codex dem orientalischen Codex anzugleichen. Während das Gesetzbuch der lateinischen Kirche2 nur zwei Entstehungsgründe dieses Hindernisses anführt (die ungültige Ehe nach Aufnahme des gemeinsamen Lebens3 und den Konkubinat4), nennt das ostkirchliche Gesetzbuch außer diesen auch die Zivilehe und die Eheschließung vor einem akatholischen Religionsdiener.5 In den beiden letztgenannten Fällen entsteht das Hindernis, wenn es sich um an die kanonische Eheschließungsform gebundene Personen handelt, die auf diesem Weg eine Ehe einzugehen versuchen6 und das gemeinsame Leben aufnehmen. Selbstverständlich entsteht 1 C. 810 CCEO: „§ 1. Impedimentum publicae honestatis oritur 18 ex matrimonio invalido post instauratam vitam communem; 28 ex notorio et publico concubinatu, 38 ex instauratione vitae communis eorum, qui ad formam celebrationis matrimonii iure praescriptam astricti matrimonium attentaverunt coram officiali civili aut ministro acatholico. § 2. Hoc impedimentum matrimonium dirimit in primo gradu lineae rectae inter virum et consanguineas mulieris itemque inter mulierem er viri consanguineos.“ 2 C. 1083 CIC/1983: „Impedimentum publicae honestatis oritur ex matrimonio invalido post instauratam vitam communem aut ex notorio vel publico concubinatu ; et nuptias dirimit in primo gradu lineae rectae inter virum et consanguineas mulieris, ac vice versa.“ 3 „ex matrimonio invalido post instauratam vitam communem“. 4 „ex publico vel notorio concubinatu“. 5 C. 810 § 1, 38: „ex instauratione vitae communis eorum, qui ad formam celebrationis matrimonii iure praescriptam astricti matrimonium attentaverunt coram officiali civili aut ministro acatholico.“ 6 Bezüglich der Eingehung einer Zivilehe oder einer Ehe vor einem akatholischen Religionsdiener verwendet der CCEO in c. 812 das Wort „attentare“, was auf einen untauglichen Eheschließungsversuch hindeutet. Wir kommen darauf später zurück. Wer in einem Land mit obligatorischer Zivilehe kirchlich heiratet, und außerdem, um dem staatlichen Gesetz zu genügen und die zivile Anerkennung der Ehe zu erlangen, den Akt vor dem Standesbeamten vollzieht, inkurriert nicht das Hindernis der öffentlichen Ehrbarkeit, sondern das der Schwägerschaft.

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durch die zivile Eheschließung derer, die nicht an die kirchliche Eheschließungsform gebunden sind, nicht das Hindernis der öffentlichen Ehrbarkeit sondern – bei Vorliegen der Voraussetzungen7 – das Hindernis der Schwägerschaft. I. Anknüpfung an das vorausgehende Recht Der Codex Iuris Canonici von 1983 steht mit Nennung der beiden Sachverhalte, auf denen das Ehehindernis der öffentlichen Ehrbarkeit basiert (ungültige Ehe und Konkubinat), in der Tradition des bisherigen Rechtes. Es sind die gleichen Tatbestände, die auch der Codex von 1917 nennt. Nach c. 1078 CIC/1917 entsteht dieses Hindernis „ex matrimonio invalido, sive consummato sive non, et ex publico vel notorio concubinatu“, nach c. 1093 des CIC/1983 „ex matrimonio invalido post instauratam vitam communem aut ex notorio vel publico concubinatu“. Der einschlägige Text des CIC/1983 stimmt über weite Strecken, aber nicht vollständig, mit dem des kirchlichen Gesetzbuches von 1917 überein. Was die Textierung bezüglich des Konkubinates betrifft, so ist es unerheblich, ob die Wortfolge „ex publico vel notorio“ (CIC/1917) oder „ex notorio vel publico“ (CIC/1983) gewählt wird; der Sinngehalt der Aussage ist der gleiche. Keine inhaltliche Änderung ergibt sich aus dem Wegfall der im CIC/1917 rücksichtlich der ,ungültigen EheÐ enthaltenen Beifügung „sive consummato sive non“; es kommt auch ohne diese Beifügung auf das Vorliegen einer ungültigen Ehe an, gleichgültig, ob sie konsummiert ist oder nicht. Allerdings hat man im CIC/1983 ein zusätzliches Kriterium, das eine Neuerung gegenüber dem Codex von 1917 darstellt, eingeführt. Im neuen Recht wird das bei Vorliegen einer ungültigen Ehe entstehende Hindernis erst „post instauratam vitam communem“ begründet, während es nach dem CIC/1917, sobald eine ungültige Ehe vorlag, auch ohne Aufnahme des gemeinsamen Lebens zustande gekommen ist. Einen deutlichen Unterschied zwischen dem Gesetzbuch von 1917 und dem von 1983 gibt es bezüglich des Ausmaßes des Hindernisses. Nach dem CIC/19178 besteht es zwischen dem Mann und den Blutsverwandten der Frau im ersten und zweiten Grad der geraden Linie bzw. umgekehrt; nach dem CIC/1983 ist es auf den ersten Grad der geraden Linie beschränkt.9 Diese Änderung ist für die in den folgenden Ausführungen im Vordergrund des Interesses stehende Frage, ob die Zivilehe unter die Entstehungsgründe des „impedimentum publicae honestatis“ fällt, nicht von Bedeutung. 7

Ehewille usw. C. 1078 CIC/1917: „Impedimentum publicae honestatis oritur ex matrimonio invalido, sive consummato sive non, et ex publico vel notorio concubinatu; et nuptias dirimit in primo et secundo gradu linieae rectae inter virum et consanguineas mulieris, ac vice versa.“ 9 Der CIC/1917, nach dem sich das Hindernis auch auf den zweiten Grad der geraden Linie erstreckt hat, hat einen wegen des Altersunterschiedes höchst unwahrscheinlichen Fall mit berücksichtigt, der nunmehr nicht mehr unter die gesetzliche Umschreibung fällt. 8

Das Ehehindernis der öffentlichen Ehrbarkeit und die Zivilehe

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II. Nicht-Ehe und ungültige Ehe Im Zusammenhang mit unserem Thema spielt das Verständnis des Begriffes „matrimonium invalidum“ eine Rolle. In verschiedenen Ländern hat die Rechtswissenschaft an Hand des staatlichen Eherechtes die Unterscheidung zwischen Nicht-Ehe und ungültiger Ehe entwickelt. Im Laufe der Zeit wurde auch bei der lehrmäßigen Vorlage des Kirchenrechtes zwischen „matrimonium invalidum“ und „matrimonium nullum“ unterschieden. Wenn bei einer Verbindung nicht einmal der ,Schein der EheÐ („species matrimonii“) gegeben ist, wird der Terminus ,Nicht-EheÐ („matrimonium nullum“) gebraucht. Allerdings ist man nicht immer und überall von dieser Unterscheidung ausgegangen. Ungeachtet der aufgezeigten Entwicklung wurde gelegentlich – wenn zum Ausdruck gebracht werden sollte, dass ein Vorgang oder ein Verhältnis nicht Ehe im Sinn des katholischen Kirchenrechtes ist – auch dann von ungültiger Ehe gesprochen, wenn nicht einmal der Schein der Ehe gegeben war. Für uns ist von Bedeutung, dass – aufgrund einer in der Ära des CIC/1917 ergangenen Erklärung der Interpretationskommission – die Zivilehe Formpflichtiger, wenn die Lebensgemeinschaft aufgenommen wurde, als das Ehehindernis der öffentlichen Ehrbarkeit begründend betrachtet wurde. Dies gehörte zum festen und unbestrittenen Bestand der Rechtslage. III. Die einschlägigen Arbeiten in den einzelnen Phasen der Codex-Reform 1. Das Schema „De Sacramentis“ (1975) Im Zuge der Vorarbeiten für die Neukodifizierung des Kirchenrechtes wurde mit Datum vom 2. Februar 1975 das „Schema documenti Pontificii quo disciplina canonica de Sacramentis recognoscitur“10 zur Begutachtung ausgesandt. In diesem Schema hat man an c. 293 § 1, der die ,ungültige EheÐ und den ,öffentlichen oder notorischen KonkubinatÐ als Entstehungsgründe des „impedimentum publicae honestatis“ bezeichnet11, einen Paragraphen (§ 2) angefügt, der festlegt, dass in § 1 dieses Canons unter ungültiger Ehe auch die Zivilehe zu verstehen ist („Matrimonium invalidum, de quo in § 1, intelligitur etiam matrimonium civiliter contractum, quod est propter defectum formae canonicae invalidum“). Diese Aussage steht nicht am Beginn des Eherechtes, um eine terminologische Klärung vorzunehmen, sondern in dem das Ehehindernis der öffentlichen Ehrbarkeit normierenden Canon. Die ausdrückliche Feststellung, dass dem „matrimonium invalidum“ in § 1 dieses Canons auch die Zivilehe zu subsumieren ist, kann so verstanden werden, dass dies für das in diesem Canon behandelte „impedimentum publicae honestatis“ gilt, wobei aber offen bleibt, ob die Einbeziehung der Zivilehe in den Begriff der ungültigen 10

Typis polyglottis Vaticanis 1975. C. 293 § 1: „Impedimentum publicae honestatis oritur ex matrimonio invalido post instauratam vitam communem et ex notorio vel publico concubinatu …“ 11

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Ehe auch für andere Rechtsbestimmungen, die vom „matrimonium invalidum“ handeln, maßgeblich ist. Offensichtlich ging es der Kommission bei dieser Textierung darum, klarzustellen, dass auch die Zivilehe, obwohl sie in § 1 nicht genannt ist, unter die Entstehungsgründe des Hindernisses der öffentlichen Ehrbarkeit fällt. Es handelt sich also um die Fortschreibung der bisherigen, auf der erwähnten Erklärung der Interpretationskommission basierenden Disziplin, nach der die Zivilehe nach Aufnahme des gemeinsamen Lebens dieses Hindernis begründet. Die Interpretationskommission hat in dieser Erklärung, die am 12. März 1929 ergangen ist und für die Rechtslage, die die CIC-Reformkommission bei Inangriffnahme der Arbeiten an der Erneuerung des Ehrechtes vorfand, bestimmend war, die Feststellung getroffen: Aus einer Zivilehe solcher, die nach c. 1099 § 1 an die kirchliche Form gebunden sind, entsteht das Hindernis nicht, solange sie nicht zusammenleben.12 Konsequenterweise hat man daraus die Schlußfolgerung gezogen, dass „infolge des Zusammenlebens … das Hindernis, weil ein öffentliches Konkubinat vorliegt“, entsteht.13 So wurde, wie Klaus Mörsdorf14 betont, die Zivilehe Formpflichtiger nach Aufnahme des gemeinsamen Lebens als Entstehungsgrund des Hindernisses der öffentlichen Ehrbarkeit betrachtet. 2. Überlegungen betreffend die ausdrückliche Nennung der Zivilehe im Canon Es ist verständlich, dass es im Hinblick auf das Schema „De Sacramentis“ Überlegungen gegeben hat, die Zivilehe nicht dem Begriff des „matrimonium invalidum“ zu subsumieren und sie unter den Entstehungsgründen des Ehehindernisses der öffentlichen Ehrbarkeit ausdrücklich zu nennen. In einem Gutachten über das Schema „De Sacramentis“, das damals von mir erbeten wurde, habe ich zu c. 293 § 2 des Schemas angemerkt:15 „Die Zuordnung der Zivilehe zum matrimonium invalidum kann im Sinne einer Aufwertung der Zivilehe verstanden werden. Außerdem würde dadurch der Begriff des matrimonium invalidum, wie ihn die Kanonistik herauszuarbeiten versucht hat, verändert, weil bisher vom matrimonium invalidum dort gesprochen wird, wo ungeachtet der Un12

AAS 21 (1929), S. 170. Heribert Jone, Gesetzbuch des kanonischen Rechtes. Erklärung der Kanones, 2. Bd., Paderborn 1940, S. 280. Vgl. auch Arthur Vermeersch/Joseph Creusen, Epitome Iuris Canonici, t. II, ed. 7a, Parisiis/Bruxellis 1954, n. 361, S. 259: „Quod Leo PP. XIII iam aperte declaraverat, sc. non incurri impedimentum ex matrimonio invalido ubi solus actus civilis ab iis positus est qui lege formae sollemnis tenentur, confirmavit resp. C.P.I., 12 mart. 1929, II (Cfr. C.P.I. Resp. 12 mart. 1929 – AAS 21 (1929), S. 170). At responsum istud addit ,independenter a cohabitationeÐ. Fideles enim qui c. 1099 § 1 subiecti, contractum mere civilem ineunt, si cohabitaverint, in notorio concubinatu vivere dicendi sunt. Nova ergo forma impedimenti ligabuntur.“ 14 Mörsdorf Lb., 2. Bd., S. 202. 15 Der Durchschlag dieses Gutachtens befindet sich in meinem Privatarchiv. 13

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gültigkeit der äußere Schein für eine kirchliche Ehe spricht (species matrimonii). Wo hingegen die verpflichtende Eheschließungsform gänzlich fehlt, wo auch nicht der Schein der kirchlichen Ehe vorliegt, wäre es besser, den Terminus Nicht-Ehe (matrimonium nullum) zu gebrauchen (z. B. bei der Zivilehe formgebundener Personen ohne Formdispens). Anderseits tendiert man dazu, die Zivilehe, soweit echter Ehewille, der ja mit dem Wissen um die Nichtigkeit zusammenbestehen kann, gegeben ist, vom Konkubinat abzuheben. Im Bereich der Verbindungen, die keine gültige Ehe konstituieren, gibt es eben nicht nur d. matrimonium invalidum und den Konkubinat. Es wäre am besten, neben dem matrimonium invalidum und dem öffentlichen oder notorischen Konkubinat noch die Zivilehe als eigenen Entstehungsgrund des impedimentum publicae honestatis zu nennen. Ich würde vorschlagen, c. 293 § 2 so zu formulieren: „Impedimentum publicae honestatis oritur etiam ex matrimonio civiliter contracto …“ 3. Die Vorbereitung des Schemas CIC von 1980 In der Zeit der Begutachtung des Schemas „De Sacramentis“ hat es Anregungen gegeben, am Beginn des Eherechtes im Zusammenhang mit begrifflichen Klärungen eine Definition des Begriffes „matrimonium invalidum“ zu geben. In der Sitzung der mit dem Eherecht befassten Arbeitsgruppe der Codex-Reformkommission am 21. Februar 1977 wurde die bis dahin im Canon über die „publica honestas“ angesiedelte Aussage über die Zivilehe in den am Beginn des Eherechtes stehenden c. 247 als § 4 eingebaut16 und so jene Plazierung des zur Besprechung stehenden Textes vorbereitet, die sich im Schema CIC von 1980 findet. In der in dieser Sitzung abgeführten Diskussion ist auch darauf hingewiesen worden, dass es eine Auffassung gibt, die die Zivilehe nur rücksichtlich des „impedimentum publicae honestatis“ als „matrimonium invalidum“ ansieht („videbitur enim matrimonium civile non considerari matrimonium invalidum nisi ad effectum impedimenti publicae honestatis“), doch hat sich die Arbeitsgruppe der Kommission nicht mit dieser Meinung identifiziert („… quod non videtur esse iuxta mentem commissionis“).17 In der Sitzung am 17. Mai 1977, in der das Hindernis der öffentlichen Ehrbarkeit behandelt wurde, ist auch die Frage aufgeworfen worden, ob die Verlegung der bisher im Zusammenhang mit diesem Hindernis getroffenen Aussage über die Zivilehe („matrimonium invalidum … intelligitur etiam matrimonium civiliter contractum“) in die allgemeinen Bestimmungen des Eherechtes sinnvoll ist. Dennoch hat man diesen Text in den einleitenden Canones des Eherechtes (als § 4 des c. 247 des Schemas) belassen und den bisherigen § 2 des von der öffentlichen Ehrbarkeit handelnden Canons (c. 293 des Schemas), in dem diese Aussage bisher enthalten war, gestrichen.18

16 17 18

Communicationes 9, 1977, S. 130. Ebd. Communicationes 9, 1977, S. 368.

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4. Das „Schema CIC 1980“19 Das Schema CIC 1980 enthält in c. 1014, in dem eherechtliche Begriffsbestimmungen geboten werden, den Satz: „§ 4: Matrimonium invalidum intelligitur etiam matrimonium civiliter contractum, quod est propter defectum formae canonicae invalidum.“ Angesichts der Einfügung in die einleitenden Canones des Eherechtes und der referierten Überlegungen in der Arbeitsgruppe der CIC-Reformkommission war es schwieriger als vorher, diesem Text eine eingeschränkte Bedeutung für das „impedimentum publicae honestatis“ zuzuschreiben. Es sprach vieles dafür, ihn als Aussage, die das kanonische Eherecht überhaupt betrifft, zu betrachten. Anderseits war es, wie bereits ausgeführt, in der akademischen Lehrvorlage üblich, zwischen „matrimonium invalidum“ und „matrimonium nullum“ zu unterscheiden; auch wurde im Schema CIC/1980 in den „Normae generales“ eine deutliche Unterscheidung zwischen „actus nullus“ und „actus invalidus“ getroffen. In den Anmerkungen zum Schema Codicis Iuris Canonici 1980, die Kardinal König von mir erbeten hat, habe ich mich für die Streichung des Satzes, der die Zivilehe dem „matrimonium invalidum“ subsumiert, ausgesprochen und angeregt, unter den Entstehungsgründen des „impedimentum publicae honestatis“ die Zivilehe eigens zu nennen. In diesen Anmerkungen20 heißt es (zu c. 1014 § 4 des Schemas CIC 1980): „Während man in den Normae generales den actus nullus von anderen actus invalidi abhebt, wird eine solche Differenzierung beim Matrimonium invalidum nicht getroffen. Nach einer in der herkömmlichen Kanonistik vertretenen Ansicht sollte vor allem dort von matrimonium invalidum gesprochen werden, wo der äußere Schein einer kirchlichen Ehe gegeben ist. Eine Zivilehe, bei der abgesehen von seltenen Fällen der Formdispens und des c. 1098 (bisherige CIC) ein solcher Schein nicht gegeben ist, wurde als matrimonium nullum (Nichtehe) qualifiziert. Auch im neuen CIC wird prozeßrechtlich – unter dem Gesichtspunkt der Beweislast – die Zivilehe wie ein actus nullus betrachtet. Der bloß zivil Verheiratete … braucht nicht zu beweisen, dass seine Ehe ungültig ist. Wenn keine Formdispens und keine Sanation vorliegt, wird von vornherein vermutet, dass er nicht gültig verheiratet ist. Wer hingegen sonst in einem matrimonium invalidum, bei dem der äußere Schein der Ehe gegeben ist, lebt, muß, wenn er die Ungültigkeit seiner Ehe behauptet, dies in einem langwierigen Prozeß erweisen. Es spräche also manches dafür, das matrimonium civiliter contractum nicht ausdrücklich als m. invalidum zu bezeichnen. In der Kanonistik könnte dann … eine prozessrechtlich bedeutsame, in den Normae generales anklingende Unterscheidung auch in der Terminologie des Eherechtes durchgezogen werden. Bei Zuordnung des m. civile zum m. invalidum spielte die Erwägung eine Rolle, dass eine Zivilehe, wenn ein gültiger Ehewille vorliegt, saniert werden kann. Dazu ist aber festzustellen, dass für die Sanatio in radice der gültige Ehewille auch 19 Schema Codicis Iuris Canonici iuxta animadversiones S.R. E. Cardinalium, Episcoporum Conferentiarum, Dicasteriorum Curiae Romanae, Universitatum Facultatumque ecclesiasticarum necnon Superiorum Institutorum vitae consecratae recognitum, Libreria Editrice Vaticana 1980. 20 Der Durchschlag dieser Anmerkungen befindet sich in meinem Privatarchiv.

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dann genügt, wenn bei der zu sanierenden Verbindung der Schein einer gültigen Ehe nicht gegeben ist … Allerdings würde es sich … auch empfehlen, in c. 1046 zu ergänzen „impedimentum publicae honestatis oritur … vel ex matrimonio civile …“

5. Die Relatio des Kardinal Felici von 198121 Aufgrund der Anmerkungen von Kardinal König zum Schema CIC 1980, deren Vorbereitung die eben zitierte Stellungnahme diente, wurde c. 1014 § 4 des Schemas, der die Zivilehe als matrimonium invalidum bezeichnet, gestrichen. In der Relatio des Kardinals Felici von 1981, in der das Ergebnis der Überarbeitung des Schemas CIC 1980 auf der Grundlage der Einwendungen der Mitglieder der Kardinalskommission festgehalten wird, wird als Begründung zur Streichung von c. 1014 § 4 der Inhalt der Animadversio von Kardinal König wiedergegeben: „Non videtur opportunum quod matrimonium civile ut matrimonium invalidum consideretur. In Normis generalibus et in doctrina canonistica distinguitur inter actum nullum et actum invalidum. Norma canonis non concordat cum doctrina traditionali canonica neque cum iure processuali, etiam in novo Schemate, ubi matrimonium civile tamquam non exsistens consideratur in ordine ad probationem. Nullus requiritur longus processus neque probari debet invaliditas huiusmodi matrimonii. Canon potest facile ad erroneas conclusiones ducere et confusionem gignere, neque norma est necessaria in ordine ad sanationem in radice, quae quidem dari potest etiam si matrimonium civile nullum aestimetur.“

Bei Überarbeitung des „Schemas CIC 1980“ hat man zwar dem Vorschlag, die Zivilehe Formgebundener nicht mehr dem Begriff des „matrimonium invalidum“ zu subsumieren, entsprochen; der im Zusammenhang damit gegebenen Anregung, die Zivilehe unter den Entstehungsgründen des Ehehindernisses der öffentlichen Ehrbarkeit zu nennen22, ist man jedoch nicht gefolgt. Der Canon über die publica honestas wurde nicht geändert. Damit standen die unser Thema betreffenden Regelungen, die sich schließlich auch im CIC/1983 finden, im Wesentlichen fest. C. 1046 des Schemas CIC 1980, der den Text von c. 293 § 1 des Schemas „De Sacramentis“ (1975) übernommen hat, wurde in der Folge beibehalten. („Impedimentum publicae honestatis oritur ex matrimonio invalido post instauratam vitam communem aut ex notorio vel publico concubinatu; et nuptias dirimit in primo gradu lineae rectae inter virum et consanguineas mulieris et vice versa.“) Dieser Text ist auch in das Schema novissimum von 198223 (c. 1093) und in die endgültige 21 Relatio complectens synthesim animadversionum ab Em.mis atque Exc.mis Patribus Commissionis ad novissimum Schema Codicis Iuris Canonici exhibitarum, cum responsionibus a Secretaria et Consultoribus datis, Typ. Pol. Vat. 1981. 22 So in der oben zitierten von mir erstellten Stellungnahme zum „Schema CIC 1980“. 23 Codex Iuris Canonici. Schema novissimum post consultatiionem S. R. E. Cardinalium, Episcoporum Conferentiarum, Dicasteriorum Curiae Romanae, Universitatum Facultatumque ecclesiasticarum necnon Superiorum Institutorum vitae consecratae recognitum, iuxta placita Patrum Commissionis deinde emendatum atque Summo Pontifici praesentatum, E Civitate Vaticana, 25 Martii 1982.

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Fassung des CIC/1983 eingegangen. Auch die aus dem Text des Schemas von 1980 gestrichene Aussage des c. 1046 § 4, die die Zivilehe dem Begriff des matrimonium invalidum zuordnet, wurde nicht mehr in den Codex aufgenommen. 6. Die Kodifizierung des Rechtes der Ostkirchen In dem von der Pontificia Commissio Codici iuris Canonici orientalis recognoscendo 1980 vorgelegten „Schema canonum de cultu divino et praesertim de Sacramentis“24 war der das Ehehindernis der öffentlichen Ehrbarkeit betreffende Text in Analogie zu dem des Schemas des lateinischen Codex von 1980 formuliert (c. 146 § 1: „Impedimentum publicae honestatis oritur ex matrimonio invalido post instauratam vitam communem aut ex notorio vel publico concubinatu, et nuptias dirimit in primo gradu lineae rectae inter virum et consaguineas mulieris ac viceversa.“). In § 2 des Canons wurde zum Ausdruck gebracht, dass die Zivilehe als matrimonium invalidum verstanden wird (c. 146 § 2: „Matrimonium invalidum de quo in § 1, intelligitur etiam matrimonium civiliter contractum, quod est propter defectum formae canonicae invalidum“). Dieser Satz war ebenso wie anfänglich auch in den die lateinische Kodifikation vorbereitenden Texten (im Schema „De Sacramentis“ von 1975) als § 2 des Canons von der „publica honestas“ angesiedelt. Angemerkt werden darf, dass ich in der Folge den Sekretär der ostkirchlichen Kodifizierungskommission P. Ivan Zuzek auf die Probleme hingewiesen habe, die sich einerseits aus dem Satz, der die Zivilehe als „matrimonium invalidum“ bezeichet, und anderseits aus der Streichung dieses Satzes ohne gleichzeitige Nennung der Zivilehe unter den Entstehungsgründen des „impedimentum publicae honestatis“ ergeben. Ich erhielt die Antwort, dass beabsichtigt ist, im orientalischen Codex einerseits den Paragraphen, der die Zivilehe dem Begriff des „matrimonium invalidum“ zuordnet, zu streichen und anderseits sowohl die Zivilehe als auch die vor einem akatholischen Religiondiener geschlossene Ehe unter den Entstehungsgründen des Ehehindernisses der öffentlichen Ehrbarkeit zu nennen. An dieser Auffassung wurde während der weiteren Arbeiten für die Kodifizierung des ostkirchlichen Gesetzbuches festgehalten. Somit sieht der am 25. Oktober 1990 promulgierte orientalische Codex (CCEO) 4 Entstehungsgründe für das impedimentum publicae honestatis vor (die ungültige Ehe, den öffentlichen bzw. notorischen Konkubinat, die Zivilehe formpflichtiger Personen sowie die Ehe auf die kanonische Form Verpflichteter vor einem akatholischen Religionsdiener), wobei die ungültige Ehe, die Zivilehe Formpflichtiger und die Ehe Formpflichtiger vor einem akatholischen Religionsdiener erst nach Aufnahme des gemeinsamen Lebens das Hindernis begründen.

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Romae 1980.

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IV. Das Anliegen der Schließung einer Gesetzeslücke Im geltenden lateinischen Kirchenrecht wird, wie aus dem oben Gesagten hervorgeht, die Zivilehe nicht als „matrimonium invalidum und „aufgrund des ihr innewohnenden Ehewillens auch nicht“25 als Konkubinat26 betrachtet. Dies sind ( CIC/1983) die beiden Entstehungsgründe des Hindernisses der öffentlichen Ehrbarkeit, und man kann zu dem Schluss kommen, dass aus einer standesamtlichen Ehe das „impedimentum publicae honestatis“ nicht entsteht. So führt Klaus Lüdicke aus, dass „die Pflicht zur strengen Interpretation des Ehehindernisses … eine Anwendung des [c.] 1093 auf die Zivilehe“ ausschließt. Er spricht von einer Gesetzeslücke27, denn die öffentliche Ehrbarkeit versteht sich ja als Ersatzform des Hindernisses der Schwägerschaft, die bei Verbindungen, die nicht gültige Ehe sind, aber doch auf eine Geschlechtsgemeinschaft bzw. auf ein Zusammen, bei dem der Außenstehende eine Geschlechtsgemeinschaft annehmen kann, hinweisen, auf den Plan tritt. In der kanonistischen Literatur begegnet uns aber auch die Auffassung, dass die Zivilehe entsprechend dem herkömmlichen, auf einer zum CIC/1917 ergangenen authentischen Interpretation basierenden Verständnis28 auch im CIC/1983 unter den Entstehungsgründen des impedimentum publicae honestatis figuriert.29 In früheren Zeiten, in denen die Vorstellung verbreitet war, dass die bloße Zivilehe Formpflichtiger nach Aufnahme der Lebensgemeinschaft einem Konkubinat gleichkommt, erschien es nicht notwendig, die Zivilehe eigens unter den Entstehungsgründen des „impedimentum publicae honestatis“ anzuführen; man konnte sich mit der Nennung der ,ungültigen EheÐ und des Konkubinates im Gesetzestext begnügen und bloß zivil Verheiratete mit Aufnahme des gemeinsamen Lebens als dem Hindernis unterliegend betrachten. Wenn aber heute in der Kanonistik die Überlegung, dass man die Zivilehe angesichts des ihr innewohnenden Ehewillens nicht so ohne wei25

Klaus Lüdicke, c. 1093, Rdnr. 4, in: MK CIC (Stand: Oktober 1987). „Unter Konkubinat versteht man eine Geschlechtsgemeinschaft ohne Ehewillen. Ein offenkundiger oder notorischer Konkubinat weist eine gewisse Dauer auf … Ein öffentlicher Konkubinat ist im Sinne des c. 1074 im äußeren Bereich beweisbar, also nicht geheim“ (Martha Wegan, Art. Öffentliche Ehrbarkeit, in: LKStKR III, S. 54). 27 Lüdicke, c.1093 (Anm. 25), Rdnr. 3: „Das Hindernis ist das Gegenstück zur Schwägerschaft. Ist für diese das rechtliche Nahverhältnis ausschlaggebend, so für die öffentliche Ehrbarkeit das rein tatsächliche, beschränkt auf die rechtlich feststellbaren Fälle.“ Vgl. auch Reinhold Sebott, Das neue Eherecht, Frankfurt a M. 21990, S. 119. 28 Vgl. z. B. Mörsdorf Lb., 2. Bd., S. 202. 29 Hartmut Zapp, Die rechtliche Ehefähigkeit und die Ehehindernisse, in: HdbKathKR1, S. 765; ders. in: HdbKathKR2, Die rechtliche Ehefähigkeit und die Ehehindernisse, S. 926: „Als weitere Ursache für diese Hindernis nennt c. 810 § 1 n. 3 CCEO die bloße Zivilehe Formpflichtiger … nach Aufnahme des gemeinsamen Lebens. Abgesehen davon, dass das Gesetzbuch der Ostkirchen hier nicht zum Schließen einer eventuellen Gesetzeslücke im Codex Iuris Canonici dienen kann, enthält dieser Zusatz nur die Formulierung einer im lateinischen Eherecht längst herrschenden Lehre. Bereits zu c. 1078 CIC/1917, den c. 1093 wiedergibt, wurde betont, dass die Zivilehe Formpflichtiger nach Aufnahme der Lebensgemeinschaft unter diese Hindernisnorm fällt, zu dieser ,ungültigen EheÐ gehört.“ 26

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teres dem Konkubinat gleichsetzen kann, von Gewicht ist, so erscheint es sinnvoll, die Zivilehe Formpflichtiger, so wie dies der CCEO tut, auch im lateinischen CIC unter den Entstehungsgründen des „impedimentum publicae honestatis“ ausdrücklich zu nennen. So könnten allfällige Unklarheiten, die Diskrepanz in der Interpretation, die uns bezüglich c. 1093 des CIC/1983 begegnet, im Sinne der herkömmlichen Disziplin der lateinischen Kirche beseitigt werden. Wenn man sich für eine solche Lösung entscheidet, legt es sich meines Erachtens nahe, entsprechend dem orientalischen Codex auch die von Formpflichtigen vor einem akatholischen Religionsdiener geschlossene Ehe in die Aufzählung der Entstehungsgründe des Hindernisses aufzunehmen. Es empfiehlt sich, dabei auch die nähere Bestimmung aus dem CCEO zu übernehmen, nach der das Hindernis in diesen Fällen nur dann eintritt, wenn das gemeinsame Leben aufgenommen wird. V. Fragen um die Wortfolge „matrimonium attentare“ 1. „Matrimonium attentatum“ und „matrimonium putativum“ Im Text des zur Besprechung stehenden Canons des CCEO findet sich die Wendung „matrimonium attentaverunt“. Der in der Kirchenrechtswissenschaft gängige Terminus „matrimonium attentatum“ wird vielfach als Gegenbegriff zu „matrimonium putativum“ gebraucht. Die Putativehe wird in den terminologischen Bestimmungen der einleitenden Canones des Eherechtes des CIC/1983 folgendermaßen umschrieben: „Matrimonium invalidum dicitur putativum, si bona fide ab una saltem parte celebratum fuerit, donec utraque pars de eiusdem nullitate certa evadat“ (c. 1061 § 3). Aus dieser Definition, die sich auch schon im CIC/1917 findet30, hat man den Schluss gezogen: „Die nichtige oder ungültige Ehe wird als Scheinehe (,matrimonium putativumÐ) bezeichnet, wenn wenigstens ein Teil sie im guten Glauben für gültig hält, als versuchte Ehe (Eheversuch, ,matrimonium attentatumÐ), wenn beide Teile von der Nichtigkeit überzeugt sind.“31

In c. 1061 CIC wird die Putativehe definiert; der Terminus „matrimonium attentatum“ wird im zitierten Gesetzestext nicht gebraucht, er wird aber in der Kirchenrechtswissenschaft als Gegenbegriff zu „matrimonium putativum“ verwendet, um das in c. 1061 umschriebene Gegensatzpaar auch terminologisch zu erfassen. 30 Vgl. c. 1015 § 4 CIC/1917: „Matrimonium invalidum dicitur putativum, si in bona fide ab una saltem parte celebratum fuerit, donec utraque pars de eiusdem nullitate certa evadat“. Siehe hiezu Matthäus Kaiser, Grundfragen des kirchlichen Eherechts, in: GrNKirchR, S. 547. 31 So im Handbuch des Kirchenrechts von Carl Holböck, 2. Bd., Innsbruck/Wien 1951, S. 611. Ähnlich Stephanus Sipos, Enchiridion Juris Canonici, Pecs 21931, S. 488: „Matrimonium invalidum potest esse putativum, si in bona fide ab una saltem parte celebratum fuerit, donec utraque pars de eiusdem nullitate certa evadat (c. 1015 § 4); attentatum, quod ab utraque parte mala fide contractum est.“

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Nach dem Wortlaut des c. 1061 muss das Ergebnis eines untauglichen Eheschließungsversuches (Eheattentat, „matrimonium attentare“) nicht immer ein „matrimonium attentatum“, es kann auch (wenn der andere Partner gutgläubig ist) ein „matrimonium putativum“ sein.32 2. Die individuelle Applikation dieser Termini Allerdings hat sich auch eine Gepflogenheit ausgebildet, die das Gegensatzpaar „matrimonium putativum – matrimonium attentatum“ so versteht, dass man eine ,ungültige EheÐ im Falle der Gutgläubigkeit eines Partners nur rücksichtlich desselben als „matrimonium putativum“ und in Bezug auf den anderen, der um die Ungültigkeit weiß, als „matrimonium attentatum“ bezeichnet. Ungeachtet der Vorgaben des c. 1061 § 3, nach welchen, auch wenn nur ein Partner gutgläubig ist und auf Seiten des anderen ein als „matrimonium attentare“ zu bezeichnender Eheschließungsversuch vorliegt, ein „matrimonium putativum“ gegeben ist, hat sich in der Kirchenrechtswissenschaft auch der eben skizzierte Gebrauch dieser Termini ergeben, bei dem an die subjektive Situation jedes einzelnen Partners, an dessen Gut- (Putativehe) oder Schlechtgläubigkeit (Eheattentat) angeknüpft wird. Diese Sprechweise wurde von Klaus Mörsdorf dahingehend gekennzeichnet, dass der Begriff des „matrimonium attentatum“ den des „matrimonium putativum“ überschneidet, weil eben „ein gut- und ein schlechtgläubiger Teil möglich ist“33. Mit anderen Worten, es begegnet uns auch ein Verständnis, das auf jeden einzelnen Ehekontrahenten eigens abstellt, während der sich strikte an c. 1061 orientierende Sprachgebrauch am Charakter der von den Partnern eingegangenen Verbindung orientiert. In beiden Fällen geht es um die Applikation der Termini „matrimonium attentatum“ und „matrimonium putativum“ auf ungültige Ehen; ,Nicht-EhenÐ stehen dabei nicht im Blickfeld. 3. Die Wortfolge „matrimonium attentare“ in anderen Gesetzesbestimmungen Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass sich der Terminus „matrimonium attentatum“, den die Kirchenrechtswissenschaft als Gegenbegriff zu „matrimonium putativum“ verwendet, nicht im Text des c. 1061 § 3 selbst findet, sondern von der Wissenschaft bei Interpretation des Canons und seiner Vorläuferbestimmungen verwendet wird. Allerdings begegnet uns an anderen Stellen des CIC/1983, so in impedimentenund in strafrechtlichen Bestimmungen, die Wortfolge „matrimonium attentare“. Wenn jemand trotz bestehenden Ehebandes (c. 1085 § 1)34 beziehungsweise trotz 32 Von einem „matrimonium putativum“ spricht man dann, wenn ein Partner gutgläubig und das Ergebnis des untauglichen Eheschließungsvesuches eine ungültige Ehe ist. 33 Mörsdorf Lb., 2. Bd., S. 142. 34 „Invalide matrimonium attentat …“ (c. 1085 § 1 CIC/1983).

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Bindung durch die höheren Weihen (c. 1087) oder durch das öffentliche Keuschheitsgelübde in einem Religioseninstut (c.1088) eine Ehe zu schließen versucht („matrimonium attentat“), so handelt es sich naturgemäß um einen untauglichen Eheschließungsversuch. Auch im vorausgehenden Recht (im CIC/1917) wird bei den angesprochenen Ehenichtigkeitsgründen35 der Terminus „matrimonium attentare“36 verwendet. Der Codex umgreift auch Straftatbestände, die im engen Zusammenhang mit untauglichen Eheschließungsversuchen stehen.37 Ein Kleriker, der eine Eheschließung versucht, ist, auch wenn es sich nur um eine Zivilehe handelt, von Rechts wegen seines Kirchenamtes enthoben (c. 194 § 1, 38; vgl. auch c. 188, 58 CIC/ 1917)38 und zieht sich die Tatstrafe der Suspension zu (c. 1394 § 1; vgl. auch c. 1453 § 2 CCEO). Er wird zudem irregulär (c. 1041, 38).39 Die versuchte Eheschließung eines Ordensangehörigen mit ewigen Gelübden hat, auch wenn es sich nur um eine Zivilehe handelt, ipso facto die Entlassung aus dem Institut zur Folge (c. 694 § 1, 28). Außerdem zieht er sich, wenn er nicht Kleriker ist, die Tatstrafe des Interdiktes zu (c. 1394 § 2); wenn er Kleriker ist, treten natürlich die für Kleriker vorgesehen Straffolgen, die bereits angeführt wurden, ein. Wer nach Ablegung des öffentlichen ewigen Gelübdes der Keuschheit bzw. mit einer durch ein solches Gelübde gebundenen Frau eine Eheschließung versucht, wird irregulär (c. 1041 38).40 Auch in diesen Canones geht es um rechtswidrige, untaugliche Eheschließungsversuche („matrimonium attentare“), oder, wie man auch sagt, um ,EheattentateÐ. Zu beachten ist, dass diese Rechtsbestimmungen auch dann greifen, wenn das Ergebnis des „matrimonium attentare“ eine ,Nicht-EheÐ ist; was auch dadurch erhärtet wird, dass in einigen dieser Vorschriften die Zivilehe eigens angeführt wird („matrimonium etiam civiliter tantum attentans“; vgl. c. 1394 CIC/1983, § 1 und § 2). Demgegenüber betreffen die für das weiter oben bei Definition der Putativehe vorgestellte 35 Bei Vorliegen des Hindernisses des Ehebandes (c. 1069 § 1), der Weihe (c. 1072) und des feierlichen Keuschheitsgelübdes (c. 1073). Der Unterschied gegenüber dem CIC/1983 besteht nur insofern als dieser das öffentliche Keuschheitsgelübde in einem Religioseninstitut als trennendes Ehehindernis bezeichnet, während der CIC/1917 nur das feierliche Keuschheitsgelübde als trennendes Ehehindernis qualifiziert. 36 Vgl. z. B. Vermeersch/Creusen, Epitome (Anm. 13) t. II, n. 277: „Attentare matrimonium dicuntur qui illud conscii contra legem sive illicite contrahunt, sive invalide contrahere nituntur“ (vgl. cc. 985, 38; 1072). 37 Vgl. hiezu auch Heribert Hallermann, Art. Eheschließungsversuch, in: LKStKR I, S. 557. 38 Zum Vergleich sei angemerkt, dass im derzeitigen Ostkirchenrecht (CCEO) die „depositio“ vorgesehen ist. (c. 1453 § 2: „Clericus qui prohibitum matrimonium attentaverit, deponitur.“) Religiosen mit ewigem Keuschheitsgelübde, die nicht Kleriker sind, sind in einem solchen Fall mit einer angemessenen Strafe zu bestrafen. (c. 1453 § 3 CCEO: „Religiosus, qui votum publicum castitatis emisit et non est clericus, haec delicta comittens congrua poena puniatur.“) 39 Des Näheren siehe Wilhelm Rees, Die Strafgewalt der Kirche. Das geltende kirchliche Strafrecht – dargestellt auf der Grundlage seiner Entwicklungsgeschichte (KStuT 41), Berlin 1993, S. 473. 40 Des Näheren siehe Rees, Strafgewalt (Anm. 39), S. 475.

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Gegensatzpaar („matrimonium attentatum“ und „putativum“) behandelten Vorschriften nur ungültige Ehen. 4. Der Gebrauch des Wortes „Eheattentat“ Dieser Wortgebrauch lehnt sich, wie aus dem Gesagten erhellt, an gesetzliche Formulierungen an („matrimonium attentare“). Viktor Pospishil sagt: „Attempted marriage is an unlawful and legally ineffectual attempt to enter a marriage by one who did not or could not satisfy one or two or all three of the basic requirements.“41 Bei diesen Grunderfordernissen handelt es sich um die Ehefähigkeit, den Ehewillen und die Eheschließungsform. Das Ergebnis eines solchen ,AttentatesÐ kann eine ,ungültige EheÐ, kann aber auch eine ,Nicht-EheÐ sein, während dort, wo die Putativehe als besondere Form der ungültigen Ehe beschrieben wird (in c. 1061 § 3 CIC/1983), als Gegenposition zu dieser nur solche „matrimonia attentata“ in Frage kommen, die ungültige Ehen realisieren, nicht aber solche, deren Ergebnis eine ,Nicht-EheÐ ist. 5. Unterschiedliche Bedeutung des Terminus „matrimonium attentatum“ Aus den vorausgehenden Ausführungen ergibt sich, dass der Terminus „matrimonium attentatum“ im Kirchenrecht in unterschiedlicher, nicht immer ganz deckungsgleicher Sinngebung vorkommt. Dabei geht es immer um einen untauglichen Eheschließungsversuch. In den beiden erstgenannten Fällen versteht sich „matrimonium attentatum“ als Gegenbegriff zu „matrimonium putativum“, wobei dieses Gegensatzpaar nur bei ungültigen Ehen Anwendung findet. Im ersten Fall wird auf die Verbindung der Partner abgestellt, wobei der Gegensatz zur Putativehe nur dann gegeben ist, wenn beide um die Ungültigkeit wissen. Im zweiten Fall wird auf die einzelnen Partner abgestellt; die Ehe wird rücksichtlich des gutgläubigen Teiles als „matrimonium putativum“ und rücksichtlich des anderen als „matrimonium attentatum“ bezeichnet.42 In den anderen Fällen ist der Blick nicht auf die ,PutativeheÐ als Gegenposition gerichtet, sondern auf das „matrimonium attentare“; man geht von einem weit reichenden Verständnis dieses Begriffes aus, so dass das Wort ,EheattentatÐ nicht nur untaugliche Eheschließungsversuche, die zu einer ,ungültigen EheÐ führen, sondern auch solche, deren Ergebnis eine ,Nicht-EheÐ ist, umgreift. Die zuletzt angesprochene Bedeutung deckt sich mit der, die der Wortfolge „matrimonium attentaverunt“ in c. 810 § 1 des CCEO zugemessen wird. Folglich würde im Falle der Übernahme dieser ostkirchlichen Bestimmung in das lateinische Kirchenrecht ein Bedeutungsinhalt in den CIC eingebracht, den dieser bereits kennt. Das Verständnis, das dem Eheattentat im Strafrecht und in verschiedenen impedi41 42

Victor Pospishil, Eastern Catholic Church Law, New York 21996, S. 455. In diesen beiden Fällen handelt es sich um Formen der ungültigen Ehe.

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mentenrechtlichen Tatbeständen des CIC gezollt wird, ist deckungsgleich mit dem, das in c. 810 § 1 CCEO zum Tragen kommt. Dazu sei angemerkt, dass der CCEO „matrimonium attentare“ nur in dieser Sinngebung verwendet. 6. „Matrimonium putativum“ Der Begriff der ,PutativeheÐ gehört herkömmlicherweise zum Bestand des Kirchenrechtes. Allerdings wurden, wie bereits angedeutet, die Bestimmungen über die ,PutativeheÐ, die uns in früheren ostkirchlichen Dokumenten begegnen (z. B. im Motuproprio „Crebrae allatae“ vom 22. Februar 194943, c. 4, § 4), in den CCEO nicht übernommen.44 Hingegen finden sich im lateinischen Kirchenrecht, auch im CIC des Jahres 1983, in Anlehnung an die vorausgehende Disziplin Vorschriften über das „matrimonium putativum“.45 Um eine Verbindung als Putativehe zu qualifizieren, muss nicht nur ein Partner gutgläubig (von der Gültigkeit der Ehe überzeugt) sein; die Verbindung muss auch, sofern ein Partner der kanonischen Formpflicht unterliegt, unter Beachtung der Vorschriften über die kanonische Eheschließungsform begründet worden sein.46 Bezüglich des zuletzt genannten Kriteriums bezieht man sich auf eine PCI-Entscheidung vom 26. Januar 1949.47 Nach der derzeitigen Rechtslage ist „matrimonium putativum“ eine Form der ,ungültigen EheÐ. Eine ,Nicht-EheÐ48 kann nicht Putativehe sein. Die Ungültigkeit kann zwar auch aus Mängeln der Eheschließungsform resultieren, aber es muss zumindest der ,Schein einer EheÐ („species matrimonii“) gewahrt sein. Bei völligem Fehlen der kirchlichen Eheschließungsform ist die Verwendung der Bezeichnung ,Putativ43

AAS 41 (1949), S. 90. Die an Hand des Gesetzbuches der lateinischen Kirche vorgelegte Unterscheidung zwischen „matrimonium putativum“ und „matrimonium attentatum“ findet sich im ostkirchlichen Gesetzbuch nicht. Dennoch geht Victor Pospishil in seiner Darstellung des aktuellen Ostkirchenrechtes auf die Putativehe ein. Er verweist darauf, dass der lateinische Codex diesen Begriff, der auch in der Tradition des Ostkirchenrechtes verankert ist, kennt und hält es für angemessen, die Putativehe, auch wenn der CCEO sie nicht erwähnt und auch keinerlei Rechtsfolgen an sie knüpft, im Rahmen der Vorlage eherechtlicher Begriffe zu behandeln (Pospishil, Eastern Catholic Church Law2 [Anm. 41], S. 452). 45 Vgl. c. 1061 § 3 des CIC/1983 entspricht, wie oben ausgeführt, in nahezu wörtlicher Übereinstimmung dem c. 1015 § 4 des CIC/1917. 46 Des Näheren siehe Stefan Korta, Art. Putativehe, in: LKStKR III, S. 320. 47 AAS 41 (1949), S. 158. Diese Entscheidung bezieht sich auf c. 1015 § 4 CIC/1917, dessen Text in c. 1061 § 3 CIC/1983 übernommen wurde; die angezogene Entscheidung der PCI wird auch als für den Nachfolgecanon maßgeblich betrachtet. Nach der Interpretationskommission muss es sich um eine Eheschließung „coram Ecclesia“ handeln. 48 Rein theoretisch wären vielleicht auch Fälle guten Glaubens konstruierbar, in denen jemand bei Begründung einer Nicht-Ehe glaubt, kirchlich gültig zu heiraten. Doch wird man der Vorstellung, es handle sich um eine geeignete Form kirchlicher Eheschließung, wenn überhaupt, so wohl nur in höchst seltenen Fällen Gutgläubigkeit attestieren können. Aber selbst in solchen Fällen wird man sagen müssen, dass auf Grund der gesetzlichen Regelung nur eine ungültige Ehe Putativehe sein kann. 44

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eheÐ nicht statthaft. Zwar hat es in der Vergangenheit Überlegungen49 gegeben, ob dieser Begriff einer Zivilehe formgebundener Pesonen appliziert werden kann.50 Auch in der für das Eherecht zuständigen Arbeitsgruppe der Codex-Reformkommission, die sich für die Bezeichnung der Zivilehe als „matrimonium invalidum“ entschieden hat, wurde diese Frage angeschnitten.51 Dies hat aber nicht zur Änderung der herkömmlichen Disziplin geführt. Nach wie vor kommt dem „figuram seu speciem matrimonii habere“ wesentliche Bedeutung zu.52 Die Putativehe wird als ungültige Ehe verstanden, „die unter Einhaltung der äußeren Gestalt einer kanonischen Eheschließung53 eingegangen wurde“54. Bei Übernahme des Textes des CCEO über die öffentliche Ehrbarkeit in den lateinischen CIC würde sich nichts daran ändern, dass die kodiziellen Bestimmungen über die Putativehe nur in Fällen, in denen eine ungültige Ehe vorliegt, zur Anwendung kommen, so dass nur ungültige Ehen „matrimonia putativa“ sein können. Natürlich könnte der Gesetzgeber dies ändern und den Begriff des „matrimonium putativum“ ausweiten, doch ist eine solche Änderung mit der vorgeschlagenen Ergänzung des Canons über das „impedimentum publicae honestatis“ nicht automatisch verbunden. Im Falle der vorgeschlagenen Ergänzung würde es auch dabei bleiben, dass, wie schon bisher, „matrimonium attentare“ in den Vorschriften über die Putativehe nicht völlig gleich wie in verschiedenen straf- und impedimentenrechtlichen Bestimmungen verstanden wird, wobei die neue Textierung des „impedimentum publicae hone49 Es hat auch in frühen Jahren der Geltung des CIC/1917 Überlegungen gegeben, ob das Vorliegen der kirchlichen Eheschließungsform für die Qualifizierung einer Verbindung als „matrimonium putativum“ von Gewicht ist. In diesem Zusammenhang begegnet uns das Argument, dass guter Glaube bei Vernachlässigung der kirchlichen Eheschließungsform schwer vorstellbar ist (vgl. z. B. Sipos, Enchiridion (Anm. 31), S. 488, Anm. 4; Franciscus Wernz/ Petrus Vidal, Ius Canonicum, t. V2, Romae 1928, S. 19, Anm. 14; vgl. auch ebd., S. 19: “quae bona fides non praesumitur in iis, qui scienter neglexerunt formam ecclesiasticam celebrationis ad valorem requisitam.“) 50 Vgl. auch Bruno Primetshofer, Die Eheschließung, in: HdbKathKR2, insbes. S. 961. 51 Communicationes 9 (1977), S. 130. 52 In die diese Richtung weist die Kommentierung auf der Basis des CIC/1983.Vgl. z. B. Juan Ignacio Banares, in: Comentario exeg¦tico, III/2, Pamplona 21997, comentario zu c. 1061 Pkt 5: „es claro, en conclusion, que este primer elemento (la invalidez del matrimonio) hay que entenderlo vinculado a la objectividad del titulo formale de celebraciýn“. Nur eine ungültige Ehe (nicht jedoch eine Nicht-Ehe) kann Putativehe sein. 53 Dies entspricht der herkömmlichen Disziplin. Vgl. z. B. Vermeersch/Creusen, Epitome, t. II (Anm. 13), n. 277: „… ut matrimonium putativum habeatur, debuit contrahi seu celebrari cum forma ad quam sponsi tenebantur; ergo si una pars sit catholica, extra casus exceptos, coram sacerdotem seu in facie Ecclesiae. Ita respondit C.P.I., d. 26 ian. 1949, ad II“ (siehe auch AAS 41 [1949], S. 158). 54 Klaus Lüdicke, c. 1061, Rdnr. 20 in. MK CIC (Stand: Juli 2006). Angemerkt sei, dass das Recht auch eine Gültigkeitsvermutung der äußerlich korrekt zustande gekommen Ehe kennt, eine Vermutung, die zu gelten aufhört, wenn ein Nichtigkeitsurteil ergeht. Voraussetzung ist, dass die äußere Gestalt der kanonischen Eheschließung eingehalten wurde.

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statis“ dem gleichen Verständnis wie die letztgenannten Bestimmungen unterliegen würde. Die Worte „matrimonium attentaverunt“ im Text der ostkirchlichen Regelung über die öffentliche Ehrbarkeit (c. 810 § 1, 28, CCEO) können, falls man sich für die Übernahme entscheiden sollte, ohne weiteres in den CIC eingebaut werden. Der Umstand, dass dieser Ausdruck in c. 810 § 1, 28 CCEO mehr abdeckt als der in der Lehre als Gegenbegriff zu „matrimonium putativum“ eingeführte Begriff des „matrimonium attentatum“, verursacht keine Probleme. Der Unterschied gegenüber dem CCEO besteht nur darin, dass dieser den Begriff des „matrimonium putativum“ nicht nennt und so auch der Gegenbegriff „matrimonium attentatum“ in diesem Konnex, in dem er einen anderen Inhalt als in anderen kodiziellen Bestimmungen (in verschiedenen impedimenten- und strafrechtlichen Vorschriften) hat, nicht aufscheint.55 7. Rechtswirkungen der „Putativehe“ Der lateinische Codex nennt die Putativehe – außer im eben besprochenen Canon (c. 1061 § 3) – lediglich in den cc. 1137 und 1139. Die Rechtswirkungen der Putativehe beziehen sich auf die Ehelichkeit von Kindern. Kinder, die in einer Putativehe empfangen oder geboren worden sind, gelten als ehelich (c.1137). Uneheliche Kinder werden durch die nachfolgende Eheschließung der Eltern legitimiert (c.1139). Diese Rechtsfolge tritt auch bei Eingehen einer Putativehe ein.56 In dieser Hinsicht ist die Putativehe der gültigen Ehe gleichgestellt. Dies entspricht auch dem dem CIC 1983 vorausgehenden Recht.57 Allerdings ist die Relevanz der aufgezeigten Rechtswirkungen im derzeitigen kanonischem Recht sehr begrenzt, da die früher geltenden Einschränkungen für nichteheliche Kinder mit dem Inkrafttreten des CIC 1983 weggefallen sind.58 Das II. Vatikanum hat im Hinblick auf das Anliegen der Ehrerbietung gegenüber der menschlichen Person die Zuwendung zu Menschen in randständigen Lebenslagen forciert und in diesem Zusammenhang auch das aus einer illegitimen Verbindung hervorgegangene Kind genannt.59 Der Frage der Ehelichkeit von Kindern kommt – wie Victor 55 In der Lehre freilich wird gelegentlich – wie die bereits erwähnte Darstellung von Pospishil zeigt - auch im ostkirchlichen Bereich auf die Putativehe eingegangen, wodurch das weiter oben über die Putativehe Ausgeführte auch für den mit dem orientalischen Kirchenrecht Befassten nicht ganz ohne Interesse ist. Doch ergibt sich daraus keine Hindernis für die vorgeschlagene Hereinnahme der Textierung von c. 810 § 1, 28 CCEO in das Recht der lateinischen Kirche. 56 Des Näheren siehe Korta, Putativehe (Anm. 46), S. 321. 57 Vgl. c. 1114 CIC/1917. Einschränkungen bestanden lediglich m Falle des Ehehindernisses der feierlichen Profess und der Heiligen Weihen. 58 Vgl. Korta, Putativehe (Anm. 46), S. 321. 59 GS 27, Abs. 2.

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J. Pospischil60 sagt – im heutigen kanonischen Recht keine Bedeutung zu. Folglich hat man in der neuen Gesetzgebung diesen Themenbereich nicht mehr so wie im vorausgehenden Recht ausgeführt. Im CCEO hat man sogar auf die Erwähnung der Putativehe verzichtet. Der CIC hat die bis dahin geltenden Rechtsfolgen von nicht-ehelicher Geburt ersatzlos gestrichen, doch sind die dadurch bedeutungslos gewordene Unterscheidung zwischen ehelicher und unehelicher Geburt und so auch die Bestimmungen über die Putativehe geblieben.61 Man hätte sie ohne weiteres weglassen können, wie es der ostkirchliche Codex tut.62 Es handelt sich um ein Rechtsinstitut mit rückläufiger Bedeutung. Aber auch wenn es im CIC beibehalten wird, es steht der Übernahme einer c. 810 § 1 CCEO ähnlichen Textierung in den CIC nicht entgegen. VI. Zivilehe und kirchliche Eheschließung In c. 810 CCEO werden mit den Worten „matrimonium attentare“ auch Fälle erfasst, in denen Formpflichtige versuchen, den ehebegründenden Akt nicht „in foro Ecclesiae“ sondern vor dem Standesbeamten zu setzen, obwohl sie wissen, dass bei dieser Vorgangsweise eine gültige kirchliche Ehe nicht zustande kommt. Eine andere Situation liegt vor, wenn in Ländern mit obligatorischer Zivilehe Katholiken neben der kirchlichen auch eine standesamtliche Ehe schließen; in diesen Fällen wird ja getan, was im kirchlichen Bereich zu einer gültigen Eheschließung erforderlich ist und es kommt auch eine kirchliche Ehe zustande. Unter dieser Voraussetzung stellt sich die Zivilehe nicht als Versuch, an die Stelle der kirchlichen Trauung die standesamtliche zu setzen, dar; die letztere wird nicht als ehebegründend betrachtet, es handelt sich um einen zusätzlichen, durch die staatlichen Vorschriften begründeten Vorgang. Bei einer derartigen Vorgangsweise entsteht – wir sagten es schon – nicht das Hindernis der öffentlichen Ehrbarkeit sondern das der Schwägerschaft. VII. Anmerkungen zur deutschen Übersetzung Wenn die gängige deutsche Übersetzung63 des CCEO bei Wiedergabe des „matrimonium attentaverunt coram officiali civili“64 die Wortfolge ,die Ehe vor einem weltlichen Beamten zu schließen versuchtÐ gebraucht, so steht dahinter die Vorstel60

Pospishil, Eastern Catholic Church Law2 (Anm. 41), S. 452. Aymans-Mörsdorf KanR, 3. Bd., S 515. An der Beibehaltung der Norm über die eheliche und uneheliche Geburt wurde auch Kritik geübt. Aymans/Mörsdorf betonen, dass es „keine überzeugende Begründung“ hiefür gibt (ebd.). 62 Wenn es zu einer Überarbeitung des CIC/1983 kommt, könnte in Erwägung gezogen werden, die Bestimmungen über die Putativehe zu streichen. 63 Libero Gerosa/Peter Krämer (Hrsg.), Codex Canonum Ecclesiarum Orientalium – Gesetzbuch der katholischen Ostkirchen, lat.-dt. Ausg., übersetzt von Gerd Ludwig/Joachim Budin, Amateca-Repertoria, 2. Bd., Paderborn 2000. 64 In gleicher Weise wird dieser Terminus in Bezug auf Eheschließungen an die kanonische Form Gebundener vor einem ,akatholischenÐ Religionsdiener gebraucht. 61

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lung, dass der Vorgang vor dem Standesbeamten vom Nupturienten als der eigentliche Eheschließungsakt betrachtet wird. Erfolgt hingegen in einem System der obligatorischen Zivilehe sowohl die kirchliche als auch die staatliche Eheschließung, so trifft nach dem kirchlichen Verständnis nur auf die erstere das Wort „Ehe schließen“ zu, der standesamtliche Vorgang wird, wie bereits ausgeführt, nicht als die eigentliche Eheschließung verstanden.65 In der zur Besprechung stehenden Übersetzung (,Ehe … zu schließen versuchenÐ) sind Fälle angesprochen, in denen die Ehewerber versuchen, durch standesamtliche Heirat eine Ehe zu begründen. Doch bringt das im rechtsverbindlichen lateinischen Text verwendete Wort „attentare“ auch in akzentuierter Deutlichkeit zum Ausdruck, dass es sich nach kirchlichem Verständnis um einen zur Begründung einer Ehe ungeeigneten und rechtswidrigen Akt handelt. Auch die Übersetzung spricht von einem Eheschließungsversuch („Ehe…zu schließen versuchen) und es ergibt sich aus dem Kontext, in dem diese Rechtsvorschrift steht, dass Fälle angesprochen sind, in denen die Zivilehe nicht der geeignete Weg zur Begründung einer kirchlich gültigen Ehe und den kanonischen Bestimmungen zuwider ist, so dass man von einem untauglichen Eheschließungsversuch, der dem kanonischen Recht widerstreitet, sprechen kann. Jedenfalls kann man das Wesentliche, auf das es dem Gesetzgeber ankommt, auch aus der deutschen Übersetzung und aus dem Kontext, in dem diese Bestimmung steht, ableiten, obgleich der Umstand, dass ein derartiger Versuch untauglich und rechtswidrig ist, nicht mit so scharfen Worten gekennzeichnet wird, wie in der lateinischen Originalfassung. Anregung zur Neufassung des Canons 1093 (in Anlehnung an den CCEO): Wenn man die in diesen Ausführungen angesprochene Anregung aufnimmt, kann das Hindernis der öffentlichen Ehrbarkeit im CIC in gleicher Weise wie im CCEO umschrieben werden: „§ 1. Impedimentum publicae honestatis oritur 18 ex matrimonio invalido post instauratam vitam communem; 28 ex notorio et publico concubinatu; 38 ex instauratione vitae communis eorum, qui ad formam celebrationis matrimonii iure praescriptam astricti matrimonium attentaverunt coram officiali civili aut ministro acatholico. § 2. Hoc impedimentum matrimonium dirimit in primo gradu lineae rectae inter virum et consanguineas mulieris itemque inter mulierem er viri consanguineos.“

Bei Übersetzung des authentischen lateinischen Textes ins Deutsche könnte man sich meines Erachtens an die erwähnte Übersetzung des c. 810 CCEO anlehnen. „§ 1. Das Hindernis der öffentlichen Ehrbarkeit entsteht 1. aus einer ungültigen Ehe nach Aufnahme des gemeinsamen Lebens; 65 Er wird in Befolgung des staatlichen Gesetzes und im Hinblick auf die staatliche Anerkennung der Ehe vorgenommen.

Das Ehehindernis der öffentlichen Ehrbarkeit und die Zivilehe

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2. aus einem offenkundigen oder öffentlichen Konkubinat; 3. aus der Aufnahme des gemeinsamen Lebens derjenigen, die, obwohl sie zu der im Recht vorgeschriebenen Form der Ehe verpflichtet sind, die Ehe vor einem weltlichen Beamten oder einem nichtkatholischen Amtsträger zu schließen versuchen.66 § 2. Das Hindernis macht die Ehe im ersten Grad der geraden Linie zwischen dem Mann und den Blutsverwandten der Frau und ebenso zwischen der Frau und den Blutsverwandten des Mannes ungültig.“67

Zum Wortgebrauch ,akatholischÐ sei angemerkt, dass man im österreichischen Staatskirchenrecht früher den Terminus „akatholisch“ (z. B. akatholischer Religionsdiener) gebraucht hat, dass es aber seit Jahren Bestrebungen gibt, in solchen Fällen nicht das Wort ,akatholischÐ sondern die Wortfolge ,nicht-katholischÐ zu verwenden. So darf hier die Anregung ausgesprochen werden, im Falle der Übernahme des Textes des c. 1093 CCEO in das lateinische Kirchenrecht, den Ersatz der Bezeichnung „a-catholicus“ durch „non-catholicus“ in Erwägung zu ziehen. Auch die von Libero Gerosa und Peter Krämer herausgegebene deutsche Übersetzung des CCEO gibt „acatholicus“ mit ,nichtkatholischÐ wieder.

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Zur Frage, die sich bei Übersetzung des Wortes „attentaverunt“ auftut, vgl. das vorausgehend Gesagte. 67 Gleichlautend die deutsche Übersetzung von c. 810 CCEO nach der bereits erwähnten Ausgabe von Gerosa/Krämer (Anm. 63).

Sich der Wahrheit über sich selbst und über die eigene menschliche und christliche Berufung zur Ehe stellen Kanonische Eheverfahren und ihr Wert für die Ehevorbereitung ¢ Überlegungen im Anschluss an die Ansprache von Papst Benedikt XVI. an die Römische Rota vom 22. Januar 2011 Von Karl-Heinz Selge Der zu ehrende Jubilar hat in Wort und Tat nachdrücklich das Prinzip hervorgehoben sowie anhand der kodikarischen Normen erhellt, wonach „das Kirchenrecht im Dienste der Seelsorge“1 steht. Gerade da, wo es um die konkreten „Wirkformen der Seelsorge geht“, trete die „diakonisch-pastorale Funktion des Kirchenrechts sehr deutlich hervor“2. Dies geschehe in besonderer Weise bei der Ehevorbereitung. Hier komme den zuständigen Seelsorgern die verantwortungsvolle Aufgabe zu, den Ehewilligen die christliche Ehe in ihrer Bedeutung nahezubringen3, damit sie ihr Eheleben aus dem Glauben heraus gestalten.4 Angesichts der seit einiger Zeit zunehmenden Säkularisierung der Ehe und mit Blick auf steigende Scheidungsraten wird seitens der Kirche seit langem versucht, diesen Problemen durch eine intensive Ehevorbereitung zu begegnen5, denn offensichtlich kann den geschilderten Tendenzen durch ein kurzes Brautgespräch allein nicht abgeholfen werden.6 Außerdem machen pastorale Mitarbeiter gegenwärtig bisweilen die Erfahrung, dass die angebotenen Ehevorbereitungsseminare immer weniger angenommen werden7. 1

Hans Paarhammer, Das Kirchenrecht im Dienste der Seelsorge, in: ThPQ 139 (1991), S. 4 – 19. 2 Ebd., S. 5. 3 Vgl. ebd., S. 14. 4 Vgl. Hubert Windisch, Art. Ehevorbereitung, in: LThK3 III, S. 504. 5 Vgl. Pierantonio Pavanello, „Fragilit—“ del matrimonio oggi. Qualche riflessione dellÏesperienza dei processi di nullit— del matrimonio, in: CredereOggi 31 (2011), S. 111 – 131, hier S. 127 – 131, n. 181; Windisch, Ehevorbereitung (Anm. 4), S. 504. 6 Vgl. Windisch, Ehevorbereitung (Anm. 4), S. 504; Jürgen Olschewski, Art. Ehevorbereitung, in: LKStKR I, S. 564 – 565, hier S. 564. 7 Vgl. Anni Görtzen, Damals war alles anders!? Ehevorbereitung von 1974 – 1990, in: Unsere Seelsorge 56 (2006), September, S. 14 – 16, hier S. 16.

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Wenngleich zu beobachten ist, dass Ehenichtigkeitsverfahren für die betroffenen Parteien oftmals „kathartische Wirkungen“8 zeitigen, so kann dies nicht darüber hinwegtäuschen, dass gleichsam prophylaktische Bemühungen erforderlich sind. Die Ehepastoral muss also früher ansetzen: bei der Ehevorbereitung, und zwar weit vor dem Konsensaustausch. So zeigen sich die zu einer Zerrüttung einer Partnerschaft führenden Symptome meist schon bei der Partnerwahl und während der vorehelichen Zeit. Diese müsste bereits pastoral begleitet werden. So hat Papst Johannes Paul II. in seinem Apostolischen Schreiben Familiaris consortio eine längerfristige, dreistufige Ehevorbereitung angemahnt: eine entferntere, nähere und unmittelbare Ehevorbereitung.9 Diese Vorgaben des Papstes sind teilkirchlich rezipiert worden.10 Die Erfahrung des Richters und Verwaltungskanonisten zeigt, dass auch in diesem Zusammenhang die in der Ehejudikatur zu beantwortenden Prozessfragen einschlägige Desiderate anzeigen.11 An dieser Stelle setzt Papst Benedikt XVI. mit seinem Neuansatz12 an, indem er in seiner Ansprache an die Römische Rota vom 22. Januar 2011 zur Eröffnung des Gerichtsjahres13 – den geistlichen Dienst des Richters und 8 Ernst Pucher, Ehevorbereitung und Kirchenrecht, in: ÖARR 50 (2003), S. 368 – 372, hier S. 372. 9 Vgl. Joannes Paulus PP. II., Adhortatio apostolica Familiaris consortio ad Episcopos, Sacerdotes et Christifideles totius Ecclesiae Catholicae. De Familiae Christianae muneribus in mundo huius temporis, die 22 mensis Novembris 1981, in: AAS 74 (1982), S. 81 – 191, hier S. 159 – 162, N. 66; Johannes Paul II., Apostolisches Schreiben „Familiaris consortio“ an die Bischöfe, die Priester und die Gläubigen der ganzen Kirche über die Aufgaben der christlichen Familie in der Welt von heute, 22. November 1981 (VApSt 33), Bonn 1981, S. 67 – 69, Nr. 66. 10 Vgl. z. B. Handreichung der ÖBK, Ehevorbereitung. Unsere Verantwortung für das Gelingen von Ehe und Familie. Text der Arbeitsgruppe „Ehevorbereitung“ der Familienkommission. Stand: 16.3.05, Wien o. J.; DBK, Auf dem Weg zum Sakrament der Ehe. Überlegungen zur Trauungspastoral im Wandel (DDB 67), Bonn, 28. Sept. 2000. Eine eingehende Würdigung dieser Bemühungen aus kanonistischer Perspektive hat vorgelegt: Hermann Kahler, Besprechung von: Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Hrsg.), Auf dem Weg zum Sakrament der Ehe. Überlegungen zur Trauungspastoral im Wandel (DDB 67), Bonn, 28. Sept. 2000, in: DPM 9 (2002), S. 617 – 620; ders., „Auf dem Weg zum Sakrament der Ehe“. Mehr als nur Einsichten zur Ehevorbereitung, in: Rüdiger Althaus/Franz Kalde/ Karl-Heinz Selge (Hrsg.), Saluti hominum providendo. Festschrift für Offizial und Dompropst Dr. Wilhelm Hentze (Beih. MK CIC 51), Essen 2008, S. 155 – 175. 11 Vgl. Olschewski, Ehevorbereitung (Anm. 6), S. 564. 12 Hermann Kahler (vgl. Kahler, Mehr als nur Einsichten zur Ehevorbereitung [Anm. 10], S. 164 – 175) hat es – gleichsam in der Gegenrichtung – unternommen, von dem Schreiben der deutschen Bischöfe zur Ehevorbereitung ausgehend, diejenigen Befähigungen zu referieren, deren Fehlen eine psychisch bedingte Eheunfähigkeit zur Folge haben: „Wie die cc. 1055 § 1 CIC und 1057 § 2 CIC stellt auch das Schreiben der Bischöfe eine Art ,KontrastfolieÐ für die Anwendung des c. 1095 CIC dar und hilft, die in 28 und 38 genannten ,UnfähigkeitenÐ genauer, auf die Realität heutiger Ehe bezogen, zu untersuchen und zu beurteilen“ (Kahler, Auf dem Weg [Anm. 10], S. 175). Das ändert nichts daran, dass die von Kahler formulierten Einsichten auch für die nachfolgenden Überlegungen einschlägig sind. 13 Vgl. Benedictus Pp. XVI, Ad sodales Tribunalis Rotae Romanae, die 22 Ianuarii 2011, in: AAS 103 (2011), S. 108 – 113, hier S. 111. Die deutschen Zitate sind der deutschen Übersetzung entnommen: Benedikt XVI., Ansprache an die Römische Rota vom 22. Januar

Kanonische Eheverfahren und ihr Wert für die Ehevorbereitung

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seine kanonistische wie theologische Kompetenz würdigend und herausfordernd – anordnet, dass kirchliche Richter gemeinsam mit der Ehepastoral im Vorfeld der Ehe aufklärend tätig werden sollen. Damit ist die enge Verbindung zwischen Ehejudikatur und Ehevorbereitung angezeigt. Im Folgenden sind daher nicht die bislang bereits umfänglich dargestellten kirchenrechtlichen Bestimmungen und pastoraltheologischen Untersuchungen zur Ehevorbereitung zu referieren14, sondern vielmehr einige wesentliche kanonistisch-theologische, anthropologische und organisatorische Aspekte anzusprechen, die erhellen, wie eine Zusammenarbeit zwischen kirchlichen Richtern und pastoralen Mitarbeitern in der Ehevorbereitung fruchtbringend gestaltet werden kann. Das Ziel gibt Papst Benedikt XVI. vor: Eine solcherart ausgestaltete Ehevorbereitung hat das Ziel, die Brautleute zu befähigen, sich der Wahrheit über sich selbst und ihre menschliche und christliche Berufung zur Ehe zu stellen.15 I. Das Anliegen und die Weisungen des Papstes Wenngleich in der Kirchengeschichte stets Wert auf eine gediegene Ehevorbereitung gelegt wurde16 und die Kirche von daher einen reichen Erfahrungsschatz in der Begleitung der Nupturienten auf ihrem Weg zur Ehe besitzt17, ist es mit Blick auf die Verhältnisse der Gegenwart unstreitig, dass bei vielen Brautleuten eine Kluft besteht zwischen Bewusstseinslage und eigener Praxis einerseits18 und der Lehre der Kirche 2011 zur Eröffnung des Gerichtsjahres, in: OssRom (dt.) 41 (2011), Nr. 5 v. 04. 02. 2011, S. 8 – 9. 14 An dieser Stelle sei besonders auf die wegweisende, von Peter Stockmann verfasste, rechtliche und pastorale Themen der Ehevorbereitung erörternde umfassende Studie hingewiesen, in der auch umfänglich weiterführende Literaturhinweise zur Sache geboten werden: Peter Stockmann, Ehevorbereitung zwischen kirchenrechtlichem Anspruch und pastoraler Wirklichkeit, in: DPM 8/II (2001), S. 111 – 135. 15 Vgl. Benedikt XVI., Ansprache 2011 (Anm. 13), S. 8: „Dieses Examen hat in erster Linie einen rechtlichen Zweck: Es soll sicherstellen, dass einer gültigen und rechtmäßigen Eheschließung nichts im Wege steht. ,RechtlichÐ bedeutet jedoch nicht ,formalistischÐ, als ob es ein bürokratischer Schritt sei, der darin besteht, ein Formular auszufüllen, auf der Grundlage standardisierter Fragen. Es handelt sich vielmehr um eine einzigartige pastorale Gelegenheit – der alle Ernsthaftigkeit und Aufmerksamkeit entgegengebracht werden muss, die sie verlangt –, in der der Hirte durch ein respektvolles und herzliches Gespräch versucht, der Person zu helfen, sich der Wahrheit über sich selbst und über ihre menschliche und christliche Berufung zur Ehe ernsthaft zu stellen.“ 16 Vgl. Hans Paarhammer, Die Rezeption des kanonischen Eherechts im Erzbistum Salzburg seit dem Konzil von Trient bis zum CIC/1917, in: Winfried Aymans/Stephan Haering/ Heribert Schmitz (Hrsg.), Iudicare inter fideles (FS Karl-Theodor Geringer z. 65. Geburtstag), St. Ottilien 2002, S. 303 – 317, hier S. 316. 17 Vgl. Helmut Prader, Damit Ehe heute gelingen kann. Ein Beitrag zur Ehevorbereitung der Katholischen Kirche, in: Josef Kreiml/Michael Stickelbroeck/Ildefons Manfred Fux/Josef Spindelböck (Hrsg.), Der Wahrheit verpflichtet (FS für em. Diözesanbischof Prof. Dr. Kurt Krenn zum 70. Geburtstag), Graz 2006, S. 388 – 402, hier S. 402. 18 Vgl. Georg Lichtenberg, Die Sanatio in radice als Instrument der Ehepastoral, München 2010 (Münchner Theologische Beiträge 13), S. 37 – 80.

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von Ehe und ihrer Gestaltung andererseits.19 Auf diesem Hintergrund ist es nachvollziehbar, dass dem Heiligen Vater das Thema Ehe und Familie besonders am Herzen liegt.20 Der Papst beklagt in diesem Zusammenhang, dass die Sicht auf die Schöpfungsordnung zunehmend verwischt werde. Auf diese Weise gehe der Mensch „seiner eigenen Existenz zusehends verloren“, da er glaube, „sich selber in einer leeren Freiheit beliebig definieren zu können“21. Jungen Menschen falle es schwer, sich auf endgültige Bindungen einzulassen, die irrigerweise als der persönlichen Freiheit entgegenstehend wahrgenommen werden. Daher bestehe für die Kirche die Aufgabe darin, den Nupturienten zu vermitteln, dass in dem vorbehaltlosen Ja zueinander, das Ausdruck personaler Liebe ist, die größte Möglichkeit der Freiheit bestehe.22 Gleichzeitig begegne bei Brautleuten häufig eine Verliebtheit, die den Liebenden blind mache; sie verdecke den Blick auf die Realität, auf mögliche Mängel des Partners und die Gefahren, denen eine konkret intendierte Ehe ausgesetzt sein könne.23 Auch hier verliere der Mensch den Blick auf sich selbst. Der Papst weist von daher auf die überaus wichtige Aufgabe hin, die Ehewilligen mit größter pastoraler Sorgfalt zur personalen Freiheit zu ermutigen und zu befähigen, damit verhindert werde, dass „emotive Impulse oder oberflächliche Gründe die beiden jungen Leute dazu führen, Verantwortungen zu übernehmen, denen sie dann nicht gerecht werden können“24. In seiner Ansprache an die Römische Rota vom 22. Januar 2011 betont Papst Benedikt XVI. das seitens seines Vorgängers hervorgehobene Prinzip, dass die rechtli-

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Vgl. Windisch, Ehevorbereitung (Anm. 4), S. 504. Vgl. Benedikt XVI., Ansprache des Heiligen Vaters, Papst Benedikt XVI., bei der gemeinsamen Audienz der 2. Gruppe der deutschen Bischöfe bei ihrem Ad-limina-Besuch am 18. November 2006 im Vatikan, in: Ansprachen von Papst Benedikt XVI. und Grußworte aus Anlass der Ad-limina-Besuche der deutschen Bischöfe im November 2006 (VApSt 176), Vatikan/Bonn 2006, S. 27 – 35, hier S. 33. 21 Ebd., S. 33. 22 Vgl. ebd., S. 33: „So wie der Mensch sich die Welt im Ganzen neu zu montieren versucht und dabei immer spürbarer seine Grundlagen gefährdet, so geht ihm auch der Blick für die Schöpfungsordnung seiner eigenen Existenz zusehends verloren. Er glaubt, sich selber in einer leeren Freiheit beliebig definieren zu können. Die Fundamente, auf denen seine eigene Existenz und die der Gesellschaft stehen, geraten so ins Wanken. Für die jungen Menschen wird es schwer, zu endgültigen Bindungen zu finden. Sie haben Furcht vor der Endgültigkeit, die nicht realisierbar und der Freiheit entgegengesetzt scheint.“ Von daher falle es auch schwer, „Kinder anzunehmen und ihnen jenen dauerhaften Raum des Wachsens und des Reifens zu schenken“. Deshalb sei es „sehr wichtig, jungen Menschen zu helfen, das endgültige Ja zueinander zu sagen, das der Freiheit nicht entgegensteht, sondern ihre größte Möglichkeit ist. In der Geduld des lebenslangen Miteinanders kommt die Liebe zu ihrer wahren Reife. In diesem Raum lebenslanger Liebe lernen auch die Kinder leben und lieben.“ 23 Vgl. Romanae Rotae Decisiones (R.R.Dec.) vom 15. 03. 1984 c. Parisella, vol. 76, S. 168, n. 25. 24 Benedikt XVI., Nachsynodales Apostolisches Schreiben Sacramentum Caritatis an die Bischöfe, den Klerus, die Personen gottgeweihten Lebens und an die christgläubigen Laien über die Eucharistie, Quelle und Höhepunkt von Leben und Sendung der Kirche vom 22. Februar 2007 (VApSt 177), Vatikan/Bonn 22007, S. 47, Nr. 29. 20

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chen und pastoralen Aspekte in der Kirche zusammengeschaut werden müssen.25 Dabei setzt sich der Papst mit der pastoralen Ehevorbereitung auseinander, beschreibt deren rechtliche Implikationen, um dann den Zusammenhang zwischen der seelsorglichen Ehevorbereitung und den kirchlichen Eheverfahren aufzuweisen. Der Papst verortet seine Überlegungen in der pastoralen und rechtlichen Ehevorbereitung, d. h. in den Brautgesprächen, dem Brautexamen und den Ehevorbereitungsseminaren. Er stellt fest, dass in der Praxis die rechtlichen Fragen zu Ehe und Familie oft nur eine untergeordnete Rolle spielen und seitens der Vertreter der Kirche sowie seitens der Ehewerber die kirchliche Ehevorbereitung oft als „rein formale Pflichtübungen“ verstanden werde. So begegne man weithin der Auffassung, dass die Zulassung zur Ehe großzügig gehandhabt werden solle, „da das natürliche Recht der Personen zu heiraten auf dem Spiel stehe“26. In diesem Zusammenhang erinnert der Papst an seine Ansprache aus dem Jahre 2007, in der er das kirchliche Eherecht als Ausdruck der Wahrheit über die Ehe beschreibt.27 Es dürfe zwischen der gelebten Ehe und ihrer rechtlichen Dimension nicht unterschieden werden. Der rechtlich geordnete Bund der Ehe beruhe auf der wahren ehelichen „Dynamik des Lebens und der Liebe“. So beziehen sich die Pastoral und das Recht der Eheschließung auf ein und dieselbe Wirklichkeit. Zwar könne es verschiedene methodische Ansätze innerhalb der Ehevorbereitung geben, doch es dürfe die wesentliche Identität von Recht und Pastoral auch in diesem Bereich nicht verwischt werden, denn „der rechtliche Aspekt ist innerlich mit dem Wesen der Ehe verknüpft“28. Daher könne es ein Recht auf Ehe an und für sich, also ein Recht, das von den Hirten geflissentlich, ohne viel nachzufragen, erfüllt werden müsse, nicht geben. Der Papst stellt klar: Niemand habe das Recht auf eine Trauung. Bevor es zur kirchlichen Trauung kommen könne, müsse feststehen, dass die Nupturienten die Ehe in der von der Kirche gelehrten „Wahrheit ihres Wesens“ schließen können und wollen. Liegen diese Voraussetzungen nicht vor, könne, auch wenn die Zulassung zur kirchlichen Trauung nicht erfolgt, von einer Verweigerung des Rechts auf Ehe keine Rede sein.29 Dies solle allerdings nicht dazu führen, einem Rigorismus zu verfallen und die 25

Vgl. Benedikt XVI., Ansprache 2011 (Anm. 13), S. 8. Ebd. 27 Benedictus Pp. XVI, Ad sodales Tribunalis Rotae Romanae, die 27 Ianuarii 2007, in: AAS 99 (2007), S. 86 – 91, hier S. 87; Benedikt XVI., Ansprache an die Römische Rota vom 27. Januar 2007, in: OssRom (dt.) 37 (2007), 9. 2. 2007, S. 7 f., hier S. 7; vgl. hierzu die Kommentierung von Peter Stockmann, Die Ansprache Papst Benedikts XVI. vom 27. Januar 2007 vor der Römischen Rota, in: DPM 15/16 (2008/09), S. 573 – 578; Benedikt XVI., Ansprache 2011 (Anm. 13), S. 8. 28 Benedikt XVI., Ansprache 2011 (Anm. 13), S. 8. 29 Vgl. ebd.: „Das ,ius connubiiÐ würde demnach dort nicht verweigert werden, wo klar ist, dass die Voraussetzungen für seine Ausübung nicht gegeben sind – wenn also deutlich die verlangte Ehefähigkeit fehlt oder der Wille sich ein Ziel setzt, das im Gegensatz zur natürlichen Wirklichkeit der Ehe steht.“ 26

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Hürde für die Zulassung zur kirchlichen Trauung ungebührlich hoch zu hängen.30 Vielmehr sollten auch diejenigen zur kirchlichen Eheschließung zugelassen werden, die – wenn auch nicht ,bene dispositusÐ – um die natürliche Wirklichkeit Ehe wissen und diese bejahen. Damit bestätigt Papst Benedikt XVI. ausdrücklich die von Johannes Paul II. in seinem Mahnschreiben Familiaris consortio und in seiner Rota-Ansprache aus dem Jahre 1981 vorgelegten Bestimmungen.31 Von einem kontraproduktiven Rigorismus, der eine bestimmte Form und einen vorgegebenen zeitlichen Rahmen der Ehevorbereitung als Zulassungsvoraussetzung zur Eheschließung vorschreiben würde, ist daher abzusehen. Auf diese Weise würde man der je individuellen Paarsituation nicht gerecht werden. Dies entspräche auch nicht der Vorgabe des c. 1077 CIC/1983, wonach die Möglichkeit des Ortsordinarius, „Eheschließungen zu verbieten, auf Einzelfälle beschränkt“32 ist. Des Weiteren hat ein solches Eheverbot zeitlich befristet zu sein und muss aus schwerwiegendem Grund erfolgen. Jedenfalls ist das Eheverbot aufzuheben, sobald der Grund für dessen Verhängung weggefallen ist. Wenn die Eheauffassung der Brautleute von der Glaubensverkündigung der Kirche über die Ehe abweicht, wäre, bevor es zu einem vetitum des Ortsordinarius kommt, zunächst eine längere Ehevorbereitung angezeigt.33 Darüber hinaus stellt Papst Benedikt XVI. klar, dass es sich bei der rechtlichen Ehevorbereitung nicht um eine Formalität handele, bei der es nur darum ginge, standardisierte Fragen zu beantworten und zu protokollieren. Es gehe vielmehr darum, die Brautleute sorgfältig auf die Eheschließung vorzubereiten, ihre Ehefähigkeit und ihren Ehewillen zu prüfen, um „auf diese Weise eine wirkkräftige pastorale Tätigkeit zur Vorbeugung gegen die Ehenichtigkeit [zu] entfalten“34. Dabei sieht der Papst sehr deutlich, dass trotz aller Bemühungen im Vorfeld einer kirchlichen Trauung „nicht alle Gründe für eine eventuelle Nichtigkeitserklärung während der Ehevorbereitung erkannt oder offengelegt werden können“35, was aber nichts daran ändere, dass die in der Pastoral Tätigen gediegene Kenntnisse hinsichtlich des kanoni-

30 Vgl. hierzu u. a. Heinrich J. F. Reinhardt, Die kirchliche Trauung. Ehevorbereitung, Trauung und Registrierung der Eheschließung im Bereich der Deutschen Bischofskonferenz. Texte und Kommentar (Beih. MK CIC 3), Essen 22006, S. 46, Rdnr. 52 f. 31 Vgl. Benedikt XVI., Ansprache 2011 (Anm. 13), S. 8. Vgl. Joannes Paulus Pp. II, Familiaris consortio (Anm. 9), S. 164 f., Nr. 68. 32 Klaus Lüdicke, c. 1077, Rdnr. 1, in: MK CIC (Stand: November 2000). 33 Vgl. Die Feier der Trauung in den katholischen Bistümern des Deutschen Sprachgebietes, hrsg. im Auftrag der Bischofskonferenzen Deutschlands, Österreichs und der Schweiz sowie der (Erz-) Bischöfe von Bozen-Brixen, Lüttich, Luxemburg und Straßburg, Freiburg/ Freiburg/Schweiz/Regensburg/Wien/Salzburg/Linz 21992, Pastorale Einführung, Nr. 17. Vgl. zu diesem Thema auch James H. Provost, Canons 1077 and 1116. The Right to Marry and Diocesan Policies Requiring Minimal Time of Preparation (1986), in: Patrick J. Cogan (Hrsg.), CLSA Advisory Opinions 1984 – 1993, Washington DC 1995, S. 343 – 346. 34 Benedikt XVI., Ansprache 2011 (Anm. 13), S. 8. 35 Ebd.

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schen Eherechts besitzen sollen.36 Papst Benedikt XVI. sieht in diesem Zusammenhang auch die kirchlichen Gerichte in der Pflicht. Diese haben – in Rezeption der Judikatur der Römischen Rota – in ihren Entscheidungen einmütig das der Ehe Wesentliche darzulegen und „im Einklang mit dem Lehramt und dem Kirchenrecht“37 mitzuteilen. Exemplarisch geht der Papst nachfolgend auf einige materialrechtliche Bezugspunkte eheprozessrechtlichen Wirkens ein. Zunächst stellt er klar, dass ein Fehlen der erwünschten Besonnenheit der Nupturienten bei ihrer Heiratsentscheidung als solche noch nicht den in c. 1095, 28 CIC/1983 normierten Tatbestand des mangelnden Urteilsvermögens erfülle.38 Hinsichtlich des in c. 1101 § 2 CIC/1983 normierten Ausschlusses einer Wesenseigenschaft bzw. eines Wesenselements schärft der Papst das Prinzip ein, nicht allein aufgrund ehewidrigen Verhaltens auf einen eheirritierenden Ausschluss des bonum coniugum zu schließen. Von einem ehevernichtenden Ausschluss könne nur dann die Rede sein, wenn die „Hinordnung auf das Wohl der Ehegatten in Frage gestellt … und durch einen positiven Willensakt ausgeschlossen wird“, was aber „gewiss vollkommen außergewöhnlich“39 sei. Recht und Pastoral stehen „insbesondere auf dem Gebiet von Ehe und Familie … in tiefem Einklang miteinander“40. Diese Erkenntnis werde sich zweifellos auch für den Bereich der kirchlichen Ehevorbereitung als fruchtbar erweisen. Insofern sei die Ehevorbereitung eine einzigartige pastorale Möglichkeit, in vertrauensvollen, respektvollen und herzlichen Einzelgesprächen den Brautleuten dabei zu helfen, „sich der Wahrheit über sich selbst und über ihre menschliche und christliche Berufung zur Ehe ernsthaft zu stellen“41. Hier begegnet die Wahrheit in zweierlei Gestalten, die aufeinander bezogen sind: Zunächst geht es um das von der Kirche gelehrte Wesen der Ehe, dann aber auch darum, wie sich diese Wahrheit widerspiegelt in der je persönlichen Wirklichkeit des Einzelnen, hier der beiden Brautleute in ihrer konkreten Beziehung zueinander. Hiermit ist der Fragehorizont umrissen, der sich im Kontext der Sinnziele der Ehe auftut: Inwiefern kann der kirchliche Richter sich konstruktiv-unterstützend in der Eheberatung einbringen?

36 Vgl. ebd.: „Das Kirchenrecht ganz allgemein und besonders das Eherecht und das Prozessrecht erfordern natürlich eine besondere Ausbildung, aber die Kenntnis der Grundaspekte des Kirchenrechts sowie jener Aspekte, die einen unmittelbaren Praxisbezug haben, was die eigenen Funktionen betrifft, ist von erstrangiger Bedeutung in der Ausbildung aller, die in der Pastoral, insbesondere in der Familienpastoral, tätig sind.“ 37 Ebd. 38 Vgl. ebd., S. 9. 39 Ebd. 40 Ebd. 41 Ebd., S. 8.

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II. Möglichkeiten einer Mitwirkung des kirchlichen Richters an der Ehevorbereitungspastoral 1. Ehenichtigkeitsverfahren und Ehevorbereitung als potentiell sinnstiftendes Geschehen – Möglichkeiten einer Integration richterlicher Erfahrungen in die ehevorbereitende Katechese Bei der pastoral-inhaltlichen Ehevorbereitung und der kirchlichen Ehegerichtsbarkeit sind Schnittmengen in der Verfahrensweise – vor allem im Bereich der empathischen Begegnung und der Bewusstmachung persönlicher, lebensbestimmender Entscheidungen – sowie in der geistlichen Zielsetzung festzustellen. Dass den kirchlichen Gerichten bei der Durchführung von Eheverfahren und nicht nur bei den richterlichen Entscheidungen eine pastorale Funktion zukommt, ist mittlerweile allgemein zur Kenntnis genommen worden.42 Dieser Dienst des kirchlichen 42 Paul Wesemann, Das erstinstanzliche Gericht und seine pastorale Aufgabe, in: Zenon Grocholewski/Vincentius Carc¦l Ort† (Hrsg.), Dilexit Iustitiam. Studia in honorem Aurelii Cardinalis Sabattani, Citt— del Vaticano 1984, S. 91 – 118, hier S. 96 – 107, hat als einer der ersten den Blick auf diesen bedeutsamen Aspekt kirchengerichtlichen Arbeitens gelenkt. Vgl. hierzu auch Günter Assenmacher, Die Eheverfahren, in: HdbKathKR2, S. 1187 – 1208, hier S. 1190; Gerhard Holotik/Elisabeth Kandler-Mayr, Der Erzbischof als Oberster Gerichtsherr, in: Ernst Hintermaier (Hrsg.), In Signo Crucis omnia. Festschrift für Erzbischof Dr. Georg Eder zum 75. Geburtstag (Schriften des Salzburger Konsistorialarchivs 6), Salzburg 2003, S. 327 – 334, hier S. 327; Zenon Grocholewski, Der Dienst der Liebe in der kirchlichen Gerichtsbarkeit, in: DPM 9 (2002), S. 139 – 153; Hermann Kahler, Vom Sinn, Unsinn und tieferen Sinn kirchlicher Ehenichtigkeitsverfahren, in: Rüdiger Althaus/Rosel Oehmen-Vieregge/Jürgen Olschewski (Hrsg.), Aktuelle Beiträge zum Kirchenrecht. Festgabe für Heinrich J. F. Reinhardt zum 60. Geburtstag (AIC 24), Frankfurt a.M./Berlin/Bern/Bruxelles/New York/Oxford/Wien 2002, S. 141 – 162; Severin Lederhilger, „… und schrieb mit dem Finger auf die Erde“. Betrachtungen zur kirchlichen Ehegerichtsbarkeit, in: Hanjo Sauer, Franz Gmainer-Pranzl (Hrsg.), Leben – Erleben – Begreifen. Zur Verbindung von Person und Theologie. Festgabe für Johannes Singer zum 80. Geburtstag (Linzer Philosophisch-Theologische Beiträge 5), Frankfurt a.M./Berlin/Bern/Bruxelles/New York/Oxford/Wien 2001, S. 122 – 133; Klaus Lüdicke, „Dignitas connubii“. Die Eheprozessordnung der katholischen Kirche. Text und Kommentar (Beih. MK CIC 42), Essen 2005, hier S. V f.; Louis Menuz, La dimension pastorale du droit matrimonial, in: RDC 36 (1986), S. 192 – 213; Heinrich Mussinghoff, Nobile est munus ius dicere iustitiam adhibens aequitate coniunctam, in: Heinrich J. F. Reinhardt (Hrsg.), Theologia et jus canonicum. Festgabe für Heribert Heinemann zur Vollendung seines 70. Lebensjahres, Essen 1995, S. 21 – 37; Jean-Claude P¦risset, Les implications pastorales des causes de nullit¦ du mariage, in: RDC 43 (1993), S. 119 – 137; Matthias Pulte, Die Tätigkeit der Offizialate. Anmerkungen zum pastoralen Beitrag der kirchlichen Ehegerichtsbarkeit für Menschen in Konfliktsituationen, in: AnzSS 111 (2002), S. 34 – 37; Heinrich J. F. Reinhardt, Ehenichtigkeitsverfahren und ihre Spannungen zur kirchlichen Ehepastoral, in: DPM 10 (2003), S. 41 – 54; Norbert Ruf, Zum pastoralen Standort des Diözesangerichtes, in: Festg. Rößler, S. 397 – 405; Ludwig Schick, Die wiederverheirateten Geschiedenen und das Unbehagen sowohl über die kirchlichen Eheprozesse als auch über die Zulassung zu den Sakramenten. Anmerkungen und Anregungen zu brisanten Themen, in: FS May (65), S. 177 – 188; Karl-Heinz Selge, Der kirchliche Richter als Seelsorger im ordentlichen Ehenichtigkeitsverfahren erster Instanz, in: Elmar Güthoff/Karl-Heinz Selge (Hrsg.),

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Richters hat mit Selbstverständlichkeit die individuelle Lebenswirklichkeit der Menschen in den Blick zu nehmen.43 Von hierher weist der Papst den kirchlichen Richtern eine weitere Aufgabe zu: Es gehe darum, die richterliche Erfahrung im Zusammenhang mit dem Scheitern von Ehen insofern fruchtbar werden zu lassen, als die Sicht auf die Zusammenhänge und Verursachungen des Zerbrechens von Beziehungen als Erfahrungshorizont genutzt werde, um Ehewerbern bei ihrer Heiratsentscheidung behilflich zu sein. Papst Benedikt XVI. betont, dass die Liebe zur Wahrheit „den grundlegenden Berührungspunkt zwischen Recht und Pastoral darstellt“44. Dabei sind zwei Aspekte der Wahrheit zu unterscheiden: Zunächst sind zu nennen die mit moralischer Gewissheit zu treffende richterliche Feststellung des entscheidungserheblichen Lebenssachverhaltes sowie die durchgängig zu leistende Bewusstmachung der vom authentischen Lehramt verkündeten Erkenntnisse über das im Glaubensgut der Kirche gründende Menschenbild. Darüber hinaus ist von der je persönlichen, lebensgeschichtlich bestimmten Wahrheit der Parteien zu handeln. Dabei ist die Ehe „in ihrer zweifachen natürlichen und sakramentalen Dimension kein Gut, über das die Eheleute verfügen könnten, und ebenso wenig ist es möglich, in Anbetracht ihrer sozialen und öffentlichen Natur irgendeine Art von Selbsterklärung anzunehmen“45. Dennoch ist auch im kanonischen Ehenichtigkeitsverfahren die Frage nach der Bedeutung der persönlichen Geschichte zu stellen; es geht um die Versöhnung mit der eigenen Vergangenheit, um Umkehr mit dem Ziel eines Neuanfangs. Insofern kann der im Ehenichtigkeitsverfahren angeregte Prozess der Reflexion eigener Entscheidungen als geistliches Geschehen begriffen werden.46 So unterstreicht – unabhängig von Spezialfragen Adnotationes in iure canonico. Festgabe Franz X. Walter zur Vollendung des 65. Lebensjahres, Fredersdorf 1994, S. 30 – 41; ders., Des Menschen Frage nach Sinn angesichts zerbrochener Lebensentwürfe: Anthropologische Aspekte des kanonischen Ehenichtigkeitsverfahrens, in: DPM 8/I (2001), S. 445 – 482. 43 Kritisch hierzu Kahler, Vom Sinn, Unsinn und tieferen Sinn (Anm. 42), S. 153 f., der zu Recht darauf hinweist, dass so manche geltend gemachten und prozessual untersuchten Ehenichtigkeitsgründe als „konstruiert“, d. h. als mit der jeweiligen Lebenswirklichkeit nicht deckungsgleich empfunden werden. Dies ändert jedoch nichts daran, dass im Zuge der vom kirchlichen Gerichtspersonal durchgeführten Ehenichtigkeitsverfahren eine in der Regel behutsame Begleitung sowie eine respektvolle und an der je persönlichen Erfahrung orientierte, d. h. lebensnahe Bearbeitung der Beziehungsgeschichte angeboten wird; vgl. auch Reinhardt, Ehenichtigkeitsverfahren (Anm. 42), S. 53. Dabei wird man angesichts der Mahnung Papst Johannes Pauls II., dass das Zerbrechen einer Ehe niemals den Beweis ihrer Ungültigkeit beinhalte, „zugestehen müssen, dass die meisten zerbrochenen Ehen nicht schon von vornherein rechtlich ungültig zustande gekommen sind, wenngleich andererseits gewiss auch noch sehr viel mehr Ehen für nichtig erklärt werden könnten, als dies faktisch geschieht“; so zurecht Lederhilger, Betrachtungen zur kirchlichen Ehegerichtsbarkeit (Anm. 42), S. 128. 44 Benedikt XVI., Ansprache an die Mitglieder der Römischen Rota zur feierlichen Eröffnung des Gerichtsjahres vom 28. Januar 2006, abgedruckt in: OssRom (dt.) 36 (2006), Nr. 8, 24. Februar 2006, S. 8. 45 Ebd. 46 Vgl. hierzu ausführlich Selge, Des Menschen Frage nach Sinn (Anm. 42), S. 472 – 477.

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des materiellen Eherechts – Papst Johannes Paul II., dass das kanonische Ehe- und Eheprozessrecht in einer ganzheitlichen Sicht des Menschen die personale Wirklichkeit des Menschseins umgreife.47 Damit hat das Eheprozessrecht stets dem theologisch-geistlichen Wesenskern aller eherechtlicher Normen48 gerecht zu werden. Dabei ist die „in den Ehenichtigkeitsverfahren gesuchte Wahrheit … jedoch keine abstrakte, vom Wohl der Personen losgelöste Wahrheit. Sie ist eine Wahrheit, die sich in den menschlichen und christlichen Weg jedes Gläubigen integriert“49. Durch diese Auseinandersetzung mit seiner individuellen Geschichte vermag der Mensch sein Selbstsein zu erfassen und Sinn zu erfahren. Diese Erfahrung befähigt dazu, aus der eigenen Vergangenheit zu lernen und das Leben auf neue Perspektiven hin auszurichten. Christus ist dem Gläubigen in diesem Moment als Richtungsweisender für ein gelingendes Leben zu vermitteln. Der „Sinn des Seienden besteht also darin, immer mehr Sein zu gewinnen, um damit die Teilhabe an Gott zu steigern“50. Der Ehenichtigkeitsprozess kann auf diese Weise zum Ereignisort menschlichen Reifens werden, wobei es nicht nur um die Selbstfindung der Person „im Sinne der Entfaltung einer ausschließlichen Selbstbezogenheit“51 gehen darf. Vielmehr soll Sinnfindung stets auch fruchtbar sein für eine mitmenschliche Interaktion. Selbstfindung und Erkennen der eigenen sozialen Verantwortlichkeit ist unlösbar verknüpft mit der Beziehung des Einzelnen zu Gott und zum Mitmenschen.

47 Vgl. Joannes Paulus Pp. II, Ad Romanae Rotae praelatos auditors, die 27 Ianuarii 1997, in: AAS 89 (1997), S. 486 – 489, hier S. 487. Vgl. hierzu Heribert Heinemann, Die Ansprache Papst Johannes Pauls II. vom 27. Januar 1997 vor der Römischen Rota, in: DPM 4 (1997), S. 237 – 239, hier S. 238. Bereits Papst Pius XII. hob hervor, dass das kanonische Eheprozessrecht das Ziel verfolge, die Freiheit und Vollendung des Menschen zu sichern sowie ihn vor „Schwachheit, Irrtümern und Verirrungen des Geistes und des Herzens“ zu schützen. Vgl. Pius Pp. XII, Ad Praelatos Auditores ceterosque Officiales et Administros Tribunalis S. Romanae Rotae necnon eiusdem Tribunalis Advocatos et Procuratores, habita die 2 mensis Octobris, a. 1945, in: AAS 37 (1945), S. 256 – 262, hier S. 261. 48 Vgl. z. B. Heribert Heinemann, Die sakramentale Würde der Ehe. Überlegungen zu einer bedenklichen Entwicklung, in: AfkKR 155 (1986), S. 377 – 399; ders., Die Trennung von Vertrag und Sakrament? Eine Anfrage an c. 1117, in: Antonianum 79 (2004), S. 611 – 632; Karl-Heinz Selge, Ehe als Lebensbund. Die Unauflöslichkeit der Ehe als Herausforderung für den Dialog zwischen katholischer und evangelisch-lutherischer Theologie (AIC 12), Frankfurt a.M./Berlin/Bern/New York/Paris/Wien 1999, S. 263 – 305. 49 Benedikt XVI., Ansprache vom 28. Januar 2006 (Anm. 44), S. 8. 50 Ludwig Berg, Zur theologischen Bestimmung des Humanum, in: Franz Groner (Hrsg.), Die Kirche im Wandel der Zeit. Festgabe seiner Eminenz dem Hochwürdigsten Herrn Joseph Kardinal Höffner, Erzbischof von Köln, zur Vollendung des 65. Lebensjahres am 24. Dezember 1971, Köln 1971, S. 435 – 452, hier S. 450. 51 Angelika Eckart, Bezogene Individuation in der Ehe. Eine pastoralpsychologische Studie über den Beitrag systemischer Therapiemodelle für die institutionelle katholische Eheberatung (Pastoralpsychologie und Spiritualität 2), Frankfurt a.M./Berlin/Bern/Bruxelles/ New York/Wien 1999, S. 241.

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Papst Johannes Paul II. bestätigt dies in seinen Darlegungen bezogen auf das Ehenichtigkeitsverfahren: Die Betroffenen können das entwickeln, was sie besitzen: die Fähigkeit, Entscheidungen in Freiheit zu treffen52, woraus auch die Fähigkeit zur Verantwortung erwachse. Diese Freiheit sei nicht zu verwechseln mit Beliebigkeit, vielmehr sei sie an Gottes Willen, an seinem dem Menschen geoffenbarten Heilsplan auszurichten. Insofern ist mit diesem Freiheitsbegriff ein an die Einzelperson gerichteter Anspruch verbunden, sich seine Aufgabe bewusst zu machen, Gott immer ähnlicher zu werden53 und von hierher in der Gestaltung seines Lebens Sinn zu erfahren.54 So kann das kanonische Ehenichtigkeitsverfahren als eine Form nachdrücklichen Engagements der Kirche angesehen werden, „Menschen in der Entwicklung derjenigen Kräfte zu unterstützen, die ein Leben in bewusster Verantwortung ermöglichen“55. Der von Papst Johannes Paul II. verkündete Personalismus impliziert die Erkenntnis, dass die Person „über das Wohl ihrer Art oder des sozialen Ganzen hinaus ihr absolut eigenes Schicksal und Ziel“56 besitzt. Dies zu achten und zu fördern ist Aufgabe allen kirchengerichtlichen Wirkens.57 Eine zentrale Aufgabe der Kirche besteht somit darin, „immer eine entsprechende Reifung der Person und wirklich personale Beziehungen (,PersonalisationÐ) zu fördern“ (Vat. II, GS 6). Die hier aufgezeigten mit den kirchlichen Eheverfahren einhergehenden Sinnziele gelten insbesondere für die ehevorbereitende Pastoral. 52 Zu den psychologisch-anthropologischen Bedingungen dieser Befähigung des Menschen vgl. grundlegend Hans Kramer, Unwiderrufliche Entscheidungen im Leben des Christen. Ihre moralanthropologischen und moraltheologischen Voraussetzungen, München/Paderborn/Wien 1974, S. 69 – 213. 53 Vgl. Paulus Pp. VI, Ad Praelatos Auditores et Officiales Tribunalis Sacrae Romanae Rotae, a Beatissimo Patre novo litibus iudicandis ineunte anno coram admissos, die 8 mensis februarii a. 1973, in: AAS 65 (1973), S. 95 – 103, hier S. 102; Joannes Paulus Pp. II, Ad Romanae Rotae praelatos auditors, die 21 Ianuarii 1999, in: AAS 91 (1999), S. 622 – 627, hier S. 625 f.; Johannes Paul II., Ansprache an die Römische Rota vom 21. Januar 1999, in: DPM 7 (2000), S. 217 – 222, hier S. 220 f.: „Wie bekannt, sollen diese Abweichungen vom Naturgesetz, von Gott in die Natur der Person eingeschrieben, ihre Rechtfertigung finden in der Freiheit, die ein Vorzug des Menschen ist. In Wirklichkeit handelt es sich dabei aber nur um eine vorgeschützte Rechtfertigung. Jeder Gläubige weiß, dass die Freiheit – um mit den Worten Dantes zu sprechen – das herrlichste Geschenk in Gottes Schöpfung, das angemessenste für seine GüteÐ ist … Dieses Geschenk muss allerdings richtig verstanden werden, damit es sich nicht in einen Stolperstein für die Würde des Menschen verwandelt. Die Freiheit als moralische oder rechtliche Erlaubtheit aufzufassen, das Recht zu brechen, bedeutet, ihre wahre Natur zu verdrehen. Diese besteht nämlich in der Möglichkeit, die der Mensch hat, sich in voller Verantwortung, das heißt durch eine persönliche Wahl, sich nach dem im Gesetz dargelegten göttlichen Willen auszurichten, um so immer mehr dem Schöpfer ähnlich zu werden.“ (vgl. Gen 1,26) 54 Vgl. Berg, Zur theologischen Bestimmung des Humanum (Anm. 50), S. 450. 55 Eckart, Bezogene Individuation in der Ehe (Anm. 51), S. 239. 56 Johannes B. Lotz, Art. Person, in: Walter Brugger (Hrsg.), Philosophisches Wörterbuch, Freiburg i. Br./Basel/Wien 161981, S. 285 – 287, hier S. 286; Hervorhebung v. K.H.S. 57 Vgl. Joannes Paulus Pp. II, Ad Romanae Rotae iudices, die 10 Februarii 1995, in: AAS 87 (1995), S. 1013 – 1019, hier S. 1018; Johannes Paul II., Ansprache an die Römische Rota vom 10. Februar 1995, in: DPM 2 (1995), S. 318 – 324, hier S. 324.

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Dies alles sei, wie Papst Benedikt XVI. hervorhebt, von den Inhalten der Ehevorbereitung nicht zu trennen. So bestehe das unmittelbare Ziel der Ehevorbereitung darin, „die freie und wahre Eheschließung zu fördern, also die Schaffung eines Bundes der Gerechtigkeit und der Liebe zwischen den Ehegatten, der die Eigenschaften der Einheit und Unauflöslichkeit in sich trägt und hingeordnet ist auf das Wohl der Eheleute und auf die Zeugung und Erziehung der Kinder. Zwischen Getauften stellt er außerdem eines der Sakramente des Neuen Bundes dar. Dadurch wird dem Paar keine von außen kommende ideologische Botschaft vermittelt, und es wird erst recht kein Kulturmodell aufgezwungen. Vielmehr werden die Verlobten in die Lage versetzt, die Wahrheit einer natürlichen Zuneigung und der Fähigkeit, eine Verpflichtung einzugehen, zu entdecken, die sie in ihrem beziehungsorientierten Sein als Mann und Frau in sich tragen. Hier entspringt das Recht als wesentlicher Bestandteil der ehelichen Beziehung, verwurzelt in einer natürlichen Fähigkeit der Eheleute, die durch die einverständliche Hingabe umgesetzt wird. Vernunft und Glaube tragen dazu bei, diese Lebenswahrheit zu erleuchten“58. Auf einzelne hier angedeutete Aspekte ist im Folgenden exemplarisch einzugehen und nach den Hilfsmöglichkeiten zu fragen, die in diesem Zusammenhang seitens der Träger kirchlicher Ehejudikatur der Ehevorbereitungspastoral angeboten werden können. 2. Materialrechtliche Implikationen An dieser Stelle geht es um inhaltliche Transferleistungen. Zunächst gilt es klarzustellen: Es kann nicht darum gehen, die Nupturienten über alle möglichen Ehenichtigkeitsgründe und damit zusammenhängende Fallgestaltungen aufzuklären. Vielmehr besteht die Aufgabe darin, den in c. 1055 CIC/1983 umrissenen Ehebegriff sowie die Beinhaltungen des Ehekonsenses, wie er in c. 1056 CIC/1983 beschrieben wird, theologisch mit Leben zu füllen sowie die hinter den Ehenichtigkeitsgründen stehenden Konsensmängel, die mit dem konziliaren Eheverständnis korrelieren59, im Sinne einer Bipolarität menschlichen Denkens und Handelns in den Blick zu nehmen. Das bedeutet, es wäre zu erhellen, welche die eheirritierenden Konsensmängel kontrastierenden, d. h. positiven, ehekonsitituierenden und die menschliche Existenz glücken lassende Prinzipien in den Blick kommen. Vor allem das von Papst Benedikt XVI. angesprochene bonum coniugum als Sinnziel der Ehe kann gesehen werden als Ernstfall ehelichen Miteinanders. Insofern ist es geradezu prädestiniert, Ehe in ihrem Wesen erkenn- und erfahrbar werden zu lassen. Es ist auszugehen vom auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil in GS 48 gelehrten und in c.1055 CIC/1983 übernommenen Ehebegriff60, wonach die Ehe nach der 58

Benedikt XVI., Ansprache 2011 (Anm. 13), S. 8. Vgl. Begegnung von Papst Benedikt XVI. mit dem Klerus der Diözesen Belluno-Feltre und Treviso am 24. 07. 2007, in: OssRom (dt.) 37 (2007), 10. 8. 2007, S. 9 – 11, Nr. 4. 60 Vgl. hierzu vor allem den von Norbert Lüdecke vorgelegten ausführlichen Aufweis der Textgeschichte und das daraus folgende Textverständnis: Norbert Lüdecke, Eheschließung als 59

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Lehre der katholischen Kirche „das bedingungslose gesamtpersonale Ja zweier rechtlich dazu fähiger Partner zueinander im Blick auf eine vor allem sittlich-personale Lebens- und Liebesgemeinschaft [ist], die wesentlich geprägt ist von Ausschließlichkeit und unbeschränkt beabsichtigter Dauer sowie von der Hinordnung auf das Wohl der Gatten und das der Nachkommenschaft“61. Durch den in c. 1055 CIC/1983 verwendete Begriff des consortium totius vitae wird Ehe als Schicksalsgemeinschaft des ganzen Lebens beschrieben. Damit wird die Ehe ausgewiesen als interpersonale Beziehung, als Selbstgabe und Annahme des anderen in vorbehaltloser Liebe.62 Der von den Vätern des Zweiten Vatikanischen Konzils vertretene personale Ansatz ist bestimmend für das konziliare Eheverständnis, ebenfalls für die in c. 1055 § 1 CIC/1983 umschriebene partnerschaftliche und religiöse Dimension der Ehe sowie für die geltenden Konsensanforderungen des c. 1057 CIC/1983.63 Nach der kodikarisch rezipierten konziliaren Lehre ist „die Eheschließung konsensuale Selbstschenkung“64. Damit erweist sich „die eheliche Liebe … (als) das maßgebliche wesentliche Strukturprinzip der ehelichen Gesamtwirklichkeit … Von diesem Standpunkt aus kann die Kluft zwischen der Ordnungs- und der Erfahrungsgestalt der Ehe überwun-

Bund. Genese und Exegese der Ehelehre der Konzilskonstitution „Gaudium et spes“ in kanonistischer Auswertung (FzK 7), Würzburg 1989, S. 892 – 938. Siehe auch Reinhild Ahlers, Bund oder Vertrag? Zur Diskussion um den Ehebegriff, in: Festg. Rößler, S. 193 – 207, hier S. 194 – 202; dies., Die Totalsimulation, in: Pedro-Juan Viladrich/Javier Escriv‚-Ivars/Juan Ignacio BaÇares/Jorge Miras El (Hrsg.), Matrimonio y su expresiýn canýnica ante el III Milenio. X Congreso Internacional de Derecho Canýnico, Pamplona 2000, S. 1147 – 1158, hier S. 1150 – 1153; Aymans-Mörsdorf KanR, 3. Bd. (2007), S. 389 – 411; Sabine Demel, Kirchliche Trauung – unerlässliche Pflicht für die Ehe des katholischen Christen?, Stuttgart/Berlin/ Köln 1993, S. 216 f.; Hans Heimerl/Helmuth Pree, Kirchenrecht. Allgemeine Normen und Eherecht, Wien 1983, S. 166; Helmuth Pree, Der Ehekonsens, in: El matrimonio y su expresiýn canýnica (Anm. 60), S. 383 – 409; Hermann Kahler, Neues ! im Eherecht. Anmerkungen zur 41. und 42. Ergänzungslieferung des „Münsterischen Kommentars zum Codex Iuris Canonici“ (erscheint in DPM 17/18 [2010/2011]); Norbert Lüdecke, Der Ausschluss des bonum coniugum. Ein Ehenichtigkeitsgrund mit Startschwierigkeiten, in: DPM 2 (1995), S. 117 – 192, hier S. 141; Klaus Lüdicke, c. 1055, in: MK CIC (Stand: Juli 2006); Andreas Weiß, Wie unauflöslich ist die Ehe? Nichtigkeit und Auflösung der Ehe in Recht und Praxis der katholischen Kirche, in: Richard Puza/Abraham P. Kustermann (Hrsg.), Beginn und Ende der Ehe. Aktuelle Tendenzen in Kirchen- und Zivilrecht (Motive – Texte – Materialien 66), Heidelberg 1994, S. 53 – 72, hier S. 54 – 58. 61 Lüdecke, Eheschließung (Anm. 60), S. 913. 62 Vgl. Lüdecke, Der Ausschluss des bonum coniugum (Anm. 60), S. 141. 63 Vgl. Heinrich J. F. Reinhardt, Entsprechen Konsensanforderungen (c. 1057 CIC) und Konsensmängel (cc. 1095 – 1103 CIC) einander? Eine Anfrage an das Ehekonsensrecht der katholischen Kirche, in: DPM 2 (1995), S.87, hier S. 70 – 72; Piet Stevens, Het huwelijk als algehele levensgemeenschap, in: Werkgroep nederlandstalige Canonisten, Het huwelijk kerkelijk en werkelijk, Leuven 1994, S. 11 – 28, hier S. 16 f. 64 Klaus Lüdicke, Rezension zu Lüdecke, Eheschließung als Bund, in: ThRv 86 (1990), S. 318 – 327, hier S. 321.

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den werden“65. Die eheliche Liebe wird verstanden als vorbehaltloses „Sich-Schenken“66 zweier Personen, das Zentrum der Begriffsbestimmung des Ehekonsenses ist.67 Damit bestimmt die transzendental ausgerichtete personal-hingebende Liebe den Ehebund wesenhaft.68 Diese Liebe, die das Charakteristikum des Ehebundes ist, ist ganz und gar menschliche Liebe, die ihr tragfähiges Fundament maßgeblich auch im Glauben an Christus erkennt.69 Eine solche personal-hingebende Liebe wird zum Ort, an dem die Eheleute Gottes und Christi Liebe erfahren.70 Insofern eignet dieser Liebe eine „personal-transzendentale Dimension“71. Das bonum coniugum (Wohlergehen der Eheleute72) ist eine nach katholischem Eheverständnis wesentliche Zielsetzung der Ehe. Was das Wohlergehen der Ehegatten umfasst, kann nicht abschließend in aufzählender Weise dargelegt werden. Es lassen sich jedoch offensichtliche und unaufgebbare Charakteristika des bonum coniu65 Norbert Lüdecke, Konsequenzen des erneuerten katholischen Wesensverständnisses der Ehe für die kirchliche Gerichtsbarkeit, in: Renovatio 47 (1991), S. 125 – 138, hier S. 128. 66 Joannes Paulus Pp. II, Ad Sacrae Romanae Rotae Tribunalis Praelatos Auditores, Officiales et Advocatos coram admissos, die 28 m. Ianuarii a. 1982, in: AAS 74 (1982), S. 449 – 454, hier S. 449 – 452, N. 3, 4 und 6. Zitiert nach der deutschen Übersetzung von Titus Lenherr: Johannes Paul II., Ansprache vom 28. Januar 1982 an den Dekan und die Mitglieder der Sacra Romana Rota zur Eröffnung des neuen Gerichtsjahres, in: AfkKR 151 (1982), S. 173 – 178, hier S. 174 f. 67 Vgl. Reinhardt, Konsensanforderungen (Anm. 63), S. 72; Hartmut Zapp, Kanonisches Eherecht. Begründet von Ulrich Mosiek, Freiburg 71988, S. 46. 68 Vgl. Johannes Paul II, Ansprache 1982 (Anm. 66), S. 449 – 451, N. 3 f. 69 Vgl. Hans-Günter Gruber, Christliche Ehe in moderner Gesellschaft. Entwicklung – Chancen – Perspektiven, Freiburg i. Br./Basel/Wien 21995, S. 137 f.; Urs Baumann, Die Ehe – ein Sakrament?, Zürich 1988, S. 97; Jean Bernhard, Über Eherecht und Rechtsprechung, in: Concilium 32 (1996), S. 449 – 453, hier S. 450. 70 Vgl. Baumann, Sakrament (Anm. 69), S. 96; Walter Kasper, Zur Theologie der christlichen Ehe, Mainz 21981, S. 40. 71 Baumann, Sakrament (Anm. 69), S. 97; vgl. Jean Bernhard, Reinterpretation (existentielle et dans la foi) de la legislation canonique concernant lÏindissolubilite du mariage chretien, in: RDC 21 (1971), S. 243 – 277, hier S. 256. 72 Maßgeblich hierzu Lüdecke, Der Ausschluss des bonum coniugum (Anm. 60), S. 117 – 192; vgl. hierzu neben vielen anderen insbesondere Klaus Lüdicke, A theory of bonum coniugum, in: Jurist 69 (2009), S. 703 – 730; Giacomo Bertolini, La simulazione totale tra esclusione del bonum coniugum e della sacramentalit—, in: La giurisprudenza della rota romana sul consenso matrimoniale (1908 – 2008) (Studi giuridici 83), Citt— del Vaticano 2009, S. 105 – 157; Piero Antonio Bonnet, Das Wesen der Ehe und das Bonum Coniugum – Eine Perspektive, in: DPM 6 (1999), S. 27 – 37; Gregor Ewering, Ausschluss des Gattenwohls als eigenständiger Klagegrund, in: Rüdiger Althaus/Rosel Oehmen-Vieregge/Jürgen Olschewski (Hrsg.), Aktuelle Beiträge zum Kirchenrecht. Festgabe für Heinrich J. F. Reinhardt zum 60. Geburtstag (AIC 24), Frankfurt am Main/Berlin/Bern/Bruxelles/New York/Oxford/Wien 2002, S. 105 – 112; Hermann Kahler, Der Ausschluss des bonum coniugum – ein Ehenichtigkeitsgrund?, in: Dominicus M. Meier/Peter Platen/Heinrich J. F. Reinhardt/Frank Sanders (Hrsg.), Rezeption des zweiten Vatikanischen Konzils in Theologie und Kirchenrecht heute. Festschrift für Klaus Lüdicke zur Vollendung seines 65. Lebensjahres (Beih. MK CIC 55), Essen 2008, S. 295 – 318.

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gum benennen: Das bonum coniugum findet seinen Ausdruck und seine Bewährung in der Partnerschaft, im Wohlwollen, in der wechselseitigen unterstützenden Begleitung, in der Freundschaft, in der Aufmerksamkeit füreinander und in der Liebe. Diese Charakteristika verwirklichen sich bei jedem Paar in jeweils spezifischer Art und Weise; sie sind aber alle dadurch gekennzeichnet, dass durch sie erst eine echte, d. h. auf Wahrhaftigkeit und personaler Selbstüberschreitung gründende Interaktion der Partner möglich wird. Erst durch die Befähigung und den Willen beider Partner zu personaler Interaktion wird das physische, emotionale, mentale, sexuelle und spirituelle Wohlergehen der Ehegatten ermöglicht.73 Dabei ist die Gemeinschaft des ganzen Lebens als Schicksalsgemeinschaft qualifiziert durch die strikte Wechselseitigkeit des Gattenwohls: „Eine grundlegende Strukturaussage … kann gemacht werden, die aus der Charakteristik der Ehe als consortium, als Schicksalseinheit der Gatten folgt …: Die Gleichheit der Gattenpflichten und -rechte in Bezug auf das, was die Schicksalsgemeinschaft des ehelichen Lebens betrifft.“74

Das bedeutet: Die Grundstruktur der Ehe ist die Rechtsgleichheit. Diese „besteht – auf der Basis gleicher Würde und gleichen Ranges – in der prinzipiellen Berechtigung beider Partner, an Entscheidungen über das Eheleben mitzuwirken, und der Verpflichtung beider Partner, solche Entscheidungen mitzuverantworten“75. Eine in dieser Weise verantwortliche Ehegestaltung verlangt von beiden Partners Einfühlungsvermögen und die Fähigkeit zur Nähe-Distanz-Regulierung als Grundfertigkeiten für eine die Verwirklichung des bonum coniugum überhaupt erst ermöglichende respektvoll-konstruktive Kommunikationskultur. Es geht dabei um „die unverzichtbare Fähigkeit der Ehepartner in unserer Zeit und Kultur, dass sie miteinander reden und sich gegenseitig verständlich machen können; es geht um gegenseitige Unterstützung, Kommunikation, Verstehen des Partners“76. Diese Fähigkeiten, die das Ziel haben, sich wechselseitig in den jeweiligen „legitimen persönlichen Ansprüchen auf Persönlichkeitsentfaltung im gemeinsamen Lebensentwurf“77 zu respektieren, gilt es auch und gerade in der Ehevorbereitung zu fördern bzw. überhaupt erst zu entwickeln. Bei allem hat sich der kirchliche Richter bewusst zu sein, dass er weder Therapeut noch psychologisch geschulter Berater ist. Er weiß jedoch seinerseits um seinen Auftrag, im Einzelfall die ihm anvertrauen Menschen auf die weiterführenden Möglichkeiten der kirchlichen Lebensberatung ermutigend aufmerksam zu machen. In die-

73 Vgl. zum Ganzen Augustine MendonÅa, The Theological and Juridical Aspects of Marriage, in: Canonical Studies 1993, S. 1 – 42, hier S. 16 – 20. 74 Klaus Lüdicke, c. 1055, Rdnr. 11, in: MK CIC (Stand: Juli 2006). 75 Ebd., Rdnr. 38. 76 Kahler, Mehr als nur Einsichten zur Ehevorbereitung (Anm. 10), S. 160, Fn. 16. 77 Lüdecke, Der Ausschluss des bonum coniugum (Anm. 60), S. 190.

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sem Zusammenhang wäre zu denken an EPL-Trainings78, deren Ziel es unter anderem ist, durch Förderung der kommunikativen Fähigkeiten der Partner diese auf eine eheliche Lebensgemeinschaft vorzubereiten. Des Weiteren wird in der Kanonistik der Gegenwart das Verhältnis von kirchlich eingebundenem Glauben79 und sakramentaler Eheschließung erörtert80, wobei es Papst Johannes Paul II. als unzulässig abgelehnt hat, einen bestimmten Mindestglauben als Zulassungsvoraussetzung zur Eheschließung zu verlangen. So thematisiert der Papst in seinem Apostolischen Mahnschreiben Familiaris consortio ausdrücklich die Frage nach der Möglichkeit einer „Trauungsfeier … für Getaufte ohne Glauben“81. Dennoch stellte derselbe Papst insofern die Bedeutung des Glaubens im Zusammenhang mit der avisierten Eheschließung heraus, als der kirchlichen Trauung als Ort der Verkündigung des Glaubens auch die Funktion zukomme, diesen Glauben als positiv lebensgestaltende Kraft zu fördern oder zumindest zu initiieren.82 Daher ist im Kontext der Ehevorbereitung dieses Thema von herausragender Bedeutung. Aus der richterlichen Erfahrung, z. B. im Zuge einer lebensgeschichtlichen Sichtung psychischer Eheunfähigkeit infolge juveniler Unreife, erwächst häufig die Erkenntnis, dass sich der Glaube an eine Geborgenheit in Gott als von narzisstisch-unreifer Angst befreiende, sinnstiftende, heilende und versöhnende Kraft erweisen kann.83 Von hierher können die psychischen Befähigungen entwickelt wer78

EPL („Ein Partnerschaftliches Lernprogramm“) ist ein wissenschaftlich evaluiertes, verhaltenspsychologisch orientiertes Kommunikationstraining. Die vermittelten kommunikativen Fertigkeiten haben sich als sehr effektiv für eine gelingende partnerschaftliche Interaktion erwiesen. Vgl. hierzu die mit einer kanonistischen Auswertung einhergehende Darstellung dieses kirchlichen Ehevorbereitungskonzeptes von Peter Stockmann, Ehevorbereitung (Anm. 14), S. 126 – 128. 79 Vgl. Aymans-Mörsdorf KanR, 3. Bd. (2007), S. 355 – 389. 80 Vgl. Heinemann, Die sakramentale Würde der Ehe (Anm. 48); ders., Die Notwendigkeit einer kirchlichen Eheschließungsform? Eine Frage aus der Seelsorgepraxis, in: Festg. Wesemann, S. 236 – 245; ders., Die Trennung von Vertrag und Sakrament? (Anm. 48); Rainer Alfs, Die außerordentlichen Formen der kanonischen Eheschließung im Licht der Lehre von der Sakramentalität der Ehe. Eine Untersuchung zur ekklesiologischen Bedeutung der sakramentalen Eheschließung (FzK 15), Würzburg 1993; ders., Kann ein Getaufter, der nicht an Gott glaubt, eine sakramentale Ehe schließen? Anmerkungen im Zusammenhang mit Kapitel IV des Rituale „Die Feier der Trauung“ in der 2. Auflage, in: Reinhardt (Hrsg.), Festg. Heinemann (70) (Anm. 42), S. 397 – 413; ders., Sakramentale Ehe als „Ereignisort“ gelebten Glaubens und Glaubensmangel als Ehenichtigkeitsgrund. Theologischer Anspruch und kanonistische Konsequenz, in: DPM 5 (1998), S. 11 – 37. 81 Johannes Paul II., Apostolisches Schreiben „Familiaris consortio“ (Anm. 9), Überschrift der deutschen Übersetzung vor Nr. 68. 82 Vgl. ebd., Nr. 67. 83 Dies freilich, ohne Gott als Mittel zum Zweck der Leidensvermeidung zu degradieren; vgl. Klaus Baumann, Zum Glück gibt es Gott! Zum christlichen Verständnis guten und rechten Lebens, in: ThGl 92 (2002), S. 1 – 13, hier S. 6. Für den psychotherapeutischen Bereich hat Viktor Frankls Logotherapie, in der des Menschen „Vertrauen auf den Übersinn“ (Viktor E. Frankl, Das Leiden am sinnlosen Leben. Psychotherapie für heute, Freiburg/Basel/Wien 1977,

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den, die seitens der Nupturienten vorliegen müssen, um Ehe als eine intima communitas vitae et amoris coniugalis (GS 48) zu erkennen und mit Leben zu füllen: Zu nennen sind unter anderem Grundvertrauen, Glaube an Versöhnung sowie friedensstiftende Heils- und Glaubensgewissheit. Dem gegenüber stehen die im Verlust Gottes wurzelnden psychischen Mechanismen, die den Menschen als in illusionärem Selbstbewahrungszwang Gefangenen daran hindern, eine von wohlwollender Liebe geprägte Partnerschaft in Gleichberechtigung84, die sich in vertrauensvoller Interaktion verwirklicht, einzugehen und/oder mit Leben zu füllen. Insofern vermag der kirchliche Richter im Rahmen ehevorbereitender Praxis Anregungen zur Freisetzung innovativer Ideen zu geben, damit die Ehewerber zur Bewusstwerdung ihrer selbst ein Stück weit angeleitet sowie zu einer Praxis annehmender Mitmenschlichkeit ermutigt werden, indem negative Schattenseiten85, die auch in Nichtigkeitsverfahren immer wieder begegnen, in den Blick genommen und bearbeitet werden. Konkret bedeutet dies, die Brautpaare zu ermutigen, mittels identifikatorischen Mitfühlens, das Mitfreuen und Mitleiden umfasst86, die reale Möglichkeit eines partnerschaftlichen Miteinanders zu ergreifen. Dies kann gelingen, wenn die S. 96) eine beachtliche Stellung einnimmt, einen solchen Weg mit großem therapeutischen Erfolgen gewiesen (vgl. Baumann, Zum Glück gibt es Gott [Anm. 83], S. 10). 84 So hat Richter aufgewiesen, dass gerade der Verlust Gottes eine entscheidende Ursache dafür ist, dass bestimmte Formen der Liebe als Unterdrückungsmodell vom hierarchischen Machtprinzip bestimmt sind und insofern nichts anderes als das Bestreben darstellen, sich in narzisstischer Weise selbst zu stabilisieren. So erläutert Richter in seiner Monographie (HorstEberhard Richter, Der Gotteskomplex. Die Geburt und die Krise des Glaubens an die Allmacht des Menschen, Gießen 2005, Neuauflage der Ausgabe von 1979) aus psychoanalytischhistorischer Perspektive, dass sich der Mensch nach dem Wegfall eines sein Dasein bestimmenden, vor allem tragenden und behütenden Gottes nicht etwa in eine heilsame Emanzipierung hat befreien können, sondern sich vielmehr in eine angstbesetzte Megalomanie hineinmanövriert hat. 85 Vgl. Horst-Eberhard Richter, Die Krise der Männlichkeit in der unerwachsenen Gesellschaft, Gießen 2006, S. 191 f. Zu nennen sind u. a. die im Verlust eines Sicherheit schenkenden Gottes wurzelnde Angst vor der eigenen Schwäche und der daraus erwachsende Zwang beständiger Leistungssteigerung, Angst vor Strafe und Vernichtung infolge einer ungewissen Gnadenhoffnung und deren Projektion auf andere, Herrschafts- und Machbarkeitsstreben als Kompensation von Existenz- und Verlorenheitsängsten. Richter nennt dies „Überkompensation von Ohnmachtspanik“ (S. 191). 86 Vgl. Richter, Gotteskomplex (Anm. 84), S. 249. Papst Benedikt XVI. nennt diese Haltung „die liebevolle persönliche Zuwendung“: Benedikt XVI., Enzyklika Deus caritas est an die Bischöfe, an die Priester und Diakone, an die gottgeweihten Personen und an alle Christgläubigen über die christliche Liebe. 25. Dezember 2005 (VApSt 171), Bonn 2006, S. 39, Nr. 28b. Vgl. ebd., S. 50, Nr. 34: „Das persönliche, innere Teilnehmen an der Not und am Leid des anderen wird so Teilgabe meiner selbst für ihn: Ich muss dem anderen, damit die Gabe ihn nicht erniedrigt, nicht nur etwas von mir, sondern mich selbst geben, als Person darin anwesend sein.“ Der Papst weiter, ebd., S. 50, Nr. 35: „Dieses rechte Dienen macht den Helfer demütig. Er setzt sich nicht in eine höhere Position dem andern gegenüber, wie armselig dessen Situation im Augenblick auch sein mag. … Wer in der Lage ist zu helfen, erkennt, dass gerade so auch ihm selber geholfen wird und dass es nicht sein Verdienst und seine Größe ist, helfen zu können.“

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Brautleute erkennen, dass sie im jeweils anderen, auch wenn er gelegentlich fremd und unangenehm erscheinen mag, letztlich enthalten sind. Dieses Bewusstsein kann den Nupturienten helfen, in Ich- und Du-Empathie im „Wiederkennen des Eigenen im Anderen“87 eine lebensbejahende und lebensfördernde Orthopraxis, getragen von wohlwollender Mitgeschöpflichkeit, in den Blick zu nehmen und Schritt für Schritt zu verwirklichen. III. Ein Plädoyer für eine wechselseitig bereichernde Kooperation von kirchlicher Ehegerichtsbarkeit und kirchlicher Ehevorbereitung In Eheverfahren ist es eine Selbstverständlichkeit, dass die Parteien sich anlässlich ihrer Befragung ihren ganz persönlichen lebensgeschichtlichen Ereignissen stellen.88 Ziel ist es dabei – ähnlich wie bei der Ehevorbereitung – den wirklichen Willen der jeweiligen Person, bezogen auf Ehe und ihre Sinnziele, zu erschließen. Das geschieht dadurch, dass sowohl im Zuge der gerichtlichen Anhörungen als auch im Rahmen ehevorbereitender Gespräche versucht wird, die individuellen Motive sowie Absichten und Ziele der Partner zu erhellen.89 Damit überhaupt eine Chance besteht, dass dies gelinge, müssen empathische Einstellungen und Befähigungen „grundsätzlich auch das Handeln im rechtlichen Raum, nicht nur, aber besonders auch im Bereich der kirchlichen Ehegerichtsbarkeit, prägen. Nur: Auch hier ist das nicht über gutgemeinte Bücher zu erreichen – die haben wir seit Jahrzehnten in Fülle! –, sondern genauso wie in einer theologisch-humanwissenschaftlich verantworteten Seelsorge allein auf der Ebene persönlich-sozialer Aus- und Fortbildung aller Mitarbeiter, in konkret fallbezogener kognitiv-emotionaler Arbeit und Selbsterfahrung, … und zwar nicht als mehr oder weniger zufälliges privates Hobby, sondern als heute unverzichtbare Schlüsselkompetenz und fach-

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Richter, Die Krise der Männlichkeit (Anm. 85), S. 274. Vgl. Kahler, Mehr als nur Einsichten zur Ehevorbereitung (Anm. 10), S. 165. Hier ist besonders zu denken an die für Ehenichtigkeitsverfahren einschlägigen Fragestellungen, etwa nach der persönlichen Beziehungsgeschichte, nach den Motiven für die Partnerwahl, den Motiven für die Eheschließung, sich daraus ggf. erkennbaren Unsicherheiten, Unklarheiten und /oder Indizien für etwaige Vorbehalte. Es wäre auch zu fragen nach den familiären Prägungen und nach dem Verhalten in Beziehungen. All dies – hier insbesondere der Blick auf die jeweilige Elternehe – sind Fragen, die auch in der Ehevorbereitung einschlägig sein dürften. Vgl. auch Bischöfliches Generalvikariat Münster (Hrsg.), Gott als Wegbegleiter entdecken. Praxishandbuch für Referenten in der Ehevorbereitung, Münster 2009, S. 141 – 147; Prader, Damit Ehe heute gelingen kann (Anm. 17), S. 399 – 402; Eberhard Bäßler, Wünsche eines tiefenpsychologisch orientierten Gutachters an die Beweiserhebung im Nichtigkeitsprozess nach c. 1095 CIC, in: DPM 4 (1998), S. 211 – 236; ders., Welchen Beitrag vermag die Tiefenpsychologie zur Wahrheitsfindung in Ehenichtigkeitsverfahren mit dem Klagegrund incapacitas psychica zu leisten?, in: DPM 5 (1998), S. 39 – 59. 89 Vgl. Stefan Rehrl, Zum Selb-Verständnis des Menschen, in: Hans Paarhammer/FranzMartin Schmölz (Hrsg.), Uni trinoque domino. Karl Berg Bischof im Dienste der Einheit. Eine Festgabe Erzbischof Karl Berg zum 80. Geburtstag. Mit einem Vorwort Geleitwort von Franz Kardinal König, Thaur 1989, S. 31 – 45, hier S. 41. 88

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interne Qualifikation auch von jurisdiktionell und administrativ mit Menschen umgehenden Mitarbeitern.“90

So hat der Hamburger Psychologe Heinrich Tausch nachweisen können, dass „es so etwas wie ein therapeutisches Basisverhalten gibt. Gleich, welche Methode man praktiziert, der andere muss sich angenommen und geachtet fühlen. Man muss sich die Mühe machen, in seine Gedanken einzusteigen, mit ihm zu denken – nicht nur für ihn oder gar über ihn. Und man muss ihm offen und ehrlich begegnen.“91

Was hier als Arbeitsauftrag für das kirchliche Gerichtspersonal beschrieben wird, gilt gleichermaßen für den seelsorgerischen Dienst kirchlicher, psychologisch qualifizierter Ehevorbereitung. Eine solche psychologisch geschulte empathische Haltung ist auch deshalb unabdingbar erforderlich, weil die Brautleute oftmals nicht sofort ohne weiteres bereit sind, sich auf einen salutogenetischen Weg92 der Vergegenwärtigung des in der Vergangenheit angesiedelten eigenen Erlebens, Empfindens, Entscheidens und Handelns einzulassen und die Folgen all dessen in den Blick zu nehmen. An dieser Stelle wäre auch an eine Fortbildung in Biographiearbeit zu denken, die den Kanonisten und Beratern Methoden an die Hand gibt, die Nupturienten zu ermutigen, die eigene Lebensbiographie als sinnstiftend zu erfahren. Mit den oben geschilderten Prinzipien verknüpft, wäre eine solche Arbeit zweifelsfrei bewusstseinsbildend.93 Damit der Erwerb einer solcher Qualifikation, die sich auf der Erkenntnisebene, der Verhaltensebene und der Beziehungsebene verwirklicht94, gelingen kann, ist bereits während des Studiums des kanonischen Rechts neben der obligatorischen qualitativ hochwertigen kanonistischen Ausbildung eine theoretisch fundierte, durch praktische Übungen vertiefte anspruchsvolle Erarbeitung psychologischer Kenntnisse und entsprechender Fähigkeiten in verantwortlich-empathischer Interaktion wünschenswert. 90 Heribert Wahl, Rezension zu Heise, Einführung in eine Theologie der Empathie, in: DPM 10 (2003), S. 313 – 317, hier S. 316 f. Vgl. auch Josef Schwermer, Erkenntnisse der Psychotherapieforschung und ihre Bedeutung für das Seelsorgegespräch, in: Josef Ernst/Stephan Leimgruber (Hrsg.), Surrexit Dominus vere. Die Gegenwart des Auferstanden in seiner Kirche (FS für Erzbischof Dr. Johannes Joachim Degenhardt), Paderborn 1995, S. 483 – 493, hier S. 493: „Die Ausbildung muss theoretisch fundiert sein und praxisnah erfolgen. Selbsterfahrung und Supervision sind wichtig.“ 91 Schwermer, Erkenntnisse der Psychotherapieforschung (Anm. 90), S. 487. 92 Vgl. Christoph Jacobs, Salutogenese. Eine pastoralpsychologische Studie zu seelischer Gesundheit, Ressourcen und Umgang mit Belastung bei Seelsorgern (Studien zur Theologie und Praxis der Caritas und Sozialen Pastoral 19), Würzburg 2000. 93 Vgl. in diesem Zusammenhang zur Biographiearbeit: Regina Rätz-Heinisch/Michaela Köttig, Die Praxis dialogischer Biografiearbeit. Rekonstruktives Fallverstehen und Unterstützung von Selbstverstehensprozessen, in: Ingrid Miethe/Wolfram Fischer/Cornelia Giebeler/Martina Goblirsch/Gerhard Riemann (Hrsg.), Rekonstruktion und Intervention. Interdisziplinäre Beiträge zur rekonstruktiven Sozialarbeitsforschung (Rekonstruktive Forschung in der sozialen Arbeit 4), Opladen 2007, S. 239 – 258. 94 Vgl. Schwermer, Erkenntnisse der Psychotherapieforschung (Anm. 90), S. 487.

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Hier eröffnet sich ein Feld der Kooperation in der Ausbildung bzw. Fortbildung von Kanonisten und pastoralem Personal. Eine solche kann zu einem Miteinander in Unvoreingenommenheit verhelfen und den Studenten des kanonischen Rechts unter anderem den Erwerb fundamentaler kommunikationspsychologischer Qualifikationen ermöglichen. In diesem Zusammenhang ist vor allem an folgende Inhalte zu denken, die in der Ausbildung zu klientenorientierter Beratungsarbeit vermittelt werden:95 „Wahrnehmungskompetenz (Wahrnehmungsfähigkeit, Erlebnisfähigkeit), Fähigkeit, Beziehungen zu gestalten (Variationsfähigkeit im Reagieren auf unterschiedliche Beziehungsangebote; stützendes, konfrontierendes Vorgehen; Fähigkeit zur Identifikation und Abgrenzung; Umgang mit Krisen), Belastungsfähigkeit, Kritikfähigkeit (Aushalten von Spannungen; Ertragen feindseliger Gefühle; Umgang mit verdeckten und kritischen Anspielungen, unterwürfigem-schmeichlerischem Verhalten).“96

Unerlässlicher Ausbildungsbestandteil ist regelmäßige Supervision, die Fähigkeiten der Selbstreflexion und problemlösender Kommunikation vermittelt. Dabei reflektiert der Supervisand interaktiv seine Praxis mit dem Ziel, sich zu entlasten und/ oder zu lernen.97 Selbstverständlich ist eine entsprechende Vertiefung und Festigung des Gelernten in regelmäßigen Fortbildungsmaßnahmen. Auch hier wäre an gemeinsame Lehrveranstaltungen zu denken. IV. Ausblick In diesem Beitrag konnte lediglich in Auszügen angesprochen werden, was Ehe nach Lehre der Kirche wesentlich ist. Wenngleich, wie der Papst hervorhebt, durch eine im Zuge der Ehevorbereitung den Brautleuten bisweilen zugemutete Konfrontation mit den Sinnzielen von Ehe nicht jegliche Ehenichtigkeit infolge Willensmangels oder psychischen Unvermögens ausgeschlossen werden kann, so sollte auf diese 95 Vgl. hierzu vor allem die qualifizierte Hilfestellung von Josef Schwermer, Den Menschen verstehen. Eine Einführung in die Psychologie für seelsorgliche Berufe, Paderborn 1987. 96 Notker Klann, Institutionelle Beratung, ein erfolgreiches Angebot. Von den Beratungsund Therapieschulen zur klientenorientierten Intervention. Feldstudie zur Ergebnisqualität in der Partnerschafts- und Eheberatung, Freiburg i. Br. 2002, S. 25. 97 Vgl. Ren¦ Reichel/Reinhold Rabenstein, Kreativ beraten: Methoden und Strategien für kreative Beratungsarbeit, Coaching & Supervision, Münster 2001, S. 9. Sie benennen ebd. weitere Ziele von Supervision: „Förderung von Einsicht und Transparenz in die eigenen Arbeitsaufgaben und Handlungen, in die Hintergründe der Arbeitsorganisation und Aufgabenstellungen; Erweiterung von Handlungsmöglichkeiten im eigenen Arbeitsfeld, d. h. auch die des eigenen Freiraums und der eigenen (Mit)Gestaltungsmöglichkeiten; Förderung konstruktiver Kommunikation zwischen Menschen, die mit gemeinsamen Aufgaben betraut sind; Verbesserung von Arbeitsqualität und Arbeitszufriedenheit; Reflexion von persönlichen und strukturellen Grenzen (der Kompetenz, der Aufgabenstellung, der persönlichen Möglichkeiten …); Auffinden und Vertreten der eigenen Positionen und Handlungsmöglichkeiten bei Problemen und Konflikten.“

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Weise dennoch Folgendes glücken: Ehe in Bezug zu setzen mit der eigenen Lebenswirklichkeit und dem eigenen Lebensprojekt. Außerdem sollte der Sinnhorizont einer ehelichen Lebensgemeinschaft je individuell in den Blick genommen werden. Schließlich kann folgenden, in der Gegenwart vermehrt begegnenden, in der zeitgenössischen Kanonistik viel diskutierten und jeweils unterschiedlich subsumierten Sachverhalten wirksam begegnet werden: der Frage nach dem fehlenden Mindestwillen zur Ehe98 bzw. derjenigen nach dem mangelnden, ehevernichtenden Mindestwissen über die Ehe99. Als erster Schritt einer Umsetzung könnte die Initiative zur Bildung einer Arbeitsgruppe ergriffen werden, die aus in der Judikatur erfahrenen Kanonisten, aus leitenden Eheberatern, in der Ehevorbereitung tätigen Pastoraltheologen und Gemeindeseelsorgern besteht. Diese Gruppe müsste zunächst all jene Vorurteile beseitigen, die bislang eine konstruktive Zusammenarbeit behindert haben. Eine Prophylaxe zur Vermeidung der Gefährdung ehelichen Miteinanders müsste daraufhin gemeinschaftlich in den Blick genommen und im Zuge einer wechselseitig aufklärenden Arbeit angegangen werden.100 Papst Benedikt XVI. hat in seinen Unterweisungen zu dem, was zwischenmenschlicher Liebe wesentlich eignet, zuletzt in seiner Ansprache vor der Rota Romana aus dem Jahre 2011, den aufgeschlossenen Hörer befreit zur Bewusstwerdung seiner selbst wie seiner Mitmenschen und ermutigt zu einer Praxis annehmender Mitmenschlichkeit. Dies gilt auch und gerade für den intimen Bereich ehelichen Miteinanders. Es ist dem Papst zu danken, dass er auch das kirchliche Gerichtspersonal in die Verantwortung gerufen hat, nicht nur nach dem Scheitern einer Ehe Klärungen zu bewirken, sondern im Vorfeld, gleichsam vorbeugend, die Wahrheit über das Wesen der Ehe und ihre anthropologischen Bedingungen zur Sprache zu bringen und auf Grundlage des reichen richterlichen Erfahrungsschatzes dabei zu helfen, Fallstricke rechtzeitig zu erkennen und Vorkehrungen zu treffen. Damit könnte sich sowohl die kirchliche Ehejudikatur als auch a fortiori eine von erfahrenen Richtern unterstützte kirchliche Ehevorbereitungspastoral als die positiven Kräfte des Einzelnen stärkender101 salutongenetischer Prozess102 erweisen. 98

Vgl. Reinhardt, Konsensanforderungen (Anm. 63), S. 69 – 87; Hermann Kahler, Absentia consensus. Der fehlende Mindestwille zur Ehe als Ehenichtigkeitsgrund (AIC 14), Frankfurt a.M./Berlin/Bern/Bruxelles/New York/Wien 1999; ders., Der fehlende Mindestwille zur Ehe als Ehenichtigkeitsgrund, in: DPM 8/I (2001), S. 223 – 241; Georg Bier, Rezension zu Kahler, Absentia consensus, in: AfkKR 168 (1999), S. 630 – 636; Andreas Weiß, Rezension zu Kahler, Absentia consensus, in: DPM 9 (2002), S. 512 – 516. 99 Vgl. Karl-Theodor Geringer, Das Mindestwissen über das Wesen der Ehe, in: FS Schmitz, S. 227 – 249; Margit Weber, Muss ich wissen, was ich will? Der willensbestimmende Irrtum und das Mindestwissen zur Ehe, in: DPM 12 (2005), S. 69 – 84. 100 Für diesen Hinweis danke ich Herrn Dr. Eberhard Bäßler, der langjährig als Gutachter u. a. für das Konsistorium des Erzbistums Berlin, als Ehe-, Familien- und Lebensberater sowie in der Eheberaterausbildung tätig war. 101 Vgl. Eckhard Schiffer, Wie Gesundheit entsteht. Salutogenese. Schatzsuche statt Fehlerfahndung, Weinheim/Basel 2001.

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Auf diese Weise kann der in der Rechtsprechung wirkende Kanonist, mit theologisch verantwortetem und pastoralpsychologisch geschultem Blick den erforderlichen Raum „für die innere und äußere Entfaltung des geistlichen Lebens“103 schaffend, Hilfen in der Ehevorbereitungspastoral anbieten, um „den kirchlichen pastoralen Sendungsauftrag ,zum Seelenheile allerÐ zu erfüllen“104.

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Vgl. hierzu grundsätzlich Hans Wydler (Hrsg.), Salutogenese und Kohärenzgefühl. Grundlagen, Empirie und Praxis eines gesundheitswissenschaftlichen Konzepts, Weinheim 4 2010; Arnulf Möller, Spiritualität und Religiösität. Sinnfragen als Thema der Medizinpsychologie, in: Hans Förstl (Hrsg.), Theory of Mind. Neurobiologie und Psychologie sozialen Verhaltens, Heidelberg 2007, S. 163 – 169. Hinsichtlich einer Applikation auf pastoralpsychologisches Wirken vgl. die umfassende Untersuchung von Jacobs, Salutogenese (Anm. 92). 103 Hans Paarhammer/Gerhard Fahrnberger, Pfarrei und Pfarrer im neuen CIC. Rechtliche Ordnung der Seelsorge, der Verkündigung des Wortes Gottes und der Feier der Sakramente in der Christengemeinde, Wien/München 1983, S. 15. 104 Paarhammer, Kirchenrecht (Anm. 1), S. 19.

Krankenseelsorge in konfessionsverbindenden Ehen Eine ekklesiologisch-kirchenrechtliche Betrachtung Von Myriam Wijlens Diese Studie1 betrifft die Seelsorge für konfessionsverbindende Paare, wenn diese mit Krankheit konfrontiert werden.2 Zwei Gründe sind Anlass zu diesem Thema. Erstens: vor mehr als 40 Jahren, am 1. Oktober 1970, trat das von Papst Paul VI. veröffentlichte Apostolische Schreiben „Matrimonia mixta“ in Kraft.3 Das Apostolische Schreiben war das Ergebnis vieler neuer Erkenntnisse, die das Zweite Vatikanische Konzil ans Licht gebracht hatte. Vor allem die Einsichten aus den Bereichen der Ekklesiologie, Religionsfreiheit, Ökumene und der Ehetheologie hatten ein Umdenken dessen gefordert, was in der Welt des kanonischen Rechts als „Mischehen“ bezeichnet wird. In den vergangenen 50 Jahren hat die Zahl der Ehen, in denen die Partner ihrer Kirche bzw. Glaubensgemeinschaft treu bleiben, zugenommen. Während in diesen Jahren die Literatur sich zuerst mit der Frage von Taufe und Erziehung der Kinder4 sowie mit der Form5 und der liturgischen Gestaltung der Eheschließung beschäftigte, 1

Diese Studie geht auf ein Seminar zurück, das auf der Jahrestagung der Canon Law Society of America (CLSA) in Buffalo, NY, 2010 gehalten wurde, und auf den entsprechenden Aufsatz von Myriam Wijlens, Interchurch Marriages and Pastoral Care in Sickness: A Canonical Consideration, in: CLSA Proceedings 72 (2010), S. 249 – 266. Die hier nun vorliegende Studie ist zum Teil eine Übersetzung mit Ergänzungen sowohl hinsichtlich des Inhalts als auch der Literatur. Ein Dank gilt CLSA Exekutiv-Koordinatorin, Dr. Sharon A. Euart, für die Zustimmung, die vorherige Studie als Grundlage für die hiesige verwenden zu dürfen, und Frau Katja Wöhle aus Erfurt für die Übersetzung ins Deutsche. 2 Ursprünglich lautete der Arbeitstitel dieser Studie „Mischehen und Seelsorge in Krankheit und Tod“. Bald wurde jedoch klar, dass der Begriff „konfessionsverbindende Ehen“ den Inhalt dieser Studie besser zum Ausdruck bringt, da es hier vor allem um Ehen gehen soll, in denen beide Partner bewusst Gemeinschaft in Christus leben bzw. in der Kirche des Partners aktiv sind und gleichzeitig in ihrer eigenen Kirche beheimatet bleiben. Überlegungen zur Seelsorge in Todesfällen konnten wegen des Umfangs der Studie nicht aufgegriffen werden. 3 Paul VI., Apostolisches Schreiben Matrimonia mixta, in: AAS 62 (1970), S. 256 – 263, dt. Übersetzung in: NKD 26 (1970). 4 Siehe z. B. die Beiträge in Ren¦ BeaupÀre u. a. (Hrsg.), Die Mischehe in ökumenischer Sicht. Beiträge zu einem Gespräch mit dem Weltkirchenrat, Freiburg i. Br. 1968. 5 Bereits 1966 wurde beschlossen, dass die Form für die Eheschließung bei einem Katholiken, egal ob ein orientalischer oder lateinischer, mit nichtkatholischen orientalischen

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konzentriert sich die Frage seit einigen Jahren auf den Empfang der Eucharistie für den getauften nichtkatholischen Partner, und zwar zunächst der Empfang während der Hochzeit selbst und später auch während der Ehe.6 Bei diesen Diskussionen spielte zunehmend die lehramtliche Aussage – dass die sakramentale Ehe eine Art Hauskirche sei (LG 11) – eine Rolle.7 Theologen überlegten vor dem Hintergrund der „Hauskirche“, wie auf der einen Seite die Ehe als ein Zeichen des Bundes zwischen Christus und der Kirche und auf der anderen Seite die Eucharistie als ein Symbol für diese Einheit zusammen verstanden werden können und was das für den Eucharistieempfang beider Partner bedeutet.8 Dies war und ist insbesondere für diejenigen wichtig, die in einer Mischehe (was man als eine „konfessionsverbindende Ehe“ bezeichnen kann) leben. Denn diese Paare erleben in ihrer Ehe gleichzeitig sowohl die Gemeinschaft untereinander (communio) als auch die Risse in der Einheit der Kirche Christi.9

Gläubigen rechtmäßig ist; für die Gültigkeit genügt die Anwesenheit eines geistlichen Amtsträgers, solange die übrigen Voraussetzungen des Gesetzes beachtet werden. Vgl. Kongregation für die Orientalischen Kirchen, Crescens Matrimonium, in: AAS 59 (1967), S. 165 – 166, dt. Übersetzung in: NKD 28 (1971), S. 106 – 133. Dies wurde später in c. 1127 §1 CIC/ 1983 bzw. c. 835/CCEO übernommen. 6 Während der Synode über die Familie betonte der damalige Präsident des Päpstlichen Rates für die Einheit der Christen Kardinal Johannes Willebrands, dass in Bezug auf Eucharistiegemeinschaft die Einheit und die Unauflöslichkeit der Ehe wichtiger seien als die Kriterien, die für die Zulassung zur Eucharistie für getaufte Nichtkatholiken sonst genannt werden. Vgl. Johannes Willebrands, Mixed Marriages and their Family Life: Cardinal WillebrandsÏs Address to the Synod of Bishops, October 1980, in: One in Christ 23 (1987), S. 78 – 81. 7 LG 11 schreibt: „In solch einer Art Hauskirche sollen die Eltern durch Wort und Beispiel für ihre Kinder die ersten Glaubensverkünder sein und die einem jeden eigene Berufung fördern, die heilige aber mit besonderer Sorgfalt.“ (Übersetzung aus Peter Hünermann [Hrsg.], Die Dokumente des Zweiten Vatikanischen Konzils, Freiburg i. Br. 2004.) Für einen Überblick über die Literatur zu diesem Thema (bis 2001) siehe Florenz Caffrey Bourg, Domestic Church: A Survey of the Literature, in: Intams Review 7 (2001), S. 182 – 191. 8 Eine der aufschlussreichsten Studien stammt von dem systematischen Theologen Peter Neuner, Ein katholischer Vorschlag zur Eucharistiegemeinschaft, in: StdZ 211 (1993), S. 443 – 450 und Georg Hintzen/ders., Eucharistiegemeinschaft für konfessionsverschiedene Ehen?, in: StdZ 211(1993), S. 831 – 840. Im Frühjahr 2010 wurde an der Universität Leuven eine internationale Konferenz zum Thema „Hauskirche“ (Domestic Church) gehalten. Der Tagungsband wird veröffentlicht als: Thomas Knieps-Port le Roi/Gerard Mannion/Peter De Mey (Hrsg.), The Household of God and Local Households. Revisiting the Domestic Church (Leuven: Peeters, voraussichtlich 2012). 9 Ein beeindruckendes Dokument zur Eucharistiegemeinschaft für Menschen in einer konfessionsverbindenden Ehe veröffentlichte die Catholic BishopsÏ Conferences of England & Wales, Ireland and Scotland, One Bread, One Body: A Teaching Document on the Eucharist in the life of the Church, and the Establishment of General Norms on Sacramental Sharing, London/Dublin 1998. Eine Beschreibung der verschiedenen Normen für Eucharistiegemeinschaft vor allem im Hinblick auf Mischehen bietet: Bernhard Prussak, The Ecumenical Household as Domestic Church? Ecclesial Threat or Pastoral Challenge and even Resource?, in: Knieps-Port le Roi/Mannion/De Mey (Hrsg.), The Household of God (Anm. 8).

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Liest man die Literatur, so könnte man den Eindruck gewinnen, dass ein konfessionsverschiedenes Paar vor allem eine Familie mit aufwachsenden Kindern ist. 40 Jahre nach „Matrimonia mixta“ liegt die Vermutung nahe, dass diese Ehepaare auf Grund ihres Alters zunehmend mit schwerer Krankheit und Tod konfrontiert werden. Es ist Aufgabe der Kirchen, den Menschen auch in dieser Phase des Lebens seelsorgerlich zur Seite zu stehen. Das ist der zweite Anlass für dieses Thema. Seit geraumer Zeit wird zwischen einer Mischehe und einer konfessionsverbindenden Ehe differenziert: Während mit dem Begriff „Mischehe“ (Matrimonia mixta) nur das Faktum der verschiedenen Konfessionen zwischen den Ehepartnern zum Ausdruck gebracht wird, umfassen „konfessionsverbindende Ehen“ Ehepartner, „die aus zwei verschiedenen kirchlichen Traditionen kommen. […] Beide behalten ihre eigene Kirchenzugehörigkeit, aber es ist ihnen ein zentrales Anliegen, soviel, wie ihnen möglich ist, an dem Leben, dem Gottesdienst und der Spiritualität der Kirchengemeinde des Partners teilzunehmen“10. Die konkrete Frage dieser Studie betrifft daher den kanonischen Aspekt der Seelsorge in Bezug auf Paare (und ihre Familien), die nicht nur in einer Mischehe, sondern in einer sogenannten konfessionsverbindenden Ehe leben und die mit Krankheiten konfrontiert werden. Der Schwerpunkt dieser Studie liegt dabei ausschließlich auf dem lateinischen Ritus der römisch-katholischen Kirche sowie auf den getauften Nichtkatholiken, die evangelische Christen sind. Im Laufe dieser Studie stellte sich heraus, dass es unzureichend sein würde, sich nur auf c. 844 CIC/1983, der den Empfang von einigen Sakramenten im ökumenischen Kontext regelt, zu konzentrieren. Die Materie ist komplexer und vielfältiger, da mehrere theologische und nichttheologische Themen – die sich im Laufe der Jahre entwickelten – berücksichtigt werden müssten. Da eine Studie, die alle Aspekte umfassend bedenkt und aufgreift, den Rahmen eines Aufsatzes sprengen würde, wird hier nur auf die wichtigsten Themen, die für die Behandlung dieses Themas notwendig sind, eingegangen. Die daraus resultierende Auflistung der verschiedenen As10 Martin Reardon u. a., Konfessionsverbindende Familien und die Einheit der Christen, in: Ökumenische Rundschau 54 (2005), S. 498 – 513, hier S. 499. Dies ist das sogenannte „Rom Papier“, das von Vertretern der verschiedenen Vereinigungen und Netzwerke von konfessionsverbindenden Ehen in verschiedenen Ländern auf einer Tagung in Rom 2003 verabschiedet wurde. Hinsichtlich der konfessionsverbindenden Familie beinhaltet es ebenfalls, dass beide Eltern sich aktiv an der religiösen Erziehung ihrer Kinder beteiligen. Seit Jahren treffen sich diese Paare in Vereinen von konfessionsverbindenden Ehen insbesondere in Frankreich, England und Deutschland. Sie organisieren Tagungen, um sich auszutauschen und ihre Situation zu reflektieren. Sie veröffentlichen zum Beispiel Newsletters. Theologen und Bischöfe nehmen regelmäßig an den Treffen teil. In Frankreich z. B. hat sich Ren¦ BeaupÀre stark engagiert. Für weitere Literatur siehe z. B.: Ecumenical Office Anglican Church of Canada/Ecumenical Commission/CCCB (Hrsg.), Pastoral Guidelines for Interchurch Marriages between Anglicans and Roman Catholics in Canada, Ottawa 1987; George Kilcourse, Double Belonging: Interchurch Families and Christian Unity, Mahwah, NJ 1992; John C. Bush/Patrick R. Cooney, Interchurch Families: Resources for Ecumenical Hope. Catholic Reformed Dialogue in the United States, Louisville, KY 2002.

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pekte ist wie eine Liste von Zutaten für ein Gericht: Es gibt keine Priorität unter den verschiedenen Zutaten. Denn nur gemeinsam führen sie zu einer edlen Speise, obwohl manche Zutaten (auch in einer bestimmten Situation) wichtiger sind als andere. Diese Studie ist somit ein erster Beitrag für eine sicherlich später notwendige umfassende Studie. I. Die Krankenseelsorge als solche hat sich verändert Im Laufe der Jahre hat sich der Charakter der Krankenseelsorge enorm verändert. In den vergangenen 50 Jahren änderte sich die Seelsorge von einer überwiegenden Sakramentenseelsorge – in der der Schwerpunkt auf dem Spenden des Sakramentes, d. h. auf dem gültigen Empfang lag – zu einer weithin diakonischen Seelsorge. Was ist damit gemeint? Unabhängig vom Wandel vom Sakrament der Letzten Ölung zum Sakrament der Krankensalbung – ein Thema, das im Folgenden noch angesprochen wird –, konzentrierte sich die Krankenseelsorge vor allem auf die Sakramentenspendung, und zwar nicht nur auf die Letzte Ölung, sondern auch auf die Buße und das Viaticum. Diese Akzentuierung fand nicht nur in Krankenhäusern statt, sondern wurde auch in den Familien zu Hause praktiziert. Mittlerweile erfuhr das Seelsorgekonzept eine Akzentverschiebung, denn nunmehr stehen überwiegend die Begleitung, das Zuhören und das Reden über Ängste, Befürchtungen und Fragen mit dem Kranken im Vordergrund. Innerhalb dieser Form der Seelsorge kann es durchaus zum Beten kommen; allerdings hat das Feiern von anderen Ritualen und besonders von anderen Sakramenten abgenommen. Letzteres, so Liturgen11, hat auch mit der Tatsache zu tun, dass viele Kranke zunehmend unwissend oder unvertraut mit den bestehenden Ritualen sind – insbesondere mit den Sakramenten –, die die Kirche bei Krankheit und Tod feiern kann. Dies bedeutet auch, dass viele Menschen einfach nicht danach fragen.12 Diese Veränderung im Schwerpunkt der Seelsorge bedeutet eine Änderung der Adressaten: Während die Feier des Sakramentes in erster Linie, ja fast ausschließlich, auf Katholiken ausgerichtet wurde, kommen nun mit einem breiteren Verständnis von Krankenseelsorge – die insbesondere durch eine (Gesprächs-)Begleitung gekennzeichnet ist – alle Menschen mit (schwerer) Krankheit, unabhängig von ihrer religiösen Zugehörigkeit, ins Bild. Außerdem bedeutet diese Veränderung, dass der Dienst an den Kranken professionalisiert wurde und Kurse und Zertifikate ange-

11 Siehe den sehr interessanten Aufsatz von dem deutschen Liturgen Stefan Böntert, Heilssorge in Krankheit als Paradigma liturgischen Handelns. Überlegungen zur Gottesdienstkultur im Schnittfeld von Theologie, Medizin und Ritual, in: Heiliger Dienst 62 (2008), S. 224 – 244. Böntert verweist auch auf andere Liturgen. 12 Auch in der heutigen Zeit gibt es kaum Katechese in Bezug auf Krankenseelsorge und Seelsorge bei Tod. Dies ist deswegen so bemerkenswert, da jede Person in ihrem Leben damit konfrontiert wird.

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boten werden. Es impliziert auch, dass Laien als Krankenseelsorger13 in diesem Dienst tätig sind und dass, da es eine Änderung in der Ausrichtung der Seelsorge gegeben hat, die Frage immer wieder gestellt wird, ob Laien die Krankensalbung spenden können.14 Schließlich ist die Seelsorge inzwischen in vielen Krankenhäusern auf Grund der jeweiligen internen Organisationsstrukturen zunehmend ökumenisch geprägt.15 Die Veränderung zu einer diakonischen Seelsorge wirft einige Fragen auf, besonders eine zutiefst theologische Frage: Was ist die Identität und Funktion der Liturgie in der Krankenseelsorge, wenn diese nicht als eine „zusätzliche Dekoration“ enden soll, auf die man auch leicht verzichten könnte? Die pastoralen Gespräche wurden so stark professionalisiert, dass liturgische Feiern kaum noch Interesse wecken. In einem ökumenischen Kontext muss auch diese Frage gestellt werden: Welches Verständnis von Liturgie zeigt sich, wenn Krankenseelsorge, die nicht nur auf Katholiken, sondern auch auf getaufte Nichtkatholiken bezogen ist, sich vor allem auf pastorale Gespräche beschränkt und liturgische Feiern nur selten anbietet bzw. feiert? Wenn Liturgie sowohl Quelle und Höhepunkt des kirchlichen Handelns als auch Gegenwart und Zeugnis des österlichen Geheimnisses ist – oder um es anders zu sagen, eine Dimension der göttlichen Heilstat und des Trostes – muss dann Liturgie nicht auch einen Platz in der Krankenseelsorge haben? Was bedeutet das dann für die Seelsorge an denjenigen, die getauft sind, aber nicht vollständig der katholischen Kirche angehören? Vor diesem Hintergrund erhält die Frage nach dem Recht des Sakramentenempfangs (wie es c. 213 ausdrückt) eine weitere Bedeutung, denn dann handelt es sich nicht nur um Rechte, die sich aus der Taufe des Einzelnen ergeben, sondern das Selbstverständnis der katholischen Kirche wird im Hinblick auf liturgische Feiern in der Krankenseelsorge ebenfalls berührt.16 Das Recht der Getauften die Sakramente zu empfangen – ein Recht, das als ius divinum qualifiziert wird und somit für alle 13 Die Bischofskonferenz der USA verwendet für diese Personen den Begriff „lay ecclesial ministers“; diese Laien sind Seelsorger (ministers), die von der zuständigen kirchlichen Autorität beauftragt werden (ecclesial), um öffentlich – im Sinne von „amtlich“ – eine Funktion oder eine Aufgabe in der Ortskirche auszuüben. United States Conference of Catholic Bishops, Co-Workers in the Vineyard if the Lord: A Resource for Guiding the Development of Lay Ecclesial Ministry, Washington DC 2006, S. 5. 14 Siehe Susan K. Wood, Anointing of the Sick: Theological Issues, in: CLSA Proceedings 63 (2001), S. 233 – 254. 15 In vielen Krankenhäusern gestaltet sich die Krankenseelsorge in einem Team von Seelsorgern, die für alle Patienten unabhängig von ihrer religiösen Zugehörigkeit zuständig sind. Ein Seelsorger ist verantwortlich für eine Abteilung, ein anderer für eine andere. Dies ermöglicht es den Seelsorgern, auch enger mit dem Krankenhauspersonal selbst zusammen zu arbeiten. Vor allem in Großkrankenhäusern ist diese Arbeitsweise zunehmend der Fall. Sollte ein Patient ausdrücklich einem Seelsorger seiner eigenen Konfession begegnen wollen, so wird dies selbstverständlich respektiert. 16 C. 213 sagt: „Die Gläubigen haben das Recht, aus den geistlichen Gütern der Kirche, insbesondere dem Wort Gottes und den Sakramenten, Hilfe von den geistlichen Hirten zu empfangen.“

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Getauften gilt17 – beinhaltet für die Kirche eine Pflicht, die Sakramente zu spenden. Obwohl diese Pflicht der Kirche nicht uneingeschränkt ist, müssen dennoch die Kriterien für den Empfang theologisch begründet sein. Zu den Kriterien gehören z. B. das ekklesiologische Thema der Zugehörigkeit zur Kirche, die Begriffe communio perfecta und non perfecta und die daraus folgenden Bedingungen für den Einzelnen, ebenso wie die Verpflichtungen der Kirche bezüglich der vollen Teilnahme an der Liturgie als Feier der Kirche. Interessanterweise hat die Verbindung zwischen der Zugehörigkeit zur Kirche und der Kirche als Spenderin der Gnade durch liturgische Feiern immer eine Rolle in der Feier und der Spendung der Krankensalbung gespielt, vor allem zu der Zeit, als sie als Letzte Ölung bekannt war. Weil dieser Punkt Aufschluss über den historischen Hintergrund von c. 844 CIC /1983 gibt, wird dies zuerst näher ausgeführt. II. Die Entwicklung des Sakraments der Letzten Ölung Das Zweite Vatikanische Konzil hat das Sakrament der Letzten Ölung durch das Sakrament der Krankensalbung „ersetzt“. Diese Veränderung bezog sich nicht nur auf eine neue Bezeichnung, sondern orientierte sich vor allem an dem dem Sakrament ursprünglich zugrundeliegenden biblischen Text: „Ist einer von euch bedrückt? Dann soll er beten. Ist einer fröhlich? Dann soll er ein Loblied singen. Ist einer von euch krank? Dann rufe er die Ältesten der Gemeinde zu sich; sie sollen Gebete über ihn sprechen und ihn im Namen des Herrn mit Öl salben. Das gläubige Gebet wird den Kranken retten und der Herr wird ihn aufrichten; wenn er Sünden begangen hat, werden sie ihm vergeben. Darum bekennt einander eure Sünden und betet füreinander, damit ihr geheiligt werdet.“18 (Jak 5,13 – 16)

Das frühe Christentum konzentrierte sich primär auf die Heilung von Krankheit, die durch die Salbung mit Öl und mit einem Gebet begleitet wurde, und nur subsidiär – und wieder im Zusammenhang mit Krankheit – auf die Vergebung der Sünden. Vor allem im lateinischen Ritus wurde im Laufe der Jahrhunderte das Sakrament zunehmend in Verbindung mit der Buße gesehen: „wenn er Sünden begangen hat, werden sie ihm vergeben“. Wichtig für diese Entwicklung war auch ein Zitat aus dem Markusevangelium: „Sie trieben viele Dämonen aus und salbten viele Kranke mit Öl und heilten sie“ (Mk 6,13). Obwohl dieser Text nicht über die Vergebung der Sünden

17 Siehe die grundlegende Studie von Eugenio Corecco, der in der Kommission über den endgültigen Entwurf des Codex aus dem Jahre 1983 mit Papst Johannes Paul II. arbeitete. „Der Katalog der Pflichten und Rechte der Gläubigen im CIC“, in: Andr¦ Gabriels/Heinrich J.F. Reinhardt (Hrsg.), Ministerium iustitiae (FS Heribert Heinemann), Essen 1985, S. 179 – 202, hier S. 188. 18 Die Bibel. Altes und Neues Testament. Einheitsübersetzung, hrsg. im Auftrag der Bischöfe Deutschlands, Österreich, der Schweiz u. a., Freiburg i. Br. 1980. Nachfolgende Bibelzitate werden ebenfalls aus dieser Ausgabe zitiert.

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spricht, vereinigt dieser Krankheit und Besessenheit, d. h. Krankheit des Körpers und Krankheit der Seele. Die Salbung wiederum wurde mit Buße und Wegzehrung verbunden. Da das Büßen oft sehr schwierig war, wurde dies bis ans Ende des Lebens hinausgezögert19, was aufgrund der engen Verbindung von Buße und Salbung zur Folge hatte, dass das Sakrament der Salbung ebenfalls bis ans Lebensende „vertagt“ wurde. Darüber hinaus wurden die liturgischen Texte für die Salbung mit Öl zusammen mit denen für die Buße und die Letzte Ölung in einem liturgischen Buch veröffentlicht. Desweiteren gab es zum einen eine verstärkte Konzentration auf die Wirkung des Sakraments zur Vergebung der Sünden und zum anderen verringerte sich das Bewusstsein für die Hoffnung auf körperliche Heilung. Die scholastische Theologie reflektierte deswegen ein Sakrament, das Ende des 12. Jahrhunderts als „Letzte Ölung“ bekannt war und sterbenden Menschen gespendet wurde. Die scholastischen Überlegungen besagten auch, dass die Salbung endgültig die Sünden des Sterbenden wegwaschen und diese Person für das ewige Leben vorbereiten würde. Am Ende des Mittelalters hat sich somit die Reihenfolge der „Buße – Salbung – Wegzehrung“ zu „Buße – Wegzehrung – Salbung“ geändert.20 Das Konzil von Trient sah die Salbung als „den Höhepunkt nicht nur der Buße, sondern des ganzen christlichen Lebens, das eine kontinuierliche Buße sein soll“21, an. Das Ritual der Krankensalbung wurde Teil der Sterbeliturgie und „Letzte Ölung“ genannt. Daraus folgte, dass der Sterbende der Empfänger des Sakraments wurde und die Wirkung des Sakraments die Vergebung der Sünden und die Vorbereitung für das Endgericht war. Der eigentliche Gedanke – die Heilung des Kranken – verlor seine Bedeutung. Letzte Ölung und Buße, oder genauer die endgültige Vergebung der Sünden, wurden zunehmend betont und als für das Heil notwendig betrachtet. Mit einem solchen Verständnis war es nur eine Frage 19

Ab dem 8. Jahrhundert werden die liturgischen Bücher von der Feier der Krankensalbung mit denen der Salbung, der Beichte und der damit verbundenen Buße des Sterbenden (für den Fall, dass jemand weiterlebt) verbunden. Es war dem „Gesalbten“ später für den Rest seines Lebens nicht erlaubt zu tanzen, Fleisch zu essen und sexuelle Beziehungen zu haben. (Aus diesem Grund wurde manchmal der Gatte/die Gattin gefragt, ob er/sie einverstanden sei, dass das Sakrament gespendet wurde.) Es war in der Tat leichter, sich nach der Salbung nicht zu erholen. Die Hochscholastik änderte dies nicht, sondern reflektierte es und versuchte, eine theologische Begründung zu finden. Für einen historischen Überblick siehe z. B. Theodor Schneider, Zeichen der Nähe Gottes. Grundriß der Sakramententheologie, Mainz 61992; S. 220 – 229; siehe ebenfalls Herbert Vorgrimmler, Sakramententheologie, Düsseldorf 1992, S. 252 – 260. 20 Susan Wood schrieb 2001, dass die Verbindung zwischen dem Sakrament der Krankensalbung und der Buße, sowie die Verbindung der Kranken mit einer „Letzten Ölung“ der Sterbenden auch durch die Praxis der öffentlichen Buße in der patristischen Zeit gestärkt wurde. Die Strenge der öffentlichen Buße führte dazu, dass in der Praxis die Buße auf die Todesstunde verschoben wurde. Die Salbung wurde ebenfalls zurückgestellt und galt in der Tat als „Letzte Ölung“. Die Geschichte der Krankensalbung, die am Totenbett stattfand, ist stark mit der Geschichte der Buße verbunden. Susan Wood, Anointing of the Sick (Anm. 14), S. 233 – 234. 21 DS 1694.

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der Zeit, bis man sich die Frage stellte, ob getaufte Nichtkatholiken diese Sakramente empfangen können bzw. – und dies wurde für die katholische Kirche zu einer „Gewissensfrage“ – welche Verpflichtung zur Sakramentenspendung die Kirche gegenüber Getauften, die sich in Todesgefahr befinden, aber nicht katholisch sind, hat, wenn doch das Sakrament wegen des Heils notwendig ist. Wie bereits erwähnt, wurde daraus eine ekklesiologische Frage. III. Die ekklesiologischen Aspekte der Sakramentenspendung Bis zum Vorabend des Zweiten Vatikanischen Konzils lehrte die katholische Kirche, dass die Kirche Christi ausschließlich mit der katholischen Kirche identisch sei: Ecclesia Christi est Ecclesia Catholica. Auf Grund ihrer Taufe, durch die sie in Christus eingegliedert sind, fielen deswegen alle Getauften unter die Jurisdiktion der katholischen Kirche und hatten somit alle Gesetze (einschließlich der rein kirchlichen Gesetze) zu befolgen.22 Canon 87 CIC/1917 stand im Einklang mit dieser Lehre: Durch die Taufe wurde die Person in die Kirche Christi eingegliedert, und daraus folgte das Grundrecht, die Sakramente (c. 682 CIC/1917) zu erhalten. Dementsprechend bezogen sich die kanonischen Normen auf alle Getauften, sofern nicht eine Ausnahme, wie z. B. bei der Einhaltung der Eheschließungsform, gemacht wurde.23 Die Ausübung des Grundrechts auf Sakramentenempfang wurde für getaufte Nichtkatholiken, die als Häretiker oder Schismatiker bezeichnet wurden, insofern eingeschränkt, als c. 731 § 2 CIC/ 1917 festlegte, dass es verboten ist (vetitum est), Häretiker oder Schismatiker zu den Sakramenten der Kirche zuzulassen, auch wenn sie im guten Glauben irren und danach fragen – es sei denn, sie haben sich von ihren Fehlern losgesagt und sich mit der Kirche versöhnt.24 Doch zeigen die Fontes des Codex von 1917 und die wichtigsten vorkonziliaren kanonischen und moraltheologischen Handbücher auf, dass es offiziell genehmigte 22 Das Konzil von Trient diskutiert in der siebten Sitzung die Einhaltung der Gesetze im Zusammenhang mit der Taufe. Canon 7 (DS 1620): „Si quis dixerit, baptizatos per baptismum ipsum solius tantum fidei debitores fieri, non autem universae legis Christi servandae: anathema sit“ und Canon 8 (DS 1621): „Si quis dixerit, baptizatos liberos esse ab omnibus sanctae Ecclesiae praeceptis, quae vel scripta vel tradita sunt, ita ut ea observare non teneantur, nisi se sua sponte illis summittere voluerint: anathema sit“ und Canon 14 (DS 1627): „Si quis dixerit, huiusmodi parvulos baptizatos, cum adoleverint, interrogandos esse, an ratum habere velint, quod patrini eorum nomine, dum baptizarentur, pollitici sunt, et ubi se nolle responderint, suo esse arbitrio relinquendos nec alia interim poena ad christianam vitam cogendos, nisi ut ab eucharistiae aliorumque sacramentorum perceptione arceantur, donec respiscant: anathema sit.“ 23 Ein Beispiel für eine Ausnahme waren das Dekret „Tametsi“ des Trienter Konzils (DS 1813 – 1816) zur Einführung der Eheschließungsform für alle Getauften und das Dekret aus dem Jahre 1907 „Ne temere“, welches bestimmte, dass die Form nur dann eingehalten werden muss, wenn eine Partei katholisch ist. 24 C. 731 § 2 CIC/1917: „Vetitum est sacramenta Ecclesiae ministrare haereticis aut schismaticis, etiam bona fide errantibus eaque petentibus, nisi prius, erroribus reiectis, Ecclesiae reconciliati fuerint.“

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Ausnahmen von der Regel gegeben hat. Dies belegt die Antwort auf das folgende Problem, dass dem Hl. Stuhl vorlag: Ein Häretiker oder Schismatiker lag im Sterben und bat einen katholischen Priester um die Sakramente der Buße und der Letzten Ölung. Was kann getan werden? Die Fontes zeigen, dass das Heilige Offizium im 19. und frühen 20. Jahrhundert auf vier derartige Fragen geantwortet und deswegen folgende Überlegungen angestellt hat: Wie muss die Kirche handeln, wenn man bedenkt, dass diese Sakramente Mittel des Heils sind? Muss der Empfang der Sakramente immer die Umkehr von Irrtümern voraussetzen? Das Heilige Offizium erklärte, dass es in Todesgefahr zulässig sei, diese Sakramente zu spenden, weil sie genau wie die Taufe für das ewige Heil notwendig seien. Die getauften Nichtkatholiken mussten allerdings irgendein Zeichen geben, welches den Seelsorger vermuten lassen konnte, dass sie der heiligen katholischen Kirche und dem wahren Glauben anhängen. Zudem musste der Seelsorger darauf achten, dass sich kein öffentliches Ärgernis dadurch ereignete.25 Interessant sind die Diskussionen in der Literatur, die nach der Art der Intention des Sterbenden fragen. Die allgemein akzeptierte Antwort war, dass man keine Intention im Hinblick auf ein bestimmtes Sakrament haben muss. Jedoch war eine wohlüberlegte und ausreichende Intention im Allgemeinen erforderlich. Weiterhin waren sich die Theologen einig, dass niemand eine Intention für etwas entwickeln kann, das er nicht kennt. Demnach war es ausreichend, wenn Getaufte das zu tun intendierten, was Christus der Herr von ihnen gewollt hätte. Wenn Protestanten bewusstlos waren und ein gutes Leben geführt hatten, konnte vermutet werden, dass sie eine solche Absicht hatten, und das Sakrament konnte dann sub conditione gespendet werden.26 Beim Lesen der damaligen Literatur entsteht der Eindruck, dass die Autoren derart argumentierten, dass die im Sterben liegenden Häretiker und Schismatiker die Sakramente der Buße und der Letzten Ölung empfangen durften und konnten. Die Autoren taten dies aus gutem Grund: Wenn die katholische Kirche glaubt, dass sie (und nur sie allein) alle Mittel des Heils besitze – ja, dass sie sogar das Mittel des Heils (extra ecclesiam nulla salus)27 schlechthin ist – und wenn Menschen diese Mittel für ihr Heil brauchen, dann sind diese von der einen und wahren Kirche abhängig, und dann kann und darf die Kirche ihnen jene Mittel nicht verweigern, weil gerade diese Menschen ohne Eigenverschulden sonst darauf verzichten müssten. Vor einer 25 Die erste Antwort auf eine Anfrage ist vom 13. Januar 1864 (CIC-Fontes/1917 IV, Nr. 975), die zweite vom 20. Juli 1898 (CIC-Fontes/1917 IV, Nr. 1203); die dritte war eine Antwort an den Bischof von Linz (Österreich) am 17. Mai 1916 (ThPQ 79 [1926], S. 41 – 42); die vierte Antwort ist datiert auf den 15. November 1941 (ME 67 [1942], S. 114 – 115). Die beiden letzten Antworten gelten als private Antworten. 26 Für eine detaillierte Analyse siehe Myriam Wijlens, Sharing the Eucharist: A Theological Evaluation of the Post Conciliar Legislation, Lanham, MD 2000, S. 54 – 64. 27 Als diese Diskussion geführt wurde, beinhaltete das Axiom „extra ecclesiam nulla salus“, dass es tatsächlich außerhalb der katholischen Kirche keine Rettung gibt. Aber dieses Verständnis wurde später revidiert. Für einen hervorragenden Überblick über die Geschichte der Veränderungen in der Lehre siehe Francis A. Sullivan, Salvation outside the Church? Tracing the History of the Catholic Response, Mahwah, NJ 1992.

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derartigen Argumentation konnte die Kirche es nicht verantworten, diesen Gläubigen das Sakrament – und somit das Heil selbst – zu verweigern! Die bisherigen Überlegungen zeigen: Im Laufe der Geschichte hat die Kirche das Sakrament der Letzten Ölung immer in Bezug auf das Sakrament der Buße gesehen. Da die Buße immer schwierig war, wurde das Sakrament Bestandteil der letzten Riten, durch welche die letzten Sünden weggewaschen und die sterbende Person auf die Begegnung mit dem Herrn vorbereitet wurde. Vergebung wurde für alle Getauften als notwendig gesehen. Die katholische Kirche wurde zwar als die wahre Kirche Christi mit allen notwendigen Mitteln für das Heil betraut, aber ihr wurde deswegen auch die Verantwortung zuteil, die Mittel nicht denen vorzuenthalten, die sie benötigen. Demnach konnte man bei unmittelbarer Todesgefahr getauften Nichtkatholiken die Sakramente spenden, falls diese im guten Glauben verkehrten und die Intention gehabt hätten, das zu tun, was der Herr von ihnen verlangen würde. Der Fokus lag ganz auf der Heilsnotwendigkeit. Die derzeitigen Normen über die Sakramentengemeinschaft (c. 844) finden ihren Ursprung in diesen Überlegungen.28 Doch mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil wurden viele der hier genannten Aspekte weitgehend verändert, vor allem das Verständnis der Krankensalbung und die Ekklesiologie. IV. Die Wiederentdeckung des Sakraments der Krankensalbung Basierend auf der Forschung im Bereich der Liturgie beschloss das Zweite Vatikanische Konzil, die Praxis der Salbung wiederherzustellen. Das Konzil präferierte den Begriff „Krankensalbung“ und fügte hinzu:

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Die Ausnahmen vom damaligen Codex (c. 731 § 2 CIC/1917), die ein generelles Verbot der Spendung der Sakramente an Nichtkatholiken bestimmen, bildeten die Grundlage für den Abschnitt über die „communicatio in sacris“ im Dekret des II. Vatikanums über die Ostkirchen, Orientalium Ecclesiarum, Nr. 26 – 29. Bemerkenswert an diesem Abschnitt ist, dass keine weitreichenden Konsequenzen aus den neuen ekklesiologischen und den ökumenischen Einblicken gezogen worden sind, wie die Dogmatische Konstitution Lumen Gentium und das Dekret Unitatis redintegratio oder aus den neuen Erkenntnissen im Bezug auf das Sakrament der Krankensalbung in der Konstitution über die Liturgie Sacrosanctum Concilium. Ein Vergleich des Entwurfs und der endgültigen Fassung von OE 26 – 29 zeigt, dass die Worte „fratres seiuncti“ die „Häretiker und Schismatiker“ und dass „Krankensalbung“ die „Letzte Ölung“ ersetzt. Jedoch wurde der Text nicht an die neuen Erkenntnisse angepasst. Die Normen wurden von der Heilsnotwendigkeit bei Todesgefahr bestimmt. Das wurde bei der Überarbeitung des Textes von OE 26 – 29 deutlich, als die Frage gestellt wurde, ob man nicht etwas regeln müsste für alle Sakramente. Dies wurde zurückgewiesen mit der Begründung: „De baptismo lege generali iam provisum; de matrimoniis tractat nostrum schema (n. 18); Ordo excluditur ab ipsis proponentibus; quod spectat confirmationem, non agitur de necessitate salutis.“ AS III/VIII, 604. Festzuhalten ist deswegen, dass die Normen nur das behandeln, was für das Heil notwendig ist und dass sie nicht auf die neuen ökumenischen und ekklesiologischen Erkenntnisse des Konzils eingehen. Siehe für eine detaillierte Darlegung: Wijlens, Sharing the Eucharist (Anm. 26), S. 209 – 229.

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„Die ,letzte ÖlungÐ, die auch – und zwar besser – ,KrankensalbungÐ genannt werden kann, ist nicht nur das Sakrament derer, die sich in äußerster Lebensgefahr befinden. Daher ist der rechte Augenblick für ihren Empfang sicher schon gegeben, wenn der Gläubige beginnt, wegen Krankheit oder Altersschwäche in Lebensgefahr zu geraten.“ (SC 73)

Es ist bemerkenswert, dass die Beschreibung des Sakraments der Krankensalbung im Codex des kanonischen Rechts nicht einmal die Vergebung der Sünden erwähnt, wenn es dort heißt: „Durch die Krankensalbung empfiehlt die Kirche gefährlich erkrankte Gläubige dem leidenden und verherrlichten Herrn an, damit er sie aufrichte und rette; sie wird gespendet, indem die Kranken mit Öl gesalbt und die in den liturgischen Büchern vorgeschriebenen Worte gesprochen werden.“29 (c. 998)

Das Zweite Vatikanische Konzil kehrte bereits zu der ursprünglichen Reihenfolge der Sakramente zurück: Buße – Salbung – Wegzehrung. Dies verdeutlicht, dass nicht die Salbung das letzte Sakrament ist, sondern die Wegzehrung. Das ist eine Sichtweise, die der Orthodoxen Kirche entspricht. Darüber hinaus haben in jüngster Zeit Theologen darauf hingewiesen, dass das Sakrament nicht so sehr in Verbindung mit der Buße, sondern vielmehr mit der Taufe und der Eucharistie betrachtet werden müsse30, denn letztere sind ebenfalls Sakramente der Versöhnung und der Gemeinschaft mit der Kirche. „Sie sind Sakramente des Leibes, sowohl des Leibes Christi als auch des Leibes der Kirche.“31 Wegen der Verbindung zwischen der Salbung und dem österlichen Geheimnis, sowohl in der Taufe als auch in der Eucharistie, sollte der Seelsorger den Kranken ermutigen, sein/ihr Leiden in Einheit mit Christus zu opfern und sich am Gebet für die Kirche und der Welt zu beteiligen.32 So betrachtet kann die Salbung Ausdruck einer ganzheitlichen Sicht der menschlichen Person sein, denn die Heilung betrifft sowohl die körperliche Krankheit als auch die geistige Sünde. „Die Wirkungen der Salbung berühren die religiöse Situation des Kranken: Die Bedrohung seines Heils, verursacht durch religiöse Ohnmacht und Schwäche der Seele sowie durch die Versuchung und die Belastung seines Glaubens und seines Vertrauens. Der Kranke soll aus 29

Natürlich ist dieser Canon nicht eine Definition des Sakraments, weil die Codexkommission keine Definitionen aufnehmen wollte (Communicationes 16 [1984], S. 38). Die Norm skizziert den theologischen Rahmen für die Normen über das Sakrament. Selbstverständlich könnte theologisch viel mehr gesagt werden. Bei der Interpretation des Canons muss die literarische Form beachtet werden. 30 Z.B. Wood, Anointing of the Sick (Anm. 14), S. 233 – 254. 31 „They are sacraments of the body, both the body of Christ and the body of the church.“ Wood, Anointing of the Sick (Anm. 14), S. 235. Wood bezieht sich in ihrem Artikel auf andere Theologen, die das Sakrament im Licht der Taufe und der Eucharistie sehen. Siehe auch die ausgezeichnete Studie von Susan K. Wood, One Baptism: Ecumenical Dimensions of the Doctrine of Baptism, Grand Rapids, MI 2009, und ihre Studie dies., Baptism: A Common Call to Service, in: CLSA Proceedings 71 (2009), S. 1 – 11. 32 „The minister should encourage the sick person to offer his sufferings in union with Christ and to join in prayer for the Church and world.“ The Rites of the Catholic Church, Study Edition, Pastoral Care of the Sick, New York 1983, S. 625, Nr. 56. (Dieser Text ist in der deutschen Ausgabe „Rituale zur Feier der Krankensalbung“, Trier, 1993 nicht zu finden.)

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seiner Schwäche ,aufgerichtetÐ werden und von der Bedrohung, welche die Krankheit für sein Heil darstellt, gerettet werden.“33

Krankheit berührt allerdings nicht nur das Individuum, sondern den ganzen kirchlichen Leib, so wie es in der Bibel steht: „Wenn darum ein Glied leidet, leiden alle Glieder mit; wenn ein Glied geehrt wird, freuen sich alle anderen mit ihm“ (1 Kor 12,26). Tatsächlich sind alle, „die im Band der gemeinsamen Taufe und des gemeinsamen Glaubens vereint sind, zusammen der eine Leib Christi. Denn was einem Mitglied geschieht, das betrifft alle. Das Sakrament der Salbung drückt wirksam den Anteil aus, den jeder am Leiden des anderen hat“34. Wie sich die Krankheit auf die Gemeinschaft auswirkt, so wirkt sich auch die Feier der Sakramente auf sie aus. Das Zweite Vatikanische Konzil hat die liturgischen Feiern als Feier der Kirche beschrieben, an der die ganze Gemeinde teilnimmt. Papst Paul VI. bezieht sich auf das Sakrament der Salbung: „Durch die heilige Krankensalbung und das Gebet der Priester empfiehlt die ganze Kirche die Kranken dem leidenden und verherrlichten Herrn, dass er sie aufrichte und rette (vgl. Jak 5,14 – 16), ja sie ermahnt sie, sich bewusst dem Leiden und dem Tode Christi zu vereinigen (vgl. Röm 8,17; Kol 1,24; 2 Tim 2,11 – 12; 1 Petr 4,13) … und um so zum Wohle des Gottesvolkes beizutragen.“35

Um diese Erkenntnisse zum Ausdruck zu bringen, bietet der Ritus von 1972 eine gemeinsame Feier in den Pfarreien und insbesondere in Pflege- und Seniorenheimen an. Im letzteren Fall wird das Sakrament zur Stärkung und Ermutigung für ältere Menschen gefeiert. Bisweilen wird das Sakrament während einer Eucharistiefeier in einer Pfarrei, wo die ganze Gemeinde anwesend ist, gefeiert. In einer solchen Situation können die Kranken erfahren, dass sie von der ganzen Gemeinde unterstützt und getragen werden. An dieser Stelle kann nun der Blick auf Ehepaare, insbesondere diejenigen, die in einer sakramentalen Ehe leben, gerichtet werden. Hier spielt das Verständnis der Familie als eine Art Hauskirche (LG 11) eine besondere Rolle. Denn Krankheit berührt die innige Beziehung der Familienmitglieder des kranken Menschen, die sich vielleicht auch selbst nach Hoffnung sehnen. Das Bedürfnis, unterstützt und getragen zu werden, wird in dieser kleinen, aber intimen Hauskirche am intensivsten erfahren. 33 „The effects of anointing touch the religious situation of the sick person: the threat to his salvation posed by religious powerlessness and weakness of soul, as well as the temptation and burden to his faith and trust. The sick person shall be ,raised upÐ from his weakness and saved from the threat that sickness constitutes to his salvation.“ Charles Gusmer, Liturgical Traditions of Christian Illness: Rites of the Sick, in: Worship 46 (1972), S. 531 (zitiert bei Wood, Anointing of the sick [Anm. 14], S. 238). 34 Indeed, all „who are united in the bond of a common baptism and a common faith are joined together in the body of Christ since what happens to one member affects all. The sacrament of anointing effectively expresses the share that each one has in the sufferings of others“. Pastoral Care of the Sick (Anm. 32), S. 646, Nr. 98. 35 Paul VI., Apostolische Konstitution über das Sakrament der Krankensalbung, in: Deutsche Bischofskonferenz, Die Feier der Krankensalbung, Trier 21994, S. 11.

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Das Sakrament der Krankensalbung soll deswegen jetzt in einem ökumenischen Kontext noch einmal reflektiert werden, jedoch anders als es bisher oft geschah. Dies erfordert, erneut mehrere Aspekte in den Blick zu nehmen, beginnend mit dem ekklesiologischen Verständnis des Zweiten Vatikanischen Konzils in Bezug auf getaufte Nichtkatholiken. V. Die Ekklesiologie des Zweiten Vatikanischen Konzils im Bezug auf die Zugehörigkeit zur Kirche Die Vaticanum II änderte die lehramtliche Aussage „Ecclesia Christi est ecclesia catholica“ in „Ecclesia Christi subsistit in ecclesia catholica“ (LG 8). Damit wurde sprachlich zum Ausdruck gebracht, dass die katholische Kirche lehrt, dass Christen, die außerhalb der katholischen Kirche getauft sind, Glaube und Gnade auch in und durch ihre Gemeinschaft, der sie angehören, empfangen (vgl. UR 3) und dass diese Gemeinschaften als Kirchen oder kirchliche Gemeinschaften angesehen werden können und müssen. Die Begriffe communio plena et non plena oder perfecta et imperfecta, subsistit in, ecclesiae et communitates ecclesiales, fratres seiuncti wurden vom Konzil eingeführt und entfalten letztlich ihre Bedeutung nur in gegenseitiger und gemeinsamer Betrachtung. Ebenfalls muss bei der Interpretation berücksichtigt werden, dass die neuen Begriffe Wörter wie „Sekte“, „Häretiker“, „Schismatiker“ und „Mitglieder“ (membrae) ersetzten. Tatsächlich machte das Konzil der Kirche bewusst, dass alle Getauften zuerst und vor allem in Christus getauft werden, was zu einer communio unter allen führt, die allerdings mehr oder weniger eine communio plena darstellt. Das Konzil lehrte weiterhin, dass sich die katholische Kirche nicht mehr primär auf individuelle Gläubige und ihre Beziehung zur katholische Kirche fokussieren möchte, sondern auf die Beziehung zu den Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften, in der und durch die die Getauften ihren Glauben erhalten und leben. Auf Grund dieses Bewusstseins entwickelte sich ein anderes Denken über die Ehe zwischen einem Katholiken und einem getauften Nichtkatholiken. Dies führte schließlich zu dem Dekret „Matrimonia mixta“ und all den nachfolgenden Fragen, die eingangs erwähnt wurden. Diese ekklesiologischen Überlegungen sind ebenfalls für das Verständnis einer konfessionsverbindenden Ehe als eine Art Hauskirche von Relevanz: Zuerst ist festzuhalten, dass Lumen gentium bestätigt, dass eine Familie, die aus einer sakramentalen Ehe hervorgeht, eine Art Hauskirche bildet (velut ecclesia domestica – LG 11).36 Weiterhin ist festzuhalten, dass jede gültige Ehe zwischen zwei Getauften 36

LG 11: „Die christlichen Gatten endlich bezeichnen das Geheimnis der Einheit und der fruchtbaren Liebe zwischen Christus und der Kirche und bekommen daran Anteil (vgl. Eph 5,32). Sie fördern sich kraft des Sakramentes der Ehe gegenseitig zur Heiligung durch das eheliche Leben sowie in der Annahme und Erziehung der Kinder und haben so in ihrem Lebensstand und in ihrer Ordnung ihre eigene Gabe im Gottesvolk (vgl. 1 Kor 7,7). Aus

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(nicht nur zwischen zwei Katholiken) eine sakramentale Ehe ist (c. 1055 § 2 CIC). Dies beinhaltet, dass eine gültige Eheschließung zwischen einem Katholiken und einem getauften Nichtkatholiken dann ebenso eine sakramentale Ehe ist und deswegen eine Art Hauskirche darstellt.37 Wenn über Jahre Christen in konfessionsverbindender Ehe zusammen gebetet, die Bibel gelesen, auf das Wort Gottes gehört, sich der Gerechtigkeit, dem Frieden und der Bewahrung der Schöpfung verpflichtet, gegenseitig Anliegen, Ängste, Hoffnungen und Freude getragen haben und zugefügtes Leiden einander vergeben wurde, dann hat das tatsächlich kirchliche Qualität.38 In der Tat stellt kein anderes Bild so gut die Erfahrung der Liebe Gottes dar wie das Bild der Hochzeit und der Ehe, wie es in der Lehre des Zweiten Vatikanischen Konzils mit Hilfe von unterschiedlichen Begriffen beschrieben wird: „Begründung der Gemeinschaft des ganzen Lebens“ (consortium totius vitae), „sich gegenseitig schenken und annehmen“ (mutuo tradunt et accipiunt) und „sich gegenseitige Hilfe und gegenseitigen Dienst leisten“ (GS 48). Wenn nun all diese Aspekte im Kontext einer konfessionsverbindenden Ehe berücksichtigt werden, dann wird klar, dass der getaufte nichtkatholische Partner wegen der sakramentalen Ehe in einer tiefen und intensiven Beziehung mit der katholischen Kirche steht. In dieser Hauskirche wird deswegen das Leiden des Schwerkranken mitgetragen. Nicht nur die Schrift, sondern das Leben selbst bezeugt das Leid, das Menschen erfahren, wenn ihr Geliebter leidet. Die Hauskirche als solche leidet, wenn eines ihrer Mitglieder leidet. Wird nun diese Situation vor der eben beschriebenen theologischen Reflexion betrachtet, dann folgt daraus, dass die Bitte um die Krankenkommunion und die Krankensalbung durch eine Person, die in einer konfessionsverbindenden Ehe lebt, anders betrachtet werden muss, als wenn diese Person nicht in einer Ehe mit einem Katholiken lebt. Für die Frage nach der Anwendung des Gesetzes spielt der Kontext des Bittstellers eine entscheidende Rolle. Dies beinhaltet das Thema der Hermeneutik in der Anwendung eines Gesetzes.

diesem Ehebund nämlich geht die Familie hervor, in der die neuen Bürger der menschlichen Gesellschaft geboren werden, die durch die Gnade des Heiligen Geistes in der Taufe zu Söhnen Gottes gemacht werden, um dem Volke Gottes im Fluss der Zeiten Dauer zu verleihen. In solch einer Art Hauskirche sollen die Eltern durch Wort und Beispiel für ihre Kinder die ersten Glaubensboten sein und die einem jeden eigene Berufung fördern, die geistliche aber mit besonderer Sorgfalt.“ 37 Für eine zum Nachdenken anregende Überlegung zu dieser Lehre siehe die Studie von John A. Alesandro, The Canon Law of Marriage: Ever Old, Ever New, in: CLSA Proceedings 72 (2010), S. 50 – 83. 38 Vgl. Neuner, Ein katholischer Vorschlag (Anm. 8). Professor Ratzinger schrieb: „Sakrament ist nicht etwas über, neben oder an der Ehe, sondern gerade die Ehe selbst, und als solche ist sie für den, der im Glauben lebt, das Sakrament. Je mehr es ihm gelingt, die Ehe aus dem Glauben zu leben und zu gestalten, desto mehr ist sie ,SakramentÐ. Joseph Ratzinger, Zur Theologie der Ehe, in: Gerhard Krems u. a. (Hrsg.), Theologie der Ehe, Regensburg/Göttingen 2 1972, S. 92.

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VI. Die Anwendung von Gesetzen Schaut man auf die Literatur im Bereich des kanonischen Rechts, so fällt auf, dass die meisten Studien sich vor allem mit der Interpretation des kanonischen Rechts – es sei denn, die Rechtsprechung selbst wird diskutiert – beschäftigen. In der Anwendung jedoch wird eine Verbindung zwischen dem Leben selbst und dem Gesetz hergestellt. Bei der Anwendung des Gesetzes muss deswegen nicht nur das Gesetz interpretiert werden, sondern es kommt vor allem darauf an, den Sachverhalt selbst sprachlich und theologisch richtig zu formulieren, denn die Art und Weise der Formulierung wird die Beantwortung der Frage beeinflussen. In früheren Studien wurde das Thema der Anwendung des Gesetzes bereits reflektiert, und es wurde festgestellt, dass dies nicht bloß eine reine Technik der Subsumtion ist (d. h. der Fall wird sozusagen unter das Gesetz gedrückt), sondern gemäß neuen Methoden werden die Fallkonstellation und das Gesetz in eine hermeneutische Beziehung zueinander gestellt: Die eine Seite kommt erst durch die andere Seite zur Entfaltung.39 Hinzu kommt, dass wegen der beabsichtigten nahen Verbindung zwischen dem Zweiten Vatikanischen Konzil und der postkonziliaren Gesetzgebung die Fallkonstellation, in der das Gesetz angewandt werden soll, in Übereinstimmung mit dem Konzil formuliert werden muss. Im wirklichen Leben bedeutet dies, dass, bevor das Recht herangezogen werden kann, die Darstellung selbst oftmals erst umformuliert werden muss. In der vorliegenden Studie ist die Unterscheidung zwischen einer Mischehe und einer konfessionsverschiedenen oder -verbindenden Ehe ein Beispiel, an dem klar wird, dass sich hinter diesen Begriffen bereits andere Wirklichkeiten verbergen, die theologisch relevant sind und die an und für sich bereits zu verschiedenen Anwendungen des Gesetzes führen können. Es ist sehr wohl von Relevanz, ob der getaufte Nichtkatholik aktiv sowohl in seiner eigenen als auch in der Kirche seines Partners mitmacht und ob er die Kinder ebenfalls mit im Glauben erzieht. Daher lautet die Frage in dieser Studie auch: Kann ein schwerkranker getaufter Nichtkatholik, der durch seine Taufe in communio – wenn auch nicht in communio plena – mit der katholischen Kirche steht und der durch seine Partnerin an der Gemeinschaft – die eine sakramentale Ehe darstellt – partizipiert und durch das Leben des Ehesakraments, das bereits die Liebe Gottes mit seinem Volk bezeugt, durch die Kirche „dem leidenden und verherrlichten Herrn [empfohlen werden], damit Er sie aufrichte und rette“, welches dann durch das Sakrament der Krankensalbung geschieht (vgl. c. 998)? Kann dies den Kranken angeboten werden, wenn Seelsorge nicht nur diakonischer Natur ist, sondern auch zum Ausdruck bringen soll, dass Liturgie Quelle und Höhepunkt des kirchlichen Handelns und Gegenwart und Zeugnis des österlichen Geheimnisses ist? Oder, um es noch einmal aus einer anderen Perspektive zu formulieren, und zwar unter Berücksichtigung der Fragestellung aus der Zeit vor dem Zweiten Vatikanischen Konzil: Wie kann die Kirche ihre Pflicht 39 Z.B. siehe Myriam Wijlens, „The Newness of the Council Constitutes the Newness of the Code“ (John Paul II.): The Role of Vatican II in the Application of the Law, in: CLSA Proceedings 70 (2008), S. 285 – 302.

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– die sich aus ihrer eigenen Ekklesiologie in Verbindung mit ihrer Ansicht, dass die Liturgie als Quelle und Höhepunkt der kirchlichen Handlungen zu sehen ist, ergibt – zum Ausdruck bringen, wenn eine Person auf Grund der Taufe ihr (wenn auch nicht vollständig) angehört, diese Person in einer sakramentalen Ehe (in einer Hauskirche) lebt, schwerkrank ist und um das Sakrament der Krankensalbung bittet? Wie kann die Kirche diese Person „dem leidenden und verherrlichten Herrn [empfehlen], damit Er sie aufrichtet und rettet“ (vgl. c. 998)? Erst nachdem die Frage so formuliert wurde, kann das Gesetz angewandt werden. In dem Ganzen darf aber nicht vergessen werden, dass die katholische Kirche sehr viel der Orthodoxen Kirche und den Ostkirchen bezüglich der Wiederentdeckung des Sakraments der Krankensalbung zu verdanken hat. Auch sind viele reformatorische Kirchen dabei, das Ritual der Krankensalbung wiederzuentdecken. Viele haben offiziell Rituale eingeführt, obwohl diese für sie kein „Sakrament“ sind. Diese Kenntnis ist wichtig, denn sie zeigt auf, dass die Bitte um das Sakrament möglicherweise doch nicht so fremd ist, wie es vielleicht früher einmal war. VII. Canon 844 § 4 Mit der Promulgation des Gesetzbuches von 1983 stellte der Gesetzgeber eine neue Norm zur Verfügung, die sich mit der Spendung der Sakramente im ökumenischen Kontext befasst. Die drei betroffenen Sakramente sind Buße, Krankensalbung und Eucharistie. Die entsprechende Norm im Codex von 1917 bestimmte vor dem Hintergrund der damaligen Ekklesiologie eine Norm, die grundsätzlich die communicatio in sacris verboten hatte. Wie vorher dargelegt, gab es einige Ausnahmen. Die Norm im Codex von 1983 erlaubt auf Grund der veränderten Ekklesiologie grundsätzlich eine communicatio in sacris, aber es müssen bestimmte Bedingungen erfüllt sein. Es besteht somit ein Wechsel in der Perspektive von einem Verbot zu einer Erlaubnis, was sowohl in der Ekklesiologie des II. Vatikanums als auch in Ergebnissen von vielen ökumenischen Dialogen begründet ist. Auf einer generellen Ebene muss zuerst festgehalten werden, dass ein getaufter Nichtkatholik in die Kirche Christi aufgenommen ist, welche in der katholischen Kirche verwirklicht ist (subsistit in). Getaufte Nichtkatholiken leben ihre christliche Existenz nicht nur in ihrer eigenen kirchlichen Gemeinschaft oder Kirche, sondern diejenigen, die in einer gültigen konfessionsverbindenden Ehe leben, leben auch in einer sakramentalen Ehe und bilden somit eine Hauskirche. Durch die Taufe sind sie in der Kirche eine Person mit Rechten und Pflichten. In diesem Zusammenhang liest sich Canon 9640 wie folgt: 40 C. 96: „Durch die Taufe wird der Mensch der Kirche Christi eingegliedert und wird in ihr zur Person mit den Pflichten und Rechten, die den Christen unter Beachtung ihrer jeweiligen Stellung eigen sind, soweit sie sich in der kirchlichen Gemeinschaft befinden und wenn nicht eine rechtmäßig verhängte Sanktion entgegensteht.“

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„In dem Maße (quatenus), wie nichtkatholische Christen in der vollen Gemeinschaft mit der katholischen Kirche stehen (d. h. z. B. im Glauben, in den Sakramenten, übereinstimmen), lebt ihre ontologisch grundgelegte Zugehörigkeit zur plena communio in der Form auf, dass sie ihre mit der Taufe gegebenen Rechte subsidiär auch in der katholischen Kirche verwirklichen können; subsidiär insofern sie diese Rechte in ihrer Kirche oder kirchlichen Gemeinschaft nicht verwirklichen können. Voraussetzung ist jedoch […] eine Übereinstimmung in dem, um was es bei dem in der jeweiligen Norm Ausgesagten geht, was beansprucht wird.“41

Aus der Taufe geht in gewisser Weise ein Recht auf den Empfang der anderen Sakramente hervor, was in c. 213 festgehalten wurde.42 Dieses Recht wird gemeinhin als ius divinum qualifiziert und betrifft deswegen alle Getauften und nicht nur die Katholiken. Aus diesem Recht auf Sakramentenempfang ergibt sich aber auch für die Kirche eine Pflicht, die Sakramente zu spenden. Tatsächlich dürfen geistliche Amtsträger Getauften die Sakramente nicht verweigern, wenn sie „gelegen darum bitten, in rechter Weise disponiert sind und rechtlich an ihrem Empfang nicht daran gehindert sind“ (c. 843 §1).43 Während nun die Handbücher vor dem Konzil sich mit der Frage befassen, was die Pflicht der Kirche zur Sakramentenspendung vor dem Hintergrund der Heilsvermittlung beinhaltet, scheint dieser Aspekt heute kaum noch Beachtung zu finden. Zuweilen könnte man den Eindruck bekommen, dass sich das Pendel auf die andere Seite bewegt hat und dass es eine Tendenz gibt, sicherzustellen, dass alle Bedingungen auf Seiten der Person, die um das Sakrament bittet, erfüllt werden. Häufig sind diese Bedingungen jedoch rein kirchliches Gesetz (ius mere ecclesiasticum) oder sie entspringen den persönlichen Frömmigkeitsvorstellungen des Amtsträgers (!). An dieser Stelle ist es notwendig, daran zu erinnern, dass c. 844 tatsächlich nicht den Empfang der Sakramente von Buße, Krankensalbung und Eucharistie verbietet, sondern nur zwei Anlässe und vier Bedingungen für das Spenden erwähnt. Die Anlässe sind Todesgefahr und eine „andere schwere Notlage“. Das Ökumenische Direktorium von 1993 spricht von Todesgefahr und „ernsten und dringenden Notwendigkeiten“ (Nr. 130). Die vier Bedingungen sind (1) von sich aus darum zu bitten, (2) der Glaube an das Sakrament, (3) die rechtmäßige Disposition und (4) keine Erreichbarkeit des Spenders der eigenen Gemeinschaft.44 41 Heinrich J. Reinhardt, Empfang der Krankensalbung durch evangelische Christen in der katholischen Kirche? Eine Anfrage an c. 844 § 4 i. V. m. c. 213 CIC/1983, in: Peter Boekholt/ Ilona Riedel Spangenberger (Hrsg.), Iustitia et Modestia (FS Hubert Socha zur Vollendung seines 65. Lj.). München 1998, S. 223 – 237, hier S. 225 f. 42 C. 213: „Die Gläubigen haben das Recht, aus den geistlichen Gütern der Kirche, insbesondere dem Wort Gottes und den Sakramenten, Hilfe von den geistlichen Hirten zu empfangen.“ 43 C. 843 § 1: „Die geistlichen Amtsträger dürfen die Sakramente denen nicht verweigern, die gelegen darum bitten, in rechter Weise disponiert und rechtlich an ihrem Empfang nicht gehindert sind.“ 44 Päpstlicher Rat zur Förderung der Einheit der Christen, Direktorium zur Ausführung der Prinzipien und Normen des Ökumenismus. Hrsg. vom Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Bonn 1993 (VApSt 110), Nr. 130.

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Zu diesen vier Punkten ist Folgendes zu bemerken: – Letzteres Kriterium wurde nicht mehr mit der Klausel „für eine gewisse Zeit“ versehen, wie es im Direktorium von 1967 beschrieben ist. – Die Bedingung, dass der eigene Spender nicht erreichbar ist, wurde von Papst Johannes Paul II. 1994 im Katechismus der katholischen Kirche45, 1995 in der Enzyklika „Ut unum sint“46 sowie 2003 im postsynodalen Schreiben „Ecclesia de Eucharistia“ nicht mehr genannt, obwohl immer c. 844 §§ 3 – 4 als Quelle angebenen wird. Ebenfalls ist darauf hinzuweisen, dass Kardinal Castillo Lara – der die Codex-Reform-Kommission leitete und nachher Präsident der Päpstlichen Kommission für die Revision des Codex Iuris Canonici war – bereits während der Revision des Codex die Nichtverfügbarkeit auch wegen der Unwürdigkeit oder wegen eines anderen Grundes gegeben sah. – Die genannten Bedingungen sind unterschiedlicher Natur und müssen deswegen unterschiedlich gewichtet werden: Der Glaube an das Sakrament, der vorhanden sein muss, ist nicht gleichwertig mit der Nichtverfügbarkeit des eigenen Spenders. Insbesondere die „schwere und dringende Notwendigkeit“ hat sich in den vergangenen Jahren als ein schwierig erfassbarer Begriff gezeigt.47 Viele Bischofskonferenzen und Diözesanbischöfe sahen sich nicht im Stande, dies mittels partikularrechtlicher Normen näher zu bestimmen. Denn die Not muss vor allem kontextuell – auch im Sinne des Einzelfalles – betrachtet werden. Auch wenn eine Mischehe als solche nicht als der Auslöser einer „ernsten und dringenden Notwendigkeit“ angesehen werden kann, erfordert die konfessionsverbindende Ehe – mit all dem, was sich theologisch dahinter verbirgt – eine differenzierte Betrachtung.48 45 Der KKK sagt in Art. 1401: „Wenn Todesgefahr besteht oder wenn nach dem Urteil des Diözesanbischofs eine schwere Notlage dazu drängt, spenden katholische Priester die Sakramente der Buße, der Eucharistie und der Krankensalbung erlaubt auch den übrigen nicht in der vollen Gemeinschaft mit der katholischen Kirche stehenden Christen, die von sich aus darum bitten, sofern sie bezüglich dieser Sakramente den katholischen Glauben bekunden und in rechter Weise disponiert sind.“ 46 Johannes Paul II., Enzyklika Ut unum sint (25. Mai 1995), Nr. 46: AAS 87 (1995), S. 948; ders., Enzyklika Ecclesia de Eucharistia (17. April 2003), Nr. 46: AAS 95 (2003), S. 463. 47 Reinhardt schreibt, dass „nichtkatholische Christen in dem Maße subsidiär in der katholischen Kirche ihr Recht auf Sakramentenempfang verwirklichen dürfen, wie sie in dem erbetenen Sakrament mit der Lehre der katholischen Lehre übereinstimmen (…) Das heißt, dass je mehr Übereinstimmung gegeben ist, die Messlatte für die schwere Notlage entsprechend heruntergenommen werden muss.“ Reinhardt, Empfang der Krankensalbung (Anm. 41), S. 228. 48 Bereits 1980 wies der damalige Präsident des Einheitsrates Johannes Kardinal Willebrands auf der Bischofssynode über die Familie eindringlich darauf hin, dass für Mischehen die Erhaltung der Einheit und der Unauflöslichkeit der Ehe ein größeres Gut darstellen würde als einige Voraussetzungen für den Sakramentenempfang. Eine Festlegung, was eine „ernste und dringende Notwendigkeit“ ist, würde nicht nur den Ermessensspielraum für die Anwendung des Gesetzes einschränken, sondern es würde auch eine Minderung der Gerechtigkeit riskieren. Willebrands, Mixed Marriages and their Family Life (Anm. 6), S. 78 – 81.

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– Schließlich gibt es die Bedingung des gemeinsamen Glaubens. Hier ist es wichtig festzuhalten, dass viele kirchliche Gemeinschaften dabei sind, die Krankensalbung wiederzuentdecken. Auf Grund des Glaubens einer Gemeinschaft, könnte vielleicht eine Präsumtion des Glaubens des einzelnen Mitgliedes aufgestellt werden.49 An dieser Stelle muss an die Diskussion, die Anfang des 20. Jahrhunderts in moralischen und kirchenrechtlichen Handbüchern geführt wurde, erinnert werden: Da wurde geklärt, dass nicht mehr als ein allgemeiner Glaube (keine Kenntnisse) bezüglich des Sakramentes sowie die Intention das zu tun, was Christus von ihnen erwarten würde, gefördert werden dürfte. Diese Reflexionen zeigen, dass die Antwort auf die Frage, ob die Kirche einem Bittenden die Sakramentenspendung verweigern darf, offenbaren wird, wie die Kirche das Sakrament betrachtet und wie sie ihre eigene Ekklesiologie versteht: An ihrem Handeln wird man ihren Glauben erkennen! VIII. Ein Ausblick Wie eingangs erwähnt, erwies sich das Thema komplizierter als erwartet, weil viele Aspekte zu berücksichtigen sind. Beim Schreiben dieser Studie kam mir Ravels Bol¦ro in den Sinn: Viele Runden mussten gemacht werden und jede Runde implizierte neue Aspekte, die berücksichtigt werden mussten, und somit erhöhte sich die Komplexität. Der Gegenstand dieser Studie ist in vielerlei Hinsicht neu: Es gibt praktisch keine Literatur und somit ist diese Studie ein fortdauerndes Projekt, das als ein beginnender Dialog gesehen werden muss. Ein Dialog, in dem Theologen und Kanonisten nicht nur aus der katholischen Kirche, sondern auch aus anderen kirchlichen Gemeinschaften und Kirchen einbezogen werden müssen. Jeder, der schon einmal das Privileg hatte, an ökumenischen Themen zu arbeiten – und Paaren zu begegnen, die eine konfessionsverbindende Ehe führen, in der sie ihren Glauben miteinander leben – weiß, dass diese Paare mehr als würdig sind, dass eine ernsthafte Studie zu den genannten Aspekten durchgeführt wird, damit Seelsorger pastoral verantwortlich und mit Sachkenntnis handeln können, so dass der Erhobene Herr alle erheben kann, die in Not geraten sind.

49 Auch in den Normen für die Orthodoxen wird der Glaube des einzelnen Orthodoxen mit dem seiner Kirche übereinstimmt präsumiert und muss deswegen nicht einzeln nachgewiesen werden (vgl. c. 844 §3 CIC/1983 und c. 671 § 3 CCEO).

V. Evangelische Kirche

Die Kirchenleitung der Evangelischen Kirche in Österreich Von Harald Baumgartner I. Vorbemerkung Die Frage nach der rechten Kirchenleitung in evangelischen Kirchen ist grundsätzlich schwierig. Was ist denn im evangelischen Bereich eine Kirchenleitung? Wer oder was wird in der Kirche geleitet? Wird oder kann eine Kirchenleitung einem evangelischen Anspruch überhaupt gerecht werden? Braucht es denn überhaupt eine Kirchenleitung? Es gibt zwar reichlich Literatur zum Thema „Kirchenleitung“, „Kirchenregiment“ bzw. „Kirchenverfassung“.1 Wenn man jedoch genauer hinsieht, herrscht besonders in neuerer Zeit ein eher pragmatischer Zugang zu dieser Thematik. In vielen Artikeln nimmt man sich des Themas an, jedoch werden die rechtstheologischen Ansätze – die in vielen älteren Abhandlungen, die zu einer Zeit entstanden sind, wo viele große Entwürfe für Kirchenleitungen entwickelt wurden, aber sich auch kaum tatsächlich ausgewirkt haben – nicht mehr als entscheidend angesehen.2 Angesichts dieser Tatsache sind nicht zuletzt persönliche Erzählungen von Einzelpersonen über ihre Erfahrungen mit Kirchenleitungen interessant und aufschlussreich, da in ihnen auch das Spannungsverhältnis, in dem sich eine Kirchenleitung im evangelischen Bereich zwischen hierarchischer Ordnung und Eigenverantwortung der gläubigen Laien bzw. Ehrenamtlichen befindet, ersichtlich wird.3 An dieser Stelle soll insbesondere die diesbezügliche Situation in Österreich beleuchtet werden.4 1

Vgl. dazu z. B. Burkhard Guntau, Art. Kirchengewalt – Kirchenleitung – Kirchenverfassung, in: EvStL3 II, Stuttgart 1987, Sp. 1173 ff.; Axel v. Campenhausen, Art. Kirchenleitung, in: LThK3 VI, Freiburg/Basel/Rom/Wien 1997, Sp. 22; Christoph Link, Art. Kirchenleitung, in: LKStKR II, Paderborn/München/Wien/Zürich 2002, S. 492 f. 2 So ist die 3. Auflage der RGG in dieser Zeit entstanden und weist in den relevanten Artikeln wesentliche rechtstheologische Züge auf; vgl. z. B. Siegfried Grundmann, Art. Kirchengewalt, in: RGG3 III, Tübingen 1959, Sp. 1434 f.; Ulrich Scheuner, Art. Kirchenregiment, in: RGG3 III, Tübingen 1959, Sp. 1520 ff.; siehe aber auch Günther Wendt, Kirchenleitung und Synode, in: ZevKR 11 (1965), S. 65 ff. 3 Hier gibt es, neben vielen persönlichen Erzählungen und Erlebnissen auch manche Literatur in AuG der 80er und 90er-Jahre, so z. B. Günter Sagburg, Erfahrungen eines Synodalen mit der Kirchenleitung, in: AuG 46 (1995), S. 129 ff. (Amt und Gemeinde – in Hinkunft als AuG zitiert – ist das vom Bischof der Evangelischen Kirche herausgegebene und unter wechselndem Redaktionsteam verantwortete regelmäßige Fachblatt, das über den neuesten Stand theologischer Forschung in der Evangelischen Kirche und anderen christlichen Kirchen

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II. Was ist die Kirchenleitung? An staatskirchenrechtlichen Voraussetzungen geben die Paragraphen 7 und 8 des Protestantengesetzes Auskunft über die Kirchenleitung der evangelischen Kirche5: „§ 7 (1) Die Verfassung der Evangelischen Kirche legt fest, welches kirchliche Organ mit der Leitung der äußeren Angelegenheiten dieser Kirche betraut ist. (2) Das nach Abs. 1 bestimmte kirchliche Organ hat dies jeweils ohne Verzug dem Bundesministerium für Unterricht schriftlich mitzuteilen. Es wird für den staatlichen Bereich als Evangelische Kirchenleitung im Sinne der staatlichen Rechtsvorschriften angesehen. § 8 Die Evangelische Kirche hat dem Bundesministerium für Unterricht jeweils ohne Verzug die Bestellung ihrer Mitglieder schriftlich mitzuteilen.“

Dieses Protestantengesetz fordert also eine Kirchenleitung; wer oder was diese Kirchenleitung allerdings genau zu sein hat, ist hier nicht geregelt6 (bemerkenswert an dieser Stelle ist, dass eine Geltungmachung allgemeiner Bedenken politischer Natur seitens der österreichischen Bundesregierung, wie es im Gegensatz dazu das Konkordat 1933/34 im Art. IV § 2 vorsieht, bei der Ernennung leitender geistlicher Amtsträger im Protestantengesetz nicht vorgesehen ist7). Es ist innerkirchlich in der Kirchenverfassung8 zu bestimmen, wer Kirchenleitung ist: unterrichtet. 2009 wurde die Blattlinie komplett überarbeitet und der Erscheinungsrhythmus auf vier Ausgaben pro Jahr gekürzt). 4 Hier soll angemerkt sein, dass es in Österreich „drei“ evangelische Kirchen gibt. Vgl. dazu § 1 (1) des Protestantengesetzes: „Verfassungsbestimmung. Die Evangelische Kirche Augsburgischen und Helvetischen Bekenntnisses in Österreich sowie die in dieser zusammengeschlossene Evangelische Kirche Augsburgischen Bekenntnisses in Österreich und die Evangelische Kirche Helvetischen Bekenntnisses in Österreich – im Folgenden sämtliche „Evangelische Kirche“ genannt – sind gesetzlich anerkannte Kirchen im Sinne des Art. 15 des Staatsgrundgesetzes vom 21. Dezember 1867, RGBl. Nr. 142, über die allgemeine Rechte der Staatsbürger“ (Bundesgesetz vom 6. Juli 1961 über äußere Rechtsverhältnisse der Evangelischen Kirche – Protestantengesetz, BGBl. Nr. 182/1961 unter Berücksichtigung der Novellen BGBl. Nr. 5/1970, 159/1976, 525/1981, 618/1989, 318/1996 und BGBl. I Nr. 92/2009, § 1 (1) – in Hinkunft als Protestantengesetz zitiert). Die evangelische Kirche A.u.H.B. in Österreich besteht also lediglich aus den zwei juristischen Personen Evangelische Kirche A.B. in Österreich und Evangelische Kirche H.B. in Österreich. Dies ist als Verfassungsbestimmung im Protestantengesetz geregelt. 5 Vgl. dazu auch Richard Potz/Brigitte Schinkele, Religionsrecht im Überblick, Wien 2005, S. 161 ff. und Herbert Kalb/Richard Potz/Brigitte Schinkele, Religionsrecht, Wien 2003, S. 552 ff., insb. S. 555. 6 Wie die Kirche ihr „Leitungsorgan“ bestimmt, wird ebenfalls nicht festgelegt; seit 1861 geschieht das durch die Kirchenverfassung. 7 Konkordat zwischen dem Heiligen Stuhle und der Republik Österreich samt Zusatzprotokoll, BGBl. II Nr. 2/1934. 8 Verfassung der Evangelischen Kirche A.u.H.B. in Österreich, beschlossen von der Generalsynode am 17. Mai 2005, ABl. 136/2005 i. d. g. F. (sofern nicht anders angegeben wird die aktuelle KV in dieser Arbeit mit dem Stand von 31. 08. 2011 zitiert). Diese Kirchenverfassung basiert auf dem Text der Kirchenverfassung von 1949 und war, als Totalredaktion bezeichnet, mehr als eine Wiederverlautbarung; man war um eine Trennung von Verfassungsund Gesetzesmaterien sowie eine Bilanz des Rechtsbestandes bemüht (siehe dazu das Vorwort

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„Die Leitung und oberste Verwaltung der Evangelischen Kirche A.B. (Evangelisch-Lutherische Kirche in Österreich) obliegt dem Oberkirchenrat A.B. (Oberkirchenrat der Evangelisch-Lutherischen Kirche)9 … Die Leitung und oberste Verwaltung der Evangelischen Kirche H.B. (Evangelisch-Reformierte Kirche in Österreich) obliegt dem Oberkirchenrat H.B. (Evangelisch-Reformierter Oberkirchenrat).“10

Somit ist eindeutig festgeschrieben: Die Kirchenleitung ist der Oberkirchenrat.11 Das hat die Synode so festgestellt, allerdings ohne sich selbst oder auch andere mit Leitungsaufgaben in der Kirche betraute Organe, die historisch gewachsen sind, in diese Leitung mit einzubeziehen. III. Die Leitungsaufgaben Wenn man sich mit dem Thema Kirchenleitung in der Evangelischen Kirche befasst, ist man auch genötigt, die Leitungsaufgaben inhaltlich zu bestimmen. Grundsätzlich war der Wunsch nach einem geistlichen Charakter der Kirchenleitung gegeben (wie auch z. B. bei Rudolf Sohm12). Was das genau bedeuten sollte, wusste man allerdings konkret nicht genau (eine Kirchenleitung ist aus biblischen Weisungen auch nicht konstruierbar) – aber es sollte jedenfalls so sein – und dies führte zu einer Einführung eines leitenden „geistlichen Amtes“ – je nach Landeskirche verschieden entweder ein Präsident (eher uniert) oder ein Bischof (lutherisch).13 Die Leitungsaufgaben umfassen im Wesentlichen folgende Bereiche14: (1) die Unterstützung, Förderung und Überwachung der Existenz und Tätigkeit der Gemeinden und regionalen Sprengel (das schließt auch finanzielle Angelegenheiten mit ein), (2) die Herstellung und die Sicherung einer einheitlichen Arbeit und Entwicklung im Gesamtbereich der Landeskirche (das schließt die kirchliche Gesetzgebung mit ein) und (3) die Gestaltung eigener Aufgaben und Arbeitsbereiche, womit auch Vertretung der Kirche als rechtliche Größe gemeint ist (das schließt auch die Errichtung landeskirchlicher Ämter mit ein).

zur Totalredaktion von Raoul Kneucker, Das Recht der Evangelischen Kirche in Österreich, LoseBl., Wien 2006 ff., S. 1 – 5); vgl. dazu auch Christoph Foerst, Die Verfassung der evangelischen Kirche augsburgischen und helvetischen Bekenntnisses in Österreich, Diss. iur. München 1973, insb. S. 104 ff. 9 KV Art. 87 (1). 10 KV Art 97 (1). 11 Dies ist die österreichische Situation; in den unterschiedlichen evangelischen Kirchen anderer Länder mag dies jedoch differenzieren, so ist in einigen anderen Landeskirchen etwa das Synodenpräsidium die Kirchenleitung. 12 Zu Rudolf Sohm vgl. Hans Barion, Rudolph Sohm und die Grundlegung des Kirchenrechts, Tübingen 1931, S 13 f.; Erich Foerster, Rudolph Sohms Kritik des Kirchenrechts, Haarlem 1942, insb. S. 96 ff.; sowie Andreas Bühler, Kirche und Staat bei Rudolph Sohm, Diss. Bern 1963, S. 122 – 141 u. S. 234 – 248. 13 Gustav Reingrabner, Kirchenleitung – Gestalt und Aufgaben in einer lutherischen Kirche, in: AuG 46 (1995), S. 119. 14 Reingrabner, Kirchenleitung (Anm. 13), S. 120.

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An diesen kirchenleitenden Aufgaben hat in Österreich jedoch nicht nur der in der Kirchenverfassung als Kirchenleitung bestimmte Oberkirchenrat Anteil, sondern insgesamt auch folgende drei Institutionen15 : (1) das presbyterial-synodale Element, also die Synode (teilweise auch unter anderem Namen, jedoch immer kirchliche Zusammenkünfte von geistlichen und weltlichen Vertretern, denen Leitungsfunktionen zugestanden wurden); (2) das konsistoriale Element (das ursprünglich aus den Visitationskommissionen entstanden ist), ist eine Kirchenleitung im engeren Sinn, also Vertretung, Obrigkeit und Kirchenverwaltung und in der Regel ein kollegiales Organ von Fachleuten, dem ein „Amt“, also eine Verwaltungsdienststelle beigegeben wurde, und (3) das episkopale Element. Dieses steht in der persönlichen und geistlichen Verantwortung eines einzelnen Amtsträgers und umfasst das Visitationsrecht gegenüber Geistlichen und Gemeinden sowie das Recht der Ordination. Es hat sich gezeigt, dass man ein mehrstufiges episkopales Element benötigt, d. h. dieses ist nicht nur im Bischofsamt verwirklicht, sondern eigentlich – historisch sogar vorrangig – im Superintendentenamt. So ist nun ersichtlich, dass „Kirchenleitung“ eben nicht so einfach erklärt bzw. determiniert werden kann. Es werden sich – auch künftig – immer Fragen über Kompetenzverteilungen stellen: Wer hat konkret welche Aufgabe und wo gibt es Überschneidungen? IV. Der Oberkirchenrat und dessen Einbettung in die Strukturen der Kirchenverfassung Nachdem die Synode in der Kirchenverfassung beschlossen hat, dass die Kirchenleitung der Oberkirchenrat innehat, ist die Erörterung dieses kirchenleitenden Organs „Oberkirchenrat“ erforderlich. Dies geht aber nur, wenn man die geschichtliche Entwicklung betrachtet, da besonders in der Habsburgermonarchie mit dem Toleranzpatent 1781 und der darauf folgenden Duldung der Evangelischen gewisse rechtliche Rahmenbedingungen vorgegeben waren und wurden. Der Landesfürst nahm das „landesfürstliche Oberaufsichts- und Verwahrungsrecht“16 wahr in dessen Rahmen eine Kirchenbehörde ihren Platz hatte, die beauftragt war, die Kirchengewalt auszuüben und die – zumindest ansatzweise – die kaiserliche Kirchenhoheit widerspiegelte. Diese Kirchenbehörden waren Konsistorien mit einem Präsidenten an der Spitze (der anfangs ein Katholik zu sein hatte – es handelte sich ja um eine kaiserliche Behörde). 1859/61 sollte in der Monarchie eine einheitliche Kirche errichtet werden, für die man auch eine einheitliche Kirchenleitung wollte, wobei man für sie nach preußischem Vorbild17 die Bezeichnung „Oberkirchenrat“ wählte und – im Gegensatz 15

Reingrabner, Kirchenleitung (Anm. 13), S. 120 f. Mit diesem Begriff allerdings erst 1861 bestimmt. 17 Preußen hatte nach den napoleonischen Kriegen viele Gebiete dazubekommen. In jeder Provinz gab es ein Konsistorium; es erwies sich als notwendig, die einzelnen Konsistorien mit „königlichem Willen“ zu beauftragen („Kirchenminister im Namen des Königs“). Nach 1848 stellte man die bestehenden sieben Konsistorien unter eine einheitliche Kirchenleitung 16

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zum preußischen Vorbild – die Konsistorien abschaffte. Ein Zentralkirchenprojekt ist dann zwar gescheitert18, den Begriff „Oberkirchenrat“ hat man aber beibehalten, weiters hat man auch die Bezeichnung des Organs „Oberkirchenrat“ als Titel für die Personen in diesem übernommen, und das blieb bis heute so. Die episkopalen Elemente wurden von den Superintendenten, die zwar innerkirchlich gewählt19, aber vom Kaiser bestätigt werden mussten, wahrgenommen. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde der Oberkirchenrat durch den Zerfall der Habsburgermonarchie von einer kaiserlichen zu einer staatlichen Behörde. Das Recht der Bestätigung der Wahl der Superintendenten ging auf die Bundesregierung über; dadurch wurde die Kirche viel mehr in die Tagespolitik hineingezogen. Nach dem Anschluss 1938 wurde der Oberkirchenrat 1939 zu einer rein kirchlichen Behörde.20 Mit der Kirchenverfassung 1949 versuchte man wieder eine gemeinsame Kirchenverfassung für zwei Konfessionskirchen zu finden (auf Grund der noch nicht erfolgten gesetzlichen Aufarbeitung war auch keinesfalls klar, wie weit das Protestantenpatent 1861 noch in Geltung stand) und war um kodifikatorische Geschlossenheit bemüht. Eine rechtstheologische Besinnung, wie sie in Deutschland durch den Kirchenkampf ausgelöst wurde, ist in Österreich unterblieben, weil die eine Verfassung zwei Bekenntnissen dienen muss – es gibt eben keine Bekenntnisunion (unionistische Tendenzen sind von vornherein abgelehnt worden) sondern eine Verfassungsunion. Jedoch gibt es Ansätze einer Rezeption der geistigen Erträge des Kirchenkampfes in der Kirchenverfassung (Präambel21) und eine Aufnahme rechtstheoretischer Erwägungen als Hintergrund konkreter Verfassungsbestimmungen. Nachdem, wie oben angeführt, der Oberkirchenrat von außen (zuerst als kaiserliche, dann als staatliche Behörde) hinzugekommen ist, passt er nicht wirklich in die („Oberkirchenrat“) und übertrug die Funktion des Ministers auf den Oberkirchenrat, ließ aber die Konsistorien weiterhin bestehen. 18 Hierzu gibt es reichlich Literatur, vor allem von Karl Schwarz, der sich insbesondere mit der Zeit 1848 – 1861 befasst hat; es seien nur drei Arbeiten genannt: Karl Schwarz, Die Kirchenhoheit des Staates. Studien und Skizzen zum Jus reformandi, zur Toleranz und zum „protestantischen Axiom“ eines landesherrlichen Kirchenregiments in Österreich, Habil. Wien 1985; sowie ders., Eine „protestantische Gesamtkirche Österreichs … ist rathsam“: J‚n Koll‚r als kirchenpolitischer Vordenker (1849), in: David P. Daniel/Andrej Hajduk/Daniel Vesely´, Evanjelici a evanjelick‚ teolýgia na Slovensku. Zborn†k pri prilezitosti sedemdesiatky, Bratislava 1999, S. 133 ff.; sowie: ders., Zum Projekt einer protestantischen Reichskirche in der Habsburgermonarchie, in: Österreichische Osthefte 27 (1985), S. 439 ff. 19 Die Einführung der Superintendenten oblag den geistlichen Oberkirchenräten. 20 Das Gesetz über die Rechtsstellung des evangelischen Oberkirchenrates vom 8. Mai 1939 (Ges.Bl.f.d.L.Ö. Nr. 562/1939) verfügte, dass der Oberkirchenrat in Wien eine Dienststelle der österreichischen evangelischen Landeskirche werde und alle Bestimmungen des Protestantenpatents von 1861, die eine Verbindung von Staat und Kirche enthielten, aufgehoben seien. Mit dem provisorischen Kirchengesetz vom 24. Juni 1939, ABl. Nr. 99/1939 wurde die Kirchenleitung zu einer kirchlichen Einrichtung. 21 Vgl. Gustav Reingrabner, Die Präambel der Verfassung der Evangelischen Kirche A.u.H.B. in Österreich, in: Heinrich de Wall (Hrsg.), Bürgerliche Freiheit und Christliche Verantwortung (Festschrift Christoph Link), Tübingen 2003, S. 121 ff.

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Grundstruktur der evangelischen Kirche und ist gegenüber den sonstigen Strukturen der Kirche so etwas wie ein Außenseiter. Diese Strukturen verbinden zwar presbyterial-synodale22 mit konsistorialen und episkopalen Verfassungselementen; das in der Kirchenverfassung zum Ausdruck gebrachte Gemeindeprinzip äußert sich aber dahingehend, dass sich „Kirche“ auf allen Ebenen als Gemeinde darstellt und der frühere Independentismus der Einzelgemeinden abgewehrt und eine sinnvolle Einbettung der Parochialgemeinde in ein Bezugsnetz auf regionaler Ebene und auf Ebene der Gesamtgemeinde gewährleistet ist. Das Gemeindeprinzip – theologisch gesehen stellt es trotz aller Schwierigkeiten wohl das wichtigste Bauelement der Kirchenverfassung dar – bestimmt den inneren Aufbau der Kirche. Der Zusammenschluss einzelner Kirchenangehöriger zu Pfarrgemeinden, diese weiter zu Gemeindeverbänden und zur Gesamtgemeinde soll nicht der Hierarchie dienen, sondern stellt nur eine Verteilung der Pflichten dar, die zur Ordnung der Kirche notwendig sind. Der Ursprung des Gemeindeprinzips liegt im kirchenrechtlichen Denken des beginnenden Konstitutionalismus in Österreich. Diese Gedanken sind auf gute Voraussetzungen getroffen, wie z. B. auf fehlende Patronatsverhältnisse, auf die Leitung der parochialen Angelegenheiten durch Beauftragung aus der Gemeinde und auf die Beschränkung auf ein landesfürstliches Aufsichtsrecht.23 Dieses Prinzip wurde darüber hinaus auch für die Zusammenschlüsse der Parochien in den Senioraten und Superintendenzen angewendet. Da der Pfarrer als Mitglied oder Vorsitzender der Repräsentations- und Leitungsorgane in der Gemeinde verankert war, konnte es auch zu keinem Gegensatz zwischen „Gemeinde“ als rechtliche Größe und dem Pfarrer kommen. Das Gemeindeprinzip bedeutet daher die kirchenrechtliche Anerkennung des Dualismus von Amt und Gemeinde. Mit dem Gemeindeprinzip wurde nicht die Gemeinde dem „Amt“ vorgeordnet, sondern darauf hingewiesen, dass das „Amt“ nur in der Gemeinde bestehe. Dies konnte nicht mehr nur auf die Ortsgemeinde bezogen werden, sondern auch auf die Superintendentialgemeinde, die Gesamtkirche und die Landeskirche. Der organische Aufbau wurde also aus dem Gemeindeprinzip gefolgert. Die Pfarrgemeinde wurde zum grundlegenden Baustein für eine kirchliche Organisation. Dieser soll verdeutlichen, dass die oberen Organe nicht über den Pfarrgemeinden oder Gemeinden allgemein stehen, sondern mit diesen verbunden sind und praktisch aus ihnen herausgewachsen sind. Das presbyterial-synodale Prinzip entwickelte sich als logische Konsequenz des Gemeindeprinzips. Der Ansatz dafür ist folgender: Die Gemeinde besitzt eine ihr eigene Repräsentanz. Dies wird in allen übrigen Stufen parallel aufgebaut und durch die Synode abgeschlossen. Jedem größeren Vertre22 Der presbyterial-synodale Aufbau ist in der Kirchenverfassung von unten nach oben normiert; dies bedeutet aber auch ein kompliziertes Wahlverfahren. Vgl. dazu Gustav Reingrabner, Das presbyterial-synodale System in der Evang. Kirche in Österreich, in: AuG 43 (1992), S. 47 ff. 23 Vgl. dazu Gustav Reingrabner, Die historische Entwicklung von Amt und Gemeinde in den (evangelischen) Kirchen der (habsburgischen) Monarchie, in: Lutherische Kirche in der Welt JMLB 46 (1999), S. 96 ff., insb. S. 100 f.

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tungskörper muss – nicht nur aus praktischen Gründen – ein kleinerer „Ausschuss“ zugeordnet sein (zur Terminologie muss noch gesagt sein, dass weder Gemeindevertretung noch Presbyterium die Gemeinde repräsentieren, sondern Organe der Gemeinde sind, durch welche diese handelt); das presbyterial-synodale Prinzip findet seine Fortsetzung in der Superintendentialgemeinde24, wobei in den Aufgabenbereich der Superintendentialversammlung die Beratung und die Beschlussfassung fällt; der Superintendentialausschuss ist Vollzugs- und Vorbereitungsorgan für die Beschlüsse der Superintendentialversammlung, aber kein Kontrollorgan oder deren Repräsentant. Der Aufbau der Kirchenverfassung erfolgt „symmetrisch“ und lässt Ansätze zur Aufgabentrennung erkennen: Verwaltung25, laufende Vertretung, Vertretung im Grundsätzlichen und im geistlichen Dienst. Die Kirchenverfassung widmet sich nacheinander allen Ebenen26 (von unten nach oben!) und behandelt für jede Ebene nacheinander das Organ der größeren, dann das der engeren Vertretung, das der Verwaltung und schließlich das geistliche Amt (beachtliche rechtstheologisch motivierte Reihenfolge). Die verfassungsmäßigen Stellen sind (1) für die Pfarrgemeinde: Gemeindevertretung, Presbyterium und Pfarramt27; (2) für die Superintendentialgemeinde: Superintendentialversammlung, Superintendentialausschuss und Superintendentur, (3) für die Gesamtgemeinde: Synode, Synodalausschuss und der Oberkirchenrat der evan24 Beziehungsweise in der Senioratsgemeinde nach der KV von 1891, wobei 1949 die Seniorate abgeschafft und deren Aufgaben auf die Superintendenturen übertragen wurden. Bis 1912 gab es folgende Evangelische Superintendenzen A.B.: Wien (mit 5 Senioraten von Krems bis Schladming), Oberösterreich (2 Seniorate von Attersee über Innsbruck bis Meran), die westliche und die östliche Superintendenz in Böhmen, die Ascher Superintendenz, die Mährisch-Schlesische Superintendenz (mit 3 Senioraten) und die Galizisch-Bukowinaer Superintendenz (ebenfalls 2 Seniorate); die Superintendenzen H.B. waren Wien, Böhmen (mit 4 Senioraten) und Mähren (2 Seniorate). 25 Die kirchliche Verwaltung leitet sich ab vom biblischen Charisma der „Haushalterschaft“ (vgl. dazu Lk. 12,42; 1. Kor 4,1; 1. Petr. 4,10). Verwaltung meint ordnende und gestaltende Tätigkeit, die planmäßig in Einzelmaßnahmen die grundsätzlichen Entscheidungen vorbereitet und durchführt (Verwaltungsrecht). Unterschied zum geistlichen Verwaltungsbegriff (CA VII: Gottesdienst und Sakramente). Typische Formen der kirchlichen Verwaltung sind: Personal-, Finanz- und Grundstücksverwaltung, Vertretung der Kirche nach außen, rechtsgeschäftliche Vertretung, repräsentative Vertretung der Kirche gegenüber der Öffentlichkeit. Wichtigster Grundsatz der kirchlichen Verwaltung ist das Subsidiaritätsprinzip, d. h. solange nichts anderes bestimmt ist, verwaltet jede Ebene der Kirche ihre eigenen Angelegenheiten selbst, während die „übergeordneten“ Stellen sich auf Aufsichtsfunktionen zu beschränken haben (Genehmigungsrecht). 26 Die Evangelische Kirche A.B. gliedert sich in drei (Pfarrgemeinde, Superintendentialgemeinde und Gesamtgemeinde), die Evangelische Kirche H.B. in zwei Stufen (Pfarrgemeinde und Gesamtgemeinde). 27 Wobei in der Praxis auch hier ein Pfarramt im engeren Sinn und eines im weiteren Sinn (wo durchaus mehrere Träger gemeinsam mit dem Pfarrer fungieren – z. B. Jugendarbeit oder diakonische Aufgaben) existent ist.

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gelischen Kirche A.B. und der Kirche H.B. und 4. für die Landeskirche: Generalsynode und Oberkirchenrat A.u.H.B. Der synodale Gedanke hat sich auf den Ebenen der Gesamtgemeinde A.B. und H.B. und der Landeskirchengemeinde A.u.H.B. durchgesetzt. Dies wird in den Synoden deutlich. Das „störende“ Element im presbyterial-synodalen Prinzip ist aber der Oberkirchenrat, da man sich dazu entschieden hat, „Kirchenleitung“ in einem engen Sinn zu verstehen und für das konsistoriale Element zu verwenden.28 Insgesamt ist somit mit dem Oberkirchenrat ein konsistoriales Element der presbyterial-synodalen Ordnung eingefügt worden, wobei eine zusätzliche Spannung dadurch gegeben ist, dass „Leitung“ und „oberste Verwaltung“ parallel gesetzt wurden. Diese Spannung versuchte man bei der Kirchenverfassung von 1949 dahingehend zu lösen, indem man der Synode die kirchliche Gesetzgebung als Aufgabenbereich zuwies29, und der Oberkirchenrat als „Kirchenleitung“ fungieren sollte. Das heißt, dass die Kirchenleitung mit der Kirchenverwaltung zusammenhängt – nach konsistorialem Prinzip.30 Mit dieser Zuteilung ist jedoch ein Problem gegenwärtig: es gibt zwar ein einheitliches Kirchenamt, aber die Verwaltung kann nur bedingt zugeordnet werden.31 V. Die Kirchenleitung – Größe und personelle Besetzung Derzeit gehören der Kirchenleitung, also dem Oberkirchenrat, an: In der Evangelischen Kirche A.B.32 der Bischof, der Landeskurator (dieser soll, indem er/sie das presbyterial-synodale Prinzip auf der Ebene der Kirche verkörpert33, das „Kirchenvolk“ repräsentieren und hat somit eine ganz andere Stellung als die Superintendentialkuratoren) sowie vier Personen mit dem Titel „Oberkirchenrat“ (wobei hier zwei geistliche und zwei weltliche Vertreter vorgesehen sind.34 Bei den weltlichen Vertretern soll einer/eine „über Qualifikation und Erfahrung in wirtschaftlichen Belangen verfügen, der andere über solche in juristischer Art“35). In der Evangelischen Kirche H.B.36 gehören der Kirchenleitung an: der Landessuperintendent sowie die geistlichen und weltlichen Mitglieder des Synodalausschusses H.B., die ebenfalls alle 28

Reingrabner, Kirchenleitung (Anm. 13), S. 121. KV Art. 74 (1). Auch hat die Synode gewisse Aufsichtspflichten gegenüber der Kirchenleitung. 30 Verschwunden sind hingegen z. B. in deutschen Landeskirchen die Vertreter des Landesfürsten bzw. Patronatsvertreter – in Österreich hat es diese ohnehin nicht gegeben. 31 In der Praxis ergeben sich hier zwei Probleme: Erstens gibt es drei Oberkirchenräte als Organ (jeweils für die Kirchen A.B., H.B. und A.u.H.B.) und zweitens wird der Titel Oberkirchenrat auch für einzelne Funktionäre verwendet. 32 KV Art. 87 (2). 33 KV Art. 92 (1). 34 Ein vordem gegebenes „Gefälle“ in der Stellung der Oberkirchenratsmitglieder ist erst mit der personellen Aufstockung des Gremiums auf vier plus zwei Personen weggefallen. 35 KV Art. 93 (5). 36 KV Art. 97 (2). 29

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den Titel Oberkirchenrat führen. Dem Oberkirchenrat A.u.H.B. gehören alle Mitglieder des Oberkirchenrats A.B. an, der Landessuperintendent sowie ein weltlicher Oberkirchenrat H.B.37 Die Zusammensetzung der Kirchenleitung war aber über die Jahre seit der KV 1949 nicht immer gleich, so gab es z. B. bis zum Jahr 1997 die Funktion eines „Kirchenkanzlers“. Auch wurde erst vor wenigen Jahren beschlossen, die Positionen der geistlichen Oberkirchenräte A.B. nach ihren Aufgaben zu bestimmen und gezielt auszuschreiben.38 Eine Zeit lang gab es auch zusätzlich ein Referentensystem: Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden vorerst vier Referenten geschaffen, und zwar für die Aufgabenbereiche Jugendarbeit, Kirchenbeitrag, Männerarbeit und Frauenarbeit; die Referenten trugen den Titel eines „Kirchenrats“. Dieses Referentensystem hatte aber nicht lange Bestand, die Männerarbeit wurde bereits 1949 aufgelöst. Nachdem auch 1949/50 beschlossen wurde, dass der Kirchenbeitrag direkt von den Gemeinden eingehoben werden sollte, wurde auch dieses Referat aufgelöst. Frauenarbeit und Jugendarbeit wurden jeweils ein eigenes Werk der Kirche. Somit ist dieses Referentensystem unter Bischof May „eingeschlafen“ und wurde auch unter Bischof Sakrausky nicht reaktiviert. Dadurch, dass viele Bereiche von den Personen, die im Oberkirchenrat tätig waren, nicht abgedeckt wurden und auch in der Fülle der Aufgaben gar nicht abgedeckt werden konnten39, gab es zeitweise deutliche Defizite im Oberkirchenrat; hier hätte ein Referentensystem helfen können.40 VI. Verhältnis und Problematik von Kirchenleitung, Synode, Synodale und weiteren Gremien Besonders in der Praxis wird ersichtlich, dass das Zusammenspiel und die Zuständigkeiten unterschiedlicher kirchlicher Gremien und der Personen, die sich darin engagieren, in ihrem Zusammenwirken nicht unproblematisch sind. Da der Oberkirchenrat als Kirchenleitung fungiert und die Synode mit der kirchlichen Gesetzgebung betraut ist, ist klar, dass es ein enges Zusammenarbeiten beider Institutionen geben muss. Es zeigen sich jedoch auch dabei Probleme. So ist der Bischof Mitglied der Synode, obwohl er auch Teil des Oberkirchenrats ist41 (dies ist 37

KV Art. 114 (2). Nach der Umwandlung der Stelle eines außerordentlichen Oberkirchenrates in die eines zweiten „ordentlichen“ haben die beiden Gewählten erst nach ihrer Wahl beschlossen, wie sie die Arbeitsbereiche untereinander aufteilen. 39 Das Referentensystem war aber auch dahingehend gedacht, Fachleute zu gewinnen, die Bereiche abdecken, die für die Kirche bedeutsam sind, aber durch die „normale“ Organisation nicht ausreichend berücksichtigt werden konnten, wie z. B. Ethik, Wirtschaftsleben, etc. 40 So z. B. der Niedergang der Inneren Mission: in den 60er Jahren hatte der Verein in Wien noch ca. 11.000 Mitglieder, dann folgte eine Periode der Auflösung. Es gab keinen Rektor und auch keine zuständige Person; dies führte seit 1977 faktisch zu einer weitgehenden Zerstörung. 41 Vgl. dazu Gustav Reingrabner, Amt und Person – Konflikte um die Vorsitzenden des Oberkirchenrats seit 1918, in: Jahrbuch für die Geschichte des Protestantismus in Österreich 115 (1999), S. 102 ff. 38

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z. B. in der EKD42 nicht so, in Österreich hängt dies aber damit zusammen, dass auch die Superintendenten – von Amts wegen – Mitglieder der Synode sind). Dann gibt es noch Synodalausschüsse, z. B. der Synodalausschuss A.B.43, der zwar ursprünglich nur aus drei Mitgliedern und deren Stellvertretern bestand, dann seit 1970 vergrößert wurde, seit 1998 aber zu einem „Abbild“ der Superintendenzen geworden ist und nun 16 Mitglieder hat44 – und somit zu einem „Organ der Superintendenten auf zentraler Ebene“ geworden ist. Dieser Synodalausschuss vermag derzeit eigentlich nur die Pfarrgemeinden widerzuspiegeln, nicht jedoch z. B. die Innere Mission oder den Religionsunterricht. Und in der Superintendentenkonferenz, also dem Gremium derer, die ordinieren dürfen, werden auch Themen und Gegenstände besprochen, die mit der Funktion der Ordination nichts zu tun haben. Damit hat aber der Superintendent gegenüber seinem Superintendentialkurator den massiven Vorteil der „Informiertheit“. Und dies setzt sich auch in der Synode fort, denn je größer ein Gremium ist, desto schwieriger ist es, die Sitzungen vorzubereiten, zu straffen und durchzuorganisieren. Ausschüsse und weitere Gremien müssen hier viel Vorarbeit leisten und der „typische Synodale“, dem es an „Informiertheit“ fehlt (die weltlichen Abgeordneten sind ja allesamt ehrenamtlich tätig) kann leicht in die Stellung eines „Parlamentariers“ abgleiten und lediglich zum Abstimmen degradiert sein. Es sind also durchaus unterschiedliche Wertigkeiten bzw. Hierarchien innerhalb der Synode zu erkennen. Die Synode ist zwar mit der kirchlichen Gesetzgebung betraut, jedoch gibt es seitens des Oberkirchenrats ein Notverordnungsrecht („Verfügung mit einstweiliger Geltung“), welches an die Zustimmung des Synodalausschusses gebunden ist. Damit vermag der Oberkirchenrat Angelegenheiten mittels Verordnung zu regeln, die eigentlich der Synode vorbehalten sind (so sind so gut wie alle Nebengesetze der Kirchenverfassung von 1949, wie z. B. die Ordnung des geistlichen Amtes, die Disziplinarordnung und die Kirchenbeitragsordnung, auf diese Weise in Kraft gesetzt worden). Dieses Notverordnungsrecht war bis 1968 eine unbedingte Notwendigkeit, da die Synode meist nur alle 6 Jahre zusammengetreten ist; regelmäßige Sessionen sind erst danach eingeführt worden. Unter dem Synodenpräsidenten Günter

42 Die EKD (Evangelische Kirche in Deutschland) ist ein Zusammenschluß von 22 lutherischen, reformierten und unierten Kirchen in Deutschland. 43 Hier wird es in Zukunft eine Änderung geben, für die nun folgenden Ausführungen siehe insb. Anm. 58. 44 Diese Mitglieder sind: Der Präsident der Synode A.B. (da bis 1949 der Oberkirchenrat einen Juristen als Präsidenten hatte, wurde stets einer der Superintendenten in der Synode A.B. zum Vorsitzenden gewählt; seitdem der Bischof Vorsitzender des Oberkirchenrats A.B. ist, wählt die Synode einen Juristen zu ihrem Vorsitzenden, der nun auch den Titel Präsident trägt), der Obmann der Finanzkommission sowie jeweils sieben von der Synode A.B. aus ihrer Mitte zu wählende Abgeordnete geistlichen und weltlichen Standes (wobei die Synodalen jeder Superintendenz das Vorschlagsrecht für je einen Abgeordneten geistlichen und weltlichen Standes und deren Ersatzleute haben – was dazu führt, dass in der Regel die Superintendenten und die Superintendentialkuratoren als diese Abgeordneten gewählt sind).

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Sagburg wurde das Notverordnungsrecht massiv eingeschränkt; allerdings existiert es bis heute, und hat zumindest den Beigeschmack der Anlassgesetzgebung.45 Es sind also viele Problematiken in einem unterschiedlichen Zusammenspiel zu erkennen, die zumeist auf das nicht immer einfache Verhältnis von hauptamtlichen Geistlichen und ehrenamtlichen Weltlichen hindeuten. VII. Kirchenleitung und leitendes geistliches Amt Der Bischof ist von der Synode gewählt und in seiner Amtsführung an diese gebunden. Obwohl er den Titel „Bischof“ trägt, ist das Amt vom Wesen her nicht dasselbe wie das eines römisch-katholischen Bischofs46 ; das ist insbesondere in einem aus der Geschichte heraus katholisch geprägten Land wie Österreich nicht unwichtig. Da aber auch – und vor allem historisch vorrangig – die Superintendenten Anteil am episkopalen Element, also an einem leitenden geistlichen Amt haben, ist auch die Unterscheidung von Bischof und Superintendent durchaus nicht unwesentlich. Eine Hierarchisierung des geistlichen Amtes suchte man dadurch zu entschärfen, indem man in der Ordnung des geistlichen Amtes 1940 ihre Tätigkeiten so beschrieb: „der Bischof hat für das Gebiet der ganzen Landeskirche dieselben Aufgaben und Rechte wahrzunehmen, wie der Superintendent für seine Diözese“47, aber die Abgrenzung bleibt dennoch schwierig (so hat auch der Bischof erst 1997 das Visitationsrecht in den Superintendenzen bekommen48). Dem Superintendenten kommt ein Pflichtenbündel an geistlichen, seelsorgerlichen, repräsentativen, verwaltenden und parlamentarischen Aufgaben zu: Predigtrecht, Hirtenbriefrecht, Zuständigkeit zwischen Gemeinden und Oberkirchenrat im Dienstweg, der ihm Diözesankenntnis verschaffen und diese Kenntnis dem Oberkirchenrat nutzbar machen soll. Jedoch ergibt sich hier eindeutig das Problem zwischen Dienstaufsicht und Seelsorge. Der Landes-

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So z. B. die neueste „Verfügung mit einstweiliger Geltung“ vom 11. 4. 2011, ABl. Nr. 63/2011 betreffend die nun nicht mehr notwendige Nachwahl eines im letzten vollen Jahr der Amtsperiode ausgeschiedenen Landeskurators (KV Art. 92 (2)) oder Oberkirchenrats (KV Art. 93 (8)). 46 Vgl. dazu Gustav Reingrabner, Pro und Kontra: Namen und Bezeichnungen in der Kirche. Warum ein Superintendent kein Bischof und eine Superintendenz keine Diözese ist, in: AuG 48 (1997), S. 148 f.; sowie ders, Das Bischofsamt in der evangelischen Kirche, in: AuG 36 (1985), S. 75 ff. 47 Eine – nicht nur juristisch gesehen – wenig hilfreiche Formulierung! ABl. 85/1940 § 40, vom 27. 8. 1940; genauere Aufgabenbereiche werden dann erst in der Dienstanweisung für Senioren und Superintendenten, ABl. 31/1942, §§14 – 15, vom 07. 04. 1942, kurz skizziert und definiert. 48 Auch der geistliche Oberkirchenrat, in dessen Zuständigkeitsbereich der Religionsunterricht fällt, hat kein Visitationsrecht – ein Fachinspektor hat dieses zumindest nach staatlichem Recht. Grundsätzliches zur Visitation bei Gustav Reingrabner, Der Dienst der Visitation in der Evangelischen Kirche in Österreich, in: AuG 15 (1964), S. 59 ff.

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superintendent49 nimmt für die Kirche H.B. die superintendentiellen Aufgaben wahr, allerdings ohne Hirtenbriefrecht50 und ohne die den Presbyterien zufallende Trauungs- und Konfirmandenaltersnachsicht. Er bleibt Gemeindepfarrer H.B. und versieht seinen Dienst im Nebenamt. Der Bischof A.B. gilt als „erster Pfarrer“ der Kirche51, das pastorale Element unterscheidet ihn vom römisch-katholischen Bischof, dem das kanonische Recht besondere Weihe- und Jurisdiktionsgewalt zuschreibt. Der evangelische Bischof ist Inhaber eines synodalen Bischofsamtes und hat ein Funktionsbündel von Wächter-, Hirten- und Verkündigungsdiensten, insbesondere „alle Aufgaben der geistlichen Leitung im Großen“52, was jedoch angesichts der proklamatischen Gleichstellung aller Ordinierter53 einigen Missverständnissen ausgesetzt ist.54 Die Verbindung mit Verwaltungsaufgaben des Oberkirchenrats und seine Mitgliedschaft in der Synode und der Generalsynode machen den Bischof zum Koordinator aller kirchlichen Funktionen. Er führt den Vorsitz im Oberkirchen49 Die Evangelische Kirche H.B. in Österreich kennt den Titel Bischof nicht; zumeist wird auch behauptet, dass es in keiner reformierten Kirche den Titel Bischof gibt, das ist jedoch unrichtig. So gibt es in Ungarn in der reformierten Kirche den Titel Bischof (wenn dies überhaupt in mancher Literatur zu finden ist, wird z. B. lediglich festgestellt „so gebraucht die reformierte Kirche in Ungarn ebenfalls den Bischofstitel für das leitende geistliche Amt“ (Ulrich Körtner, Kirchenleitung und Episkop¦. Funktionen und Formen der Episkop¦ im Rahmen der presbyterial-synodalen Ordnung evangelischer Kirchen (Gutachten und Studien Nr. 1, Evangelisch-Theologische Fakultät der Universität Wien), Wien 2004, S. 36), der Grund dafür fehlt jedoch: In Ungarn hatten die röm.-kath. Bischöfe Sitz und Stimme im Oberhaus, 1884 wurde dies auf alle Kirchen ausgedehnt. Jedoch war die konkrete Voraussetzung für diese Mitgliedschaft der Titel „Bischof“. In der lutherischen Kirche wurde der Superintendent sofort Bischof, 1885 zogen die Reformierten nach. Es waren somit wohl rein machtpolitische und keine theologischen Erwägungen, die zur Verwendung des Titels „Bischof“ in Ungarn in der reformierten Kirche geführt haben. 50 Das Fehlen des Hirtenbriefrechtes bedeutet ein anderes Verständnis der kirchenleitenden Funktionen. 51 KV Art. 90 (1) sowie (3). 52 Wobei hier anzumerken ist, dass es keine geistlichen Hierarchien, sondern lediglich ein „oben“ und „unten“ in den Zuteilungen gibt. Siehe dazu auch die Funktionsbeschreibung in KV Art. 90. 53 Vgl. Gustav Reingrabner, Ordination im evangelischen Verständnis. Bemerkungen zu ihrer Bedeutung und Problematik, in: AuG 55 (2004), S. 150 ff. 54 Die Amtsträger stehen auf Grund der Ordination einander gleich, unbeschadet einer allfälligen Aufsicht durch Vorgesetzte, die jedoch kein Weisungsrecht in geistlichen Belangen impliziert, sondern nur seelsorgerliche Gewissensappelle vom Wort Gottes her erlaubt; siehe dazu die Diskussion um die Weisungsgebundenheit in der Generalsynode 1968 (Protokoll der 1. Session der 7. Generalsynode vom 28. bis 29. März 1968) sowie die darauf folgenden Veröffentlichungen: Arthur Dietrich, Zur Frage der Weisungsgebundenheit des geistlichen Amtsträgers in der Evangelischen Kirche, Diss. Wien 1977, S. 199 ff., und ders., Die Weisungsgebundenheit des geistlichen Amtsträgers, in: Hans-Christoph Schmidt-Lauber (Hrsg.), Theologia Scientia Eminens Practica (FS Zerbst), Freistadt 1979, S. 73 ff., hier S. 77 f.; weiters die im Eigenverlag hektografierte und vervielfältigte Zusammenstellung von Robert Kauer, Prinzipielle Weisungsgebundenheit eines evangelischen Pfarrers. Beiträge und Dokumente zu dieser Strukturfrage der Evangelisch-lutherischen Kirche in Österreich, o. O (Wien), o. J. (1969).

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rat A.B. (im Oberkirchenrat A.u.H.B. auf Grund einer gesonderten Wahl durch die Generalsynode); in der Synode führt der Bischof nicht den Vorsitz, insgesamt wird er jedoch nicht wirklich entlastet zugunsten einer Konzentration auf seelsorgerliche Leitung und Koordination. Weiters ist die Superintendentenkonferenz ein Beratungsorgan des Bischofs, allerdings ohne nähere Kompetenzfestschreibung. So ist zu erkennen, dass wesentliche Leitungsaufgaben in der Kirche nicht nur von dem mit der Kirchenleitung betrauten Oberkirchenrat, sondern von Inhabern leitender geistlicher Ämter erfüllt werden. VIII. Ausblick Am Schluss dieser Zeilen soll noch Raum sein für einige wesentliche Anmerkungen bzw. Thesen zu Kirchenleitung und deren durchaus notwendiger Strukturreform: 1. So wie in einer Pfarrgemeinde ein Pfarramt für die laufende Verwaltung notwendig ist, braucht es in einem synodal-presbyterialen System eine Kirchenleitung. Und auch hier mischen sich verschiedene Aufgaben zu einem Ganzen. Ohne dass dabei beides identisch wäre, steht die Kirchenleitung in Verbindung mit der Kirchenverwaltung.55 Die Verwaltungsaufgaben sollen unter Verantwortung der Kirchenleitung wahrgenommen werden, so wie die Verwaltungsaufgaben einer Pfarrgemeinde im Verantwortungsbereich des Pfarramtes liegen. Inwieweit zusätzliche Befugnisse, die über den reinen Verwaltungsbereich hinausgehen, zulässig oder gewünscht sind, muss immer neu hinterfragt und angepasst werden. 2. Die Synode steht hierarchisch gesehen weder über noch unter der Kirchenleitung; beide sollen gemeinsam in einer ungeteilten Verantwortung stehen. Überschneidungen bei den Mitgliedern können dazu sicherlich sinnvoll sein, jedoch darf es zu keiner unterschiedlichen Wertigkeit zwischen geistlichen und weltlichen Vertretern bzw. hauptamtlichen und ehrenamtlichen Abgeordneten kommen. 3. Die Kirchenleitung muss als Kollegium geführt sein. Die Mitglieder dieses Kollegiums sind dann für unterschiedliche Referate, also Ressorts, zuständig. Dabei ist immer abzuwägen zwischen einem auf wenige Personen zugeschnittenen kleinen Gremium (wo dann gewisse Bereiche nicht abgedeckt werden können) und einer großen Gruppe an Mitarbeitern (wo alle Bereiche kompetent vertreten sind). Hier erscheint also, obwohl sicherlich schwieriger zu administrieren, ein größeres Gremium sinnvoller, welches dann aber eben auch Bereiche abdecken kann, die sonst nur unzureichend berücksichtigt werden könnten.56

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Kirchenleitung und Kirchenverwaltung sind zwar einander zugeordnet, aber doch verschiedene Aufgaben. Bis 1949 gab es eben auch das sogenannte „Präsidium des Oberkirchenrats“, das die Verwaltungsaufgaben, die mit der Kirchenleitung verbunden waren, zu leiten hatte; seit damals diskutierte man, ob es nicht erforderlich wäre, einen Leiter der Verwaltung zu bestellen, bzw. wer diese Funktion theoretisch, aber auch tatsächlich ausübe. 56 Siehe Anm. 39.

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4. Ein episkopales Amt in der Kirchenleitung ist ebenso notwendig; die Aufgaben sollen jedoch in Verbindung57 mit anderen Amtsträgern der Kirchenleitung ausgeübt werden.58 5. Bei allen strukturellen Überlegungen, die auch bereits derzeit angedacht sind, darf nicht außer Acht gelassen werden, dass eine Verfassungsunion zweier Gliedkirchen besteht. Das soll tunlichst so bleiben.59 6. Bei allen Schwierigkeiten, mit denen sich die Evangelische Kirche in Österreich in Zukunft zu beschäftigen haben wird, darf Folgendes nie vergessen werden: Es sind die Menschen vor Ort in den Pfarrgemeinden, die Kirche sind und die sich 57

Vgl. z. B. Bernd Oberdorfer, Arbeitsteilige Gemeinschaft und gegenseitige Verantwortung. Zum Verhältnis von synodaler und bischöflicher Kirchenleitung, in: Nachrichten der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern, 58. Jg. 3/2003, S. 65 ff., insb. S. 68. 58 Grundlage für eine geplante Strukturreform in der evangelischen Kirche sollte das sogenannte „Naßwalder Modell“ sein – auf das hier leider nicht näher eingegangen werden kann (hervorragende Literatur darüber z. B. Gustav Reingrabner, Das Naßwalder Modell – Kirchenreform auf österreichisch?, in: ÖARR 56 [2009], S. 231 – 266) – sein; ein wesentlicher Kritikpunkt an diesem war, dass die Strukturänderungen zu einer „Bischofskirche“ führen würden. Die Gemeinden wurden zwar befragt, vielerorts konnte man das Gefühl des „Drüberfahrens“ aber nicht leugnen; es deutete sich jedenfalls eine massive Zentralisierungstendenz an. Wurde anfangs seitens der Entwickler dieses Modells die umfangreiche Kritik, die von den befragten Gemeinden kam, scheinbar nicht angenommen, so kippte die Stimmung im April 2008 sehr rasch (vgl. hier die vielen Stimmungsberichte etlicher Abgeordneter zu den Superintendentialversammlungen, die sich mit dem Modell zu befassen hatten – bei den Besprechungen wurde meist sehr emotional agiert und es gab kaum nennenswerte positive Reaktionen), wohl auf Grund der nicht enden wollenden Gegenargumente, und das Naßwalder Modell wurde nur mehr als „Diskussionsgrundlage“ für einen Strukturreformprozess bezeichnet. Auf diesen Vorarbeiten wurde aber dennoch aufgebaut und in der Session der Synode im Oktober 2011 wurden weitreichende Änderungen in der Kirchenverfassung beschlossen, die aber an dieser Stelle aktualitätsbedingt nur kurz erwähnt werden können: So soll z. B. die Synode A.B. in Zukunft mehr als bisher für das operative Geschäft Verantwortung tragen (unter anderem auch die Budgetverantwortung innehaben) und z. B. das neue „Kirchenpresbyterium A.B.“ (dieses soll aus dem Bischof, dem Präsidenten der Synode A.B., den Oberkirchenräten A.B. sowie den Superintendenten und den Superintendentialkuratoren bestehen; der Synodalausschuss A.B. wird nicht weiter existieren) soll unter anderem Verantwortung für die nachhaltige Entwicklung der Evangelischen Kirche A.B. tragen. Es ist allerdings zu befürchten, dass – nicht nur auf Grund dieser aktuellen Änderungen sondern auch wegen des schleichenden wie massiven Abbaus presbyterial-synodaler Elemente in der Kirchenverfassung in den letzten zwanzig Jahren – der Weg in eine „Obrigkeitskirche“ eingeschlagen wird (siehe dazu vor allem Joachim Kühnert, Auf dem Weg in die „Obrigkeitskirche“. Oder: Der Abschied unserer Kirche von einer presbyterial-synodalen Grundstruktur, in: Beilage zu „Auf festem Grund“, Rundbrief der Arbeitsgemeinschaft Bekennender Christen in Österreich – ABCÖ, Wien 2011, insb. S. 4 f. und S. 22 f.). 59 Hier sei einerseits nochmals das bereits (in Anm. 58) erwähnte Naßwalder Modell angeführt, das, obwohl seitens der Kirche H.B. nicht mitgetragen, dennoch weiterentwickelt wurde. Andererseits hat z. B. der frühere Landessuperintendent Peter Karner einen Kirchenverfassungstext H.B. in der Reihe Reformiertes Kirchenblatt herausgegeben (Aktuelle Reihe 17, 1979), also die für die Kirche H.B. relevanten Textteile aus der KV herausgenommen, teilweise sprachlich angepasst und veröffentlicht. Beides ist für die Beibehaltung einer Verfassungsunion zweier Gliedkirchen eher ungünstig.

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auch für diese engagieren. Und besonders in einer evangelischen Kirche kam und kommt immer vieles von den sogenannten „Laien“. Weniger zentralisierende Maßnahmen sondern Verschiebung (bzw. Rückführung) mancher Verantwortungsbereiche zu eben diesen Laien wäre daher empfehlenswert. Wenn diese wieder deutlicher in die Verantwortung genommen werden, dann mag evangelisches Leben wohl wieder zu einer Blüte kommen.

Das josefinische Toleranzpatent und seine Bedeutung für die evangelische Minderheit in Slowenien1 Von Karl W. Schwarz I. Einleitung Eingeladen, an der Festschrift für Johann Paarhammer „mitzuschreiben“, gereicht es mir zur besonderen Ehre, einen Vortrag in der Toleranzgemeinde Puconci anlässlich des 230-Jahrjubiläums des josefinischen Toleranzpatents (III.) mit einigen einleitenden Bemerkungen zum Protestantismus in Slowenien (II.), insbesondere im Übermurgebiet/Prekmurje, dem Landstrich zwischen Mur und Raab, zum Abdruck zu bringen und damit den verehrten Kollegen anlässlich seines Geburtstages zu grüßen. In der eindrucksvollen Zusammenschau von Rechtsgeschichte, Kanonistik, Ökumene und Religionsrecht ist sein wissenschaftliches Werk charakterisiert; möge dieser Beitrag auf sein geneigtes Interesse stoßen. Die Aufgabenstellung war und ist diffizil, weil auf unterschiedliche Rechtstraditionen Bezug zu nehmen ist, die in Slowenien galten: dem Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation mit seinem Reichsreligionsrecht, wie es im Augsburger Religionsfrieden (1555) und im Westfälischen Frieden (Instrumentum Pacis Osnabrugense [IPO] 1648) kodifiziert wurde, dem im Herzogtum Krain geltenden österreichischen Territorialrecht, etwa dem Toleranzpatent (1781), dem Josefinischen Ehepatent (1783) oder dem ABGB (1811) – schließlich aber dem ungarischen Religionsrecht mit seinen auf die Religionsfreiheit abzielenden Friedensverträgen von Wien (1606), Nikolsburg (1621), Linz (1645) und Sathmar (1711) und den entsprechenden Landtagsbeschlüssen von 1608, 1622, 1625, 1647, sodann jene des Landtags von Ödenburg 1681 (Art. XXV, XXVI), von Pressburg (1687, 1708), weiters die Karolinischen Resolutionen (1731, 1734), das Toleranzpatent für Ungarn (1781) und die Religionargesetze der Landtage 1790/91 (Art. XXVI), 1843/44 (Art. III) und 1848 (Art. XX). Bei der Überarbeitung meines Manuskripts stand mir vor allem eine vitale Frage der kleinen Minderheitskirche in Slowenien vor Augen (IV. – VI.), der man allenthalben begegnet und die eine heikle kultuspolitische und interkonfessionelle Frage darstellt, weil sie auf unterschiedlichen Ebenen abgehandelt und aus mehreren Perspektiven betrachtet wird: die interkonfessionellen Eheschließungen und die religiö1 Vortrag bei der Festveranstaltung der Evangelischen Kirche in Slowenien im SˇtevanKüzmicˇ-Haus in Puconci, 16. 09. 2011.

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se Kindererziehung. Früher wurde es „Mischeherecht“ genannt und unter ausschließlich kanonistischer Perspektive abgehandelt. Heute zeigt sich dabei eine ganz wichtige ökumenische Anfrage, die auf den konfessionsverbindenden Aspekt solcher Ehen absteckt2 und die zwischenkirchliche Verantwortung für diese Ehen vor und bei der Trauung, aber auch danach und in der seelsorgerlichen Begleitung betont. In diesem Prätext erfährt die von katholischen Ehepartnern zu leistende Verpflichtung zur katholischen Kindererziehung notwendigerweise eine Umdeutung, die auf das Gewissen des nicht-katholischen Ehepartners Rücksicht nimmt (VII.).3 Ein weiterer wichtiger Aspekt ist die Zivilehe, vor deren Hintergrund die kirchlichen Trauungen erfolgen.4 II. Der Protestantismus in Slowenien/Prekmurje Die Republik Slowenien ist ein katholisches Land5, 75 % der zwei Millionen Slowenen gehören der Römisch-katholischen Kirche an (2002: 57,8 %), 2,3 % sind serbisch-orthodox, 2,4 % muslimisch, 1 % evangelisch6, ein beachtlicher Teil verweigerte die Angabe (ca. 22,8 %) oder bezeichnete sich als konfessionslos (10,1 %), 3,5 % als „religiös“ ohne Zugehörigkeit zu einer Religionsgemeinschaft.7 Die Evan2 Silvia Hell, Die konfessionsverschiedene Ehe. Vom Problemfall zum verbindenden Modell, Freiburg i. B. 1998. 3 Christine Gleixner, Antworten auf gemeinsame Herausforderungen, in: Begegnung und Inspiration. 50 Jahre Ökumene in Österreich, Wien/Graz/Klagenfurt 2008, S. 21 – 30, hier S. 22. 4 Walter Weinberger, Republik Slowenien, in: Wilhelm Rees (Hrsg.), Katholische Kirche im neuen Europa. Religionsunterricht, Finanzierung und Ehe in kirchlichem und staatlichem Recht, Wien/Berlin/Münster 2007, S. 445 – 454, hier S. 452; Lovro Sˇturm, Staat und Kirche in Slowenien, in: Gerhard Robbers (Hrsg.), Staat und Kirche in der Europäischen Union, BadenBaden 22005, S. 509 – 532, hier S. 531; ders., Das Recht der Religionsgemeinschaften in Slowenien, in: Wolfgang Lienemann/Hans-Richard Reuter (Hrsg.), Das Recht der Religionsgemeinschaften in Mittel-, Ost- und Südosteuropa, Baden-Baden 2005, S. 473 – 494, hier S. 492; Wilhelm Rees, Staat und Kirche in Österreich und Slowenien, in: Dieter A. Binder/ Klaus Lüdicke/Hans Paarhammer (Hrsg.), Kirche in einer säkularisierten Gesellschaft, Innsbruck/Wien/Bozen 2006, S.121 – 152. 5 France M. Dolinar, Slowenien, in: Erwin Gatz (Hrsg.), Kirche und Katholizismus seit 1945, 2. Bd., Paderborn u. a. 1999, S. 165 – 176; Niko Tosˇ/Vinko Potocˇnik, Religion und Kirche in Slowenien, in: Paul M. Zulehner/Miklýs Tomka/Niko Tosˇ (Hrsg.), Religion und Kirchen in Ost(Mittel)Europa: Ungarn, Litauen, Slowenien, Ostfildern 1999, S. 233 – 357, hier S. 258 ff., 282 ff.; Andrej Saje, Die Katholische Kirche in Slowenien im Verhältnis zum Staat, in: Konrad Breitsching/Wilhelm Rees (Hrsg.), Recht – Bürge der Freiheit (Festschrift Johannes Mühlsteiger SJ 80), Berlin 2006, S. 1103 – 1118; Vinko Potocˇnik, Religion und Kirche im Wandel der slowenischen Reformgesellschaft, in: Johann Marte u. a. (Hrsg.), Religion und Wende in Ostmittel- und Südosteuropa 1989 – 2009, Innsbruck/Wien 2010, S. 149 – 164. 6 Geza Ernisˇa, Die slowenischen evangelischen Christen am Knotenpunkt dreier Nationen und Sprachen, in: Hans Jürgen Luibl/Christine-Ruth Müller/Helmut Zeddies (Hrsg.), Unterwegs nach Europa. Perspektiven evangelischer Kirchen, Frankfurt a. M. 2001, S. 350 – 353. 7 Potocˇnik, Religion und Kirche (Anm. 5), S. 150 (Zensus 2002).

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gelische Kirche umfasst demnach knapp 20.000 Mitglieder in dreizehn Gemeinden, von denen je eine in Zentralslowenien (Ljubljana/Laibach) und in Sˇtajerska, der ehemaligen Untersteiermark (Maribor/Marburg) liegt, elf hingegen sich im Übermurgebiet/Prekmurje befinden, das zum Königreich Ungarn gehörte und erst nach dem Ersten Weltkrieg bzw. nach der erfolgten Rückgliederung an Ungarn zwischen 1941 und 1945 nach dem Zweiten Weltkrieg an Slowenien fiel.8 Hier galt einerseits im Zwischenmurgebiet (Murinsel, Medjimurje) das ungarische Recht weiter, andererseits wurde im Übermurgebiet (Prekmurje) das österreichische Recht (ABGB) eingeführt.9 Ungeachtet dieser geringen Dichte ist der Protestantismus in Slowenien in hohem Ansehen; der Gedenktag der Reformation, der 31. Oktober, wird als staatlicher Feiertag begangen. Das hängt mit der enormen Bedeutung der Reformation für die slowenische Sprache und Literatur zusammen. Der Reformator der Slowenen Primus Truber (1508 – 1586) wird als Vater der slowenischen Kultur (ocˇe slovenske knjizˇevnosti in kulture) verehrt10, sein „Katechismus in der Windischen Sprach“ (1550) war das erste slowenische Buch, bezeichnenderweise ein lutherischer Katechismus. Die slowenische Literatursprache und Schriftkultur wurde durch die Bibelübersetzung durch Truber und dessen Schüler Georg/Jurij Dalmatin (1547 – 1589) entscheidend geprägt. Die Dalmatin-Bibel (Wittenberg 1584) war der letzte Höhepunkt des südslawischen Buchdrucks in Deutschland; sie stand auch beim katholischen Klerus in hohem Ansehen. Adam Bohoricˇ (um 1520 – 1598), Lehrer an der evangelischen Schule in Laibach, verfasste die erste slowenische Grammatik, Hieronymus Megiser (1553 – 1618), sein Kollege am Klagenfurter Collegium sapientiae et pietatis, ein für die Ausprägung der slowenischen Sprache essentielles Wörterbuch (Dictionarium quatuor linguarum [1592]). Truber, der seit 1547 im Exil in Deutschland lebte, verfasste die Kirchenordnung von Kempten im Allgäu11 und brachte reichhaltige Amtserfahrung mit den Württembergischen Kirchenordnungen von 1536 und 1559 mit, als er 1561 von den Ständen als Superintendent nach Laibach berufen wurde und seine Tätigkeit auf eine kirchenrechtliche Grundlage stellen wollte. Er adaptierte daher die Württembergische Kirchenordnung für seine Zwecke und gab (ohne Titelblatt und Verfasserangabe) die erste slowenische Kirchenordnung (Tübingen 1564)12 heraus, 8

Arnold Suppan, Jugoslawien und Österreich 1918 – 1938. Bilaterale Außenpolitik im europäischen Umfeld, Wien-München 1996, S. 558 ff.; Istv‚n György Týth (Hrsg.), Geschichte Ungarns, Budapest 2005, S. 678; Peter Sˇtih/Vasko Simoniti/Peter Vodopivec, Slowenische Geschichte, Graz 2008, S. 319; Oto Luthar (Hrsg.), The Land Between. A History of Slovenia, Frankfurt a. M. 2008, S. 399, 423, 448. 9 Helmut Slapnicka, Österreichs Recht außerhalb Österreichs. Der Untergang des österreichischen Rechtsraumes, Wien 1973, S. 91. 10 Jozˇe Javorsˇek, Primozˇ Trubar (Edition Primozˇ Trubar I), Klagenfurt/Celovec 2011. 11 Matthias Simon (Hrsg.), Die evangelischen Kirchenordnungen des XVI. Jahrhunderts, 12. Bd., Tübingen 1963, S. 173 – 177. 12 Lilijana Zˇnidarsˇicˇ Golec, Die „Slowenische Kirchenordnung“ von 1564 zwischen Wunsch und Wirklichkeit, in: Sönke Lorenz/Anton Schindling/Wilfried Setzler (Hrsg.), Pri-

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die Geltung beanspruchte für alle Gemeinden dieser Sprache im Herzogtum Krain, aber auch in den angrenzenden Ländern Innerösterreichs, Kärnten und Steiermark sowie in den von Slowenen besiedelten Komitaten Ungarns (Kirche in der slowenischen Sprache). Sie gilt als das erste slowenische Rechtsdenkmal, wurde aber vom Landesherrn Karl II. unverzüglich konfisziert und vernichtet. Die dagegen protestierenden Stände wies der Fürst entschieden zurück, denn „nach den reichsconstitutionen und dem religionsfrieden stehe es nicht ihnen, sondern ihm, dem landesfürsten zu, der religion halben maß und ordnung zu geben, ihnen aber, denselben zu gehorchen“13. Truber musste 1565 erneut nach Württemberg emigrieren, förderte von dort den Fortgang der Reformation in seiner Krainer Heimat durch den Druck biblischer und theologischer Literatur. Der von den Ständen getragenen Landeskirche in Krain14 war nur eine kurze Lebenszeit beschieden. Als am 27. Oktober 1598 ein Erlass des Landesherrn verfügte, dass alle evangelischen Prediger und Schullehrer aus Laibach zu verschwinden hätten und die gesamte Literatur verbrannt wurde, war damit auch die Kirche zum Untergang verurteilt, weil sie unter der bäuerlichen Bevölkerung nicht hinreichend eingewurzelt war. Anders verhielt es sich in dem zu Ungarn gehörigen Übermurgebiet.15 Dort hatte sich im Laufe der 40er-Jahre des 16. Jahrhunderts die Reformation durchgesetzt16, weil sich die adeligen Grundherrschaften (B‚nnfy, Erdödy, Batthy‚ny, Zrinyi, N‚dasdy) für die neue Lehre entschieden und als Patronatsinhaber „neugläubige“ Prediger präsentierten. Dieser Vorgang ähnelte durchaus dem in Österreich, wo die Reformation durch die Stände propagiert wurde und deshalb als „Ständereligion“ galt.17 Auch aus diesem Landstrich zwischen Mur und Raab sind Studenten in Wittenberg nachgewiesen, die in der Folge in ihre Heimat zurückkehrten und die neuen Lehren aus Wittenberg propagierten. Die 1598 in Innerösterreich einsetzende Gegenreformation warf ihren Schatten auf Prekmurje, wo Exulanten aus Graz von der Familie N‚dasdy in Petanjci aufge-

mus Truber 1508 – 1586. Der slowenische Reformator und Württemberg, Stuttgart 2011, S. 103 – 115. 13 Zitiert bei Theodor Elze, Primus Truber – Briefe, Tübingen 1897, S. 443 (15. 12. 1564). 14 Oskar Sakrausky, Primus Truber – Der Reformator einer vergessenen Kirche in Krain, Wien 1986. 15 Franc Sˇebjanicˇ, Die protestantische Bewegung der pannonischen Slovenen, Murska Sobota 1979. 16 Andrej Hozjan, Abriss der reformatorischen und gegenreformatorischen Ereignisse in Prekmurje vom 16. bis 18. Jahrhundert, in: Vincenc Rajsˇp u. a. (Hrsg.), Die Reformation in Mitteleuropa. Beiträge anlässlich des 500. Geburtstages von Primus Truber (2008), Wien/ Ljubljana 2011, S. 97 – 106. 17 Rudolf Leeb, Der Streit um den wahren Glauben. Reformation und Gegenreformation in Österreich, in: ders./Maximilian Liebmann/Georg Scheibelreiter/Peter G. Tropper, Geschichte des Christentums in Österreich, Wien 2003, S. 145 – 279, hier S. 147.

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nommen wurden18 und wohin Evangelische aus Innerösterreich zum Gottesdienst „ausliefen“. Wohl stieg der Rekatholisierungsdruck aufgrund der Konversionspropaganda der Jesuiten, die seit 1572 in Graz residierten und die dortige Universität zur theologischen Zentrale der Gegenreformation aufbauten.19 P¦ter P‚zm‚ny (1570 – 1637), aus einer reformierten Familie stammend, wurde der Propagandist der Gegenreformation, wobei er vor allem im Hochadel die Konversion zur Papstkirche betrieb. Kristof B‚nnfy war einer der ersten Adeligen in Prekmurje, welcher diesem Beispiel 1608 folgte, sodann andere hochadelige Familien wie die N‚dasdy, Batthy‚ny, RimaSz¦chy, welche ihrerseits die religiöse Konformität ihrer Untertanen einforderten und deren „Anbequemen“ zur herrschenden Kirche betrieben. Dies gelang aber in Prekmurje keineswegs; die Evangelischen widersetzten sich diesem Ansinnen oder schoben es hinaus, ja konnten sogar eine gewisse Autonomie und Unabhängigkeit ihrer Gemeinden erreichen. Erst in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts wurden massive gegenreformatorische Maßnahmen gesetzt. Nach der siegreichen Schlacht gegen die Osmanen bei St. Gotthard/Szentgotth‚rd (1664) und dem enttäuschenden Friedensabkommen wurde von hohen ungarischen Würdenträgern, unter ihnen der (römisch-katholische) Palatin Ferenc Wessel¦nyi (1605 – 1667), eine Verschwörung gegen die Habsburger eingefädelt, aber verraten. Diese wurde zum Anlass genommen, die überkommene Verfassung für verwirkt zu erklären, die Position der Stände aufzuheben und den offenen Absolutismus einzuführen.20 In diesem Jahrzehnt zwischen 1671 und 1681 erlebte der ungarländische Protestantismus die schärfste Periode der Gegenreformation, man spricht von der „Trauerdekade“, in der die Pastoren und Schullehrer in Schauprozesse gezogen und verurteilt wurden, wenn sie nicht das Land freiwillig verließen, und die Kirchen weggenommen wurden.21 Der König sei wegen der erfolgten Rebellion nicht mehr an die Friedensschlüsse (1606, 1624, 1645) und an jene Landesgesetze gebunden, welche die Religionsfreiheit der Protestanten gewährleisteten. Die polemische Schrift des Bischofs Georg B‚rsony Veritas toti mundo declarata lieferte die ideologische Grundlage dieser Verfolgung. Diese sei schon deshalb legitim, weil die Protestanten eine Beeinträchtigung der römisch-katholischen Religion seien. Der Reichstag von Ödenburg 1681 beendete diese Periode, ohne freilich den Druck auf die verbliebene evangelische Bevölkerung zu minimieren. Er erbrachte in Art. XXVI eine Lösung in der Form der Auflistung der gestatteten protestantischen Gemeinden 18 Jozˇe Vugrinec (Hrsg.), Protestantizem – zatocˇisˇcˇe izgnanih na Petanjcih [Protestantismus – Zuflucht von Vertriebenen in der N‚dasdy-Burg von Petanjci], Murska Sobota 2000. 19 Maximilian Liebmann, Die Gründung der Grazer Universität und die Jesuiten, in: France M. Dolinar u. a. (Hrsg.), Katholische Reform und Gegenreformation in Innerösterreich 1564 – 1628, Klagenfurt u. a. 1994, S. 77 – 84. 20 Luthar (Hrsg.), The Land Between (Anm. 8), S. 220 ff. 21 Zolt‚n Csepregi, Das königliche Ungarn im Jahrhundert vor der Toleranz (1681 – 1781), in: Rudolf Leeb/Martin Scheutz/Dietmar Weikl (Hrsg.), Geheimprotestantismus und evangelische Kirchen in der Habsburgermonarchie und im Erzstift Salzburg (17./18. Jahrhundert), Wien/München 2009, S. 299 – 330.

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in den einzelnen Komitaten (daher Artikularkirchen), in denen nur ein exercitium religionis publicum Bestand haben durfte. Da in Prekmurje keine Artikulargemeinde zugelassen wurde, konnte sich dort der Protestantismus nur im Geheimen halten, musste aber auf den Dienst geistlicher Amtsträger verzichten und war auf das „Auslaufen“ zu den Artikulargemeinden in Nemescsý und Sfflrd/Sˇurd angewiesen. Dort hatten zwei Theologen aus Prekmurje einen gesegneten Dienst entfalten können: Sˇtefan Küzmicˇ (1723 – 1779), der als Lehrer und Rektor der Schule bzw. als Pastor wirkte und als religiöser Schriftsteller (Herausgabe eines slowenischen Abecedariums, eines Katechismus sowie einer Übersetzung des Neuen Testaments) zur ethnischen, sprachlichen und konfessionellen Profilierung der slowenischen Bevölkerung in Prekmurje entscheidend beigetragen hatte.22 Dessen Schüler Mihael Bakosˇ (1742 – 1803) übernahm das Lehramt in Nemescsý (1768), später den pastoralen Dienst in Sˇurd (1779), zuletzt in Puconci, der ersten der nach dem Toleranzpatent gebildeten lutherischen Gemeinden in Prekmurje: Puconci, Krizˇevci und Hodosˇ (1783).23 Dieser verdienstvolle Geistliche hat durch seine slowenische Agende zur Konsolidierung der Gemeinden beigetragen, die 1790 ca. 12.000 Mitglieder umfassten. Bodonci kam 1792 als Neugründung hinzu. III. Die josefinische Toleranz Die josefinische Politik gegenüber den sogenannten „Akatholiken“ wird mit dem Begriff der Toleranz umschrieben.24 Die „wahre christliche Toleranz“ wird als eine der Wurzeln der neuen Politik des Kaisers Josef II. in Anspruch genommen: Der große Nutzen für die Religion und für den Staat, der aus einer wahren christlichen Toleranz entspringt, diese Nützlichkeitsüberlegungen habe den Kaiser veranlasst, die Kryptoprotestanten in seinen Ländern aus der religionsrechtlichen Illegalität herauszuführen. Darauf konnten auch die Evangelischen im Übermurgebiet bauen und drei Toleranzgemeinden errichten. Ungeachtet ihrer unterschiedlichen Rechtslage im Königreich Ungarn wurden diese Nutznießer der Toleranz. 22 Csepregi, Das königliche Ungarn (Anm. 21), S. 318; Gizella Lambrecht, Nemescsý als Pflanzstätte des halleschen Pietismus, in: Wolfram Kaiser/Arina Völker (Hrsg.), Johann Heinrich Schulze (1687 – 1744) und seine Zeit (Wiss. Beiträge der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg 68), Halle 1988, S. 35 – 42. 23 Franc Kuzmicˇ u. a., Aus der Vergangenheit in die Zukunft. Verbinden wir den einst gemeinsamen kirchlichen Raum Puconci-Bad Radkersburg, Murska Sobota 2006, S. 29 ff. 24 Vergleiche dazu die beiden von Peter F. Barton herausgegebenen Festschriften „Im Zeichen der Toleranz“ und „Im Lichte der Toleranz“, Wien 1981; zuletzt: Gustav Reingrabner, Um Glaube und Freiheit. Eine kleine Rechtsgeschichte der Evangelischen in Österreich und ihrer Kirche, Frankfurt a. M. 2007, S. 79 ff.; Christoph Link, Protestantismus in Österreich, Wien 2007, S. 27 ff.; ders., Kirchliche Rechtsgeschichte. Kirche, Staat und Recht in der europäischen Geschichte von den Anfängen bis ins 21. Jahrhundert, München 2010, S. 110 ff.; Karl W. Schwarz, Zur Rechtsgeschichte des österreichischen Protestantismus, in: ZRG Kan.Abt. 95 (2009), S. 554 ff.

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Toleranz begegnet hier nicht als Kategorie einer Tugend, sie ist nicht wie im gegenwärtigen Sprachgebrauch positiv konnotiert, sondern es handelt sich um einen Rechtsbegriff, einen Begriff aus dem Religionsrecht des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation. Im Westfälischen Friedensvertrag von 1648 (IPO V, 34) hatte es geheißen, dass diejenigen Untertanen, deren Religionsübung im Normaljahr 1624 noch nicht oder nicht mehr beobachtet wurde, „nachsichtig geduldet“ (patienter tolerantur) werden sollen und dass ihnen die häusliche Religionsübung (devotio domestica) gestattet werden soll. Ein solches restriktives Verständnis der Toleranz hatte der Zeitgenosse des Kaisers Johann Wolfgang von Goethe (1749 – 1832) vor Augen, als er sein berühmtes AperÅu formulierte25 : dass die Toleranz nur eine vorübergehende Gesinnung sein sollte, die zur Anerkennung führen müsse, denn „Dulden heißt beleidigen“. Die josefinische Ordnung der Toleranz ist dem reichsrechtlichen Denkschema entsprungen; es hatte für die hussitische Tradition keinen Platz und ignorierte den Umstand, dass es in Böhmen schon im 15. Jahrhundert zu einem religionsrechtlichen Pluralismus gekommen war (Kuttenberger Religionsfrieden [1485]). An einer anderen Stelle führte sie indes über die engen Grenzen des Reichsreligionsrechts hinaus. Die Klausel, dass außer Lutheraner und Reformierte keine weitere Konfession im Reich aufgenommen werden soll (IPO VII § 2), hat Josef II. souverän umgangen. Er hat die mit Rom nicht Unierten Griechen in sein Toleranzkonzept aufgenommen, ja die griechische Georgsgemeinde in Wien verfügte sogar über ein öffentliches Religionsexerzitium (exercitium religionis publicum).26 Deshalb findet sich an der Hausfassade am Wiener Fleischmarkt ein literarischer Niederschlag, welcher die besondere Verehrung des Kaisers unter den vom Toleranzpatent Begünstigten plausibel macht. Vergleichbares gibt es auch in den evangelischen Toleranzgemeinden27: Vergänglich ist dies Haus / doch Josephs Nachruhm nie / Er gab uns Toleranz / Unsterblichkeit gibt sie. Demgegenüber ließ Josef II. die Böhmischen Brüder nicht an der Toleranz teilnehmen. Diese mussten sich blutenden Herzens zwischen A.B. und H.B., zwischen der Confessio Augustana (1530) und der Confessio Helvetica Posterior (1566) entscheiden. Das hat zu konfessionellen Irritationen geführt, die heute noch in Böhmen und Mähren zu spüren sind. Kaiser Josef II. bewegte sich in dem ihm vorgegebenen Rahmen. Die Kanonistik hatte auf der Grundlage des Schemas von Regel und Ausnahme dem Regenten das Recht eingeräumt, dass er in Fällen unvermeidlicher Notwendigkeit (in casu inevi25 Johann Wolfgang von Goethe, Maxime Nr. 875, in: Maxime und Reflexionen (Münchener Werksausgabe XII), München 1998, S. 385. 26 Ernst-Christoph Suttner, Die Toleranzgesetzgebung Josephs II. und die Orthodoxie im Habsburgerreich, in: Barton, Im Zeichen der Toleranz (Anm. 24), S. 93 – 100. 27 Alexander Hanisch-Wolfram/Wilhelm Wadl (Hrsg.), Glaubwürdig bleiben. 500 Jahre protestantisches Abenteuer. Katalog zur Kärntner Landesausstellung Fresach 2011, Klagenfurt 2011, S. 119.

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tabilis necessitatis), wenn er anders nicht größeren Schaden der Religion abzuwenden vermag, den Untertanen, die von der „wahren“ Religion abweichen, die freie Religionsübung erlauben dürfe.28 Die josefinische Ordnung entsprach exakt dem Verhältnis von Regel und Ausnahme, sie folgte dem Schema des Minus Malum (Minus malum permittitur, ut evitetur maius) und wusste um den Unterschied zwischen der religio vera und der religio falsa. Sie ist noch meilenweit von der preußischen Haltung entfernt, welche die Toleranz zwar auch nicht mit Gleichgültigkeit gleichsetzte, aber doch in die Richtung eines legitimen religiösen Pluralismus rückte, erkennbar etwa an der Randverfügung des Königs Friedrich II. (Berlin, 22. Juni 1740)29: Die Religionen Müssen alle Tolleriret werden und Mus der fiscal nuhr das auge darauf haben das Keine der andern abruch Tuhe, den hier muss ein jeder nach Seiner Fasson Selich werden. Vor einer solchen Politik konnte sich Maria Theresia nur bekreuzigen. Sie verdächtigte ihren Sohn, dass er dem Vorbild des Preußenkönigs, des deklarierten Königs der Aufklärung, nachstrebte. 1777, als er wegen der rigiden Politik seiner Mutter gegenüber dem Kryptoprotestantismus seine Mitregentschaft niederlegen wollte, hatte er einen erheblichen Erklärungsbedarf, um diese zu beschwichtigen und seine Rechtgläubigkeit zu beweisen.30 Gegenüber der klar geordneten Welt Maria Theresias, die sich für das ewige Seelenheil ihrer Untertanen noch persönlich verantwortlich wusste, ging Josef schon einen Schritt weiter. Im Kronprinzenunterricht wurde er mit der Naturrechtsschule der deutschen Frühaufklärung konfrontiert, mit der Erkenntnis des Samuel von Pufendorf (1632 – 1694), dass die Staaten nicht um der Religion willen gegründet wurden.31 Wenn aber dieser Satz zutreffe, dass die Staaten nicht um der Religion willen gegründet wurden, dann könne auch nicht die Sorge für das Seelenheil der Untertanen zu den legitimen Staatsaufgaben gezählt werden. Bei Josef II. sind solche Schlussfolgerungen noch sehr vorsichtig gezogen worden, immerhin finden sich in dem bewegenden Briefwechsel mit seiner Mutter um Weihnachten 1777 Anklänge. Er musste sich vor allem bemühen, den Begriff der Toleranz zu Recht zu rücken, dass er keineswegs mit Gleichgültigkeit zu verwechseln sei. Er wolle alles unternehmen, schrieb er, damit alle Untertanen sein Glaubensbekenntnis und das seiner Mutter teilten und die „gute Einigkeit in der Religion“ (das war ein sicherheitspolitisches Kern28

(Stephan von Rautenstrauch), Synopsis Juris Ecclesiastici Publici et Privati, quod per terras haereditarias Augustissimae Imperatricis Mar. Theresiae obtinet, Vindobonae 1776, P. III n. 146. 29 Heribert Raab (Hrsg.), Kirche und Staat, München 1966, S. 194. 30 Heinrich Lutz, Das Toleranzpatent von 1781 im Kontext der europäischen Aufklärung (1981), Nachdruck in: ders., Politik, Kultur und Religion im Werdeprozess der frühen Neuzeit, Klagenfurt 1982, S. 292 – 306, hier S. 296 ff. 31 Christoph Link, Josephinische Toleranzpatente (1781) und Wöllnersches Religionsedikt (1788), in: Harm Klueting (Hrsg.), Irenik und Antikonfessionalismus im 17. und 18 Jahrhundert, Hildesheim u. a. 2003, S. 295 – 324, hier S. 299; ders., Kirchliche Rechtsgeschichte (Anm. 24), S. 100 ff.

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postulat) hergestellt sei. Aber das war nicht zu erreichen – weder durch Missionsstationen oder Konversionshäuser noch durch Transmigrationen nach Siebenbürgen (zuletzt 1776 aus der Steiermark32). Und weil, wie ein Historiker einmal pointiert feststellte33, „die Regierung ratlos, die Behörden machtlos, die Erlässe erfolglos, die Strafen nutzlos und jede Hoffnung auf Rekatholisierung aussichtslos“ war, deshalb öffnete der Kaiser einen Spalt weit die Tür für die Ausnahme von der Regel. Und diese Ausnahme musste sich begrifflich an der Regel orientieren. Die Ausnahme – das waren nach der josefinischen Kanzleisprache die „A-Katholiken“. Dem Pathos der einleitenden Grundlegung der Toleranz folgten im Patent nähere Ausführungsbestimmungen, die den engen Rahmen der Duldung umschreiben. Nicht umsonst ist im Blick auf diese engen Grenzen von der „unvollendeten Toleranz“ gesprochen worden. Ihren signifikanten Ausdruck haben diese Restriktionen im Begriff des exercitium religionis privatum gefunden, der privaten Religionsausübung, die insbesondere durch Vorrechte (Prärogative) der herrschenden Religion eingeschränkt war. Nicht eine akatholische Konkurrenzkirche wurde toleriert, sondern die Duldung erstreckte sich lediglich auf die individualrechtliche Ebene34 : den Akatholiken, die vom Glaubensbekenntnis ihres Landesherrn abwichen (angeführt wurden im Toleranzpatent: die Anhänger der Augsburgischen Konfession und der Helvetischen Konfession und die Griechisch-Orthodoxen), wurde ihr Bekenntnisstand als Ausfluss allerhöchster Gnade konzediert. Dazu war er vom Reichsreligionsrecht nicht gezwungen. Aber die reichsrechtliche Argumentation wurde durch eine naturrechtliche Sichtweise überlagert, die mit dem Begriff der tolerantia necessaria operierte.35 Unter diesen naturrechtlichen Vorzeichen konnte aus der Toleranz ein ius perpetuum erfließen, das der Kaiser ungeachtet seiner grundsätzlichen Schutzpflichten gegenüber der „wahren“ und „allein seligmachenden“ Kirche (advocatia ecclesiae) nicht mehr brechen durfte. Ab 1830 knüpfte die staatsrechtliche Argumentation hier an.

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Dieter Knall, Aus der Heimat gedrängt. Letzte Zwangsumsiedlungen steirischer Protestanten nach Siebenbürgen unter Maria Theresia, Graz 2002. 33 Reinhold Joseph Wolny, Die josephinische Toleranz unter besonderer Berücksichtigung ihres geistlichen Wegbereiters Johann Leopold Hay, München 1973, S. 65. 34 Inge Gampl, Staat – Kirche – Individuum in der Rechtsgeschichte Österreichs zwischen Reformation und Revolution, Wien/Köln/Graz 1984, S. 99. 35 Erika Weinzierl, Der Toleranzbegriff in der österreichischen Kirchenpolitik (1965), Nachdruck in: dies., Ecclesia semper reformanda. Beiträge zur österreichischen Kirchengeschichte im 19. Und 20. Jahrhundert, Wien/Salzburg 1985, S. 153 – 168; Peter Landau, Zu den geistigen Grundlagen des Toleranzpatents Kaiser Josephs II. (1981), Nachdruck in: ders., Grundlagen und Geschichte des evangelischen Kirchenrechts und Staatskirchenrechts, Tübingen 2008, S. 348 – 363; Peter Leisching, Der Toleranzgedanke und seine Bedeutung für die Überwindung des Staatskirchentums in der Monarchia Austriaca, in: ZRG Kan.Abt. 80 (1994), S. 405 – 421, hier S. 415 ff.

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Das Privatexerzitium war gleichsam der verwaltungsrechtliche Schlüsselbegriff.36 Er verdeutlicht, dass die akatholischen Gemeinden nicht optisch sichtbar werden durften: Die Kirche im Dorf blieb die römisch-katholische. Eine Ausnahme bildeten lediglich die Gemeinden in Schlesien und in Asch, denen ältere reichsrechtliche Bestimmungen ein öffentliches Religionsexerzitium gewährleisteten; auch in Galizien, das im Rahmen der 1. polnischen Teilung (1773) an Österreich gefallen war, hatten die Habsburger aufgrund des Warschauer Traktates (1768) das öffentliche Religionsexerzitium der Protestanten anzuerkennen, was sie freilich zu unterlaufen versuchten.37 Das Privatexerzitium in den österreichischen und böhmischen Landen sah vor, dass die Akatholiken, sofern sie die Mindestzahl von hundert Familien erreichten, Bethäuser und Schulen bauen, Seelsorger ihres Bekenntnisses und Lehrer berufen konnten. Die Bethäuser durften nur nicht als „Kirchen“ erkennbar sein; sie durften kein Geläute, keine Glockentürme und keinen öffentlichen Zugang von der Straße haben.38 Die Zeichen der Öffentlichkeit blieben ihnen vorenthalten. Nach außen hin sollte es so bleiben, wie es war: Das ganze Land war mit einem Parochialnetz überzogen, das auch weiterhin intakt geblieben ist – parochus ordinarius, das war der mit der Standesführung der Parochie betraute öffentliche Amtsträger, blieb der katholische Pfarrer, an den die Akatholiken auch weiterhin ihre Stolgebühren zu entrichten hatten, selbst wenn die Amtshandlung (Taufe, Trauung) vom akatholischen Geistlichen durchgeführt wurde. Schwierigkeiten im interkonfessionellen Umgang erwuchsen aus folgenden Gründen: – Weitere Einbindung der Akatholiken in das bestehende Parochialnetz; – Prärogativen = Vorrechte der herrschenden Religion im Mischehebereich; – inparitätische Regelung der religiösen Kindererziehung; – Begräbnisplätze am bestehenden Ortsfriedhof. Besondere Schwierigkeiten riefen natürlich die konkreten Meldungen zu den akatholischen Bekenntnissen hervor. Ihre hohe Zahl führte zu Gegenstrategien. So erging unter dem 15. Dezember 1782 ein Hofdekret, demzufolge der 31. Dezember 1782 als Präklusivtermin zu gelten habe, bis zu dem das „Religions-Erklärungsgeschäft“ abgeschlossen sein musste. Spätere Anmeldungen wurden zu einem kostenpflichtigen sechswöchigen Religionsunterricht beim zuständigen katholischen Pfar-

36 Karl Schwarz, Exercitium religionis privatum. Eine begriffsgeschichtliche Analyse, in: ZRG Kan.Abt. 74 (1988), S. 495 – 518. 37 Isabel Röskau-Rydel (Hrsg.), Deutsche Geschichte im Osten Europas: Galizien, Bukowina, Moldau, Berlin 22002, S. 57 ff. 38 Reiner Sörries, Von Kaisers Gnaden. Protestantische Kirchenbauten im Habsburger Reich, Köln/Weimar/Wien 2008, S. 45 ff.

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rer veranlasst, der oft genug nach Belieben und Willkür ausgedehnt wurde.39 Im Zeitalter der Romantik und der römisch-katholischen Restauration wuchsen solche Erschwernisse des Übertritts noch erheblich an; oft genug wurde ein solcher Übertritt völlig verhindert. Umgekehrt wurden aber Konversionen zum Katholizismus staatlicherseits gefördert, wie sie insbesondere im Kreis des Klemens Maria Hofbauer (1751 – 1820) propagiert wurde.40 IV. Bemerkungen zum josephinischen Mischeherecht Das josephinische Mischeherecht war nur ein Teilbereich der Toleranzgesetzgebung, aber doch einer, der das Leben der evangelischen Gemeinden in der Habsburgermonarchie, in Österreich wie in Slowenien erheblich belastete, an dem die Ambivalenz und Gebrochenheit der Toleranz zum Vorschein kam. Zwar betraf die Toleranz auch das spezifische Eheverständnis der Akatholiken41, wie am Josephinischen Ehepatent (1783) zu ersehen ist, doch durfte dies die parochialrechtliche Zuständigkeit des römisch-katholischen parochus ordinarius als öffentlichen „Standesbeamten“ nicht alterieren. Die Differenz im Eheverständnis lag darin, dass die Reformatoren dem sakramentalen Verständnis der Ehe, wie es erst am 2. Konzil von Lyon (1274) und endgültig am Konzil von Florenz (1438 – 1445) festgelegt worden war, heftig widersprochen hatten. Luther wurde nicht müde, in immer wieder neuen Anläufen die Ehe als „ein weltlich Geschäft“ zu definieren: „Demnach, weil die hochzeit und ehestand ein weltlich geschäft ist, gebührt uns geistlichen und kirchendienern, nichts darinn zu ordnen oder regieren, sondern lassen einer iglichen stadt und land hierinn ihren brauch und gewohnheit, wie sie gehen“.42 Die Reformatoren hatten die Ehe aus der Heilsordnung herausgelöst und sie im Sinne ihrer hermeneutischen Konzeption einer Zwei-Reicheund Zwei-Regimentenlehre dem weltlichen Regiment Gottes und somit der Rechtsordnung der weltlichen Herrschaft zugeordnet und die kirchliche Trauung als Bene39

Peter Leisching, Wege der Toleranz im österreichischen Vormärz. Zum Übertrittsrecht in der präkonstitutionellen Ära, in: ÖAKR 39 (1990), S. 237 – 265, hier S. 242. 40 Ebd.; Christine Gleixner (Hrsg.), Klemens Maria Hofbauer in Wien 1808 – 1820. Seine Herausforderung damals und heute, Wien 2001; Otto Weiß, Kulturen – Mentalitäten – Mythen. Zur Theologie- und Kulturgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, Paderborn u. a. 2004, S. 1 ff. 41 Joseph Helfert, Die Rechte und Verfassung der Akatholiken in dem Österreichischen Kaiserstaate, Prag 31843, S. 95 ff. 42 Martin Luther, Traubüchlein für die einfältigen Pfarrherrn (1529), Weimarer Gesamtausgabe XXX/3, S. 74 f.; ders., Vom ehelichen Leben (1522), Weimarer Gesamtausgabe X/2, S. 283; ders., Von Ehesachen (1530), Weimarer Gesamtausgabe XXX/3, S. 205 – dazu Albert Stein, Luther über Eherecht und Juristen, in: Helmar Junghans (Hrsg.), Leben und Werk Martin Luthers von 1526 bis 1546, Berlin 1983, S. 171 – 185. 781 ff. (Anmerkungen); KarlHeinz Selge, Ehe als Lebensbund. Die Unauflöslichkeit der Ehe als Herausforderung für den Dialog zwischen katholischer und evangelisch-lutherischer Theologie, Frankfurt a. M. 1999, S. 77 ff.

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diktionshandlung nach vollzogener Eheschließung definiert. Vor diesem Hintergrund haben evangelische Theologen stets für die Säkularisierung des Eherechts votiert. Das Ehepatent von 1783 hat das Eherecht zwar in den staatlichen Kompetenzbereich überführt, aber inhaltlich die kirchliche Zuständigkeit für Eheschließung und Matrikenführung bestätigt. Auch im Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuch (ABGB) von 1811 ist dieser tragende Gedanke eines konfessionell unterschiedlich gestalteten Eherechts mit einem unterschiedlichen Ehescheidungs- und Ehetrennungsrecht für Katholiken, Protestanten und Juden enthalten.43 Interkonfessionelle „Mischehen“ unterlagen der Formpflicht und konnten, um gültig zu sein, nur vor einem römisch-katholischen Geistlichen und in Gegenwart von mindestens zwei Zeugen geschlossen werden. So hat es das Dekret Tametsi des Konzils von Trient (11. Januar 1563) vorgeschrieben, um die klandestinen Ehen einzudämmen. Die beabsichtigte eherechtliche Abklärung durch die Proklamierung der Formpflicht gelang nur in den sogenannten „tridentinischen Gebieten“, nicht hingegen in den protestantischen Ländern Europas, wo das erwähnte Dekret nicht von den Kanzeln abgekündigt wurde und dementsprechend auch keine Geltung beanspruchen konnte. In Deutschland und in den Niederlanden wurden aufgrund der konfessionellen Gemengelage Ehen demnach auch ohne Einhaltung der tridentinischen Form geschlossen. Die daraus resultierende Rechtsunsicherheit wurde erst durch die päpstliche Deklaration Matrimonia (1741) beseitigt, die nach Papst Benedikt XIV. vielfach auch Benedictina genannt wird. Sie hat nichtkatholische Ehen und die katholisch geschlossenen Mischehen in den Generalstaaten von der Formpflicht befreit44 : Wenn eine Ehe zwischen einem Katholiken und Häretiker ohne Beachtung der Tridentinischen Vorschrift „schon geschlossen ist, oder künftig, was Gott verhüten möge, geschlossen wird, so erklärt Se. Heiligkeit, dass eine solche Ehe, wenn kein anderes kanonisches Hindernis vorliegt, als gültig zu erachten sei …“ Eine solche Regelung wurde später auch für die Kölner Kirchenprovinz (1830)45 und für das Königreich Ungarn (1840) getroffen. Gott hat diese konfessionellen Mischehen nicht verhindert; sie wurden geradezu zum Signum der interkonfessionellen Beziehungen. Im westlichen Teil der Habsburgermonarchie (Cisleithanien) blieb die Formpflicht der Mischehen aufrecht, obwohl sich gerade an ihrem Beispiel gezeigt hatte, wie sehr staatliche Ehegesetzgebung und Kanonisches Recht auseinanderdrifteten. Auf diese eherechtliche Grundkonstellation ist hier hinzuweisen, ebenso auf die tief liegenden Zusammenhänge mit der Praxis in den Ländern der ungarischen 43 Stefan Schima, Das Eherecht des ABGB 1811, in: Tagungsprotokoll „Eherecht 1811 bis 2011“. Historische Entwicklung und aktuelle Herausforderungen, Wien 2012. 44 Zitat nach Silvia Hell, Ehetheologische Aspekte unter besonderer Berücksichtigung konfessionsverschiedener/-verbindender Ehen, in: Konrad Breitsching/Wilhelm Rees (Hrsg.), Tradition – Wegweisung in die Zukunft (Festschrift Johannes Mühlsteiger SJ 75), Berlin 2001, S. 35 – 56, hier S. 37. 45 Christoph Link, Staat und Kirche in der neueren deutschen Geschichte, Frankfurt a. M. 2000, S. 51.

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Krone.46 Die Josephiner spalteten die Ehe auf: in einen Ehekontrakt, für den sie die staatliche Regelungskompetenz verlangten, und in das Ehesakrament, das als eine rein kirchliche Angelegenheit gewertet wurde. Mit Hilfe dieser Distinktionstheorie konnte der Staat des aufgeklärten Absolutismus das Eherecht in seine Regie nehmen, wobei er aber weitgehend das bestehende katholische Eherecht übernahm und sich auch der Geistlichen bediente, die als staatliche Beamte den Ehekonsens entgegennahmen. Nach kanonischem Recht besteht im Falle einer konfessionellen Mischehe ein Ehehindernis: mixta religio, von dem nur ein bischöflicher Dispens befreien konnte. Dieser Dispens wurde aber nur erteilt unter der Auflage der Zusicherung, nicht vom katholischen Glauben abzufallen, sowie eines von beiden Brautleuten zu leistenden Versprechens, dass sämtliche ihrer in der beabsichtigten Ehe zu erwartenden Kinder katholisch getauft und erzogen würden.47 Das Toleranzpatent hatte aber demgegenüber angeordnet, dass von diesen Erziehungsreversen völlig abzukommen sei. Vielmehr begegnen wir hier der Regel, dass dem katholischen Vater alle Kinder in der Konfession zu folgen hatten, während im konfessionell umgekehrten Fall der Grundsatz sexus sexum sequitur zur Geltung kam, also die Söhne dem akatholischen Vater, die Töchter hingegen der katholischen Mutter nachzufolgen hatten. Konflikte blieben deshalb natürlich nicht aus. Denn auch wenn der Kaiser anordnete, dass von Staats wegen keine Reverse mehr verlangt werden dürfen, so hinderte dies nicht, solche Reverse verbotenermaßen dennoch als Bedingung für den Dispens einzufordern oder als freiwillige Leistung dem akatholischen Ehepartner „nahezulegen“48. Musste sich der katholische Pfarrer als staatliches Eheschließungsorgan – in diesem Falle begnügte er sich mit der Entgegennahme des Ehekonsens (passive Assistenz) – an das Kanonische Recht halten oder konnte er als staatliches Trauungsorgan davon absehen? In der Person des Priesters rieben sich die unterschiedlichen Ansprüche des Staates und der Kirche und belasteten dessen Gewissen. Wir können davon ausgehen, dass die Erziehungsreverse durch das Toleranzpatent nicht abgeschafft wurden, weder in Ungarn noch in Österreich. So ist etwa zu erwähnen, dass der im Toleranzpatent geregelte Fall der akatholischen Kindererziehung nach dem Grundsatz sexus sexum sequitur bloß als „Ermächtigung“ des akatholischen Vaters zur akatholischen Kindererziehung der Söhne, keineswegs aber als strikter Befehl verstanden wurde. Zwei Hofdekrete im josefinischen Jahrzehnt (aus den Jahren 1785 und 1788) bestimmten ausdrücklich, dass der katholische Klerus den katholi46 Karl Kuzmany, Handbuch des allgemeinen und österreichischen evangelisch-protestantischen Eherechtes, Wien 1860, S. 7 ff.; Bruno Primetshofer, Rechtsgeschichte der gemischten Ehen in Österreich und Ungarn (1781 – 1841), Wien 1967; Johannes Mühlsteiger, Der Geist des josephinischen Eherechtes, Wien/München 1967. 47 Karl-Theodor Geringer, Die Konfessionsbestimmung bei Kindern aus gemischten Ehen in der Zeit zwischen dem Konzil von Trient und dem Ende der Glaubenskriege, in: FS May, S. 303 – 316. 48 Gampl, Staat – Kirche – Individuum (Anm. 34), S. 176.

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schen Partner an seine Gewissenspflicht hinsichtlich der katholischen Kindererziehung erinnern könne.49 Ihre Durchsetzbarkeit war im Einzelnen aber umstritten. Oder: Wie verhielt es sich mit den Mischehen, die verbotenermaßen nicht vor dem römisch-katholischen parochus ordinarius, sondern vor dem akatholischen „Religionsdiener“ (um einen zeitgenössischen Ausdruck zu verwenden) geschlossen wurden? Meistens waren ja die verlangten Reverse der Anlass zu diesem verbotenen Umweg. War eine solche vorschriftswidrig zustande gekommene Ehe ungültig? Mit solchen Fällen wurde die Hofkommission in Justizsachen wiederholt konfrontiert.50 Das kann hier nicht im Einzelnen erörtert werden. Ich möchte mich auf einen Punkt beschränken, der vielleicht überraschen wird. Denn die Hofkommission kam mehrheitlich zu dem Ergebnis, dass die solcherart verboten zustande gekommene Ehe nicht ungültig sei, weil der akatholische Seelsorger als Zeuge der Eheschließung beiwohnen dürfe. Mehr als ein öffentlicher Zeuge sei aber auch der katholische Pfarrer nicht, insofern als es sich ja bloß um die Schließung des Ehevertrags handle51, nicht um das den staatlichen Rechtskreis nicht tangierende Sakrament. Das heißt: ein Ehekonsens, welcher vor zwei oder drei Zeugen, darunter einem akatholischen Pastor, erklärt wurde, wurde als gültig, wenn auch nicht erlaubt, anerkannt. Gegen die josefinischen Toleranzregelungen hinsichtlich des Mischeherechts kam es schon früh zum Widerspruch seitens des katholischen Klerus.52 1801 unternahm weiters der Oberkärntner Klerus den Versuch, den Kaiser zur Einführung eines eigenen staatlichen Ehehindernisses der Bekenntnisverschiedenheit zu bewegen.53 Auf diese Weise sollte staatlicherseits der Graben zwischen den kirchlich-päpstlichen Vorschriften einerseits und der staatlichen Rechtslage andererseits zugunsten des kanonischen Rechts zugeschüttet werden. Die Geistlichen postulierten im Einzelnen als Bedingungen für den erforderlichen politischen Dispens, dass die Gefahr des Abfalls vom katholischen Glauben ausgeschaltet sei, dass alle Kinder katholisch erzogen würden, weiters dass der katholische Ehepartner verspricht, alle schicklichen Mittel anzuwenden, um den akatholischen Partner zur Konversion zu bewegen, und es müssten notwendige oder sehr wichtige Ursachen für das Eingehen der Mischehe bestehen. Das Bemerkenswerte dieses Vorstoßes, der im Übrigen im Sand verlief, war dessen inhaltliche Übereinstimmung mit einem Reskript Papst Pius VI. an den KardinalErzbischof von Mecheln aus dem Jahre 1782. Der Kaiser lehnte aber den vorgeschlagenen modus procedendi ab, nicht ohne süffisant die Saumseligkeit der Geistlichkeit für den Zustand verantwortlich zu machen: die Geistlichen hätten es in der Hand,

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Primetshofer, Rechtsgeschichte der gemischten Ehen (Anm. 46), S. 61. Primetshofer, Rechtsgeschichte der gemischten Ehen (Anm. 46), S. 56 ff. 51 Primetshofer, Rechtsgeschichte der gemischten Ehen (Anm. 46), S. 56. 52 Primetshofer, Rechtsgeschichte der gemischten Ehen (Anm. 46), S. 67. 53 Dazu im Einzelnen Primetshofer, Rechtsgeschichte der gemischten Ehen (Anm. 46), S. 67 ff. 50

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durch zweckmäßige Belehrung im Beichtstuhl vor dem Eingehen einer Mischehe zu warnen.54 V. Impedimentum Catholicismi Freilich hat dann Kaiser Franz I. selbst diesen Gedanken aufgegriffen und ließ darüber nachdenken, das Überhandnehmen der Mischehen durch ein staatliches Hindernis einzudämmen (1813). Aber weder die zuständige Hofkommission in Justizgesetzsachen noch die Hofkanzlei konnten diesen Plänen etwas abgewinnen, sodass es bei den Bestimmungen des josefinischen Ehepatents bzw. des ABGB (1811) blieb. Aber dieser Vorstoß hatte doch gezeigt, dass im Gefolge der Napoleonischen Kriege das Interesse an einer (restaurativen) Festigung des Bündnisses zwischen Thron und katholischem Altar gewachsen war. 1814 folgte ein weiteres Indiz: Ein neues Ehehindernis wurde eingeführt, das impedimentum catholicismi (Hofdekret vom 26. 8. 1814)55, zum Schutz der Katholikenehe, genauerhin zum Schutz der katholischen Lehre von der Unauflöslichkeit der Ehe. Es hinderte einen Akatholiken daran, dass er nach Trennung seiner (nichtsakramentalen) Ehe zu Lebzeiten seines getrennten Partners eine gültige Ehe mit einem Katholiken eingehen konnte. Denn bei Akatholiken galt bekanntlich nicht nur die separatio a mensa et thoro, die Scheidung von Tisch und Bett, sondern auch das divortium, die Trennung des Ehebandes an sich, und zwar bei Vorliegen eines der gesetzlichen Gründe (Ehebruch, Verurteilung zu über 5-jähriger Kerkerstrafe, boshaftes Verlassen, Lebensnachstellung, Misshandlungen, einverständliche Trennung wegen unüberwindlicher Abneigung nach vorausgegangener Scheidung von Tisch und Bett). Der am Beispiel der Mischehen zu beobachtende Interessenskonflikt zwischen Kirche und Staat wurde nicht behoben. Auch die in den 30er Jahren des 19. Jahrhunderts in Angriff genommenen Verhandlungen mit Rom56 hatten zwar für Ungarn die Formfreiheit der Mischehen erbracht (1840) – zuvor schon 1830 durch ein Breve Pius VIII. für die Kölner Kirchenprovinz, nicht aber für Österreich. Hier galt die katholische Eheschließungsform (§ 77 ABGB) in dem Sinne, dass der katholische Geistliche auf jeden Fall die passive Assistenz leisten musste, selbst dann, wenn die Erziehungsreverse nicht geleistet wurden und er die Trauung nicht als katholischer Priester vornahm, sondern als das vom Staat beauftragte Trauungsorgan fungierte.

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Primetshofer, Rechtsgeschichte der gemischten Ehen (Anm. 46), S. 69. Kuzmany, Eherecht (Anm. 46), S. 187 ff. 56 Bruno Primetshofer, Die Frage der gemischten Ehen in den Reformplänen des Wiener Erzbischofs Vinzenz Eduard Milde und des Apostolischen Nuntius Pietro Ostini (1832 – 34), Nachdruck in ders., Ars boni et aequi. Gesammelte Schriften, Berlin 1997, S. 3 – 24. 55

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VI. Mischeheregelung in Prekmurje Auch in Ungarn konnte eine Mischehe nur vor dem römisch-katholischen Priester geschlossen werden. So sah es die Explanatio Leopoldina (1691) vor, die den Kultus der Evangelischen auf die artikularen Orte (Art. XXVI: 1681) beschränkte, überall sonst aber nur eine devotio domestica einräumte – ohne den Dienst eines Geistlichen im privaten Kreis der Familie, des Hauses. So war die Rechtslage in Prekmurje, wo keine Artikulargemeinde bestand. Die Resolutio Carolina I. (1731) des Königs Karl III. bestätigte diese religionspolitische Ordnung, nämlich die Beschränkung des öffentlichen Religionsexerzitiums auf die Artikulargemeinden. Das hatte zur Folge, dass an allen anderen Orten, so auch in Prekmurje, die römisch-katholische Geistlichkeit die Zuständigkeit für Protestanten behauptete. Konfessionell gemischte Ehen durften nur vor dem römisch-katholischen Pfarrer geschlossen werden.57 Daran änderten auch das Toleranzpatent und die Landtagsgesetze 1790/91 nichts58 ; sogar die Einführung des ABGB in Ungarn (1. Mai 1853) beließ die Zuständigkeit der katholischen Ehegerichte für Mischehen59, mag auch die Formpflicht für dieselben 1840 aufgehoben worden sein. Das im Gefolge des Konkordates von 1855 ergangene Ehepatent (1856) klärte die Rechtslage, indem es die Zuständigkeit der römisch-katholischen Ehegerichte für konfessionelle Mischehen festlegte.60 Nicht einmal die Konversion des katholischen Ehepartners zur evangelischen Kirche konnte diese Zuständigkeit aufheben. Aus dieser Konstellation erwuchsen heftige Konflikte, die 1894 zur Einführung der Zivilehe führten.61 Diese wurde als „Notwendigkeit“ empfunden, um in der multikonfessionellen Gesellschaft des Königreiches Ungarn den erforderlichen Ausgleich zu finden.62 Nach dem Zusammenbruch des Habsburgerreiches wurde im Prekmurje das österreichische Recht des ABGB in seiner konfessionellen Ausgestaltung eingeführt, das 1946 unter den Bedingungen eines geeinten Jugoslawiens einem einheitlichen Zivileherecht weichen musste.63

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Kuzmany, Eherecht (Anm. 46), S. 69 ff. Kuzmany, Eherecht (Anm. 46), S. 76 59 Kuzmany, Eherecht (Anm. 46), S. 77. 60 Kuzmany, Eherecht (Anm. 46), 81. 61 Ungarisches Zivileherecht: GA 1894: XXXI, § 29, 1 (Zivilehe); § 75 (Ehescheidung); XXXII (Religionszugehörigkeit der Kinder), XXXIII (staatliche Matrikenführung) – Dazu Moritz Cs‚ky, Die römisch-katholische Kirche in Ungarn, in: Adam Wandruszka/Peter Urbanitsch (Hrsg.), Die Habsburgermonarchie 1848 – 1918, 4. Bd.: Die Konfessionen, Wien 1985, S. 248 – 331, hier S. 298 ff. 62 Moritz Cs‚ky, Die katholische Kirche und der liberale Staat in Ungarn im 19. Jahrhundert, in: Ungarn-Jahrbuch 5 (1973), S. 117 – 131, hier S. 129. 63 Mira Alincic, Das Eherecht in Jugoslawien, in: Die Entwicklung des Familienrechts in Mitteleuropa, Wien 1970, S. 79 – 85. 58

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VII. Abschließende Bemerkungen Was trägt die Erinnerung an die josefinische Toleranz für unser Leben heute aus? Der Begriff der „Toleranz“ hat sich gewaltig verändert: aus dem Rechtsbegriff ist ein solcher der Ethik geworden. Toleranz ist auch im gegenwärtigen interkonfessionellen „Miteinander“ gefordert, sie zielt aber nicht mehr auf eine Minderstellung einer nur tolerierten konfessionellen Minderheit ab, sondern setzt die konfessionelle Gleichberechtigung aller Kirchen und Religionsgemeinschaften im Staat voraus, wie dies die Slowenische Verfassung in Art. 7 proklamiert.64 Eine Konsequenz daraus ist in dem Übereinkommen zwischen dem Staat und der Evangelischen Kirche in der Republik Slowenien vom 25. Jänner 2000 zu erblicken65, das die rechtlichen Rahmenbedingungen für das kirchliche Wirken im Staat festlegt. Die Kirchen begegnen einander auf Augenhöhe – gerade auch vor dem Hintergrund der laizistischen Tendenzen und Ansprüche des Staates.66 Eigentlich ist es die Anerkennung der Diversität, die heute, von religionspädagogischer Seite mit Nachdruck eingefordert67, den interkonfessionellen und -religiösen Diskurs bestimmt. Die Kirchen können sich auch als Kooperationspartner im Sinne der Charta Oecumenica (2001) verstehen, deshalb darf hier auf die im Codex Iuris Canonici getroffene Differenzierung zwischen Kirchen und „kirchlichen Gemeinschaften“ (c. 364 n. 6 CIC) verzichtet werden. Ein heikler Punkt im zwischenkirchlichen Gespräch ist nach wie vor der vom katholischen Ehepartner geforderte Erziehungsrevers, um die Erlaubnis (licentia) zum Abschluss einer konfessionellen Mischehe zu erhaltern (c. 1124 CIC). Insbesondere für Minderheitskirchen zeigt der institutionelle Druck einseitigen Versprechenmüssens fatale Folgen – mit äußerst gravierenden demographischen Auswirkungen.68 Die gemeinsame Verantwortung für die konfessions-„verbindenden“ Ehen, die das Ziel ökumenischen Zusammenwirkens auf dem Weg zur versöhnten Verschiedenheit bleibt, verdient einen solchen „kirchenamtlichen Argwohn“ nicht, wie er in dem Versprechen als Kautel für die Erlaubnis zur Eheschließung zutage tritt. Ausgehend von der Charta Oecumenica, welche einen „verbindlichen Maßstab“ für eine „ökumenische Kultur des Dialogs und der Zusammenarbeit“ schafft und die Unterzeichnerkir-

64 Silvo Devetak/Liana Kalcˇina/Miroslav F. Polzer (Hrsg.), Legal Position of Churches and Religious Communities in South-Eastern Europe, Ljubljana/Maribor/Vienna 2004, S. 333. 65 ˇ Sturm, Das Recht der Religionsgemeinschaften in Slowenien (Anm. 4), S. 480. 66 Rees, Staat und Kirche in Österreich und Slowenien (Anm. 4), S. 144. 67 Martin Jäggle, Religiöse Pluralität als Herausforderung der Schulentwicklung, in: ders./ Thomas Krobath/Robert Schelander (Hrsg.), lebens.werte.schule. Religiöse Dimensionen in Schulkultur und Schulentwicklung, Wien/Berlin/Münster 2009, S. 267 – 280, hier S. 269. 68 Wolfgang Lutz/Johanna Uljas-Lutz, Konfessions-verbindende Familien als vordringliches Lernfeld einer Minderheitskirche, in: Michael Bünker/Thomas Krobath (Hrsg.), Kirche: Lernfähig in die Zukunft? (Festschrift Johannes Dantine 60), Innsbruck/Wien 1998, S. 313 – 323.

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chen untereinander verpflichtet69, verdient die Toleranz besondere Beachtung. Im Zeichen der Toleranz war die Religionspolitik der Habsburger vor 230 Jahren auf völlig neue Grundlagen gestellt worden. Ein Toleranzgedenken heute muss freilich nicht nur den enormen religionspolitischen und gesellschaftlichen Wandel registrieren, sondern wohl auch gezielt die Frage aufwerfen, ob das geforderte Versprechen zur römisch-katholischen Kindererziehung, mag es auch unter Bedachtnahme auf das Gewissen des nichtkatholischen Ehepartners erfolgen, im Lichte der Charta Oecumenica noch angemessen ist.

69 Dietrich Pirson, Die Mitwirkung der römisch-katholischen Kirche an der Charta Oecumenica, in: Wilhelm Rees (Hrsg.), Recht in Kirche und Staat (Festschrift Joseph Listl 75), Berlin 2004, S. 261 ff.

VI. Staat, Gesellschaft und weltliches Recht

Demokratie und Bildung Von Karl W. Edtstadler Art. 1 der österreichischen Bundesverfassung (B-VG) legt fest: „Österreich ist eine demokratische Republik. Ihr Recht geht vom Volk aus.“ Damit ist das demokratische Prinzip unverzichtbares Grundelement des österreichischen Staatswesens.1 Die Rechtswissenschaft spricht von einem Baugesetz, das nur durch eine zwingende Volksabstimmung (Art. 44 B-VG) abgeändert werden könnte. In einem solchen Fall würde es sich um eine Gesamtänderung der Bundesverfassung handeln. Weit über die verfassungsrechtliche und -politische Fragestellung hinaus muss aber immer wieder geprüft werden, ob und wie Demokratie tatsächlich gelingt. Es geht also um die Fragestellung, ob über die rein verfassungsrechtliche Festlegung hinaus gesellschaftliche Kriterien und bildungspolitische Instrumente notwendig sind, um den Bestand der Demokratie zu garantieren oder, wie jüngst anhand des „Arabischen Frühlings“ im Laufe des Jahres 2011 in Tunesien, Lybien, Ägypten, Syrien etc. zu sehen war, zu entwickeln. Dazu folgende Ausgangspositionen: 1. Der langjährige Präsident von Katalonien, Jordi Pujol, hob beim 13. Transatlantischen Forum in Barcelona2 hervor, dass es sich beim „arabischen Frühling“ nicht um eine Revolution der „Armen der Ärmsten“ oder einer Revolution aus Gründen des Hungers handle. Diese Revolution sei nicht ideologisch motiviert gewesen, sondern ein Aufstand des Mittelstandes und der Jugend.3 Randa Achmawi4 betonte, dass es zur Demokratisierung der Gesellschaften in Nordafrika keine Alternative gebe. Sie sei auch der Überzeugung, dass Frauen den Demokratisierungsprozess massiv tragen würden.5 Ein anderer Referent, Andreu Bassols6, 1 Zum Verhältnis von Demokratie und Rechtsstaat bzw zur Verfassungsentwicklung in Österreich seit 1920: o. Univ.-Prof. Dr. Ewald Wiederin, Ihr Recht geht vom Volk aus – Rechtsstaatliche Demokratie nach 90 Jahren Bundesverfassung, in: Österreichischer Juristentag (Hrsg.), 90 Jahre österreichische Bundesverfassung (2010), S. 15 ff. 2 Veranstaltet von State Legislative Leaders Foundation in der Zeit von 27. bis 31. Juli 2011. Dabei handelt es sich um eine bereits traditionelle Veranstaltung mit US-amerikanischen, kanadischen und mexikanischen Abgeordneten zu Repräsentantenhäusern und Senaten dieser Staaten mit europäischen MandatarInnen und Spitzenbeamten aus Großbritannien, Spanien, Deutschland, Schweiz und Österreich etc. 3 Mitschrift des Verfassers – Texte der Vortragenden lagen nicht vor. 4 Journalistin und politische Kommentatorin für den Mittleren Osten und interkulturelle Angelegenheiten (Kairo, London). 5 Ebd., Mitschrift des Verfassers – Texte der Vortragenden lagen nicht vor.

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betonte in diesem Zusammenhang das unbedingte Erfordernis freier Medien und freier Wahlen. Überdies sei der Aufstand auch aus der Ungeduld der Jugend, aus dem nicht erfüllten Zusammenhang von „Demokratie und Brot“ erklärbar.7 2. Der Aufbau der Demokratien in den mittel- und osteuropäischen Ländern (MOEL) nach dem Zusammenbruch des Kommunismus (Reformstaaten) bewies deutlich, dass das Vorhandensein von qualifizierten gesellschaftlichen Gruppen und Organisationen außerhalb eines Parlaments und von politischen Parteien notwendig ist, um dem Konzept einer pluralistisch-liberalen8 Wettbewerbsdemokratie folgen zu können. Dazu zählen organisierte Interessensvertretungen (z. B. Arbeitgeber-, Arbeitnehmerverbände, agrarische Vertretungen, etc.), Bildungseinrichtungen wie ein funktionierendes Schulwesen und Universitäten sowie Kirchen.9 3. Redakteurin Elisabeth Mayer gestaltete am 25. Jänner 2011, 6:30 Uhr, in der Sendung Salzburg aktuell, ORF Radio Salzburg, aufgrund einer Pressekonferenz folgenden Beitrag: Der Bischof der Salzburger Partnerdiözese Bokungu-Ikela in der Demokratischen Republik Kongo (früher Zaire), Fridolin Ambongo Besungu, zeigte bei einem Besuch in Salzburg die Wichtigkeit von Bildung auf, wie sie in Projekten von Salzburg aus gefördert werde. Dass sich die Kongolesen erfolgreich gegen einen Diktator auflehnen wie jüngst in Tunesien, das schließt der Bischof praktisch aus: „Das hat uns fasziniert, aber in Tunesien war das möglich, weil es dort eine Mittelklasse gibt, in den schwarzafrikanischen Ländern gibt es ganz wenige extrem Reiche und Mächtige und alle anderen sind bitter arm, und ohne diese Mittelklasse ist das Volk extrem schwer zu mobilisieren.“ Oberstes Ziel für die Menschen in seinem Land sei daher mehr Bildung, ergänzt Bischof Fridolin Ambongo Besungu. Und genau solche Bildungsprojekte unterstützt auch die Partnerdiözese Salzburg. I. Demokratie und politisches Bewusstsein Gerade die derzeit, also seit den Neunzigerjahren des 20. Jahrhunderts allgemein spürbare Politikverdrossenheit, scheint das demokratische Prinzip zu gefährden. „Es lässt sich ein Bedeutungsverlust des Politischen beobachten. Das messbare Interesse an Politik ausgedrückt in formaler Partizipation – Wahlen, Parteimitgliedschaft – 6

Generaldirektor des Europäischen Instituts für das Mittelmeer (IEMed). Mitschrift des Verfassers – Texte der Vortragenden lagen nicht vor. 8 Zum Begriff „liberal“: Auf Menschenrechte gegründete rechtsstaatliche Demokratie. 9 Ausführlich dazu Fritz Plasser/Peter A. Ulram (Hrsg.), Transformation oder Stagnation? Aktuelle politische Trends in Osteuropa. Schriftenreihe des Zentrums für angewandte Politikforschung, 2. Bd., Wien 1993. 7

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geht zurück.“10 Damit im Zusammenhang steht auch die Frage der allgemeinen Politikakzeptanz. „Um politische Akzeptanz bei WählerInnen dauerhaft sicherzustellen, müssen über den notwendigen Elitenkonsens und die Berücksichtigung der formalen Regeln hinaus die folgenden, zueinander in Wechselwirkung stehenden Kriterien berücksichtigt bzw. möglichst weitgehend erfüllt werden, nämlich: ,credibilityÐ (Glaubwürdigkeit), ,accountabilityÐ (Rechtfertigungs-, Rechenschaftsfähigkeit in der Sache) und ,responsibilityÐ (Zurechenbarkeit, Verantwortlichkeit).“11 II. Politische Bildung Es ist die Aussage zulässig, dass in einem demokratischen Staat politische Bildungsarbeit eine permanente, öffentliche Aufgabe ist. „Bedingungen, Dimensionen und Wesen der Demokratie müssen immer wieder ausgelotet, erweitert, erlernt und verinnerlicht werden.“12 Politische Bildung wird nach dem zitierten Grundsatzpapier als angeleitete und institutionalisierte Möglichkeit der Reflexion über das Politische verstanden, um kritisches Bewusstsein, selbstständige Urteilsfähigkeit und politische Mitgestaltung zu fördern. Sehr zutreffend werden darin auch gegenwärtig erkennbare „Megatrends“ der gesellschaftlichen Entwicklung, nämlich die Tendenz der Fragmentierung, Funktionalisierung und Ökonomisierung aller Lebensbereiche sowie der Rückzug des Einzelnen aus den öffentlichen Räumen als Problem13 beschrieben. Letzten Endes sind Persönlichkeitsentwicklung und Gesellschaftsentwicklung aufeinander bezogene Teile eines Bildungskonzeptes, dessen Ziele die Teilnahme der Bürgerinnen und Bürger an politischen Abläufen ermöglichen sollen. Auf die Vielschichtigkeit des Begriffes Demokratie kann an dieser Stelle nicht eingegangen werden. Jedenfalls aber kann festgestellt werden, dass dieser Begriff nicht nur analytisch sondern auch programmatisch zu verstehen sei. „Man gebraucht den Begriff Demokratie nicht nur zur Bezeichnung eines politischen Systems, sondern verbindet mit ihm Wertungen, Forderungen und Bekenntnisse. Freiheitliche 10

Anton Pelinka, Politikverdrossenheit als Zeichen von Normalität und Stabilität, im Referat vor der Landtagspräsidentenkonferenz in Salzburg am 15. Mai 2007. 11 Ebd., Herbert Dachs, Elitenkonsens – als „süßes Gift“? Politikakzeptanz in Ländern und Gemeinden. 12 Österreichische Gesellschaft für politische Bildung, Grundsatzpapier, Wien 2011. 13 Geradezu prophetisch hat sich mit diesem Phänomen Alfred Klose, Moral in der Politik – Eine Herausforderung für Parteien und Verbände, in: Gertraud Putz/Herbert Dachs/Franz Horner/Ferdinand Reisinger (Hrsg.), Politik und christliche Verantwortung (FS Franz-Martin Schmölz), Innsbruck 1992, S. 253, befasst. „… die Chancen eines demokratischen Aufbruches sind weltweit gesehen bedeutend größer geworden. Dennoch zeigen sich in vielen Ländern auch Verfallserscheinungen im politischen System. Rückgang des politischen Engagements, geringe Wahlbeteiligung, Korruption bei politischen Entscheidungsträgern, Machtkonzentration und damit verbunden ein verbreiteter Rückzug junger Menschen aus dem politischen Leben.“

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Ordnungen sind in besonderem Maße auf die Zustimmung von Mehrheiten angewiesen, die nicht zu weit von der völligen Übereinstimmung aller entfernt sind.“14 Um aber selbst in schwierigen Situationen inhaltlich konsensfähige und parlamentarisch-institutionell mehrheitsfähige Entscheidungen zustande zu bringen, bedarf es neben wirtschaftlichen und sozialen Mindestbedingungen auch eines intensiven Bildungsprozesses. Der ebenfalls sehr vielschichtige Begriff der Bildung hängt eng mit dem der Demokratie zusammen. Neben der Bedeutung der Bildung zur Qualifizierung für den Einzelnen wird Bildung auch in einem politisch-sozialwissenschaftlichen Kontext verstanden und hat als Ziel – zumindest in der Demokratie – die Mündigkeit des Bürgers. Diese „Mündigkeit“ wird als die Fähigkeit zum sittlich verantworteten Gebrauch der Freiheit verstanden. In der politischen Zielsetzung geht es um die Sicherung der Voraussetzungen, unter denen die Gesellschaft ihre kulturellen, sozialen, wirtschaftlichen Funktionen erfüllen kann.15 Eng mit dem Begriff der Demokratie ist auch jener der Elite verbunden. Die repräsentative Demokratie erfordert eine Bildungs- bzw Leistungselite. Nimmt man die Zahl von acht Millionen Staatsbürgern in Österreich und die der 183 Nationalratsabgeordneten, so ergibt dies die Vertretung von rund 44.000 Menschen durch einen Mandatar.16 Die Elite als soziale Gruppe, die sich durch hohe Qualifikationsmerkmale, besondere Leistungsfähigkeit und Leistungsbereitschaft auszeichnet, kann über Bildung entwickelt werden. „Mit Nachdruck ist zu betonen, dass Bildung der einzige Garant dafür ist, dass wir Österreicherinnen und Österreicher auch in Zukunft im internationalen Wettbewerb der Staaten und Volkswirtschaften bestehen können. … Bildung ist darüber hinaus der wichtigste Garant dafür, dass unsere rechtsstaatliche Demokratie, die sich gleichfalls in Konkurrenz mit staatlichen Systemen befindet, die entweder überhaupt keine Demokratien sind oder bestenfalls als semidemokratisch gelten können, auf Dauer Bestand hat. Denn nur Bildung sensibilisiert für Intoleranz und für populistische Vereinfachung und gibt uns damit Instrumente in die Hand, diese unsere Demokratie gefährdenden Phänomene rechtzeitig zu erkennen, dagegen aufzutreten und die Menschen dagegen zu immunisieren.“17

14 Görres-Gesellschaft (Hrsg.), Staatslexikon. Recht – Wirtschaft – Gesellschaft, 1. Bd., Freiburg/Basel/Wien 71985, S. 1183. 15 Ebd., S. 798 u. 799. 16 Peter Paschel, Kann eine exzellente universitäre Ausbildung die Eintrittskarte in eine Elite sein? RDB-Literatur Manz NZ 2357. 17 Univ.-Prof. Dr. Gerhart Holzinger, Präsident des Verfassungsgerichtshofes, bei einem Vortrag vor AV Austria in Innsbruck am 11. November 2011.

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III. Demokratie und Schule Von zentraler Bedeutung für die Beantwortung der Frage nach dem Zusammenhang zwischen Demokratie und Bildung ist naturgemäß auch die Rolle der Schule. § 2 (1) Schulorganisationsgesetz (SchOG) vom 25. Juli 196218 lautet wie folgt: „Die österreichische Schule hat die Aufgabe, an der Entwicklung der Anlagen der Jugend nach den sittlichen, religiösen und sozialen Werten sowie nach den Werten des Wahren, Guten und Schönen durch einen ihrer Entwicklungsstufe und ihrem Bildungsweg entsprechenden Unterricht mitzuwirken. Sie hat die Jugend mit dem für das Leben und dem künftigen Beruf erforderlichen Wissen und Können auszustatten und zum selbsttätigen Bildungserwerb zu erziehen. Die jungen Menschen sollen zu gesunden, arbeitstüchtigen, pflichttreuen und verantwortungsbewussten Gliedern der Gesellschaft und Bürger der demokratischen und bundesstaatlichen Republik Österreich herangebildet werden. Sie sollen zu selbständigem Urteil und sozialem Verständnis geführt, dem politischen und dem weltanschaulichen Denken anderer aufgeschlossen sowie befähigt werden, am Wirtschafts- und Kulturleben Österreichs, Europas und der Welt Anteil zu nehmen und in Freiheits- und Friedensliebe an den gemeinsamen Aufgaben der Menschen mitzuwirken.“

Alleine eine Wortanalyse beweist, dass die Zielbestimmungen der schulischen Ausbildung und Erziehung verschiedene Bereiche abdeckt: An dieser Stelle wird neben den anderen Zielen und Werten hervorgehoben, dass „die jungen Menschen zu … pflichttreuen und verantwortungsbewussten Gliedern der Gesellschaft und Bürgern der demokratischen und bundesstaatlichen Republik Österreich herangebildet werden“ sollen. Dazu kommt, dass sie „zu selbständigem Urteil und sozialem Verständnis, dem politischen und weltanschaulichen Denken anderer aufgeschlossen … geführt werden sollen“ (§ 2 (1) SchOG). Damit ist der gesetzliche Auftrag im Zusammenhang zwischen Demokratie und Bildung eindeutig formuliert. Aus diesem ergibt sich auch die Grundlage für das Unterrichtsprinzip der politischen Bildung, welches in einem ausführlichen Erlass19 geregelt wird. Mit viel Energie, zahlreichen Maßnahmen und verschiedensten Mitteln wird dies verfolgt und umgesetzt. IV. Unterrichtsprinzip Politische Bildung Der sehr bedeutende, grundsätzliche Erlass über politische Bildung zur näheren Ausführung des Inhalts des § 2 SchOG beschreibt dieses Unterrichtsprinzip näher. Es wird auch dargestellt, wie der Lehrer dieses Prinzip wahrzunehmen habe, dass an den Schüler hohe Ansprüche gestellt werden und politische Bildung nur dann erfolgreich sein kann, „wenn auch die Möglichkeiten der Zusammenarbeit zwischen Schule und Eltern (in Schulgemeinschaftsausschüssen, bei Elternabenden, in Elternvereinen) von beiden Seiten genützt werden“. Das Unterrichtsprinzip der politischen 18

BGBl. Nr 242/1962 i. d. g. F. Rundschreiben des Bundesministeriums für Unterricht Nr 15/1994, GZ 33.466/103-V/ 4a/94 vom 09. 03. 1994. 19

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Bildung soll „den Schüler befähigen, gesellschaftliche Strukturen in ihrer Art und ihrer Bedingtheit zu erkennen und die Überzeugung wecken, dass Demokratie sich nicht in einem innerlich unbeteiligten Einhalten ihrer Spielregeln erschöpft“20. Mit der Senkung des Wahlalters auf 16 Jahre wird die aktive Beteiligung der Jugend an Politik sehr früh eröffnet. Damit gewinnt die politische Bildung an Schulen zusätzlich an Bedeutung. Es geht dabei nicht nur um die Vermittlung der Kenntnisse über politische Institutionen (Nationalrat, Bundesregierung, Landtage, Bürgermeister etc.), sondern auch darum, zu verstehen, wie Politik funktioniert.21 V. Demokratie – Schule – katholischer Religionsunterricht Neben den Zielsetzungen nach dem Schulorganisationsgesetz ist auch der Religionsunterricht im Sinne einer Vorbereitung auf soziale Verantwortung in der Gesellschaft von Bedeutung.22 Die sich aus § 2 Schulorganisationsgesetz (SchOG) ableitenden Unterrichtsprinzipien, die ja nicht jedem Gegenstand einzeln zugeordnet sind, sondern durchgehend zu berücksichtigen wären, haben für die staatsbürgerliche Erziehung im Religionsunterricht ebenso Bedeutung. Vom katholischen Religionsunterricht wird ein „positiver Beitrag zur staatsbürgerlichen Erziehung, nach christlicher Lehre“ gefordert.23 VI. Einzelne Projekte Aus vielen interessanten Projekten sei noch auf die Enquete: „Demokratie braucht Bildung - Zur Aktualität von Erwachsenenbildung“ vom 17. Mai 2011 hingewiesen: Diese wurde von der Arbeiterkammer Wien mit zahlreichen Mitveranstaltern (vom Begegnungszentrum für aktive Gewaltlosigkeit, der Evangelischen Akademie über die Katholische Sozialakademie Österreichs bis hin zum WIDE-Netzwerk Women in development in Europe) veranstaltet. Von dieser Veranstaltung gibt es eine Tagungsmappe, eine Publikation ist nicht vorgesehen. Wegen der interessanten Treffsicherheit werden Thesen aus den Arbeitspapieren an dieser Stelle zitiert. Frau Univ.-Prof. Dr. Elke Gruber24, hat zum Thema „Individualisieren, Trivalisieren, Politisieren? Spannungsfelder politischer Erwachsenenbildung“ unter dem Motto: „Demokratie ist die einzige Gesellschaftsform, die gelernt werden muss.“ (Oskar Negt) 20

Ebd., Pkt. II. Wolfgang Sander, Demokratie braucht politische Bildung, in: Die Presse, 02. 07. 2007. 22 Dazu im Detail Hugo Schwendenwein, Das österreichische Katechetenrecht, Wien 2009, S. 93 ff. 23 Ebd., S. 95. 24 Institut für Erziehungswissenschaft und Bildungsforschung, Abteilung für Erwachsenen- und Berufsbildung. 21

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folgende Thesen vorgelegt: 1. „Der Fortbestand unserer Demokratie hängt entscheidend von der demokratischen Handlungs- und Partizipationsfähigkeit der Bevölkerung ab.“ 2. „Das Einüben demokratischer Verhaltensweisen und die Gestaltung demokratischer, politischer Verhältnisse ist ein lebenslanger Prozess.“ 3. „Erwachsenenbildung kommt im Prozess des Einübens demokratischer Verhaltensweisen und der Gestaltung demokratischer, politischer Verhältnisse quantitativ und qualitativ eine bedeutende Rolle zu.“ 4. „Die politisch-demokratische und gesellschaftliche Funktion der Erwachsenenbildung macht ihre eigentliche Stärke aus.“ 5. „Erwachsenenbildung muss sich ihrer politisch-demokratischen und gesellschaftlichen Funktion wieder mehr bewusst werden und diese Aufgabe offensiver vorantreiben.“

Ziel: „Demokratie als Lebensform“: Es muss uns mehr gelingen, Demokratie nicht als etwas von außen „Aufgesetztes“ zu sehen, sondern Demokratie muss als eine Art Habitus entwickelt und verinnerlicht und in allen Bereichen menschlichen Lebens gelebt werden. D.h. aber auch, dass wir Bildung und Erwachsenenbildung wieder stärker als ein politisches und demokratisches Projekt sehen – und zwar in der Gesamtheit all ihrer Themen und Bereiche, ihrer Formate und Settings. Die genannte Vortragende befasst sich laut den vorliegenden Power-Point-Folien in diesem Referat auch mit Aspekten einer „inneren Verfasstheit der Erwachsenenbildung“. Dabei wird kritisch vermerkt, dass Erwachsenenbildung als ein elementarer Teil des lebenslangen Lernens (LLL) trotzdem eine geringe öffentliche Präsenz und politische Aufmerksamkeit habe. Dieser Bereich sei möglicherweise der am meisten ausdifferenzierte und ein am stärksten sich wandelnder Bildungsbereich. Weiters befasste sich die Philosophin Birgit Krondorfer mit dem Thema der Frauenbildung. Dem aktuellen Frauenbericht (2010) sei einerseits zu entnehmen, dass Frauen im Bereich der beruflichen Weiterbildung massiv benachteiligt seien. Überproportional viele erwerbstätige Frauen müssten berufsbezogene Kurse und Schulungen in ihrer Freizeit absolvieren. Zum anderen seien „Frauen beim lebenslangen Lernen generell aktiver als Männer“, jedoch nehmen nur sehr wenige Frauen, die nach der Pflichtschule keine anerkannte Berufsausbildung oder Schule abgeschlossen haben, am lebenslangen Lernen teil. Die genannte Referentin kommt zum Schluss, dass die Problematik zwischen Geschlechtergleichheit und -differenz als eine Angleichung und souveräne Partizipation in und durch Bildungsprozesse(n) zu wenig diskutiert werde. Weitere Referate befassten sich unter anderem auch mit dem Thema „Bildung für Frieden – gestern, heute, morgen“ (Peter Hämmerle) sowie „Bestandsaufnahme zur gegenwärtigen Situation der Erwachsenenbildung“ (Klaus Thiel). Die Erwachsenenbildnerin Erika Schuster behandelte „christlich motivierte Erwachsenenbildung“ und weist auf die Rahmenbedingungen für diese Tätigkeit hin. Dabei werden Ansätze einer Bildungskonzeption der Bundesarbeitsgemein-

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schaft für katholische Erwachsenenbildung einem Grundsatztext der Europäischen Föderation für katholische Erwachsenenbildung aus 2005/09 gegenübergestellt. Als Rahmenbedingungen von 1983 werden der Eiserne Vorhang, die Mittelstreckenraketendiskussion, Atomkraft, heikle Prognosen für Ressourcen (Club of Rome-Studie, GLOBAL 2000), Wohlstand und Sicherheit im Westen Europas etc. genannt. Hingegen werden als Rahmenbedingungen aus 2005/09 die Europäische Union mit 25 Mitgliedern, der Lissabonner Vertrag von 2000, Globalisierung, Weltwirtschaftskrise, „moralische Erschöpfung“ (J. B. Metz), Terror, Genmanipulation, Euthanasie, Naturkatastrophen, zunehmende Armut, hohe Mobilität, Flüchtlingsnot, Migration etc. genannt. Dem schließen sich 14 formulierte Ziele an, um das Leben innerhalb und zwischen verschiedenen Lebenswelten zu lernen und eine eigene Lebenskultur zu entwickeln. An dieser Stelle können nur wenige Ziele, wie etwa „Dem Menschen ein Mensch sein“, „Zur Gastfreundschaft einladen“, … „Den natürlichen Lebensraum fördern und nachhaltig gestalten“, „Den unzähligen Lebenswelten und Wirklichkeitserfahrungen von Menschen einen konkreten Ort anbieten“ sowie abschließend „Ein Ort in Geistes/Gottes Gegenwart sein“ genannt werden. Der Nationalrat selber hat am 20. Mai 2011 eine Enquete „Demokratie lernen – Herausforderungen für die politische Bildung in Österreich“ veranstaltet. Dabei stand die Fragestellung im Mittelpunkt, wie heute das demokratiepolitische Bewusstsein von Jugendlichen geweckt werden könne. Nach einer Studie im Auftrag des Bundesministeriums für Unterricht und kulturelle Angelegenheiten im Jahr 2008 ist Jugendlichen Politik zu 12 % wichtig. Dazu im Vergleich die Themen Familie 80 %, Freunde 74 %, Arbeit 66 %, Aus- und Fortbildung 59 %, Freizeit 53 % und Religion nur 9 %. Politik liegt damit im Interessensfeld der Jugendlichen nach dieser Studie an vorletzter Stelle. Geradezu umgekehrt proportional liegen die Antworten auf die Frage, wo eine Mitbestimmung erfolgen sollte. Im Fall Bildung wünschen sich dies 40 % und im Bereich Jugendpolitik und Jugendthemen 36 %. Peter Filzmaier25 begreift gesellschaftliche Konfliktlinien als neue Themen. Dazu zählen das Leben in Parallelwelten mit zwei Geschwindigkeiten (Stadt versus Land, öffentlich versus privat, Generationenkluft statt -dialog). Die konstruktive Beteiligung an Demokratiereformen wären eine Alternative gegen Elitenfrust nach dem Motto: „Die da oben!“ Aus den zahlreichen Aktivitäten von Erwachsenenbildungseinrichtungen – seien sie staatlich oder von Kirchen getragen – werden an dieser Stelle beispielsweise folgende stellvertretend genannt: Das Salzburger Bildungswerk (getragen vom Bundesland Salzburg und den Gemeinden) kennt als Markenzeichen die „Bildungswoche“. Die durchschnittlich zirka 15 Bildungswochen in Salzburg jährlich sind ein komplexes pädagogisches, inhalt25 Peter Filzmaier, Politische Bildung in Österreich. Trends, Problembereiche, Perspektiven: Fünf Herausforderungen und fünf Chancen. Powerpointpräsentation anlässlich der Enquete „Demokratie lernen – Herausforderungen für die politische Bildung in Österreich“ am 20. Mai 2011, Wien.

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liches und organisatorisches Gefüge. Der Vorbereitung dienen sogenannte Kerngespräche, die eine Problemanalyse, Themenbörse, Zielformulierung, Detailplanung und Nachbereitung enthalten.26 Dass dabei politische Bildung nicht zu kurz kommt, versteht sich von selbst, ist aber auch angesichts der hohen Dichte an Teilnahme der Gemeindebevölkerung für sich schon ein Prozess des Einübens in Demokratie. Über demokratische und parlamentarische Politik in Österreich sowie in der Europäischen Union wird – um ein weiteres Beispiel an solchen Projekten stellvertretend zu nennen – der Lehrgang des Salzburger Bildungswerkes in der Zeit vom 19. November 2011 bis 25. Februar 2012 genannt. Dabei geht es um die Frage, wer politische Macht in Österreich oder in der Europäischen Union habe, welche Institutionen welche Rolle spielten, wozu man in „EU-Europa“ noch einen Landtag brauche etc. sowie abschließend, welchen Einfluss Bürgerinnen und Bürger auf die Politik hätten.27 Das Katholische Bildungswerk Salzburg ist „dem christlichen Welt- und Menschenbild verpflichtet“, „die Bildungsarbeit orientiert sich an den Freuden und Hoffnungen, der Trauer und den Ängsten der Menschen von heute“ (II. Vatikanisches Konzil, Gaudium et spes 1). Bildung bedeutet nach der Zielsetzung, „dass Menschen neue Kenntnisse, Einsichten und Kompetenzen erwerben und entwickeln“. Weiters sollen die Bildungsangebote „zu verantwortlichem Handeln in einer zunehmend säkularisierten und globalisierten Welt befähigen“28. VII. Kirche und Staat Unter dem Aspekt der wechselweisen Beziehung zwischen Demokratie und Bildung kann die Beziehung zwischen Kirche und Staat nicht ausgeblendet bleiben. Auch wenn dieses Kapitel an dieser Stelle nur kurz angerissen werden kann. „Die Aufgabe und der umfassende Zweck des Staates ist die Verwirklichung des Allgemeinwohles oder ,GemeinwohlesÐ (bonum commune).“29 Die katholische Staatslehre hält zum Unterschied von Kritikern „an der Erkennbarkeit und objektiven Determinierbarkeit dessen, was unter Gemeinwohl im Einzelfall zu verstehen ist“ fest.30 Damit wird sichtbar, dass die Kirche den Staat auch in gesellschaftlich-politischer Hinsicht anerkennt und seit dem II. Vatikanischen Konzil von „der Notwendigkeit eines dy-

26 Salzburger Bildungswerk, Die Bildungswoche. Leitfaden für die Organisation und Durchführung einer Bildungswoche. 27 Politik in Österreich und in der Europäischen Union, ein Lehrgang mit Exkursion nach Wien, veranstaltet vom Salzburger Bildungswerk. 28 Katholisches Bildungswerk, Salzburg: Leitbild. 29 Joseph Listl, Kirche im freiheitlichen Staat, Schriften zum Staatskirchenrecht und Kirchenrecht, Zweiter Halbband, Berlin 1996, S. 962. 30 Ebd., S. 963.

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namischen Gemeinwohlverständnisses“31 ausgeht. Letztlich muss „die politische Auseinandersetzung in der rechtsstaatlichen und freiheitlichen Demokratie stets unter Wahrung der menschlichen Grundwerte aller Beteiligten und der Rechte des anderen erfolgen“32. Damit ist auch in dieser Beziehung die Politik hereingenommen. Die pastorale Konstitution über die Kirche in der Welt von heute „Gaudium et spes“ enthält in Art. 76 die sogenannte „Magna Charta“ der gegenwärtigen Beziehung zwischen Kirche und Staat. Der zitierte Artikel trägt die Überschrift „Politische Gemeinschaft und Kirche“. Auf den Volltext kann an dieser Stelle nur verwiesen werden. Klar wird zum Ausdruck gebracht, dass „das Verhältnis zwischen der politischen Gemeinschaft und der Kirche“ dadurch gekennzeichnet sei, dass zwischen dem, was die Christen als Einzelne oder im Verbund im eigenen Namen als Staatsbürger … und dem was sie im Namen der Kirche … tun, klar unterschieden wird.33 Trotz dieser artikulierten Trennung von Kirche und Staat nimmt die Kirche für sich in Anspruch, immer und überall „in wahrer Freiheit den Glauben zu verkünden, ihre Soziallehre kundzumachen, ihren Auftrag, unter den Menschen unbehindert zu erfüllen und auch politische Angelegenheiten einer sittlichen Beurteilung zu unterstellen, wenn die Grundrechte der menschlichen Person oder das Heil der Seelen es verlangen“34. Aus diesen doch sehr deutlichen Textpassagen lässt sich auch das Ringen um politische Bildung, das Vermitteln bestimmter, in diesem Fall vom Christentum geprägter Werte erkennen. VIII. Bildung und Parlament Vielfältig sind die Bemühungen, um SchülerInnen parlamentarisches Geschehen und damit auch die Demokratie näher zu bringen. Dazu zählt die sogenannte Demokratiewerkstatt im Nationalrat ebenso wie ähnliche Modelle in den österreichischen Landtagen. Dass alle Landtage, aber auch National- und Bundesrat über Besucherdienste verfügen, versteht sich von selbst. IX. Einzelne Beispiele 1. Demokratiewerkstatt im Palais Epstein (Gebäude hinter dem Parlament): Die Demokratiewerkstatt ist als Einrichtung zur Förderung von Demokratieverständnis und politischem Interesse für die Altersgruppe von acht bis vierzehn Jahren als Werkstatt und Experimentierfeld mit unterschiedlichen Zugängen zu politischen Themen 31

Ebd., S. 963. Ebd., S. 964. 33 Gaudium et spes, Art. 76, Abs. 1, zitiert aus Karl Rahner/Herbert Vorgrimler, Kleines Konsilskompendium, Freiburg i. Br. 281966, S. 534. 34 Ebd., S. 535. 32

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angelegt. Dabei werden eine politische Werkstatt, Medien-Werkstätten – Zeitung, Internet, Radio & Film, Werkstatt mit ParlamentarierInnen, Partizipationswerkstatt, Zeitreise-Werkstatt und Europa-Werkstatt angeboten. In der „Demokratiewerkstatt“ gibt es auch verschiedene Schwerpunkte, wie etwa „Expedition ins Parlament“, „Auf der Spur eines Gesetzes“ oder „Manipulation durch Information“. Seit Eröffnung der Demokratiewerkstatt im Oktober 2007 haben 40.000 Schülerinnen und Schüler das umfangreiche und vielseitige Angebot der Demokratiewerkstatt genützt, wobei 561 Filme, 750 Radiobeiträge und 602 Zeitungsartikel entstanden sind. Am 18. November 2011 konnte der 40.000 Besucher durch die Nationalratspräsidentin begrüßt und geehrt werden.35 2. Jugendparlament: Zweimal im Jahr findet auf Einladung der Nationalratspräsidentin im Österreichischen Parlament in Wien ein Jugendparlament statt. Dabei sollen alle parlamentarischen Verhaltensweisen vom Argumentieren und Reden über Kompromisse suchen bis hin zur Abstimmung über Gesetze durch die Jugendlichen angewandt werden. Ziel ist es, bei den Jugendlichen Interesse für demokratische Entscheidungsprozesse zu wecken und ein vertieftes Verständnis für parlamentarische Abläufe zu entwickeln. Es fügt sich, dass zum Zeitpunkt der Verfassung dieses Beitrages das nächste Jugendparlament 11/11 am 25. November 2011 stattfindet. Die Einladung geht jeweils an Schulen, deren Bundesland den Vorsitz im Bundesrat hat (zweites Halbjahr 2011: Salzburg). Aus den Bewerbungen wurden folgende Salzburger Klassen ausgewählt: 5E Klasse des Akademischen Gymnasiums Salzburg, 5B Klasse des Bundesgymnasiums Zell am See, 1 NHK Klasse der HAK St. Johann im Pongau sowie SchülerInnen der Polytechnischen Schule Taxenbach. 3. Salzburger Landtag – SchülerInnenparlament: Der Salzburger Landtag ist einen neuen Weg gegangen. Seit 2004 hat das sogenannte SchülerInnenparlament zweimal pro Jahr das frühere Jugendparlament abgelöst. Das Jugendparlament wurde durch die im Landesjugendbeirat vertretenen Organisationen mit viel Aufwand wie Vorbereitungsseminar, Entschließungsanträge etc. vorbereitet. Nunmehr ist das auf die SchulsprecherInnen der allgemeinbildenden höheren, der berufsbildenden höheren Schulen und die der Berufsschulen übergegangen. Neben der Mitwirkung von Abgeordneten aller im Landtag vertretenen Landtagsparteien und von Regierungsmitgliedern der in der Landesregierung vertretenen Parteien werden vor allem die Beschlüsse des SchülerInnenparlaments nach Einholung der Stellungnahmen der zuständigen Ressorts und der Landesverwaltung analog Petitionen als Verhandlungsgegenstand des Landtages behandelt. An den Beratungen im Landtag nehmen die LandesschulsprecherInnen dieser drei Schultypen wie Experten teil. Die einzelnen Beschlüsse der SchülerInnenparlamente werden eingehend diskutiert.

35 Zitiert aus: Demokratiewerkstatt darf sich über 40.000. Gast freuen, Parlamentskorrespondenz Nr. 1083 vom 18. 11. 2011.

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4. Lehrbehelfe – Didaktik: Erstmals wurde durch Landtagspräsident Ök.-Rat Simon Illmer ein Gutachtensauftrag an zwei Professoren der Pädagogischen Hochschule36 zur Erarbeitung eines Konzeptes für Lehrbehelfe an Pflichtschulen vergeben. Ziel wäre es, ein Konzept zu erhalten, das die Stellung der Landtage im Bereich der politischen Bildung besser verankert. 5. Vorarlberg: Auf das Projekt „Landtag für Jugendliche - Demokratie braucht Dich!“ wird verwiesen. Landtagspräsidentin Dr. Bernadette Mennel konnte seit ihrem Amtsantritt im Oktober 2009 über 1.000 Schülerinnen und Schüler im Landtag begrüßen. Mit dieser Art der landespolitischen Wissensvermittlung will der Vorarlberger Landtag die Jugend für die Arbeit des Landtages und die Partizipation an der Demokratie interessieren und motivieren, sich einzubringen. Das SchülerInnenparlament des Vorarlberger Landtages sei überdies, so die Landtagspräsidentin, die beste Plattform, demokratische Spielregeln kennen und leben zu lernen. Demokratie lebe von der Teilnahme der Menschen. 6. Bürgermeisterbrief: Aus den zahlreichen Beispielen der Aktivitäten von Gemeinden (z. B. Schülerparlamente, Jungbürgerfeiern, Jungbürgerbriefe etc.) sei der Brief des Bürgermeisters von Elixhausen, Dipl.-Ing. Bruno Wuppinger37, „an die Jüngeren“ erwähnt. Der ehemalige weichende Bauernsohn, in einer dreizehnköpfigen Großfamilie aufgewachsen, das Studium als Werkstudent absolviert, richtete an die Jugendlichen seiner Gemeinde einen Brief nach dem Motto „Kein Erfolg ohne Redlichkeit – durch Beteiligung – Einmischen zum Erfolg“. Damit wollte er gegen die Tendenzen der Politikverdrossenheit bei Jugendlichen ankämpfen und betonen, dass diese die Aufgabe hätten, für die Zukunft ein ethisches Management zu entwickeln. Dies bedeute konkret, sich eine Reihe von Fragen zu stellen („Was tue ich legal?“, „Ist meine Entscheidung ausgewogen?“, „Wie lässt dich die Entscheidung über dich selber denken?“, „Welches Selbstbewusstsein braucht man, um die eigenen Kriterien für eine richtige Selbsteinschätzung zu finden“ etc.). Letzten Endes geht es um den Appell, dass Jugendliche und junge Menschen selbst befähigt sein sollen, die eigenen spezifischen Interessen zu vertreten, sodass insgesamt auch eine den Bedürfnissen angemessene Politik zustande kommt. Gefordert wird von den Jugendlichen durch den Bürgermeister ein aktives Einmischen, Beteiligung und Engagement. Dabei wird auf das Problem hingewiesen, dass der Zeithorizont Erwachsener längerfristig angelegt ist als der von Jugendlichen. Eine dauerhafte Verbesserung des Verhältnisses der jungen Generation zur Politik sei, so Bruno Wuppinger, erst zu er36

Vertrag über die Erstellung eines Konzepts zur pädagogisch-didaktischen Aufbereitung des Landtages für Lehrbehelfe mit Priv.-Doz. Dr. habil. Christoph Kühberger und Prof. Mag. Elfriede Windischbauer. 37 Hofrat Dipl.-Ing. Bruno Wuppinger, geb. 16. September 1943, Diplomingenieur der Universität für Bodenkultur Wien – Studienrichtung Landwirtschaft, Bürgermeister der Gemeinde Elixhausen von 1993 bis 2008.

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warten, wenn sich die Jugendlichen beteiligen und überall dort einmischen, wo sie selbst betroffen seien.38 X. Gedanken zum Parlamentarismus Der Begriff Demokratie beantwortet noch nicht die Frage, in welcher Form „Volksherrschaft“ wahrgenommen, ausgeübt werden soll. Im österreichischen System sind mehrere Elemente fixiert, die zum selbstverständlichen Bestandteil demokratischer Institutionen zählen. Demokratie wird als repräsentative Demokratie verstanden. D.h. sie wird durch frei gewählte Abgeordnete wahrgenommen. Dies gilt für die Ebene der Gesetzgebung des Bundes (Nationalrat) wie für die Ebene der Länder (Landtag), aber auch für die Ebene der Gemeinden (Gemeindevertretung als allgemeiner Vertretungskörper). Dieses System wird ergänzt durch Elemente der direkten Demokratie, also Volksbegehren, Volksbefragung, Volksabstimmung, auf den genannten drei Ebenen unterschiedlich, aber doch überall ausgeprägt. Auch die Europäische Union kennt Wahlen (Europaparlament) und das Element des Volksbegehrens. Die Wahlen werden nach den Kriterien des allgemeinen, gleichen, direkten und geheimen Verhältniswahlrechts durchgeführt. Die Notwendigkeit möglichst „regierungsfähiger“ Mehrheitsverhältnisse führt laut verschiedener Kritik zu gewissen Erstarrungen. Als Antwort auf diese Entwicklung wird vielfach das Abgehen vom Verhältniswahlrecht hin zum Mehrheitswahlrecht gefordert.39 In diesem Zusammenhang wird vielfach kritisiert, dass nicht das Wahlergebnis eigentlich über die Mehrheit im Parlament, sondern der Ausgang der Koalitionsbildung („Regierungschefdemokratie“) entscheidet. XI. Schlussfolgerungen – Die Ausgangsthesen dieser Arbeit – Arabischer Frühling, Umbau der Reformstaaten nach dem Zusammenbruch des Kommunismus in pluralistisch-liberale Wettbewerbsdemokratien und das Erfordernis eines Mittelstandes in einer Gesellschaft, um überhaupt Reformen, Umbrüche und Revolutionen zu erzwingen, beweisen den engen, einander bedingenden Zusammenhang von Demokratie und Bildung.

38 Jungbürgerbrief von Bürgermeister Bruno Wuppinger vom 25. 10. 2010. Liegt dem Verfasser im Volltext vor. 39 Als Ursachen der Politikverdrossenheit wird oft auch das Wahlrecht genannt. Dass das Wahlrecht selbst nicht der Ersatz für politischen Inhalt sein kann, versteht sich von selbst. Antworten allein über das Wahlrecht – Verhältniswahlrecht versus Mehrheitswahlrecht – können dafür nicht gegeben werden. Siehe dazu auch Karl W. Edtstadler, Perspektiven einer Wahlrechtsreform, Salzburger Nachrichten, Der Staatsbürger, 12. Mai 2009, S. 18.

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– Gerade die Transformation der mittel-osteuropäischen Gesellschaften beweist die Notwendigkeit des Vorhandenseins freier Verbände, Gewerkschaften und Vereine, die maßgebliche Strömungen der Gesellschaft darstellen (sozialpartnerschaftliches Modell und NGOs) auch als Träger von politischem Bewusstsein. – Freie, von der Staatsgewalt getrennte und unabhängige Kirchen sind wichtige Träger der Vermittlung von gesellschaftlichen Werten in der Demokratie – als historische Beispiele wären die römisch-katholische Kirche in Zusammenarbeit mit der Gewerkschaftsbewegung Solidarnocz in Polen sowie die Evangelische Kirche in der DDR stellvertretend zu nennen. Die Wertevermittlung als Teil des demokratischen Prozesses gilt selbstredend auch in funktionierenden und bestehenden Systemen und Staaten. – Im Zusammenhang von Demokratie und Bildung stellen auch der Aufbau, der Erhalt und die Pflege einer Parteienstruktur, die in einer pluralistisch-liberalen Wettbewerbsdemokratie in der Lage ist, sich dem politischen Wettbewerb zu stellen, eine Notwendigkeit dar. Dies erfordert Parteien- und Fraktionsförderung sowie geförderte politische Bildung auf gesetzlicher Basis. – Die Pflege einer offenen politischen Kultur durch Medien, Wissenschaft und Bildung ist erforderlich. – Bildung im weiteren Sinne bezieht sich im Kontext der Demokratie auf politische Bildung, auf staatsbürgerliche Bildung, und erstreckt sich von der schulischen Bildung bzw Ausbildung über höhere Bildung (unter Einschluss der Universitäten) bis hin zur Erwachsenenbildung als Gemeinwesenarbeit. – Politische Bildung dient in allen Ebenen der Bildung zur Einübung der Demokratie. – Parlamentarische Demokratie wird sich auf Dauer nur behaupten können, wenn sie glaubwürdig in der Lage ist, den Menschen Teilhabe am politischen Prozess zu eröffnen und künftige wirtschaftlich-soziale Entwicklungen sowie einen Fortschritt vorzustellen. – Demokratie setzt auch eine Akzeptanz der Entscheidung von politischen Eliten bzw. institutioneller Politik (Entscheidungen und Maßnahmen der durch Verfassung und Rechtsordnung hiezu eingerichteten politischen Gremien wie Regierungen und Parlamente) in der Bevölkerung voraus. – Allein der Ausdruck der repräsentativen Demokratie verlangt eine entsprechend breite Willensbildung, einen Konsens über Systeme und Inhalte. Akzeptanz kann eigentlich neben der Werbung der politischen Parteien nur durch politische Bildung erlangt werden.

Religionsfreiheit im Licht der Arbeit der „Österreichischen Grundrechtskommission“ Von Johann Bair I. Vorgeschichte und kurzer Überblick Der im Depot 022 des Universitätsarchivs Innsbruck befindliche Bestand „Österreichische Grundrechtskommission“ gibt Auskunft über die Tätigkeit des im Jahr 1964 vom damaligen Bundeskanzler Dr. Josef Klaus eingesetzten Kollegiums für die Neuordnung der Grund- und Freiheitsrechte. Diesem Kollegium gehörten Vertreter der im Parlament vertretenen politischen Parteien, der Rechtsberufe und der Wissenschaft an. Aufgabe des Kollegiums war die Neuordnung der Grund- und Freiheitsrechte durch Erarbeitung eines einheitlichen grundrechtlichen Systems.1 Am 10. Dezember 1964 fand die konstituierende Sitzung des Expertenkollegiums statt. Daran schlossen sich vom 22. Jänner 1965 bis 1. März 1974 insgesamt 87 Arbeitstagungen an, in denen Grundrechtsfragen diskutiert wurden. Auf der Grundlage der Arbeit des Expertenkollegiums unternahm es das aus Mitgliedern des Expertenkollegiums gebildete Redaktionskomitee2, vom 20. September 1974 bis 14. November 1983 in 94 Sitzungen einen Grundrechtsentwurf zu erstellen. Seit Abschluss der Arbeiten und Ende der Tätigkeit des Redaktionskomitees harrt das Reformprojekt der gesetzgeberischen Umsetzung.3 Im Folgenden wird zuerst der Meinungsaustausch skizziert, wie er im Expertenkollegium zur Vorbereitung der Ausformulierung des Grundrechts auf Religionsfreiheit geführt wurde. Die Darstellung beschränkt sich auf die Zusammenfassung von Grundgedanken und verzichtet auf die Hervorhebung und individuelle Zuordnung einzelner Diskussionsbeiträge. Anschließend wird auf die Diskussion im Redaktionskomitee eingegangen, wobei im Rahmen dieser Darstellung dem Meinungsaustausch breiter Raum gegeben wird, die Diskussionsbeiträge individuell zugeordnet werden und der erarbeitete Entwurf zur Religionsfreiheit in seinen verschiedenen Varianten sichtbar gemacht wird.

1 Josef Klaus, Die „Ära Klecatsky“ oder: Der Rechtsstaat ist nicht bequem, in: Ludwig Adamovich/Peter Pernthaler (Hrsg.), Auf dem Weg zur Menschenwürde und Gerechtigkeit, Festschrift für Hans R. Klecatsky, dargeboten zum 60. Lebensjahr, 1. Bd., Wien 1980, S. 422. 2 Wiener Zeitung vom 7. 3. 1974, S. 2. 3 Edwin Loebenstein, Die Behandlung des österreichischen Grundrechtskatalogs durch das Expertenkollegium zur Erneuerung der Grund- und Freiheitsrechte, in: EuGRZ (1985), S. 365 ff.

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II. Die Diskussion im Expertenkollegium Am 17. Mai 1968 wurde in der 35. Arbeitstagung des Expertenkollegiums der Grundrechtskommission mit der Diskussion4 des Rechts auf Glaubens- und Gewissensfreiheit begonnen. Im Verlauf der Debatte tauchte der Gedanke auf, nicht nur das Bekenntnis zu einer positiven Religion zu schützen, sondern auch das Nichtbekenntnis, wie es sich in atheistischen und agnostischen Auffassungen zeigt.5 Der Meinungsaustausch wurde in der 36. Arbeitstagung am 7. Juni 1968 fortgesetzt.6 Dabei schälte sich allmählich heraus, dass der Glaubens- und Gewissensfreiheit im Grundrechtsentwurf ein staatsfreier Bereich zuerkannt werden soll. Geschaffen werde sollte von den Redaktoren des Entwurfs ein dem Einzelnen zukommendes, staatsgerichtetes, höchstpersönliches, absolutes, öffentliches Recht, das die staatliche Privatwirtschaftsverwaltung und auch Verbände, die ihre Autorität vom Staat ableiten, in der Lage ist zu binden. Thematisiert wurde in diesem Zusammenhang auch die Frage der Drittwirkung des Grundrechts, wobei in der Diskussion auf das Spannungsverhältnis zur Privatautonomie, auf die Gefahr, das bürgerliche Recht mit neuem Gehalt zu erfüllen, oder überhaupt auf die Kollision mit anderen Rechten, wie der Eltern oder der Kinder, hingewiesen wurde. Unbestritten war im Kollegium die Notwendigkeit der Aufnahme des Rechtes der Religionsausübung als Individualrecht in den Grundrechtsentwurf.7 Die Diskussion wurde in der 37. Arbeitstagung am 5. Juli 1968 fortgeführt8 und gleich zu Beginn wurde als Ergebnis der bisherigen Gespräche festgehalten, dass im Grundrechtsentwurf der Einzelne Träger der Glaubens- und Gewissensfreiheit sein soll. Ihm soll es auch zukommen, in Gemeinschaft mit anderen dieses Recht auszu4 17. 5. 1968, Protokoll, Deckblatt. An der Diskussion nahmen teil: Sektionschef Dr. Edwin Loebenstein (Vorsitzender), Rechtsanwalt Dr. Hans Beck (Präsident der Rechtsanwaltskammer für Kärnten), Rechtsanwalt Dr. Armin Dietrich, Universitäts-Professor Dr. Felix Ermacora, Abgeordneter zum Nationalrat Dr. Walter Hauser, wirklicher Hofrat der oberösterreichischen Landesregierung Landtagsdirektor Alfred Kaltenberger, Hofrat des Verwaltungsgerichtshofes Alfred Kobzina, Hofrat des Verwaltungsgerichtshofes Dr. Friedrich Lehne, wirklicher Hofrat der Kärntner Landesregierung Dr. Helmut Lora, Abgeordneter zum Nationalrat außer Dienst Karl Mark, Ministerial Kommissär Dr. Heinrich Neisser, UniversitätsProfessor Dr. Helfried Pfeifer, Universitäts-Dozent Sektionsrat Dr. Kurt Ringhofer, Mitglied des Verfassungsgerichtshofes Rechtsanwalt Dr. Wilhelm Rosenzweig, Mitglied des Verfassungsgerichtshofes Senatspräsident Universitäts-Professor Dr. Leopold Werner, Kammeramtsdirektor der Arbeiterkammer für Tirol Dr. Otto Winter. 5 Ebd., S. 53 f. 6 7. 6. 1968, Protokoll, Deckblatt. Zur Diskussionsrunde stießen: Ministerialsekretär Dr. Ludwig Adamovich, Universitäts-Professor Dr. Ren¦ Marcic und Universitäts-Professor DDr. Robert Walter. 7 Ebd., S. 15, 20, 44, 48 ff., 76. 8 5. 7. 1968, Protokoll, Deckblatt. An der Diskussion nahmen teil: Loebenstein (Vorsitzender des 1. Teils der Vormittagssitzung), Adamovich (Vorsitzender des 2. Teils der Vormittagssitzung und der Nachmittagssitzung), Beck, Ermacora, Hauser, Kaltenberger, Kobzina, Lehne, Lora, Marcic, Mark, Neisser, Pfeifer, Ringhofer, Rosenzweig, Werner.

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üben.9 Im weiteren Verlauf der Gespräche kristallisierte sich dann heraus, dass Einschränkungen der Glaubens-, Gewissens- und Religionsausübungsfreiheit nur im Bereich der Religionsausübung, dem „Kundtun“, erfolgen sollen, wobei das Kollegium den Redaktoren des Grundrechtsentwurfs das Ziel vorgab, Religions- und Bekenntnisfreiheit möglichst wenig einzuschränken und notwendige Schranken mehr an Art. 9 Europäische Menschenrechtskonvention10 als an Art. 63 Staatsvertrag von Saint-Germain11 zu orientieren. Eine inhaltliche Determinante wurde in der in Art. 9 Europäische Menschenrechtskonvention gebrauchten Wendung „in einer demokratischen Gesellschaft notwendige Maßnahmen“ gesehen. Gesichtspunkte wie Ordnung, Toleranz, interkonfessionelle Verhältnisse, unabdingbarer Schutz des Rechtsstaates oder der Demokratie sollten berücksichtigt werden, gewarnt wurde vor der Aufnahme des wandelbaren Begriffs Moral in den Grundrechtsentwurf. In der Folge diskutierte das Kollegium die besonderen Gewaltverhältnisse und kam zum Schluss, dass keiner Gewalt das Recht gegeben werden darf, jemanden, der über 14 Jahre alt ist, zu einer kirchlichen Handlung oder zur Teilnahme an einer kirchlichen Feierlichkeit zu zwingen. Besondere Gewaltverhältnisse sollten von den Redaktoren des Grundrechtsentwurfs nur soweit anerkannt werden, als sie dem Schutz eines anderen Grund- und Freiheitsrechtes, insbesondere dem Familienrecht, dienten. Außerhalb des Familienverbandes liegende Erziehungsgemeinschaften sollten in den Kreis der besonderen Gewaltverhältnisse nicht aufgenommen werden, den Eltern sollte es aber unbenommen bleiben, auf die Schule die Erziehungsgewalt bis zum 14. Lebensjahr des Kindes zu übertragen. Die Frage, ob im Grundrechtskatalog ein ausdrückliches Zwangsverbot hinsichtlich der Teilnahme an religiösen Akten oder Veranstaltungen verankert werden soll, wurde im Kollegium teilweise bejaht; von verschiedener Seite wurde aber auch angeregt, über die Verbindung von Zwangsverbot und Toleranzgebot nachzudenken.12 Zu Art. 14 Abs. 2 StGG13 wurde im Kollegium die Ansicht vertreten, dass der erste Teilsatz noch immer Aktualität hat, der zweite Teilsatz jedoch vom Kollegium daraufhin zu überprüfen ist, ob er für den Wehrdienst noch aktuell ist. Im Rahmen der Diskussion des Wehrdienstes und der Sicherung des Rechts auf Waffendienstverweigerung gegen Missbrauch wurde dann in Bezug auf das Recht auf Waffendienstver9

Ebd., S. 6. BGBl. 1958/210. (2) Die Religions- und Bekenntnisfreiheit darf nicht Gegenstand anderer als vom Gesetz vorgesehener Beschränkungen sein, die in einer demokratischen Gesellschaft notwendigen Maßnahmen im Interesse der öffentlichen Sicherheit, der öffentlichen Ordnung, Gesundheit und Moral oder für den Schutz der Rechte und Freiheiten anderer sind. 11 StGBl. 1920/303. (2) Alle Inwohner Österreichs haben das Recht, öffentlich oder privat jede Art Glauben, Religion oder Bekenntnis frei zu üben, sofern deren Übung nicht mit der öffentlichen Ordnung oder den guten Sitten unvereinbar ist. 12 5. 7. 1968, Protokoll, S. 10 ff., 15 ff., 18 f., 21 f., 27 f., 30, 32, 37 ff. 13 RGBl. 1867/142. (2) Der Genuss der bürgerlichen und politischen Rechte ist von dem Religionsbekenntnis unabhängig; doch darf den staatsbürgerlichen Pflichten durch das Religionsbekenntnis kein Abbruch geschehen. 10

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weigerung im Kollegium angeregt, im Hinblick auf die ernste Überzeugung, mit der Menschen sich zum Pazifismus bekennen, die Verweigerung des Waffendienstes aus religiösen Gründen als Grundrecht zu statuieren. Die Redaktoren des Grundrechtsentwurfes sollten sich dabei an religiösen Pflichten, Gewissensgründen und Gewissensnot orientieren. Bei der Diskussion der Bekenntnisfreiheit konnte über den Inhalt des Begriffs „Bekenntnis“ im Kollegium keine Übereinstimmung erzielt werden; es kristallisierte sich jedoch heraus, dass mit Bekenntnisfreiheit auch das Recht der Bekenntniswahl verbunden sein muss. Das Recht der Bekenntniswahl sollte die Freiheit des Glaubens, des Nichtglaubens, der religiösen oder nichtreligiösen Meinung und das Recht, eine rechtlich verbindliche Erklärung über den Austritt aus einer gesetzlich anerkannten Religionsgemeinschaft abgeben zu können, schützen. Umfassen sollte es auch das Recht, einer rechtlich konstituierten oder auch nicht konstituierten Religionsgemeinschaft anzugehören. Einhellige Meinung des Kollegiums war es, das Recht der Bekenntniswahl an den in Zusammenhang mit den besonderen Gewaltverhältnissen diskutierten Schranken zu orientieren.14 In der 38. Arbeitstagung am 27. September 1968 wurde mit der Erörterung der Frage der freien Bildung von Religionsgemeinschaften begonnen.15 Im Kollegium bestand Konsens darüber, das Recht auf freie Bildung von Religionsgemeinschaften verfassungsrechtlich zu gewährleisten, und zwar in Form einer Schutznorm zugunsten juristischer Personen. Die Schutznorm sollte sowohl den Grundsatz der Parität als auch das Recht, innere Angelegenheiten selbst zu ordnen und zu verwalten, berücksichtigen. Umschrieben werden sollte von den Redaktoren des Grundrechtsentwurfs der Begriff „Religionsgemeinschaft“ an Hand der bisherigen Judikatur und Lehre in den erläuternden Bemerkungen zum Grundrechtsentwurf. Für den Fall, dass Religionsgemeinschaften sich nach dem Vereinsgesetz zu Unrecht frei etablierten, sollte eine Untersagungs- und Auflösungsmöglichkeit unter verfassungsgerichtlicher Kontrolle geschaffen werden. Als unumgänglich zur Erlangung der Rechtspersönlichkeit wurde im Kollegium ein Anmeldeverfahren für Religionsgemeinschaften angesehen. In der Folge verlagerte sich die Diskussion auf die Besprechung der Rechte der gesetzlich anerkannten Religionsgemeinschaften. Im Rahmen dieser Debatte wurde im Recht auf Erteilung von Religionsunterricht an allen öffentlichen und mit Öffentlichkeitsrecht ausgestatteten Schulen im Kollegium nicht nur ein Recht, sondern auch eine Pflicht der Religionsgemeinschaften gesehen. Dazu wurde dort aber auch zu bedenken gegeben, ob die Verankerung einer Pflicht mit dem Wesen eines Grundrechtkatalogs vereinbar ist. Beim Recht der anerkannten Religionsgemeinschaften, im Besitz und Genuss ihrer für Kultus, Unterricht- und Wohltätigkeits14

5. 7. 1968, Protokoll, S. 25 f., 46 ff., 54, 57 ff., 62. 27. 9. 1968, Protokoll, Deckblatt. Teilnehmer waren: Loebenstein (Vorsitzender), Adamovich, Beck, Dietrich, Hauser, Kaltenberger, Lehne, Lora, Marcic, Mark, Neisser, Pfeifer, Ringhofer, Werner und Winter. 15

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zwecke bestimmten Anstalten, Stiftungen und Fonds zu bleiben, spannte sich der Meinungsbogen im Kollegium von der ausdrücklichen verfassungsrechtlichen Gewährleistung des Eigentums und anderer Vermögensrechte bis zur Nichtaufrechterhaltung der bestehenden verfassungsrechtlichen Garantie. Letzteres wurde damit begründet, dass Religionsgemeinschaften als juristische Personen ohnedies in den Genuss der verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechte kommen. Auch bei der Diskussion des Rechts der anerkannten Religionsgemeinschaften auf ungehinderte Ausübung der Seelsorge im Bundesheer, in den mit Öffentlichkeitsrecht ausgestatteten Krankenanstalten und in Strafanstalten war das Kollegium geteilter Meinung. Vermittelnd wurde angeregt darüber nachzudenken, ob dieses Recht überhaupt auf anerkannte Religionsgemeinschaften beschränkt werden soll. Gegen Ende der 38. Arbeitstagung wurde mit der Besprechung der Frage begonnen, ob Religionsgemeinschaften den allgemeinen Staatsgesetzen unterworfen werden sollen. Im Rahmen dieser Debatte wurde vorgeschlagen, Ausnahmegesetze zu untersagen, die allein Religionsgemeinschaften betreffen und auf die Verschlechterung ihrer Rechtsposition abzielen.16 Am Beginn der 39. Arbeitstagung am 25. Oktober 1968 knüpfte das Kollegium an die bereits in der 38. Arbeitstagung begonnene Diskussion über die Frage der Unterwerfung von Religionsgemeinschaften unter die allgemeinen Staatsgesetze an17 und schlug schließlich vor, die sich auf die allgemeinen Staatsgesetze beziehende Formulierung aus Art. 15 StGG18 in den Grundrechtsentwurf zu übernehmen. In den erläuternden Bemerkungen zum Grundrechtsentwurf sollte darauf hingewiesen werden, dass mit der Formulierung des Jahres 1867 die gesamte Rechtsprechung in den Grundrechtsentwurf aufgenommen wird. In der darauf folgenden Diskussion über die verfassungsrechtliche Garantie der theologischen Fakultäten war das Kollegium uneins darüber, ob eine solche Garantie in den Grundrechtsentwurf Eingang finden soll. Im Mittelpunkt der Diskussion stand neben der Frage der Sinnhaftigkeit der Versteinerung bestehender Zustände in der sich wandelnden Zeit auch das Problem der Diskriminierung von Religionsgemeinschaften. Geteilter Meinung war das Kollegium auch hinsichtlich der Frage, ob eine Institutsgarantie des Sonntags oder bestimmter Feiertage in den Grundrechtsentwurf aufgenommen werden soll. Der Meinungsbogen spannte sich von der Befürwortung der Aufnahme des Sonntags und namentlichen Nennung weiterer Feiertage über die ver16

27. 9. 1968, Protokoll, S. 5 ff , 41 ff., 55 f., 61 f., 74, 79, 84. 25. 10. 1968, Protokoll, Deckblatt. Teilnehmer waren: Loebenstein (Vorsitzender), Adamovich (teilweise in Vertretung von Loebenstein Vorsitzender), Beck, Dietrich, Ermacora, Kaltenberger, Bundesminister für Justiz Universitäts-Professor Dr. Hans Klecatsky, Kobzina, Lehne, Lora, Marcic, Mark, Neisser, Pfeifer, Ringhofer, Rosenzweig, Universitäts-Professor DDr. Robert Walter, Werner und Winter. 18 RGBl. 1867/142. Jede gesetzlich anerkannte Kirche und Religionsgesellschaft … ist …, wie jede Gesellschaft, den allgemeinen Staatsgesetzen unterworfen. 17

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fassungsrechtliche Verankerung außerhalb des Zusammenhangs von Glaubens- und Gewissensfreiheit hin zur Übertragung der Regelung an den einfachen Gesetzgeber. Hingewiesen wurde im Kollegium auch darauf, dass in dieser Frage der sozialrechtliche Gesichtspunkt Erholung und der religiöse Aspekt seelische Erbauung miteinander verbunden sind. Beim Recht der Religionsgemeinschaften auf freien Verkehr mit religiösen Institutionen im Ausland waren sich die Mitglieder des Kollegiums nur in dem Punkt einig, dass das Recht nicht schrankenlos garantiert sein kann und keinesfalls diskriminierend sein darf.19 III. Die Arbeit im Redaktionskomitee Am 20. September 1974 trat das Redaktionskomitee für die Neuordnung der Grund- und Freiheitsrechte zusammen,20 gliederte die im Arbeitsprogramm des Expertenkollegiums aufgezählten Grundwerte in Gruppen und wies sie einzelnen Redaktoren zur Bearbeitung zu. Aufbauen sollte die Arbeit der Redaktoren auf die Ergebnisse der Diskussionen im Rahmen der Arbeitstagungen des Expertenkollegiums. In dieser Sitzung übernahm Klecatsky die Ausarbeitung der Formulierung religiöser Grundwerte.21 1. Formulierungsvorschlag Klecatsky Am 8. August 1977 übermittelte Klecatsky dem Vorsitzenden seinen Formulierungsvorschlag, der lautete:22 „Artikel X 1) Die Freiheit des Denkens, des Gewissens, des Glaubens, des religiösen oder weltanschaulichen Bekenntnisses ist jedermann gewährleistet. 2) Die Freiheit des religiösen oder weltanschaulichen Bekenntnisses umfasst auch die Freiheit, die Religion oder Weltanschauung seiner Wahl beizubehalten oder zu wechseln sowie die Freiheit, allein oder in Gemeinschaft mit anderen, öffentlich oder privat, seine Religion oder Weltanschauung durch Gottesdienst, Riten, Unterricht oder auf welche Art immer zu üben.

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25. 10. 1968, Protokoll, S. 1 ff., 5, 6 ff., 22 ff., 46, 51 ff. Redaktionskomitee, Begleitprotokolle der Beratungen, 20. 9. 1974, Kurzprotokoll, S. 1. Teilnehmer waren: Präsident des Verwaltungsgerichtshofes Honorar Professor Dr. Edwin Loebenstein (Vorsitzender), Senatspräsident des Verwaltungsgerichtshofes Universitäts-Dozent Dr. Friedrich Lehne, Bundesminister außer Dienst Universitäts-Professor Dr. Hans Klecatsky, Universitäts-Professor Dr. Kurt Ringhofer, Rechtsanwalt Dr. Wilhelm Rosenzweig, Hochschul-Professor DDr. Robert Walter, Ministerialrat Dr. Willibald Pahr, Universitäts-Dozent Sektionsrat Dr. Ludwig Adamovich. 21 Ebd., S. 3. 22 Redaktionskomitee Formulierungsvorschläge, Das Recht auf Glaubens- und Gewissensfreiheit, S. 1 ff. 20

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3) Beschränkungen der Freiheit des religiösen oder weltanschaulichen Bekenntnisses sind nur durch Gesetz und nur insoweit zulässig, als sie in einer demokratischen Gesellschaft im Interesse der Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung, des Schutzes der Gesundheit oder der Rechte anderer unerlässlich sind. Wehrpflichtige sind auf ihren Antrag von der Wehrpflicht zu befreien, wenn sie – von den Fällen der persönlichen Notwehr oder Nothilfe abgesehen – aus schwerwiegenden glaubhaften Gewissensgründen ablehnen, Waffengewalt gegen andere Menschen anzuwenden und daher bei Leistung des Wehrdienstes in schwere Gewissennot geraten würden; sie sind nach näherer Maßgabe des Gesetzes zivildienstpflichtig. Artikel XX 1) Jede Kirche oder Religionsgesellschaft, die als Religionsgenossenschaft gesetzlich anerkannt ist oder unter gleichen rechtlichen Voraussetzungen und Bedingungen künftighin anerkannt wird, genießt die Stellung einer Körperschaft öffentlichen Rechtes. Das Recht der Vereinigung zu religiösen Zwecken in anderen zulässigen Rechtsformen bleibt hiedurch unberührt. 2) Jede Religionsgenossenschaft ist in Bekenntnis, Lehre, Verkündung, Seelsorge, gemeinsamer öffentlicher Religionsausübung und im Verkehr mit religiösen Einrichtungen im Ausland frei. 3) Jede Religionsgenossenschaft ordnet und verwaltet ihre inneren Angelegenheiten selbständig. Sie ist in diesem Rahmen insbesondere befugt, selbständig für alle oder einzelne ihrer Angehörigen allgemein oder im Einzelfall rechtliche Anordnungen zu treffen, zur Deckung des religionsgenossenschaftlichen Personal- und Sachaufwandes von ihren Angehörigen Beiträge einzuheben und über die Erträgnisse aus diesen Beiträgen frei zu verfügen. 4) Der Besitz und der Genuss von für Kultus-, Unterrichts- und Wohltätigkeitszwecke bestimmten Anstalten, Stiftungen, Fonds und sonstigen Vermögensteilen ist jeder Religionsgenossenschaft gewährleistet. 5) Der Religionsunterricht in den öffentlichen und mit Öffentlichkeitsrecht ausgestatteten Schulen, die innere Einrichtung und der Lehr- und Forschungsbetrieb der vom Staat erhaltenen theologischen Fakultäten der Universitäten obliegt der zuständigen Religionsgenossenschaft. 6) Den Religionsgenossenschaften ist im Bereich staatlicher Einrichtungen, wie insbesondere im Bundesheer, in Krankenanstalten und Strafvollzugsanstalten, die Erfüllung ihres religiösen Auftrages zu ermöglichen. 7) Der Sonntag und die staatlich anerkannten Feiertage bleiben als Tage der Arbeitsruhe und der seelischen Erhebung gesetzlich geschützt.“

In seiner schriftlichen Stellungnahme begründete Klecatsky seinen Formulierungsvorschlag mit der innerstaatlichen Verfassungslage, den völkerrechtlichen Verpflichtungen Österreichs und der einhelligen oder mehrheitlich bezogenen Linie der Mitglieder des Expertenkollegiums. Weiters verwies er darauf, dass Art X die religiösen und weltanschaulichen Individualrechte und Art XX die den gesetzlich anerkannten Kirchen und Religionsgesellschaften zustehenden Korporationsrechte enthalte. Dabei betonte er, dass der Ausdruck „Religionsgenossenschaft“ sich auf Kirchen und Religionsgesellschaften beziehe, die gesetzliche Anerkennung bereits gefunden haben oder in Hinkunft finden werden. Abschließend bemerkte er, dass in sei-

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nem Entwurf die Elternrechte, die „besonderen Gewaltverhältnisse“ und die Drittwirkung nicht berücksichtigt seien, was damit zusammenhänge, dass diese Fragen den gesamten Grundrechtskatalog berührten.23 2. Formulierungsvorschlag Rosenzweig zu Art. X Abs. 1 von Klecatsky In der 20. Sitzung des Redaktionskomitees am 8. September 1977 wurde mit der Diskussion des von Klecatsky erarbeiteten Formulierungsvorschlags begonnen24 und gleich zu Beginn von Loebenstein im Sinne der Beratungsergebnisse des Expertenkollegiums angeregt,25 die Freiheit der Weltanschauung in Art. X Abs. 1 aufzunehmen. Dies unterstützte auch Rosenzweig, der meinte, dass eine Begriffsidentität von Glaube und Weltanschauung in Kauf genommen werden könne. Klecatsky hingegen hielt die Aufnahme für nicht erforderlich, weil der Begriff bereits von anderen Begriffen erfasst sei. Weltanschauung werde erst in ihrem Außengerichtetsein bedeutsam, weshalb er in Abs. 1 zwischen religiösem und weltanschaulichem Bekenntnis unterscheide. Loebenstein schlug schließlich vor, der von Klecatsky vorgelegten Formulierung zu Art. X Abs. 1 die von Rosenzweig vertretene Formulierung „Die Freiheit des Denkens, des Gewissens, des Glaubens, der Weltanschauung, des religiösen oder weltanschaulichen Bekenntnisses ist jedermann gewährleistet.“

als Variante zur Seite zu stellen.26 Danach wurde das im Expertenkollegium diskutierte Toleranzgebot angesprochen. Klecatsky bemerkte dazu, dass das Toleranzgebot eher als allgemeiner Grundsatz der Grundrechtsordnung formuliert werden sollte. Rosenzweig meinte, dass die historische Entwicklung nahe lege, das Toleranzgebot in Zusammenhang mit der Bekenntnisfreiheit zu verankern, eine allgemeine Formulierung aber durchaus auch möglich sei. Loebenstein schlug als Kompromiss vor, bei der Bekenntnisfreiheit anzumerken, dass das Toleranzgebot von diesem Grundrechtsbereich ausgehe, in Hinblick auf seine Bedeutung aber in einer allgemeinen Bestimmung festgehalten werde. Zu Art. X Abs. 2 bemerkte Lehne, dass die Freiheit der Religionsübung den Ausschluss von Zwangsmaßnahmen beinhalte. In einem Hinweis in den Erläuterungen zum Artikel sollte daher zum Ausdruck gebracht werden, dass in Hinblick auf das in Abs. 2 gewährleistete Recht auf Religionsübung und den in Abs. 3 verankerten Ge-

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Ebd., S. 4 ff. Redaktionskomitee, Begleitprotokolle der Beratungen, 8. 9. 1977, S. 1. Anwesend waren: Loebenstein (Vorsitzender), Adamovich, Klecatsky, Lehne, Rosenzweig. 25 7. 6. 1968, Protokoll, S. 45, 47. 26 Redaktionskomitee Formulierungsvorschläge, Beilage 2, Formulierungsvorschlag, S. 1. 24

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setzesvorbehalt Zwangsmaßnahmen ausgeschlossen seien, und auch die Freiheit der Nichtausübung von der Freiheit der Religionsübung mit umfasst sei.27 Zu Art. X Abs. 3 bemerkte Loebenstein, dass in Übereinstimmung mit Überlegungen im Expertenkollegium von der Aufnahme des Begriffs „Moral“ abgesehen werde. Zu Art. X Abs. 4 erklärte Klecatsky, dass er die Aufnahme einer im Expertenkollegium in Zusammenhang mit dem Recht auf Waffendienstverweigerung diskutierten Missbrauchssicherung für nicht zweckmäßig erachtet habe, da eine solche bei den Beratungen zum Zivildienstgesetz und zu Art. 9a B-VG diskutiert worden sei, in die genannten Gesetze aber keine Regelung Eingang gefunden habe. In Art. XX Abs. 1 sei er bei seiner Formulierung von der Wahrung des rechtlichen Besitzstandes der Kirchen ausgegangen, er habe aber gleichzeitig auch die möglicherweise noch anzuerkennenden Gemeinschaften mit umfasst.28 3. Formulierungsvorschlag Rosenzweig zu Art. XX Abs. 1 Ihre Fortsetzung fand die Diskussion in der 21. Sitzung des Redaktionskomitees am 3. November 1977. Klecatsky führte zu Beginn aus, dass die in Art. XX Abs. 1 vorgeschlagene Formulierung klarstelle, dass das Recht der Vereinigung zu religiösen Zwecken, insbesondere in der Form der Bildung von Vereinen, unberührt bleibe. Die umstrittene Frage, ob die Anerkennung mittels Bescheid oder Verordnung erfolgen soll, habe er offen gelassen, da seiner Ansicht nach der verfassungsrechtliche Anspruch auf Anerkennung unter den gleichen rechtlichen Voraussetzungen und Bedingungen genüge.29 Loebenstein bemerkte, dass die Formulierung des zweiten Satzes in Art. XX Abs. 1, in dem zwischen gesetzlich anerkannten und nicht anerkannten Religionsgesellschaften unterschieden wird, an Art. 15 StGG anknüpfe. Rosenzweig bemängelte, dass in der vorgeschlagenen Regelung keine Verankerung von subjektiven Rechten in der Form zu sehen sei, dass jeder Religionsgesellschaft die gleichen Rechte zukommen. Bei der Ausarbeitung des Grundrechtsentwurfs sei nach einer generellen Gleichstellung zu streben. Auf die anerkannten Gemeinschaften könne in einer Übergangsregelung hingewiesen werden. Klecatsky bemerkte dazu, dass Art. XX Abs. 1 einen speziellen Gleichheitsgrundsatz enthalte. Die vorgeschlagene Regelung sei ein Schritt in Richtung Gleichbehandlung.30 Rosenzweig schlug im Verlauf der weiteren Diskussion vor, den Satz „Vereinigungen zu religiösen Zwecken haben das Recht auf Religionsübung.“

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Redaktionskomitee, Begleitprotokolle der Beratungen, 8. 9. 1977, S. 2. Ebd., S. 3 f. 29 Redaktionskomitee, Begleitprotokolle der Beratungen, 3. 11. 1977, S. 1 f. Anwesend waren: Loebenstein (Vorsitzender), Adamovich, Klecatsky, Rosenzweig. 30 Ebd., S. 2. 28

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an den Beginn des Absatzes zu stellen. Der zweite Satz sollte die Minimalerfordernisse nennen, unter denen eine religiöse Vereinigung Anspruch auf Anerkennung hat. Als Orientierung sollten dabei die Anerkennungsvoraussetzungen der derzeit anerkannten Kirchen und Religionsgesellschaften dienen.31 4. Formulierungsvorschlag Loebenstein zu Art. XX Abs. 1 Loebenstein regte daraufhin an, Rosenzweig möge einen Alternativvorschlag für Art. XX Abs. 1 erstellen, und schlug – unter Berücksichtigung des Diskussionsstandes – als Text vor: „Das Recht der Vereinigung zu religiösen Zwecken ist gewährleistet. Religionsgesellschaften, die … (bestimmte, von Rosenzweig zu formulierende Mindesterfordernisse) erfüllen, haben einen gesetzlichen Anspruch auf Anerkennung.“

In einer Übergangsbestimmung sollten dann noch Regelungen in Bezug auf die derzeit bestehenden gesetzlich anerkannten Kirchen und Religionsgesellschaften getroffen werden. Zu diesem Vorschlag gab Klecatsky zu bedenken, dass diese Formulierung nicht auf das Anerkennungsrecht aufbaue, sondern einen verfassungsgesetzlich gewährleisteten Anspruch auf Anerkennung als Religionsgenossenschaft mit allen damit verbundenen Rechten normiere. Rosenzweig bemerkte dazu, dass durch die Festlegung von Mindestvoraussetzungen für die Anerkennung die Gleichbehandlung religiöser Vereinigungen gewährleistet werde.32 5. Formulierungsvorschlag Rosenzweig zu Art. X Abs. 2 ff. und Art. XX In der 22. Sitzung des Redaktionskomitees am 13. Jänner 1978 wurde die Diskussion unter Einbeziehung des von Rosenzweig den Mitgliedern des Redaktionskomitees übergebenen Alternativvorschlags zu der von Klecatsky ausgearbeiteten Formulierung fortgesetzt.33 Der Alternativvorschlag Rosenzweigs lautete:34 In Art. X am Ende des von Klecatsky vorgeschlagenen Abs. 2 nach „zu üben“ anzufügen: „und die Freiheit, sich mit anderen zu einer Bekenntnisgemeinschaft zu vereinigen.“ Abs. 3 des Vorschlags von Klecatsky den Satz hinzuzufügen: „Die Vereinigung zu einer Bekenntnisgemeinschaft darf nicht unter das Konzessionssystem gestellt werden.“ 31

Ebd., S. 3. Ebd., S. 4. 33 Redaktionskomitee, Begleitprotokolle der Beratungen, 13. 1. 1978, S. 1. Anwesend waren: Loebenstein (Vorsitzender), Adamovich, Klecatsky, Lehne, Rosenzweig, Walter. 34 Redaktionskomitee Formulierungsvorschläge, Das Recht auf Glaubens- und Gewissensfreiheit, Dr. Rosenzweig, Alternativvorschlag. 32

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Im Falle, dass eine Bestimmung hinsichtlich der Drittwirkung nicht allgemein, sondern bei jedem Grundrecht besonders getroffen wird, als Abs. 4 in den Vorschlag von Klecatsky den Satz aufzunehmen: „Das Gesetz hat dafür zu sorgen, dass die Freiheit des religiösen oder weltanschaulichen Bekenntnisses auch von Dritten geachtet wird.“

In diesem Fall Abs. 4 des Vorschlags von Klecatsky in Abs. 5 umzubenennen: „Artikel XX 1) Nach bisherigem Recht bestehende Bekenntnisgemeinschaften (gesetzlich anerkannte Kirchen oder Religionsgesellschaften) und neu gebildete Bekenntnisgemeinschaften, bei welchen die Errichtung und der Bestand wenigstens einer nach den Anforderungen des Gesetztes eingerichteten Kultusgemeinde gesichert ist, sind juristische Personen des öffentlichen Rechtes. 2) Jede Bekenntnisgemeinschaft ist innerhalb der Schranken der für alle geltenden Gesetze in Bekenntnis, Lehre, Verkündung, Seelsorge, gemeinsamer öffentlicher Religionsübung und im Verkehr mit religiösen oder weltanschaulichen Einrichtungen im Ausland frei. 3) Jede Bekenntnisgemeinschaft ordnet und verwaltet ihre inneren Angelegenheiten selbständig, innerhalb der Schranken des für alle geltenden Gesetzes. Sie ist in diesem Rahmen insbesondere befugt, selbständig für alle oder einzelne ihrer Angehörigen, allgemein oder im Einzelfall, im internen Bereich wirkende Anordnungen zu treffen, zur Deckung ihres (bekenntnisgemeinschaftlichen) Personal- und Sachaufwandes von ihren Angehörigen Beiträge einzuheben und über die Erträgnisse aus diesen Beiträgen frei zu verfügen. Das Gesetz regelt eine allfällige Mitwirkung des Staates bei der Geltendmachung nicht entrichteter Beiträge. 4) Bekenntnisgemeinschaften dürfen im Besitz und Genuss ihrer für Kultus-, Unterrichtsund Wohltätigkeitszwecke bestimmten Anstalten, Stiftungen, Fonds und sonstigen Vermögensteilen keinen Sondergesetzen unterworfen werden. 5) Ein in den öffentlichen oder mit Öffentlichkeitsrecht ausgestatteten Schulen eingerichteter Religions- oder Weltanschauungsunterricht obliegt der zuständigen Bekenntnisgemeinschaft, wenn sie eine juristische Person des öffentlichen Rechts ist (Abs. 1). Näheres regelt das Gesetz.“

In seiner schriftlichen Stellungnahme zum Alternativvorschlag wies Rosenzweig darauf hin, dass der im Entwurf von Klecatsky enthaltene zweite Teil des Abs. 5 sowie die Abs. 6 und 7 in seinem Vorschlag entfallen, da es der einfachen Gesetzgebung überlassen bleiben soll, Regelungen zu treffen hinsichtlich der theologischen Fakultäten, der Tätigkeit von Bekenntnisgemeinschaften im Bundesheer, der Kranken- und Strafvollzugsanstalten sowie des Sonntags und der staatlich anerkannten Feiertage. Die Ergänzung in Art. X Abs. 2 begründete Rosenzweig damit, dass er damit vielfach vertretene Meinungen im Expertenkollegium zum Ausdruck bringe. Da in Art. X vom religiösen oder weltanschaulichen Bekenntnis gesprochen werde, schlage er statt des Ausdrucks Religionsgenossenschaft den Ausdruck Bekenntnisgemeinschaft vor. Abs. 3 regle den gesetzlichen Vorbehalt, der auch für die Freiheit der Bildung einer Bekenntnisgemeinschaft gelte. Weiters betonte er, dass es ihm auch notwendig erschienen sei, anzufügen, dass die Vereinigung zu einer Bekenntnisge-

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meinschaft nicht unter das Konzessionssystem gestellt werden dürfe. In Art. XX habe er statt des Ausdrucks „Körperschaft öffentlichen Rechts“ den Begriff „juristische Person des öffentlichen Rechts“ gewählt, weil eine Körperschaft öffentlichen Rechts üblicherweise mit einer Zwangsmitgliedschaft und der Übertragung staatlicher Aufgaben verbunden sei. Die Abs. 1 und 5 erfassten die privilegierten Bekenntnisgemeinschaften, die Abs. 2 bis 4 alle Bekenntnisgemeinschaften. Abs. 3 bringe zum Ausdruck, dass Bekenntnisgemeinschaften auch im Bereich der inneren Angelegenheiten nur innerhalb der Schranken der für alle geltenden Gesetze tätig sein dürfen. Die Formulierung „im internen Bereich wirkende Anordnungen“ stelle klar, dass eine Zuständigkeit der Bekenntnisgemeinschaften zur Erlassung von Verordnungen und Bescheiden nicht bestehe. Abs. 4 enthalte keine Privilegierung, sondern ein Diskriminierungsverbot. In der Sitzung des Redaktionskomitees sagte Klecatsky zur Ergänzung des Art. X Abs. 3, dass Art. X die subjektiven Rechte behandle. Das Konzessionssystem könne in diesem Zusammenhang nicht geregelt werden. Auch der Begriff „Bekenntnisgemeinschaften“ sei in Art. X nicht am Platz, weil dort ohnedies sowohl die religiöse als auch die weltanschauliche Freiheit gewährleistet seien. Er verstehe aber, dass Rosenzweig diesen Begriff bereits in Art. X brauche, weil dessen System im Gegensatz zu seinem in Art. XX nicht nur auf gesetzlich anerkannte Religionsgemeinschaften abstelle.35 Rosenzweig bemerkte dazu, dass zwischen ihm und Klecatsky insoweit Übereinstimmung bestehe, dass die Bildung einer Religions- oder Bekenntnisgemeinschaft ein subjektives Recht sein soll.36 Zu dem von Rosenzweig verwendeten Begriff „juristische Person öffentlichen Rechts“ meinte Klecatsky, dass dem Begriff „Körperschaft öffentlichen Rechts“ in Zusammenhang mit den gesetzlich anerkannten Kirchen und Religionsgesellschaften die von Rosenzweig aufgezeigten Eigenschaften nicht eigen seien, da die religiösen Gemeinschaften nicht in das staatliche Rechtssystem eingebaut seien.37 Rosenzweig bemerkte dazu, dass die Konstruktion als juristische Person des öffentlichen Rechts durchaus sinnvoll sei, da diese Konstruktion den Religionsgemeinschaften die Möglichkeit eröffne, der Kontrolle durch den Verfassungsgerichtshof nicht unterliegende individuelle und generelle Normen im internen Bereich zu erlassen.38 Zur Frage der Anerkennungsvoraussetzung nach der von Rosenzweig vorgeschlagenen Formulierung meinte Klecatsky, man müsse seine in Art. XX Abs. 1 enthaltene Formulierung „unter den gleichen Voraussetzungen und Bedingungen“ im

35 36 37 38

Redaktionskomitee, Begleitprotokolle der Beratungen, 13. 1. 1978, S. 3. Ebd., S. 4. Ebd., S. 5. Ebd., S. 6.

Religionsfreiheit bei der „Österreichischen Grundrechtskommission“

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Sinne des Gleichheitsgrundsatzes verstehen, wobei der Bestand wenigstens einer Kultusgemeinde ihm nicht das Entscheidende zu sein scheine.39 In der 23. Sitzung am 3. Februar 1978 wurde die Diskussion fortgesetzt und die Einführung eines Normativsystems gegen die Errichtung eines Konzessionssystems abgewogen. Dabei stellte Loebenstein fest, dass die Ablehnung der Einführung des Konzessionssystems noch nicht die Einführung des Normativsystems bedeute. Ziel einer Regelung sei es zu verhindern, dass sich Nicht-Religiöse-Vereinigungen unter dem Deckmantel einer Religionsgesellschaft konstituierten.40 Rosenzweig verwies darauf, dass es eine rechtspolitische Frage sei, ob das Untersagungs- oder Normativsystem hinreichenden Schutz gegen Missbrauch biete. Walter merkte zu Art. XX an, dass er Bedenken gegen die gemeinsame Behandlung religiöser und weltanschaulicher Gemeinschaften habe. Wenn man dies gemeinsam regle, stelle sich die Frage, warum in einem laizistischen Staat nur die religiöse Weltanschauung anerkennenswert sei und nicht auch jedes andere weltanschauliche Bekenntnis.41 Klecatsky bemerkte zum Begriff „inneren Angelegenheiten“ in Rosenzweigs Art. XX Abs. 3, dass er diesen Begriff keinem Gesetzesvorbehalt unterworfen habe, da ein derartiger Vorbehalt auch im „Protestantengesetz“ nicht vorgesehen sei.42 Rosenzweig meinte zur Formulierung Klecatskys in Art. XX Abs. 3, „rechtliche Anordnungen zu treffen“, dass das Wort „rechtlich“ im Sinne staatlichen Rechts verstanden werden könnte, weshalb er den Begriff „Anordnung“ vorschlage. Nach seinem Verständnis sei der Ausdruck „Recht“ in einer Verfassungsvorschrift nur im Sinn von staatlichem Recht zu verstehen. Für den inneren Bereich von Religionsgesellschaften müsse ein anderer Begriff verwendet werden.43 Zu Art. XX Abs. 4 im Vorschlag von Rosenzweig sagte Klecatsky, dass seiner Meinung nach dieser durchaus entfallen könne. Rosenzweig wies seinerseits darauf hin, dass Art. XX Abs. 4 ein Diskriminierungsverbot enthalte. Dazu meinte Klecatsky, dass für ihn Art. XX Abs. 4 eine weitergehende Bedeutung habe, nämlich die, dass in ihm eine verfassungsgesetzlich gewährleistete Schutzmaßnahme gegen fortschreitende Verstaatlichung von Kirchenvermögen zu sehen sei. Zu dem in Art. XX Abs. 5 von Klecatsky gemachten Vorschlag bemerkte Rosenzweig, er wolle den Religionsunterricht deshalb nicht verfassungsgesetzlich geregelt sehen, weil insbesondere auch die Bischofskonferenz die Meinung vertrete, dass eine verfassungsrechtliche Regelung nicht erforderlich sei. Weiters wies er darauf hin, dass die Abs. 6 und 7 im Vorschlag von Klecatsky ein Teil des Expertenkollegiums 39

Ebd., S. 7. Redaktionskomitee, Begleitprotokolle der Beratungen, 3. 2. 1978, S. 1. Anwesend waren: Loebenstein (Vorsitzender), Adamovich, Klecatsky, Lehne, Rosenzweig, Walter. 41 Ebd., S. 2. 42 Ebd., S. 3. 43 Ebd., S. 4. 40

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nicht verfassungsrechtlich geregelt sehen habe wollen. Darauf erwiderte Klecatsky, dass der Verzicht auf die verfassungsrechtliche Regelung des Religionsunterrichts, wenn man Art. 14 B-VG44 bedenke, verfassungspolitisch nicht sinnvoll sei. Was die theologischen Fakultäten betreffe, so brauche die katholische Kirche eine derartige Regelung nicht, die evangelische hingegen schon.45 6. Formulierungsvorschlag Lehne zur Änderung des Anerkennungssystems In der 24. Sitzung des Redaktionskomitees am 14. April 1978 legte Lehne eine schriftliche Ergänzung zum Protokoll der 23. Sitzung vor. In dieser Ergänzung unterbreitete er einen Formulierungsvorschlag, der auf die Änderung des Systems der Anerkennung hinweisen sollte. Dieser Vorschlag lautete: „Die gesetzliche Regelung der Anerkennung muss bei Gegebenheit der umschriebenen Voraussetzungen einen rechtlich geschützten Anspruch vorsehen.“

Die Ergänzung wurde ohne Diskussion dem Protokoll beigefügt.46 IV. Fazit Die im Expertenkollegium erarbeiteten Grundlagen zur Religionsfreiheit und die vom Redaktionskomitee formulierten Varianten zum Grundrecht enthalten zukunftsweisende Gedanken, die es – wie etwa die spätere staatskirchenrechtliche Entwicklung auf dem Gebiet des Anerkennungswesens erweist – wert gewesen wären, vom Gesetzgeber nach Abschluss der Arbeit der „Österreichischen Grundrechtskommission“ geprüft, aufgegriffen und umgesetzt zu werden.

44 (1) Bundessache ist die Gesetzgebung und Vollziehung auf dem Gebiet des Schulwesens … 45 Redaktionskomitee, Begleitprotokolle der Beratungen, 3. 2. 1978, S. 5. 46 Redaktionskomitee, Begleitprotokolle der Beratungen, 14. 4. 1978, S. 1, Beilage C.

Das Grundrecht auf Gewissensfreiheit – Konturierung, Chancen Von Herbert Kalb I. Einführung Die Gewissensfreiheit als eigenständiges Grundrecht hat in der österreichischen Rechtspraxis nur punktuelle Bedeutung erlangt, ein Befund, der auch durch die VfGH Judikatur unterstrichen wird: Sucht man nach Entscheidungen, in denen die Gewissensfreiheit in den Mittelpunkt gerückt wurde, so ist man beinahe ausschließlich1 auf die Rechtsprechung zum Zivildienst verwiesen, ein Problem, das längst sachgerecht gelöst wurde.2 Warum diese Zurückhaltung bzw. ist diese Zurückhaltung sachgerecht? II. Das Grundrecht der Gewissensfreiheit als Bestandteil der Religionsfreiheit Ursache für die geringe Berücksichtigung und eine damit einhergehende Konturenlosigkeit ist die historische Verbindung dieser Grundrechtsverbürgung mit der Glaubensfreiheit. Gewissensfreiheit firmiert als Glaubens- und Gewissensfreiheit, als Bestandteil einer umfassenden Religionsfreiheit. Die Freiheit des Gewissens als rechtlicher Begriff hat seinen Ursprung in den konfessionellen und politischen Auseinandersetzungen des 16. und 17. Jahrhunderts und bezog sich auf Glaubens- und Religionsfragen. 1 Anzuführen ist VfSlg 799/800 1927: „… jeder Staatsbürger soll in Sachen der Religion und immer dann, wenn seine Handlungsweise von der inneren Stimme des Gewissens bestimmt wird, volle, von niemandem beschränkte Freiheit haben.“ Vgl. E. Mock, Gewissen und Gewissensfreiheit. Zur Theorie der Normativität im demokratischen Verfassungsstaat, Berlin 1983; H. Klecatsky/H. Weiler, Österreichisches Staatskirchenrecht, Wien 1953, S. 15 f. 2 Mit § 2 ZDG wurde ein eigenes Grundrecht auf Wehrdienstverweigerung geschaffen; vgl. VfSlg 8033/1977, 11.222/1987; 11.253/1987; vgl. auch den Befund von G. Baumgartner, Familienrecht und Gewissensfreiheit in Österreich, in: ÖJZ 2000, S. 781, der zutreffend darauf verweist, dass die Gewissensfreiheit i. S. einer rein säkular verstandenen Geistesfreiheit in der österreichischen Praxis bislang nur punktuelle Bedeutung erlangt hat; vgl. weiters L. Adamovich, Das Grundrecht der Glaubens- und Gewissensfreiheit im Lichte der Judikatur des Reichsgerichts und des Verfassungsgerichtshofs, in: ÖAKR 1951, S. 3; G. Kusko-Stadlmayer, Die Rechtsprechung des österreichischen Verfassungsgerichtshofs auf dem Gebiet der Glaubensfreiheit, in: EuGRZ 1999, S. 505; T. Olechowski, Der österreichische Bundesgerichtshof und seine Rechtsprechung zum Religionsrecht 1934 – 1938, in: ÖARR 2005, S. 88.

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1555 wurde im Augsburger Religionsfrieden das landesfürstliche Kirchenregiment abgesichert, der Andersgläubige wurde auf das beneficium emigrationis verwiesen. Mit der Normaljahrsregelung des Westfälischen Friedens 1648 wurde auch das Recht gewährt, seine abweichende Religion nach dem Stand von 1624 auch im jeweiligen Territorium auszuüben.3 Diese Ansätze religionsrechtlicher Freiheit waren auf die reichsrechtlich anerkannten Bekenntnisse – römisch katholisch, lutherisch und reformatorisch – beschränkt, eine Erweiterung brachte die josephinische Gesetzgebung mit ihrer abgestuften Toleranz.4 Der fortschreitende Prozess von der Parität über die Toleranz zur grundrechtlich verbürgten Freiheit wird im StGG über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger, jenem Grundrechtkatalog der Dezemberverfassung 1867, der heute noch Bestandteil des B-VG ist, verwirklicht.5 Art. 14 StGG gewährleistet die volle Glaubens- und Gewissensfreiheit6, Art. 157 und 168 StGG differenzieren bei der Religionsausübung zwischen anerkannten und 3 Vgl. D. Willoweit, Religionsrecht im Heiligen Römischen Reich zwischen Mittelalter und Aufklärung, in: C. A. Hoffmann u. a. (Hrsg.), Als Frieden möglich war. 450 Jahre Augsburger Religionsfrieden, Regensburg 2005, S. 35 – 50; A. Gotthard, Säkularisierung – Toleranz – Menschenrechte. Ideen- und mentalitätsgeschichtliche Blicke auf die Augsburger Ordnung, in: ebd., S. 282 – 299; ders., Der Augsburger Religionsfrieden, Münster 2004; ders., Das Alte Reich 1495 – 1806, Darmstadt 2003. 4 Vgl. P. F. Barton (Hrsg.), Im Zeichen der Toleranz. Aufsätze zur Toleranzgesetzgebung des 18. Jahrhunderts in den Reichen Josephs II., ihren Voraussetzungen und Folgen, Wien 1981; ders. (Hrsg.), Im Lichte der Toleranz. Aufsätze zur Toleranzgesetzgebung des 18. Jahrhunderts in den Reichen Josephs II., ihren Voraussetzungen und Folgen, Wien 1981; P. Landau, Die geistigen Grundlagen der josephinischen Toleranzgesetzgebung, in: ÖAKR 32 (1981), S. 187. 5 Th. Mayer-Maly, Die Grundrechte des religiösen Lebens in der österreichischen Verfassungsgeschichte des 19. Jahrhunderts, in: ÖAKR 1954, S. 38. 6 (1) Die volle Glaubens- und Gewissensfreiheit ist jedermann gewährleistet. (2) Der Genuß der bürgerlichen und politischen Rechte ist von dem Religionsbekenntnisse unabhängig; doch darf den staatsbürgerlichen Pflichten durch das Religionsbekenntnis kein Abbruch geschehen. (3) Niemand kann zu einer kirchlichen Handlung oder zur Teilnahme an einer kirchlichen Feierlichkeit gezwungen werden, in sofern er nicht der nach dem Gesetze hiezu berechtigten Gewalt eines anderen untersteht. 7 Jede gesetzlich anerkannte Kirche und Religionsgesellschaft hat das Recht der gemeinsamen öffentlichen Religionsübung, ordnet und verwaltet ihre inneren Angelegenheiten selbständig, bleibt im Besitze und Genusse ihrer für Kultus-, Unterrichts- und Wohltätigkeitszwecke bestimmten Anstalten, Stiftungen und Fonds, ist aber, wie jede Gesellschaft, den allgemeinen Staatsgesetzen unterworfen. 8 Den Anhängern eines gesetzlich nicht anerkannten Religionsbekenntnisses ist die häusliche Religionsausübung gestattet, in soferne dieselbe weder rechtswidrig, noch sittenverletzend ist.

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nicht anerkannten Kirchen und Religionsgemeinschaften. Nur anerkannten Kirchen und Religionsgemeinschaften wird die öffentliche Religionsausübung gewährleistet, nicht anerkannte werden auf eine häusliche Religionsausübung beschränkt. Diesen Rest einer abgestuften Toleranz im Rahmen der Religionsfreiheit beseitigt in der Folge Art. 63 Abs. 2 StV St. Germain9, denn danach haben „alle Einwohner Österreichs das Recht, öffentlich oder privat jede Art Glauben, Religion oder Bekenntnis frei zu üben“. Mit Art. 9 EMRK10 wird dann die umfassende Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit zu einer auch Weltanschauungsfreiheit erweitert; es erfolgt eine explizite Definition des Schutzbereichs und es wird eine zeitgemäße materielle Schrankenregelung normiert.11 Bis in die 70er Jahre, sieht man von wenigen Ausnahmen ab12, wurde die Gewissensfreiheit ausschließlich in Verbindung mit der Religionsfreiheit gesehen. So meinte etwa durchaus im Sinne des juristischen mainstream der Doyen der Wiener rechtstheoretischen Schule Robert Walter 1970, der Gewissensfreiheit komme in Österreich ein „auf das Religiöse bezogener Sinn“ zu.13 9

Österreich verpflichtet sich, allen Einwohnern Österreichs ohne Unterschied der Geburt, Staatsangehörigkeit, Sprache, Rasse oder Religion vollen und ganzen Schutz von Leben und Freiheit zu gewähren. Alle Einwohner Österreichs haben das Recht, öffentlich oder privat jede Art Glauben, Religion oder Bekenntnis frei zu üben, sofern deren Übung nicht mit der öffentlichen Ordnung oder mit den guten Sitten unvereinbar ist. 10 Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit (1) Jede Person hat das Recht auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit; dieses Recht umfaßt die Freiheit, seine Religion oder Weltanschauung zu wechseln, und die Freiheit, seine Religion oder Weltanschauung einzeln oder gemeinsam mit anderen öffentlich oder privat durch Gottesdienst, Unterricht oder Praktizieren von Bräuchen und Riten zu bekennen. (2) Die Freiheit, seine Religion oder Weltanschauung zu bekennen, darf nur Einschränkungen unterworfen werden, die gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig sind für die öffentliche Sicherheit, zum Schutz der öffentlichen Ordnung, Gesundheit oder Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer. 11 Zum Grundrecht der Religionsfreiheit vgl. H. Kalb/R. Potz/B. Schinkele, Das Kreuz in Klassenzimmer und Gerichtssaal, Freistadt 1996, S. 56; dies., Religionsrecht, Wien 2003, Kap. IV; B. Schinkele, Gewissensgebot und Normativität des positiven Rechts. Überlegungen unter besonderer Berücksichtigung des so genannten „Kirchenasyls“, in: ÖARR 2003, S. 448; W. Berka, Die Grundrechte, Wien etc. 1999, Rn 511 ff.; ders., Verfassungsrecht, Wien 32010, Rn 1431 ff.; Ch. Grabenwarter, Art. 14, 16 StGG, Art. 63 Abs. 2 StV St. Germain, Art. 9 EMRK, in: K. Korinek/M. Holoubek (Hrsg.), Österreichisches Bundesverfassungsrecht, 3. Bd., Loseblattausgabe, Wien 1999; G. Lienbacher, Religiöse Rechte, in: D. Merten/H.-J. Papier, Handbuch der Grundrechte, Bd. VII/1 (Grundrechte in Österreich), Heidelberg/Wien 2009, S. 319. 12 F. Ermacora, Handbuch der Grundfreiheiten und der Menschenrechte, Wien 1963, S. 358, 361; I. Gampl, Österreichisches Staatskirchenrecht, Wien 1971, S. 90 f. 13 VVDStRL, Bd. 28, Berlin 1970, Aussprache, S. 107: „Der österreichische Betrachter unserer Diskussion sieht, wieviel den österreichischen Juristen dadurch erspart wurde, dass Österreich keinen modernen Grundrechtskatalog bekommen hat, sondern an dem Grundrechtskatalog des Jahres 1867 festgehalten hat. Herr Böckenförde hat heute ganz richtig ge-

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Mittlerweile ist in der Lehre nicht mehr umstritten, dass das Gewissen und die Gewissensfreiheit nicht von einer religiösen Perspektive aus zu bestimmen sind. So resümiert Grabenwarter mit Bezug auf Art. 9 EMRK ungeachtet der Präferierung einer religiös oder weltanschaulich motivierten Handlungsfreiheit in der Rechtsprechung der Konventionsorgane zutreffend, dass die Gewissensfreiheit die Religionsund Weltanschauungsfreiheit ergänzt, „als sie auch Gewissensentscheidungen schützt, die nicht durch ein religiöses oder weltanschauliches Bekenntnis motiviert sind“14. Resümierend ist festzuhalten: Nicht zuletzt im Hinblick auf Abgrenzungsschwierigkeiten wird von einem einheitlichen und umfassenden Grundrecht der Religionsund Weltanschauungsfreiheit ausgegangen. Glaubens-, Gewissens-, Kultus- und Bekenntnisfreiheit stellen einzelne, einander teilweise überschneidende und überlagernde Ausprägungen der Religionsfreiheit dar, eine exakte Abgrenzung bietet heute aber „eher ein Betätigungsfeld für im Wesentlichen folgenlosen Scharfsinn“ (A. v. Campenhausen). Aber: Ungeachtet einer nicht exakt durchgeführten trennscharfen Abgrenzung der Einzelverbürgungen – der differenzierende Wortlaut der Grundrechtsverbürgungen hat primär historische Gründe – treten in verschiedenen Materien Einzelgewährleistungen der umfassenden Religionsfreiheit besonders in den Vordergrund, wobei die Gewissensfreiheit vor dem Hintergrund der Komplexität von modernen Gesellschaften sowie unter Berücksichtigung der religiösen und weltanschaulichen Neutralität des Staates einer eigenständige Konturierung bedarf.15

III. Grundrecht der Gewissensfreiheit: Eigenständige Konturierung Der Inhalt eines Grundrechtes wird durch dessen Schutzbereich bestimmt. Für die Schutzbereichsprüfung ist zunächst zu klären, was eine Gewissensentscheidung ausmacht. In der Diskussion der 60er und 70er Jahre wurde verschiedentlich auf theologische und wertphilosophisch geprägte Gewissensvorstellungen zurückgegriffen – kulturgeschichtliche Verortung des Gewissens in der christlich abendländischen Tradition – doch konnten sich derartige Auffassungen im normativen Kontext nicht zeigt, dass ja damals (1867) sicherlich noch die Verknüpfung der Gewissensfreiheit mit der Religionsfreiheit und der Bekenntnisfreiheit vorhanden war, und damit hat innerhalb der österreichischen Rechtsordnung der Begriff der Gewissensfreiheit einen ganz bestimmten, eben auf das Religiöse bezogenen Sinn. Das führt dazu, dass wir zu den Problemen, zu denen heute sehr Interessantes gesagt wurde, gar nicht vorstoßen müssen.“ 14 Ch. Grabenwarter, Europäische Menschenrechtskonvention, München/Basel/Wien 4 2009, S. 254; vgl. auch Ch. Walter, in: R. Grote/Th. Marauhn (Hrsg.), EMRK/GG. Konkordanzkommentar zum europäischen und deutschen Grundrechtsschutz, Tübingen 2006, S. 828. 15 Vgl Kalb/Potz/ Schinkele, Religionsrecht (Anm. 11), S. 52.

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durchsetzen.16 Der moderne religiös und weltanschaulich neutrale Staat hat jegliche personale Sinngebung dem Bürger zu überlassen und diesen Freiheitsraum, der durch das Selbstverständnis der Bürger bestimmt ist, vor staatlichen Einflussnahmen abzusichern. Diese Ausgangslage hat bekanntlich Ernst Wolfgang Böckenförde zu seinem viel zitierten Diktum veranlasst, wonach „der freiheitliche, säkularisierte Staat … von Voraussetzungen (lebt), die er selbst nicht garantieren kann. Das ist das große Wagnis, das er, um der Freiheit willen, eingegangen ist. Als freiheitlicher Staat kann er einerseits nur bestehen, wenn sich die Freiheit, die er seinen Bürgern gewährt, von innen her, aus der moralischen Substanz des Einzelnen und der Homogenität der Gesellschaft, reguliert. Anderseits kann er diese inneren Regulierungskräfte nicht von sich aus, das heißt, mit den Mitteln des Rechtszwanges und autoritativen Gebots zu garantieren versuchen, ohne seine Freiheitlichkeit aufzugeben und – auf säkularisierter Ebene – in jenen Totalitätsanspruch zurückzufallen, aus dem er in den konfessionellen Bürgerkriegen herausgeführt hat.“17

In der Literatur hat sich weitgehend eine Umschreibung, die das deutsche Bundesverfassungsgericht in seiner Judikatur zur Kriegsdienstverweigerung entwickelt hat, durchgesetzt. Danach ist eine Gewissensentscheidung „jede ernste sittliche, d. h. an den Kategorien von ,GutÐ und ,BöseÐ orientierte Entscheidung, die der Einzelne in einer bestimmten Lage als für sich bindend und unbedingt verpflichtend innerlich erfährt, so dass er gegen sie nicht ohne ernste Gewissensnot handeln könnte.“18

Dieses personale Konzept der Gewissensfreiheit ist in gewisser Weise eine Positivierung individualistischer Moralvorstellungen, es werden gleichsam individuelle Moralvorstellungen in das Recht transformiert. „Durch diese Transformation – so Martin Borowski – wird der ursprüngliche Konflikt zwischen Moral und Recht zu einem innerrechtlichen Konflikt, in dem vom Standpunkt des Rechts aus die Gewissensfreiheit gegen rechtliche Ge- und Verbote und Erlaubnisse mit Erfolg angeführt werden kann“19 – ein nur scheinbares Paradoxon, sondern vielmehr die Konsequenz 16 Vgl. M. Borowski, Die Glaubens- und Gewissensfreiheit des Grundgesetzes, Tübingen 2006, S. 551 f. 17 E.-W. Böckenförde, Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation, in: ders., Kirche und christlicher Glaube in den Herausforderungen der Zeit. Beiträge zur politischtheologischen Verfassungsgeschichte 1957 – 2002, 2. erw. Aufl. Berlin 2007, S. 213 – 230, 229 f. (Erstdruck in: ders., Säkularisation und Utopie. Ebracher Studien, Ernst Forsthoff zum 65. Geb., Stuttgart 1967, S. 75 – 94; Wiederabdruck in: ders., Recht, Staat, Freiheit. Studien zur Rechtsphilosophie, Staatstheorie und Verfassungsgeschichte, Frankfurt a. M. 1991, S. 92 – 114), zur Diskussion des „Böckenförde Diktum“ vgl. M. Haus, Ort und Funktion der Religion in der zeitgenössischen Demokratietheorie, in: M. Minkenberg/U. Willems, Politik und Religion, Wiesbaden 2003, S. 45 – 67; H. Kreß, Modernes Religionsrecht im Licht der Säkularisierung und des Grundrechts auf Religionsfreiheit. Ist das „Böckenförde-Diktum“ heute noch tragfähig?, in: Theologische Literaturzeitung 2006, S. 243 – 258. 18 BVerfGE 12, S. 45 (55). 19 Borowski, Die Glaubens- und Gewissensfreiheit des Grundgesetzes (Anm. 16), S. 563.

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einer Gewährleistung von Gewissensfreiheit als individuelles Abwehrrecht gegen den Staat. Die Gewissensentscheidung verlangt eine ernsthafte Gewissensnot. Verschiedentlich wird in der deutschen Judikatur und Literatur auf eine schwere psychische Konfliktsituation, dem „Zerbrechen der Persönlichkeit“ abgestellt20, eine Erheblichkeitsanforderung, die überschießend ist und der Gewissensfreiheit einen Zug ins Pathologische zuschreibt. Allerdings ist eine entsprechende Intensität notwendig, um eine Abgrenzung der Gewissensentscheidung von bloßen Gewissensbedenken treffen zu können. Manche machen die Beurteilung des notwendigen Schwellen- und Erheblichkeitswerts von der Bereitschaft abhängig, Nachteile in Kauf zu nehmen. Diese Bereitschaft zur „lästigen Alternative“ überzeugt jedoch nicht, denn wenn der Gewissensträger die rechtlichen Nachteile in Kauf nimmt, hat er zwar überzeugend die Gewissensprüfung bestanden, aber für ihn wird die Grundrechtsgewährleistung unergiebig, denn es gehört zu dieser Ernsthaftigkeitsprobe, dass die Gewissensentscheidung im Endergebnis ignoriert wird. Eng mit der Ernsthaftigkeit verbunden ist die Begründung der Gewissensentscheidung, d. h. den Gewissensträger trifft eine Darlegungslast, die umso höher ist, je schwerer die kollidierenden Rechte und Güter durch die Realisierung der Gewissensfreiheit beeinträchtigt werden. Ebenso ist die Darlegungslast erhöht, wenn die Gewissensentscheidung zu früherem Verhalten in Widerspruch steht (venire contra factum proprium).21 Mit der schon geschilderten begrifflichen Trennung von Glauben und Gewissensfreiheit und der damit notwendigen Konturierung als eigenständiges Grundrecht gilt auch, dass Gewissensentscheidungen auf andere Weise als religiös oder weltanschaulich begründet werden können. Nach herrschender Lehre stellen Religion und Weltanschauung auf ein umfassendes System von Aussagen zur Deutung und ihrer Realisierung ab, die Straßburger Organe fordern eine „coherent view on fundamental problems“22, die aber bei einer Gewissensentscheidung nicht zwingend vorliegen muss. In der Regel sind Gewissensentscheidungen religiös oder weltanschaulich begründet, aber eben nicht immer; d. h. Religions-, Weltanschauungsfreiheit und Gewissensfreiheit stehen als selbständige Rechte nebeneinander, aber in Idealkonkurrenz.

20 M. Herdegen, Gewissensfreiheit und Normativität des Rechts, Berlin u. a. 1989, S. 245; ders., Gewissensfreiheit, in: J. Listl/D. Pirson (Hrsg.), Handbuch des Staatskirchenrechts der Bundesrepublik Deutschland, 1. Bd., Berlin 21994, § 15 (S. 482 f). 21 Hiezu näher Borowski, Die Glaubens- und Gewissensfreiheit des Grundgesetzes (Anm. 16), S. 558 ff. 22 Vgl. Kalb/Potz/Schinkele, Religionsrecht (Anm. 11), S. 2 ff.; zur einschlägigen Judikatur von Kommission und Gerichtshof vgl. Walter, in: Grote/Marauhn, EMRK/GG. Konkordanzkommentar (Anm. 14), S. 839.

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Diese damit notwendig einhergehende Selbständigkeit der Grundrechtverbürgungen wird auch durch den persönlichen Schutzbereich unterstrichen. Während Religions- und Weltanschauungsfreiheit auch juristischen Personen zugebilligt wird, z. B. kann sich eine Religionsgemeinschaft als juristische Person auf die Verbürgung der Religionsfreiheit berufen, ist beim Grundrecht der Gewissensfreiheit diese kollektive Dimension zu verneinen.23 Im Hinblick auf einen ausufernden Schutzbereich besteht bei manchen Autoren in der Auseinandersetzung mit Art. 4 GG, aber auch in der Judikatur der Straßburger Organe zu Art. 9 EMRK eine Tendenz, die Gewissensfreiheit auf das forum internum zu fokussieren24, mit der Konsequenz, dass primär die Gewissensbildung vor staatlichen Eingriffen geschützt ist, nicht aber die daraus erfließende Gewissensbetätigung. Demgegenüber ist aber festzuhalten, dass die Weite des Schutzbereichs kein überzeugendes Argument für die Beschränkung auf die Gewissensbildung ist25, denn ohne Schutz der Gewissensbetätigung wird die Gewissenfreiheit ihres wesentlichen Teils beraubt, d. h. es ist im Rahmen einer teleologischen Interpretation sowohl der Schutz der Gewissensbildung wie auch von gewissensgebotenen Handlungen und Unterlassungen umfasst. „Gewissensfreiheit beschränkt auf die innere Freiheit zu postulieren, ist ein Zynismus gegenüber der Person, verdeckt durch den Anschein des Respekts“, so bereits 1969 der deutsche Staatsrechtler Richard Bäumlin auf der Tagung der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer.26 Umfasst daher der Schutzbereich sowohl das forum internum wie externum, die Gewissensbildung wie Gewissensbetätigung, so wird in der deutschen Lehre versucht, den Schutzbereich durch eine Reihe weiterer restringierender Rahmenbedingungen einzuschränken.

23

Vgl. Grabenwarter, in: Korinek/Holoubek, Österreichisches Bundesverfassungsrecht (Anm. 11), zu Art. 9 EMRK, Rn 9. 24 Seit dem Verfahren Arrowsmith (DR 19,5) orientiert sich der Gerichtshof stark an einer religiös oder weltanschaulich motivierten Handlungsfreiheit und vermeidet die Betonung eines gewissensgeleiteten Handelns; die „Standardformulierung“ lautet: „Article 9 primarly protects the sphere of personal beliefs and religious creeds, i. e. the area which is sometimes called the forum internum. In addition, it protects acts which are intimately linked to these attitudes, such as acts of worship or devotion which are aspects of the practice of a religion or belief in a generally recognised form“; Nachweise bei Walter, in: Grote/Marauhn, EMRK/GG. Konkordanzkommentar (Anm. 14), S. 829; S. Sünner, Staatsgesetz vor Religionsgebot? Eine Analyse mit Bezug zum englischen Recht und der Rechtsprechung des EGMR, Frankfurt a. M. 2010, 190 ff. 25 Borowski, Die Glaubens- und Gewissensfreiheit des Grundgesetzes (Anm. 16), S. 554 ff. 26 R. Bäumlin, Das Grundrecht der Gewissensfreiheit (VVDStRL 28), Berlin 1970, S. 3 (16).

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Die einschneidendste Einschränkung betrifft die Beschränkung der Konfliktsbereiche auf den eigenen Verantwortungsbereich. Klassische Diskussionsanlässe sind die Verweigerungen von Leistungen und Abgaben aus Gewissensgründen im Hinblick auf Rüstungsfinanzierung, Abtreibungsfinanzierung etc. Mit einer Beschränkung des Gewissenskonflikts auf den persönlichen Verantwortungsbereich würden elegant alle jene Fälle eliminiert, in denen die Entscheidung eines Dritten zwischengeschaltet ist; derartige Fälle wären vom Schutzbereich nicht erfasst. So liegt die Verantwortung für die Verwendung von Steuern und ähnlicher Maßnahmen ausschließlich und letztverantwortlich bei staatlichen Organen und kann dem Einzelnen nicht als eigenes Tun zugerechnet werden. Wenn etwa unter Verweis auf die Verwendung eines Teiles des Steueraufkommens zu Verteidigungszwecken die Zahlung von Steuern zum Teil verweigert wird, ist zwischen Leistung der Abgabe und teilweiser gewissenswidriger Verwendung eine Entscheidung des Staates zwischengeschaltet und es wird die Steuerverweigerung nach der Auffassung eines notwendigen „objektivierbaren Bezugs zum persönlichen Verantwortungsbereich“ vom Schutzbereich der Gewissensfreiheit nicht erfasst.27 Diese Restriktionen überzeugen aber nicht: Es ist im Sinne einer umfassenden Gewissensfreiheit von einem weiten Tatbestand auszugehen; die Beschränkung hat nicht über den Schutzbereich, sondern auf der Schrankenebene zu erfolgen. Die Konsequenzen staatlicher Organe sowie die Entscheidungsfreiheit Dritter sind Gegengründe im Rahmen der verfassungsrechtlichen Rechtfertigung.28 Wenn Bedarf für die Versagung des Grundrechtsschutzes gegeben ist, so ist der legitime Ort die Schrankenebene. Dabei ist besonderes Augenmerk auf die Schrankenregelung des Art. 9 EMRK zu legen, die auch für die Auslegung der Eingriffsschranken des Art. 14 StGG und Art. 63 Abs. 2 StV St. Germain zu relevieren ist. Gemäß Art. 9 Abs. 2 EMRK müssen Grundrechtseingriffe gesetzlich vorgesehen sein, legitime und taxativ angeführte Eingriffszwecke verfolgen (öffentliche Sicherheit, öffentliche Ordnung, Gesundheit, Moral oder der Schutz der Rechte und Freiheiten anderer) und dem Verhältnismäßigkeitsmaßstab entsprechen („in einer demokratischen Gesellschaft notwendige Maßnahmen“).29 27 Herdegen, Gewissensfreiheit und Normativität des positiven Rechts (Anm. 20), S. 258; S. Muckel, Religiöse Freiheit und staatliche Letztentscheidung. Die verfassungsrechtlichen Garantien religiöser Freiheit unter veränderten gesellschaftlichen Verhältnissen, Berlin 1997, S. 162 f.; Im „Steuerzahlungsfall“ C. v. United Kingdom (DR 37, 142) verneinte die Kommission einen Eingriff in Art. 9 EMRK im Hinblick auf das neutral formulierte Gesetz. Der Beschwerdeführer, ein bekennender Quäker, sah es als unvereinbar mit seinem Gewissen an, dass Teile der von ihm entrichteten Einkommensteuer im Rahmen des Verteidigungshaushaltes unfriedlichen Zwecken zugute komme. Die Kommission sah in der Steuerpflicht eine neutrale Regelung, die keine spezifischen Implikationen für das Gewissen des Einzelnen bewirkt. 28 Vgl. Borowski, Die Glaubens- und Gewissensfreiheit des Grundgesetzes (Anm. 16), S. 568 ff. 29 Vgl. hier, Anm. 11.

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Grundsätzlich ist die Gewissensfreiheit als Abwehrrecht gegen staatliche Eingriffe konzipiert, betrifft also nur das Verhältnis Staat/Bürger. Rechtsverhältnisse zwischen Bürgern sind im Rahmen der sogenannten mittelbaren Drittwirkung erfasst; aktuelle Fallgestaltungen betreffen vor allem das Arbeitsrecht, etwa die Arbeitsverweigerung aus Gewissensgründen. Ansatz für eine Berücksichtigung der Gewissensfreiheit und einer möglichen gewissenskonformen Anpassung der Pflichten des Arbeitnehmers ist die Fürsorgepflicht des Arbeitsgebers im Rahmen rechtlicher und wirtschaftlicher Zumutbarkeit.30 Ein zentrales Problem der Gewissensfreiheitsverbürgung ist die Durchsetzbarkeit. Ein beachtlicher Anteil von Gewissensentscheidungen impliziert eine situative Normdurchbrechung. In solchen Fällen wird nicht auf die allgemeine Verfassungswidrigkeit einer dem Gewissensurteil entgegenstehenden Norm abgestellt. Es geht nicht um Normverwerfung im Sinne einer Normaufhebung, sondern um eine Nichtanwendung in einer spezifischen Situation, also um eine partielle Entpflichtung.31 Eine derartige partielle Entpflichtung ist im Falle von Ermessensnormen möglich, hier kann es – zumindest im Ergebnis – zu einer „Nichtdurchsetzung“ kommen; weiters ist auf die Möglichkeit grundrechtskonformer Normeninterpretation32 zu verweisen. Ein weiterer Anwendungsbereich findet sich insbesondere im Strafrecht. Grundsätzlich wird zwar vom Vorliegen eines Unrechtsbewusstseins ausgegangen, was die Berücksichtigung auf der Schuldebene weitgehend verunmöglicht, doch kann dem auf der Ebene der Sanktionszumessung im Sinne eines „Wohlwollensgebotes“ Rechnung getragen werden.33 IV. Chancen für das Grundrecht der Gewissensfreiheit Aus Art. 9 EMRK folgt weiters eine Pflicht des Gesetzgebers, durch eine entsprechende Ausgestaltung der Rechtsordnung den Einzelnen im Hinblick auf potentielle 30 Vgl. E. Grassl-Palten, Gewissen contra Vertragstreue im Arbeitsverhältnis, Wien 1994; W. Schrammel, Interne Medienfreiheit und Arbeitsrecht, in: J. Aicher u. a. (Hrsg.), Das Recht der Medienunternehmen, Wien 1979, S. 61; Zur Diskussion einer Schadensminderungspflicht i. S. d. § 1304 ABGB wegen Verweigerung von Fremdblutverwendung durch eine Angehörige der Zeugen Jehovas vgl. S. Korinek/A. Vonkilch, Gewissen contra Schadensminderungspflicht, in: JurBl. 1997, S. 756; nunmehr restriktiv OGH v. 22. 06. 2011, 2Ob219/10k (ausführliche Besprechung in Vorbereitung). 31 Vgl W. Kluth, Das Grundrecht der Gewissensfreiheit und die allgemeine Geltung der Gesetze. Überlegungen zur situativen Normdurchbrechung, in: J. Isensee/W. Rees/W. Rüfner (Hrsg.), Dem Staate, was des Staates ist – der Kirche, was der Kirche ist (FS Joseph Listl z. 70. Geb.), Berlin 1999, S. 215 – 238. 32 Beispielhaft VfSlg 15.394/1998; vgl. B. Schinkele, Religionsrecht und Tierschutz. Schächten aus verfassungsrechtlicher Sicht, in: R. Potz/B. Schinkele/W. Wieshaider, Freistadt 2001, S. 46. 33 Schinkele, Gewissensgebot und Normativität des positiven Rechts (Anm. 11), m. w. N.

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schwere Gewissenskonflikte an derartigen Konflikten vorbeizuführen (Verhaltensalternativen) bzw. das Konfliktpotential zu minimieren.34 Ein wesentliches Mittel für ein derartiges Vorbeiführen sind Gewissensklauseln.35 So ist grundsätzlich der Träger einer Krankenanstalt mit Aufnahmepflicht gemäß § 8 Abs. 2 KAKuG verpflichtet, jede medizinisch gebotene Behandlung zuzulassen, auch wenn dies seinen ethischen Vorstellungen widerspricht.36 Im Hinblick auf die Vermeidung von schweren Gewissenskonflikten nahm der Gesetzgeber für Schwangerschaftsabbrüche (mit Ausnahme zur Vermeidung einer Lebensgefahr der Mutter indizierte) sowie für die IVF Modfikationen vor: Gemäß § 6 FMedG sind Angehörige von Gesundheitsberufen nicht verpflichtet, eine medizinisch unterstützte Fortpflanzung durchzuführen oder an ihr mitzuwirken. Niemand darf wegen der Durchführung einer gesetzlich zulässigen IVF oder wegen der Weigerung, diese durchzuführen oder daran mitzuwirken, in welcher Art immer benachteiligt werden. Dieselbe Einschränkung sieht § 97 Abs. 2 und 3 StGB für den nicht zur Vermeidung einer Lebensgefährdung der Mutter indizierten Schwangerschaftsabbruch für Angehörige von Gesundheitsberufen vor: keine Verpflichtung zur Durchführung und Diskriminierungsverbot bei Durchführung eines gesetzlich zulässigen Schwangerschaftsabbruchs oder einer Durchführungs- oder Mitwirkungsweigerung. Daran anknüpfend sah sich der Gesetzgeber veranlasst, in § 6 KAKuG einen Abs. 3 einzufügen37: „Die Anstaltsordnung darf keine Bestimmung enthalten, die die Durchführung eines straflosen Schwangerschaftsabbruches oder die Mitwirkung daran verbietet oder die Weigerung, einen solchen Schwangerschaftsabbruch durchzuführen oder daran mitzuwirken, mit nachteiligen Folgen verbinden.“

Dazu hat der VfGH angemerkt, dass diese Bestimmung in die durch Art. 63 StV St. Germain garantierten Rechte nicht eingreift. § 6 Abs. 3 KAG begrenzt zwar die Regelungsbefugnis des inneren Anstaltsbetriebes, hindert aber den Rechtsträger der Krankenanstalt (von Fällen unabweisbarer Kranken und notwendiger ärztlicher Hilfe abgesehen) nicht daran, die Aufnahme von Schwangeren zur Vornahme eines straflosen Schwangerschaftsabbruchs auszuschließen. Schwangere sind zur Durchführung eines Schwangerschaftsabbruchs nur aufzunehmen, soweit sie unabweisbar im Sinne des § 22 Abs. 4 KAKuG sind.38 Wie Stöger schlüssig aufweist, resultiert 34

Kalb/Potz/Schinkele, Religionsrecht (Anm. 11), Kap. IV; Schinkele, Gewissensgebot und Normativität des Rechts (Anm. 11), Anm. 103; Grabenwarter, in: Korinek/Holoubek (Hrsg,), Österreichisches Bundesverfassungsrecht (Anm. 11), zu Art. 9 EMRK, Rn 11. 35 Schinkele, Gewissensgebot und Normativität des positiven Rechts (Anm. 11), S. 448. 36 H. Kalb, Medizinrecht und Religionsrecht, in: R. Resch/F. Wallner (Hrsg.), Handbuch Medizinrecht, Wien 2011, S. 985. 37 BGBl 281/1974. 38 VfSlg 7720/1975; vgl. auch die Reaktionen der Landesausführungsgesetzgebung z. B. § 46 OÖ KAG: „Bei der Aufnahme ist auf den Zweck der Krankenanstalt und auf den Umfang der Anstaltseinrichtung Bedacht zu nehmen. Der Rechtsträger der Krankenanstalt ist nicht verpflichtet, Anstaltseinrichtungen für die Durchführung operativer Eingriffe an Personen, die, ohne anstaltsbedürftig zu sein, operative Eingriffe vornehmen lassen wollen, vorzusehen

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bereits aus diesen Regelungen die Unzulässigkeit einer Personalauswahl nach dem Kriterium einer Bereitschaft zur Durchführung von IVF Maßnahmen bzw. von Schwangerschaftsabbrüchen und sind derartige Eingriffe nicht Bestandteil des Pflichtangebots von Krankenanstalten.39 In jüngster Zeit wurden verstärkt Gewissensklauseln für gesundheitsbezogene Dienste und weitere Berufsgruppen eingefordert; besondere Aufmerksamkeit erlangte die Auseinandersetzung um die Gewissensfreiheit von Apothekern. Anlassfall für die juristische wie medizinethische Auseinandersetzung war der Fall Pichon und Sajous v. Frankreich40. Auch im Bereich der Forschung ist die Berücksichtigung der Gewissensfreiheit ausdrücklich positiviert. Gemäß § 105 UG darf kein Angehöriger einer Universität bei wissenschaftlichen und künstlerischen Arbeiten gegen sein Gewissen zur Mitwirkung verhalten werden; aus seiner Weigerung darf ihm kein Nachteil erwachsen.41 Vergleichbare Berücksichtigungen finden sich auch im Tierschutzrecht.42 Im Schul- und Bildungsbereich hat die Gewissensfreiheit durch die Option der Abmeldung vom Religionsunterricht sowie der Möglichkeit eines Lehrers, die Zuweisung an eine konfessionelle Privatschule zu verweigern, eine einfachgesetzliche Ausgestaltung erfahren.43 Im Presserecht – um noch ein weiteres Beispiel anzuführen – wird die Gewissensfreiheit insbesondere in § 11 JournalistenG verankert: Wechselt ein Zeitungsunternehmen die bisherige Richtung, so kann der Redakteur, dem die Fortsetzung seiner Tätigkeit ohne Änderung seiner Gesinnung nicht zugemutet werden kann, seinen Arbeitsvertrag innerhalb eines Monats, nachdem er von dem Wechsel der politischen Richtung Kenntnis haben musste, ohne Einhaltung einer Kündigungsfrist lösen.44

und bereitzustellen. Unabweisbare Kranke müssen jedenfalls in Anstaltspflege aufgenommen werden.“ 39 Vgl. K. Stöger, Ausgewählte öffentlich-rechtliche Fragestellung des österreichischen Krankenanstaltenrechts, Wien 2008, S. 657. 40 Die Beschwerdeführer, zwei Apotheker im französischen Salleboeuf, verweigerten Kunden auf Rezept verschriebene empfängnisverhütende Mittel und wurden zu einer Verwaltungsstrafe verurteilt. Der EGMR verneint eine Verletzung von Art. 9 EMRK (Beschluss 02. 10. 2001, 49.853/99); A. Lamackova, Conscientious Objection in reproductive Health Care. Analysis of Pichon and Sajous v. France. in: European Journal of Health Law 15 (2008), S. 7 – 43; J. Wallner, Gewissensfreiheit in der Apotheke. Rechtsethische Analyse eines gesundheitsethischen Problems, in: Ethik in der Medizin 2010, S. 22. 41 G. Kusco-Stadlmayer, in: H. Mayer (Hrsg.), Kommentar UG 2002, Wien 22010, zu § 105 UG; D. Schöberl, in: W. J. Pfeil (Hrsg.), Personalrecht der Universitäten, Wien 2010, zu § 105 UG. 42 § 19 TierversuchsG 1989. 43 Kalb/Potz/Schinkele, Religionsrecht (Anm. 11), Kap. XVI. 44 Schrammel, Interne Medienfreiheit und Arbeitsrecht (Anm. 30), S. 67.

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Bei diesen hier angesprochenen Gewährleistungspflichten in Form von Gewissensalternativen darf aber nicht übersehen werden, dass diese legistisch positiviert werden müssen. Funktional Gewissensklauseln vergleichbar sind die Regelungen für jene Fälle, in denen Obsorgeberechtigte aus religiösen Gründen die Zustimmung zu einer medizinischen Behandlung verweigern, z. B. im Zusammenhang mit dem Verbot der Bluttransfusion bei den Zeugen Jehovas oder der Ablehnung schulmedizinischer Behandlungen bei Angehörigen z. B. von New Religious Movements.45 Ein in diesem Zusammenhang zunehmend international diskutierter Problembereich sind die Herausforderungen von Multikonfessionalität bzw. Multikulturalität an den Schnittstellen von Religionsrecht, Medizinrecht, Strafrecht und Medizinethik. So wurde mit der rechtfertigenden Einwilligung gemäß § 90 StGB versucht, das Rechtsgut der körperlichen Integrität und des Selbstbestimmungsrechts im Kontext medizinischer Behandlung strafrechtsdogmatisch zu erfassen.46 Anders als bei der tatbestandsausschließenden Einwilligung gemäß § 110 Abs. 1 StGB sieht die rechtfertigende Einwilligung in eine Körperverletzung gem § 90 Abs. 1 StGB ein Sittenwidrigkeitskorrektiv vor, in das die Perspektive religiös-kultureller Selbstbestimmung mit einzufließen hat. Der mit dem StRÄG 200147 in § 90 StGB eingefügte Abs. 3 enthält eine diesbezügliche gesetzliche Konkretisierung im Sinne eines generellen Ausschlusses einer Einwilligung in eine Verletzung der Genitalien: „In eine Verstümmelung oder sonstige Verletzung der Genitalien, die geeignet ist, eine nachhaltige Beeinträchtigung des sexuellen Empfindens herbeizuführen, kann nicht eingewilligt werden.“ Dieser begrüßenswerte Ausschluss insbesondere im Hinblick auf kultur- und religionsübergreifende verortete weibliche Genitalverstümmelungen (FGM – Female genital mutilation) Minderjähriger wird im Hinblick auf volljährige Frauen sowie im Kontext ästhetisch chirurgischer Eingriffe (FGCS – Female genital cosmetic surgery) verschiedentlich auch aus Gewissenserwägungen kritisch hinterfragt.48 45

B. Schinkele, Religionsfreiheit, Reichweite und Grenzen im Kontext religiös-kultureller Praktiken – unter besonderer Berücksichtigung von Female Genital Mutilation und Zirkumzision (erscheint im Rahmen eines von M. Peintinger herausgegebenen interkulturellen Buchprojektes) spricht von einem gesetzlichen Rahmen, „der gewissermaßen als ,ZusatznutzenÐ funktional auf die Gewährung einer ,GewissensklauselÐ hinausläuft“; P. Lewisch, Verfassung und Strafrecht, Wien 1993, S. 60 ff.; J. Noll, Jehovas Zeugen als Bekenntnisgemeinschaft – Rechtsfragen um eine religiöse Minderheit, Wien 2001; A. Birklbauer, Strafrechtliche Haftung der Gesundheitsberufe, in: Resch/Wallner, Handbuch Medizinrecht (Anm. 36), S. 325 f.; zur Patientenverfügung/Vorsorgevollmacht und Zeugen Jehovas vgl. St. Schima, Nachtrag zum „Neuen Recht 2006“: Die legistische Behandlung von Patientenverfügung und Vorsorgevollmacht und einige Überlegungen aus religionsrechtlicher Perspektive, in: ÖÄRR 2008, S. 494. 46 M. Burgstaller/H. Schütz in: Wiener Kommentar zum Strafgesetzbuch, 2. Aufl., zu § 90. 47 BGBl. I 130/201. 48 B. Schinkele, Religionsfreiheit, Reichweite und Grenzen im Kontext religiös-kultureller Praktiken – unter besonderer Berücksichtigung von Female Genital Mutilation und Zirkum-

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In enger Beziehung mit der Entwicklung und Betätigung von Gewissensüberzeugungen steht auch die Etablierung von Ethikkommissionen49, die einen „Korridor ethischer Normsetzung“ für Rechtssetzungs- und Entscheidungsorgane aufzeigen können.50 Biomedizinische Ethikkommissionen sind ein Institutionen-Phänomen, welches mit der Entwicklung der modernen Medizin und Biowissenschaften (life sciences) einerseits und der Erosion einheitlicher, allgemein verbindlicher Moralstandards andererseits aufgetreten ist. Im Zentrum der Ethikkommissionen steht die vorausblickende und begleitende, kritisch-wissenschaftliche Evaluation der Forschung (Medikamente, Diagnose- und Therapieverfahren etc.) und ihrer (möglichen) Auswirkungen für den Menschen und die Umwelt. Nach einer Phase von Ethikkommissionen auf freiwilliger Basis an den medizinischen Fakultäten in den 1980er Jahren wurde im § 34 AMG erstmals gesetzlich verankert, dass vor der Durchführung einer klinischen Prüfung zwingend eine Kommission befragt bzw. beigezogen werden muss. In der Novelle zum KAKuG 1988 (§ 8c) sah der Gesetzgeber die Errichtung von Kommissionen an jenen Krankenanstalten vor, an denen die klinischen Prüfungen von Arzneimitteln durchgeführt werden;51 ähnliche Regelungen finden sich im MPG und im UG. Ethikkommissionen sind somit unabhängige Gremien, die sich aus medizinischen und nicht-medizinischen Experten und Laien zusammensetzen. Ihre Aufgabe ist es, den Schutz der Rechte und der Integrität von Probanden (§ 2a Abs. 6 AMG; § 3 Abs. 9 MPG) sowie die Zulässigkeit der Anwendung neuer medizinischer Methoden zu beurteilen (§ 8c Abs. 1 KAKuG). Gemäß § 8c Abs. 4 KAKuG haben den Ethikkommissionen Personen beiderlei Geschlechts und mindestens ein Arzt anzugehören, der im Inland zur selbständigen Berufsausübung berechtigt und weder ärztlicher Leiter der Krankenanstalt noch Prüfer bzw. Klinischer Prüfer ist. Als weitere Mitglieder haben ihr anzugehören: ein Facharzt, in dessen Sonderfach die jeweilige klinische Prüfung oder neue medizinizision. Die Zirkumzision wird nicht von § 90 Abs. 3 StGB erfasst, d. h. es gelten die allgemeinen Einwilligungsregelungen. Zur kulturalistisch ausufernden Debatte wie zur juristisch stringenten Diskussion „Religionsfreiheit im Kontext Obsorge/Kindeswohl“ vgl. B. FatehMoghadam, Religiöse Rechtfertigung? Die Beschneidung von Knaben zwischen Strafrecht und elterlichem Sorgerecht, in: Rechtswissenschaft 2/2010, S. 115. 49 Vgl. Kalb/Potz/Schinkele, Religionsrecht (Anm. 11), S. 316; M. Kletecˇka-Pulker, Seelsorger und Ethiker in Ethikkommissionen, in: ÖARR 2000, S. 215; G. Luf, Zur Ethik der Ethikkommissionen. Tätigkeit und Rechtsgrundlagen der Ethikkommissionen in Österreich, in: E. Bernat/E. Böhler/A. Weilinger (Hrsg.), FS Krejci (2001), S. 1969; Ch. Kopetzki, Grundriss des Unterbringungsrechts, 2. Bd. (1995), S. 801; G. Pöltner, Die Ethik im Rahmen der Ethikkommissionen, in: Imago Hominis 1995, S. 28. 50 S. Vöneky, Recht, Moral und Ethik: Grundlagen und Grenzen demokratischer Legitimation für Ethikgremien, Tübingen 2010. 51 Umgesetzt wurde diese Grundsatzbestimmung in den jeweiligen Landesgesetzen: § 24 Bgld KAG; § 30 Ktn KAO; § 19e NöKAG; § 18 Oö KAG; § 30 Sbg KAG; § 11c Stm KAG; § 12a Tir KAG; § 21 Vgb SpG; § 15a Wr KAG.

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sche Methode fällt; ein Vertreter des Krankenpflege-Fachdienstes; ein Jurist; ein Pharmazeut; ein Patientenvertreter; eine Person, die über biometrische Expertise verfügt; ein Vertreter der Organisation von Menschen mit Behinderung und ein Seniorenvertreter; eine Person, die mit der Wahrnehmung seelsorgerischer Angelegenheiten in der betreffenden Krankenanstalt betraut ist oder sonst über entsprechende ethische Kompetenz verfügt, wobei diese Person nicht mit einer der soeben genannten Personen identisch sein darf. Die Aufzählung ist als Mindestanforderung zu verstehen, so dass die Zahl der Mitglieder auch erweitert werden kann. So gehört z. B. den Ethikkommissionen in Oberösterreich zwingend auch ein Psychologe oder Psychotherapeut an (§ 18 Abs. 4 Z. 6 Oö KAG). Nach dem Wortlaut des § 8c Abs. 4 Z. 9 KAKuG kommt nur ein Seelsorger als Mitglied in Frage, der mit der Wahrnehmung seelsorgerischer Angelegenheiten in der Krankenanstalt betraut ist. Die erste Fassung des KAKuG 1988 stellte allerdings noch allgemein auf eine „mit der Wahrnehmung seelsorgerischer Angelegenheiten in Krankenanstalten betraute Person“ ab, die ratio legis der „Engführung“ in der aktuellen Fassung ist nicht nachvollziehbar. Welche Personen als Seelsorger im Sinne des staatlichen Rechts anzusehen sind, richtet sich nach dem Selbstverständnis der jeweiligen Religionsgemeinschaft.52 Der Begriff „ethisch kompetente Person“ ist vom Gesetzgeber nicht eindeutig bestimmt. In der Regel ist zuerst an jene Personen zu denken, die auf dem Gebiet der praktischen Philosophie (Ethik) wissenschaftlich tätig sind. So stellt etwa § 30 Abs. 2 Z. 9 Sbg KAG bei der Bestellung einer „ethisch kompetenten Person“ im Sinne des § 8c Abs. 4 Z. 9 KAKuG auf den „Inhaber des Lehrstuhls für Ethik der Theologischen Fakultät der Universität Salzburg“ ab. Aufgabe des Seelsorgers ist es, im Rahmen der Kommissionsarbeit „die ethischen Perspektiven aufzudecken, Argumente einzubringen und so die ethischen Fragen zu identifizieren und in ihrem Anspruch wach zu halten“53. Um diesen ethischen Diskurs zu sichern, ist es auch sinnvoll, in Einzelfragen weitere Seelsorger verschiedener Religionsgemeinschaften als Auskunftspersonen einzubinden. So ist z. B. die Frage der Erprobung der Transplantation einer Schweineherzklappe (Xenotransplantation) eine ethische Entscheidung, „die von einem Vertreter der Islamischen Glaubensgemeinschaft sicher anders beurteilt werden würde als etwa von einem katholischen oder evangelischen Seelsorger“54. Die Ethikkommissionen nach § 41 AMG und nach § 58 Abs. 4 MPG sehen fast dieselbe personelle Zusammensetzung wie das KAKuG vor, allerdings mit dem Unterschied, dass der zu bestellende Seelsorger nicht mit der Wahrnehmung seelsorgerischer Angelegenheiten in „der“ Krankenanstalt betraut sein muss, da klinische Prüfungen nach AMG bzw. MPG auch außerhalb von Krankenanstalten möglich sind. 52 53 54

Vgl. Kalb/Potz/Schinkele, Religionsrecht (Anm. 11), S. 226. Luf, Zur Ethik der Ethikkommission (Anm. 49), S. 1799. Kletecˇka-Pulker, Seelsorger und Ethiker in Ethikkommissionen (Anm. 49), S. 222.

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Gemäß § 30 UG sind an jeder Medizinischen Universität vom Senat Ethikkommissionen zur Beurteilung klinischer Prüfungen von Arzneimitteln und Medizinprodukten sowie der Anwendung neuer medizinischer Methoden und angewandter medizinischer Forschung am Menschen einzurichten. Die Zusammensetzung hat den Erfordernissen des § 8c Abs. 1 – 5 und 7 KAKuG zu entsprechen.55 Die Ethikkommissionen sind keine Behörden; ihre Entscheidungen sind gutachterliche Stellungnahmen. Allerdings greifen die Empfehlungen erheblich in Rechte von Probanden und Forschern ein, für die ein verfahrensrechtlicher Rechtschutz nicht vorgesehen ist – rechtstaatliche Defizite sind unübersehbar. Abgesehen von der Verpflichtung eines Sitzungsprotokolls (§ 8c Abs. 7 KAKuG) und der gesetzlich vorgeschriebenen Entscheidungsfrist (§ 41a AMG) ist das Verfahren der Ethikkommission auf gesetzlicher Ebene weitgehend ungeregelt. Bezüglich des Verfahrens verlangt allerdings eine EU-Empfehlung zur „Good Clinical Practice“, dass die Verfahrens- und Arbeitsgrundsätze von Ethikkommissionen öffentlich verfügbar sind, damit ihre Arbeit transparent wird und die Antragsteller sich bei ihren Projektanträgen daran orientieren können. Die Kommissionen haben zu prüfen, ob eine wissenschaftlich ausreichend begründete klinische Prüfung (bzw. neue medizinische Methode) gegeben ist und dabei die Sicherheit, das Wohlergehen, die Rechte und die Integrität der Versuchspersonen ausreichend berücksichtigt und geschützt werden (vgl. § 3 Abs. 9 MPG). Ein zentraler Bestandteil der Prüfung ist weiters die Aufklärung und der Versicherungsschutz für den Schadensfall.56 V. Resümee Die Gewissensfreiheit hat sich von ihrer religiösen Grundierung gelöst und eigenständige Konturen entwickelt. Das aktuelle personale Verständnis des Gewissens ermöglicht dem Einzelnen bei einem ernsthaften Gewissenskonflikt, seinen internalisierten Wertvorstellungen ohne Aufkündigung oder Verletzung des Rechtsgehorsams folgen zu können. Der Durchsetzung der Gewissensfreiheit im eingetretenen Kollisionsfall sind aber in einem funktionierenden, „materiell“ verstandenen freiheitlichen Rechtstaat, der Gewissen und Recht, Gewissensgebot und Rechtsgehorsam nicht im Sinne einer „abstrakten Ausgrenzung im bloßen Nebeneinander“ (G. Luf) belassen kann57, berechtigterweise enge Grenzen gesetzt.

55

Ch. Kopetzki in: Mayer, Kommentar UG 2002 (Anm. 41), zu § 30. In Ausführung von § 41b AMG ist die Leit-Ethikkommissions-VO 2004 ergangen, die insbesondere das Verfahren von Ethikkommissionen klinischer Prüfungen regelt. 57 G. Luf, Gewissen und Recht. Erwägungen zu strukturellen Gemeinsamkeiten im staatlichen und kirchlichen Recht, in: ÖAKR 1989, S. 18. 56

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Daher liegt die besondere Wertigkeit der Gewissensfreiheit in der Vermeidung der Belastung durch rechtlich induzierte Gewissensprobleme, wie bereits 1965 N. Luhmann in seiner systemtheoretischen Konzeption des Gewissens aufgezeigt hat. Er stellt darauf ab, dass die „Gewissensfreiheit die Orientierung des Handelns aus individuellem Gewissen nicht ermöglichen, sondern ersparen (soll)“, d. h. es sind unter anderem staatlicherseits Verhaltensalternativen vorzusehen.58 In dieser Entlastungsfunktion liegt die besondere Bedeutung der Gewissensfreiheit, denn die legistische Bereitstellung derartiger qualifizierter „Gewissensberücksichtigungsklauseln“ erfordert einen angemessenen Diskurs gewissensbestimmten Verhaltens in der Zivilgesellschaft, letztlich ein immer wieder zu erneuerndes commitment über den Umfang eines qualifizierten, von der Beachtung grundlegender Gerechtigkeitsprinzipien abhängigen Rechtsgehorsam.

58

N. Luhmann, Die Gewissensfreiheit und das Gewissen, in: AöR 1965, S. 257.

Im Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen Überlegungen zum Gottesbezug und zur Menschenwürde im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland und in der Rechtsordnung der Europäischen Union1 Von Andreas Weiß I. Annäherung an den Jubilar Hans Paarhammer hat sich in seinem wissenschaftlichen Wirken als Professor für Kirchenrecht immer wieder auch mit Aspekten des Beziehungsverhältnisses von Staat und Kirche, Recht und Religion auseinandergesetzt. Bei der nicht zu übersehenden und wohltuenden Heimat- und Landesverbundenheit befasste sich der Jubilar dabei auch mit der grundsätzlichen Frage, welche Bedeutung der Religion im modernen demokratischen Staat2 zukommt. Er schreibt: „Aus dem Christentum empfängt unsere Kultur wesentliche Impulse, weil dessen Lehre von der Würde jedes Menschen individuelle Freiheit, gemeinschaftliche Verantwortlichkeit und demokratischen Einfluss fordern. Die Religion ist daher eine der wesentlichen Voraussetzungen für das Entstehen, die Wirkung und die Wahrnehmung von Staatsverfassung und Grundrechten.“3

Diese Zeilen sind zwar erst 2004 geschrieben; angesichts mancher ganz neuer Entwicklung mag man sich freilich fragen: Stimmt das (noch)? Immerhin hat sich ein Gottesbezug im EU-Vertrag von Lissabon nicht durchsetzen lassen. Und nicht erst seit der biopolitischen Debatte steht die Menschenwürde erneut stark zur Diskussion. Im folgenden Beitrag sollen Überlegungen zum Gottesbezug und zur Menschenwürde aus der Perspektive Deutschlands angestellt und dem Jubilar zu seinem 65. Geburtstag gewidmet werden.

1 Der Beitrag geht auf einen Vortrag zurück, den der Verfasser am 8. November 2010 im Kolpinghaus in Rottenburg am Neckar gehalten hat. Unter Beibehaltung des Vortragsstils wurde er um Anmerkungen ergänzt und am 10. September 2011 fertiggestellt. 2 Hans Paarhammer, Die Bedeutung der Religion im modernen demokratischen Staat. Gedanken zum Verhältnis von religio und patria, in: couleur 4/2004, S. 14 – 15. Es handelt sich dabei um die Zeitschrift des Mittelschüler-Kartell-Verbandes (MKV) Österreichs. Der Jubilar ist Mitglied der K.Ö.St.V. Almgau Salzburg im MKV und ausweislich der Homepage (Stand: 22. 8. 2011) deren Verbindungsseelsorger. 3 Paarhammer, Bedeutung (Anm. 2), S. 15.

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II. Einleitung „Im Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen … hat sich das Deutsche Volk kraft seiner verfassungsgebenden Gewalt dieses Grundgesetz gegeben.“

So beginnt die Präambel zum Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland4 vom 23. Mai 1949. Diese Aussage stellt insofern ein Novum dar, als keine frühere Verfassung5 des Deutschen Reiches einen derart klaren Gottesbezug enthielt, wie er in der genannten Formulierung zum Ausdruck kommt. Doch wie ist der Gottesbezug zu interpretieren? Ist er nach den Gräueln der NSZeit als prononcierte Absage des neu geschaffenen Staatswesens „an jeden prometheischen Größenwahn“6 und als grundgesetzliche Negierung aller totalitären Staatsmodelle7 zu verstehen? Oder stellt der Gottesbezug eher einen „verunglückten Sprechakt“8 dar, eine verfassungsstaatliche Demutsformel aus vergangenen Tagen zur Betonung der Fehlbarkeit9 auch einer demokratischen Verfassungsordnung? Weitere Fragen schließen sich an, beispielsweise: Was gibt die Entscheidung der Väter und wenigen Mütter des Grundgesetzes von 1949 in dieser Frage heute noch her, wo in den mehr als 60 inzwischen verflossenen Jahren ein deutlich wahrnehmbarer Wandel nicht nur im gesellschaftlichen Konsens über Werte allgemein festzustellen ist10, sondern auch in den christlichen Vorstellungen dazu? Was meint die im ersten Artikel des Grundgesetzes angeführte 4 In Österreich enthielt nur die oktroyierte Maiverfassung 1934 des austrofaschistischen Ständestaates einen Gottesbezug in Form der invocatio Dei: „Im Namen Gottes, des Allmächtigen, von dem alles Recht ausgeht, erhält das österreichische Volk für seinen christlichen, deutschen Bundesstaat auf ständischer Grundlage diese Verfassung.“ Im Gegensatz zum Bundesverfassungsgesetz (B-VG) vom 1. 10. 1920 bzw. vom 7. 12. 1929, nach dem das Recht der Republik vom Volk ausgegangen war, wurde die Maiverfassung 1934 von den Nationalsozialisten bezeichnenderweise „im Namen Gottes“ gegeben, während das Volk diese nur passiv „erhält“. Am 1. 5. 1945 wurde das Verfassungs-Überleitungsgesetz beschlossen, das das B-VG und weitere Gesetze in der Fassung vor dem Ständestaat, also einschließlich der Änderungen von 1929, wieder in Kraft setzte. Das geltende B-VG in der Fassung von 1929, zuletzt geändert durch Bundesgesetz vom 5. 1. 2008, kennt somit keine Präambel. 5 Weder die Paulskirchenverfassung von 1849 noch die Reichsverfassungen von 1871 und 1919. Lediglich die „Deutsche Bundesakte“ vom 8. 6. 1815 stellt in der Präambel der „Verabredung“ die Formel voran: „Im Namen der allerheiligsten und untheilbaren Dreieinigkeit“. Darin spiegelt sich das Souveränitätsdenken der damaligen Regenten wieder, die sich noch als Stellvertreter Gottes sahen und sich folglich ohne Berufung auf diese höhere Instanz ihrer Befugnisse verlustig glaubten („Herrscher von Gottes Gnaden“). 6 Christian Starck, in: Hermann v. Mangoldt/Friedrich Klein/ders. (Hrsg.), Kommentar zum Grundgesetz, 1. Bd., München 62010, Präambel, Rdnr. 36 f. 7 Peter Häberle, „Gott“ im Verfassungsstaat?, in: Walther Fürst/Roman Herzog/Dieter C. Umbach (Hrsg.), Festschrift für Wolfgang Zeidler, 1. Bd., S. 3 – 17, hier S. 11 f.; Peter M. Huber, in: Michael Sachs (Hrsg.), Grundgesetz. Kommentar, Präambel, Rdnr. 36. 8 Marco Hofheinz, Der Gott des Grundgesetzes, Waltrop 2001, S. 9. 9 Die Landesverfassung von Mecklenburg-Vorpommern beginnt mit den Worten „Im Wissen um die Grenzen menschlichen Tuns.“ 10 Manche reden sogar von einem „schleichenden Verfassungswandel“.

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„Würde des Menschen“ in Relation zum Bewusstsein der Verantwortung „vor Gott und den Menschen“ juristisch? Und welche Bedeutung kommt dieser im Recht der Europäischen Union zu? III. Gottesbezug in der Präambel des Grundgesetzes Das Grundgesetz beginnt nicht mit einer invocatio Dei in der Präambel11, wohl aber mit einem expliziten Gottesbezug in der Form der nominatio Dei, wenn es dort heißt, das Deutsche Volk habe sich diese Verfassung „im Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen“12 gegeben. Dass es sich hier nicht um ein Relikt verblasster Volkskirchlichkeit handelt, zeigt sich an mehreren Vorgängen. Einmal daran, dass der Niedersächsische Landtag durch Gesetz vom 6. Juni 199413 der ein Jahr zuvor verabschiedeten neuen Landesverfassung eine Präambel mit gleichlautendem Gottesbezug14 vorangestellt hat. Diese Einfügung war das Ergebnis einer mit über 100.000 Unterschriften überwiegend von Christen und Juden getragenen „Volksinitiative“, initiiert also auf dem Weg dieses erst 1993 eingeführten Instruments15 der direkten Demokratie. Es lässt sich auch daran ablesen, dass Sach11 Ein weiterer direkter Gottesbezug findet sich trotz des Prinzips religiös-weltanschaulicher Neutralität in Art. 56 GG, wonach die religiöse Beteuerungsformel am Ende des Amtseides „So wahr mir Gott helfe“ lautet (die freilich nachrangig auch unterbleiben kann). Indirekte Bezüge zum christlichen Glauben oder wenigstens nicht anders als religiös deutbare Zusammenhänge finden sich im Grundgesetz der BRD an vielen weiteren Stellen. Hingewiesen sei vor allem auf die Menschenwürde in Art. 1 Abs. 1 GG, auf die Achse des Religionsverfassungsrechts im engeren Sinn in Art. 4 GG als dessen Dreh- und Angelpunkt sowie in den Artt. 7 und 140 GG, auf den Begriff des „Sittengesetzes“ in Art. 2 Abs. 1 GG und das Asylrecht nach Art. 16a GG. Schließlich stehen Sonntag und staatlich anerkannte Feiertage als Tage der „Arbeitsruhe und der seelischen Erhebung“ (Art. 139 WRV) unter dem Schutz des Staates, was für Arbeitgeber u. a. die Konsequenz hat, ihren Beschäftigten einen Gottesdienstbesuch ermöglichen zu müssen, damit diese die eigene Glaubensüberzeugung bekennen und feiern können. Indirekte Bezüge lassen sich auch in den Landesverfassungen finden, wenn dort z. B. die Erziehungsziele nicht säkular verengt werden, sondern „Ehrfurcht vor Gott“ und „christliche Nächstenliebe“ miteinschließen. Zum Ganzen vgl. Helmut Goerlich, Der Gottesbezug in Verfassungen, in: Ingolf Dalferth (Hrsg.), Verfassungen ohne Gottesbezug? Zu einer aktuellen europäischen Kontroverse, Leipzig 2004, S. 9 – 44. 12 Ähnliche Formeln eines direkten Gottesbezuges finden sich in den Präambeln der Landesverfassungen von Baden-Württemberg, Bayern, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, dem Saarland, von Sachsen-Anhalt und Thüringen. Die Verfassung des Freistaates Bayern vom 2. 12. 1946 formuliert überaus klar: „Angesichts des Trümmerfeldes, zu dem eine Staatsund Gesellschaftsordnung ohne Gott, ohne Gewissen und ohne Achtung vor der Würde des Menschen die Überlebenden des zweiten Weltkrieges geführt hat, …“ 13 Vgl. GVBl., S. 229. 14 „Im Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen hat sich das Volk von Niedersachsen durch seinen Landtag diese Verfassung gegeben.“ 15 Vgl. Art. 47 NiedersVerf vom 19. Mai 1993: „70000 Wahlberechtigte können schriftlich verlangen, dass sich der Landtag im Rahmen seiner verfassungsmäßigen Zuständigkeit mit bestimmten Gegenständen der politischen Willensbildung befasst …“

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sen-Anhalt und Thüringen als neue Bundesländer16 die „Verantwortung vor Gott“ in ihre Verfassungspräambel aufgenommen haben. Bemerkenswert ist schließlich ebenso, dass anlässlich der nach der Wiedervereinigung Deutschlands erforderlichen Revision des Grundgesetzes im Jahre 1990 Bestrebungen, den Gottesbezug aus der Präambel zu streichen, im Deutschen Bundestag keine Mehrheit fanden. Doch wie sind die verbale Nennung Gottes und die Verantwortung vor ihm in der Präambel des Grundgesetzes zu verstehen? In den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts war in Deutschland eine hitzige Debatte entbrannt, ob sich denn wirklich und begründet sagen lasse, dass hinter der Verfassung der BRD eine Wertordnung stehe, die nicht nur eine allgemein sittliche ist, sondern gar eine christliche. Ausgelöst war sie vom (zutreffenden) Dictum des damaligen Bundeskanzlers Helmut Schmidt, dass Grundrechte und Grundwerte zwei verschiedene Dinge seien. Pointiert hat Otto Kimminich damals geantwortet: „Wir (dürfen) ohne Scheu sagen …, dass die Wertordnung des Grundgesetzes eine christliche ist.“17

Die Verfassungseltern wollten freilich die BRD nicht als res publica christiana grundieren, obwohl den meisten von ihnen der Bezug zum biblischen Gottesbegriff noch selbstverständlich gewesen sein dürfte. Der christliche Staat war auch schon 1949 unwiderruflich Geschichte. Vielmehr hat „das Deutsche Volk kraft seiner verfassungsgebenden Gewalt“ das Grundgesetz zwar als religiös und weltanschaulich neutrale, aber dennoch wertgebundene Ordnung für seine Gesellschaft erlassen. Ein Menschenbild auf der tragenden Säule der Menschenwürde mit dem daraus entspringenden Recht auf Freiheit und auf Gleichheit, dem Grundakkord der Verfassung, scheint durch, das im antiken Rom und noch mehr in der christlichen Lehre des Menschen als imago Dei sowie in der neuzeitlichen Vernunftphilosophie seine Wurzeln hat. Durch die Anhebung dieses vorpositiven Fundamentes auf die Ebene der Staatstheorie und der Rechtsordnung wurde das deutsche Grundgesetz geistesgeschichtlich in der Kultur des Abendlandes verankert. „In der Formulierung der Präambel mit ihrer provocatio ad deum bzw. mit ihrer commemoratio dei wird dies exemplarisch besonders deutlich im Hinblick auf den dem Menschen innewohnenden homo religiosus, dessen Fragen nach Anfang, Ende sowie Sinn menschlicher Existenz die Verfassung respektiert … Bereits in diesem, auf die umfassende Respektierung des Menschen als Person abzielenden Gehalt der Präambel werden demgemäß grundlegende, d. h. identitätsstiftende Elemente der verfassungsstaatlichen Ordnung zum Ausdruck gebracht, die hernach in den einzelnen Regelungen des Grundgesetzes näher aus-

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Sachsen-AnVerf vom 16. 7. 1992: Die Verfassungsgebung „geschieht in Achtung der Verantwortung vor Gott und im Bewusstsein der Verantwortung vor den Menschen …“ ThürVerf vom 25. 10. 1993: „In dem Bewusstsein … gibt sich das Volk des Freistaats Thüringen in freier Selbstbestimmung und auch in Verantwortung vor Gott diese Verfassung.“ 17 Otto Kimminich, Die Grundwerte im System des demokratischen Rechtsstaates, in: ders. (Hrsg.), Was sind Grundwerte?, Düsseldorf 1977, S. 53 – 77, hier S. 76.

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geformt werden und in ihrer Gesamtheit der Verfassung ihr spezifisches Gepräge vermitteln.“18

Der Staat kann in seiner Ordnung den Bürgern nur Freiheitsrechte anbieten. Angebote freilich können von den Berechtigten angenommen oder ausgeschlagen werden. Damit diese Freiheit verantwortlich wahrgenommen werden kann, bedarf es als Voraussetzung der Vermittlung von Maßstäben und inneren Werten, die eine säkulare Gesellschaft nicht selber garantieren kann. Das „Kruzifix-Urteil“ des Bundesverfassungsgerichtes vom 16. Mai 1995 unterstreicht mit Recht: „Auch ein Staat, der die Glaubensfreiheit umfassend gewährleistet und sich damit selber zu religiös-weltanschaulicher Neutralität verpflichtet, kann die kulturell vermittelten und historisch verwurzelten Wertüberzeugungen nicht abstreifen, auf denen der gesellschaftliche Zusammenhalt beruht und von denen auch die Erfüllung seiner eigenen Aufgaben abhängt. Der christliche Glaube und die christlichen Kirchen19 sind dabei … von überragender Prägekraft gewesen. Die darauf zurückgehenden Denktraditionen, Sinnerfahrungen und Verhaltensmuster können dem Staat nicht gleichgültig sein.“20

Der Gottesbezug in der Präambel des Grundgesetzes hat – wie aus dem letzten Zitat ersichtlich ist – auch nicht „eine allgemeine philosophische Bindung an ein höheres Wesen im Sinne der Natürlichen Theologie“21 im Auge, sondern „angesichts der Biographie der Grundgesetzväter und ihrer Verankerung im abendländischchristlichen Denken“22 wohl den christlichen Gott. Dies lässt sich aus verschiedenen Länderverfassungen ebenso ablesen, die im selben Zeitraum entstanden23 sind. Gleichwohl ist „der Bedeutungsgehalt der Präambel nur in Übereinstimmung mit dem grundgesetzlichen Religionsverfassungsrecht zu bestimmen“24, d. h. mit dem Prinzip der religiös-weltanschaulichen Neutralität des Art. 4 GG. Diese ist aber 18

Arnd Uhle, Freiheitlicher Verfassungsstaat und kulturelle Identität, Tübingen 2005, S. 304. 19 Das Grundgesetz spricht nicht von Kirchen, sondern in Art. 7 Abs. 3 von „Religionsgemeinschaften“ und ansonsten in den inkorporierten Artikeln der Weimarer Reichsverfassung von „Religionsgesellschaften“. Das Verhältnis von Kirchen bzw. Religions-/Weltanschauungsgemeinschaften und Staat „ist das einer balancierten Trennung, in welcher nicht nur auf die Besonderheit dieser Gemeinschaften im Unterschied etwa zu säkularen Gruppen Rücksicht genommen wird, sondern insbesondere der Öffentlichkeitsanspruch, der für die den monotheistischen Offenbarungsreligionen zugehörigen Kirchen und Religionsgemeinschaften typisch ist, respektiert wird“ (Tine Stein, Himmlische Quellen und irdisches Recht. Religiöse Voraussetzungen des freiheitlichen Verfassungsstaates, Frankfurt a.M./New York 2007, S. 274). 20 BVerfGE 93 (1), S. 22. 21 Wilfried Lagler, Gott im Grundgesetz und in der EU-Verfassung, in: http://tobias-lib.uni-tuebingen.de/volltexte/2009/4166/pdf/Gottesformel.pdf (Stand: 25. 8. 2011), S. 3. 22 Ebd. 23 Das Adjektiv „christlich“ steht z. B. in Art. 131 Abs. 2 BayVerf vom 2. 12. 1946; Art. 26 Abs. 1 und Art. 30 SaarlVerf vom 15. 12. 1947; Art. 1 Abs. 1 und Art. 12 Abs. 1 B-WVerf vom 11. 11. 1953. 24 Stein, Himmlische Quellen (Anm. 19), S. 286.

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durch den Gottesbezug in der Präambel nicht verletzt, da zum einen dort keine exklusive Identifikation mit dem Gott der Christen erfolgt – einen Theologen stört die unspezifische Rede von Gott –, und zum anderen in der Formulierung „Im Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen“ zwar der religiös gebundene Bürger angesprochen ist, aber ohne demjenigen den Respekt zu verweigern, der diese Verantwortung nicht nachvollziehen kann. Die Verfassungsgebung in „Verantwortung vor Gott und den Menschen“ stellt den Vorgang in eine bewusste Kontinuität zur Geschichte und Kultur des Abendlandes25, die wesentlich, wenn auch nicht ausschließlich vom Christentum geprägt ist und damit zur Identität alle Europäer gehört. Zugleich wird mit dem Transzendenzvorbehalt26 die Verantwortung anerkannt, die „jenseits des Verfügungsbereichs selbst des verfassungsgebenden Souveräns liegt“27. Insbesondere ist das Bild vom Menschen vom Gottesbezug in der Präambel aus geprägt, der aus dem Gegenüber zu Gott seine unantastbare Würde empfängt.28 Tine Stein ist zuzustimmen: „Auch unter den Bedingungen der religiösen und weltanschaulichen Neutralität [des Staates, Verf.] kommt dem von den biblischen Erzählungen ausgehenden Menschenbild eine fortdauernde politische Bedeutung zu.“29 Die nominatio Dei ist jedenfalls mehr als eine bloße Demutsformel angesichts der irdischen Unvollkommenheit des Menschen30 oder gar nur eine pathetische, aber doch unerhebliche Dekoration im Vorspruch des Grundgesetzes. Sie weist hin auf die fundamentalen Wurzeln desselben, die im Metaphysischen liegen. Dadurch wollten die Verfassungsgeber auch eine bewusste Abgrenzung zur vorangegangenen Staats- und Gesellschaftsordnung der Nazis „ohne Ehrfurcht vor Gott“ markieren. In Präambeln werden Verfassungsvoraussetzungen benannt und damit „zum mitbedachten Inhalt des Verfassungsrechts gemacht, um ihnen rechtlichen Gehalt, nicht aber die Verbindlichkeit eines Rechtssatzes zu geben“31. In der deutschen Verantwortungsformel wird die „Grundmelodie des Grundgesetzes … angestimmt“32, die dem operativen Teil des Grundgesetzes 25

Vgl. Uhle, Freiheitlicher Verfassungsstaat (Anm. 18), S. 306. Hans-Peter Schneider, ,Gott im GrundgesetzÐ? Muss ein zukünftiges Religionsverfassungsrecht auf Gottestexte verzichten?, in: Wolfgang Greive (Hrsg.), Gott im Grundgesetz? (Loccumer Protokolle 14/1993), Loccum 1994, S. 10 – 19, hier S. 17. 27 Stein, Himmlische Quellen (Anm. 19), S. 293. 28 Vgl. Wolfgang Huber, Der christliche Glaube und die politische Kultur in Europa, in: Dalferth, Verfassungen (Anm. 11), S. 45 – 60, hier S. 48. 29 Stein, Himmlische Quellen (Anm. 19), S. 297. 30 Erklärung der Deutschen Bischofskonferenz zum 50. Jahrestag der Unterzeichnung der Römischen Verträge vom 15. 3. 2007, in: Sekretariat der DBK (Hrsg.), Europa: In Verantwortung vor Gott und den Menschen. Texte zum 50. Jahrestag der Unterzeichnung der Römischen Verträge (Stimmen der Weltkirche – Europa 39), Bonn 2007, S. 7 – 15, hier S. 15: „… dass alles menschliche Handeln endlich, dass keine Politik absolut ist. Dies will der Gottesbezug einer Verfassung deutlich machen.“ 31 Paul Kirchhof, Religion und Bildung im freiheitlichen Verfassungsstaat (Eichstätter Universitätsreden 112), Wolnzach 2004, S. 5 – 21, hier S. 17. 32 Christian Hillgruber, Über den Sinn eines Gottesbezuges in einer künftigen Verfassung Europas, in: Die Wolfsburg (Hrsg.), Eine zweite Chance für Gott? Der Streit um den Gottes26

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„ein rechtliches Fundament gibt, das für ihre Handhabung eine Auslegungshilfe, für die Inhalte und die Wahrnehmung der Freiheitsrechte eine Grundorientierung bietet“33. Nicht von ungefähr hat das Bundesverfassungsgericht den rechtlichen Gehalt der Präambel für die Interpretation der ihr folgenden Verfassungsnormen in mehreren Urteilen34 unterstrichen. IV. Menschenwürde im Grundgesetz Wenn das deutsche35 Grundgesetz die Garantie der Menschenwürde in Art. 1 Abs. 1 an seinen prominenten Anfang stellt, so trifft es damit eine Grundentscheidung, die das gesamte Regelwerk als Bezugspunkt durchzieht. „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt“, so heißt es dort. Die Menschenwürde wird als normativ offen und dennoch mit absoluter Geltung („unantastbar“) ausgestaltet, weshalb es ein Abwägen mit anderen Rechtsgütern selbst von Grundrechtsrang nicht geben kann. Jeder Eingriff in den Schutzbereich ist bereits eine Antastung der Menschenwürde und damit ein Verfassungsverstoß; eine Legitimierung desselben durch Geltendmachung widerstreitender Interessen, und seien diese auch in einem Einzelgrundrecht verbürgt, ist nicht möglich. Abgewogen werden darf nur, wenn Würde gegen Würde steht. Die staatliche Ordnung hat für sie eine Achtungsund Schutzpflicht.36 Denn offensichtlich ist der Achtungsanspruch verletzbar. Der verfassungsrechtliche Schutz der Menschenwürde im GG geht sogar soweit, dass sie in Art. 79 Abs. 3 GG von einer sonst möglichen Verfassungsänderung ausgenommen ist; sie gehört zu den irreversiblen Bestandteilen des Grundgesetzes. Die Wissenschaft hat für diese herbezug in der EU-Verfassung (Dokumentation einer Veranstaltung der Katholischen Akademie des Bistums Essen am 26. März 2007), Mühlheim an der Ruhr 2007, S. 15 – 21, hier S. 19. 33 Kirchhof, Religion (Anm. 31), S. 18. 34 Vgl. BVerfGE 41, S. 29 (52); 41, S. 65 (84); 52, S. 223 (237); 93, S. 1 (23). 35 In Österreich enthält lediglich das „Bundesverfassungsgesetz über den Schutz der persönlichen Freiheit“ vom 29. 11. 1988 in Art. 1 Abs. 4 eine Konkretisierung des Schutzes der Menschenwürde: „Wer festgehalten oder angehalten wird, ist unter Achtung der Menschenwürde … zu behandeln.“ Nach Philipp Wallau, Die Menschenwürde in der Grundrechtsordnung der Europäischen Union, Bonn 2010, S. 69, gewährleistet jedoch die Rechtsprechung des österreichischen Verfassungsgerichtshofs die Menschenwürde als „allgemeinen Wertungsgrundsatz“ der Rechtsordnung des Nachbarlandes. Das „Bundes-Verfassungsgesetz“ (B-VG) Österreichs enthält nicht wie das deutsche Grundgesetz das vollständige Verfassungsrecht der Nachbarrepublik, vielmehr existieren viele „Bundesverfassungsgesetze“ mit Verfassungsbestimmungen, die freilich auch in Einzelgesetzen stehen können und dennoch zum Verfassungsrecht Österreichs gehören. Überblick auf: http://www.verfassungen.de/at/leistebvg.htm (Stand: 29. 8. 2011). 36 Hans J. Sandkühler, Menschenwürde und die Transformation moralischer Rechte in positives Recht, in: ders. (Hrsg.), Menschenwürde. Philosophische, theologische und juristische Analysen, Frankfurt a.M./Berlin/Bern/Bruxelles/New York/Oxford/Wien 2007, S. 57 – 86, hier S. 60: „Wäre Würde eine substantielle Entität, also ein sich selbst verwirklichendes und erklärendes Seiendes, dann bedürfte sie keines Schutzes. … Würde wird zum Thema, weil es in der geschichtlichen Dynamik menschlichen Lebens epistemischen und praktischen Dissens, Konflikt und Pluralismus gibt.“

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ausgehobene Wertigkeit mit einer erstaunlichen Selbstverständlichkeit einen eigentlich metaphysischen Begriff kreiert, den der „Ewigkeitsgarantie“. Aus der normativen Offenheit der Würdegarantie folgt, dass dieser Wert jedem einzelnen Menschen aufgrund seines Menschseins zukommt und das ganze Spektrum seines Tun und Lassens umfasst. Der Würdegarantie in Art. 1 Abs. 1 GG liegt die Entscheidung des Gesetzgebers zugrunde, den Menschen im Mittelpunkt staatlichen Handelns zu sehen und ihn vor elementaren Verletzungen seiner Würde zu schützen. Die Menschenwürde steht nach überwiegender Ansicht der Kommentatoren als objektiver Rechtsgrundsatz an der Spitze der Menschenrechte und ist zugleich ein eigenständiges Grundrecht. Doch wie ist die „Würde des Menschen“ inhaltlich zu füllen? Und wie ist sie begründbar? Ist sie in der Perspektive der Präambel ein religiös-metaphysisch begründetes normatives Apriori, abgeleitet aus der biblisch verankerten Gottebenbildlichkeit des Menschen? Oder ist sie eher vernunft-metaphysisch „begründet in ewigen Rechten, die das deutsche Volk als Grundlage aller menschlichen Gemeinschaft anerkennt“37 ? Oder einfach im autonomen Willen des Gesetzgebers verankert, der heute so gesatzt ist, aber morgen anders lauten kann? Hier stehen wir vor einer Schwierigkeit: Der Begriff „Würde des Menschen“ ist nirgendwo definiert. Er ist ein sog. offener Rechtsbegriff mit einem festen Kern, aber ansonsten durchaus variabel bestimmbar. Zwar kann man in Deutschland von einem breiten gesellschaftlichen Konsens hinsichtlich der grundlegenden Bedeutung der Menschenwürde ausgehen, dass nämlich jedem Menschen unabhängig von gesellschaftlichem Stand, ethnischer Herkunft, Geschlecht, Religion, Weltanschauung etc. die gleiche Würde zukommt, die ihm durch nichts und niemanden genommen werden kann. Doch was die Menschenwürde inhaltlich genau meint und wie weit sie reicht, scheint insbesondere durch die Entwicklungen der Biotechnik und -medizin, aber auch der aktiven Sterbehilfe oder der Erniedrigung und Misshandlung Gefangener (Guant‚namo) zunehmend diffuser zu werden. Folge der Unbestimmtheit des Begriffs Menschenwürde ist der Pluralismus in der Begründung derselben. Was den Schutz der Menschenwürde inhaltlich ausmacht, hat Günter Dürig bereits 1956 bahnbrechend für das deutsche Verfassungsrecht mit der kantianischen38 Objektformel ex negativo, also von beispielhaften Verletzungen her beantwortet: „Die Menschenwürde ist als solche getroffen, wenn der konkrete Mensch zum Objekt, zu einem bloßen

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Parlamentarischer Rat, 4. Sitzung des Ausschusses für Grundsatzfragen vom 23. 9. 1948, in: Eberhard Pikart/Wolfram Werner (Hrsg.), Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949. Akten und Protokolle 5/I, Boppard am Rhein 1993, S. 62 – 82, hier S. 75. Zum Weg der endgültigen Fassung von Art. 1 GG vgl. Thilo Rensmann, Wertordnung und Verfassung. Das Grundgesetz im Kontext grenzüberschreitender Konstitutionalisierung, Tübingen 2007, S. 28 – 32. 38 Sie lautet: „Handle so, dass du die Menschheit, sowohl in deiner Person als in der Person eines jeden anderen, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst“, in: Karl Vorländer (Hrsg.), Immanuel Kant. Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Hamburg 1957, S. 52. Zur Tragfähigkeit des Rekurses auf Kant in der Interpretation der Würdegarantie des Grundgesetzes vgl. Karl-E. Hain, Menschenwürde als Rechtsprinzip, in: Sandkühler, Menschenwürde (Anm. 36), S. 87 – 103, hier S. 91 – 93.

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Mittel, zur vertretbaren Größe herabgewürdigt“39, also gleichsam wie eine Sache behandelt und so seine Subjektqualität und Selbstzweckhaftigkeit prinzipiell in Frage gestellt wird. Die nähere Bestimmung des normativen Gehalts erfolgt also von Verletzungshandlungen her. Prototypisch werden in der Literatur z.B. Sklaverei, Menschenhandel, Deportation, Verfolgung, systematische Demütigung genannt. Oft wird aber die Würdemissachtung abstrakt charakterisiert, ob „die Identität eines Menschen gebrochen“, jemand „grundsätzlich wie ein Mensch zweiter Klasse behandelt“, „sein Achtungsanspruch als Mensch abgesprochen“, seine „prinzipielle Gleichheit mit anderen Menschen in Zweifel gezogen“40 wurde usw. Man tut sicher auch gut daran, zum Verständnis des genannten Begriffs entstehungsgeschichtlich die Vorstellungen der Mütter und Väter des Grundgesetzes heranzuziehen. Sie wollten als Reaktion auf die Barbareien totalitärer Systeme in den ersten fünf Jahrzehnten des letzten Jahrhunderts mit besonderen Verfassungsmechanismen eine erneute systematische Missachtung elementarster Menschenrechte und damit eine Wiederholung der gemachten leidvollen Erfahrungen verunmöglichen.41 In Abgrenzung zu den menschenverachtenden Systemen des deutschen Nationalsozialismus wie des sowjetischen Kommunismus erteilte die Menschenwürdegarantie an herausgehobener Stelle im Grundgesetz die ausdruckstärkste Absage an alle Versuche zur Schaffung des „neuen Menschen“ und an den Gedanken von lebensunwertem Leben. Als kontrafaktische Norm sollte sie verhindern, jemals wieder beim Menschsein zu differenzieren, wem Würde zukommt und wem nicht. In der Begründungsfrage lassen sich grob besehen bis zur Jahrtausendwende zwei Richtungen unterscheiden, die sog. Wert- oder Mitgifttheorie und die sog. Leistungstheorie. Bei ersterer stellt die Würde des Menschen eine inhärente, jedem Menschen zukommende Qualität dar, einen Wert, der entweder nach jüdisch-christlichem Ansatz in der Gottebenbildlichkeit des Menschen und dessen herausgehobener Stellung in der Schöpfungsordnung gründet oder der dem menschlichen Individuum von der Natur mitgegeben ist. Mit diesem Ansatz verwoben erscheint gelegentlich die im Humanismus und der Philosophie der Aufklärung fundierte, an der menschlichen Vernunft und Freiheit orientierte Variante, nach der im Anschluss an Immanuel Kant einem Menschen die Würde als absoluter innerer Wert aufgrund seiner sittlichen Autonomie zukommt. Die Würde ist nach beiden Sichtweisen dem Menschen stets angeboren, mit in die Wiege gelegt. Genau dies bestreitet die Leistungstheorie als Gegenauffassung mit ihrem soziologischen Verständnis von Menschenwürde. Nach Niklas Luhmann muss der Mensch sich seine Würde durch 39 Günter Dürig, Der Grundrechtssatz von der Menschenwürde. Entwurf eines praktikablen Wertsystems der Grundrechte aus Art. 1 Abs. I in Verbindung mit Art. 19 Abs. II des Grundgesetzes, in: AöR 81 (1956), S. 117 ff., hier S. 127; Neuabdruck in: Gerd Brudermüller/ Kurt Seelmann (Hrsg.), Menschenwürde. Begründungen, Konturen, Geschichte, Würzburg 2008, S. 173 – 187, hier S. 182. 40 Hans D. Jarras, in: ders./Bodo Pieroth (Hrsg.), Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland. Kommentar, München 112011, Art. 1, Rdnr. 11 f. 41 Bereits die Landesverfassungen von Bayern von 1946 (Art. 100 BayVerf), Hessen von 1946 (Art. 3 HessVerf), und Bremen von 1947 (Art. 5 Abs. 1 BremVerf) bekannten sich zur Achtung der Würde des Menschen. Zur Entstehungsgeschichte von Art. 1 Abs. 1 GG vgl. Stein, Himmlische Quellen (Anm. 19), S. 305 – 310.

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eine gelingende Selbstdarstellung erwerben, die „den Menschen in Kommunikation mit anderen zur Person werden lässt und ihn damit in seiner Menschlichkeit konstituiert“42. Würde gehört nach Luhmann nicht zur Naturausstattung des Menschen, sondern ist das Produkt seiner gelungenen Selbstdarstellung als individuelle Persönlichkeit.43 Konsequenz dieses Verständnisses von Menschenwürde ist, dass als Träger derselben nur derjenige in Betracht kommt, der die erforderliche Leistung erbringen kann. Würdelos wären damit z. B. Personen mit bestimmten schweren Behinderungen, Komatöse, oder der ungeborene Mensch. Diese Sicht ist jedoch nicht mit dem Verständnis von Menschenwürde in Art. 1 Abs. 1 GG vereinbar, das zwar normativ offen von der „Würde des Menschen“ spricht, aber gerade in dieser Ausdrucksweise ein Verständnis impliziert, wonach diese Würde ausnahmslos jedem Menschen kraft seines Menschseins zukommt und nicht als Ergebnis seiner geistigen oder körperlichen Entwicklung von Außenstehenden zuerkannt wird, also Ausdruck einer etwaigen Anerkennung durch Dritte ist. Das Bundesverfassungsgericht stellte klar: Menschenwürde „ist nicht nur die individuelle Würde der jeweiligen Person, sondern die Würde des Menschen als Gattungswesen. Jeder besitzt sie, ohne Rücksicht auf seine Eigenschaften, seine Leistungen und seinen sozialen Status. Sie ist auch dem eigen, der auf Grund seines körperlichen oder geistigen Zustands nicht sinnhaft handeln kann. Selbst durch ,unwürdigesÐ Verhalten geht sie nicht verloren. Sie kann keinem Menschen genommen werden“44. Würde beansprucht der Mensch allein deshalb, „weil er existiert, … mag er arm oder reich, Mann oder Frau, alt oder jung, Nobelpreisträger oder Taugenichts sein“45. Würde ist so gesehen fundamentaler als Freiheit, denn man bewahrt sie auch dann, wenn man seine Freiheit verliert oder verwirkt. Die unantastbare Menschenwürde als oberstes Prinzip und unabdingbares Fundament einer Staatsverfassung ist keineswegs – so zeigt uns die Erfahrung – ein überall selbstverständliches Gemeingut. Dass wir heute in der Kategorie der unverfügbaren Menschenwürde denken, hat sicher eine, wenn nicht die Hauptwurzel in der christlichen Tradition. Die Sicht des Menschen als Ebenbild Gottes ist wohl das stärkste Argument für die Unantastbarkeit der Menschenwürde, auch und gerade gegenüber einem Machthaber oder Staat, der sich selbst als Maßstab der Rechtsstaatlichkeit sieht und sich zum Herrn über Leben und Tod aufspielt. Damit aber ergibt sich ein innerer Zusammenhang zwischen der Menschenwürdegarantie des Art. 1 GG und dem in der Präambel enthaltenen Bekenntnis des Verfassungsgebers zu einer „Verantwortung vor Gott“. Selbst in einem säkularen Verständnis meint der Gottesbezug nicht weniger als das „uneingeschränkte Bekenntnis zu dem Verbot totaler Herrschaft und mithin zur prinzipiellen Begrenzung staatlicher Machtausübung in der Bindung an das Recht. So geht es im Gottesbezug der Prä42 Niklas Luhmann, Grundrechte als Institution. Ein Beitrag zur politischen Soziologie, Berlin 41999, S. 68 ff. 43 Ebd. 44 BVerfGE 87, S. 209 (228). Starck, in: Mangoldt/Klein/ders., GG (Anm. 6), Rdnr. 24 spricht von einem „soziologischen Missverständnis der elementaren Menschenwürdegarantie“ (Hervorhebung im Original). 45 Kirchhof, Religion (Anm. 31), S. 14.

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ambel ebenso wie bei der Garantie der Menschenwürde in Art. 1 GG um ein und das gleiche: Es gilt, mit dem Verbot der totalen Herrschaft die Rechtlichkeit von Herrschaft im staatlichen Gemeinwesen zu gewährleisten“46. Die Verantwortungsformel der Präambel ist zu verstehen als Absage „gegen jede Form von Totalitarismus47 und Ansprüchen menschlicher Allmacht“48. Darüber hinaus wird durch den Zusammenhang von Präambel und Art. 1 GG die Vorpositivität der Menschenwürde unterstrichen. Diese und ebenso die mit ihr verbundenen Menschenrechte hat der Mensch immer schon; sie kommen ihm nicht erst durch die Positivierung in der Verfassung zu. Ihr Geltungsgrund weist vielmehr über den bloßen Willen des Verfassungsgebers hinaus. Böckenförde ist zuzustimmen: „… von dem inhaltlichen Profil, das den Begriff der Menschenwürde im Bewusstsein der Verfassungsväter und -mütter kennzeichnete, (kann) bei seiner juristischen Interpretation nicht einfach abstrahiert oder abgewichen werden. Dies umso weniger, als es sich bei der Aufnahme der Menschenwürdegarantie um einen bewussten Gründungsakt im Blick auf die neu zu errichtende Verfassungsordnung handelte. Der Parlamentarische Rat wollte nicht eine mehr oder weniger leere begriffliche Hülse, die je von neuem und interdisziplinär inhaltlich aufgefüllt werden soll, als normatives Prinzip verbindlich machen und mit Unabänderlichkeit (Art. 79 Abs. 3 GG) ausstatten, sondern ein inhaltlich näher bestimmtes Fundament legen.“49

Das Erfragen und Feststellen des vor-positiven Fundaments ist somit „nichts anderes als ein notwendiger Teil der Inhaltsermittlung des Art. 1 Abs. 1 GG als positives Recht“50. Bei den Menschenrechten und den „nachfolgenden Grundrechten“51 sollte nach dem Willen der Väter und Mütter des Grundgesetzes klargestellt sein, woher diese kommen und in welchem Zusammenhang sie zur Würde des Menschen stehen. Die „unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechte“52 sind Konsequenz und Ausdruck der

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Hartmut Schiedermair, Die Menschenwürde als oberstes Konstitutionsprinzip in der Ordnung des Grundgesetzes, in: Martin Hochhuth (Hrsg.), Nachdenken über Staat und Recht. Kolloquium zum 60. Geburtstag von Dietrich Murswiek (Wissenschaftliche Abhandlungen und Reden zur Philosophie, Politik und Geistesgeschichte 59), Berlin 2010, S. 171 – 191, hier S. 190 f. 47 Zu diesem Aspekt instruktiv Joachim Kuropka, Invocatio Dei im 20. Jahrhundert. Totalitäre Erfahrung und die Grundlagen des Gemeinschaftslebens, in: Ulrich Köpf (Hrsg.), Wissenschaftliche Theologie und Kirchenleitung. Beiträge zur Geschichte einer spannungsreichen Beziehung. Für Rolf Schäfer zum 70. Geburtstag, Tübingen 2001, S. 351 – 363. 48 Jörg Winter, Staatskirchenrecht der Bundesrepublik Deutschland. Eine Einführung mit kirchenrechtlichen Exkursen, Neuwied/Kriftel 2001, S. 53. 49 Ernst-Wolfgang Böckenförde, Bleibt die Menschenwürde unantastbar?, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 10/2004, S. 1216 – 1227, hier S. 1223 f.; ebenso Starck, in: Mangoldt/Klein/ders., GG (Anm. 6), Rdnr. 7. 50 Böckenförde, Bleibt die Menschenwürde (Anm. 49), S. 1223. 51 Art. 1 Abs. 3 GG. 52 Art. 1 Abs. 2 GG.

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Menschenwürde. 1949 war es im Parlamentarischen Rat allgemeiner Konsens, dass die in den Art. 1–19 GG fixierten Rechte „auf vorstaatlichen Menschenrechten beruhen, also auf Rechten, die dem Menschen von Natur aus unverlierbar und unentziehbar zustehen, Rechten, die nicht der Staat verleiht, sondern die ihm vorausliegen, die er nur anerkennen kann, aber nicht schafft und nicht abschaffen darf. … Das deutsche Volk als der Verfassungsgeber erklärt mithin in Art. 1 Abs. 2 GG nach der nationalsozialistischen Unrechtsherrschaft wieder den Anschluss an die Idee vorstaatlicher und universelle Geltung beanspruchender Menschenrechte und knüpft damit der Sache nach an die naturrechtlich begründete europäisch-atlantische Menschenrechtstradition an.“53

Ein Effekt davon ist, dass die Menschen- und Grundrechte unabhängig von religiösen/weltanschaulichen oder naturrechtlichen Überzeugungen gelten und sogar gegen diese durchgesetzt54 werden können. Das Grundgesetz hat mit seinem Bekenntnis in Art. 1 Abs. 2 die Brücke zwischen der Menschenwürde, den in ihr verankerten und universell gültigen Menschenrechten und den kraft positiver Satzung geltenden Grundrechten geschlagen, es hat „etwas vor-positiv Vorhandenes in das positive Recht hineingenommen“55. Wenn und indem sich das Grundgesetz in Art. 1 Abs. 2 um der Menschenwürde willen (kausales „Darum“) zu „unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten“ bekennt, kommt darin ein für die Staatsgewalt unverfügbarer Kern zum Ausdruck. Menschen- wie Grundrechte gründen in der Personwürde des Menschen; diese fundiert die Grundrechte in toto. Die Menschenwürde ist als „höchster Rechtswert der verfassungsmäßigen Ordnung“56 den Menschenrechten vorangestellt. Menschen- wie Grundrechte dürfen sich in ihrer interpretativen Fortentwicklung nicht von diesem Begründungszusammenhang lösen. Die Abkoppelung würde die Gefahren einer Fehldeutung und eines „relativistischen Gesetzespositivismus“57 mit sich bringen, denen das Grundgesetz Deutschlands von Anfang an wehren wollte. Das Bundesverfassungsgericht bezeichnete die Menschenwürde zu Recht als „tragendes Konstitutionsprinzip im System der Grundrechte“58. Sie ist nicht eines unter mehreren, sondern das höchste und oberste Konstitutionsprinzip und das „konsentierte Fundament“59 derselben. Damit ist allerdings ein Bedeutungswandel der Grundrechte vor dem Hintergrund neuer Herausforderungen nicht ausgeschlossen. Bei aller Variationsbreite möglicher Interpretationen in der Zeit bleibt jedoch ein fester Kern unverrückbar gleich, und das sind die 53 Christian Hillgruber, Grundgesetz und Naturrecht, in: IKZ Communio 39 (2010), S. 167 – 177, hier S. 170. 54 Z. B. eine Bluttransfusion bei Zeugen Jehovas zur Rettung des menschlichen Lebens. 55 Böckenförde, Bleibt die Menschenwürde (Anm. 49), S. 1223. 56 BVerfGE 45, S. 187 (227); 109, S. 133 (149); 115, S. 118 (152); 117, S. 71 (89). 57 Georg Essen, Plädoyer für die Aufnahme eines Gottesbezuges in einen künftigen EUVerfassungsvertrag, in: Die Wolfsburg, Zweite Chance (Anm. 32), S. 9 – 14, hier S. 11. 58 BVerfGE 6, S. 32 (36); 45, S. 187 (227). 59 Rensmann, Wertordnung (Anm. 37), S. 17.

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dem Menschen kraft seines Menschseins zukommende Würde mit den daraus entspringenden Menschenrechten, die er immer schon hat und die nicht erst durch die Aufnahme in eine Verfassung ihren Geltungsgrund haben; dieser liegt vielmehr im Selbstzweck des Menschen, im „Dasein um seiner selbst willen“60 als Urgrund seiner Würde. Er darf keinem anderen Zweck vollkommen untergeordnet und so entwürdigt werden. Ihm kommt deshalb ein unbedingtes Lebensrecht zu und die Freiheit zu selbstbestimmtem und verantwortlichem Handeln. V. Relativierung der Menschenwürde Wie gesagt, das war Konsens 1949, ist es aber 50 Jahre später offensichtlich nicht mehr, wie eine von Matthias Herdegen im „Maunz/Dürig“, dem führenden Grundgesetz-Kommentar in dessen 42. Ergänzungslieferung (Februar 2003)61 vorgelegte Neukommentierung des Art. 1. Abs. 1 GG verdeutlicht. Menschenwürde ist für Herdegen ein rein positiv-rechtlicher Begriff. Der Bonner Staatsrechtler verneint die Übernahme eines vorpositiven Gehalts62 in der Menschenwürdegarantie. „Die im Parlamentarischen Rat verbreitete Ansicht, das Grundgesetz übernehme mit der Menschenwürdeklausel ,deklaratorischÐ einen Staat und Verfassung vorgeordneten Anspruch ins positive Recht, hat bis heute noch beachtliche Suggestionskraft und wirkt auch in metaphysischen Interpretationsansätzen fort. … Mit der Menschenwürdegarantie knüpft das Grundgesetz an eine dem Recht vorausliegende Dimension der menschlichen Person … an. Jedoch hat die Menschenwürde als Gegenstand einer Garantie des positiven Rechts notwendig einen Inhalt, der sich ganz aus juristischer Auslegung erschließt. Nicht die Menschenwürde, aber ihre Gewährleistung im und durch den Staat des Grundgesetzes ist eine Schöpfung des positiven Rechts. Für die staatsrechtliche Betrachtung sind demnach allein die (unantastbare) Verankerung im Verfassungstext und die Deutung der Menschenwürde als Begriff des positiven Rechts63 maßgeblich.“64 60

BVerfGE 88, S. 203 (252). Herdegen sei aus dem Chor der Kritiker herausgegriffen, weil er sich in seiner Interpretation der Menschenwürdegarantie am weitesten von der klassischen Sicht in Richtung Abwägungslösung bewegt und seine Position seit 2003 mit Emphase vertreten und präzisiert hat. Vgl. Matthias Herdegen, Deutungen der Menschenwürde im Staatsrecht, in: Brudermüller/Seelmann, Menschenwürde (Anm. 39), S. 57–66. Die folgenden Zitate aus Maunz/Dürig sind dem aktuellen Kommentar entnommen (Anm. 64). 62 Ähnlich z.B. Hasso Hoffmann, Die versprochene Menschenwürde, in: AöR 118 (1993), S. 353–377; Horst Dreier, in: ders. (Hrsg.), Grundgesetz. Kommentar I, Tübingen 1996 und 22004, Art. 1 Abs. 1 (gegen „Mitgifttheorie“ in christlicher Variante); Norbert Hoerster, Ethik des Embryonenschutzes. Ein rechtsphilosophischer Essay, Stuttgart 2002, S. 26 ff.; Reinhard Merkel, Forschungsobjekt Embryo. Verfassungsrechtliche und ethische Grundlagen an menschlichen und embryonalen Stammzellen, München 2002, S. 18; Stefan Huster, Die ethische Neutralität des Staates. Eine liberale Interpretation der Verfassung, Tübingen 2002; Sandkühler, Menschenwürde (Anm. 36), S. 77–79. 63 Starck, in: Mangoldt/Klein/ders., GG (Anm. 6), Rdnr. 3 kommentiert: „So richtig diese Aussage ist, so wenig stützt sie die Annahme, dass der Begriff ohne Rücksicht auf seine geistesgeschichtlichen Wurzeln verstanden und rechtsdogmatisch handhabbar gemacht werden kann. … Mit dem abwehrenden Hinweis auf ein von subjektiven Wertvorstellungen ge61

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Nach Herdegen spielt also der geistesgeschichtliche Hintergrund des Begriffs der Menschenwürde, den er aufzeigt, für dessen Verständnis und Interpretation als Rechtsnorm keine Rolle. Für ihn hat die Gewährleistung der Menschenwürde auch nichts Unverfügbares an sich; sie gilt nicht als Gabe oder Mitgift, sondern weil es der Verfassungsgeber so gewollt hat. Wenn jeder Mensch nach Herdegen auch einen kategorialen Anspruch auf Würde hat, umgesetzt in einem Mindestbestand an fundamentalen Grundrechten (Leben als vitale Basis der Menschenwürde, Freiheit, Gleichheit nach Artt. 1 – 3 GG), so qualifiziert er am Beispiel der Biomedizin und -technologie den Würdeanspruch und -schutz von Frühformen des menschlichen Lebens anders als den des ausgereiften und geborenen Menschen. Er spricht von einer „prozesshaften Betrachtung des Würdeschutzes mit entwicklungsabhängiger Intensität eines bestehenden Achtungs- und Schutzanspruches“65 und vertritt ein abgestuftes Konzept des Würdeschutzes. Eine Schlüsselpassage lautet: „Der kategorische Würdeschutz kommt allen Menschen als Person zu. Im Sinne der gebotenen Gesamtbetrachtung sind Art und Maß des Würdeanspruches für Differenzierungen durchaus offen, die den konkreten Umständen (wie besonderer Schutzbedürftigkeit) Rechnung tragen. Dabei geht es nicht um Stufungen der menschlichen Würde als solcher, sondern um eine situations-gebundene Konkretisierung des aus der Würde folgenden Achtungsanspruches. In diesem Sinne erweist sich die allen Menschen gleichermaßen zustehende Würde … als Relationsbegriff, der zur situationsgebundenen Konkretisierung zwingt.“66

Ernst-Wolfgang Böckenförde hat dieser Relativierung des bis dahin als absolut interpretierten Geltungsanspruch des Prinzips der Menschenwürde heftig widersprochen und das Abtrennen der Menschenwürdegarantie von ihrem geistesgeschichtlichen Hintergrund und vorpositiven Inhalt als gefährlich67 gebrandmarkt. „Die Menschenwürdegarantie wird beweglich und anpassungsfähig, büßt ihren Charakter als Fels in der Brandung ein gutes Stück weit ein. … Die Menschenwürde als rechtlicher Begriff wird so ganz auf sich gestellt, abgelöst (und abgeschnitten) von der Verknüpfung mit dem vorgelagerten geistig-ethischen Inhalt, der dem Parlamentarischen Rat präsent und für Dürig so wichtig war. Was hierzu zu sagen ist, wandert ab in den ,geistesgeschichtlichen HintergrundÐ, worüber kundig berichtet wird, aber ohne normative Relevanz. Die fundamentale Norm des Grundgesetzes geht der tragenden Achse verlustig.“68

Mit Böckenförde69 bleibt festzuhalten: „Menschenwürde“ ist ein metajuristischer Begriff, der als objektiver Rechtssatz und als subjektiver Grundrechtsanspruch zu leitetes Naturrecht kann man diese unverzichtbaren Interpretationsgrundlagen nicht beiseiteschieben.“ 64 Matthias Herdegen, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), Grundgesetz. Kommentar, Art. 1 Abs. 1, 55. Lfg. Mai 2009 (Stand: August 2011), Rdnr. 19 u. 20 (Hervorhebung im Original). 65 Ebd., Rdnr. 60 (Hervorhebung im Original). 66 Ebd., Rdnr. 54 (Hervorhebung im Original). 67 So auch Hillgruber, Grundgesetz (Anm. 53), S. 172. 68 Böckenförde, Bleibt die Menschenwürde (Anm. 49), S. 1218. 69 Vgl. Ernst-Wolfgang Böckenförde, Die Würde des Menschen war unantastbar. Abschied von den Verfassungsvätern. Die Neukommentierung von Art. 1 des Grundgesetzes markiert

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qualifizieren ist. Einziger Maßstab der Trägerschaft des verfassungsrechtlichen Höchstwertes ist das Menschsein. Biologisch beginnt dieses mit der Verschmelzung von Ei- und Samenzelle, hier ist der Ausgangspunkt der eigenen Existenz. Ab da ist bei der Zygote die Anlage vorhanden, ihr Potential aktiv zu entwickeln und sich als Mensch auszubilden. Ab hier greift auch der Würdeschutz unabhängig von Art70 und Zweck der Entstehung des menschlichen Lebens. Das Bundesverfassungsgericht unterstreicht in seiner Rechtsprechung: „Wo menschliches Leben existiert, kommt ihm Menschenwürde zu. … Die von Anfang an im menschlichen Sein angelegten potentiellen Fähigkeiten genügen, um die Menschenwürde zu begründen.“71

Wenn jedoch nach Herdegen „der Verlauf des Entwicklungsprozesses und die Entwicklungsperspektiven … vor allem das Maß des gebotenen Würdeschutzes“72 prägen und der Schutz der Menschenwürde „in der Kontinuität der Entwicklung“73 gestuft möglich ist, d. h. der jeweiligen „Entwicklungsstufe pränatalen Lebens angemessen“74, wird der kategorische Würdeanspruch zur inhaltsleeren Rhetorik. Wie soll dieser aufrechtzuerhalten sein, wenn das Ausmaß des Schutzes von bestimmten Umständen abhängt? Entweder gilt die Unantastbarkeit der Menschenwürde vom Beginn menschlichen Lebens an „oder dieses Prinzip verliert seine Überzeugungskraft als normativer Bezugspunkt der Rechtsordnung. So wie der Gedanke eines abgestuften Lebensrechtes geeignet ist, das Lebensrecht selbst zu zerstören, so trägt auch die nur in abgestufter Form gewährte beziehungsweise die nur bedingte Anereinen Epochenbruch, in: FAZ 3. 9. 2003, S. 33 – 35; ders., Menschenwürde als normatives Prinzip. Die Grundrechte in der bioethischen Debatte, in: JZ 58 (2003), S. 809 – 815; ders., Menschenwürde und Lebensrecht am Anfang und Ende des Lebens, in: StdZ 133 (2008), S. 245 – 258. 70 In der Expertenanhörung zur Präimplantationsdiagnostik (PID) vor dem Gesundheitsausschuss des Deutschen Bundestages verneinte Herdegen eine „grundrechtlich gesicherte Lebensperspektive“ für künstlich erzeugte Embryonen (BT-Drucksache 17/5451). Herdegen (ähnlich Hildegund Holzheid, Embryonenschutz im Gesetz, in: zur debatte 2/2011, S. 12 – 13) stellte in seinem Gutachten Elternrecht und Selbstbestimmungsrecht der Frau gegen die Menschenwürde des Embryos. Zumindest der Embryo, dem nach einer PID keine Chance zum Weiterleben eingeräumt wird, ist ganz und gar Objekt, über sein eigenes Recht auf Leben verfügen andere Personen. Dies lässt sich nicht mit dem Gesetzesvorbehalt in Art. 2 Abs. 2 GG rechtfertigen, wonach Eingriffe in das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit zulässig sind, wenn dies zum Schutz anderer mindestens gleichgewichtiger Rechtsgüter erforderlich ist (Notwehr, finaler Rettungsschuss etc.). Diese Gleichgewichtigkeit ist bei der PID nicht gegeben. Mit Starck, in: Mangoldt/Klein/ders., GG (Anm. 6), Rdnr. 102 ist festzuhalten: Da es kein Recht auf ein gesundes Kind gibt, steht Eltern auch nicht das Recht zu, „Embryonen unter dem Vorbehalt eine Prüfung zu erzeugen und gegebenenfalls zu verwerfen und damit über den Lebenswert menschlichen Lebens zu entscheiden.“ 71 BVerfGE 39, S. 1 (41). 72 Herdegen, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz (Anm. 64), Rdnr. 64 (Hervorhebung im Original). 73 Ebd., Rdnr. 69. 74 Ebd., Rdnr. 71 (Hervorhebung im Original).

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kennung der Menschenwürde bereits den Kern ihrer völligen Erosion in sich“75. Herdegens Interpretation der Menschenwürde steht zudem in einer deutlichen Spannung zur Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, das die absolute Unverletzlichkeit der Menschenwürde dadurch betont, dass es im Gegensatz zu den Grundrechten durchgehend keine Prüfung der Verhältnismäßigkeit vornimmt, sobald eine Handlung als die Menschenwürde affizierend festgestellt ist. VI. Präambel und Garantie der Menschenwürde im EU-Recht Bekanntlich war die Formulierung der Präambel des Vertragswerkes von Lissabon vom 13. Dezember 2007 in den Beratungen unter anderem wegen der Frage eines Gottesbezuges lange umkämpft und schwierig. Der schließlich erreichte Minimalkonsens kann nur bedingt befriedigen, wenn dort als zweiter Erwägungsgrund eingefügt wurde: „SCHÖPFEND aus dem kulturellen, religiösen und humanistischen Erbe Europas, aus dem sich die unverletzlichen und unveräußerlichen Rechte des Menschen sowie Freiheit, Demokratie, Gleichheit und Rechtsstaatlichkeit als universelle Werte entwickelt haben, …“76

Demgegenüber kennt die Verfassung manches (außer)europäischen Landes deutlich stärker ausgeprägte Gottesbezüge77, ja sogar Anrufungen78 Gottes. Hier spiegelt sich nicht nur die unterschiedliche Entwicklung des Staat-Kirche-Gesellschaft-Verhältnisses in den Ländern der Union wieder, sondern noch mehr die sehr späte Forderung nach einem expliziten Gottesbezug oder auch nur einer Berufung auf das christliche Erbe des Abendlandes in den gemeinsamen Werten des EU-Vertrages von Lissabon 75

Stein, Himmlische Quellen (Anm. 19), S. 326. Zur Geschichte der Präambel vgl. Heinrich Hoffschulte, Christliches Menschenbild und Gottesbezug in der Verfassung der Europäischen Union, Münster 2004, S. 49 – 72. Der Text erlaubt nach ihm die Auslegung, „dass das religiöse Erbe Europas, das ganz wesentlich christlich geprägt ist, als eine vorverfassungsrechtliche Werteordnung bei allem Handeln der EU zu respektieren ist“ (ebd., S. 53). Essen, Plädoyer (Anm. 57), S. 12, hält die Formulierung für einen „Schwächeanfall rechtsphilosophischer Vernunft“. 77 Präambel der Polnischen Verfassung vom 2. April 1997: „… beschließen wir, das Polnische Volk – alle Staatsbürger der Republik, sowohl diejenigen, die an Gott als die Quelle der Wahrheit, der Gerechtigkeit, des Guten und Schönen glauben, als auch diejenigen, die diesen Glauben nicht teilen, sondern diese universalen Werte aus anderen Quellen ableiten …“ Zum Gottesbezug der Polnischen Verfassung vgl. Hoffschulte, Christliches Menschenbild (Anm. 76), S. 31 – 36. Außereuropäisches Beispiel ist die Präambel des kanadischen Constitution Act von 1982: http://www.solon.org/Constitutions/Canada/English/ca_1982.html (Stand: 29. 8. 2011). 78 Z. B. die Schweiz, Griechenland und Irland. Nachweise bei Lagler, Gott (Anm. 21), S. 9. Zur inhaltlichen Bedeutung des Gottesbezuges (auch in den Verfassungspräambeln weiterer Länder) vgl. Stein, Himmlische Quellen (Anm. 19), S. 280 – 297; für die Schweiz vgl. Matthias Zeindler, „Im Namen Gottes des Allmächtigen!“. Theologische Überlegungen zur Anrufung Gottes in der Präambel der Schweizerischen Bundesverfassung, in: Jakob Frey/ Dieter Kraus/Wolfgang Lienemann/Ren¦ Pahud de Mortanges/Christoph Winzeler (Hrsg.), Schweizer Jahrbuch für Kirchenrecht 2000, Bern/Berlin/Bruxelles/Frankfurt a.M./New York/ Oxford/Wien 2000, S. 47 – 71. 76

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und das Unvermögen, die Sinndimension des Gottesbezuges in einer Verfassungspräambel einsichtig zu machen. Die Berufung unter anderem auf das religiöse Erbe nimmt zwar Bezug auf konkrete Erfahrungen von Christen, Juden, Muslimen und anderen Religionsgemeinschaften, die Europa mehr oder weniger stark geprägt haben, und damit indirekt auch auf Gott, ohne dieses Wort zu verwenden. Eine Berücksichtigung der „überragenden Bedeutung der Gottesidee“79 als lebendige Quelle, aus der sich die Gegenwart Europas auch heute speist, stelle ich mir sprachlich anders vor. Die „Achtung der Menschenwürde“ als Grundwert der Europäischen Union wird in Art. 2 Satz 1 des Vertrags von Lissabon80 erstmals rechtsverbindlich normiert. Sie steht dort an erster Stelle aller Grundwerte und ist sozusagen deren Leitwert, wenn es heißt: „Die Werte, auf die sich die Union gründet, sind die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte einschließlich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören.“

Im Hinblick auf das auswärtige Handeln der Union wird die „Achtung der Menschenwürde“ in Art. 21 EU-Vertrag als leitender Grundsatz vorgestellt, allerdings den drei Fundamentalprinzipien Demokratie, Rechtsstaatlichkeit sowie „universelle Gültigkeit und Unteilbarkeit der Menschenrechte und Grundfreiheiten“ nachgeordnet. Eine herausragende Stellung erfährt die Menschenwürde in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GrCh). Mehrfach ist dort von ihr die Rede. In Abs. 2 Satz 1 der Präambel zur GrCh spricht die Union zunächst vom „Bewusstsein ihres geistig-religiösen und sittlichen Erbes“ und bestätigt dann, dass sie sich gründet „auf die unteilbaren und universellen Werte der Würde des Menschen, der Freiheit, der Gleichheit und der Solidarität.“ Als Leitwert der EU wird die Menschenwürde in Abs. 2 Satz 3 derselben Präambel veranschaulicht, wonach die Union „den Menschen in den Mittelpunkt ihres Handelns“ stellt. Die „fundamentale Signifikanz der Menschenwürdegarantie für die EU-Grundrechtsordnung“81 verdeutlicht jedoch nichts stärker als die Überschrift „Würde des Menschen“ über dem ersten Titel der GrCh. Dies bedeutet, „dass die Unionsgrundrechte des ersten Kapitels [gemeint ist Titel I; Verf.] der Grundrechtecharta mit der Menschenwürdegarantie in einem engen sachlichen Zusammenhang stehen, wenn nicht gar unmittelbar aus ihr abzuleiten sind und mithin spezialrechtliche Konkretisierungen der Menschenwürdegarantie darstellen“82. Der erste Artikel in diesem Titel normiert zudem mit unüberseh79 Gerhard Robbers, Kirche in Europa. Die Relevanz des europäischen Gemeinschaftsrechts für das kirchliche Handeln, in: Praktische Theologie 43 (2008), S. 208 – 215, hier 208. 80 Es verwundert, dass die Menschenwürde nicht schon früher expressis verbis in Rechtstexte der Union aufgenommen wurde, z. B. in die Menschenrechtskonvention (EMRK), war sie doch in der Präambel der Verfassung Irlands vom 1. 7. 1937 bereits genannt worden (Nachweise bei Starck, in: Mangoldt/Klein/ders., GG [Anm. 6], Rdnr. 2 und Uhle, Freiheitlicher Verfassungsstaat [Anm. 18], S. 141). Ob es die dortige Verbindung mit ihren christlichen Grundlagen war, die auf europäischer Ebene vor einer Rezeption zurückschrecken ließ? 81 Wallau, Menschenwürde (Anm. 35), S. 52. 82 Ebd., S. 52, ähnlich S. 128.

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barem Anklang an das Grundgesetz der BRD die Menschenwürde nicht nur als objektiven Rechtsgrundsatz, sondern auch als eigenständiges und einschränkungsloses Individualgrundrecht. Er lautet: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie ist zu achten und zu schützen.“83 Im Unterschied zum deutschen Grundgesetz erfährt die Menschenwürde in der EU-Grundrechtecharta freilich eine differenziertere Ausgestaltung, da mehr würderelevante Ausprägungen eine eigenständige Konkretisierung erfahren. VII. Fundamentalnorm oder eigenständige Gewährleistungen? Der von Philipp Wallau durchgeführte Rechtsvergleich84 in allen Mitgliedstaaten der Europäischen Union hat ans Licht gebracht, dass die Würde des Menschen fast überall in der Verfassung verankert oder zumindest im Wege der Rechtsprechung anerkannt ist. „Doch trotz dieser Anerkennung lässt sich unionsweit kein einheitliches Verständnis über den Inhalt der Menschenwürde oder über seine normative Durchsetzung erzielen. … So fungiert in einigen Rechtsordnungen der Menschenwürdegrundsatz in der Präambel bloß als unverbindlicher Grundsatz und genießt damit keine garantierte Verwirklichung in der Verfassungspraxis. In anderen werden lediglich bereichsspezifische Aspekte des Menschenwürdegrundsatzes in eigenständigen Grundrechten positiv-rechtlich normiert. In wieder anderen wird die Menschenwürde sowohl als einschränkungsloses Grundrecht als auch als objektiver Rechtsgrundsatz gewährleistet.“85

Da zudem die Würdegarantie in den nationalen Rechtsordnungen der EU-Mitglieder, wenn sie schon normiert ist, meist ohne geistesgeschichtliche Begründung und Definition ihres Inhalts angeführt wird, bleibt sie inhaltlich vielfältig auslegbar. Eine europaweite „herrschende Meinung“ im Verständnis dieses Begriffs ist so gesehen nahezu unmöglich. Nach Art. 1 GrCh ist die Menschenwürde „unantastbar, … zu achten und zu schützen.“ Auch hier finden wir keine Definition, was die Menschenwürde im Rechtssinne ausmacht. Ein solcher Ansatz wäre vermutlich allzu fragmentarisch geblieben und aufgrund der weltanschaulich oder kulturspezifisch bedingten Diversität der Menschenwürdegewährleistung in den Mitgliedstaaten der EU nicht konsensfähig. Es wird – wie im nahezu identischen Art. 1 Abs. 1 GG – rigide die absolute Unantastbarkeit festgestellt und eine Achtungs- und Schutzpflicht für sie auferlegt. Letztere setzt logisch die Menschenwürde voraus, d.h. diese wird nicht erst durch die juristische Normierung begründet. Sie ist ein der Rechtsordnung vorgelagertes Elementarprinzip, eine „,anthropologische PrämisseÐ, die … jedem einzelnen lebenden Menschen kraft seines Menschseins – ohne Differenzierung 83 Der unverkennbare Anklang an Art. 1 Abs. 1 GG ist vor allem auf den Einfluss des früheren Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts und späteren Bundespräsidenten Roman Herzog als dem Präsidenten des ersten EU-Konvents sowie auf Jürgen Meyer als Vertreter des Deutschen Bundestages in beiden EU-Konventen zurückzuführen. 84 Vgl. Wallau, Menschenwürde (Anm. 35), S. 61 – 77. 85 Ebd., S. 75 – 76. Lediglich in Deutschland, Polen (Artt. 30 und 233 Abs. 1 PolnVerf) und Ungarn (Art. 54 Abs. 1 UngVerf) wird die Menschenwürde als unantastbar und damit einschränkungslos gewährleistet.

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und unabhängig von einer mitmenschlichen Anerkennung oder einer eigenen würdekonstituierenden Leistung – zukommt“86. Hinsichtlich des Zeitpunktes, wann der Würdeschutz greift, gilt das Gleiche wie in der deutschen Rechtsordnung: Er gilt für die früheste Form menschlichen Lebens. In der Frage des pränatalen Würde- und Lebensschutzes ist freilich der Widerspruch zur Heterogenität mancher mitgliedstaatlichen Rechtsordnung nicht zu übersehen, der im Hinblick auf die inhaltliche Reichweite von Art. 1 GrCh einer Klärung bedarf.87 Aufgrund der oben erwähnten herausgehobenen Stellung der Menschenwürde in der Präambel, in der Überschrift des ersten Titels und im ersten Artikel der europäischen Grundrechtecharta folgert Wallau zu Recht, dass die Menschenwürde inhaltlich und hinsichtlich ihrer Bedeutung den spezielleren Gewährleistungen in den Grundrechten vorgelagert ist. Da aber in der europäischen Grundrechtecharta viele würderelevante Aspekte eine eigenständige grundrechtliche Konkretisierung erfahren – beispielsweise der komplexe Bereich der Biomedizin in Art. 3 Abs. 2 GrCh –, ist nach Wallau der Gewährleistungsgehalt der Menschenwürdegarantie in Art. 1 GrCh beschränkt auf besonders eklatante Verletzungen eines speziellen Grundrechts der Charta – dann quasi kumulativ mit der speziellen Gewährleistung der Menschenwürde und als Ausdruck des gesteigerten Unrechts – oder auf eine Würdeverletzung, die nicht „von der sachlichen Reichweite eines spezielleren Unionsgrundrechts erfasst wird“88. Dass die Maßstabsfunktion des Art. 1 GrCh durch den so enggeführten Anwendungsbereich der EU-Würdegarantie nicht marginalisiert wird, wie Wallau meint, vielmehr ihr eigentlicher Charakter als „tragendes Konstitutionsprinzip“ der EU-Rechtsordnung dadurch sogar noch verdeutlicht erscheint, überzeugt nicht. Art. 1 GrCh würde dann zwar immer noch grundsätzlich die „Subjektqualität des Menschen vor elementaren Gefährdungen“89 schützen, aber die Norm hätte nur noch die Funktion einer „grundrechtlichen Reservegarantie“90. Darin steckt m.E. eine deutliche Einschränkung: Art. 1 GrCh und damit der „Leitwert“ der Unionsrechtsordnung mutiert zu einer in der Rechtspraxis reduzierten Ersatznorm, falls nämlich der würderelevante Komplex nicht aus Art. 1 GrCh „abgeschichtet“ ist. Denn wenn eine würderelevante Konkretisierung vorliegt, ist diese nach Wallau grundsätzlich als vorrangig und abschließend gegenüber Art. 1 GrCh anzusehen. Wie kann Art. 1 GrCh dann aber noch „normative Richtschnur für das Verhältnis der supranationalen Hoheitsgewalt zum Menschen“91 sein? Wie ist sicher zu stellen, dass die Menschenwürde in einer eigenständigen Spezialregelung „unter Wahrung der umfassenden Maßstabsfunktion … und damit unter Rückkoppelung an die spezifische Wertung des Art. 1 GrCh“92 erfolgt? Die Leitnorm in dieser 86

Wallau, Menschenwürde (Anm. 35), S. 127. Die Grundsatzentscheidung der GmbH vom 18. 10. 2011 (Rs. C-34/10) zur Patentierung embryonaler Stammzellen konnte hinsichtlich ihrer Auswirkung auf den Schutz der Menschenwürde nicht mehr berücksichtigt werden. 88 Wallau, Menschenwürde (Anm. 35), S. 301. 89 Ebd. 90 Ebd., S. 301 u. 310. 91 Ebd., S. 301. 92 Ebd., S. 308. 87

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Interpretation als „Rechtsgrund für die Gewährleistung der Menschenwürde in spezielleren und eigenständigen Unionsgrundrechten“93 zu bezeichnen, erscheint wenig fundiert; selbst anzuwendende Grundnorm ist sie im Falle einer Abschichtung sowieso nicht. Gewiss ist es nicht ausreichend, in den gegenwärtigen Fragestellungen insbesondere der Biomedizin und -technologie die Menschenwürdegarantie nur ständig zu beschwören.94 Eine normative Antwort ist angesagt. Ob diese aber wie in Deutschland in einem komplexen Regelungsgefüge aus der allgemeinen Menschenwürdegarantie des Art. 1 Abs. 1 GG unmittelbar abgeleitet wird oder wie in Art. 3 Abs. 2 GrCh in eigenständigen Sonderregelungen für Biomedizin und -technologie gegeben ist, ist nur dann eine sekundäre Frage, wenn der Geltungsanspruch der Menschenwürde im Sinne eines normativen Apriori voll und ganz zum Tragen kommt. Denn auch in der nach Wallau fortschrittlichen Konzeption der EU-Grundrechtsordnung müssen die speziellen Konkretisierungen der Menschenwürde in nachgeordneten Normierungen den mit Art. 1 Abs. 1 GG identischen Würdestandard von Art. 1 GrCh erreichen. Andernfalls stünden die Spezifizierungen in Spannung zum „tragenden Konstitutionsprinzip“ und würden dieses inhaltlich entleeren; Art. 1 Abs. 1 GrCh hätte nur noch beschränkte Steuerungskraft, wenn Aspekte wie Schutz des Lebens (Art. 2 GrCh) oder der Unversehrtheit (Art. 3 GrCh) vom Menschenwürdeschutz entkoppelt wären. Das Prinzip der Unantastbarkeit der Menschenwürde muss aber heuristisches Prinzip und somit die Fundamentalnorm jeder Rechtsordnung und jedes Staatsgebildes sein, die auf „Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte“ gründen, „weil sie ein Apriori des Rechts und überhaupt des menschlichen Daseins ist“.95

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Ebd., S. 309. Ebd., S. 301 u. 308. Dieser Vorwurf an die deutsche „Rechtsordnung“ ist überzogen. Sofern Abschichtungen würderelevanter Aspekte in eigenständigen Normen des Grundgesetzes vorhanden sind, kommen diese zur Anwendung; wenn sie fehlen, bleibt nur Art. 1 Abs. 1 GG als Bezugsnorm. Nicht anders ist es in der GrCh. 95 Stein, Himmlische Quellen (Anm. 19), S. 303. 94

Der Gottesbezug in der Niedersächsischen Verfassung Von Felix Bernard I. Vorbemerkung Auf den ersten Blick scheint es nichts Besonderes zu sein, dass es – wie in den meisten Länderverfassungen der Bundesrepublik Deutschland auch – in der Präambel der Niedersächsischen Verfassung einen Gottesbezug gibt, d. h. näherhin eine Berufung auf die Verantwortung vor Gott (sog. „invocatio“ oder „nominatio dei“). Blickt man aber auf die Genese der Präambel mit Gottesbezug in der Verfassung des Bundeslandes Niedersachsen, dann wird deutlich, dass es wahrscheinlich die einzige Verfassung der Welt ist, der durch eine Volksinitiative eine Präambel mit Gottesbezug vorangestellt wurde. II. Die Vorläufige Niedersächsische Verfassung von 1951 Das Bundesland Niedersachsen wurde im Jahr 1946 durch eine Verordnung der Militärregierung Deutschland (Britisches Kontrollgebiet) geschaffen. Die vormals eigenständigen Länder Braunschweig, Hannover, Oldenburg und SchaumburgLippe wurden zusammengelegt.1 Als Landesregierung fungierte ein vom Militärgouverneur ernanntes Ministerium unter dem Vorsitz von Ministerpräsident Hinrich Wilhelm Kopf. Die Legislative lag beim „Ernannten Landtag“ aus 86 Abgeordneten. Seine konstituierende Sitzung fand am 9. Dezember 1946 statt. Mit Rücksicht auf seinen provisorischen Charakter arbeitete dieser Landtag keine Verfassung aus, sondern verabschiedete nur das von der Regierung am 10. Dezember 1946 eingebrachte „Gesetz zur vorläufigen Ordnung der Niedersächsischen Landesgewalt“, das am 11. Februar 1947 nach der Billigung durch den britischen Gebietsbeauftragten in Kraft trat. Dieses Gesetz stellte lediglich ein Organisationsstatut dar, das sich an der Weimarer Verfassung und der Verfassung des Freistaates Preußen von 1920 orientierte und die Befugnisse des 1 Zur Geschichte des Landes Niedersachsen siehe Heinrich Korte (Hrsg.), Verfassung und Verwaltung des Landes Niedersachsen, Göttingen 1962; Wilhelm Treue, Zur jüngsten deutschen Verfassungsgeschichte. Die Verfassung des Landes Niedersachsen und das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Hannover 1979; Hans-Peter Schneider, Verfassungsrecht, in: Heike Faber/Hans-Peter Schneider (Hrsg.), Niedersächsisches Staats- und Verwaltungsrecht, Frankfurt a. M. 1985, S. 44 – 104; Ullrich Schneider, Niedersachsen 1945. Kriegsende, Wiederaufbau, Landesgründung, Hannover 1985.

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Landtages und der Zentralbehörden abgrenzte und festlegte. Es sollte ursprünglich bis zum 31. Dezember 1947 gelten. Da die Verabschiedung einer Verfassung ausblieb, wurde es in der Folgezeit sechsmal verlängert. Es hat fast fünf Jahre gedauert, bis das Land Niedersachsen am 13. April 1951 seine erste Verfassung erhielt2, und zwar mit einer Besonderheit. In ihrem Titel trug sie den Hinweis „vorläufig“ und bestimmte in Art. 61 Abs. 2, dass sie ein Jahr nach Ablauf des Tages, „an dem das Deutsche Volk in freier Entscheidung eine Verfassung beschließt“, außer Kraft tritt. Die alte Niedersächsische Verfassung war also gebunden an den Vorbehalt, nur gültig zu sein bis ein Jahr nach der Wiedervereinigung Deutschlands. Als die Wiedervereinigung Deutschlands am 3. Oktober 1990 tatsächlich errungen war, begann das letzte „Lebensjahr“ der Niedersächsischen Verfassung. Die Verfassung von 1951 beschränkte sich auf eine knappe Regelung der Organisation der wichtigsten Einrichtungen des Staates. Sie war keine Vollverfassung und hatte weder einen Grundrechts- bzw. Menschenrechtskatalog noch eine Präambel. III. Die Niedersächsische Verfassung von 1993 Die deutsche Wiedervereinigung am 3. Oktober 1990 machte Novellierungen im Grundgesetz und in einigen Landesverfassungen notwendig. Aus der Präambel des Grundgesetzes mussten z. B. die deutschlandrechtlichen Aussagen gestrichen werden, die sich mit der Wiederherstellung der staatlichen Einheit Deutschlands erübrigt hatten. In Niedersachsen wurde mit der Wiedervereinigung das „Verfallsdatum“ der Verfassung, das in Art. 61 Abs. 2 der Niedersächsischen Verfassung bestimmt war, aktuell. Und schon eine Woche nach dem 3. Oktober 1990, am 10. Oktober 1990, setzte der Landtag in Hannover einen Sonderausschuss „Niedersächsische Verfassung“ ein und beauftragte ihn, eine endgültige Niedersächsische Verfassung zu erarbeiten.3 Nach allgemeiner Ansicht hatte sich die alte Verfassung bewährt, und darum gab es zwei unterschiedliche Ausgangspositionen für die Novellierung: Die einen wollten möglichst wenig Veränderung. Sie wollten eine knappe Institutionenverfassung erhalten. Andere wollten die Chance nutzen, in Deutschland zu einer umfassenden Verfassungsreform zu gelangen, die deutliche Veränderungen als Spiegelbild der gesellschaftlichen Veränderungen vornahm, die sich seit dem Anfang der Bundesrepu2 Vgl. Hans-Georg Aschoff, Der Gottesbezug in den Präambeln der deutschen Verfassungen, in: ders. (Hrsg.), Gott in der Verfassung. Die Volksinitiative zur Novellierung der Niedersächsischen Verfassung, Hildesheim 1995, S. 1 – 41, hier S. 21 – 26; Jörn Ipsen, Niedersächsische Verfassung. Kommentar, Stuttgart/München/Hannover/Berlin/Weimar/Dresden 2011, S. 1 – 11. Die Vorläufige Niedersächsische Verfassung ist am 1. Mai 1953 in Kraft getreten. 3 Zum Folgenden siehe auch: Die Verabschiedung der Niedersächsischen Verfassung. Hrsg. v. Präsidenten des Niedersächsischen Landtages, Hannover 21993.

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blik Deutschland vollzogen hatten. Sie wollten außerdem einer schleichenden Erosion der Zuständigkeiten, von Länderebenen weg in Richtung Bund und Europa, begegnen und die Weiterentwicklung des Verfassungsrechts durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes berücksichtigen. Schließlich hat der eingerichtete Sonderausschuss den Auftrag erhalten, Vorschläge zur Änderung der Vorläufigen Niedersächsischen Verfassung mit dem Ziel der Schaffung einer endgültigen Niedersächsischen Verfassung zu erarbeiten. Am Anfang seiner Arbeit stand die Anhörung von Sachverständigen, die sich über Änderungen der Vorläufigen Niedersächsischen Verfassung unter Berücksichtigung der Erfahrungen mit den geltenden Landesverfassungen und mit Blick auf die Stellung der deutschen Länder im Bund und in der Europäischen Gemeinschaft äußern sollten. Im September 1991 hörte der Sonderausschuss weitere 34 sachverständige Personen sowie Organisationen und Interessenverbände, darunter die Sozialpartner, die kommunalen Spitzenverbände, die Wohlfahrtsverbände und die öffentlich-rechtlichen Religionsgemeinschaften. Im folgenden Jahr legten die im Landtag vertretenen Fraktionen ihre Entwürfe für die neue Verfassung vor. Dabei zeigte sich, dass der gemeinsame Entwurf von SPD und Die Grünen eine umfassende Novellierung der alten Niedersächsischen Verfassung zum Ziel hatte, bei der ein vollständiger Grundrechts- bzw. Menschenrechtskatalog, umfassende Staatsziele, weitgehende plebiszitäre Elemente, die Gleichstellung von Mann und Frau, die Stärkung der kommunalen Selbstverwaltung und die Beschreibung der Aufgaben des Verfassungsgerichtshofes in Bückeburg wesentliche Neuerungen darstellten. Die CDU wünschte die alte Verfassung im Wesentlichen beizubehalten und nur an wenigen Stellen Ergänzungen vorzunehmen. Die FDP verfolgte ebenso dieses Ziel. Auch in Bezug auf eine Präambel gingen die Vorstellungen der Entwürfe auseinander. Während die Entwürfe der CDU und FDP keine Präambel vorsahen, wünschte der gemeinsame Entwurf von SPD und Die Grünen eine umfassende Präambel für die Verfassung. In ihr sollte an die vom Nationalsozialismus begangenen Gewalttaten erinnert, die Verantwortung der Deutschen betont und die Verpflichtung auf die Menschenrechte festgeschrieben werden. Bis zu Beginn der ersten Lesung im Plenum des Landtages verständigte sich der Ausschuss auf eine knappe Präambel, die im ersten Abschnitt die Herkunft des Landes Niedersachsen aus seinen Teilen beschreiben, im zweiten auf die Menschenrechte rekurrieren und im dritten Abschnitt den Anlass der Verfassungsänderung angeben sollte. Schon während der Ausschussberatungen und bei den Anhörungen hatten die Kirchen vorgetragen, dass sie in der Verfassung eine Berufung auf „die Verantwortung vor Gott und den Menschen“ wünschten, eine Formel entsprechend der des Bonner Grundgesetzes. Mit dieser Formel sollte zum Ausdruck gebracht werden, dass das positive Recht auch einer Verfassung auf ethischen Bezügen gegründet ist, auf einer letzten Bindung der Politik an Werte, die sich menschlichem Zugriff entziehen. Das Katholische Büro Niedersachsen in Hannover, die Verbindungsstelle der niedersächsischen Bischöfe zum Landtag und zur Landesregierung, gab im April 1992 fol-

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genden Text für eine Präambel der Niedersächsischen Verfassung in die politische Diskussion und an die verschiedenen Fraktionen des Landtages: „Im Bewusstsein der Verantwortung vor Gott und den Menschen, eingedenk der sich aus der deutschen Geschichte ergebenden besonderen Verpflichtung, in dem Bestreben, die Würde des Menschen zu achten und zu schützen und ein demokratisches, gerechtes und soziales Gemeinwesen zu schaffen, in der Verpflichtung, die Schöpfung zu bewahren und die natürlichen Lebensgrundlagen für künftige Generationen zu erhalten, in dem Willen, Willkür und Gewalt zu wehren und dem Frieden zu dienen, und entschlossen, als Land der Bundesrepublik Deutschland und Glied der europäischen Völkergemeinschaft zu wirken, gibt sich das Volk des Landes Niedersachsen in freier Selbstbestimmung diese Verfassung.“4

Nach der ersten Lesung beantragte die CDU-Fraktion, in die Präambel die Formel des Grundgesetzes von der „Verantwortung vor Gott und den Menschen“ aufzunehmen. Sie übernahm in ihrer Begründung weitgehend entsprechende Kommentare zur Präambel des Bonner Grundgesetzes, die die dort enthaltene Formulierung „im Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen“ als ethisches Fundament der gesamten Verfassung beschreiben. Die CDU wollte mit ihrem Antrag dem Wunsch der Kirchen entsprechen und warb noch einmal eindringlich dafür bei den anderen Landtagsfraktionen. Doch ohne Erfolg. Der Vorstoß der CDU im Verfassungsausschuss erhielt keine Mehrheit. Bei Stimmenthaltung der FDP wurde er von den Fraktionen SPD und Die Grünen abgelehnt. Der Ausschuss verständigte sich darum auf den kleinsten gemeinsamen Nenner, nämlich den Verzicht auf jegliche Präambel. Am 13. Mai 1993 wurde die Niedersächsische Verfassung vom Landtag mit 149 Ja-Stimmen bei einer Gegenstimme beschlossen5 und am 19. Mai 1993 ausgefertigt und im Niedersächsischen Gesetz- und Verordnungsblatt verkündet. Sie trat am 1. Juni 1993 in Kraft. Mit ihr hatte „ein neues Kapitel in der Verfassungsgeschichte Niedersachsens begonnen.“6 Die Niedersächsische Verfassung wies eine Reihe von Neuerungen auf.7 Dazu gehörte die Aufnahme von Grundrechten und Staatszielen, wie der Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen; die Gleichberechtigung von Mann und Frau wurde stärker 4 Der Textentwurf ist datiert auf den 13. April 1992 und befindet sich im Archiv des Katholischen Büros Niedersachsen. 5 Die Gegenstimme stammt von dem Abgeordneten Clemens-August Krapp (CDU), Vechta, der damit seinen Protest gegen die Ablehnung des CDU-Antrages zur Ergänzung der Präambel (mit Gottesbezug) zum Ausdruck bringen wollte (vgl. Landtag – 12. Wahlperiode. Stenographische Berichte, S. 7516 ff.). 6 Ipsen, Niedersächsische Verfassung (Anm. 2), S. 482. 7 Vgl. dazu auch Heinzgeorg Neumann, Die Niedersächsische Verfassung. Handkommentar, Stuttgart/München/Hannover/Berlin/Weimar/Dresden 32000; Lothar Hagebölling, Niedersächsische Verfassung. Kommentar, Wiesbaden 22011.

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betont, und Möglichkeiten zu ihrer praktischen Verwirklichung durch gezielte Frauenförderung wurden geschaffen. Weitere Änderungen waren u. a. die Senkung des passiven Wahlalters auf 18 Jahre, die Verankerung der 5-Prozent-Klausel und die Verlängerung der Legislaturperiode auf fünf Jahre. Die Verfassung stärkt die Stellung des Landtages gegenüber der Exekutive durch die Ausweitung der Informationspflicht der Landesregierung; sie verbessert die Chancengleichheit der Opposition im Parlament und in der Öffentlichkeit, verschärft durch die Festlegung einer Zweidrittelmehrheit der gesetzlichen Zahl der Abgeordneten die Voraussetzungen für Verfassungsänderungen und erweitert durch das Recht der Gemeinden auf Verfassungsbeschwerde die Kompetenzen des Staatsgerichtshofes in Bückeburg. Die wohl am weitesten reichenden Neuerungen gegenüber der Vorläufigen Niedersächsischen Verfassung sind die Einführung von plebiszitären Elementen. Mit Hilfe von Volksinitiative (Art. 47), Volksbegehren (Art. 48) und Volksentscheid (Art. 49) sieht die Verfassung erstmals eine unmittelbare Beteiligung des Volkes an staatlichen Entscheidungen vor.8 IV. Die Verfassungsänderung durch die Volksinitiative „Verantwortung vor Gott und den Menschen“ Die öffentliche Reaktion auf die Verabschiedung der neuen Niedersächsischen Verfassung war zunächst verhalten. Die Frage nach dem Gottesbezug in einer Präambel dieser Verfassung war noch nicht erledigt. Einige Wochen nach der Verabschiedung der Verfassung schlugen die Professoren der Evangelischen Theologie an der Universität Osnabrück in einer öffentlichen Stellungnahme vor, das in der neuen Verfassung eröffnete Instrument der Volksinitiative zu nutzen, um doch noch eine Präambel mit Bezug auf die Verantwortung vor Gott und den Menschen als Anker der Niedersächsischen Verfassung zu formulieren.9 Es bildete sich daraufhin eine überkonfessionelle Initiative. Initiatoren und öffentliche Sprecher der Initiative waren auf katholischer Seite der Vorsitzende des Landeskatholikenausschusses, Heinz-Wilhelm Brockmann, auf evangelischer Seite Prof. Dr. Friedhelm Krüger und auf jüdischer Seite der Vorsitzende des Landesverbandes der Jüdischen Gemeinden von Niedersachsen, Rechtsanwalt Michael Fürst.10 Die „Volksinitiative ,Verantwortung vor Gott und den MenschenÐ in die Niedersächsische Verfassung“ startete im Oktober 1993 mit folgendem Aufruf: „Der Niedersächsische Landtag hat es mit Mehrheit abgelehnt, der neuen Niedersächsischen Verfassung eine Präambel voranzustellen, in der die Verantwortung vor Gott und den Men8 Siehe zu den plebiszitären Instituten: Ipsen, Niedersächsische Verfassung (Anm. 2), S. 305 – 326. 9 Vgl. Heinz-Wilhelm Brockmann, Verfassungsänderung durch Volksinitiative, in: Aschoff (Hrsg.), Gott in der Verfassung (Anm. 2), S. 42 – 63, hier S. 45. 10 Vgl. Brockmann, Verfassungsänderung (Anm. 9); Friedhelm Krüger, Gehört Gott in die Verfassung?, in: Aschoff (Hrsg.), Gott in der Verfassung (Anm. 2), S. 64 – 73; Michael Fürst, Stellungnahme von jüdischer Seite, in: ebd., S. 74 f.

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schen als letzte Richtschnur und Bindung für alles staatliche Handeln festgeschrieben wird. Im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland, in vielen Landesverfassungen und in Verfassungen anderer Staaten bedeutet diese Bindung ein Staatsziel, das alles staatliche Handeln und alle Politik grundsätzlich auf die Würde des Menschen verpflichtet. Zugleich wird damit festgeschrieben, dass Staat und Politik nur relative Macht besitzen. Sie sind gebunden an Ziele und Werte, die wir Menschen nicht festlegen können. Der Staat kann uns Menschen nicht total bestimmen. Viele Menschen aller Religionen und Weltanschauungen wissen sich dieser letzten Bindung der Politik verpflichtet. Sie möchten gerade heute diese Bindung für die Politik verstärken. Wir fordern darum den Niedersächsischen Landtag auf, der neuen Verfassung eine Präambel voranzustellen, die diese humane Grundorientierung der Politik zum Ausdruck bringt.“11

Die Initiative verkörperte primär ein Anliegen evangelischer, katholischer und jüdischer Laien und stellte eine „Aktion von unten“12 dar, die aber die volle Unterstützung der katholischen und evangelischen Bischöfe in Niedersachsen fand.13 Die Reaktion in den Medien war überwiegend positiv. Die kirchliche Presse in Niedersachsen berichtete fortlaufend und unterstützend über die Sammlung der notwendigen Unterschriften. Für viele Journalisten war es eine Überraschung, dass die erste Volksinitiative in Niedersachsen unmittelbar nach der Verabschiedung der Verfassung, die plebiszitäre Initiativen erst möglich machte, ein so grundsätzliches politisches Ziel zum Inhalt hatte.14 Bereits Anfang Dezember 1993 hatte die Volksinitiative das nach Art. 47 der Niedersächsischen Verfassung notwendige Quorum von 70.000 Unterschriften von Wahlberechtigten erreicht.15 Der große Erfolg ermutigte die Initiatoren, schon nach Abschluss der Sammelaktion in der Öffentlichkeit deutlich zu machen, dass sie im Falle eines Scheiterns ihrer Initiative keine Bedenken haben würden, das nächste Mittel anzuwenden, das ihnen nach der neuen Landesverfassung zur Verfügung stand, um ihr Anliegen durchzusetzen, nämlich ein Volksbegehren ins Leben zu rufen. Gemäß Art. 48 der Niedersächsischen Verfassung verlangt ein solches Volksbegehren, dass 10 Prozent der Wahlberechtigten des Landes Niedersachsen einen ausgearbeiteten, mit Gründen versehenen Gesetzentwurf unterstützen und dies mit ihrer Unterschrift dokumentieren. Das Volksbegehren hätte in Niedersachsen also rund 580.000 Unterschriften verlangt. Die Initiatoren meinten, dass sie ein solches Quorum im Bereich der Kirchen und der Jüdischen Gemeinden problemlos erreichen

11 Der Aufruf befindet sich im Archiv des Katholischen Büros Niedersachsen. Siehe zur Diskussion um die Frage „Gott im Grundgesetz?“ auch die Loccumer Protokolle 14/93, hrsg. v. Wolfgang Greive, Rehburg/Loccum 1994. 12 Brockmann, Verfassungsänderung (Anm. 9), S. 49. 13 Vgl. ebd., S. 54 f. 14 Vgl. ebd., S. 49. 15 Insgesamt wurden ca. 114.000 gültige Unterschriften geleistet, wie eine spätere Überprüfung des Innenministeriums ergab (vgl. Aschoff, Der Gottesbezug [Anm. 2], S. 34).

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könnten. Diese Ansicht wurde von Politikern sowie von den öffentlichen Medien nie bestritten.16 Im Landtag machte sich die CDU-Fraktion das Thema der Volksinitiative zu eigen. Und das war wichtig, denn nach Art. 47 der Niedersächsischen Verfassung war der Landtag nach einer erfolgreichen Volksinitiative lediglich zur Beratung, nicht aber zur Entscheidung des Gegenstandes verpflichtet. Bei der Einbringung eines Initiativantrages seitens einer Fraktion ist das Parlament jedoch zur Abstimmung gezwungen. Zusammen mit 7 FDP-Abgeordneten brachte die CDU-Fraktion einen Gesetzentwurf ein. Die Niedersächsische Verfassung sollte in ihrem „Ersten Abschnitt“ um folgenden Text ergänzt werden: „Präambel Im Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen hat sich das Volk von Niedersachsen diese Verfassung gegeben.“

Die Begründung lautete: „Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland, zahlreiche Landesverfassungen und Verfassungen anderer Staaten beinhalten eine Präambel mit gleichem oder ähnlichem Text. Diese Präambel bringt zum Ausdruck, dass der Verfassungsgeber die grundlegenden Gerechtigkeitspostulate anerkennt, die zu den Grundentscheidungen jeder menschlichen Ordnung gehören und nicht zu seiner Disposition stehen. Der Gottesbezug in der Verfassung ist eine Selbsterinnerung an die Grenzen und an die Fehlbarkeit menschlichen Tuns und steht dafür, dass der Mensch nicht allmächtig ist, sondern dass auch Staat und Politik nur relative Macht besitzen und an Ziele und Werte gebunden sind, die Menschen nicht festlegen können. Die Verantwortung vor Gott und den Menschen als letzte Richtschnur und Bindung für alles staatliche Handeln soll daher auch in der Niedersächsischen Verfassung festgeschrieben werden.“17

Bei den Beratungen im Ausschuss für Rechts- und Verfassungsfragen wurde auf Anregung der SPD hin der Präambel-Entwurf noch ergänzt, und zwar wurde der Landtag als beschließendes Organ eigens erwähnt.18 Der Präambel-Entwurf lautete nun: „Im Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen hat sich das Volk von Niedersachsen durch seinen Landtag diese Verfassung gegeben.“

Die Initiatoren der Volksinitiative und inzwischen auch der Hildesheimer Bischof Dr. Josef Homeyer19 und der Oldenburger Landesbischof Dr. Wilhelm Sievers20 mussten noch einige Überzeugungsarbeit bei den Landtagsabgeordneten leisten.21 16

Vgl. Brockmann, Verfassungsänderung (Anm. 9), S. 56; Aschoff, Der Gottesbezug (Anm. 2), S. 35. 17 Landtags-Drucksache 12/5971. 18 Vgl. Aschoff, Der Gottesbezug (Anm. 2), S. 38. 19 Vgl. Josef Homeyer, Invocatio Dei in der Verfassung, in: Aschoff (Hrsg.), Gott in der Verfassung (Anm. 2), S. 89 – 91.

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Nach einer ernsthaften und anspruchsvollen Debatte im Landtag nahmen von den 155 Abgeordneten 151 an der namentlichen Schlussabstimmung teil. Der Gesetzentwurf zur Ergänzung der Niedersächsischen Verfassung um eine Präambel mit einem Gottesbezug wurde vom Landtag am 19. Mai 1994 mit einer Mehrheit von 108 zu 43 angenommen.22 V. Gehört Gott in eine Verfassung? Die Frage, ob eine Verfassungspräambel eine Berufung auf die Verantwortung vor Gott enthalten soll, wurde zuletzt im Kontext des Vertrages über eine Verfassung für Europa diskutiert.23 Die Gründe, die gegen einen Gottesbezug in Verfassungen angeführt werden, können sehr unterschiedlich sein. Einige lehnen sogar aus religiösen Gründen einen Gottesbezug ab, weil die Rede von Gott zu unspezifisch sei, andere befürchten, ein Gottesbezug könne auf Atheisten desintegrierend wirken.24 Wieder andere führen an, dass Verfassungen säkularer Staaten keinen Gott einer bestimmten Religionsgemeinschaft anrufen können, ohne mit sich selbst in Widerspruch zu geraten.25 Den Argumenten gegen eine Gottesformel in der Verfassung eines Landes bzw. Staates oder einer Staatengemeinschaft stehen andere Aspekte entgegen. ErnstWolfgang Böckenförde hat bereits 1964 eine These formuliert, die bis heute gilt und auch für eine Gottesformel in Verfassungen angeführt werden kann: „Der freiheitliche säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren 20 Wilhelm Sievers, Gottesbezug in der Verfassung, in: Aschoff (Hrsg.), Gott in der Verfassung (Anm. 2), S. 92 – 95. 21 Vgl. dazu und zur Debatte im Landtag Aschoff, Der Gottesbezug (Anm. 2), S. 36 – 41; Brockmann, Verfassungsänderung (Anm. 9), S. 59 – 62. 22 Vgl. Ipsen, Niedersächsische Verfassung (Anm. 2), S. 310. Scharfer Widerspruch gegen den Gottesbezug kam von der Fraktionsvorsitzenden der Grünen Dr. Thea Dückert, die in einem Gottesbezug in der Präambel eine Vermischung von Staat und Kirche sowie einen Ausschluss aller Bürgerinnen und Bürger sah, die sich nicht mit dem Gottesglauben identifizieren könnten. Zudem würde – wie die Geschichte zeigt – auch der Gottesglaube nicht vor Machtmissbrauch und Kriegen schützen (vgl. Thea Dückert, Zum Gottesbezug in der niedersächsischen Verfassung, in: Aschoff, Gott in der Verfassung (Anm. 2), S. 86 – 88). Die Humanistische Union, die in der Nennung Gottes in einer Verfassung ein unzulässiges Symbol für die Verbindung von Staat und Kirche sieht (vgl. Ulrich Vultejus, Gott in der Verfassung, in: Aschoff, Gott in der Verfassung (Anm. 2), S. 96 – 105, hier S. 103), wollte gegen die Verfassungsänderung Verfassungsbeschwerde beim Staatsgerichtshof in Bückeburg einlegen. Dies ist jedoch nicht erfolgt (vgl. Brockmann, Verfassungsänderung (Anm. 9), S. 62). 23 Vgl. dazu Gregor Waschinski, Gott in die Verfassung? Religion und Kompatibilität in der Europäischen Union, Baden-Baden 2007. 24 Vgl. Peter M. Huber, Präambel, in: Michael Sachs (Hrsg.), Grundgesetz. Kommentar, München 52009, Rdnr. 38. 25 Vgl. Jörg Ennuschat, „Gott“ und Grundgesetz. Zur Bedeutung der Präambel für das Verhältnis des Staates zu Religion und Religionsgemeinschaften, in: NJW 1998, S. 953 – 957, hier S. 953.

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kann.“26 Und diese Erkenntnis kann auch durch eine „invocatio“ bzw. „nominatio dei“ zum Ausdruck gebracht werden. Die Bezugnahme auf Gott ist eine Selbsterinnerung an die Grenzen und die Fehlbarkeit menschlichen Tuns. Das Wort „Gott“ steht dafür, dass der Mensch nicht allmächtig ist. Die Formel „im Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen“ hat eine binäre Struktur und weist somit auf Endlichkeit und Unendlichkeit hin. Sie verwendet den Gottesbegriff als „Chiffre für eine transzendente Entität“27. Mit ihr wird „allen Formen totalitärer Ideologien sowie einem relativistischen Gesetzespositivismus eine Absage erteilt, ohne dass die religiöse und weltanschauliche Neutralität des Staates dadurch in Frage gestellt würde“28. In diesem Zusammenhang ist anzumerken, dass Neutralität nicht Gleichgültigkeit und Indifferenz bedeutet. Das Grundgesetz stellt z. B. seine freiheitliche Substanz nicht zur Disposition einer Mehrheitsentscheidung (vgl. Art. 79 Abs. 3 GG). Die religiöse und weltanschauliche Neutralität des Staates ist nicht als Eliminierung des Religiösen aus dem öffentlichen Bereich zu verstehen.29 Der Gottesbezug in einer Verfassung steht jedenfalls einer die Freiheit der Religion und des weltanschaulichen Bekenntnisses negierenden Staatsideologie entgegen.30 In neuerer Zeit wird zudem die binäre Verantwortungsformel für einen Generationen übergreifenden Umweltschutz (vgl. Art. 20 a GG)31 und für zukunftstaugliche Energiekonzepte herangezogen. Unter verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten ist zu bedenken, dass der Gottesbezug eine Reverenz an die christlich-abendländische Tradition darstellt und als prägender Kultur- und Bildungsfaktor zu verstehen ist.32 Durch den Gottesbezug in den staatlichen Verfassungen wird versucht, den Schutz, der den Rechten der Person gewährt wird, zu erhöhen. „Jene Rechte sind auf die transzendente Natur der Person gegründet und ihr nachgebildet, die Männern und Frauen erlaubt, ihren Glaubensweg und ihre Suche nach Gott in dieser Welt zu verfolgen. Die Anerkennung dieser Dimension muss gestärkt werden, wenn wir die Hoffnung der Menschheit auf eine bessere Welt stützen wollen und wenn wir die Bedingungen 26

Heute leicht zugänglich in: Ernst-Wolfgang Böckenförde, Recht, Staat, Freiheit, Frankfurt a. M. 32000, S. 112; vgl. dazu Karl Lehmann, Säkularer Staat: Woher kommen das Ethos und die Grundwerte?, in: Susanna Schmidt/Michael Wedell (Hrsg.), „Um der Freiheit willen …!“ Kirche und Staat im 21. Jahrhundert, Freiburg/Basel/Wien 2002, S. 24 – 30. 27 Horst Dreier, Präambel, in: ders. (Hrsg.), Grundgesetz. Kommentar, 1. Bd., Tübingen 2 2004, Rdnr. 33. – Zum Thema „Gott – ein sinnvolles Wort“ siehe Hans Küng, Existiert Gott? Antwort auf die Gottesfrage der Neuzeit, München 1978, S. 553 – 560 und Karl Rahner, Grundkurs des Glaubens. Einführung in den Begriff des Christentums, Freiburg/Basel/Wien 1976, S. 60: „Wir dürfen nicht meinen, weil der phonetische Klang des Wortes ,GottÐ je von uns einzelnen abhängt, darum sei das Wort ,GottÐ auch schon unsere Schöpfung. Es schafft eher uns, weil es uns zu Menschen macht.“ 28 Huber, Präambel (Anm. 24), Rdnr. 39. 29 Vgl. Udo Di Fabio, Gewissen, Glaube, Religion. Wandelt sich die Religionsfreiheit?, Berlin 2008, S. 31. 30 Vgl. Huber, Präambel (Anm. 24), Rdnr. 40. 31 Vgl. Dreier, Präambel (Anm. 27), Rdnr. 35. 32 Vgl. Ipsen, Niedersächsische Verfassung (Anm. 2), S. 16.

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für Frieden, Entwicklung, Zusammenarbeit und die Gewährung der Rechte der kommenden Generationen schaffen wollen.“33

VI. Schlussbemerkung Bei der Debatte um den Gottesbezug in der Niedersächsischen Verfassung wurden die verschiedenen Pro- und Contra-Argumente genannt.34 Der Präsident des Niedersächsischen Landtages würdigte die parlamentarische Erörterung mit folgenden Worten: „Ich bin der festen Überzeugung, dass der Niedersächsische Landtag mit dieser – frei von jedem Fraktionszwang geführten – Debatte dem Ansehen des Landesparlaments insgesamt einen großen Dienst erwiesen hat. Eben weil die Abgeordneten die doch sehr grundsätzliche Frage, ob der Landtag gerade in dieser Zeit die erfolgte Verfassungsgebung ,im Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott und den MenschenÐ vornehmen solle, in der Tat auf einem hohen Niveau und mit großem Respekt vor der jeweils anderen Auffassung über Parteiund Fraktionsgrenzen hinweg behandelt haben, können wir noch heute – wie es viele Beobachter der damaligen Plenarsitzung getan haben – von einer ,Sternstunde des ParlamentsÐ sprechen.“35

Die Volksinitiative für einen Gottesbezug in der Niedersächsischen Verfassung kann als ein ermutigendes Beispiel angesehen werden, wie der Einsatz von Christen, Juden und anderen Religionsangehörigen im öffentlichen, politischen und staatlichen Bereich positive und nachhaltige Spuren hinterlassen kann.36

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Papst Benedikt XVI., Eine menschlichere Welt für alle. Die Rede vor der UNO, Freiburg i. Br. 2008, S. 7 – 37, hier S. 35 – 37. 34 Vgl. zur Debatte im Landtag Anm. 21. 35 Horst Milde, „Bekenntnis zu den Grenzen der menschlichen Entscheidungsfähigkeit“, in: Aschoff, Gott in der Verfassung (Anm. 2), S. 76 – 78, hier S. 77 f. 36 Siehe zum positiven Einfluss der Religionen auf die Gesellschaft Bertelsmann Stiftung (Hrsg.), Religionsmonitor 2008, Gütersloh 22008, und speziell zum Einfluss des Christentums auf die Gesellschaft in Deutschland Andreas Püttmann, Gesellschaft ohne Gott. Risiken und Nebenwirkungen der Entchristlichung Deutschlands, Asslar 2010, bes. S. 129 – 190.

Gesetzliche Anerkennung als Religionsgesellschaft ohne Erwerb der Rechtspersönlichkeit nach Bekenntnisgemeinschaftengesetz? Von Georg Lienbacher I. Einleitung Der Jubilar, dem ich seit vielen Jahren durch die gemeinsame Zeit an der Universität Salzburg und durch seine vielfältige seelsorgliche Tätigkeit in der Erzdiözese Salzburg freundschaftlich verbunden bin, hat in seinem umfangreichen wissenschaftlichen Wirken immer auch Fragen von Staat und Kirche in den Blick genommen. Als Staatsrechtler – gleichsam von der anderen Seite kommend – möchte ich an diese Forschungsinteressen des Jubilars anknüpfen und mich zu seinen Ehren mit einer staatsrechtlichen Frage der gesetzlichen Anerkennung von Kirchen und Religionsgesellschaften beschäftigen, die aus den Neuregelungen in den Neunziger Jahren resultiert. Die Anerkennung als Religionsgesellschaft nach den Regeln des Anerkennungsgesetzes1 (AnerkG) ist seit Einführung des Bekenntnisgemeinschaftsgesetzes2 (BKGG) durch § 11 BKGG an zusätzliche Voraussetzungen geknüpft. Diese zusätzlichen Voraussetzungen wurden zumindest bis zur Novellierung dieser Bestimmung 2011 als verfassungswidrig angesehen3 und 2010 zum Teil vom Verfassungsgerichtshof als verfassungswidrig aufgehoben.4 Die Konzeption der Regelungen in der alten und in der neuen Fassung geht dahin, eine gesetzliche Anerkennung als Kirche oder Religionsgesellschaft im Wege des Erwerbes der Rechtspersönlichkeit als religiöse Bekenntnisgemeinschaft iSd § 1 BKGG zu ermöglichen. Dieser Grundsatz scheint für einzelne schon derzeit bestehende gesetzlich anerkannte Religionsgesellschaften durchbrochen, soweit diesen im Falle einer inneren Diversifi1

Gesetz vom 20. Mai 1874, betreffend die gesetzliche Anerkennung von Religionsgesellschaften. RGBl. 1874/68. 2 Bundesgesetz über die Rechtspersönlichkeit von religiösen Bekenntnisgemeinschaften, BGBl. I 1998/19 i. d. F. BGBl. I 2011/78. 3 Vgl. Herbert Kalb/Richard Potz/Brigitte Schinkele, Religionsrecht, Wien 2003, S. 96; Brigitte Schinkele, Religiöse Bekenntnisgemeinschaft und verfassungsrechtlicher Vertrauensschutz, JurBl. 2002, S. 498; Georg Lienbacher, Die rechtliche Anerkennung von Religionsgemeinschaften in Österreich, in: Christoph Grabenwarter/Norbert Lüdecke (Hrsg.), Standpunkte im Kirchenrecht und Staatskirchenrecht, Würzburg 2002, S. 154 ff. (171 ff.), m.w.N. 4 VfGH 25. 9. 2010, G 58/10 – 9 und G 59/10 – 9.

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zierung durch leges speciales eine Anerkennung als gesetzlich anerkannte Religionsgesellschaft im Sinne des Anerkennungsgesetzes ermöglicht wird, ohne den Umweg über den Status einer Bekenntnisgemeinschaft nehmen zu müssen. Ich möchte das im Folgenden am Beispiel des § 2 IsraelitenG5 verdeutlichen. Weitere Phänomene, die sich allenfalls in ähnlichen Fallkonstellationen aus Rechtsvorschriften ergeben können oder unter gleichheitsrechtlichen Gesichtspunkten auch ergeben müssten, die für andere gesetzlich anerkannte Kirchen und Religionsgesellschaften erlassen wurden, können hier nicht behandelt werden. Als Beispiel für das angesprochene Problem soll die gesetzliche Anerkennung einer „Orthodoxen Jüdischen Kultusgemeinde“ dienen, die vor Jahren in Diskussion stand, letztlich aber nicht durchgeführt wurde. § 2 IsraelitenG scheint eine Anerkennung zu ermöglichen. Dies freilich nur dann, wenn das BKGG in solchen Fallkonstellationen nicht zur Anwendung kommt. II. Voraussetzungen der gesetzlichen Anerkennung 1. Anwendbarkeit des Anerkennungsgesetzes a) Normenkollision IsraelitenG und BKGG Für die Anwendung der Bestimmungen des Anerkennungsgesetzes auf die Anerkennung einer „Orthodoxen Jüdischen Kultusgemeinde“ ist zunächst die auch im Hinblick auf das Anerkennungsgesetz 1998 neu entstandene Rechtslage durch das BKGG zu berücksichtigen. § 11 BKGG enthält zusätzliche tatbestandliche Voraussetzungen, nach denen religiöse Bekenntnisgemeinschaften die gesetzliche Anerkennung als Kirche oder Religionsgesellschaft nach dem Anerkennungsgesetz erwerben können. Diese Bestimmung stellt materiell insoweit eine Änderung des Anerkennungsgesetzes dar. Sie ist unter anderem Folge der Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes, mit der dieser sich zuvor mit seiner schon länger vertretenen, vom VwGH jedoch zunächst abgelehnten Ansicht durchgesetzt hatte, wonach bei Erfüllung der Voraussetzungen ein Rechtsanspruch auf gesetzliche Anerkennung als Kirche oder Religionsgesellschaft und somit – was sich zuvor als Flaschenhals für Antragsteller erwiesen hatte – ein Rechtsschutz gegen Untätigkeit der Behörde besteht.6 Gemäß § 11 BKGG in seiner ursprünglichen Fassung konnten Bekenntnisgemeinschaften, die seit mindestens zwanzig Jahren bestanden und zehn Jahre den 5

Gesetz vom 21. März 1890, betreffend die Regelung der äußeren Rechtsverhältnisse der israelitischen Religionsgesellschaft. RGBl. 1890/57 i. d. F. BGBl. 1984/61 und BGBl. 1994/ 505. 6 VfSlg 11.931/1988. Zwar sei über die Anerkennung nach wie vor per Verordnung abzusprechen, bei Nichtanerkennung habe aber ein entsprechender Bescheid zu ergehen. Vgl. Kalb/Potz/Schinkele, Religionsrecht (Anm. 3), S. 105 ff.; Heinz Tichy, Religiöse Gemeinschaften nach dem Vereinsgesetz 2002, in: ÖARR 51 (2004), S. 379. Kritisch zur Ansicht des Verfassungsgerichtshofes Jens Budischowsky, Anerkennung von Kirchen und Religionsgesellschaften, Verordnungserlassung und Säumnisbeschwerde, in: ÖJZ 1997, S. 401.

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Rechtsstatus „Bekenntnisgemeinschaft“ innehatten, wenn sie wenigstens zwei Tausendstel der Gesamtbevölkerung an Mitgliedern aufwiesen, ihr Vermögen für religiöse Zwecke verwendeten, eine positive Grundeinstellung gegenüber dem Staat und der Gesellschaft hatten und keine gesetzwidrige Störung des Verhältnisses zu den bestehenden gesetzlich anerkannten Kirchen und Religionsgesellschaften damit verbunden war, nach den Bestimmungen des Anerkennungsgesetzes anerkannt werden. Das geforderte Bestehen als Bekenntnisgemeinschaft über zehn Jahre hinweg und die geforderte Mindestanzahl an Angehörigen sind verfassungsrechtlicher Kritik unterzogen worden.7 Die geforderte Zahl von 2 % der Gesamtbevölkerung (derzeit etwa 16.000 Personen – die zuvor übliche Praxis forderte lediglich 2.000 Personen) wird von den meisten bereits bestehenden gesetzlich anerkannten Religionsgemeinschaften nicht erreicht.8 Durch § 11 Abs 2 BKGG wurden die laufenden Anträge auf Anerkennung nach Anerkennungsgesetz gesetzlich in Anträge auf Erwerb der Rechtspersönlichkeit als religiöse Bekenntnisgemeinschaft umgedeutet, womit auch diese automatisch in eine weitere mindestens zehn Jahre dauernde „Warteschleife“ gestellt waren und die zusätzlichen Voraussetzungen nach § 11 BKGG zu erfüllen hatten.9 Allein die im BKGG vorgesehene Umdeutung bestehender Anträge zeigt, dass das BKGG in Ergänzung zum Anerkennungsgesetz davon ausgeht, dass ganz allgemein eine gesetzliche Anerkennung als Religionsgesellschaft bzw. Kirche nur mehr über den Weg einer Bekenntnisgemeinschaft möglich sein soll. Eine unmittelbare gesetzliche Anerkennung nach Anerkennungsgesetz ohne Erfüllung dieser Bestimmungen des BKGG erscheint damit ausgeschlossen. Die Aufhebung der Wortfolge „als Religionsgemeinschaft durch mindestens 20 Jahre, davon mindestens 10 Jahre“ des § 11 Abs. 1 Z 1 BKGG durch den VfGH10 hat den Gesetzgeber veranlasst, eine Änderung des BKGG herbeizuführen, die jüngst in Kraft getreten ist.11 Der VfGH hatte sich in seinem Erkenntnis der Rechtsprechung des EGMR12 angeschlossen und die geforderten Zeiträume des Bestehens 7 Vgl. dazu Lienbacher, Die rechtliche Anerkennung von Religionsgemeinschaften in Österreich (Anm. 3), S. 154 ff., insb. S. 173 ff. m.w.N. 8 Kalb/Potz/Schinkele, Religionsrecht (Anm. 3), S. 98 f. 9 Vgl. zu dieser Problematik Herbert Kalb/Richard Potz/Brigitte Schinkele, Religionsgemeinschaftenrecht. Anerkennung und Eintragung, Wien 1998, S. 108 ff.; Georg Lienbacher, Die rechtliche Anerkennung von Religionsgemeinschaften in Österreich, in: Grabenwarter/ Lüdecke (Hrsg.), Standpunkte (Anm. 7), S. 154 ff. (170 ff.); Brigitte Schinkele, Religiöse Bekenntnisgemeinschaften und verfassungsrechtlicher Vertrauensschutz, in: JurBl. 124 (2002), S. 498. 10 VfGH 25. 09. 2010, G 58/10, G 59/10; siehe auch ÖJZ 2011, S. 86. 11 Vgl. das Bundesgesetz, mit dem das Bundesgesetz über die Rechtspersönlichkeit von religiösen Bekenntnisgemeinschaften geändert wird, BGBl. I 2011/78. 12 EGMR 31. 07. 2008, 40825/98 (Zeugen Jehovas/AT); EGMR 26. 02. 2009, 76581/01 (Christengemeinschaft/AT). Siehe im Gegensatz dazu die frühere Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes, die gegen eine zehnjährige Beobachtungsphase als Voraussetzung der

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als nicht mit Art. 9 i. V. m. Art. 14 EMRK vereinbar angesehen. Einerseits sei es ein Verstoß gegen diese Bestimmungen, wenn eine Religionsgemeinschaft ohne Ausnahme in organisierter Form über zwanzig Jahre hinweg in Österreich bestehen müsse, ohne von dieser Voraussetzung trotz besonderer Umstände – wie international dauerhaftem Bestand – abweichen zu können. Andererseits sei das Erfordernis des Bestandes als Bekenntnisgemeinschaft im Sinne des BKGG für eine Dauer von mindestens zehn Jahren nach der Rechtsprechung des EGMR13 nur bei Vorliegen außergewöhnlicher Umstände gerechtfertigt. § 11 Abs. 1 Z. 1 BKGG ließe für diese Interpretation aber keinen Spielraum. Gegen das Erfordernis des Bestandes als Bekenntnisgemeinschaft an sich habe der Gerichtshof jedoch keine Bedenken.14 Auch die Änderung des BKGG15 setzt für die Anerkennung nach AnerkG – von Ausnahmen abgesehen – weiterhin wohl für die meisten der denkbaren Fälle die Vorstufe der Bekenntnisgemeinschaft voraus.16 Sie sieht aber Durchbrechungen vor. Nach der nunmehr geltenden Fassung kann eine Anerkennung für Bekenntnisgemeinschaften erfolgen, wenn sie über mindestens zwanzig Jahre bestehen, davon zehn in organisierter Form17 und fünf als religiöse Bekenntnisgemeinschaft nach dem BKGG. Alternativ dazu wird als Voraussetzung für die Anerkennung nach Anerkennungsgesetz die Einbindung (organisatorisch und in der Lehre) in eine international tätige Religionsgemeinschaft festgeschrieben, die seit zumindest 100 Jahren besteht und die Tätigkeit in Österreich in organisierter Form über 10 Jahre entfaltet. Als dritte Möglichkeit, eine Anerkennung nach Anerkennungsgesetz zu erlangen, wird die Einbindung in eine international tätige und seit mindestens 200 Jahren bestehende Religionsgemeinschaft festgeschrieben. Unverändert geblieben ist die geforderte Mindestanzahl an Mitgliedern von 2 % der Gesamtbevölkerung, die nunmehr außer durch Daten der letzten Volkszählung auch in anderer geeigneter Form erbracht werden kann. Insbesondere dieses Kriterium in Zusammenhang mit dem neu in das Gesetz eingeführten Verfahren der Aufhebung der Anerkennung als Religionsgesellschaft, die von Amts wegen zu erfolgen hat, wenn die maßgeblichen Voraussetzungen nicht mehr vorliegen18, bereitet auch den bereits anerkannten Religionsgesellschaften Sorge, weil sie die erforderliche Mindestanzahl zeitweise

Anerkennung nach AnerkG noch keine gleichheitsrechtlichen Bedenken hegte, VfSlg 16.201/ 2001. 13 EGMR 31. 07. 2008, 40825/98 (Zeugen Jehovas/AT), Z. 97 f. 14 Vgl. dazu jüngst auch Katharina Pabel, Entwicklungen im Recht der Religionsgemeinschaften, in: Georg Lienbacher/Gerhart Wielinger (Hrsg.), Öffentliches Recht. Jahrbuch 2011 (2011); S. 111 ff., hier S. 112 ff. m.w.N. 15 BGBl. I 2011/78. 16 Vgl. dazu auch die Erläuterungen in RV 1256 BlgNR XXIV. GP. 17 Zumindest teilweise als juristische Person. Vgl. die Erläuterungen RV 1256 BlgNR XXIV. GP. 18 Vgl. § 11a Abs 1 BKGG.

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oder dauerhaft unterschreiten.19 Derzeit trifft dies auf fünf der anerkannten Religionsgesellschaften zu.20 Darüber hinaus kann darin eine nicht unproblematische Ungleichbehandlung der betroffenen Religionsgemeinschaften gegenüber solchen gesehen werden, deren Anerkennung in eigenen Gesetzen geregelt ist.21 Dies trifft etwa auf die altorientalischen Kirchen zu, denen der Status als Religionsgesellschaft im Orientalisch-orthodoxen Kirchengesetz22 zuerkannt wird, ohne auf die Mitgliederzahl Bezug zu nehmen. Sie verfügen jeweils über weniger als die nach früher üblicher Praxis bei der Anerkennung nach Anerkennungsgesetz geforderten 2.000 Mitglieder, geschweige denn über mehr als 16.000 Mitglieder, wie sie nach dem BKGG vonnöten wären, um nicht dem Aufhebungsregime nach § 11a BKGG anheim zu fallen.23 Es ist zu erwarten, dass die Mindestzahl an Angehörigen nach wie vor eine große Hürde für die Anerkennung als Religionsgesellschaft darstellen wird und dass verfassungsrechtliche Fragestellungen im Vergleich zu den Sonderregelungen, die mitgliederschwache Religionsgesellschaften privilegieren, nicht hinreichend gelöst erscheinen. Denn § 11a BKGG sieht die Aufhebung der gesetzlichen Anerkennung vor, wenn die Voraussetzungen wie insbesondere auch die geforderte Mindestzahl an Mitgliedern von 2 % der Gesamtbevölkerung nicht mehr gegeben sind. Spezialgesetze für bestimmte gesetzlich anerkannte Religionsgesellschaften privilegieren diese aber, ohne dass dafür eine sachliche Rechtfertigung ersichtlich ist. So genügen z. B. nach § 7 IsraelitenG dreißig Familienhäupter für die Errichtung einer neuen Kultusgemeinde. Für die Frage der in diesem Beitrag in Rede stehenden gesetzlichen Anerkennung einer „Orthodoxen Jüdischen Kultusgemeinde“ kann mit den Bestimmungen des AnerkG sowie des BKGG nicht das Auslangen gefunden werden. Es ist vielmehr § 2 IsraelitenG in Betracht zu ziehen, der ebenfalls eine Art Ergänzung zum AnerkG vorsieht und den Weg zur gesetzlichen Anerkennung nach dem AnerkG eröffnet. Infolge eines Erkenntnisses des Verfassungsgerichtshofes, mit dem Bestimmungen des Israelitengesetzes aufgehoben wurden24, wurde § 2 IsraelitenG geändert.25 Nach des-

19 So z. B. die Bedenken der Altkatholischen Kirche Österreichs in 2/SN-283/ME XXIV. GP 3, der Österreichischen Buddhistischen Religionsgesellschaft in 11/SN-283/ME XXIV. GP. 20 Nach den Daten der Volkszählung 2001 sind dies die Altkatholische Kirche, die Evangelisch-methodistische Kirche in Österreich, die Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage (Mormonen) in Österreich, die Neuapostolische Kirche in Österreich sowie die Österreichische Buddhistische Religionsgesellschaft. Vgl. Statistik Austria, Bevölkerung 2001 nach Religionsbekenntnis und Staatsangehörigkeit http://www. statistik.at/web_de/static/ bevoelkerung_2001_nach_religionsbekenntnis_und_staatsangehoerigkeit_022894.pdf (17. 06. 2011). 21 Vgl. Richard Potz/Brigitte Schinkele, 20/SN-283/ME XXIV. GP – Stellungnahme zu Entwurf. 22 BGBl. I 2003/20. 23 Vgl. Kalb/Potz/Schinkele, Religionsrecht (Anm. 3), S. 98 f. 24 VfSlg 9185/1981.

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sen nunmehr geltendem Satz 3 ist es möglich, wegen bestehender Ritusverschiedenheit Israeliten die Anerkennung als Religionsgesellschaft nach den Bestimmungen des AnerkG zu verleihen. Angesichts der Bestimmung des § 11 BKGG 1998 stellt sich die Frage, ob diese Bestimmung auch dem § 2 IsraelitenG insoweit derogiert, als die gesetzliche Anerkennung bei Ritusverschiedenheit innerhalb der Israeliten seit 1998 nur über den Weg der in § 11 BKGG vorgesehenen Voraussetzungen möglich ist. b) Regelungsgeschichtlicher Hintergrund von § 2 IsraelitenG Um die Frage dieser Normenkollision zu lösen, ist zunächst auf die Motive des Bundesgesetzgebers zurückzugreifen. In den Materialen zum novellierten § 2 IsraelitenG findet sich die Begründung: „Die israelitische Religionsgesellschaft gemäß dem Israelitengesetz muss daher in Zukunft nicht zwingend die einzige, sich selbst als israelitisch verstehende Religionsgesellschaft sein.“26 Aus der Erläuterung in der Regierungsvorlage wird deutlich, dass es um ein Problem ging, das innerhalb der Isareliten zu Schwierigkeiten geführt hat, nämlich um Organisationsformen, die Unterschiedlichkeiten verschiedener „Gruppierungen“ nicht hinreichend berücksichtigten, sodass der Staat in seiner zur weltanschaulichen Neutralität verpflichtenden Rolle gezwungen war, ein weiteres Instrumentarium zu schaffen, das eine friedliche Koexistenz der unterschiedlichen „Gruppierungen“ und vor allem deren religiöse und organisatorische Unabhängigkeit sicherte, auch wenn wesentliche Glaubensinhalte deckungsgleich sind. Das bestätigt sich in der Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes27, die der Gesetzesänderung zugrunde liegt. Der Verfassungsgerichtshof hat sich den verfassungsrechtlichen Überlegungen angeschlossen, die vom Antragsteller vorgebracht wurden. Im Wesentlichen wurde damit argumentiert, dass nach § 2 IsraelitenG a.F. jede Kultusgemeinde ein örtlich begrenztes Gebiet umfasse. In demselben Gebiet könne nur eine Kultusgemeinde bestehen. Jeder Israelite gehöre der Kultusgemeinde an, in deren Sprengel er seinen ordentlichen Wohnsitz hat. Da die israelitische Religionsgesellschaft in Österreich nur in der Organisation der Kultusgemeinde in Erscheinung tritt, könne staatskirchenrechtlich Israelite nur eine Person sein, die einer IKG angehört.28 Nach den Ausführungen in den erläuternden Bemerkungen zur Regierungsvorlage29 und dem erkennbaren Zweck des Gesetzes – ungeachtet seines 25 Bundesgesetz vom 25. Jänner 1984, mit dem das Gesetz betreffend die Regelung der äußeren Rechtsverhältnisse der israelitischen Religionsgesellschaft geändert wird, BGBl. 1984/61. Kritisch zum Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes und zur Umsetzung Raoul Kneucker, Das Israelitengesetz 1890: Die Novelle 1984, in: ÖARR 56 (2009), S. 395. 26 Vgl. dazu RV 208 BlgNR, XVI. GP. 27 VfSlg 9185/1981. 28 Dabei verweist der VfGH auch auf die Rechtsprechung des VwGH 22. 5. 1964, Z. 1111/ 63. 29 202 Blg stenProt HH, X. Session.

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Titels – solle es nach dem IsraelitenG nicht bloß eine einzige israelitische Religionsgesellschaft, sondern mehrere in Form von (territorial gegliederten) Kultusgemeinden organisierte Religionsgesellschaften geben. § 2 IsraelitenG a.F. verbiete, dass neben diesen staatlich anerkannten „israelitischen Religionsgesellschaften“ eine andere Religionsgesellschaft (Kultusgemeinde) existiert, die sich selbst als israelitisch versteht. Sie dürfe sich dem § 2 IsraelitenG zufolge weder als Kultusgemeinde nach diesem Gesetz noch als Religionsgesellschaft nach dem AnerkG bilden. Dieser sich aus der Entstehungsgeschichte des Gesetzes ergebende Inhalt finde im Wortlaut seinen Niederschlag. Hätte der Gesetzgeber nur den zuerst genannten Norminhalt festlegen wollen, so hätte er sich mit dem § 1 und dem § 2 Abs. 1 a.F. erster Halbsatz begnügen können. Da dem Gesetzgeber der Gebrauch unnötiger Wendungen nicht zugesonnen werden könne, müsse den weiteren Wendungen des § 2 eine zusätzliche Bedeutung zukommen; diese kann sinnvoll nur der dargestellte Inhalt sein. Dieser Inhalt des Gesetzes finde seinen Niederschlag auch im Wortlaut des § 25 Abs. 1 IsraelitenG. Diese Bestimmung geht von der Voraussetzung des Bestandes einer Vielfalt von Glaubensformen und religiösen Richtungen innerhalb der Judenschaft aus. Das Israelitengesetz zwinge sohin alle Personen unter seinen Anwendungsbereich, die sich nach ihrem Selbstverständnis als Israeliten (zum jüdischen Glauben) bekennen, gleichgültig, ob sie einer IKG im Sinne dieses Gesetzes angehören wollen oder nicht. Damit schließe das Israelitengesetz aber aus, dass sich diese Personen staatskirchenrechtlich anders als im Israelitengesetz vorgesehen – nämlich in den in den §§ 2 ff. normierten Einheitsgemeinden – organisieren. Die bekämpften Stellen des § 2 IsraelitenG a.F. wurden daher vom VfGH – bei ihrem oben festgestellten Inhalt – als mit dem Gleichheitssatz unvereinbar erkannt. Es sei unter diesen Umständen unsachlich – und verstoße daher gegen den auch den Gesetzgeber bindenden Gleichheitssatz – einer Personengruppe, für deren religiöse Überzeugung es essentiell ist, sich als „Israelite“ zum jüdischen Glauben zu bekennen, die Möglichkeit zu verwehren, neben der auf einem bestimmten Gebiet einzig bestehenden IKG eine andere gesetzlich anerkannte Religionsgesellschaft zu gründen, die sich selbst als „israelitisch“ versteht, und zwar derart, dass diese Personengruppe weder eine Kultusgemeinde nach dem Israelitengesetz noch eine Religionsgesellschaft nach dem Anerkennungsgesetz bilden kann; all dies auch dann nicht, wenn ihrer weiteren religiösen Überzeugung nach die bestehende IKG nicht den ihrer Meinung nach richtigen jüdischen Glaubensinhalt vertritt. Vor diesem Hintergrund ist die Gesetzesänderung zu verstehen. Sie sollte verhindern, dass Gruppierungen innerhalb des jüdischen Glaubensbekenntnisses, die unterschiedliche Glaubenswahrheiten vertreten oder aus religiösen Gründen unterschiedliche Riten praktizieren, organisatorisch die Abgrenzung von anderen verwehrt bleibt, die nach ihrer religiösen Überzeugung aber erforderlich ist, um das eigene religiöse Bekenntnis leben zu können. Damit sollte vor allem auch gewährleistet werden, dass Personengruppen, für deren religiöse Überzeugung es essentiell ist, sich als „Israelite“ zum jüdischen Glauben zu bekennen, neben der auf einem bestimmten Gebiet einzig bestehenden IKG eine andere gesetzlich anerkannte Religionsgesell-

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schaft gründen können, insbesondere dann, wenn sie der Auffassung sind, dass die bestehende IKG nicht den ihrer Meinung nach richtigen jüdischen Glaubensinhalt vertritt. Verfassungsrechtlich gesehen wurden damit nicht nur in Bezug auf die gleichheitsrechtlichen Aspekte, die im Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes im Vordergrund standen, sondern insbesondere auch im Hinblick auf das verfassungsrechtliche Gebot der religiösen Neutralität des Staates verfassungskonforme Lösungen geschaffen. Gruppierungen, die sich zum jüdischen Glauben bekennen, sich aber hinsichtlich bestimmter Glaubensinhalte oder Riten von der gesetzlich anerkannten Religionsgesellschaft unterscheiden und ein daraus resultierendes Bedürfnis nach organisatorischer Trennung bzw. Selbständigkeit haben, ist damit ein Weg eröffnet, als gesetzlich anerkannte Religionsgesellschaft eine eigenständige und unabhängige rechtliche abgesicherte Organisationsform zu erlangen.30 c) Schlussfolgerungen Auf der Grundlage der oben wiedergegeben Ausführungen des Verfassungsgerichtshofes und der daraufhin erfolgten Änderung des Israelitengesetzes durch den Bundesgesetzgeber wurde klargestellt, dass es eine nach dem AnerkG gesetzlich anerkannte Religionsgesellschaft geben kann, die sich zum jüdischen Glauben bekennt und mit der bestehenden israelitischen Religionsgesellschaft in keiner Verbindung steht bzw. stehen muss. Der neu gefasste § 2 IsraelitenG ermöglicht seit 1984 eine gesetzliche Anerkennung von jüdischen Glaubensgemeinschaften als Religionsgesellschaft nach dem Anerkennungsgesetz, ohne eine wie auch immer geartete Verbindung zur bestehenden israelitischen Religionsgesellschaft, auf die sich das Israelitengesetz bezieht, aufweisen zu müssen. Welche Schlüsse lassen sich für die oben aufgezeigte Frage der Normenkollision und damit verbunden für die Frage des Bestandes des § 2 3. Satz des IsraelitenG i.d.g.F. im Hinblick auf die Neuerungen im § 11 BKGG 1998 ziehen? Das Verhältnis der Bestimmung des § 2 3. Satz IsraelitenG war schon vor der Erlassung des BKGG im Verhältnis zu den allgemeinen Bestimmungen des AnerkG eine lex specialis insoweit, als diese Bestimmung eine zusätzliche tatbestandliche Voraussetzung für die gesetzliche Anerkennung als Religionsgesellschaft außerhalb des AnerkG für eine Anerkennung als Religionsgesellschaft nach diesem Gesetz schuf. Daran knüpft sich die Frage, ob sich dieser lex specialis Charakter der genannten Bestimmung 30

Zum Gebot der bundesverfassungsrechtlich gebotenen Neutralität, dem damit unter anderem auch nachgekommen wird, vgl. z. B. Heinz Mayer, Das österreichische Bundes-Verfassungsrecht, Wien 42007, S. 620; Hans R. Klecatsky, Die Glaubens- und Gewissensfreiheit und die Rechtsstellung der gesetzlich anerkannten Kirchen und Religionsgesellschaften, in: Rudolf Machacek u. a. (Hrsg.), 40 Jahre EMRK. Grund- und Menschenrechte in Österreich, 2. Bd.: Wesen und Werte, S. 498; Barbara Gartner, Aktuelle Herausforderungen für den Rechtsstaat einer plurireligiösen Gesellschaft, in: ÖARR 57 (2010), S. 37 (38 ff.); VfSlg 11.931/1988.

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auch gegenüber den Neuregelungen im BKGG insoweit erhalten hat, als er bei Erfüllung der maßgeblichen Tatbestandselemente eine Anwendung der Bestimmungen des § 11 BKGG infolge eines speziellen Derogationsverhältnisses verhindert. Dafür sprechen mehrere Argumente. Einmal ist es der aufgezeigte regelungsgeschichtliche Hintergrund, der dafür ins Treffen zu führen ist. Die Argumentation des Verfassungsgerichtshofes in Bezug auf die seinerzeitige Aufhebung lässt sich auch in Bezug auf die neue Rechtslage aufrechterhalten. Es geht letztlich um die Voraussetzungen des Bestandes einer Vielfalt von Glaubensformen und religiösen Richtungen innerhalb der Judenschaft.31 Dieses Problem wird durch das neue BKGG nicht tangiert, das die Voraussetzungen der Erlangung der Rechtspersönlichkeit neuer religiöser Bekenntnisgemeinschaften und deren Weg zur gesetzlichen anerkannten Kirche oder Religionsgesellschaft festlegt. Dies auch dann nicht, wenn einer der in der Neufassung festgelegten Ausnahmetatbestände, der die Rechtspersönlichkeit als Bekenntnisgemeinschaft nicht voraussetzt, greifen sollte, weil die Hürde der Zahl der Mitglieder von mehr als 16.000 wohl kaum überwindbar erscheint. Freilich scheint dies als einziges Argument für die Annahme, dass ein lex specialis Verhältnis vorliegt, in dem § 2 3. Satz IsraelitenG von den Bestimmungen des BKGG nicht tangiert wird und dass daher eine Anerkennung nach Anerkennungsgesetz in solchen Fällen ohne „Umweg über das BKGG“ möglich ist, zwar tragfähig, aber nicht zwingend. Der Bundesgesetzgeber könnte mit den diesbezüglichen Festlegungen im BKGG auch die spezifischen Anerkennungsformen nach § 2 3. Satz IsraelitenG mit der Konsequenz erfasst haben wollen, dass § 11 BKGG dem § 2 3. Satz IsraelitenG derogiert. Angesichts des seit 1984 bestehenden lex specialis Charakters dieser Bestimmung hätte der Bundesgesetzgeber aber in diesem Fall eine solche Absicht, wenn schon nicht ausdrücklich in den Bestimmungen selbst, so doch in den Materialien zum Ausdruck bringen müssen. Weder im Gesetzgebungsverfahren noch aus den Bestimmungen des BKGG selbst lassen sich Anhaltspunkte finden, wonach nunmehr bei Ritusverschiedenheit Israeliten die Anerkennung als Religionsgesellschaft nur mehr über den Weg des BKGG erlangen können sollen bzw. dass dies vom Bundesgesetzgeber bei Erlassung des BKGG beabsichtigt war. Daraus ist der Schluss zu ziehen, dass der Bundesgesetzgeber bei der Erlassung des Bekenntnisgemeinschaftengesetzes solche spezifischen Fälle innerhalb der jüdischen Glaubensgemeinschaft nicht vor Augen hatte. Vielmehr hat er diese Fälle 1984 einer vor dem verfassungsrechtlichen Hintergrund notwendigen bundesgesetzlichen Klärung zugeführt und wollte sie von weiteren Bestimmungen unberührt sein lassen. Dies umso mehr, als es sich bei diesen Bestimmungen um Gesetzesänderungen handelt, die innerhalb von etwas mehr als zwanzig Jahren in einer Materie erfolgt sind, die im Übrigen ganz und gar nicht als änderungsanfällig gilt. Daher ist auch das Argument, dass der Bundesgesetzgeber bestimmte Regelungen nicht im Blickfeld gehabt haben könnte, angesichts dieser Umstände nicht schlagkräftig. Zudem spricht die präzise Beschränkung des Perso31

Vgl. dazu auch Kalb/Potz/Schinkele, Religionsrecht (Anm. 3), S. 608.

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nenkreises auf die Gruppe der Israeliten einerseits und die inhaltliche Beschränkung auf bestehende Ritusverschiedenheiten in § 2 IsraelitenG für diese Lösung. Es kann daher festgehalten werden, dass § 2 3. Satz IsraelitenG in der Fassung BGBl. 1984/61 als lex specialis auch nach Erlassung des BKGG eine gesetzliche Anerkennung als Religionsgesellschaft ermöglicht. Auch der neue § 11a BKGG deutet systematisch in diese Richtung. Ohne die Existenz von spezialgesetzlichen Regelungen für Religionsgesellschaften, die derzeit die Kriterien des BKGG nicht erfüllen, wäre wohl eine solche „Aberkennungsbestimmung“ nicht erklärbar. 2. Exkurs: Die Islamische Alevitische Glaubensgemeinschaft Einer dem das Israelitengesetz betreffenden Erkenntnis des VfGH32 relativ ähnlichen Problematik sahen sich die Aleviten in ihrem Bestreben zur Erlangung der Rechtspersönlichkeit nach BKGG und AnerkG gegenüber. Der VfGH ging in diesem Fall33 entgegen der Ansicht der Behörde davon aus, dass in Österreich mehr als eine islamische Glaubensgemeinschaft bestehen kann.34 Ein alevitischer Kulturverein hatte einen Antrag auf Anerkennung als Religionsgesellschaft nach AnerkG und in eventu auf Erwerb der Rechtspersönlichkeit als Bekenntnisgemeinschaft im Sinne des BKGG gestellt. Der Antrag wurde hinsichtlich beider Begehren von der Behörde abgelehnt. Die Behörde ging davon aus, dass das Islamgesetz35 und die Verordnung betreffend die Islamische Glaubensgemeinschaft36 eine weitere islamische Religionsgemeinschaft neben der bestehenden Islamischen Glaubensgemeinschaft in Österreich nicht zuließen. Letztere vertrete seit dem Erkenntnis VfSlg 11.574/ 1987, mit dem die einschränkende Wortfolge „nach hanefitischem Ritus“ im Islamgesetz aufgehoben wurde, als einzige islamische Religionsgesellschaft alle Anhänger des Islam in Österreich. Der VfGH sah in der auf dieser Rechtsansicht basierenden Entscheidung der Behörde hinsichtlich der Verweigerung des Erwerbs der Rechtspersönlichkeit als Bekenntnisgemeinschaft eine Verletzung der Religionsfreiheit. Weder aus dem genannten Erkenntnis noch aus dem Islamgesetz oder der angesprochenen Verordnung sei abzuleiten, dass sich in Österreich nur eine sich als islamisch verstehende Bekenntnisgemeinschaft oder Religionsgesellschaft konstituieren könne. Eine Vertretung aller Anhänger des Islam durch eine islamische Einheitsgemeinde sei nicht vorgegeben. Der Anerkennung als Religionsgesellschaft stehe aber nach wie vor entgegen, dass der beschwerdeführende Kulturverein bisher keine Rechtspersönlichkeit als Bekenntnisgemeinschaft im Sinne des BKGG inne

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VfSlg 9185/1981. VfGH 01. 12. 2010, B 1214/09; vgl. auch JurBl. 2011, S. 296. 34 Siehe im Ergebnis bereits Potz, Aktuelle Fragen des österreichischen Religionsrechts, ÖARR 56 (2009), S. 201, hier S. 212 f. 35 RGBl. 1912/159 i. d. F. BGBl. 164/1988. 36 BGBl. 466/1988. 33

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gehabt habe.37 Dass der Verfassungsgerichtshof auf das BKGG rekurriert und die Frage, ob das IslamG in diesem Punkt an vergleichbaren verfassungsrechtlichen Mängeln leidet wie das Israelitengesetz 1984, nicht releviert, ist wohl einerseits dem Umstand geschuldet, dass der antragstellende alevitische Kulturverein in eventu auch die Zuerkennung der Rechtspersönlichkeit nach BKGG beantragt hat, wodurch die Präjudizialität der Bestimmungen im Sinne der in diesem Beitrag erörterten Problematik weggefallen sein dürfte, anderseits geht aus der Begründung des Erkenntnisses deutlich hervor, dass sich der Verfassungsgerichtshof und auch der Beschwerdeführer mit der Frage der Unterschiedlichkeit der Lehre der Anerkennungswerberin im Vergleich zur bestehenden gesetzlich anerkannten Religionsgesellschaft auseinandersetzen und nicht (nur) mit einer bloßen Ritusverschiedenheit. Zum Teil wird überhaupt bestritten, dass die Aleviten Anhänger des Islam sind.38 Daher sind diese Fallkonstellationen nicht miteinander vergleichbar. Mit 13. Dezember 2010 hat die Islamische Alevitische Glaubensgemeinschaft in Österreich nunmehr den Status einer Bekenntnisgemeinschaft im Sinne des BKGG erlangt.39 Die 60.000 Aleviten sind wohl die einzige noch nicht im Sinne des AnerkG anerkannte Religionsgesellschaft in Österreich, für die die in § 11 Abs. 1 lit. d BKGG enthaltene Grenze von 2 % der Gesamtbevölkerung keine Hürde darstellt.40 Problematisch könnte allerdings sein, ob die Islamische Alevitische Glaubensgemeinschaft in Österreich tatsächlich alle Aleviten in Österreich vertritt. Derzeit ist beim VfGH eine Bescheidbeschwerde der „Föderation der Aleviten Gemeinden in Österreich“ anhängig.41 Diese versteht sich als eigentlicher Dachverband der 60.000 Aleviten in Österreich. Bei dem antragstellenden Kulturverein, welcher nunmehr den Status einer Bekenntnisgemeinschaft im Sinne des BKGG inne hat, handle es sich um eine Tochtergemeinde. Die „Föderation“ lehnt insbesondere die Bezeichnung „Islamisch“ strikt ab. Der Antrag des Dachverbandes auf Erwerb der Rechtspersönlichkeit als Bekenntnisgemeinschaft im Sinne des BKGG wurde jedoch einige Tage nach der positiven Entscheidung über den Antrag der Tochtergemeinde abgewiesen. Dies

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In diesem Sinne auch nicht in Widerspruch zum Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes 25. 09. 2010, G 58/10, G 59/10 stehend, in welchem lediglich die überlange Dauer der Beobachtungszeiträume nach BKGG bemängelt wurde. 38 Vgl. dazu VfGH 1. 12. 1010, B 1214/09, insb. S. 24 f. Zur Präjudizialitätsfrage finden sich im Erkenntnis keine Erwägungen. Vgl. auch Pabel, Entwicklungen (Anm. 14), m.w.N., die ebenfalls die Frage der Unterschiedlichkeit der Religionslehre hervorhebt, Präjudizialitätsprobleme im angesprochenen Sinne aber nicht releviert. 39 Bundesministerium für Unterricht, Kunst und Kultur, www.bmukk.gv.at/ministerium/ kultusamt/ eingetr_rel_bekg.xml (09. 06. 2011). 40 Religion orf.at, www.religion.orf.at/projekt03/news/1012/ne101222_aleviten_fr.htm (10. 06. 2011). 41 Sie wurde unter der GZ B 194/11 protokolliert.

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wohl nur deshalb, weil Letztere Ersterer bei der Antragstellung zeitlich zuvorgekommen war.42 3. Bestehende Ritusverschiedenheit im Sinne des § 2 IsraelitenG Auf der Grundlage der erzielten Ergebnisse sollen nun die Voraussetzungen des § 2 3. Satz IsraelitenG i.d.F. BGBl. 1984/61 näher betrachtet werden. Als einziges Tatbestandsmerkmal, das die Erwirkung einer gesetzlichen Anerkennung als Religionsgesellschaft nach den Bestimmungen des AnerkG ermöglicht, wird die Ritusverschiedenheit genannt. Es gilt zu fragen, was darunter zu verstehen ist. Der Umstand, dass mit der Gesetzesänderung dem 1981 gefällten Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes43 Rechnung getragen werden sollte und das Fehlen anderer Anhaltspunkte im Text und in den Materialien, die den Gesetzeswerdungsprozess begleiten, rückt auch bei der Beantwortung dieser Frage den Inhalt des genannten Erkenntnisses in den Mittelpunkt. In den Ausführungen des Verfassungsgerichtshofes lassen sich folgende Elemente, die der Bundesgesetzgeber ihm folgend unter dem Tatbestandsmerkmal „Ritusverschiedenheit“ zusammengefasst hat, finden: Der Verfassungsgerichtshof selbst bezieht sich dabei auf die zugrunde liegende Fallkonstellation, die Rückschlüsse zulässt. Ausgangspunkt für die Beschwerde war die Trennung zwischen der Orthodoxie und der liberalen Judenschaft, die auch in Österreich praktisch und ideologisch eine vollständige sei. Dabei wurde in der Beschwerde eine Reihe von Beispielen angeführt, die die Verletzung des Beschwerdeführers durch die angefochtenen seinerzeit geltenden Bestimmungen in seinen religiösen Freiheiten belegen. Unter anderem wurde vom Antragsteller geltend gemacht, dass es ihm verboten sei, Kultussteuern an eine nicht orthodoxe Einrichtung zu religiösen Zwecken zu entrichten, dass er den von der IKG erhaltenen Tempel nicht benützen dürfe, dies schon wegen seiner Bauart. Er könne die von der IKG erhaltene Mikhwah in Döbling nicht benützen, weil sie für die vornehmlich im Zentrum von Wien wohnhaften orthodoxen Juden wegen der Entfernung unbenützbar sei. Der gläubige Jude dürfe bekanntlich an den Feiertagen kein Verkehrsmittel benützen. Die Kinder eines Orthodoxen dürften nicht eine Talmud-Thora-Schule einer IKG besuchen, die von Liberalen regiert wird, wie von der IKG Wien. In der Orthodoxie dürfe die Frau nicht an Wahlen teilnehmen. In der IKG bestehe das Frauenwahlrecht, weshalb auch in diesem Punkt die IKG den strengen und unverzichtbaren Glaubensgrundsätzen der Orthodoxie widerspreche.44 Vor diesem Hintergrund hält der Verfassungsgerichtshof fest, dass es unsachlich sei und daher auch gegen den den Gesetzgeber bindenden Gleichheitssatz verstoße, 42

Föderation der Aleviten Gemeinden in Österreich, www.aleviten.or.at/cms/de-detail/ article/alevitischer-dachverband-bringt-vfgh-beschwerde-ein-1.html (10. 06. 2011); Religion orf.at, www.religion.orf.at/projekt03/ news/1101/ne110126_aleviten_fr.htm (10. 06. 2011). 43 VfSlg 9185/1981. 44 Vgl. auch oben II.1.a).

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einer Personengruppe, für deren religiöse Überzeugung es essentiell ist, sich als „Israelite“ zum jüdischen Glauben zu bekennen, die Möglichkeit zu verwehren, neben der auf einem bestimmten Gebiet einzig bestehenden IKG eine andere gesetzlich anerkannte Religionsgesellschaft zu gründen, die sich selbst als „israelitisch“ versteht, und zwar derart, dass diese Personengruppe weder eine Kultusgemeinde nach dem Israelitengesetz noch eine Religionsgesellschaft nach dem Anerkennungsgesetz bilden kann, all dies auch dann nicht, wenn ihrer weiteren religiösen Überzeugung nach die bestehende IKG nicht den ihrer Meinung nach richtigen jüdischen Glaubensinhalt vertritt. Auf dieser Grundlage erfolgte 1984 die Gesetzesänderung, die im Sinne dieses Erkenntnisses den verfassungskonformen Zustand herstellen soll. Das wesentliche Tatbestandsmerkmal der Ritusverschiedenheit in § 2 3. Satz des IsraelitenG i.d.g.F. ist daher vor diesem Hintergrund zu verstehen, weil es unter anderem auch die vom Verfassungsgerichtshof aufgezeigte Verfassungswidrigkeit bereinigen wollte. Allgemein kann daher festgehalten werden, dass Ritusverschiedenheit im Sinne des § 2 3. Satz IsraelitenG i.d.g.F. immer dann vorliegt, wenn ein Israelite (ein sich zum jüdischen Glauben bekennender Mensch) nicht innerhalb einer bestehenden gesetzlich anerkannten Religionsgesellschaft seine Glaubensüberzeugung so leben kann, dass er dabei die ihn (nach seiner Glaubensüberzeugung einzuhaltenden) bindenden religiösen Gebote und Verbote befolgen kann, obwohl sich maßgebliche Glaubensinhalte mit der bestehenden gesetzlich anerkannten Religionsgesellschaft decken. 4. Voraussetzungen nach dem Anerkennungsgesetz Die wesentlichen Voraussetzungen für die Anerkennung als gesetzlich anerkannte Religionsgesellschaft nach den Bestimmungen des Anerkennungsgesetzes, RGBl. 1874/68, finden sich insbesondere in den §§ 1, 3, 5 und 6. a) Religionslehre, Verfassung (§ 1 Z. 1 AnerkennungsG) Gemäß § 1 Z. 1 Anerkennungsgesetz wird den Anhängern, also einer Mehrzahl physischer Personen45, eines bisher gesetzlich nicht anerkannten Religionsbekenntnisses die Anerkennung als Religionsgesellschaft unter der Voraussetzung erteilt, dass ihre Religionslehre, ihr Gottesdienst, ihre Verfassung sowie die gewählte Benennung nichts Gesetzwidriges oder sittlich Anstößiges enthält.46 Eine Orthodoxe

45

Inge Gampl, Österreichisches Staatskirchenrecht, Wien/New York 1971, S. 132. Hans Klecatsky/Hans Weiler, Österreichisches Staatskirchenrecht, Wien 1958, S. 63; Inge Gampl/Richard Potz/Brigitte Schinkele, Österreichisches Staatskirchenrecht, 1. Bd., Wien 1990, S. 147 f.; Gampl, Österreichisches Staatskirchenrecht (Anm. 45), S. 135 ff.; Kalb/ Potz/Schinkele, Religionsrecht (Anm. 3), S. 95 f. 46

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Jüdische Kultusgemeinde hätte sich selbst eine Verfassung zu geben, die den genannten Voraussetzungen entspricht. b) Verhältnis zu anderen Religionsgemeinschaften Unter dem Blickwinkel der Gesetzwidrigkeit gemäß § 1 Abs. 1 des Anerkennungsgesetzes ist auch die Frage zu erörtern, ob keine gesetzwidrige Störung des Verhältnisses zu den bestehenden gesetzlich anerkannten Kirchen und Religionsgesellschaften sowie sonstigen Religionsgemeinschaften vorliegt, wie dies nunmehr im BKGG auch ausdrücklich formuliert wird47, aber auch im hier anzuwendenden § 1 Anerkennungsgesetz schon immer tatbestandlich gefordert wurde.48 Hinsichtlich der Abgrenzung betreffend die Ritusverschiedenheit zur bestehenden Israelitischen Kultusgemeinde kann auf die oben gemachten Ausführungen verwiesen werden. Sie scheinen jedenfalls im Hinblick auf die verfassungsgerichtliche Judikatur und die darauf basierende Bundesgesetzgebung unproblematisch. Auch im Hinblick auf die Abgrenzung zu anderen gesetzlich anerkannten Kirchen und Religionsgesellschaften und sonstigen Religionsgemeinschaften lassen sich im oben genannten Rahmen Anhaltspunkte, die eine gesetzwidrige Störung des Verhältnisses oder eine gesetzwidrige Verhaltensweise ganz allgemein auch nur vermuten lassen, letztlich nur in den Statuten und in den konkreten Umständen eines solchen Falles finden. c) Zugehörigkeit und Beitritt (§ 3 Anerkennungsgesetz) Gemäß § 3 Anerkennungsgesetz müssen die Erfordernisse der Zugehörigkeit und die Art des Beitrittes zu einer anerkannten Religionsgesellschaft durch deren Verfassung bestimmt werden.49 Eine zu gründende Orthodoxe Jüdische Kultusgemeinde hätte somit in ihren Statuten oder ihrer Verfassung solches in ausreichender Art und Weise zu regeln. Es ist die in den Motivenberichten zu § 3 Anerkennungsgesetz geforderte „präcise äußere Form“, weil der Staat „nicht mit religiösen Bekenntnissen, sondern nur mit kirchlichen Organismen tractieren“ könne50, zu erreichen. Dieses Erfordernis kann auch durch ergänzende Bestimmungen über Organe und Vertretungsbefugnisse erfüllt werden. d) Gesicherter Bestand (§ 1 Z. 2 Anerkennungsgesetz) Nach § 1 Z. 2 Anerkennungsgesetz ist weitere Voraussetzung für die gesetzliche Anerkennung als Religionsgesellschaft, „dass die Errichtung und der Bestand wenigstens einer nach den Anforderungen dieses Gesetzes eingerichteten Kultusge47 48 49 50

Kalb/Potz/Schinkele, Religionsrecht (Anm. 3), S. 102. Gampl, Österreichisches Staatskirchenrecht (Anm. 45), S. 135 f. Klecatsky/Weiler, Österreichisches Staatskirchenrecht (Anm. 46), S. 67. Vgl. MB 43 AH Session VIII 135 Blg sten Prot.

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meinde gesichert ist“. Es stellt sich die Frage, wie viele Anhänger für die Sicherung einer Kultusgemeinde notwendig sind. Gampl geht in ihren Ausführungen davon aus, dass die bloße Anzahl von Anhängern allein nach dem Anerkennungsgesetz nicht ausreicht, um dieses Tatbestandsmerkmal zu bejahen. Sie meint, dass schon aus diesem Grunde eine analoge Heranziehung des § 7 IsraelitenG, wonach dreißig Familienhäupter als Mindestzahl von Antragstellern für die Errichtung einer neuen Kultusgemeinde genügten, bei der Vollziehung des Anerkennungsgesetzes unzulässig wäre. Vielmehr sei zu prüfen, ob die gegebene Anzahl im Hinblick auf die Gesamtheit der konkreten Umstände als eine hinreichende Sicherung für den künftigen Bestand der Kultusgemeinde in personeller Hinsicht anzusehen ist. Es muss die Kultusgemeinde „über eine so große Anzahl von Mitgliedern … verfügen …, dass ihr künftiger Bestand durch die – vernünftigerweise vorhersehbare … zu erwartende – Verminderung der Mitglieder durch Todesfälle oder Austritte als nicht gefährdet anzusehen ist“. Gampl geht in diesem Zusammenhang davon aus, dass in die Betrachtung der bisherige Bestand einer Glaubensgemeinschaft mit einbezogen werden muss und dass als Anhaltspunkt auch Gesichtspunkte über die Altersstruktur und die Verteilung der Anhängerschaft auf verschiedene Generationen zu Buche schlagen können.51 Letztlich lässt sich diese Frage nicht abstrakt beantworten. Vielmehr wird der gesicherte Bestand an Hand der konkreten Parameter im Einzelfall beurteilt werden müssen, wobei Vergleiche zu bestehenden gesetzlich anerkannten Kirchen und Religionsgesellschaften anzustellen sind. Solche heranzuziehende Parameter sind neben der schon genannten Anhängerschaft z. B. die Altersstruktur, die Dauer und Organisation, in der bis zur Antragstellung die Betätigung erfolgte, und viele andere mehr. e) Ausreichende Mittel (§ 5 Anerkennungsgesetz) § 5 Anerkennungsgesetz verlangt zur Errichtung einer Kultusgemeinde den Nachweis, dass diese hinreichende Mittel besitzt, um die nötigen gottesdienstlichen Anstalten und die Erhaltung des ordentlichen Seelsorgers und die Erteilung eines geregelten Religionsunterrichtes zu sichern.52 III. Schlussfolgerungen Die Ritusverschiedenheit von Gruppierungen innerhalb einer gesetzlich anerkannten Kirche oder Religionsgesellschaft erfordert unter verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten eine Anerkennungsmöglichkeit solcher Gruppierungen, deren praktisches Glaubensleben sich nicht mit der bestehenden Religionsgesellschaft vereinbaren lässt, obwohl wesentliche Glaubensinhalte geteilt werden, nach den Bestimmungen des Anerkennungsgesetzes. 51

Gampl, Österreichisches Staatskirchenrecht (Anm. 45), S. 132 ff. Kalb/Potz/Schinkele, Religionsrecht (Anm. 3), S. 108; Gampl, Österreichisches Staatskirchenrecht (Anm. 45), S. 144. 52

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§ 2 3. Satz IsraelitenG i.d.g.F. sieht als lex specialis eine Sonderform der gesetzlichen Anerkennung als Religionsgesellschaft nach dem Anerkennungsgesetz für Glaubensgemeinschaften jüdischen Glaubens vor, die sich in ihrem Ritus von der bestehenden Israelitischen Religionsgesellschaft unterscheiden und die deshalb nicht den allgemeinen Bestimmungen des 1998 geschaffenen Bekenntnisgemeinschaftengesetzes unterliegen. Im Hinblick auf bestehende gesetzliche Sonderregelungen für einzelne gesetzlich anerkannte Kirchen und Religionsgesellschaften erscheint daher eine Anerkennung von Gruppierungen aus solchen Kirchen und Religionsgesellschaften heraus als selbständige Kirche oder Religionsgesellschaft bei (bloßer) Ritusverschiedenheit ohne Umweg über das Bekenntnisgemeinschaftengesetz zulässig bzw. geboten. Gesetzliche Regelungen für einzelne gesetzlich anerkannte Kirchen und Religionsgesellschaften, die solches bei Ritusverschiedenheit für innere Gruppierungen nicht zulassen, begegnen daher schon unter Sachlichkeitsgesichtspunkten verfassungsrechtlichen Bedenken.

Islamische Theologie an der Universität Von Richard Potz I. Einleitung In einem Bericht der Europäischen Kommission aus dem Jahr 2006 mit dem Titel „Islam in der Europäischen Union – Was steht für die Zukunft auf dem Spiel?“1, der sich mit allen Aspekten der Integration von Muslimen und Musliminnen auseinandersetzt, wird die Schaffung von Hochschuleinrichtungen für die Muslime in Europa als eine der wichtigsten Prioritäten für die Zukunft des Islam in Europa bezeichnet. Es müsse zu den künftigen Schwerpunktaufgaben gehören, in Europa die Voraussetzung für eine religiöse Ausbildung auf Hochschulniveau zu schaffen. In diesem Bericht heißt es weiter: „Die Gründung solcher Lehrstätten (Fakultäten, Institute) setzt die Beantwortung bestimmter Fragen voraus. Wer soll sie einrichten und welche personellen und geistigen Ressourcen stehen dafür zur Verfügung? Welchen Status sollen sie haben? Wer von den vielen Stellen und Akteuren, die sich in Europa und in den islamischen Ländern mit dieser Frage beschäftigen, erteilt ihnen den Auftrag? Was soll gelehrt werden? Wie kann die klassische Struktur der islamischen Hochschule an europäische Verhältnisse angepasst werden? Und wie lassen sich die unterschiedliche Herkunft und die unterschiedlichen Rechtstraditionen der Muslime berücksichtigen?“2

Inzwischen werden solche Überlegungen praktisch in allen europäischen Staaten angestellt, für die diese Fragen auf Grund einer entsprechenden islamischen Minderheit von gesellschaftspolitischer Relevanz sind. So hat auch der deutsche Wissenschaftsrat im Jänner 2010 „Empfehlungen zur Weiterentwicklung von Theologien und religionsbezogenen Wissenschaften an deutschen Hochschulen“ (in der Folge: Empfehlungen) vorgelegt3, die sich neben der Auseinandersetzung mit der allgemeinen Situation theologischer Fächer an den staatlichen Hochschulen Deutschlands insbesondere auch mit „Islamwissenschaftlichen Fächern und islamischen Stu1

Felice Dassetto/Brigitte Mar¦chal/Silvio Ferrarri, Islam in der Europäischen Union: Was steht für die Zukunft auf dem Spiel? Hrsg. vom Europäisches Parlament, Generaldirektion Interne Politikbereiche der Union – Fachreferat Strukturpolitik und Kohäsion (IP/B/ CULT/IC/2006_061 PE 369.031), S. iv, vi: http://csv.lu/de/upload/actualites/3994/Islam_Europ_Union.pdf (18. 11. 2011). 2 Ebd., S. 21. 3 Wissenschaftsrat, Empfehlungen zur Weiterentwicklung von Theologien und religionsbezogenen Wissenschaften an deutschen Hochschulen, Drs. 9678 – 10 vom 29. Januar 2010, abzurufen unter: http://www.wissenschaftsrat.de/download/archiv/9678 – 10.pdf (12. 10. 2011).

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dien“4 befassen.5 Danach wären „an zwei bis drei staatlichen Universitäten, an denen bereits andere religionsbezogene Wissenschaften etabliert sind, institutionell starke Einheiten für Islamische Studien aufzubauen. Diese sollten Zentren islamisch-theologischer Forschung werden und eine zentrale Rolle bei der Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses in Islamischen Studien spielen.“ Diese Zentren sollten die Aufgabe übernehmen, „islamische Religionslehrer und -lehrerinnen auszubilden, und darüber hinaus eine wissenschaftlich fundierte Ausbildung von Religionsgelehrten im staatlichen Hochschulsystem“ ermöglichen.6 Inzwischen haben mit Unterstützung ihrer Landesregierungen sechs deutsche Universitäten beschlossen, zusammen vier derartige Zentren zu gründen.7 Diese Zentren sollen mit jeweils mindestens sechs Professuren ausgestattet werden.8 Davon sind (Stand Oktober 2011) bislang allerdings nur einige wenige besetzt.9 4

Der deutsche Wissenschaftsrat hat darauf verwiesen, dass die Verwendung des Begriffs Theologie für nichtchristliche Religionen, insbesondere auch für Judentum und Islam, umstritten ist: Wissenschaftsrat, Empfehlungen (Anm. 3), S. 52, 54, 55 f. Im Folgenden wird aus zwei Gründen von „Islamischer Theologie“ gesprochen. Erstens beginnt sich der Begriff inzwischen sowohl im islamischen als auch im islamwissenschaftlichen Bereich durchzusetzen, vgl. dazu Lutz Berger, Islamische Theologie, Stuttgart 2010. Zweitens sollte der Begriff auch aus wissenschaftspolitischen Gründen verwendet werden, um die gleichrangige Verortung derartiger Studien im staatlichen Universitätssystem i. S. eines universitätsrechtlichen Rahmenbegriffs für bekenntnisgebundene Wissenschaften. herauszustellen. Was die Inhalte der „Islamischen Theologie“ betrifft, so bestehen zwar Unterschiede im Aufbau der einschlägigen Studien an renommierten islamischen akademischen Einrichtungen, aber die Vereinigungsmenge der dort betriebenen islamischen Wissenschaften ist weniger weit entfernt von den Fächerkatalogen der Katholisch-Theologischen und Evangelisch-Theologischen Fakultäten, als man gemeinhin annimmt. 5 Diese Empfehlung hat zu einer breiten Auseinandersetzung mit dem Thema im deutschen Schrifttum geführt, vgl. insbes. Martin Heckel, Korollarien zur „Weiterentwicklung von Theologien und religionsbezogenen Wissenschaften“ – im Spiegel der WissenschaftsratsEmpfehlungen vom 29. 01. 2010, in: ZevKR 55 (2010), S. 117 – 226; Hans Michael Heinig, Islamische Theologie an staatlichen Hochschulen in Deutschland, in: ZevKR 56 (2011), S. 238 – 261 sowie die Beiträge in: Bülent Ucar (Hrsg.), Imamausbildung in Deutschland, Veröffentlichungen des Zentrums für Interkulturelle Islamstudien der Universität Osnabrück, 3. Bd., Osnabrück 2010, mit jeweils umfangreichen Literaturhinweisen. Bereits vorher haben sich mit der Frage befasst: Katrin Janke, Institutionalisierter Islam an staatlichen Hochschulen, Verfassungsfragen islamischer Lehrstühle und Fakultäten, Islam und Recht Bd. 3, Frankfurt a. M. u. a. 2004; Jakob Julius Nolte, Islamische Theologie an deutschen Hochschulen?, in: DÖV 61 (2008), S. 129 – 138. 6 Wissenschaftsrat, Empfehlungen (Anm. 3), S. 7 f. 7 Es sind dies die Universitäten Tübingen, Erlangen, Frankfurt gemeinsam mit Gießen, Münster gemeinsam mit Osnabrück. 8 Die Empfehlungen (Wissenschaftsrat, Empfehlungen [Anm. 3], S. 85) sprechen von vier bis sechs Professuren pro Standort. Vom deutschen Bundesministerium für Bildung und Forschung wurde pro Standort für fünf Jahre die Finanzierung von zwei Forschungsprofessuren, zwei Mitarbeiterstellen und zwei Forschergruppen mit Stellen für bis zu acht Nachwuchswissenschaftler zugesagt (Presseerklärung 20/2011 des Bundesministeriums für Bildung und Forschung vom 24. 02. 2011, vgl. Heinig, Islamische Theologie [Anm. 5], S. 248 f.).

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Im folgenden Beitrag sollen eine Analyse der entsprechenden Situation in Österreich unternommen bzw einige Überlegungen für zukünftige Entwicklungen angestellt werden. Einerseits gilt eine Reihe von grundsätzlichen wissenschafts-, religions- und gesellschaftspolitischen Überlegungen des deutschen Diskurses selbstverständlich auch für Österreich, andererseits sind doch einige unterschiedliche historische Voraussetzungen10 und rechtliche Rahmenbedingungen zu beachten. Diese betreffen insbesondere die anders gelagerte religionsrechtliche Ausgangssituation für den Islam. Aufgrund der auf das Islamgesetz 1912 zurückgehenden gesetzlichen Anerkennung des Islam11 war es 1979 zur Gründung der Islamischen Glaubensgemeinschaft in Österreich (in der Folge: IGGiÖ) gekommen, die damit öffentlichrechtliche Stellung genießt.12 Damit war von Anfang an ein Gesprächspartner für den Staat gegeben, wenn auch die Repräsentativität der IGGiÖ immer wieder in Frage gestellt wurde.13 9

Es zeichnet sich damit das Problem des geringen einschlägigen „Angebots“ am deutschsprachigen „Markt“ ab, das bereits im Zuge der Überlegungen der Einrichtung einer zweiten Professur im Bereich der Islamischen Religionspädagogik in Wien virulent geworden ist. 10 In Österreich steht die Islamwissenschaft zwar auch in der Tradition der Orientalistik; deren Geschichte ist jedoch auf Grund der historischen Auseinandersetzungen mit dem Osmanischen Reich durch andere politische bzw. wissenschaftspolitische Voraussetzungen als in Deutschland bestimmt, wo die Orientalistik ebenso wie die Judaistik durch die Anbindung an die Theologie geprägt war, vgl. Wissenschaftsrat, Empfehlungen (Anm. 3), S. 34, Anm. 54. 11 Zur Entstehungsgeschichte des österreichischen Islamgesetzes vgl. Richard Potz, Das Islamgesetz 1912 und der religionsrechtliche Diskurs in Österreich zu Beginn des 20. Jahrhunderts, in: Thomas Olechowski u. a. (Hrsg.), Grundlagen der österreichischen Rechtskultur (FS Ogris 75), Wien/Köln/Weimar 2010, S. 385 – 408. 12 Zur öffentlich-rechtlichen Stellung der gesetzlich anerkannten Kirchen und Religionsgesellschaften vgl. Brigitte Schinkele, Zur öffentlich-rechtlichen Stellung von Religionsgemeinschaften, in: juridikum 3 (2001), S. 123 – 128; Richard Potz, Zur öffentlich-rechtlichen Stellung der Kirchen und Religionsgesellschaften, in: ders./Reinhard Kohlhofer (Hrsg.), Die „Anerkennung“ von Religionsgemeinschaften, colloquium 6 (2002), S. 25 – 38. 13 Die hier angesprochene ex-lege-Mitgliedschaft nach dem Vorbild staatlicher Selbstverwaltungseinrichtungen mit öffentlich-rechtlicher Stellung, wie z. B. den Kammern, wird für Religionsgemeinschaften vielfach als inadäquat empfunden. Das für derartige Organisationssysteme kennzeichnende Merkmal der „durchgehenden Entscheidungsverknüpfung“ ist bei Religionsgemeinschaften meist nicht vorhanden (Niklas Luhmann, Funktion der Religion, Frankfurt a. M. 1977, S. 295), die Unterscheidung zwischen einer „erworbenen und bejahenden Mitgliedschaft“ und einer „zugeschriebenen Mitgliedschaft“ (Reiner Preul, Kirchentheorie, Berlin/New York 1997, S. 208) wird daher zu einer fundamentalen Frage. In diesem Sinne wurde auch der Umstand der ex-lege-Mitgliedschaft der Muslime/-innen bei der IGGiÖ insbesondere vor dem Hintergrund ihrer ethnischen und theologischen Diversität zu einem immer wieder benutzten Angriffspunkt. Dies insbesondere angesichts der immer wieder angeprangerten geringen Beteiligung bei den Wahlen zu den Gremien der IGGiÖ. Bei den letzten Wahlen 2010/2011 hat sich die Situation deutlich gebessert, es konnte schließlich eine Zahl (offizielle Angaben der IGGiÖ) von 124.465 registrierten Mitgliedern erreicht werden, von denen allerdings nur 27.095 wahlberechtigt waren, da sie ihren jährlichen Mitgliedsbeitrag geleistet hatten. Zur Wahl gegangen sind schließlich 20.485 Personen (vgl. dazu Susanne Heine/Rüdiger Lohlker/Richard Potz, Muslime in Österreich, Innsbruck 2012).

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Der Mangel eines solchen Gesprächspartners wird in Deutschland traditionell als Haupthindernis für die Korporationsfähigkeit des Islam angesehen. Auf diese bereits lange währende Diskussion, in der allerdings die Rechtsvergleichung regelmäßig zu kurz kommt, kann hier nicht weiter eingegangen werden.14 Im angesprochenen Kontext der Einrichtung eines islamisch-theologischen Studiums schuf dieser Mangel an einem institutionellen Gegenüber ein spezifisches Problem, das man mit der Einrichtung von Beiräten in den Griff zu bekommen trachtete, eine Lösung, die in der deutschen Diskussion wegen der damit verbundenen grundsätzlichen Rechtsfragen breiten Raum einnimmt.15 II. Die gegenwärtige Ausbildung des islamischen geistlichen Personals Was die Ausbildung des islamischen geistlichen Personals bzw. der islamischen Religionslehrer/innen betrifft, so bestehen in Europa grundsätzlich vier Alternativen. Zwei davon – religionsgesellschaftliche Ausbildung im Ausland oder im Inland – stehen in allen Immigrationsländern zur Verfügung; für zwei weitere Alternativen – Ausbildung in staatlich angebundenen religionsgesellschaftlichen Einrichtungen oder in staatlichen Einrichtungen – bestehen in Österreich auf Grund der gesetzlichen Anerkennung des Islam besondere rechtliche Voraussetzungen. Dabei sind bislang zwei Bereiche zu unterscheiden: Während es im Bereich der Religionspädagogik auf Grund der Einführung des islamischen Religionsunterrichts zu einer entsprechenden Institutionalisierung von pädagogischen Bildungseinrichtungen gekommen ist, bestehen im Bereich der so genannten Imameausbildung nur erste Ansätze eines staatlichen Hochschulangebots. Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass die Ausbildung des geistlichen Personals, wie das gesamte Ämter- und Dienstrecht, in den Bereich der inneren Angelegenheiten der gesetzlich anerkannten Kirchen und Religionsgesellschaften gemäß Art. 15 StGG gehörten.16 Der Staat darf daher von sich aus die Ausbildung des geistlichen Personals nicht in die Hand nehmen; staatliche Regelungen betreffend Ausbildungsnachweise von geistlichen Amtsträgern sind als obsolet zu betrachten.17 Das 14

Vgl. dazu bspw. die Beträge in: Der Islam in der Bundesrepublik Deutschland (EssGespr. 20), Münster 1986; Stefan Muckel, Islam in Germany, in: Richard Potz/Wolfgang Wieshaider (Hrsg.), Islam and the European Union, Wien 2004, S. 41 – 77, insbes. S. 47 ff. Aus jüngerer Zeit sei auf einen Gastbeitrag von Christian Walter in der FAZ vom 01. 12. 2010 mit dem bezeichnenden Titel „Die Zähmung der Religion“ und Heinig, Islamische Theologie (Anm. 5), S. 253 ff. verwiesen. 15 Vgl. dazu insbes. die Beiträge in: Christian Walter u. a (Hrsg.), Die Einrichtung von Beiräten für Islamische Studien (Schriften zum Religionsrecht 2), Baden-Baden 2011. 16 Vgl. Inge Gampl/Richard Potz/Brigitte Schinkele, Österreichisches Staatskirchenrecht I, Wien 1990, S. 40 f. 17 Vgl. § 11 Israelitengesetz 1890, wonach für das Amt des Rabbiners „der Nachweis allgemeiner Bildung erforderlich“ ist. Weiter heißt es in § 11 Israelitengesetz: „Das Maß derselben wird mit Rücksicht auf die in den einzelnen Ländern bestehenden Verhältnisse im Verordnungswege bestimmt.“ Derartige Verordnungen wurden auch erlassen und normier-

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schließt selbstverständlich nicht aus, dass im Einvernehmen mit den Kirchen und Religionsgesellschaften ein derartiger Ausbildungsnachweis vereinbart werden kann. Dies insbesondere dann, wenn seitens des Staates eine entsprechende Ausbildungsmöglichkeit vorgesehen ist, wie im Falle der theologischen Fakultäten. Die erste der vier Alternativen besteht in der Ausbildung im Ausland. Wie nahezu überall in Europa stammt das geistliche Personal der Moscheegemeinden auch in Österreich häufig aus dem Ausland, d. h. aus dem jeweiligen Herkunftsland der Gemeindemitglieder. Insgesamt wird von einer Gesamtzahl von mehreren hundert Imamen, Religionsbeauftragten und SeelsorgerInnen in Österreich auszugehen sein, wobei gegenwärtig ungefähr 260 Personen aus dem Ausland kommen.18 Das türkische Präsidium für Religionsangelegenheiten (Diyanet I˙s¸leri Bas¸kanlıg˘ı) hat etwa Mitte der 1970er Jahre begonnen, die Nachfrage an geistlichem Personal in den türkischen Vereinen durch die Entsendung von Imamen zu decken. Ein wichtiger Anstoß war die Aktivität von einigen türkischen Vereinen, die dem türkischen Staatsmodell kritisch gegenüberstanden. Die Imame kamen zunächst nur für eine begrenzte Zeit nach Europa, z. B. für islamische Festtage wie den Ramadan oder das Opferfest. Zu Anfang waren es maximal sechs Monate. Es folgte eine Verlängerung auf ein Jahr und dann auf vier bis fünf Jahre. Aktuell wird eine Zahl von etwa sechzig entsandten Imamen angegeben.19 Mit dieser nur vorübergehenden Tätigkeit in Österreich war und ist in vielen Fällen die Schwierigkeit verbunden, dass diese Personengruppe weder allgemein mit den gesellschaftlichen Bedingungen in Österreich noch im Besonderen mit Fragen der Minderheitensituation bzw. der Integrationsproblematik vertraut ist. Die mit der türkischen Religionsbehörde verbundene, 1990 gegründete und derzeit ca. 60 Mitgliedsvereine umfassende „Türkisch Islamische Union für Kulturelle und Soziale Zusammenarbeit in Österreich“ (ATIB) hat daher begonnen, für ihre aus der Türkei entsandten Imame und Religionsbeauftragten Lehrgänge zur Vorbereitung auf ihre Tätigkeit in Österreich zu organisieren, die unter anderem vom österreichischen Außenministerium gefördert werden.20 ten, dass „die Candidaten für das Amt des Rabbiners“ nachzuweisen haben, dass sie „zumindest das Obergymnasium vollständig mit gutem Erfolg zurückgelegt haben“. Als Normierung einer staatlichen Voraussetzung für die Bestellung in ein geistliches Amt ist diese Bestimmung inzwischen nicht mehr anwendbar (vgl. Gampl/Potz/Schinkele, Staatskirchenrecht I [Anm. 16], S. 425). 18 Heine/Lohlker/Potz, Muslime (Anm. 13). 19 Ebd. 20 Die Österreichische Botschaft in Ankara veranstaltete 2011 erstmals in der Türkei eine Schulung für türkische Religionsbeauftragte, die nach Österreich entsandt werden sollen. Es handelt sich um eine Gemeinschaftsveranstaltung mit der türkischen Religionsbehörde („Diyanet“). Seit November 2008 finden so genannte „Landeskundliche Schulungen für türkische Religionsbeauftragte“ einmal im Jahr für Imame kurz nach ihrem Eintreffen in Österreich statt, um sie mit Land, Leuten und Kultur Österreichs, dem politischen System sowie Fragen zum Verhältnis von Staat, Gesellschaft und Religion in Österreich und Europa vertraut zu machen. Die Religionsbeauftragten sollen damit befähigt werden, als

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Darüber hinaus wird seit dem Studienjahr 2009/2010 an der Universität Wien ein einjähriger Universitätslehrgang abgehalten. Der Universitätslehrgang „richtet sich an Imame, Religionsbeauftragte und islamische SeelsorgerInnen. Voraussetzung für die Aufnahme ist eine entsprechende berufliche Tätigkeit in Österreich bzw. Wien. Zudem bringen die TeilnehmerInnen idealerweise einen Studienabschluss in islamischer Theologie mit. Diese Anforderungen ergeben sich aus dem Lehrgangscharakter, welcher als eine Weiterbildung für die Zielgruppe zu verstehen ist.“

Er stellt daher keine Imameausbildung im engeren Sinne dar, sondern „soll auf universitärer Ebene Kenntnisse über die rechtliche, gesellschaftliche, politische und religiöse Situation Österreichs und Europas vermitteln. Der positive Abschluss des Weiterbildungsprogrammes befähigt die AbsolventInnen darüber hinaus, islamische Inhalte im europäischen Kontext unter der Berücksichtigung von genderspezifischen Aspekten zu verstehen. Die TeilnehmerInnen lernen über die islamwissenschaftlichen Traditionen mit besonderem Augenmerk auf diejenigen Standpunkte, welche für das alltägliche Leben der muslimischen Bevölkerung in Europa relevant sind. Als Vertrauensperson ihrer Gemeinden sollen die AbsolventInnen schließlich gegenwartsbezogen und gesellschaftlich-integrativ auf die Bedürfnisse ihrer Gemeindemitglieder eingehen können.“21

Der Lehrgang hat jedoch die Aufgabe, mittelfristig ein Angebot für die „Imameausbildung“ im Regelstudium vorzubereiten. Damit wurde angesichts des Angebots an Lehrenden22 und der Nachfrage von Studierenden der Weg eines eher behutsamen Aufbaus beschritten. Für die zweite Alternative, die inländische religionsgemeinschaftliche Ausbildung des geistlichen Personals, haben sich inzwischen große Verbände entschieden; verwiesen sei beispielsweise auf die Österreichische Islamische Föderation (Avusturya I˙slam Federasyonu), den österreichischen Dachverband von Mill„ Görüs¸, deren stärkster Verband wiederum die Islamische Föderation Wien (IFW) ist. Die wichtigste Abteilung der IFW in religiöser Hinsicht ist die für die religiöse Rechtleitung (Irschad). Sie steht nicht nur den Mitgliedern in allen religiösen Angelegenheiten zur Verfügung, wie etwa bei der Durchführung großer muslimischer Feste und der Fastenzeit, sondern bildet auch die Imame der IFW-Gemeinden aus und führt deren Weiterbildung durch.23

„Integrationslotsen“ für ihre jeweiligen Gemeinden zu arbeiten und nehmen daher auch an Exkursionen zu Sozial- und Beratungseinrichtungen teil; vgl. dazu die Aussendungen des österreichischen Außenministeriums: http://www.bmeia.gv.at/botschaft/ankara/aktuelles/pres seaussendungen/2010/entsendung-tuerkischer-imame-nach-oesterreich-verabschiedung-in-anka ra.html; http://www.bmeia.gv.at/aussenministerium/pressenews/presseaussendungen/2011/tuer kische-religionsbeauftragte-fuer-oesterreich-in-ankara-verabschiedet.html. 21 So die Lehrgangsbroschüre, abrufbar unter http://mie.univie.ac.at/fileadmin/user_upload/proj_muslime_eu/Brosch%C3 %BCre_2011_12_final.pdf (25. 11. 2011). 22 Siehe oben Anm. 9. 23 Heine/Lohlker/Potz, Muslime (Anm. 13).

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Was Religionslehrer/innen betrifft, so bestehen in Österreich für deren Ausbildung deshalb besondere Bedingungen, da die Erteilung des Religionsunterrichts ein Recht24 der gesetzlich anerkannten Kirchen und Religionsgesellschaften ist.25 Es gehörte daher zu den unmittelbaren Konsequenzen der Errichtung der IGGiÖ, dass 1983 die Einrichtung eines islamischen Religionsunterrichts erfolgte.26 Die Suche nach einem pädagogisch und fachwissenschaftlich ausgebildeten Lehrperso24 Die Frage, ob es sich bei der Erteilung des Religionsunterrichts ausschließlich um ein Recht der anerkannten Kirchen und Religionsgesellschaften handelt, „das sie ausüben können oder auch nicht, oder ob eine Verpflichtung auf Seiten der Religionsgemeinschaften gegeben ist, die der Staat einzufordern in der Lage ist“, ist nicht eindeutig beantwortbar. „In § 5 Anerkennungsgesetz 1874 wird indirekt davon ausgegangen, dass die Erteilung eines geregelten Religionsunterrichts eine Anerkennungsvoraussetzung darstellt, indem die Anerkennungswerberin gemäß dieser Bestimmung den Nachweis hinreichender Mittel u. a. auch für den Religionsunterricht zu erbringen hatte. Daraus würde eine Pflicht zur Erteilung des Religionsunterrichts resultieren. Sofern diese Frage in der weiteren Folge überhaupt thematisiert wurde, ging man jedoch davon aus, dass es sich bei der Besorgung des Religionsunterrichts in der Schule um ein in die freie Entschließung der Religionsgemeinschaften gestelltes Recht handelt, von dem sie entsprechend ihrem Selbstverständnis Gebrauch machen können oder auch nicht. Dies ist jedoch aus heutiger Sicht zu hinterfragen. Wenngleich grundrechtlichen Gewährleistungen grundsätzlich der Angebotscharakter immanent ist, so ist doch zu betonen, dass es auch und primär um die religiösen Interessen der Schüler und ihrer Eltern geht, denen gegenüber der Staat seine Schutzpflicht wahrnimmt. Zum anderen steht diese Frage auch im Zusammenhang mit einer notwendigen Neubestimmung der öffentlich-rechtlichen Stellung.“ – Für die Verleihung der öffentlich-rechtlichen Stellung ist der Befund, dass eine Religionsgemeinschaft weder staats- noch gesellschaftsfeindlich ist, nicht ausreichend. Die positive Grundeinstellung muss dann vielmehr in einer „Bereitschaft zu einem positiven Dialog, zur Unterstützung des Staats in Erfüllung öffentlicher Aufgaben seinen Niederschlag finden. Konsequenterweise wird man daher zu fragen haben, ob nicht gerade in einem so wichtigen Bereich wie dem öffentlichen Schulwesenein gewisses Maß an Kooperationsbereitschaft der Religionsgemeinschaft auch eingefordert werden kann. Gewissermaßen als im Anerkennungsakt implizit enthaltene ,institutionalisierte Verfassungserwartung des StaatesÐ, die in seiner Gemeinwohlverantwortung gründet“. (Brigitte Schinkele, Religionsunterricht – ein Privileg der Kirchen und Religionsgesellschaften?, in: Alfred Rinnerthaler [Hrsg.], Historische und rechtliche Aspekte des Religionsunterrichts, Bern u. a. 2004, S. 202 f.). Es ist bemerkenswert, dass zur Begründung der durch das BekGG 1998 eingeführten erforderlichen Mitgliederzahl an Gläubigen für die gesetzliche Anerkennung (2 %) seitens der Kultusbehörde neuerdings die Erteilung des Religionsunterrichts als die mit der Anerkennung verbundene umfassendste Pflicht bezeichnet wird (vgl. EB zur RV eines Bundesgesetzes, mit dem das Bundesgesetz über die Rechtspersönlichkeit von religiösen Bekenntnisgemeinschaften geändert wird, 283/ME XXIV. GP mit kaum nachvollziehbaren, im gegebenen Zusammenhang geradezu skurrilen Berechnungen). Das Konzept einer auf den Religionsunterricht reduzierten Funktion der gesetzlichen Anerkennung von Kirchen und Religionsgesellschaften bedarf aber unter verschiedenen Gesichtspunkten differenzierender Erörterungen, die hier zu weit führen würden. 25 Die eingetragenen religiösen Bekenntnisgemeinschaften mit privatrechtlichem Status haben dieses Recht nicht, vgl. Herbert Kalb/Richard Potz/Brigitte Schinkele, Religionsrecht, Wien 2003, S. 116 ff. 26 Zu den ersten Jahren der islamischen religionspädagogischen Ausbildung in Österreich vgl. Martina Schmied, Die Islamische Religionspädagogische Akademie, in: ÖARR 46 (1999), S. 434 – 443.

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nal wurde jedoch zu einem Problem, das man auf zweierlei Wegen zu lösen versuchte. Einerseits durch die Heranziehung von Religionslehrern und -lehrerinnen aus dem Inland, die zwar keine entsprechende Ausbildung hatten, jedoch der deutschen Sprache einigermaßen mächtig waren. Andererseits wurde Lehrpersonal aus den Herkunftsländern der Immigranten rekrutiert. Im zweiten Fall trafen immer wieder unzureichend ausgebildete bzw. mit dem Leben in westlichen Gesellschaften nicht vertraute muslimische Instruktorinnen und Instruktoren auf eine Generation, die in Österreich aufgewachsen und welcher ihrerseits der sozial-kulturelle Kontext des Lebens in Staaten mit islamischer Tradition nur mehr teilweise vertraut ist. Der islamische Religionsunterricht enthielt auf diese Weise ein gewisses Konfliktpotential, und es bestand die Gefahr, dass die Identitätsprobleme der Muslime der zweiten und dritten Generation bei ihrer Entwicklung als muslimische Bürgerinnen und Bürger in Österreich durch den Religionsunterricht nicht nur nicht ausgeräumt werden konnten, sondern sogar verstärkt wurden. Es waren aber auch die Erziehungsmethoden der eingesetzten ausländischen Lehrer, die Anlass zu Protesten seitens der Eltern und des Lehrkörpers gaben.27 Die IGGiÖ fasste daher eine inländische Ausbildung für islamische ReligionslehrerInnen ins Auge und trat an das zuständige Ministerium mit dem Plan der Gründung einer Islamischen Religionspädagogischen Akademie nach dem Vorbild der bestehenden katholischen und evangelischen Akademien heran.28 Mit deren Einrichtung wurde die dritte Alternative realisiert: religionsgesellschaftliche Bildungseinrichtungen, die staatlich anerkannt sind.29 Da in Österreich die Kirchen und Religionsgesellschaften Unternehmer des Religionsunterrichtes sind, besteht für den Staat zwar keine zwingende Verpflichtung, für die Ausbildung der ReligionslehrerInnen vorzusorgen. Nichtsdestotrotz wurden aber die im SchulOrganisationsgesetz30 nicht eigens angeführten Religionspädagogischen Akademien als kirchliche bzw. religionsgesellschaftliche Anstalten in der Form konfessioneller Privatschulen gemäß Privatschulgesetz 196231 eingerichtet, sodass sie auf dieser Rechtsgrundlage das Öffentlichkeitsrecht erlangen konnten. Damit fielen sie auch unter die Subventionsverpflichtung des Staates hinsichtlich der Lehrerdienstposten, die zur Erfüllung des Lehrplans der betreffenden Schule erforderlich sind, soweit das Verhältnis zwischen der Zahl der Schüler und der Zahl der Lehrer der betreffenden konfessionellen Schule im Wesentlichen jenem an öffentlichen Schulen gleicher 27

Schmied, Akademie (Anm. 26), S. 435. Zur Einrichtung der Islamischen Religionspädagogischen Akademie vgl. Schmied, Akademie (Anm. 26) und Richard Potz, Der Islamische Religionsunterricht in Österreich, in: Heinrich de Wall/Michael Germann (Hrsg.) Bürgerliche Freiheit und Christliche Verantwortung (FS Christoph Link 70), Tübingen 2003, S. 345 – 369. 29 Zur Entwicklung der Religionslehrerausbildung in Österreich vgl. insbes. Werner Jisa, Zur Ausbildung der Religionslehrer in Österreich – eine gemeinsame Angelegenheit von Staat und Kirche?, in: ÖARR 49 (2002), S. 377 – 393. 30 Bundesgesetz vom 25. Juli 1962 über die Schulorganisation, BGBl. Nr. 242/1962. 31 Bundesgesetz vom 25. Juli 1962 über das Privatschulwesen, BGBl. Nr. 244/1962. 28

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oder vergleichbarer Art und vergleichbarer örtlicher Lage entspricht (§ 18 Abs 1 Privatschulgesetz). Mit Bescheid vom 23. April 1998 genehmigte das zuständige Bundesministerium das vorgelegte Organisationsstatut einschließlich Stundentafel und Lehrplan der Islamischen Religionspädagogischen Akademie der Islamischen Glaubensgemeinschaft in Österreich. Mit dem Studienjahr 1998/99 nahm die Akademie ihre Tätigkeit auf. Es war definierte Aufgabe der Islamischen Religionspädagogischen Akademie, hauptberufliche islamische Religionslehrerinnen und Religionslehrer an Pflichtschulen heranzubilden, die geeignet sind, die Aufgaben des Religionsunterrichts an den österreichischen Schulen zu erfüllen. Inhalt und Methoden der Ausbildung hatten sich an der Berufs- und Schulpraxis zu orientieren und die gesicherten Ergebnisse der theologischen und pädagogischen Wissenschaft zu beachten. Der Wunsch, eine möglichst große Akzeptanz auch in der islamischen Welt zu erreichen, ließ die Gründer der IRPA einen Kooperationsvertrag mit der Al-Azhar Universität in Kairo abschließen. In der Systematik der „islamischen“ Fächer orientierte sich der Aufbau des Lehrplanes an jenem der Al-Azhar Universität, allerdings in einer modifizierten Form, so etwa durch die spezielle Beschäftigung mit der Geschichte der Muslime in Europa.32 Diese Pflichtschullehrerausbildung wurde in der Folge durch einen grundlegenden Reformprozess erfasst. Einen Zwischenschritt stellte das Akademien-Studiengesetz (AStG) 199933 dar, das die Berufsausbildung in pädagogischen und sozialen Berufsfeldern auf Hochschulniveau bringen sollte. Die mit 1. September 2000 in Kraft getretene Verordnung der Studienkommission an der IRPA konnte bereits die gesetzlichen Vorgaben des AStG berücksichtigen. Das sechssemestrige Diplomstudium sollte den Studierenden iSd § 5 AStG unter Beachtung der aktuellen und gesellschaftlichen, pädagogischen und religionspädagogischen, wirtschaftlichen, technologischen und bildungspolitischen Entwicklungen wissenschaftliches und praxisorientiertes Berufswissen und Berufskönnen vermitteln, das sie befähigt, fachlich und pädagogisch kompetent zu unterrichten. Durch das AStG erfolgte jedoch noch nicht die vollständige Integration in den tertiären Bildungsbereich, denn das Gesetz sah ausschließlich den Grad eines Diplompädagogen bzw einer Diplompädagogin vor; ein anderer akademischer Grad konnte daher an einer solchen Einrichtung nicht erworben werden. Angestoßen durch den Bologna-Prozess brachte dann das Hochschulgesetz 200534 den Abschluss der Entwicklung. Gemäß diesem Gesetz wurde ein sechssemestriges Studium für das Lehramt für „Islamische Religion“ an Pflichtschulen in Österreich eingerichtet und da-

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Schmied, Akademie (Anm. 26), S. 438. BGBl. I Nr. 94/1999. 34 BG über die Organisation der Pädagogischen Hochschulen und ihre Studien 2005, BGBl. I Nr. 30/2006. 33

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neben ein Curriculum für das Zweitfach „Islamische Religion“ in der Ausbildung für HauptschullehrerInnen geschaffen. Der private Studiengang umfasst 180 ECTS-Credits und schließt gemäß § 38 Abs. 2 Hochschulgesetz 2005 mit dem akademischen Grad „Bachelor of Education“ ab.35 Er ist in zwei Studienabschnitte unterteilt: Der erste Studienabschnitt besteht aus zwei Semestern und der zweite Studienabschnitt aus vier Semestern einschließlich der Bachelorarbeit. Der erste Studienabschnitt dient vor allem der Einführung in das Berufsfeld, der humanwissenschaftlichen, fachwissenschaftlichen und fachdidaktischen Grundlegung des erforderlichen Basiswissens sowie der Kompetenzentwicklung im Bereich der Persönlichkeit der ReligionslehrerInnen. Der zweite Studienabschnitt dient der Vertiefung des Berufsfeldes, der gezielten Weiterführung der Auseinandersetzung mit Forschungsaufgaben auch im Kontext der schulpraktischen Studien, des Profilangebotes in Form von Pflichtmodulen (z. B. Interkulturelles und interreligiöses Lernen, Menschenbild und Leistungskultur) und Wahlpflichtmodulen (z. B. Gewalt, Religion, Frieden – Ethik für das Leben – Seelsorge und Beratung in der Schule – Geschlecht und Schule) und der gezielten Vorbereitung und Durchführung der Bachelorarbeit. Auf dem IRPA-Studiengang baut schließlich auch der auf Betreiben der Glaubensgemeinschaft mit dem Wintersemester 2006/07 eingerichtete Masterstudiengang „Islamische Religionspädagogik“ an der Universität Wien36 auf, welcher LehrerInnen für die höheren Schulen ausbildet.37 In diesem Fall ist das vierte Ausbildungsmodell verwirklicht, die Ausbildung an staatlichen Bildungseinrichtungen.38 Die Studienrichtung wurde nach einer kurzen Diskussion am Institut für Bildungswissenschaft der Fakultät für Philosophie und Bildungswissenschaft eingerichtet, da die Voraussetzungen für die Einrichtung einer eigenständigen islamisch-theologischen Fakultät bzw. eines entsprechenden Zentrums39 (noch) nicht gegeben waren.40 Im Falle der Islamischen Religionspädagogik ist eine derartige Vorgangs-

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Weitere Informationen finden sich auf der homepage des Lehrganges: http://www.irpa.ac.at/. 36 Vgl. zum Folgenden insb. Ednan Aslan, Religiöse Erziehung der Muslime in Österreich, in: ÖARR 55 (2008), S. 1¢13. 37 Für diese ist in Österreich ein Universitätsstudium vorgesehen. Derzeit wird – wieder einmal – eine Reform diskutiert, welche zu einer Vereinheitlichung der Lehrerausbildung führen soll. 38 Die Möglichkeit der Errichtung einer Privatuniversität gemäß dem Bundesgesetz über die Akkreditierung von Bildungseinrichtungen als Privatuniversitäten, BGBl. I Nr. 168/1999 i. d. F. BGBl. I Nr. 2/2008 wurde seitens einer islamischer Trägerschaft bislang nicht wahrgenommen. 39 Die Zentren sind kleinere Einheiten als Fakultäten und übernehmen gemäß Satzung neben Forschung und Lehre besondere Aufgaben für die Universität oder dienen überwiegend der Forschung beziehungsweise der Lehre. 40 Die Überlegungen entsprachen dem, was in den Empfehlungen des Wissenschaftsrates (Anm. 3) angesprochen wurde (S. 77).

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weise vor allem auch im Hinblick auf die dort verliehenen akademischen Grade relativ unproblematisch.41 Die Erarbeitung des Curriculums stellte eine besondere Herausforderung dar, bei der Pionierarbeit geleistet werden musste. Erstens waren praktisch keine Vorbilder vorhanden42, zweitens handelt es sich bei der Präsenz eines glaubensgebundenen islamischen Faches an der Universität um ein sensibles Thema, nicht nur, was die Außensicht einer kritischen Öffentlichkeit betrifft, sondern auch im innerislamischen Diskurs. Da es sich im Falle der islamischen Religionspädagogik ebenso wie bei den bestehenden religionspädagogischen Studienrichtungen um eine glaubensgebundene Wissenschaft handelt43, wurde die IGGiÖ nicht nur bei der Einrichtung des Studiums, sondern auch bei der Ausarbeitung des Curriculums und bei der Besetzung der Professur durch das Rektorat eingebunden.44 Als Vorbild für das Vorgehen der Universität45 wurden die entsprechenden Regelungen für die Katholisch-Theologischen Fakultäten46 bzw insbesondere die Evangelisch-Theologische Fakultät an der Universität Wien47 herangezogen. Bei der Ausarbeitung des Curriculums wurden Vertreter der IGGiÖ als Fachgutachter durch die curriculare Arbeitsgruppe gehört, und nach der Entwicklung des Curriculums wurden darüber hinaus alle islamischen Organisationen zu einem Gespräch an die Universität Wien eingeladen. Die Universität Wien knüpfte weiters an die Bestimmungen des Konkordats (Art. V § 1) und des Protestantengesetzes (§ 15 Abs. 1) an, wonach die theologischen 41

Im Falle der Einrichtung einer Professur für Islamische Theologie wird diese Zuordnung allerdings nicht mehr möglich sein. 42 An deutschen Universitäten waren etwa entsprechende Curricula zu diesem Zeitpunkt noch nicht fertig gestellt, vgl. Aslan, Erziehung (Anm. 36), S. 8. 43 Siehe unten Kap. III. 44 In Deutschland wurde für die Wahrnehmung der sonst den Kirchen eingeräumten Mitwirkungsrechte auf Anregung des Wissenschaftsrates die Einrichtung von speziellen Beiräten vorgesehen, vgl. oben Anm. 15. 45 Die Autonomie der Universitäten verlangt, dass sie die gesetzlichen Vorgaben des Konkordats und des Protestantengesetzes hinsichtlich der Glaubensgebundenheit der theologischen Fakultäten zu beachten haben, vgl. § 38 UG 2002 (BGBl. I Nr. 120/2002), der daher Sonderbestimmungen für die Katholische und die Evangelische Theologie enthält. 46 Grundlage ist Art. V des Konkordats zwischen dem Heiligen Stuhl und der Republik Österreich samt Zusatzprotokoll vom 05. 06. 1933, BGBl. II Nr. 2/1934. 47 Grundlage ist § 15 des Gesetzes über äußere Rechtsverhältnisse der Evangelischen Kirche in Österreich, BGBl. Nr. 182/1961 (Protestantengesetz 1961). Die Bestimmungen des Protestantengesetzes 1961 sehen – im Gegensatz zum Protestantenpatent aus dem Jahre 1861 – keine formelle unmittelbare Beteiligung des Oberkirchenrates oder anderer kirchlicher Organe an der Gesetzgebung hinsichtlich des evangelischen Hochschulstudiums vor (vgl. EB zum BG über die Studienrichtung Evangelische Theologie, BGBl. Nr. 57/1981, RV 426 NR GP XV, abgedruckt bei Inge Gampl/Richard Potz/Brigitte Schinkele, Österreichisches Staatskirchenrecht, 2. Bd., Wien 1993, S. 529 ff.).

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Fakultäten vom Staat zum Zweck der wissenschaftlichen Heranbildung des geistlichen Nachwuchses erhalten werden. Aus diesen Formulierungen kann jedenfalls abgeleitet werden, dass sich die beiden Kirchen grundsätzlich verpflichtet haben, Absolventen dieser universitären Ausbildung in ihren Dienst zu übernehmen. Im Zuge der Einrichtung der Studienrichtung bestätigte die IGGiÖ daher in einem Schreiben an das Rektorat: „Die islamische Glaubensgemeinschaft in Österreich als staatlich anerkannte Religionsgemeinschaft der MuslimInnen in Österreich und zuständige Stelle für den islamischen Religionsunterricht in den öffentlichen Schulen in Österreich erklärt hiermit, dass die Absolvierung des Studiums der Islamischen Religionspädagogik an der Universität Wien ua als Befähigungsnachweis für die Erteilung des islamischen Religionsunterrichtes an Höheren Schulen in Österreich gemäß § 7b RelUG anerkannt werden kann.“48 In Analogie zu der Bestimmung des § 15 Abs. 4 Protestantengesetz erfolgte schließlich bei der Besetzung der Professur für Religionspädagogik eine Fühlungnahme des Rektorats über den in Aussicht genommenen Kandidaten mit dem Präsidenten der IGGiÖ.49 Das Studium der islamischen Religionspädagogik ist interdisziplinär ausgerichtet und wird in Zusammenarbeit mit verschiedenen Fakultäten der Universität organisiert. Die Entwicklung und Adaptierung des Curriculums haben inzwischen internationale Anerkennung gewonnen. Als besonderes Problem hatte sich die Abgrenzung der Pädagogik von Theologie herausgestellt, die in einer konservativen Sicht allein als Grundlage des Religionsunterrichts gesehen wird. „Muslimische Organisationen erwarteten ein Studium, das eine tiefer gehende Theologie anbietet.“ Dies hängt vor allem damit zusammen, dass „unter den MuslimInnen in Europa … das Verhältnis der Religionspädagogik zur Theologie noch nicht definiert“ ist. „Religionspädagogik wird in der Regel nicht als theologische Wissenschaft, sondern als ,AnwendungswissenschaftÐ verstanden. Mit diesem Verständnis werden der islamischen Religionspädagogik theologische Kompetenzen versagt. … Daher war es für die Mehrheit der TheologInnen nicht notwendig, die wissenschaftlichen Ergebnisse und Erkenntnisse der islamischen Religionspädagogik zur Kenntnis zu nehmen.“50 Aufgrund dieser Überlegungen wurde das Curriculum einerseits interdisziplinär ausgerichtet und andererseits bei den islamischen Fachwissenschaften ausdrücklich auf Benennungen gemäß der klassisch-islamischen Fächer verzichtet. 48

Aslan, Erziehung (Anm. 36), S. 12. § 15 Abs. 4 ProtestantenG 1961 sichert mit dieser Fühlungnahme der Evangelischen Kirchenleitung eine Mitbefassung bei der Besetzung der sechs in diesem Gesetz vorgesehenen Lehrkanzeln zu. Dieses Recht der Kirche wurzelt in deren fundamentalem Interesse an der Art der Ausbildung, die die Fakultät dem theologischen Nachwuchs der evangelischen Kirche angedeihen lässt. Die bei der verbindlich vorgesehenen „Fühlungnahme“ einzuhaltende Vorgangsweise wird im Einvernehmen zwischen Kirche und Fakultät festgelegt (vgl. EB zum ProtestantenG RV 448 NR GP IX, abgedruckt bei Gampl/Potz/Schinkele, Staatskirchenrecht [Anm. 47], S. 528 f.). 50 Aslan, Erziehung (Anm. 36), S. 8. 49

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Die bis jetzt eher kleine Zahl der Studierenden, die meist Absolventen des „Privaten Studienganges für Islamische Religionspädagogik“ sind und häufig berufsbegleitend studieren, hat mit den vielfältigen Schwierigkeiten eines neu etablierten Studiums zu kämpfen. Es war von allem Anfang an klar, dass man hier behutsam aufbauend vorgehen muss und nicht zu viele Abschlüsse in kurzer Zeit erwarten darf. Laut Auskunft des Instituts sind im Wintersemester 2011/12 72 Studierende für Islamische Religionspädagogik aktiv gemeldet, 12 Studierende haben das Masterstudium inzwischen abgeschlossen. Für einen der beiden Ausbildungsbereiche, die Religionspädagogik, wurde also eine adäquate Basis geschaffen. Eine Verbreitung des Lehrangebots auch für Imame und ReligionsdienerInnen ist zwar seit einigen Jahren in Diskussion, aber die Universität Wien konnte sich bislang noch nicht zu diesem Schritt durchringen, dies nicht zuletzt deshalb, weil damit die Errichtung weiterer Professuren verbunden wäre, was auch und vor allem angesichts der angespannten Budgetlage und der unsicheren Zahl von Studierenden von der Universität allein nicht finanziert werden kann. III. Religionsrechtliche Überlegungen zur zukünftigen Entwicklung Im Hinblick auf eine mögliche Einbindung anderer Theologien, konkret insbesondere der islamischen Theologie in das staatliche Universitätssystem, zeigt sich das auch aus anderen Regelungsbereichen bekannte Phänomen, dass die signifikante religiöse Pluralisierung der Gesellschaft überkommene religionsrechtliche Bestimmungen auf den Prüfstand bringt, ja sogar in Frage stellen lässt.51 Im konkreten Fall wird daher die Frage gestellt: Lässt die Verfassungsordnung des religiös-neutralen Staates die Einrichtung und Erhaltung bekenntnisgebundener Bildungs- und Forschungseinrichtungen überhaupt zu? Die österreichische Verfassungsordnung kennt keine explizite Garantie der theologischen Forschung an staatlichen Hochschuleinrichtungen. Diese lässt sich auch nicht über eine verfassungsrechtliche Absicherung des Religionsunterrichts herleiten. Die verfassungsrechtlichen Grundlagen des Schulrechts setzen zwar das Vorhandensein des Religionsunterrichtes voraus, da aber in Österreich – anders als in Deutschland – nicht der Staat, sondern die Kirchen und Religionsgesellschaften Unternehmer des Religionsunterrichtes sind52, besteht für den Staat grundsätzlich keine Verpflichtung, für die Ausbildung der Religionslehrer vorzusorgen bzw. aus diesem 51 Unter diesem Aspekt sind insbesondere auch die grundsätzlichen Entwicklungen im österreichischen Anerkennungsrecht zu sehen, die angesichts der Pluralisierung der religiösen Landschaft zu verfassungsrechtlich äußerst bedenklichen Restriktionen geführt haben, um weitere Anerkennungen praktisch zu verhindern. Vgl. Kalb/Potz/Schinkele, Religionsrecht (Anm. 25), S. 96 ff. 52 Art. 17 Abs. 4 StGG 1867 enthält einerseits eine institutionelle Garantie des Religionsunterrichts und bestimmt andererseits, dass dafür von der betreffenden Kirche oder Religionsgesellschaft Sorge zu tragen ist.

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Grund die Theologie in den universitären Fächerkanon aufzunehmen.53 Nichtsdestoweniger ergibt eine Gesamtschau der religionsrechtlichen Verfassungsprinzipien, dass die Übernahme dieser Aufgabe auch in Österreich systemkonform ist. Auszugehen ist davon, dass der Grundsatz der Säkularität für den Staat nicht bedeutet, dass er religiöse Phänomene zu ignorieren hätte. Das Prinzip der religiösweltanschaulichen Neutralität lässt eine Berücksichtigung von Religion nicht nur zu, sondern der Staat hat religiösen Interessen in der pluralistischen Gesellschaft als Teil der gesellschaftlich legitimierbaren Zwecke Rechnung zu tragen.54 Der Staat hat daher zu vermeiden, dass er durch Ausgrenzung von Religion seine religiöse Neutralität verletzt und so zur weltanschaulichen Partei im Sinne eines laizistischen Konzepts wird. Diese religiös-neutrale Berücksichtigung religiöser Interessen findet in den traditionell so genannten gemeinsamen Angelegenheiten von Staat und Kirche ihren Niederschlag, die Grundlage ihrer Legitimation hat sich jedoch verschoben. Das traditionelle Bild ging von den Grenzen und Möglichkeiten der Partnerschaft zwischen den zwei einander gegenüberstehenden Institutionen Staat und Kirche aus. Dem steht das Bild des Staates als eines neutralen Akteurs gegenüber, der zur Organisation der Kooperation zwischen und mit den gesellschaftlichen Kräften unter Berücksichtigung grundrechtlicher Gewährleistungen verpflichtet ist. In diesem Sinne gehören auch die theologischen Fakultäten zu jenen Bereichen, in denen die Kooperation mit den als gesellschaftlich wirksame Kräfte im öffentlichen Raum agierenden Religionsgemeinschaften religionsrechtlich nicht nur zulässig, sondern geradezu geboten ist.55 Diese religionsrechtlichen bzw. religionspolitischen Überlegungen finden in dem in den Zielen der österreichischen Universität56 artikulierten umfassenden Anspruch hinsichtlich der wissenschaftlichen Forschung und Lehre gleichsam ihr universitätsrechtliches Pendant. Die Theologie wurde von der Verfassungsrechtsordnung als Wissenschaftszweig vorgefunden.57 Der staatliche Universitätsbetrieb darf im Zeichen der Wissenschaftsfreiheit gerade nicht der Durchsetzung eines autoritativen Wissenschaftsbegriffs dienen, welcher der Theologie ihre Qualifikation als Wissenschaft abspricht. Es widerspricht daher nicht der staatlichen Gewährleistung eigen53 Vgl. dazu die auf anderen verfassungsrechtlichen Grundlagen basierende deutsche Diskussion, siehe Hans Michael Heinig, Was sind die rechtlichen Vorgaben für eine Imamausbildung, in: Ucar, Imamausbildung (Anm. 5), S. 49 – 58, hier S. 51. 54 Kalb/Potz/Schinkele, Religionsrecht (Anm. 25) S. 50 ff. 55 Vgl. dazu Kalb/Potz/Schinkele, Religionsrecht (Anm. 25) S. 50 ff. 56 Gemäß § 1 UG 2002 sind die Universitäten „berufen, der wissenschaftlichen Forschung und Lehre, … zu dienen und hiedurch auch verantwortlich zur Lösung der Probleme des Menschen sowie zur gedeihlichen Entwicklung der Gesellschaft und der natürlichen Umwelt beizutragen“. 57 Vgl. Felix Ermacora, Handbuch der Grundfreiheiten und Menschenrechte, Wien 1963, S. 476 f.; Richard Potz/Brigitte Schinkele, Im Spannungsfeld von kirchlichem Selbstbestimmungsrecht und Universitätsautonomie: Das konkordatäre Zustimmungsrecht des Bischofs, in: ÖARR 49 (2002), S. 401 – 448, hier S. 404.

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gesetzlicher Standards der Wissenschaft, wenn im Rahmen des staatlichen Universitätsbetriebs auch die Besonderheit der Theologie Berücksichtigung findet. In diese Gesamtschau der verfassungsrechtlichen Grundlagen des österreichischen Religionsrechts fügen sich auch die völkerrechtlichen bzw. einfachgesetzlichen Bestandsgarantien für theologische Fakultäten ein. Gemäß Art. V des österreichischen Konkordats 1933 garantiert der Staat den Bestand der von ihm erhaltenen Katholisch-theologischen Fakultäten zur wissenschaftlichen Heranbildung des Klerus. § 15 Protestantengesetz 1961 enthält eine einfachgesetzliche Garantie des Bestandes der Evangelisch-theologischen Fakultät an der Universität Wien. Es wurde darin als deren Zweck neben der wissenschaftlichen Ausbildung des geistlichen Nachwuchses ausdrücklich die theologische Forschung und Lehre hinzugefügt. Aus den beiden Formulierungen wird abgeleitet, dass sich die beiden Kirchen grundsätzlich verpflichtet haben, Absolventen der staatlich-universitären Ausbildung in ihren Dienst zu übernehmen. Man kann davon ausgehen, dass jeder Erweiterung universitärer theologischer bzw. religionspädagogischer Ausbildung auf andere Religionsgemeinschaften ein gleiches Konzept zu Grunde zu legen sein wird.58 Die Frage nach der Einbindung der Theologie in den Kreis der universitas litterarum lässt sich heute aber nicht auf das staatliche Interesse an der Theologenausbildung reduzieren. Es ist gegenwärtig vielmehr auf den Bedeutungszuwachs unterschiedlicher religiöser Orientierungen zu verweisen, von der Nachfrage nach „ethischem Monitoring“ im naturwissenschaftlichen Bereich bis zu gesellschaftlichen Themen wie etwa Migration und Integration, die eine interfakultär-interdisziplinäre Befassung verlangen. Diese neuen Herausforderungen erfordern konsequenterweise die Auseinandersetzung mit den theologischen Fachkulturen der gesellschaftlich relevanten Religionsgemeinschaften. Für die Religionsgemeinschaften mit öffentlichrechtlichem Status besteht nicht nur das Recht, sondern auf Grund der impliziten Akzeptanz der Kooperationsangebote auch die Pflicht, am öffentlichen Dialog in der pluralistischen Gesellschaft teilzunehmen und sich zu sozialen und gesellschaftlichen Problemen zu äußern. Ein derartiges In-die-Pflicht-Nehmen der Religionsgemeinschaften setzt aber voraus, dass deren Theologien grundsätzlich in Bekenntnisbindung betrieben werden.59 Diese stellt gewissermaßen eine raison dÏÞtre einer derartigen Einbindung dar, denn es geht ja gerade darum, „Glaubenswahrheiten“ der gesellschaftlich relevanten Religionsgemeinschaften zum Gegenstand staatlicher universitärer Lehre und Forschung zu machen.60 Das religionswissenschaftliche Forschungsfeld lediglich unter Ausblendung von Theologie zu beackern, wäre daher sowohl gesell58

Vgl. dazu die oben (Anm. 48) zitierte Erklärung der IGGiÖ. So auch das BVerfG im Fall Lüdemann (BVerfGE 122, S. 89, vom 28. 10. 2008) und dem folgend die Empfehlungen (Wissenschaftsrat, Empfehlungen [Anm. 3], S. 15 ff.). 60 Vgl. Hans Michael Heinig, Wie das Grundgesetz (vor) Theologie an staatlichen Hochschulen schützt. Eine Erwiderung auf Carsten Bäcker, in: Der Staat 48 (2009), S. 615 – 632, hier S. 622. 59

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schafts- als auch wissenschaftspolitisch bedenklich und würde die Wissenschaftsfreiheit sogar einschränken, da sie die zu schützende Eigengesetzlichkeit der Theologie außer Acht ließe.61 Dem Staat ist daher bei jeder die universitäre theologische Lehre und Forschung berührenden Regelung ein Geflecht von Freiheit, Ordnung und Förderung vorgegeben62, welches angesichts der Verknüpfung sensibler Grundrechte wie Wissenschaftsfreiheit und Religionsfreiheit besondere Behutsamkeit in Gesetzgebung und Vollziehung verlangt.63 Die Organisation theologischer Forschung und Lehre an staatlichen Hochschulen muss daher die religiös-weltanschauliche Neutralität des Staates, das Selbstbestimmungsrecht der Religionsgemeinschaften sowie die Garantien für Lehre und Forschung – sowohl hinsichtlich der institutionellen Seite der Wissenschaftsfreiheit bzw. der verfassungsrechtlich garantierten Universitätsautonomie als auch der Grundrechte des betroffenen Theologen – berücksichtigen. Es entsteht ein komplexes Beziehungsgeflecht zwischen Staat, Kirche, Universität und dem einzelnen Theologen mit ineinandergreifenden, verschränkten, in die Grundrechtssphäre hineinreichenden Rechtspositionen.64 Wann immer es zu einer derartigen grundrechtlichen Gemengelage kommt, bedarf es eines schonenden Ausgleichs bei der Verwirklichung der Gewährleistung der betroffenen Rechtsgüter. Das bedeutet vor allem auch, dass das Selbstbestimmungsrecht derjenigen Religionsgemeinschaft beachtet werden muss, deren Theologie Gegenstand der konfessionsgebundenen Lehre ist. Es findet daher die Wissenschaftsfreiheit von Hochschullehrern der Theologie ihre Grenzen an diesem Selbstbestimmungsrecht, und es bedarf im Kollisionsfall eines schonenden Ausgleichs.65 Dabei müssen die unterschiedlichen Formen der Bekenntnisbindung theologischer Forschung in einem gewissen Rahmen berücksichtigt werden, was auch die Zulässigkeit der verschiedenartigen Ausgestaltung der kirchenamtlichen Mitwirkung 61

Vgl. Heinig, Grundgesetz (Anm. 60), S. 621 ff. Martin Heckel, Die theologischen Fakultäten im weltlichen Verfassungsstaat (Ius Ecclesiasticum 31), Tübingen 1986, S. 1. Umfangreiche Darstellungen der prinzipiellen Fragestellungen finden sich bei Heinz Mussinghoff, Theologische Fakultäten im Spannungsfeld von Staat und Kirche, Mainz 1979; Ernst Lüder Solte, Theologie an der Universität. Staats- und kirchenrechtliche Probleme der theologischen Fakultäten (Jus Ecclesiasticum 13), Tübingen 1971 und in den Beiträgen von Walter Kasper und Alexander Hollerbach zu „Theologie in der Universität“, in: EssGespr. 16 (1982); zu Österreich grundsätzlich: Potz/Schinkele, Spannungsfeld (Anm. 57). 63 „Ein Konflikt zwischen verfassungsrechtlich geschützten Grundrechten ist unter Rückgriff auf weitere einschlägige verfassungsrechtliche Bestimmungen und Prinzipien sowie auf den Grundsatz der praktischen Konkordanz durch Verfassungsauslegung zu lösen“, so der BVerfG im Fall Lüdemann unter Verweis auf BVerfGE 47, S. 327. 64 Grundsätzliches zu dieser Gemengelage bei Heckel, Korollarien (Anm. 5), S. 47 ff. 65 Vgl. dazu Potz/Schinkele, Spannungsfeld (Anm. 57), S. 418 ff. sowie weiters BVerfGE 122, S. 89, Rdnr. 50. 62

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an theologischen Bildungs- und Forschungseinrichtungen impliziert.66 Hier stoßen Religions- und Hochschulrecht unmittelbar aufeinander, es handelt sich wahrscheinlich um den Kernpunkt der gesamten Diskussion. Es geht im Wesentlichen um die religionsgemeinschaftlichen Mitwirkungsrechte sowohl bei der Errichtung universitärer theologischer Einrichtungen, als auch bei der Gestaltung des Curriculums und vor allem bei der Bestellung bzw. möglichen Abberufung des Personals. In Österreich widerspiegeln die Bestimmungen in Art. V Konkordat 1933 und § 15 Protestantengesetz die jeweils unterschiedlichen Positionen zum Verhältnis von Lehre und Amt der beiden Kirchen. Wie bereits beschrieben, ist die Universität Wien bei der Einrichtung der Studienrichtung „Islamische Religionspädagogik“ bzw. bei der Ausarbeitung des Curriculums und der Besetzung der ersten Professur nach dem Vorbild der Bestimmungen des Protestantengesetzes vorgegangen, die für den Islam und sein Verständnis vom Verhältnis von religionsgemeinschaftlichen Institutionen und Lehre angemessener erschienen. In einem weiteren Schritt gilt es schließlich zu untersuchen, wem das Angebot zu machen ist. Diese Frage stellt sich sowohl aus der Sicht des Staates, als auch aus der Sicht der einzelnen Religionsgemeinschaften. Die religiös-weltanschauliche Neutralität des Staates und der sich daraus ergebende Grundsatz der Parität67 lässt eine Differenzierung zwischen den einzelnen Kirchen und Religionsgesellschaften nur dann zu, wenn sie aus säkularstaatlichen, wie etwa statistisch-organisatorischen, oder sich aus der Eigenart der einzelnen Bekenntnisse ergebenden Gründen geschieht. Nach dem Grundsatz der materiellen Parität („Jedem das Seine“!) ist der Staat gegenüber den einzelnen Religionsgemeinschaften zur Offenheit in Bezug auf ihr jeweiliges Selbstverständnis verpflichtet.68 Es dürfen daher die Katholische Kirche und die Evangelische Kirche auf Grund der historisch gewachsenen Einbindung in das staatliche Universitätssystem nicht durch einen Verstoß gegen das Verbot der unsachlichen Differenzierung privilegiert werden. Grundsätzlich muss die Möglichkeit auch anderen Religionsgemeinschaften angeboten werden, wenn die entsprechenden Voraussetzungen gegeben sind. Es sind aber nicht nur säkulare Maßstäbe heranzuziehen, sondern es ist vor allem das Selbstverständnis der Religionsgemeinschaften zu berücksichtigen. Im konkre66 Hinsichtlich der vielfältigen Formen amtskirchlicher Mitwirkungen im Recht der Evangelisch-Theologischen Hochschulen in Deutschland vgl. Heckel, Korollarien (Anm. 5), S. 84 ff. und Heinig, Grundgesetz (Anm. 60), S. 626 f. 67 Dieser hat in § 1 Abs. 2 III ProtestantenG seinen positivrechtlichen Niederschlag gefunden. Hier heißt es: „Alle Akte der Gesetzgebung und Vollziehung […] haben den Grundsatz der Gleichheit vor dem Gesetz im Verhältnis zur rechtlichen und tatsächlichen Stellung der anderen gesetzlich anerkannten Kirchen und Religionsgesellschaften zu beachten.“ 68 „Der Bereich der inneren Angelegenheiten im Sinne des Art. 15 StGG ist nur unter Bedachtnahme auf das Wesen der Religionsgesellschaften nach deren Selbstverständnis erfaßbar“ (VfSlg 575/1987). Grundsätzliches zu dieser Thematik findet sich bei Axel Isak, Das Selbstverständnis der Kirchen und Religionsgemeinschaften und seine Bedeutung für die Auslegung staatlichen Rechts, Berlin 1994.

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ten Fall stellt sich daher die ganz grundsätzliche Frage, ob und in welcher Form die jeweilige Religionsgesellschaft überhaupt „Theologie“ betreibt.69 Im konkreten Zusammenhang ist besonders an die bereits oben erwähnte Diskussion um den Begriff „Islamische Theologie“ zu denken.70 Daran anknüpfend stellt sich die Frage, ob die betreffende Religionsgemeinschaft bereit ist, theologische Forschung und Lehre dem staatlichen Universitätssystem anzuvertrauen. Diese Frage scheint für Österreich dadurch beantwortet, dass die Islamische Glaubensgemeinschaft seit Jahren intensiv um die Einrichtung einer Islamisch-theologischen Fakultät bemüht war.71 Dieses Interesse macht deutlich, dass aus Sicht der IGGiÖ durch eine derartige Einbindung dem Islam keine ihm fremde institutionelle Struktur aufgezwungen würde. Aus der Verbindung von religionsrechtlichen und hochschulrechtlichen Aspekten ergibt sich daher, dass die Einrichtung universitärer theologischer Strukturen für jene Religionsgemeinschaften vorzusehen ist, die einerseits eine entsprechende gesellschaftliche Bedeutung haben und andererseits ihre wissenschaftlich betriebene Theologie unter Garantie der Religionsfreiheit einer staatlichen Universität anvertrauen. Die Öffnung der universitären theologischen Landschaft wird daher beim Islam nicht haltmachen können und dürfen. Man wird entsprechende Überlegungen betreffend jüdische Studien in Ergänzung zur traditionellen Judaistik anzustellen und diese Möglichkeit in Gesprächen mit der Israelitischen Religionsgesellschaft zu sondieren haben.72 Weiters wird an die Orthodoxie zu denken sein, für deren Einbindung in das österreichische Universitätssystem es mit der 1875 errichteten Orthodoxen Theologischen Fakultät in Czernowitz sogar ein historisches Vorbild gibt.73 Was die Religionslehrerausbildung betrifft, so sind die orthodoxen Kirchen an der gemäß Hochschulgesetz 2005 eingerichteten Kirchlichen Pädagogischen Hochschule Wien/ Krems beteiligt.74 Auf Grund einer Initiative der theologischen Fakultäten soll an 69

Heinig, Grundgesetz (Anm. 60), S. 619. Siehe oben Anm. 4. 71 Der scheidende Präsident der IGGiÖ wertete in seinen Abschiedsgesprächen die Tatsache, dass nunmehr die Weichen für eine zukünftige islamische Fakultät im staatlichen Universitätssystem gestellt seien, als einen Erfolg seiner Präsidentschaft: http://diepresse.com/home/politik/innenpolitik/337385/MuslimenVertreter-Schakfeh-zieht-sich-zurueck. Auch sein Nachfolger, Präsident Fuad Sanac, hob bei seinem Antrittsbesuch bei Bundespräsident Heinz Fischer das Interesse der Glaubensgemeinschaft an der Einrichtung einer islamischen theologischen Fakultät an der Universität Wien hervor: http://diepresse.com/home/ panorama/religion/679023/Neuer-MuslimePraesident-bei-Fischer_Sehr-gluecklich. 72 Zur diesbezüglichen deutschen Diskussion vgl. Wissenschaftsrat, Empfehlungen (Anm. 3), S. 31 ff. 73 Zu der 1875 gegründeten Orthodoxen Theologischen Fakultät an der Universität Czernowitz vgl. Thomas M. N¦meth, Joseph Ritter von Zhishman und die Errichtung der orthodoxen theologischen Fakultät in Czernowitz, in: Ostkirchliche Studien 54 (2005), S. 279 – 291. 74 In der Kirchlichen Pädagogischen Hochschule Wien/Krems arbeiten in der ReligionslehrerInnen-Ausbildung sieben gesetzlich anerkannte Kirchen zusammen, darunter sowohl die 70

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der Universität Wien das Masterstudium „Katholische Religionspädagogik“ um einen Zweig „Orthodoxe Religionspädagogik“ erweitert und künftig als Masterstudium „Religionspädagogik“ eingerichtet werden. Aus demographischen bzw. paritätischen Gründen wird man auch an den Alevismus zu denken haben, der sich derzeit in einer Übergangsphase zur gesetzlichen Anerkennung befindet.75 Ein Verzicht auf Theologie im universitären Fächerkanon wäre zum ersten gewissermaßen ein Systembruch im österreichischen Religions- und Universitätsrecht. Zum zweiten ist der Staat unter dem Paritätsaspekt verpflichtet, bei Erfüllung der angeführten Voraussetzungen – unter anderem auch – islamische Bildungseinrichtungen auf Universitätsebene vorzusehen. Der Bedeutungszuwachs, den Religion im gesellschaftlichen Diskurs erfahren hat, wird in der Berücksichtigung der religionswissenschaftlichen Religionsforschung, aber auch der Atheismusforschung seinen Niederschlag finden müssen. Die institutionelle Unterscheidung zwischen der glaubensgebundenen Theologie und einer Religionswissenschaft76 schafft bessere Ausgangsbedingungen für die interdisziplinäre Vernetzung beider Wissenschaften, untereinander und mit Dritten. Seit einigen Jahren steht auch an der Universität Wien ein Zentrum für religiöse Studien in Diskussion, das ähnlich dem „Centrum für Religiöse Studien“ an der Universität Münster77 aufgebaut sein könnte und insbesondere mit den beiden theologischen Fakultäten, aber auch mit einschlägigen Einrichtungen an anderen Fakultäten – so vor allem mit der Islamwissenschaft – als Kooperationspartner vernetzt sein sollte. IV. Abschließende Bemerkungen Auszugehen ist davon, dass das Thema „Theologie und Religionspädagogik an der Universität“ selbstverständlich auch in Österreich „auf eine religiös pluralisierte Gesellschaft und auf eine Öffentlichkeit [trifft], die religiöse Phänomene aufmerksam thematisiert und ihre Relevanz für die Lebenswelt des Einzelnen sowie für naorthodoxen Kirchen als auch die orientalisch-orthodoxen Kirchen. Im Sommersemester 2010 waren 40 Studierende dieser Kirchen in Ausbildung; vgl. dazu Birgit Moser-Zoundjiekpon, Ökumene im Bildungsbereich – die Kirchliche Pädagogische Hochschule Wien/Krems, in: ÖARR 56 (2009), S. 433 – 446. 75 Dies wird wohl davon abhängen, ob die derzeit getrennt agierenden größten Gruppierungen wieder zusammenfinden. Am 16. 12. 2010 hat jene alevitische Gruppe, welche den gemeinsamen Dachverband verlassen hat, da für sie die Herausstellung der islamischen Tradition von zentraler Bedeutung ist, die Eintragung als religiöse Bekenntnisgemeinschaft erreicht. Dem Antrag des Dachverbandes wurde diese Eintragung vom zuständigen Bundesministerium mit gleichem Datum verweigert; ein Beschwerdeverfahren beim VfGH ist Ende 2011 noch anhängig. 76 Wissenschaftsrat, Empfehlungen (Anm. 3), S. 15 ff. 77 Zum Organigramm des Zentrums siehe http://www.uni-muenster.de/CRS/Organisation/ index.html.

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tionale und globale Konfliktlagen kontrovers diskutiert“78. Eine solche gesellschaftliche Situation schafft besondere Bedingungen für den Ort der Theologien im Hochschulsystem. Die Pluralisierung der religiösen Landschaft muss Konsequenzen im Wissenschaftssystem haben und zu einer dementsprechenden Reaktion der Universitätslandschaft führen.79 Vor allem ist zu bedenken, dass „[d]ie Ausgrenzung der Theologien in eigenständige kirchliche Institutionen … der Abschließung der jeweiligen Religionsgemeinschaft gegenüber der Gesellschaft Vorschub leisten [kann]. Daher haben Staat und Gesellschaft auch ein Interesse an der Einbindung der Theologien in das staatliche Hochschulsystem. Die Integration der Theologien … konfrontiert die Religionsgemeinschaften mit der Aufgabe, ihren Glauben unter sich wandelnden Wissensbedingungen und -horizonten immer neu auslegen zu müssen. Dies kann am besten unter den an Universitäten geregelten Bedingungen wissenschaftlicher Kommunikation und Erkenntnisproduktion gelingen. Damit beugen Staat und Gesellschaft auch Tendenzen zur Vereinseitigung und Fundamentalisierung von religiösen Standpunkten vor.“80

Eine nicht zu unterschätzende Nebenwirkung der Anerkennung der Theologie als Wissenschaft und ihrer Erhaltung an den Universitäten besteht in ihrer damit verbundenen interdisziplinären Einbindung. Es wird dadurch sowohl das wissenschaftliche Niveau wie auch ein entsprechendes Maß an Autonomie der Theologien gesichert, und sie wird zu einem wichtigen Gesprächspartner für die Kommunikation innerhalb der scientific community auch für die anderen Wissenschaften.81 Eine Aufgabe, die in eigenen religionsgemeinschaftlichen Einrichtungen meist nicht in adäquater Weise erfüllt werden kann. Es steht wohl außer Zweifel, dass diese Überlegungen – nicht nur, aber doch in besonderem Maße – für islamische Bildungs- und Forschungseinrichtungen gelten. Es geht daher vor allem auch darum, dass mit Hilfe der universitären Einbindung die islamische religiöse Dimension im Rahmen eines öffentlichen wissenschaftlichen Diskurses eingebracht werden kann. Die spezifische integrationspolitische Bedeutung einer solchen Einrichtung bedarf wohl keiner weiteren Begründung. Akademische Islamische Studien haben daher nicht nur einer qualifizierten Religionspädagogik zu dienen, sondern darüber hinaus die Möglichkeit einer wissenschaftlich fundierten Ausbildung von Religionsgelehrten in den wissenschaftsgeprägten Gesellschaften Europas zu eröffnen. Sie tragen damit dazu bei, islamische Normen und Wertvorstellungen – parallel zu den Positionen und Perspektiven ande-

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Wissenschaftsrat, Empfehlungen (Anm. 3), S. 4. Vgl. Wissenschaftsrat, Empfehlungen (Anm. 3), S. 4 f., 7. 80 Wissenschaftsrat, Empfehlungen (Anm. 3), S. 56 f. 81 Vgl. Christian Walter, Neue Religionskonflikte und staatliche Neutralität – Erfordern weltanschauliche und religiöse Entwicklungen Antworten des Staates?, in: DVBl. 2010, S. 993 – 1001, hier S. 997; Heinig, Islamische Theologie (Anm. 5), S. 240 f. 79

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rer Religionen – in angemessener Weise in die akademischen, aber auch in die öffentlichen Debatten einzubringen.82 Mit der Einbindung der islamischen Theologie würde in der österreichischen Universitätslandschaft auch wissenschaftspolitisch eine Lücke geschlossen. Es kann nicht im Interesse der österreichischen Gesellschaft in ihrer Gesamtheit und schon gar nicht im Interesse ihrer islamischen Bürgerinnen und Bürger liegen, dass die wissenschaftliche Befassung mit islamischer Theologie im Rahmen der staatlichen theologischen Forschung und Lehre ausgeblendet bleibt. Vor allem die Auseinandersetzung mit einer historisch-kritischen Methode ist eine Herausforderung, der sich die islamische Theologie unvermeidlich zu stellen hat. Dass dies unter den Bedingungen der Autonomie der Wissenschaften und mit der Möglichkeit interdisziplinären Austausches geschehen kann, ist eine Chance für die Selbstvergewisserung der islamischen Theologie. Erwartungen in Richtung einer von religionsgemeinschaftlichen Institutionen abhängigen gehobenen Koranschule zu befriedigen, kann und darf jedenfalls nicht die Aufgabe der islamischen Theologie an staatlichen Universitäten sein. Der weitere Aus- und Aufbau islamischer Bildungseinrichtungen an staatlichen Universitäten wird behutsam erfolgen müssen und viel Geduld verlangen. Dies gilt einerseits sowohl für das Angebot an Lehrenden und den Aufbau des wissenschaftlichen Nachwuchses, als auch für die Nachfrage von Studierenden, und andererseits für die institutionellen Rahmenbedingungen. Gründung und Einrichtung können nicht der sich ohnehin in einer extrem angespannten finanziellen Lage befindlichen Universität zugemutet werden. Hier ist eine politische Entscheidung für Sonderfinanzierungen gefragt, da sich die Ressourcenverteilung der Universitäten stärker an der aktuellen Nachfrage orientieren muss.

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Vgl. Wissenschaftsrat, Empfehlungen (Anm. 3), S. 76.

Anzeige und Anzeigepflicht bei Missbrauchsfällen Von Georg May I. Einleitung Seit geraumer Zeit ist in der Öffentlichkeit vieler Länder der „westlichen“ Welt von sexuellem Missbrauch, Kindesmissbrauch die Rede.1 Die Massenmedien widmen dem Gegenstand begreiflicherweise eine große Aufmerksamkeit. Die Parlamente und die Regierungen greifen die Angelegenheit auf und fragen nach Konsequenzen. Die katholische Kirche in Deutschland wurde aufgeschreckt, als Angehörige der Gesellschaft Jesu zuerst in Berlin mit der Bekanntgabe von Missbrauchsfällen in von ihnen betriebenen Einrichtungen der Erziehung an die Öffentlichkeit traten. Andere Personen und Institutionen der Kirche ahmten das damit gegebene Beispiel nach und warteten mit Enthüllungen auf, die sich weit in die Vergangenheit erstreckten.2 Die Deutsche Bischofskonferenz beeilte sich, die Sache aufzugreifen und neue „Leitlinien“ für den Umgang mit sexuellem Missbrauch Minderjähriger durch Geistliche, 1

Aus der Fülle der Literatur führe ich an: Erika Geisler, Das sexuell mißbrauchte Kind. Beitrag zur sexuellen Entwicklung ihrer Gefährdung und zu forensischen Fragen (Beiheft zur „Praxis der Kinderpsychologie und Kinderpsychiatrie“ 3), Göttingen 1959; Günter Weiß, Die Kinderschändung (Kriminologische Schriftenreihe 10), Hamburg 1963; F. G. v. Stockert u. a. (Hrsg.), Das sexuell gefährdete Kind. Vorträge gehalten auf dem 8. Kongreß der Deutschen Gesellschaft für Sexualforschung vom 25. bis 27. Mai 1964 in Karlsruhe (Beiträge zur Sexualforschung 33), 1. Teil, Stuttgart 1965; Rudolf Wyss, Unzucht mit Kindern. Untersuchungen zur Frage der sogenannten Pädophilie (Monographien aus dem Gesamtgebiet der Neurologie und Psychiatrie 121), Berlin/Heidelberg 1967; Peter Theede, Unzucht mit Abhängigen (§ 174 StGB). Eine strafrechtliche und kriminologische Untersuchung (Kriminalwissenschaftliche Abhandlungen 1) Lübeck 1967; Elisabeth Trube-Becker, Gewalt gegen das Kind. Vernachlässigung, Mißhandlung, sexueller Mißbrauch und Tötung von Kindern, 2., überarb. Aufl. (Kriminalistik – Wissenschaft und Praxis 14), Heidelberg 1987; Thomas Wilmer, Sexueller Mißbrauch von Kindern. Empirische Grundlagen und kriminalpolitische Überlegungen (Europäische Hochschulschriften, Reihe II. Rechtswissenschaft 1900), Frankfurt a. M. 1996; Dirk Bange/Günter Deegener, Sexueller Mißbrauch an Kindern. Ausmaß, Hintergründe, Folgen, Weinheim 1996; Gabriele Amann/Rudolf Wipplinger (Hrsg.), Sexueller Mißbrauch. Überblick zu Forschung, Beratung und Therapie. Ein Handbuch, Tübingen 1997; Rudolf Egg (Hrsg.) Sexueller Mißbrauch von Kindern. Täter und Opfer (Kriminologie und Praxis 27), Wiesbaden 1999. 2 Für die Vergangenheit ist zu vergleichen Elisabeth Trube-Becker, Historische Perspektive sexueller Kontakte zwischen Erwachsenen und Kindern bzw. Jugendlichen und die soziale Akzeptanz dieses Phänomens von der Zeit der Römer und Griechen bis heute, in: Amann/ Wipplinger, Sexueller Mißbrauch (Anm. 1), S. 39 – 51.

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Ordensleute und Mitarbeiter im Bereich der Bischofskonferenz zu erlassen3, welche die „Leitlinien“ von 20024 ablösten. Ich beabsichtige nicht, diese Richtlinien zu untersuchen. An dieser Stelle wird lediglich der Umgang des staatlichen Rechts mit Fällen sexuellen Missbrauchs Minderjähriger behandelt. Die folgenden Ausführungen beziehen sich allein auf die Verhältnisse und die Rechtslage in der Bundesrepublik Deutschland. II. Die Straftaten Straftaten sind tatbestandsmäßige, rechtswidrige und schuldhafte Handlungen. Für das deutsche Strafrecht5 ist der Unterschied von Verbrechen und Vergehen wesentlich. Verbrechen sind Straftaten, die im Mindestmaß mit Freiheitsstrafe von einem Jahr oder darüber bedroht sind (§ 12 Abs. 1 StGB). Vergehen sind Straftaten, die im Mindestmaß mit einer geringeren Freiheitsstrafe (als einem Jahr) oder mit Geldstrafe bedroht sind (§ 12 Abs. 2 StGB). Der genannte Unterschied zieht weitere Folgen nach sich. Der Versuch eines Verbrechens ist stets strafbar, der Versuch eines Vergehens nur, wenn das Gesetz es ausdrücklich bestimmt (§ 23 Abs. 1 StGB). Die erfolglose Anstiftung (§ 30 Abs. 1 StGB), die Verabredung einer Straftat, das Sichbereit-Erklären, die Annahme eines Anerbietens dazu (§ 30 Abs. 2 StGB) sowie die Bedrohung mit einer solchen (§ 241 StGB) sind nur dann strafbar, wenn sie ein Verbrechen betreffen. Ebenso ist der Verlust der Amtsfähigkeit und der Wählbarkeit nur bei Verbrechen möglich (§ 45 StGB). Ein Verbrechen kann nicht durch Strafbefehl geahndet werden (§ 407 StPO). Im Folgenden sollen die Tatbestände, die sexuellen Missbrauch betreffen, kurz vorgestellt werden, damit der Leser weiß, wovon gesprochen wird. „Sexueller Mißbrauch an Kindern ist jede sexuelle Handlung, die an oder von einem Kind entweder gegen den Willen des Kindes vorgenommen wird oder der das Kind aufgrund körperlicher, psychischer, kognitiver oder sprachlicher Unterlegenheit nicht wissentlich zustimmen kann. Der Täter nutzt seine Macht- und Autoritätsposition aus, um seine eigenen Bedürfnisse auf Kosten des Kindes zu befriedigen.“6

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Amtsblatt Görlitz Nr. 10 vom 17. September 2010, Nr. 63, S. 1 – 9. Leitlinien zum Vorgehen bei sexuellem Mißbrauch Minderjähriger durch Geistliche im Bereich der Deutschen Bischofskonferenz vom 26. September 2002 (Kirchliches Amtsblatt für das Bistum Trier, 146. Jg., Ausgabe 12 vom 1. Dezember 2002, Nr. 212, S. 244 – 246). 5 Ich verweise zur Kommentierung auf zwei Werke: Münchener Kommentar zum Strafgesetzbuch. Bd. 2/2 §§ 80 – 184 f. StGB. Red. Bernd von Heintschel-Heinegg, München 2005; Heinrich Wilhelm Laufhütte/Ruth Rissing-van Saan/Klaus Tiedemann (Hrsg.), Strafgesetzbuch. Leipziger Kommentar. Großkommentar, 12., neu bearb. Aufl., 6. Bd., §§ 146 – 210, Berlin 2010. 6 Bange/Deegener, Sexueller Mißbrauch an Kindern (Anm. 1), S. 95 – 106, hier S. 105. Vgl. Wilmer, Sexueller Mißbrauch von Kindern (Anm. 1), S. 17 – 56, S. 247 – 277; Paul Plaut, Der Sexualverbrecher und seine Persönlichkeit, Stuttgart 1960; Heinz Reinhardt, Die Bestrafung der Unzucht mit Kindern unter besonderer Berücksichtigung des Verhaltens und der Persönlichkeit des Opfers (Berner kriminologische Untersuchungen 4), Bern/Stuttgart 1967. 4

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Die Sachverhalte, die zur Bestrafung führen können, sind in den folgenden Paragraphen des StGB enthalten. 1. § 174 StGB § 174 StGB gilt dem Schutz junger Menschen vor sexuellem Missbrauch durch Autoritätspersonen. § 174 Abs. 1 Nr. 1 StGB schützt Personen des männlichen und des weiblichen Geschlechts unter 16 Jahren, die jemand zur Erziehung, Ausbildung oder Betreuung anvertraut sind. Darunter fallen z. B. Lehrer, Geistliche und Vorsteher bzw. Helfer in Internaten, Ausbilder, Jugendführer und Trainer. § 174 Abs. 1 Nr. 2 StGB schützt Jugendliche bis zu 18 Jahren und bezieht auch solche ein, die durch ein Dienst- oder Arbeitsverhältnis dem Täter untergeordnet sind, wo also ein Missbrauch der Abhängigkeit vorliegt. § 174 Abs. 1 StGB erfasst sexuelle Handlungen mit körperlichem Kontakt zwischen dem Täter und dem Schutzbefohlenen, § 174 Abs. 2 StGB solche Handlungen ohne Körperkontakt. Die Einwilligung des Betroffenen in die geschlechtliche Beziehung ist unerheblich. Für die Beurteilung der Schwere der Schuld und für die Bemessung der Strafe ist das Alter des Opfers gewichtig. 2. § 176 StGB § 176 StGB schützt Kinder beiderlei Geschlechts bis zu 14 Jahren davor, dass jemand mit ihnen sexuelle Handlungen vornimmt. Wer in einem Obhutsverhältnis zu dem Kind steht, kann auch dadurch schuldig werden, dass er pflichtwidrig unterlässt, die Bestimmung eines Kindes zu sexuellen Handlungen durch einen Dritten zu verhindern. § 176 Abs. 1 – 3 StGB umgreift sexuelle Handlungen mit Körperkontakt, Abs. 4 und 5 solche ohne Körperkontakt. § 176 Abs. 4 Nr. 3 StGB hat in jüngster Zeit gesteigerte Bedeutung gewonnen. Hier wird das Kind vor Handlungen geschützt, die keine sexuellen im Sinne des § 184c StGB sind, die aber seine seelische Entwicklung ungünstig beeinflussen können, also z. B. unzüchtige Reden, Schriften und Bilder. Nach § 176 StGB kann dieses Delikt von einem jeden begangen werden; der Täter muss also nicht eine Autorität für das Kind sein. Sexueller Missbrauch von Kindern (§ 176 StGB) ist lediglich ein Vergehen. Diese Gesetzeslage wird gerügt, doch zu Unrecht. Wollte man alle Missbrauchsfälle als Verbrechen einstufen, würde man der Unterschiedlichkeit der Sachverhalte nicht gerecht. Leichte und leichteste Formen des Missbrauchs können nicht den schweren Formen gleichgesetzt werden. Schwere Missbrauchsfälle sind bereits Verbrechen und brauchen nicht erst zu solchen erhoben zu werden. Es ist aber zu beachten, dass der Versuch zu Taten, die § 176 StGB (ausgenommen Abs. 4 Nr. 3 und 4 und Abs. 5) umfasst, strafbar ist (§ 176 Abs. 6 StGB). Die Abs. 1 und 2 ermäßigen die Strafdrohung für minder schwere Fälle. Strafmildernd kann berücksichtigt werden, dass bei dem Kind kein dauernder seelischer Schaden entstanden ist. Beihilfe zum Missbrauch leistet, wer durch Tun oder Unterlassen die Straftaten ermöglicht oder erleichtert.

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3. § 176a StGB § 176a StGB hat schweren sexuellen Missbrauch von Kindern zum Gegenstand. Er liegt vor, wenn der Täter innerhalb der letzten fünf Jahre wegen einer Straftat nach § 176 Abs. 1 und 2 rechtskräftig verurteilt worden ist (Abs. 1). § 176a Abs. 1 StGB setzt für den als Wiederholungstat zu beurteilenden sexuellen Missbrauch von Kindern nach § 176 Abs. 1 oder Abs. 2 eine Freiheitsstrafe nicht unter einem Jahr fest. Es dürfen zwischen der abzuurteilenden Tat und der vorhergegangenen Verurteilung nicht mehr als fünf Jahre liegen. Die Fälle des sexuellen Missbrauchs von Kindern (nach § 176 Abs. 1 und 2), die nach § 176a StGB mit Freiheitsstrafe nicht unter zwei Jahren zu bestrafen sind, werden in Abs. 2 aufgezählt: Beischlaf oder beischlafähnliche Handlungen (Nr. 1), gemeinschaftliche Begehung der Tat (Nr. 2), Gefahr einer schweren Gesundheitsschädigung oder einer erheblichen Schädigung der körperlichen oder seelischen Entwicklung (Nr. 3). In den Fällen des § 176a StGB liegen Verbrechen (§ 12 Abs. 1 StGB) vor. Der Strafrahmen reicht von 2 bis 15 Jahren (§ 38 Abs. 2 StGB) Freiheitsstrafe, in minder schweren Fällen gemäß Abs. 4 2. Alt. von 1 Jahr bis 10 Jahren Freiheitsstrafe. III. Die Einleitung der Strafverfolgung 1. Das Legalitätsprinzip Das im deutschen Strafrecht geltende Legalitätsprinzip beansprucht, alle zur Kenntnis gelangten, aufklärbaren und beweisbaren Straftaten zur Ahndung zu bringen.7 Aber es gilt nicht in voller Strenge. Das Legalitätsprinzip wird begrenzt und durchbrochen durch zahlreiche Ermächtigungen, die Verfolgung zu unterlassen. Bei Vergehen kann von der Verfolgung abgesehen werden, wenn die Schuld des Täters gering ist und kein öffentliches Interesse an der Strafverfolgung besteht (§ 153 StPO). Das Legalitätsprinzip verpflichtet die Staatsanwaltschaft auch nicht, nach unbekannt gebliebenen Straftaten zu forschen. Nicht jede Straftat muss bestraft werden, sondern nur jede beweisbare Straftat. 2. Der Verfolgungszwang Der Verfolgungszwang ist in unserer Rechtsordnung die Regel, die Nichtverfolgung ist die Ausnahme. Die Verfolgungsbehörden sind also verpflichtet, bei Vorliegen der Verdachtsmomente (§ 160 StPO) einzuschreiten (§ 152 Abs. 2 StPO). Die

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Für den Strafprozess verweise ich auf die Werke: Löwe-Rosenberg, Die Strafprozeßordnung und das Gerichtsverfassungsgesetz. Großkommentar. 25., neu bearb. Aufl., hrsg. von Peter Rieß, 3. Bd.: §§ 137 – 212b, Berlin 2004; Strafprozessordnung. Gerichtsverfassungsgesetz, Nebengesetze und ergänzende Bestimmungen. Erläutert von Lutz Meyer-Goßner/ M. v. Jürgen Cierniak, 51., neu bearb. Aufl., München 2008.

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wichtigste Verfolgungsbehörde ist die Staatsanwaltschaft.8 Sie ist nicht nur Anklagebehörde, sondern auch Ermittlungsbehörde. Die Staatsanwaltschaft ist grundsätzlich verpflichtet, wegen aller verfolgbaren Straftaten einzuschreiten, sofern zureichende tatsächliche Anhaltspunkte vorliegen (§ 152 Abs. 2 StPO). Das „Einschreiten“ ist die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens. Die sogenannten Vorermittlungen liegen vor dem Einschreiten; sie sollen klären, ob ein Einschreiten geboten ist. Das Einschreiten ist an das Vorliegen von „zureichenden tatsächlichen Anhaltspunkten“ (§ 152 Abs. 2 StGB) gebunden. Man spricht hier von einem Anfangsverdacht. Das Gesetz stellt auf Tatsachen ab, nicht auf Möglichkeiten oder Vermutungen. Ebenso wenig besteht eine Verpflichtung, ohne „tatsächliche Anhaltspunkte“ nach unbekannten Straftaten zu forschen. Die Verpflichtung zum „Einschreiten“ (§ 152 Abs. 2 StPO) umfasst sowohl die Ermittlungen als auch die Erhebung der Klage. Wenn die Staatsanwaltschaft durch eine Anzeige oder auf anderem Wege Kenntnis von dem Verdacht einer Straftat erhält, hat sie den Sachverhalt zu erforschen (§ 160 Abs. 1 StPO). Der Beschuldigte besitzt gegen die Eröffnung, die Fortsetzung oder die Beendigung des Ermittlungsverfahrens keinen Rechtsschutz. Er kann sich auch nicht wehren gegen Verzögerungen oder gegen die Weigerung der Staatsanwaltschaft, ihm die Verdachtsgründe zu offenbaren. Die Erhebung einer öffentlichen Klage kann nur durch die Staatsanwaltschaft erfolgen (§ 152 Abs. 1 StPO). IV. Die Anzeige der Straftat Die Strafverfolgungsbehörden sind verpflichtet, Straftaten zu erforschen und zu verfolgen, ohne Rücksicht auf eine Strafanzeige. Die Anzeige ist aber regelmäßig die einzige legale Möglichkeit, den Täter zur Rechenschaft zu ziehen.9 1. Begriff und Arten Die Strafanzeige besteht einmal aus der Mitteilung eines Sachverhalts, der nach Ansicht des Anzeigenden Anlass zur Strafverfolgung bietet. Die Strafanzeige beinhaltet sodann die Anregung, zu prüfen, ob ein Ermittlungsverfahren einzuleiten ist. Die Anzeige kann sich auf eine verübte oder eine künftige Straftat richten. Bei der Strafanzeige sind drei Varianten zu unterscheiden.

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Michael Heghmans, Das Arbeitsgebiet des Staatsanwalts, 3., neu bearb. u. erw. Aufl., Münster 2003; Detlef Burhoff, Handbuch für das strafrechtliche Ermittlungsverfahren, 5., aktualisierte und erweiterte Auflage, Münster 2010. 9 Horst Posselt, Die Strafanzeige: Die neue Polizei 1947, S. 7 – 10, S. 23 – 26, S. 39 – 92; Kurt Weis/Renate Müller-Bagehl, Private Strafanzeigen, in: Kriminologisches Journal 3, 1971, S. 185 – 194; Wolfgang Heinz, Bestimmungsgründe der Anzeigebereitschaft des Opfers. Ein kriminologischer Beitrag zum Problem der differentiellen Wahrscheinlichkeit strafrechtlicher Sanktionierung. Rechtswiss. Diss. Freiburg i. Br./Eutingen a. d. Enz 1972; Josef Kürzinger, Private Strafanzeige und polizeiliche Reaktion (Strafrecht und Kriminologie 4), Berlin 1978.

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(1) Die Strafanzeige ist die Mitteilung des Verdachts einer Straftat, die mit der Anregung verbunden ist, zu prüfen, ob ein Ermittlungsverfahren einzuleiten ist. (2) Die Strafanzeige kann mit dem Begehren, die Strafverfolgung vorzunehmen, verbunden sein. (3) Die Anzeige kann mit dem Verlangen nach Strafverfolgung, d. i. auf Erhebung der öffentlichen Klage verbunden sein. 2. Inhalt Der Inhalt der Strafanzeige ist vom Gesetz nicht festgelegt. Immerhin muss ein Sachverhalt mitgeteilt werden, der es der Behörde ermöglicht, zu prüfen, ob ausreichende Anhaltspunkte für eine Straftat bestehen. Um eine Anzeige erstatten zu können, genügt es, wenn die Möglichkeit eines strafbaren Verhaltens dargetan wird; Gewissheit über die Straftat ist nicht erfordert, ein Verdacht reicht aus. Wer eine Anzeige erstattet, ist verpflichtet, auf Sachlichkeit und Wahrheit zu achten. Wer wider besseres Wissen jemanden in einer Anzeige verdächtigt, macht sich nach § 164 StGB strafbar. Anzeigen können aus mannigfachen Motiven erstattet werden. Sie können aus Eifer für die Gerechtigkeit und aus Sorge um das Wohl von Opfern sowie in der Absicht, einen Täter unschädlich zu machen, vorgebracht werden. Anzeigen können aber auch aus Groll, Hass und Neid hervorgehen. Häufig sind verspätete Anzeigen ein Racheakt des Opfers oder von Hintermännern, die sich seiner bedienen. Leichtfertig oder ungeprüft erhobene Vorwürfe des Missbrauchs beschädigen auch dann den Betroffenen, wenn sich später herausstellt, dass sie unzutreffend sind. Der Fall ist nicht selten, dass Opfer von Missbräuchen nicht wünschen, dass eine Anzeige erstattet wird. 3. Anzeiger Zur Erstattung einer Strafanzeige ist grundsätzlich jedermann berechtigt. Der Anzeigende braucht weder prozessfähig noch geschäftsfähig zu sein. Bei Erstattung der Anzeige ist Vertretung im Willen und in der Erklärung statthaft. In diesen Fällen ist der Vertretene als Erstatter der Anzeige anzusehen. Die Anzeige kann auch vom Jugendamt vorgenommen werden, das ein Kind vor weiteren Übergriffen schützen will. Dem Anzeiger kann aus plausiblen Gründen Vertraulichkeit zugesichert werden. Sie besteht darin, dass der Name des Anzeigenden nicht preisgegeben wird. Die versprochene Vertraulichkeit kann jedoch immer nur unter bestimmten Bedingungen gewahrt werden. Die Anzeige kann zurückgenommen werden; doch die Rücknahme ist rechtlich unbeachtlich. Der durch sie begründete Anfangsverdacht wird dadurch nicht aus der Welt geschafft.

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4. Adressat der Anzeige Die Strafanzeige kann bei der Staatsanwaltschaft, den Behörden und Beamten des Polizeidienstes und den Amtsgerichten mündlich oder schriftlich angebracht werden (§ 158 Abs. 1 StPO). Diese Vorschrift betrifft Offizialdelikte, die keinen Strafantrag erfordern. Behörden sind nur die unmittelbaren oder mittelbaren Trägerinnen staatlicher Rechte und Pflichten. Jede Behörde der genannten Art ist zuständig für die Entgegennahme der Anzeige, auch wenn sie für die angezeigte Tat weder sachlich noch örtlich zuständig ist. Die in § 158 Abs. 1 StPO genannten Behörden sind gehalten, die Anzeige entgegenzunehmen. Die Strafanzeige verpflichtet die Strafverfolgungsbehörden kraft des Legalitätsprinzips, den Sachverhalt zu prüfen und bei Vorliegen eines Anfangsverdachts ein Ermittlungsverfahren einzuleiten. Die Staatsanwaltschaft ist regelmäßig verpflichtet, wegen aller verfolgbaren Straftaten einzuschreiten, sofern zureichende tatsächliche Anhaltspunkte vorliegen (§ 152 Abs. 2 StPO). Sie darf selbst anonyme oder pseudonyme Strafanzeigen nicht unbeachtet lassen, hat vielmehr zu prüfen, ob sich aus ihnen ein Anfangsverdacht ergibt. Sobald die Staatsanwaltschaft durch eine Anzeige (oder auf anderem Wege) von dem Verdacht einer Straftat Kenntnis erhält, hat sie zu ihrer Entschließung, ob die öffentliche Klage zu erheben ist, den Sachverhalt zu erforschen (§ 160 Abs. 1 StPO). V. Die Anzeige geschehener Straftaten 1. Zweck Die Anzeige einer bereits geschehenen Straftat hat den Zweck, ein begangenes Verbrechen zu ahnden. Die Ahndung geschieht durch die Bestrafung des Täters. Die Zufügung von Strafen hat den Zweck, die Herrschaft des Rechts zu wahren und den Schutz der Bürger zu gewährleisten. Niemand ist zur Anzeige einer verübten strafbaren Handlung verpflichtet; eine Anzeigepflicht begangener Verbrechen besteht nicht.10 Das Strafgesetzbuch enthält 10 Franz Hahn, Von der Pflicht zur Denuntiation von Verbrechen. Rechtswiss. Diss. Bern, Bern 1839; Robert Heß, Die Anzeigepflicht im Strafrecht (Strafrechtliche Abhandlungen des juristischen Seminars der Universität Breslau, I. Serie, Heft 2), Breslau 1893; Robert Redslob, Die kriminelle Unterlassung (Strafrechtliche Abhandlungen 70), Breslau 1906; Ludwig von Bar, Gesetz und Schuld im Strafrecht. Fragen des geltenden deutschen Strafrechts und seiner Reform. Bd. II: Die Schuld nach dem Strafgesetze, Berlin 1907; Ludwig Fischer, Die unterlassene Verbrechens-Anzeige. Rechtswiss. Diss. Erlangen, München 1930; Kurt Meyer, Die unbestraften Verbrechen. Eine Untersuchung über die sog. Dunkelziffer in der deutschen Kriminalstatistik (Kriminalistische Abhandlungen XLVII), Leipzig 1941; Joachim Schwarz, Die unterlassene Verbrechensanzeige. Zugleich ein Beitrag zur Lehre vom Unterlassungsdelikt (Strafrecht Strafverfahren Kriminologie 23), Neuwied 1968; Wolfgang Schöne, Unterlassene Erfolgsabwendungen und Strafgesetz. Zur gesetzlichen Regelung „unechter“ Unterlassungsdelikte, Köln 1974; Friedrich-Christian Schroeder, Die Straftaten gegen das Strafrecht (Schriftenreihe der Juristischen Gesellschaft zu Berlin 96), Berlin 1984.

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aber auch keine Aussage, dass eine Anzeigepflicht strafbarer Handlungen nicht existiert. In jedem Falle gilt: Die Nichtanzeige begangener Verbrechen straft das StGB normalerweise nicht. Die Anzeige hängt von dem freien Willen der Person ab, die sich dazu in der Lage sieht. Die Bürger sind verpflichtet, die Entdeckung von Delinquenten nicht zu verhindern; aber sie sind nicht verpflichtet, sie zu entdecken. Die Sorge, dass Straftäter entdeckt werden, obliegt dem Staat. Dafür unterhält er die Polizei und die Staatsanwaltschaft. Der schweigende Mitwisser einer Straftat setzt keine positive Handlung und übernimmt keine besondere Verpflichtung. Die Anzeige bei begangenen Verbrechen ist dem Gewissen des Bürgers überlassen. Die Pflicht zur Anzeige ist aus dem Sittengesetz zu beantworten. Die Anzeige begangener Verbrechen kann Verbrechen nicht mehr hindern, sondern lediglich zu ihrer Ahndung dienen. Insofern die Bestrafung zum künftigen Schutz des Rechtes erforderlich ist, weil der Täter weitere Verbrechen begehen würde, ist sie sittliche Pflicht. 2. Die Pflicht zur Anzeige geschehener Straftaten Von dem eben erwähnten Prinzip gibt es Ausnahmen, die eine Anzeige zur Pflicht machen. Die Anzeigepflichtigkeit bei Straftaten bedarf des Vorbehaltes des Gesetzes. Der Staat kann die Bürger in bestimmten Fällen verpflichten, von Verbrechen, die ihnen bekannt geworden sind, Anzeige zu erstatten. In Sonderfällen bestehen gesetzliche Anzeigepflichten. Eine Reihe von Gesetzen enthalten die Pflicht, Anzeige zu erstatten. Es sei beispielsweise verwiesen auf § 40 Wehrstrafgesetz und auf § 261 StGB (Geldwäsche). Abgesehen von diesen gesetzlichen Anzeigepflichten gilt Folgendes. Die Leiter von Behörden haben keine allgemeine Pflicht, strafbare Handlungen anzuzeigen. Die Erstattung der Anzeige ist in das pflichtgemäße Ermessen des leitenden Beamten gestellt. Straftaten von Behördenbediensteten sind nur dann anzuzeigen, wenn sich eine solche Pflicht aus besonderen Vorschriften oder aus Dienstpflichten ergibt. Solche Bestimmungen sind beispielsweise § 159 StPO und § 183 GVG. Die Unterlassung der Anzeige einer strafbaren Handlung ist dann Verletzung der Pflicht zur Verfolgung, wenn jemand von Amtes wegen gehalten ist, Anzeige zu erstatten. So haben Polizeibeamte die Pflicht, strafbare Handlungen, die ihnen dienstlich zur Kenntnis gekommen sind, auf den Weg der Strafverfolgung zu geben. Behördenleiter sind verpflichtet, Anzeige zu erstatten, wenn es sich um erhebliche Straftaten handelt, eine disziplinarrechtliche Ahndung nicht ausreicht und das öffentliche Interesse die Strafverfolgung verlangt. Ein Behördenleiter handelt dann pflichtwidrig, wenn das Unterlassen der Anzeige als Missbrauch des Ermessens anzusehen ist. Bei Ermessensmissbrauch liegt Strafvereitelung vor. Ermessensmissbrauch setzt voraus, dass die Strafverfolgung durch ein überwiegendes dienstliches oder allgemeines Interesse gefordert ist. Ermittlungsbeamte von Strafverfolgungsbehörden sind verpflichtet, Straftaten anzuzeigen, die ihnen dienstlich bekannt geworden sind. Wenn ihnen die Kenntnis außerdienstlich, privat zukommt, ist zu unterscheiden. Bei Straftaten, die nicht

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besonders gravierend sind, besteht keine Pflicht zum Eingreifen, d. h. Anzeige zu erstatten. Anders bei Straftaten, welche die Allgemeinheit in beträchtlichem Umfang berühren. Hier besteht die Pflicht zur Anzeige. Es ist anerkannt, dass besondere Umstände, familiäre Verhältnisse und enge Bindungen die Anzeigepflicht, die sonst bestehen würde, ausschließen können. Es gibt zwar immer wieder Stimmen, die für die Anzeigepflicht aller Verbrechen plädieren, doch sie dringen bisher nicht durch. Die mit einer solchen Verpflichtung verbundenen Schäden sind größer als der zu erwartende Nutzen. Es ist zulässig zu versuchen, andere von der Erstattung einer Anzeige abzubringen. Das Einwirken auf einen anderen, die Anzeige zu unterlassen, ist nicht rechtswidrig, solange es nicht durch strafbare Drohungen, Zwang oder faktische Hindernisse geschieht, wohl aber, wenn ein zur Anzeige verpflichteter Beamter überredet wird, die Anzeige zu unterlassen. 3. Die Unterlassung der Anzeige a) Bewertung Die Anzeige entscheidet in der Regel über Bestrafung oder Nichtbestrafung eines Verbrechens11. Wer die Anzeige eines geschehenen Verbrechens unterlässt, hilft mit, dass es verborgen bleibt; wer sie macht, sorgt dafür, dass es zur Kenntnis der Behörde gelangt und zur Bestrafung kommt. Die Nichtanzeige eines geschehenen Verbrechens kann aber nicht als Teilnahme an dem Verbrechen klassifiziert werden. Es fehlt die Kausalverbindung zwischen der (angeblichen) Teilnahmehandlung und dem verbrecherischen Erfolg. Eine Handlung, die dem Erfolg nachfolgt, ist keine Teilnahmehandlung. Die Nichtanzeige eines Verbrechens ist auch keine Begünstigung. Begünstigung ist die nach Begehung einer Straftat dem Täter oder Teilnehmer geleistete Hilfe zur Sicherung der Vorteile der Tat. Sie wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe geahndet (§ 257 StGB). Auch die Begünstigungshandlung folgt begriffsnotwendig dem Verbrechen nach. Die Vollendung des Delikts gehört zu den Merkmalen des Tatbestandes der Begünstigung. Positive Handlungen der Begünstigung stehen im Widerspruch zu der Pflicht eines jeden Bürgers, der Verfolgung und der Bestrafung von Verbrechen durch den Staat nicht hindernd in den Weg zu treten. Das Nichtanzeigen, das bloße Schweigen wird jedoch davon nicht erfasst. Begünstigung ist eine positive Tätigkeit, um das Verbrechen zu verbergen und zu verheimlichen. Die Nichtanzeige ist etwas Negatives, ein bloßes Unterlassen, ein Verschweigen. Das Verbot der Begünstigung von Straftaten gebietet nicht die Förderung der Strafverfolgung. Wer dem Täter dagegen vor Begehen der Tat verspricht, keine Anzeige (des geschehenen Verbrechens) zu erstatten, wird in gewisser Hinsicht kausal für die Straftat. Seine Handlung fördert das Begehen des Verbrechens, insofern sie die Zuversicht auf deren Gelingen fördert. 11 70 bis 80 % aller Fälle des Missbrauchs, die zur Verurteilung führten, wurden der Polizei durch Anzeigen bekannt (Wilmer, Sexueller Mißbrauch von Kindern [Anm. 1], S. 66).

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b) Gründe gegen die Anzeige geschehener Straftaten Es ist nicht in allen Fällen sittlich geboten, geschehene Verbrechen anzuzeigen. Es sind vielmehr Gründe denkbar, die von der Erstattung einer Anzeige abraten. Bei jeder Anzeige ist zu bedenken, welche Folgen die Anzeige und welche Folgen die eventuelle Bestrafung für Täter und Opfer voraussichtlich haben werden. Wenn jemand die ihm bekannt gewordene Straftat als eine einmalige Entgleisung anzusehen sich berechtigt glaubt, dürfte der Verzicht auf die Anzeige regelmäßig nicht schwer fallen. Denn dann besteht nicht das Bedürfnis, die Allgemeinheit vor dem Täter zu schützen, indem er auf die eine oder andere Weise unschädlich gemacht wird.12 Anders ist es, wenn wiederholt Straftaten vorgekommen sind, womöglich mit mehreren Opfern, und erst Recht, wenn mit weiteren Verfehlungen zu rechnen ist. In solchen Fällen wird die Anzeige pflichtmäßig zu erstatten sein.13 Bezogen auf die Missbrauchsfälle sind die beiden entscheidenden Fragen: Muss das Kind oder müssen andere Kinder vor weiterem Missbrauch geschützt werden? Ist zu diesem Zweck die Anzeige notwendig?14 Ebenso kann sich die Unterlassung der Anzeige empfehlen, wenn der befürchteten Wiederholung der Straftat auf andere Weise begegnet werden kann. In einem mir bekannt gewordenen Fall des Missbrauchs von Kindern durch den Vater wurde die Gefahr für die Zukunft durch Scheidung der Ehe gebannt. Die Gründe für die Unterlassung der Anzeige sind die Folgenden. Das Mitleid mit dem Täter oder die Sympathie für ihn und das Gefühl der Solidarität kann davon abhalten, Anzeige zu erstatten. Wer bisher unbescholten gelebt hat, in Ruhe seinem Beruf nachgegangen ist und sich der Achtung seiner Mitbürger erfreut, wird durch die Anzeige, die folgenden Ermittlungen und den anschließenden Prozess mit Bestrafung in schwerer Weise getroffen. Er verliert seine Reputation, vielleicht auch seinen Arbeitsplatz und sein Einkommen. Der Prozess, die Verurteilung und die Be12

Ein Drittel der Fälle von Pädophilie sind einmalige Verfehlungen (Wilmer, Sexueller Mißbrauch von Kindern [Anm. 1], S. 110 f.; Bange/Deegener, Sexueller Mißbrauch an Kindern [Anm. 1], S. 133; Hans Joachim Schneider, Viktimologische Aspekte des sexuellen Mißbrauchs von Kindern, in: Egg, Sexueller Mißbrauch von Kindern [Anm. 1], S. 209 – 241, hier S. 212). 13 Nur ein kleiner Teil der Straftaten, die Privatpersonen bekannt werden, kommt zur Kenntnis der Behörden. Der sexuelle Missbrauch von Kindern ist beträchtlich häufiger als die Fälle, die strafrechtlich bekannt geworden sind. Die Dunkelziffer bei Unzucht mit Kindern ist sehr hoch (Meyer, Die unbestraften Verbrechen [Anm. 10], S. 29 f.), vor allem im Feld des sexuellen Mißbrauchs durch Angehörige und Bekannte (Bange/Deegener, Sexueller Mißbrauch an Kindern [Anm. 1], S. 126). Die angestellten Untersuchungen über die Häufigkeit sexuellen Missbrauchs leiden an der Unterschiedlichkeit der Fragestellungen und der Methoden. Die Ergebnisse sind daher sehr verschieden (Bange/Deegener, Sexueller Mißbrauch an Kindern [Anm. 1], S. 41 – 49; S. 123 – 125). Ich schließe mich der Ansicht an, wonach in Deutschland etwa jedes vierte bis fünfte Mädchen und jeder zwölfte Junge „sexuelle Gewalt erlebt“ (Bange/Deegener, Sexueller Mißbrauch an Kindern [Anm. 1], S. 49). 14 „Sorgeberechtigte und Jugendamt sind aber verpflichtet, einen aufgedeckten Mißbrauch zu beenden. Dies muss zwar nicht durch eine Strafanzeige geschehen, es muss aber für einen wirksamen Schutz vor weiterem Mißbrauch Sorge getragen werden“ (Wilmer, Sexueller Mißbrauch von Kindern [Anm. 1], S. 174).

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strafung werfen einen nicht auszutilgenden Makel auf den Täter. Die Folgen von Prozess und Bestrafung treffen auch die Familie und die Angehörigen. Der Gatte und Vater steht jetzt als Verurteilter und Bestrafter vor Frau und Kindern. Die Familie kann zerfallen. Die Kinder werden durch eine Ehescheidung ihrer Eltern beraubt. Die Pflicht der Nächstenliebe gebietet, Unglück von den Mitmenschen fernzuhalten. Ich habe erlebt, dass ein (privater) Musiklehrer bei Schülern, die am Klavier saßen, mit der Hand in das Hosenbein der (kurzen) Hose fuhr. Es war dies in der Zeit des NS, und leicht hätte sich der Musiker bei einer Anzeige im KZ wiederfinden können. Das kanonische Recht riet zum Verschweigen der Wahrheit, wenn man einen Menschen nicht (durch Anzeige und Auslieferung) dem Tode preisgeben wolle.15 Im Christentum wird das Mitleid überboten durch die Verzeihung und die Feindesliebe. Die Verzeihung ist der Entschluss und die Erklärung, einem Täter das von ihm verübte Unrecht nicht anzulasten. Die Feindesliebe vergilt dem Feind das Böse mit Gutem. Der Erzbischof von Brüssel, Andr¦-Joseph L¦onard, wurde am 1. November 2010 in seiner Kathedralkirche von einem Angreifer überfallen, geohrfeigt und mit einer Torte beworfen. Der Erzbischof verzichtete auf eine Strafanzeige.16 Jemand kann von der Anzeige absehen, weil es sich in seinen Augen um eine geringfügige Gesetzesverletzung handelt. Die verbrecherische Energie ist unbedeutend, der angerichtete Schaden minimal. Eine Anzeige kann auch deswegen unterbleiben, weil das Opfer sich über die Strafbarkeit des Täterverhaltens nicht gewiss ist. Wenn das Opfer eine Anzeige erstattet, muss es damit rechnen, dass sein eigenes Verhalten – sein „Tatbeitrag“ – untersucht wird, wobei es leicht möglich ist, dass ihm selbst sexuelles Fehlverhalten vorgeworfen wird.17 Im Falle des Missbrauchs kann das Opfer auch deshalb auf die Anzeige verzichten, weil es selbst Scham über die Tat empfindet oder sich einer Mitschuld an ihr zeiht.18 Dabei zeigt sich ein eigenartiges Phänomen. „Die Anzeigebereitschaft der kindlichen Opfer nimmt mit der Schwere und Häufigkeit des Delikts ab.“19 Eine erhebliche Zahl der Opfer hat dem Missbrauch vorhergehende sexuelle Erfahrungen. Die von den Autoren angegebenen Zahlen schwanken zwischen 2 und 30 Prozent.20 Die Unterlassung der Anzeige kann sich weiter aus der Furcht herleiten, sich Feinde zu machen. Wer Anzeige erstattet, muss damit rechnen, dass andere sein Vorgehen missbilligen, weil sie es für unangebracht halten. Die Angehörigen, die Freunde, die Mitglieder einer Vereinigung können sich auf die Seite des Anzuzeigenden stellen 15

C. 22 q. 2 c. 14. Kurier der Christlichen Mitte, Dezember 2010, Nr. 12. 17 Heinz, Bestimmungsgründe (Anm. 9), S. 73. 18 Man rechnet mit einem Fünftel bis zu einem Viertel der Fälle, in denen sich die jugendlichen Opfer „billigend, aktiv oder gar initiativ verhielten“ (Heinz, Bestimmungsgründe [Anm. 9], S. 72). Vgl. Wilmer, Sexueller Mißbrauch von Kindern (Anm. 1), S. 66; Wyss, Unzucht mit Kindern (Anm. 1), S. 34; Thea Schönfelder, Die Initiative des Opfers, in: F. G. v. Stockert u. a. (Hrsg.), Das sexuell gefährdete Kind (Anm. 1), S. 109 – 115. 19 Wilmer, Sexueller Mißbrauch von Kindern (Anm. 1), S. 67. 20 Wilmer, Sexueller Mißbrauch von Kindern (Anm. 1), S. 93. 16

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und den Anzeiger ihre Ablehnung, Missbilligung oder ihre bleibende Abneigung spüren lassen. Je nachdem, welche Beziehung zwischen ihnen und dem Anzeiger obwaltet, kann Letzterem materieller oder immaterieller Schaden entstehen. Die Unterlassung der Anzeige kann auch aus Bequemlichkeit geschehen. Man fürchtet die Unannehmlichkeiten und die Beschwerden, die sich aus der Anzeige, der Vernehmung und dem folgenden Strafverfahren (mit Zeugenschaft) ergeben können. Diese Motivation ist gewiss alles andere als untadelig. Doch ist zu bedenken, dass kränkliche oder gebrechliche Menschen um ihr Befinden besorgt sind, wenn sie vor der Polizei oder im Gericht erscheinen müssen. Nicht jeder ist so robust oder unempfindlich, dass er die damit verbundenen Aufregungen, Besorgnisse und eventuelle Vorwürfe ohne weiteres wegsteckt. Auch wer das Gesetz, gegen das ein anderer möglicherweise verstoßen hat, nicht billigt, wird leicht geneigt sein, die Strafanzeige zu unterlassen. Weil er von der Ungerechtigkeit der gesetzlichen Bestimmungen überzeugt ist, lehnt er es ab, einen mutmaßlichen Delinquenten der Justiz auszuliefern. Er mag sich nicht zum „Komplizen“ einer, seines Erachtens ungerechten Bestrafung machen. Eine derartige Konstellation ist nicht nur in einem Unrechtsstaat möglich. Man erinnere sich, dass vor den wiederholten Entschärfungen des deutschen Sexualstrafrechts manche und vielleicht viele Menschen die eine oder andere Bestimmung kritisierten und aufgrund ihrer Missbilligung davor zurückschreckten, Anzeige zu erstatten. Es sei beispielsweise auf die Homosexualität verwiesen. Es kann auch sein, dass jemand eine grundsätzliche Abneigung gegen die Erstattung von Anzeigen hat. Er findet, dass es Sache der Polizei ist, Recht und Gesetz aufrechtzuerhalten und Gerüchten von Rechtsverletzungen nachzugehen. Er will sich nicht zum Hilfsorgan der Polizei machen. Die Abwehr ist noch größer, wenn die Anzeige als Denunziation verstanden wird; mit diesem Begriff ist die unehrenhafte Motivation verbunden. Es mag einer auch deswegen die Anzeige unterlassen, weil er von dem daraufhin in Gang gesetzten Verfahren keinen Nutzen für die Gesellschaft und den Täter erwartet. Die Entdeckung des Täters führt nach einem geordneten Beweisverfahren regelmäßig zu seiner Bestrafung. Die Bestrafung mag aus mehreren Gründen als notwendig angesehen werden. Dass sie zur Besserung des Täters führt, ist die Ausnahme. In der Regel geschieht dies nicht. Die Besserung des Täters wird nur erreicht, wenn er freiwillig das von ihm verübte Unrecht anerkennt und für die Zukunft unterlässt. Wenn dies geschehen ist, erübrigt sich die Anzeige. Es ist zu fragen, ob und welcher Schaden entsteht, wenn Verbrechen unentdeckt und ungestraft bleiben. Selbstverständlich muss die Herrschaft von Recht und Gesetz aufrechterhalten werden. Diesem Bedürfnis wird genügt, wenn die Masse der Straftaten aufgedeckt und bestraft wird. Immer, wo das öffentliche Interesse die Bestrafung zwingend gebietet, hat sie zu erfolgen. Wo dies nicht der Fall ist, kann auch nicht von der Notwendigkeit, geschehene Straftaten anzuzeigen, gesprochen werden.

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VI. Die Anzeige geplanter Straftaten 1. Pflicht zur Anzeige Dass Verbrechen im Staat verhindert werden sollen, ist eine Rechtspflicht des Staates. Aber damit ist nicht festgelegt, dass jeder einzelne Bürger gehalten ist, an dieser Pflicht teilzuhaben. Eine allgemeine Rechtspflicht des Bürgers, Straftaten zu verhindern, existiert nicht. Die Pflicht, Verbrechen zu verhindern, wird vom Sittengesetz auferlegt. Das Strafrecht enthält keine allgemeine Verpflichtung, bevorstehende Straftaten anzuzeigen. Ausnahmen bilden die in § 138 StGB genannten Straftaten; zu ihrer Verhinderung ist jedermann verpflichtet, und zwar durch rechtzeitige Erstattung der Anzeige. Der Gesetzgeber verlangt die Anzeige lediglich hinsichtlich der schwersten Verbrechen, die in § 138 aufgezählt werden. Die Ausdehnung der Bestimmung auf andere Fälle ist unzulässig. Die Absicht der Bestimmung ist darin gelegen, die Verletzung der geschützten Rechtsgüter durch die Anzeige abzuwenden; der Bedrohte soll gewarnt, die Behörden sollen zur Verhinderung bewegt werden. Die Pflicht zur Anzeige besteht nur, wenn die Möglichkeit zur Abwendung der Straftat besteht. Die jedermann treffende Pflicht, den Strafverfolgungsbehörden Strafanzeige zu erstatten, betrifft nur bevorstehende, nicht vollendete Straftaten. Die Anzeige kann über Existenz oder Nichtexistenz eines Verbrechens entscheiden. Wer die Anzeige eines geplanten Verbrechens unterlässt, sieht zu, wie es zur Ausführung kommt; wer sie vornimmt, trägt dazu bei, dass der Plan misslingt. Die Anzeigepflicht umfasst nach § 138 StGB das Vorhaben und die Ausführung einer Straftat. Der Begriff des „Vorhabens“ ist dahin zu verstehen, dass er auch strafbare Vorbereitungshandlungen einschließt. Die „Ausführung“ besagt die Ingangsetzung des strafbaren Geschehens bis zur Vollendung. Nicht anzuzeigen ist der strafbare Versuch oder das Verbrechen selbst. Angezeigt werden soll nicht eine Person, sondern ein verbrecherischer Plan. 2. Nichtanzeige bevorstehender Straftaten Die Strafbarkeit der Nichtanzeige bevorstehender Straftaten ergibt sich allein aus der positiven Bestimmung des § 138 StGB. Die Nichtanzeige bevorstehender Straftaten ist jedoch keine Teilnahme an dem Verbrechen. Als Teilnahme kann nur etwas angesehen werden, was in einem Kausalverhältnis zu dem Verbrechen steht. Die Unterlassung der Anzeige ist aber in keiner Weise kausal für das Verbrechen. Die Nichtanzeige eines bevorstehenden Verbrechens ist auch keine (mittelbare) Beihilfe. Mittelbare Beihilfe hat die Beseitigung eines Hindernisses zum Inhalt, das der Absicht des Täters im Wege steht. Wer Anzeige nicht erstattet, entfernt aber nicht ein Hindernis des Verbrechens, sondern legt nur seiner Begehung kein Hindernis in den Weg. Die Nichtanzeige eines bevorstehenden Verbrechens ist schließlich auch keine Begünstigung. Begünstigung kommt nur in Frage bei bereits begangenen Verbrechen; begünstigende Handlungen setzen das Geschehen des Verbrechens voraus.

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3. Freistellung von der Anzeigepflicht Bestimmte Personen bzw. Personengruppen werden von der Pflicht zur Anzeige freigestellt. So besteht grundsätzlich keine Anzeigepflicht für Geistliche hinsichtlich dessen, was ihnen in ihrer Eigenschaft als Seelsorger anvertraut worden ist (§ 139 Abs. 2 StGB).21 Die Bestimmung des § 139 Abs. 2 will das Vertrauen als eine unersetzliche Voraussetzung einer gedeihlichen Seelsorge schützen. Nur „Geistliche“, die „Seelsorger“ sind, dürfen sich auf die Freistellung berufen. Der eine Begriff ruft nach dem anderen. Geistliche sind Inhaber eines geistlichen Amtes. Die Gesetzgebung des CIC/1983 hat die Bestimmung des geistlichen Amtes in dem vom § 139 Abs. 2 StGB gemeinten Sinn nicht erleichtert. Jeder katholische Priester ist gewiss ein „Geistlicher“, aber nicht jeder ist ein „Seelsorger“. Man denke an Priester, die in der kirchlichen Verwaltung oder in der theologischen Lehre tätig sind. Sofern sie in keiner Weise an der unmittelbaren Sorge für Seelen sich betätigen, können sie nicht als Seelsorger angesprochen werden. Unbestreitbar sind Diakone, die im kirchlichen Gemeindedienst eingesetzt sind, Geistliche und Seelsorger. Dabei kann es keinen Unterschied machen, ob sie ihre Diakonatsweihe hauptamtlich und vollberuflich oder nebenamtlich und teilberuflich ausüben. Gemeindereferenten und Pastoralreferenten können deswegen nicht als Geistliche angesehen werden, weil sie Priestern und Diakonen nicht in Bezug auf die Verkündigung und die Sakramentenverwaltung gleichgestellt sind. Sie sind Gehilfen der Geistlichen, aber nicht selbst Geistliche. Die Ausweitung der Freistellung von der Anzeigepflicht würde das „Privileg“ als solches gefährden. Die Einengung des Begriffes auf die Amtsträger einer staatlich anerkannten Religionsgemeinschaft ergibt sich nicht zwingend aus dem Wortlaut der Vorschrift. Ungeachtet der Frage, ob auch Religionsdiener einer nicht staatlich anerkannten Religionsgesellschaft i. S. des Art. 140 GG/Art 137 WRV darunter zu fassen sind, ist unbestritten, dass katholische Priester unter § 139 Abs. 2 StGB fallen. Die befreiende Ausnahme liegt nur vor, wenn der Geistliche die Kenntnis im Zusammenhang mit der Ausübung seelsorgerischer Tätigkeit erlangt. Wenn er in anderer Eigenschaft davon erfährt, greift die Freistellung nicht. Der Begriff der Seelsorge ist umstritten. Man denke daran, dass heute vielfach anstelle von „Seelsorge“ von „Gemeindearbeit“ gesprochen wird. Seelsorge im katholischen Sinne ist immer und nur Sorge um das Heil, dieses allerdings im weiten Sinne verstanden. Eine irgendwie geartete andere Tätigkeit kann vom Begriff der „Seelsorge“ nur dann gedeckt werden, wenn sie aus seelsorglichen Motiven und in seelsorglicher Absicht ausgeübt wird. Die Worte „in seiner Eigenschaft als Seelsorger“ setzen nicht voraus, dass ein „Geistlicher“ ständiger Seelsorger oder Inhaber eines Seelsorgeamtes ist. Es genügt, dass er in einer bestimmten Situation als Seelsorger gefragt ist und tätig wird. Das Erfordernis des „Anvertrautseins“ setzt eine irgendwie geartete Mitteilung voraus, die deswegen erfolgt, weil der Mitteilende im Geistlichen eine Person sieht, zu der er wegen ihrer Eigenschaft als Seelsorger Vertrauen hat. Der Geistliche ist nicht 21 Heinrich de Wall, Der Schutz des Seelsorgegeheimnisses und das Seelsorgegeheimnisgesetz der EKD (SeelGG EKD), in: ZevKR 56, 2011, S. 4 – 26.

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verpflichtet, das verbrecherische Vorhaben, das ihm anvertraut wird, anzuzeigen, und wenn er dies nicht tut, kann er strafrechtlich nicht belangt werden. Es liegt hier ein Rechtfertigungsgrund vor. VII. Der Strafantrag Der Vollständigkeit halber soll noch kurz auf den Strafantrag eingegangen werden, obwohl der sexuelle Missbrauch von Kindern nicht zu den Antragsdelikten zählt. Die vereinzelten Stimmen, die ihn zu einem Antragsdelikt machen möchten, haben jedenfalls zurzeit keine Aussicht auf Erhörung. Die Verfolgung mancher strafbarer Handlungen ist von dem Willen des Verletzten abhängig. Es gibt Delikte, deren Verfolgung einen Strafantrag des Verletzten voraussetzt. Der Strafantrag beinhaltet das Verlangen nach Strafverfolgung. Das Recht des Strafantrags ist im StGB geordnet. Die allgemeinen Vorschriften betreffend die Antragsbefugnis, die Antragsfrist und die Antragsrücknahme finden sich in den §§ 77 – 77d StGB. Die Delikte, welche nur auf Antrag verfolgt werden, sind im Besonderen Teil des StGB angegeben. § 158 Abs. 2 StPO regelt lediglich den Adressaten und die Form des Strafantrags. Die übrigen Voraussetzungen finden sich in den §§ 77 – 77e StGB. 1. Inhalt des Strafantrags Der Strafantrag besagt das Verlangen nach Strafverfolgung wegen einer bestimmten geschehenen Tat. Er ist das ausdrückliche Ersuchen des Antragstellers, die Strafverfolgung wegen des von ihm mitgeteilten Sachverhalts aufzunehmen. Während die Strafanzeige an sich lediglich den Hinweis oder die Anregung enthält, einen Sachverhalt strafrechtlich zu prüfen, beinhaltet der Strafantrag den Willen des Antragsberechtigten, die Tat strafrechtlich zu verfolgen. Entscheidend ist also der Verfolgungswille. Der Strafantrag bezieht sich stets auf eine bestimmte Tat. 2. Antragsteller Zur Stellung eines Strafantrags berechtigt ist grundsätzlich der Verletzte, der Träger des Rechtsgutes, das durch die Tat tangiert wurde (§ 77 Abs. 1 StGB). Das Antragsrecht ist weder übertragbar noch vererblich. Der Antragsberechtigte ist frei in seiner Entscheidung, ob er einen Strafantrag stellen will oder nicht; eine Pflicht, einen Strafantrag im Sinne des § 77 StGB zu stellen, besteht nicht. Auf die Stellung eines Strafantrags kann bis zum Ablauf der Antragsfrist (§ 77b StGB) durch Erklärung gegenüber der zuständigen Stelle verzichtet werden. Die Antragsfrist beträgt regelmäßig drei Monate. Sie beginnt zu laufen mit der Kenntniserlangung der Tat und des Täters. Die Zurücknahme des Antrags ist zulässig. Der Strafantrag kann bis zum rechtskräftigen Abschluss des Verfahrens zurückgenommen werden. Den Antrag zurücknehmen – in den vorgesehenen Fällen – kann nur der Antragsteller. Ein zurückgenommener Antrag kann nicht wieder gestellt werden.

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3. Adressat des Strafantrags Der Strafantrag kann bei der Staatsanwaltschaft, den Behörden und Beamten des Polizeidienstes und den Amtsgerichten angebracht werden (§ 158 Abs. 1 StPO). Der Antrag ist Bedingung der Strafverfolgung. Der Strafantrag berechtigt die Strafverfolgungsbehörden, die Strafverfolgung in Gang zu setzen bzw. zu halten.

VIII. Das Opfer im Straf- und Zivilprozess 1. Das Opfer als Zeuge Sexualdelikte werden zumeist nicht vor Zeugen begangen. Die Aussage des Opfers ist daher oft das entscheidende oder gar das einzige Beweismittel.22 Selten ist die Beweislage so eindeutig, dass auf die Anhörung des Kindes verzichtet werden kann. Dadurch entstehen ernste Schwierigkeiten. Wo sich ein Urteil auf die Aussage einer einzigen Person stützt, kommt es entscheidend darauf an, wie es um die Wahrnehmungsfähigkeit und den Wahrheitswillen dieser Person steht. Eine wahre Aussage kann nur machen, wer die Fähigkeit besitzt, einen Vorgang zu erkennen und zu beurteilen. Beides gehört zusammen. Wahrnehmung und Beurteilung gehen bei der Beobachtung eine Verbindung ein. Einmal vorausgesetzt, dass dem Kind diese Fähigkeit eignet, so ist doch Folgendes zu bedenken.23 Zunächst ist davon auszugehen, dass Aussagen von Kindern über erlittenen Missbrauch in der Regel in der Realität begründet sind, solange die Kinder unbeeinflusst sind.24 Josef Aengenendt schätzt die glaubwürdigen Aussagen von Kindern auf etwa 80 Prozent.25 Allerdings können falsche Aussagen nicht nur durch Lügen zustande kommen, sondern auch durch Irr22

Sabine Kirchhoff, „Strafanzeige: ja oder nein?“ Sexueller Mißbrauch vor Gericht, in: Amann/Wipplinger, Sexueller Mißbrauch (Anm. 1), S. 823 – 836; Judith Stamm, Das sexuell geschädigte Kind in der Strafuntersuchung, Rechtswiss. Diss. Zürich, Zürich 1967. 23 Max Steller, Forensische Aussagepsychologie. Beurteilung des Realitätsgehalts von Kinderaussagen über sexuellen Mißbrauch, in: Egg, Sexueller Mißbrauch von Kindern (Anm. 1), S. 243 – 258; Geisler, Das sexuell mißbrauchte Kind (Anm. 1), S. 9 – 74; Elisabeth Müller-Luckmann, Über die Wahrhaftigkeit kindlicher und jugendlicher Zeugen in der Hauptverhandlung, in: F. G. v. Stockert (Hrsg.), Das sexuell gefährdete Kind (Anm. 1), S. 100 – 108; Udo Undeutsch, Aussagepsychologie, in: Ponsold, Lehrbuch der gerichtlichen Medizin, Stuttgart 21957, S. 191 – 219; Ilse Matthes, Minderjährige „Geschädigte“ als Zeugen in Sittlichkeitsprozessen. Eine kriminalstatistische Untersuchung an Hand von 715 Gerichtsakten (Schriftenreihe des Bundeskriminalamtes 88), Wiesbaden 1961; Elisabeth Nau, Die Persönlichkeit des jugendlichen Zeugen, in: F. G. v. Stockert (Hrsg.), Das sexuell gefährdete Kind (Anm. 1), S. 27 – 37; Heinz Schnetz, Das Kind als klassischer Zeuge bei Sexualdelikten, Darmstadt 1961; Kinder als Täter, Opfer und Zeugen. Spätbetrüger. Resozialisierungsprobleme. Vorträge gehalten anläßlich der Tagung der Sektion Forensische Psychologie des Berufsverbandes Deutscher Psychologen am 13. und 14. September 1968 in Wiesbaden (Forschungsberichte zur forensischen Psychologie 6), Berlin 1969. 24 Wilmer, Sexueller Mißbrauch von Kindern (Anm. 1), S. 246, S. 249. 25 Josef Aengenendt, Die Aussage von Kindern in Sittlichkeitsprozessen, Bonn 1955, S. 32.

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tum.26 Anders ist es, wenn Kinder in einer Weise nach angeblichen Missbrauchshandlungen befragt werden, die beeinflussend und bestimmend, also suggestiv wirkt.27 Für Aussagen von Kindern spielt der Erwartungshorizont, den Erwachsene aufbauen, eine Rolle. Das Kind kann dadurch leicht in eine bestimmte Richtung gedrängt werden. „Suggestive Aufdeckungsarbeit“ kann „Pseudo-Erinnerungen“ über sexuellen Missbrauch entstehen lassen.28 Man kann nur staunen, mit welcher Naivität oder Unbedenklichkeit Politiker sich von dem angeblichen Wahrheitsgehalt vieler Aussagen überzeugt zeigen. In Wirklichkeit hängt jede Aussage von vielen Faktoren ab. Die Aussagen von Kindern sind häufig nicht konstant; sie wechseln. Die Prozessgegner werden auf Widersprüche in den wiederholten Aussagen hinweisen. Man muss damit rechnen, dass jugendliche Zeugen dazu neigen, „das eigene Verhalten zu beschönigen und zu verschleiern“29. Das Opfer kann versucht sein, seinen eigenen „Tatbeitrag“ zu minimalisieren, zu verbergen oder zu verleugnen.30 Die gerichtliche Verhandlung kann dazu führen, dass sich ein einmaliger Vorfall dem Kinde nachhaltig einprägt. Angebliche Verfehlungen, die Jahre oder gar Jahrzehnte zurückliegen, begründen Zweifel an der Wahrheit des Berichteten. Besondere Vorsicht ist bei Gruppenaussagen angebracht. Gegenseitige oder einseitige Beeinflussung ist möglich. Das missbrauchte Kind tritt im Strafprozess als Zeuge auf. Damit wird ihm eine Rolle zugemutet, die ihm peinlich ist. Kinder vor Gericht verspüren regelmäßig „eine Art des Ausgeliefertseins“31. Die wiederholte Vernehmung (durch Polizei, Staatsanwaltschaft und Gericht) ist für die Opfer belastend und bedrückend. Vor allem die Befragung nach intimsten Details wird von ihnen häufig als Misstrauen empfunden.32 Das Strafverfahren kann so „zur sekundären Viktimisierung von Opfern beitragen“33. Es besteht ein ernstliches Bedürfnis, Kinder vor den seelischen Beschwernissen der Hauptverhandlung zu schützen.34 Der Verlauf des Strafverfahrens hat das Ziel, eine Straftat nachzuweisen; er ist nicht vordringlich auf das Wohl des Kindes ausgerichtet.35 Das Opfer ist nach § 395 Abs. 1 Nr. 1 StPO zur Nebenklage berechtigt. Die Rechte des Nebenklägers ergeben sich aus den §§ 397 – 402 StPO. 26

Steller, Forensische Aussagepsychologie (Anm. 23), S. 244. Wilmer, Sexueller Mißbrauch von Kindern (Anm. 1), S. 250. 28 Wilmer, Sexueller Mißbrauch von Kindern (Anm. 1), S. 254. 29 Heinz, Bestimmungsgründe (Anm. 9), S. 155. 30 Heinz, Bestimmungsgründe (Anm. 9), S. 74. 31 Kirchhoff, „Strafanzeige: ja oder nein?“ (Anm. 22), S. 825. 32 Kirchhoff, „Strafanzeige: ja oder nein?“ (Anm. 22), S. 826. 33 Kirchhoff, „Strafanzeige: ja oder nein?“ (Anm. 22), S. 833. 34 Matthias Jäger-Helleport, Konstruktive Tatverarbeitung des sexuellen Mißbrauchs von Kindern im Strafrecht. Normative und empirische Überlegungen zur Bedeutung eines opferorientierten Rechtsgüterschutzes für die Strafverfolgung (Strafrechtliche Abhandlungen NF 148), Berlin 2002; Heinz, Bestimmungsgründe (Anm. 9), S. 71; Schnetz, Das Kind als klassischer Zeuge (Anm. 23), S. 95 – 109; Heghmans, Das Arbeitsgebiet des Staatsanwalts (Anm. 8), S. 349 – 385. 35 Wilmer, Sexueller Mißbrauch von Kindern (Anm. 1), S. 173 – 178. 27

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2. Der Angeklagte Viel kommt auf das Verhalten des Angeklagten an.36 Er kann ein umfassendes oder ein Teilgeständnis ablegen oder die Aussage verweigern. In Rechtsgesprächen kann vereinbart werden, dass, wenn der Täter ein umfassendes Geständnis ablegt, das dem Kind die Aussage erspart, eine zur Bewährung ausgesetzte Freiheitsstrafe für angemessen erachtet wird. Wenn der Angeklagte dagegen schweigt oder die ihm zur Last gelegten Taten bestreitet, ist es an dem Kinde, durch seine Aussage die Taten zu beweisen. Es ist verpflichtet, eine Aussage zu machen. Der Angeklagte und sein Verteidiger werden bemüht sein, Zweifel an der Richtigkeit der Aussage des Kindes zu wecken. Mitunter versuchen die Täter, die Kinder als mitschuldig darzustellen, indem auf ihre Beteiligung an oder ihre Einwilligung zu den Taten abgestellt wird. Diese Strategie geht gelegentlich so weit, dass der Angeklagte als Opfer einer Verführung hingestellt wird. Die Möglichkeit, dass ein Kind einen Erwachsenen verführt, besteht. Die Gerichte veranlassen in diesen Fällen häufig Gutachten, die sich über die Aussagefähigkeit und die Glaubwürdigkeit des Angeklagten und des Kindes aussprechen.37 Die Glaubwürdigkeit der Person gilt als Indiz für die Glaubhaftigkeit der Aussage.38 Die Auffassungen der Sachverständigen gehen aber oft völlig auseinander. So mancher Gutachter macht es sich zu leicht und liefert ein oberflächliches Gutachten ab. Es ist bekannt, dass in Strafprozessen bewusst falsche Aussagen von Zeugen zu Beweisfälschungen und infolgedessen zu einem (objektiv) falschen Urteil führen. 3. Besonderheit Es ist auch die Besonderheit der prozessualen Behandlung von Missbrauchsfällen zu bedenken. Das Gericht als der Herr des Verfahrens ist gehalten, das entscheidungserhebliche Geschehen vollständig zu erforschen. Doch kann der Schutz des Opfers Gerichte veranlassen, von einer umfangreicheren und aufwendigeren Sachaufklärung abzusehen.39 Mangelhafte Sachaufklärung ist nicht ganz selten. Es kommt häufig vor, dass zwei verschiedene Gerichte denselben Sachverhalt unterschiedlich bewerten. Bei dem Straftatbestand des sexuellen Missbrauchs ist die Geneigtheit zum Vorurteil besonders groß und die Vermutung der Unschuld besonders gering. Der Opferschutz kann faktisch bis zur Beseitigung der Unschuldsvermutung führen. Kinder können durch Belehrungen und Mahnungen dazu gebracht werden, einen harmlosen Vorfall zu entharmlosen. Sabine Kirchhoff warnt deshalb davor, unbesehen Strafanzeige zu erstatten.40 Opfer dürfen nicht gegen ihren Willen in ein Strafverfahren gedrängt werden. Je länger die Vorfälle zurückliegen, umso schwie36

Schnetz, Das Kind als klassischer Zeuge (Anm. 23), S. 83 – 93. Wilmer, Sexueller Mißbrauch von Kindern (Anm. 1), S. 194 – 205; Schnetz, Das Kind als klassischer Zeuge (Anm. 23), S. 145 – 154. 38 Stamm, Das sexuell geschädigte Kind (Anm. 22), S. 31. 39 Jäger-Helleport, Konstruktive Tatverarbeitung (Anm. 34), S. 64 – 225. 40 Kirchhoff, „Strafanzeige: ja oder nein?“ (Anm. 22), S. 833. 37

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riger ist in der Regel die Beweislage. Insofern ist die Verjährung zum Vorteil für Täter und Opfer. Der Ausdehnung der Verjährungsfrist ist zu widerraten. Wer es gut meint mit den Opfern, wird ihnen die Risiken vor Augen stellen, die ein Strafverfahren mit sich bringt, das lange nach der Tat eingeleitet wird. Man sagt, die Opfer des Missbrauchs hätten ein Interesse an Genugtuung für das, was sie erlitten haben. Zunächst einmal gilt: Geschehenes Unrecht kann nicht ungeschehen gemacht werden. Was vergangen ist, kann nicht zurückgeholt werden. Eine Wiedergutmachung des Geschehenen ist schlechterdings unmöglich. Sodann mag die Bestrafung des Täters bei Erwachsenen Genugtuung hervorrufen, wenn auch gewiss nicht bei allen.41 Beim Kinde kann es durchaus anders sein. Wenn es zutrifft, dass alle Opfer den Wunsch haben, ihre Widerfahrnisse als schweres Unrecht anzuerkennen, so ist dazu nicht die Durchführung eines Strafverfahrens erforderlich. Es ist in erster Linie Sache des Täters, seine Tat zu gestehen und zu verabscheuen. Gerade umgekehrt kann die Bestrafung des Täters dem Kind eine schmerzliche Wunde verursachen. Das Wissen, einem anderen Menschen schweren Schaden zugefügt und ihn womöglich ins Gefängnis gebracht zu haben, kann ein Trauma im Kind hervorrufen. Viele Anzeigen lösen ja einen Vorgang aus, der bis zur Existenzvernichtung führt. Die Fälle sind nicht ganz selten, in denen Täter durch eine Strafanzeige in den Tod getrieben wurden. IX. Die Folgen des Missbrauchs 1. Physische und psychische Folgen Für die meisten Kinder ergibt sich nach herrschender Ansicht aus dem sexuellen Missbrauch ein Trauma.42Als körperliche Schäden kommen Verletzungen, Ansteckung und Schwängerung in Frage. Viel häufiger sind seelische Schäden. Die Opfer zeigen Symptome wie Angst, Depression, Neurose, Schuldgefühle, Zwangsgedanken, sexuelle Störungen wie vorzeitige Erweckung geschlechtlicher Erregbarkeit oder Fixierung des Geschlechtstriebes, Verhaltensprobleme verschiedener Art, Verlust des zwischenmenschlichen Vertrauens, soziale Isolierung.43 Allerdings treten nicht alle Symptome bei jedem Opfer auf. Untersuchungen sollen sogar festgestellt 41 Ich habe erlebt, wie meine Großmutter es ablehnte, einen Exhibitionisten durch Anzeige der Bestrafung zuzuführen. 42 Wilmer, Sexueller Mißbrauch von Kindern (Anm. 1), S. 119 – 163; Bange/Deegener, Sexueller Mißbrauch an Kindern (Anm. 1), S. 59 – 94, S. 171 – 206; Hedwig Wallis, Die Behandlung der kindlichen und jugendlichen Opfer von Sittlichkeitsstraftaten, in: F. G. v. Stockert (Hrsg.), Das sexuell gefährdete Kind (Anm. 1), S. 116 – 123; A. Friedemann, Spätschäden bei Kindern und Jugendlichen, ebd., S. 8 – 26; Jäger-Helleport, Konstruktive Tatverarbeitung (Anm. 34), S. 226 – 309. 43 Schneider, Viktimologische Aspekte des sexuellen Mißbrauchs von Kindern, in: Egg, Sexueller Mißbrauch von Kindern (Anm. 1), S. 217 – 221; Geisler, Das sexuell mißbrauchte Kind (Anm. 1), S. 74 – 89; Wilmer, Sexueller Mißbrauch von Kindern (Anm. 1), S. 119 – 163; Weiß, Die Kinderschändung (Anm. 1), S. 151 – 153.

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haben, dass eine beträchtliche Gruppe von Opfern kaum oder keine traumatischen Symptome zeigt. Die Spanne reicht von 21 bis 36 Prozent symptomfreier Kinder.44 Dem Opfer ist in jedem Fall die Möglichkeit zur Therapie zu bieten.45 Die Therapie muss dem Kind dazu verhelfen, die Verletzung zu überwinden, indem es erkenntnisund gefühlsmäßig das Missbrauchserlebnis verarbeitet und sein Selbstwertgefühl zurückgewinnt.46 2. Entschädigung Häufig ist in Missbrauchsfällen von Schadenersatz für die Opfer die Rede. Es ist zwischen dem etwaigen materiellen und dem immateriellen Schaden zu unterscheiden. Der materielle Schaden kann in Verletzungen und Nachteilen anderer Art bestehen. Der immaterielle Schaden wird in der seelischen Traumatisierung des Opfers gesehen. Ersetzt werden sollen die Einbuße an personaler Würde und die Verletzung der körperlichen und seelischen Unversehrtheit. Zivilrechtlich stehen dem missbrauchten Kind Ansprüche auf Schadenersatz und auf Schmerzensgeld nach den §§ 823 und 847 BGB zu. Teilweise werden hier exorbitante Geldsummen gefordert.47 Eine finanzielle „Entschädigung“ ist in keinem Falle eine Wiedergutmachung des erlittenen Unrechts. Es ist unwürdig und geradezu peinlich, Sexualvergehen mit Geld gleichsam „kompensieren“ zu wollen. Beides ist inkommensurabel. Ein sexueller Missbrauch kann und soll verarbeitet werden. Dazu ist Hilfe zu leisten. Man muss den Opfern Gelegenheit geben, das ihnen angetane Unrecht auszusprechen. Ihre Erlebnisse können aber nicht in einer Talkshow, sondern nur in einem geschützten Raum aufgearbeitet werden. Hier kann die Religion ihre heilende Macht entfalten, indem sie Unrecht und Schuld als unselige Wirklichkeit einer erbsündigen Welt, Reue und Vorsatz als Ausweis der Umkehr, Vergebung und Verzeihung als Anteil am Erbarmen Gottes verstehen lehrt. Ansprüche auf Schadenersatz können nur gegen die Täter und mitverantwortliche Dritte erhoben werden. 90 Prozent der Fälle tragen sich in Familien, nicht in Einrichtungen zu. Was Mitarbeiter einer Einrichtung tun, kann dieser nur dann zur Last gelegt werden, wenn sie es an den Erfordernissen einer sachgerechten Personalführung fehlen ließ. Sexueller Missbrauch von Kindern und Jugendlichen durch Bedienstete der Kirche kann einen Amtshaftungsanspruch (§ 839 BGB und Art. 34 GG) auslösen.

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Bange/Deegener, Sexueller Mißbrauch an Kindern (Anm. 1), S. 75; Reinhardt, Die Bestrafung der Unzucht mit Kindern (Anm. 6), S. 67 f. 45 Martina Pitzer, Therapie nach sexuellem Mißbrauch, in: Egg, Sexueller Mißbrauch von Kindern (Anm. 1), S. 259 – 269. 46 Schneider, Viktimologische Aspekte des sexuellen Mißbrauchs von Kindern, in: Egg, Sexueller Mißbrauch von Kindern (Anm. 1), S. 226 f. 47 Die Jesuiten in fünf Staaten der USA haben sich zur Zahlung von fast 120 Millionen Euro an Opfer sexuellen Mißbrauchs (zwischen 1940 und 1990) verpflichtet (Der 13., 27. Jg., Nr. 4 vom 13. April 2011, S. 3).

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Die Anerkennung des Rechtes auf Schadenersatz ist nicht in jedem Falle unbedenklich. Sie kann sich dahin auswirken, dass sie vorübergehende Nachwirkungen des traumatischen Erlebnisses intensiviert und fixiert.48 X. Strafvereitelung Damit die hier vorgetragenen Gedanken nicht missverstanden werden, ist noch kurz auf die (kriminelle) Strafvereitelung einzugehen. Strafvereitelung betreibt, wer einen Täter in unzulässiger Weise vor den Strafverfolgungsbehörden schützen will. Der Täter wird der ihm drohenden Sanktion entzogen, so dass der Verfolgungsanspruch des Staates nicht durchgeführt wird. Bei der Strafvereitelung ist zwischen der Vereitelung der Verfolgung (§ 258 Abs. 1 StGB) und der Vereitelung der Vollstreckung (§ 258 Abs. 2 StGB) zu unterscheiden. Der Versuch ist strafbar (§ 258 Abs. 4 StGB). Dienstvorgesetzte begehen Strafvereitelung, wenn die Anzeige einer strafbaren Handlung nach pflichtgemäßem Ermessen erforderlich scheint und nicht erstattet wird. Wer einen anderen zur Strafvereitelung bestimmt, ist als Anstifter, wer ihn bei seiner Handlung unterstützt, ist als Gehilfe zu bestrafen. Strafvereitelung zugunsten eines Angehörigen (§ 11 Abs. 1 Nr. 1 StGB) ist ein persönlicher Strafausschließungsgrund (§ 258 Abs. 6 StGB). Im Zusammenhang mit den Missbrauchsfällen in der Kirche war häufig vom „Vertuschen“ die Rede. Vertuschen ist das unaufrichtige Kaschieren und Frisieren einer Straftat. Es sei auf die oben gemachten Ausführungen über die Erstattung von Anzeigen verwiesen. Wenn mit dem Vorwurf des Vertuschens gesagt sein sollte, dass Straftaten nicht sogleich angezeigt wurden, so ist darauf zu antworten: Die Unterlassung einer nicht pflichtgemäßen Strafanzeige ist kein Vertuschen und erst recht keine Strafvereitelung. Das überlegte und begründete Geheimhalten begangenen Unrechts ist ebenfalls kein unzulässiges Vertuschen.49 Auch der Versuch, den durch Missbrauch entstandenen Schaden zu begrenzen, ist kein Vertuschen der Straftat. XI. Schluss In den letzten Jahren hat die „Aufarbeitung“ von Missbrauchsfällen an Kindern und Jugendlichen starke Ausmaße angenommen. In den Jahren 2009/10 wurden Verfehlungen an die Presse gegeben, die Jahrzehnte zurückliegen und deren Täter längst verstorben sind. Man fragt sich, was Beschuldigungen bewirken sollen, wenn die Beschuldigten nicht gehört werden können, weil sie nicht mehr am Leben sind. Es wurde eine Hotline eingerichtet. Auf Aufforderung hin haben sich viele Personen ge48

Nau, Die Persönlichkeit des jugendlichen Zeugen (Anm. 23), S. 36. Es ist zu überprüfen, „ob es der Einzelfall erlaubt, ausschließlich auf die zivilrechtlichen Möglichkeiten zurückzugreifen, um den Mißbrauch zu beenden, weiteren Mißbrauch zu verhindern und das Opfer zu entlasten. Denkbar wäre es, bei einer Bereitschaft des Täters zur Schlichtung und Therapie und Bereitschaft des Opfers bzw. dessen gesetzlicher Vertreter auf eine strafrechtliche Aufklärung der Tat zu verzichten.“ (Wilmer, Sexueller Mißbrauch von Kindern [Anm. 1], S. 281 f.) 49

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meldet, die angeblich Opfer von sexuellem Missbrauch geworden sind. Bis Ende 2010 meldeten sich mehr als 8.000 Betroffene bei der Telefonhotline der Missbrauchsbeauftragten der Bundesregierung. Von den Fällen sollen 92 Prozent in vergangenen Jahrzehnten, acht Prozent in der Gegenwart geschehen sein. Die Gefahr des Missbrauchs ist bei den Anrufen deswegen besonders groß, weil im Falle falscher oder erfundener Angaben strafrechtliche Sanktionen regelmäßig nicht zu befürchten sind. Der jüngste Anrufer war acht, der älteste 81 Jahre alt. Die Zahl von Meldungen wirklicher oder angeblicher „Opfer“ sagt nichts über die Tatsächlichkeit strafrechtlich relevanter Verstöße. Sehr viele der Meldungen, die auf die Einladung ergingen, sind unbrauchbar, entweder weil sie strafrechtlich irrelevant sind, oder weil sie schlicht unglaubwürdig sind.50 Es ist auch zu fragen, wie viele der Anrufer Trittbrettfahrer sind, d. h. Personen, die sich Leistungen erschleichen wollen, ohne die Voraussetzungen für ihre Zuwendung zu erfüllen. Aber unerachtet dieser Fehlerquellen hat Folgendes zu gelten. 1. Der Staat hat die Pflicht, den Bürgern Sicherheit vor Straftaten zu gewähren und Verbrecher unschädlich zu machen. Das staatliche Eingreifen wird in zahlreichen Fällen durch die Anzeige ausgelöst. Eine Anzeigepflicht bei Verdacht einer Straftat existiert nicht. Privatpersonen trifft auch regelmäßig keine Pflicht, geschehene Straftaten anzuzeigen. Wenn ausnahmsweise die Pflicht zur Anzeige besteht, entbinden die Gesetze der meisten Staaten die nächsten Angehörigen von der Pflicht. Dieser Zustand dient dem Interesse der Opfer. Sie sind auf die Möglichkeit angewiesen, sich vertraulich zu offenbaren, ohne sogleich die Staatsanwaltschaft einzuschalten. Es gibt Kräfte, die den gegenwärtigen gesetzlichen Zustand ändern wollen. Sie sprechen davon, eine strafbewehrte gesetzliche Anzeigepflicht für alle Personen einzuführen, die Kenntnis erlangen von Fällen sexuellen Missbrauchs. Dieser Meinung ist entschieden zu widersprechen. Damit würde man eine Lawine lostreten. Die Zahl der Anzeigen würde unheimlich anschwellen. Schon jetzt werden den deutschen Staatsanwaltschaften angeblich jedes Jahr etwa 15.000 Fälle von sexuellem Kindesmissbrauch angezeigt. Zahlreiche Menschen kämen in Gewissens- und Loyalitätskonflikte. Man bedenke, dass sich 90 Prozent der Missbrauchsfälle in den Familien ereignen und dass die Täter in der Mehrzahl Vertrauenspersonen sind, die das Vertrauen des Kindes ausnutzen. Im Bereich der Sexualdelikte mit Kindern ist die Dunkelziffer besonders hoch. 2. Wenn ein Verdacht auf sexuellen Missbrauch auftritt, ist dem Verdacht durch erfahrene und geschulte Personen nachzugehen. Wenn sich der Verdacht bestätigt, sind Seelsorger, Ärzte und Psychologen heranzuziehen, die durch Untersuchung und Behandlung den Schaden zu heilen suchen. Die Erstattung einer Strafanzeige will überlegt sein. Bei begründetem Verdacht eines sexuellen Missbrauchs ausnahmslos die Staatsanwaltschaft einzuschalten, schafft einen Automatismus, der 50 Etwa 75 % der zur Anzeige kommenden Fälle werden eingestellt, weil entweder der Missbrauch nicht nachgewiesen werden kann oder verjährt ist (idea-Spektrum, Nr. 11 vom 16. März 2011, S. 26).

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sich gegen Opfer und Täter in gleicher Weise nachteilig auswirken kann. Innerkirchliche Maßnahmen haben in keiner Weise den Zweck, staatsanwaltliche Ermittlungen zu behindern oder zu verzögern; niemand denkt daran, den Strafanspruch des Staates anzutasten. Um des Opfers und des Täters willen ist aber zu überlegen, ob das, was der Strafanzeige folgt, also Ermittlungen, Erhebung der Anklage, Strafprozess, Verurteilung und Vollstreckung des Urteils, angemessen und hilfreich für die Beteiligten und die Allgemeinheit ist. Es ist kein Unrecht, bei der Erwägung, ob Anzeige erstattet werden soll, den Ruf einer Gemeinschaft oder einer Einrichtung mit zu bedenken. Jede Organisation oder Institution ist bemüht, Skandale zu vermeiden. Die Kirche hat das Recht und die Pflicht, auf ihren guten Ruf bedacht zu sein. Kirchliche Täter missbrauchen ja nicht nur Kinder, sondern auch ihre Institution, die katholische Kirche. Der begründete Verzicht auf eine Strafanzeige ist kein unzulässiges Vertuschen einer Straftat. 3. Das oberste Ziel bei Missbrauchsvorwürfen muss sein, dass der Missbrauch so rasch wie möglich abgestellt und für die Zukunft verhindert wird. Alles andere ist demgegenüber sekundär. Die Beendigung des Missbrauchs setzt seine Kenntniserlangung voraus. Die Kirche besitzt ein System der Beobachtung und der Kontrolle, das, wenn es funktioniert, zur alsbaldigen Entdeckung unstatthafter Vorfälle führt. Wenn sich Missbräuche über lange Zeit hinziehen, ist dies ein Zeichen, dass die Aufsicht der Bischöflichen Behörde über die kirchlichen Bediensteten versagt. Dekan, Personalreferent, Generalvikar und visitierende Weihbischöfe bzw. Diözesanbischöfe kommen als Mitverantwortliche in Frage. Ein Diözesanpriester vergriff sich zwischen 1994 und 1999 an sieben Kindern unter 13 Jahren. Weitere Vorwürfe aus vorhergehenden Jahren waren verjährt. Ein Ordenspriester missbrauchte zwischen 1992 und 2003 sechs Ministranten in angeblich 155 Fällen. Ein Pfarrer verging sich mehr als zwanzig Jahre lang an Kindern und Jugendlichen, ohne dass von der Bischöflichen Behörde entschieden eingegriffen wurde. Diese Fälle sind ein Skandal und zeigen, dass in der nachkonziliaren Kirche die Disziplin zusammengebrochen ist.51 Für die Verhinderung weiterer Missbrauchsfälle in der Zukunft stehen mehrere Maßnahmen zur Verfügung. Man kann Täter versetzen und auf diese Weise für die Beendigung des Missbrauchs sorgen. Die Beseitigung der Gelegenheit zum Sündigen ist eine uralte und bewährte Weise, Personen, die wegen ihrer Artung eine spezifische Neigung haben, sich zu verfehlen, vor ihrer eigenen Schwäche zu bewahren. Die Möglichkeit, einen straffällig gewordenen Geistlichen, der die Gewähr bietet, es nicht wieder zu werden, zu versetzen und an anderem Ort seelsorglich tätig werden zu lassen, muss erhalten bleiben. Ein ähnliches Verfahren ist auch in anderen Institutionen üblich. Die Prognose in Sittlichkeitsangelegenheiten ist allerdings schwierig.52 Man kann und muss auf die Täter einwirken, dass sie in sich gehen und sich 51

Außerordentlich aufschlussreich ist Andreas Späth/Menno Aden (Hrsg.), Die mißbrauchte Republik. Aufklärung über die Aufklärer, London/Hamburg 2010. 52 Jutta Elz, Zur Rückfälligkeit bei sexuellem Kindesmißbrauch. Erste Ergebnisse der Aktenanalyse, in: Egg, Sexueller Mißbrauch von Kindern (Anm. 1), S. 63 – 88. Eine höhere

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bekehren.53 Die Kirche kennt für Sünder den Weg der Einsicht und der Reue, der Besserung und der Erneuerung. Ein wirksames Mittel, um Täter zur Änderung zu führen, können dreißigtägige pflichtmäßige Exerzitien sein (die diesen Namen verdienen). Die Kirche kennt auch den auferlegten Aufenthalt in einem Kloster oder einem anderen geistlichen Hause mit entsprechender Überwachung und Betreuung. Der Täter kann einer pflichtmäßigen Therapie unterworfen werden. Die etwa vorhandene pädophile Neigung kann beherrscht und sogar überwunden werden. 4. Es kann erforderlich sein, bei Missbrauchsfällen Strafanzeige zu erstatten. Wo systematischer sexueller Missbrauch zu erkennen ist, muss der Täter unschädlich gemacht, d. h. in eine Lage versetzt werden, in der er nicht mehr schaden kann. Unverbesserliche Täter sind in jedem Falle dem staatlichen Arm zu überstellen. Völlig verfehlt, ja verwerflich ist es dagegen, Straftaten aus ferner Vergangenheit an die Öffentlichkeit zu bringen. Es ist zu fragen, was von den Aussagen angeblicher Opfer zu halten ist, wenn die Täter nicht mehr unter den Lebenden weilen und sich nicht verteidigen können.54 Wenn ein 53 Jahre altes Opfer Anzeige wegen eines Missbrauchs erstattet, den es als Knabe erlitten hat, dann ist zu fragen, wem mit dieser Anzeige gedient ist. Es ist schlechterdings unerträglich, Vorgänge, die vor mehreren Jahrzehnten geschehen sind, auszugraben und auf diese Weise den guten Ruf, den Frieden und vielleicht die Existenz von Menschen zu bedrohen, die entweder verstorben sind oder längst zu einem tadelfreien Umgang mit anderen gefunden haben. Dem missbrauchten Kind ist alles zu gewähren, was zu seiner seelischen Gesundung erforderlich oder tunlich ist. Es ist möglich, viele derartige Fälle seelsorglich zu erledigen. Wenn ein geeigneter Priester auf Täter und Opfer einwirkt, kann ein befriedigender Ausgleich erreicht werden.

Gefahr des Rückfalls ist bei jenen Tätern gegeben, die keinen körperlichen Kontakt mit dem Opfer hatten (Elz, Zur Rückfälligkeit [siehe oben], S 80 f.). Täter, die Jungen missbrauchen, werden deutlich häufiger rückfällig als solche, die Mädchen missbrauchen, was auf Homosexualität und pädophile Neigung zurückzuführen ist (Norbert Leygraf, Probleme der Begutachtung und Prognose bei Sexualstraftätern, in: Egg, Sexueller Mißbrauch von Kindern [Anm. 1], S. 125 – 136, hier S. 132). 53 Für wenig hilfreich halte ich die medizinische Behandlung von Sexualtätern. Vgl. Friedemann Pfäfflin, Ambulante Behandlung von Sexualstraftätern, in: Egg, Sexueller Mißbrauch von Kindern (Anm. 1), S. 137 – 156; Rainer Goderbauer, Stationäre Behandlung von Sexualstraftätern im Strafvollzug, ebd., S. 157 – 183. 54 Im Bistum Osnabrück wurden 16 Priester des Missbrauchs bezichtigt, von denen elf verstorben waren.

Grenzen der rechtlichen Erlaubnis zum Schwangerschaftsabbruch Von Kurt Schmoller* I. Ausgangspunkt: Schadenersatz für unterlassenen Schwangerschaftsabbruch Bekanntlich erkennt der österreichische Oberste Gerichtshof (OGH) bei der Geburt eines behinderten Kindes Schadenersatz zu, wenn ein Arzt infolge eines Diagnosefehlers eine Frau während ihrer Schwangerschaft nicht darüber aufgeklärt hat, dass das zu erwartende Kind voraussichtlich geistig oder körperlich schwer geschädigt sein werde, und die Schwangere deshalb einen (straflosen) Schwangerschaftsabbruch (§ 97 Abs. 1 Z. 2 zweiter Fall StGB) unterlassen hat, den sie bei Kenntnis der voraussichtlichen Behinderung vorgenommen hätte.1 Eine wesentliche Grundlage für die Zuerkennung von Schadenersatz ist dabei, dass der OGH – nach näherer Erörterung dieser Frage – zum Ergebnis gelangt ist, ein im Rahmen des § 97 Abs. 1 Z. 2 zweiter Fall StGB durchgeführter Schwangerschaftsabbruch sei nicht nur straflos, sondern rechtmäßig (denn die Vereitelung eines rechtswidrigen Verhaltens kann keinesfalls zu einer Schadenersatzpflicht führen).2 Die „embryopathische Indikation“ wird somit als „Rechtfertigungsgrund“ interpretiert, der die Tötung des Ungeborenen rechtlich erlaube. Da die Schwangere an einem rechtlich erlaubten Verhalten gehindert worden sei und dadurch ihr Vermögen mit Unterhaltsverpflichtungen belastet wurde, gebühre ihr insoweit Schadenersatz. Im Rahmen seiner Argumentation ging der OGH davon aus, dass Gleiches (nämlich nicht nur strafloser, sondern rechtlich erlaubter Schwangerschaftsabbruch) auch * Mit Hans Paarhammer bin ich seit Jahrzehnten nicht nur fachlich und kollegial, sondern darüber hinaus – gemeinsam mit meiner Familie – in besonderer Weise freundschaftlich verbunden. Gern und dankbar denken wir an gemeinsame Feiern, etwa die vom Jubilar als Priester begleitete Goldene Hochzeit meiner Eltern, zurück. Aus ganzem Herzen entbieten wir unserem Freund Hans die besten Geburtstagswünsche! Es würde mich sehr freuen, falls der vorliegende Beitrag zu einem gesellschaftlich sehr umstrittenen Thema sein Interesse findet. 1 Ursprünglich hat der OGH dabei als Schadenersatz den finanziellen Mehraufwand infolge Behinderung zuerkannt (1 Ob 91/99k = JBl 1999, 593 = RdM 1999/23 mit Anm. Christian Kopetzki = JAP 1999/2000, 131 mit Anm. Sabine Engel). In späteren Entscheidungen wurde als Schadenersatz der gesamte Unterhaltsaufwand für das behinderte Kind zugesprochen (5 Ob 165/05h = RZ 2008/9 = RdM 2006/71 = FamZ 2006, 63 mit Anm. Matthias Neumayr = EF-Z 2006/27 mit Anm. Erwin Bernat; 5 Ob 148/07m = JBl 2008, 521 = RZ 2008/11 = RdM 2008/38 mit Anm. Christian Kopetzki). 2 Ausdrücklich 1 Ob 91/99k und 5 Ob 148/07m (Anm. 1).

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bei der „medizinischen Indikation“ gemäß § 97 Abs. 1 Z. 2 erster Fall StGB sowie bei der „Indikation der Unmündigkeit der Schwangeren“ gemäß § 97 Abs. 1 Z. 2 dritter Fall StGB (die der OGH unscharf als „kriminologische Indikation“ bezeichnet) gelte.3 Die genannten Indikationen, insbesondere also eine voraussichtliche schwere Behinderung des Kindes, sind nach ihrer Ausgestaltung in § 97 Abs. 1 Z. 2 StGB nicht auf ein bestimmtes Schwangerschaftsstadium beschränkt, sondern erstrecken sich bis zum Beginn der Geburt. Die Rechtsprechung des OGH wirft somit folgende Frage auf: Ist es tatsächlich unter Umständen rechtmäßig, also rechtlich erlaubt, ein ungeborenes Kind noch wenige Tage oder sogar nur Stunden vor dem zu erwartenden Geburtsbeginn gezielt zu töten? Dabei ist zu bedenken, dass dieselbe Tat, wenn sie zeitlich nur wenig später erfolgt, nämlich nach Beginn der die Geburt einleitenden Wehen, nach eindeutiger Gesetzeslage nicht nur rechtswidrig und strafbar, sondern sogar mit der höchsten Strafe bedroht ist, die unsere Rechtsordnung kennt, nämlich mit lebenslanger Freiheitsstrafe (Mord gemäß § 75 StGB).4 Verschärft wird die Problematik dadurch, dass der Geburtsbeginn recht zufällig ausgelöst werden kann (z. B. wenn es durch eine unachtsame Bewegung der Schwangeren zum Blasensprung kommt5) und dass es außerdem medizinisch leicht möglich ist, den Geburtszeitpunkt durch Einleitung der Geburt oder Kaiserschnitt vorzuverlegen oder umgekehrt durch Wehenhemmung hinauszuzögern, ohne dass sich dadurch am Entwicklungsstadium des Fötus bzw. Kindes etwas ändert. Soll der zufällige und manipulierbare Geburtszeitpunkt tatsächlich darüber entscheiden, ob dasselbe Verhalten rechtlich erlaubt oder mit lebenslanger Freiheitsstrafe bedroht ist? Im Folgenden wird deshalb der Frage nachgegangen, wo die äußerste Grenze eines rechtmäßigen Schwangerschaftsabbruchs anzusetzen ist. II. Rechtliche Vorgaben Zur Einordnung der Problematik sind zunächst die rechtlichen Rahmenbedingungen der österreichischen Gesetzeslage in Erinnerung zu rufen. Anschließend soll untersucht werden, ob diese Rahmenbedingungen tatsächlich zu der Konsequenz führen, dass ein ungeborenes Kind bei voraussichtlich schwerer Behinderung noch Tage 3

Ausdrücklich 1 Ob 91/99k (Anm. 1). Nach herrschender Meinung sind bereits ab dem Beginn der Geburt (Einsetzen der Eröffnungswehen) die allgemeinen Tötungs- und Körperverletzungsdelikte anzuwenden. Dies lässt sich aus dem Gesetz ableiten, weil die „Tötung eines Kindes bei der Geburt“ in § 79 StGB im Rahmen der allgemeinen Tötungsdelikte geregelt ist, also eine Tötung während der Geburt nicht mehr zum „Schwangerschaftsabbruch“, sondern bereits zu den allgemeinen Tötungsdelikten zählt. Vgl. Reinhard Moos, in: Frank Höpfel/Eckart Ratz (Hrsg.), Wiener Kommentar zum Strafgesetzbuch, Wien 21999, 35. Lfg. 2002, § 79 Rz. 10. 5 Ein Blasensprung (Aufplatzen der Fruchtblase und nachfolgender Abgang des Fruchtwassers) führt in der Regel zum baldigen Einsetzen der Geburt bzw. zur Beschleunigung des Geburtsvorgangs. 4

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oder gar Stunden vor der erwarteten Geburt rechtmäßig getötet werden darf. Ergänzend ist auch zu prüfen, inwieweit die gesetzlichen Vorgaben verbesserungsfähig sind. 1. Abgestufter Schutz des Lebens vor der Geburt Der rechtliche Schutz des menschlichen Lebens ist an dessen Beginn – in Österreich ebenso wie in praktisch allen Rechtsordnungen – abgestuft ausgestaltet. Der volle Schutz setzt erst mit der Geburt, genauer mit dem Beginn der die Geburt einleitenden Wehen6, ein. Vor diesem Zeitpunkt ist der rechtliche Schutz in mehrfacher Hinsicht schwächer ausgestaltet: – die Strafdrohung für eine vorsätzliche Tötung ist vor der Geburt wesentlich geringer als ab der Geburt;7 – andere Angriffe als eine vorsätzliche Tötung (z. B. fahrlässige Tötung, Körperverletzung, Gefährdung) sind vor der Geburt überhaupt nicht strafrechtlich erfasst;8 – in nicht wenigen Fällen ist auch die vorsätzliche Tötung eines Ungeborenen explizit straflos (Fristenlösung, medizinische und sonstige Indikationen).9 Noch schwächer ausgestaltet ist der rechtliche Schutz des ungeborenen menschlichen Lebens in der ersten Phase der Schwangerschaft. Nach der „Fristenlösung“ ist ein Schwangerschaftsabbruch bis zum Ende des dritten Schwangerschaftsmonats unter leicht zu erfüllenden Bedingungen straflos. In den ersten Tagen nach der Zeugung, nämlich vor der Nidation (Einnistung des befruchteten Eis in die Gebärmutter), ist überhaupt kein strafrechtlicher Schutz vorgesehen.10 6

Vgl. Anm. 4. Die vorsätzliche Tötung eines Ungeborenen, somit der Schwangerschaftsabbruch, ist grundsätzlich mit Freiheitsstrafe von (nur) bis zu einem Jahr bedroht (§ 96 Abs. 1 erster Fall, § 96 Abs. 3 StGB). In den schwersten Fällen ist für einen Schwangerschaftsabbruch Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren vorgesehen, nämlich bei Durchführung durch einen Nichtarzt, wenn dies gewerbsmäßig erfolgt oder zum Tod der Schwangeren führt (§ 96 Abs. 2 zweiter und dritter Fall StGB) sowie bei Durchführung ohne Einwilligung der Schwangeren, wenn dies zu ihrem Tod führt (§ 98 Abs. 1 zweiter Fall StGB). Für die vorsätzliche Tötung eines geborenen Menschen ist dagegen gemäß § 75 StGB im Regelfall Freiheitsstrafe von zehn bis zu zwanzig Jahren oder lebenslange Freiheitsstrafe vorgesehen. 8 Auf einen Fahrlässigkeitstatbestand im Rahmen des Schwangerschaftsabbruchs, wie er noch in den Reformentwürfen vorgesehen war („Leichtfertiger Eingriff an einer Schwangeren“ gemäß § 88 RV-StGB 1971) hat der Gesetzgeber letztlich bewusst verzichtet. Die Körperverletzungsdelikte gemäß §§ 83 ff. StGB sowie die Gefährdung der körperlichen Sicherheit gemäß § 89 StGB sind nur auf geborene Menschen anwendbar. 9 Vgl. unten 2. 10 Die Vorschriften über den Schwangerschaftsabbruch greifen erst ein, wenn eine „Schwangerschaft“ vorliegt; dies ist erst ab der „Nidation“ der Fall. Vgl. die diesbezüglich ausdrückliche Regelung in Deutschland (§ 218 Abs. 1 zweiter Satz dStGB). – Von Anfang an geschützt sind allerdings extrakorporale Embryonen (nach einer In-Vitro-Fertilisation), wenngleich in Österreich nach dem Fortpflanzungsmedizingesetz (FMedG) nur ein verwaltungsrechtlicher bzw. verwaltungsstrafrechtlicher Schutz vorgesehen ist. In Deutschland da7

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Der abgestufte rechtliche Schutz am Lebensbeginn resultiert – was teilweise umstritten, aber die einzig plausible Erklärung ist – aus einer abgestuften Bewertung des Rechtsguts:11 Allein eine mikroskopisch kleine, befruchtete menschliche Eizelle ist als Rechtsgut einem geborenen Menschen nicht gleichwertig. Während der Schwangerschaft steigt der Wert des Rechtsguts mit der Entwicklung des Embryo bzw. Fötus kontinuierlich an. Dem trägt die Rechtsordnung mit der stufenweisen Erhöhung des rechtlichen Schutzes Rechnung, wobei allerdings die einzelnen Stufen nur ein pauschalierendes und insofern unvollkommenes Abbild der in Wahrheit kontinuierlichen Entwicklung des Rechtsguts darstellen. Die zum Teil vertretene Ansicht, der geringere rechtliche Schutz des ungeborenen Lebens resultiere nicht aus einer geringeren Bewertung des Rechtsguts, sondern sei allein eine Konzession an Kollisionen mit Interessen der Schwangeren12, überzeugt nicht. Denn nach dieser Ansicht müsste der volle Schutz (wie jener des geborenen Lebens) bereits während der Schwangerschaft zumindest dann zum Tragen kommen, wenn der Schwangerschaftsabbruch gegen den Willen der Schwangeren erfolgt (etwa wenn sie zu einem eigenmächtig durchgeführten Schwangerschaftsabbruch betäubt oder mit massiven Drohungen zum Schwangerschaftsabbruch gezwungen wird). Indes zeigt § 98 StGB (Schwangerschaftsabbruch ohne Einwilligung der Schwangeren), dass auch in diesen Fällen der rechtliche Schutz gegenüber dem geborenen Leben deutlich reduziert ist (erheblich geringere Strafdrohung im Vergleich zum Mord sowie keine Fahrlässigkeits-, Körperverletzungs- oder Gefährdungsdelikte). Der an eine unterschiedliche Bewertung des Rechtsguts anknüpfende abgestufte rechtliche Schutz am Anfang des menschlichen Lebens gibt, wie betont werden muss, nur die rechtliche Perspektive wieder. Selbstverständlich steht nichts entgegen, ethisch oder moralisch dem menschlichen Leben von Beginn an den höchsten Wert beizumessen.13 Eine solche ethische bzw. moralische Bewertung gerät mit der rechtlichen Bewertung, die eine andere Ebene betrifft, nicht in Konflikt. Denn während Normenordnungen wie Ethik und Moral die Frage nach einem guten und daher wünschenswerten Handeln betreffen, geht es im Bereich des Rechts um die davon zu trennende Frage, welche Verhaltensweisen den Mitgliedern der Gesellschaft vom Staat aufgezwungen werden sollen. In einem auf größtmögliche Freiheit angelegten plugegen enthalten das Embryonenschutzgesetz (ESchG) sowie das Stammzellgesetz (StZG) auch insoweit gerichtliche Straftatbestände. 11 Näher Albin Eser, in: Adolf Schönke/Horst Schröder, Strafgesetzbuch, München 282010, Vorbem. §§ 218 ff. Rz. 9; Albin Eser/Hans-Georg Koch, Schwangerschaftsabbruch im internationalen Vergleich, Teil 3: rechtsvergleichender Querschnitt – rechtspolitische Schlussbetrachtungen – Dokumentation zur neueren Rechtsentwicklung, Freiburg im Breisgau 1999, S. 577 ff.; Kurt Schmoller, in: Otto Triffterer/Christian Rosbaud/Hubert Hinterhofer (Hrsg.), Salzburger Kommentar zum Strafgesetzbuch, Wien 1992, 1. Lfg., Vorbem. §§ 97 – 98 Rz. 22 f. 12 Vgl. z. B. früher Albin Eser, in: Adolf Schönke/Horst Schröder, Strafgesetzbuch, München 251997, Vorbem. §§ 218 ff. Rz. 9 mit zahlreichen Nachweisen. 13 Vgl. z. B. die Enzyklika „Evangelium vitae“ von Johannes Paul II. (1995) Abschnitt 58 ff.

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ralistischen Staat muss sich das Recht auf die Gewährleistung eines „ethischen Minimums“14 beschränken. Rechtliche Gebote und Sanktionen bleiben deshalb stets – zu Recht – hinter ethischen und moralischen Anforderungen zurück.15 2. Strafloser Schwangerschaftsabbruch In welchen Fällen ein Schwangerschaftsabbruch straflos bleibt, ist in Österreich ausdrücklich und relativ klar – inhaltlich sehr großzügig – geregelt. Der strafrechtliche Schutz setzt gemäß §§ 96, 98 StGB grundsätzlich mit dem Eintritt einer „Schwangerschaft“, also mit der Nidation, ein.16 In § 97 Abs. 1 Z. 1 StGB ist eine „Fristenlösung“ verankert, derzufolge ein Schwangerschaftsabbruch straflos bleibt, wenn er (mit Einwilligung der Schwangeren) „innerhalb der ersten drei Monate nach Beginn der Schwangerschaft nach vorhergehender ärztlicher Beratung von einem Arzt vorgenommen wird“. Weder der Inhalt der Beratung noch die beratende Stelle oder ein zeitlicher Abstand zwischen Beratung und Schwangerschaftsabbruch sind gesetzlich vorgesehen, sodass als Minimalvariante eine knappe Beratung durch den ausführenden Arzt unmittelbar vor dem Eingriff zur Straflosigkeit ausreicht. Zusätzlich ist der (mit Einwilligung der Schwangeren vorgenommene) ärztliche Schwangerschaftsabbruch in § 97 Abs. 1 Z. 2 StGB generell – also bis zum Beginn der Geburt – in drei Indikationsfällen straflos gestellt, nämlich bei – nicht anders abwendbarer ernster Gefahr für das Leben oder eines schweren Schadens für die körperliche oder seelische Gesundheit der Schwangeren (medizinische Indikation), – ernster Gefahr, dass das Kind geistig oder körperlich schwer geschädigt sein werde (embryopathische Indikation) und – Unmündigkeit der Schwangeren zur Zeit der Schwängerung (Indikation der Unmündigkeit). Ergänzend wird die Straflosigkeit gemäß § 97 Abs. 1 Z. 3 StGB in Ausnahmefällen auch auf einen nichtärztlichen Abbruch erstreckt, allerdings nur bei unmittelba-

14 Begriff von Georg Jellinek, Die sozialethische Bedeutung von Recht, Unrecht und Strafe, Hildesheim 1967 (Nachdruck der Ausgabe 1878), S. 42. 15 Näher dazu Kurt Schmoller, Lebensschutz bis zum Ende? Strafrechtliche Reflexionen zur internationalen Euthanasiediskussion, in: ÖJZ 2000, S. 361 – 377, hier S. 362 f.; ebenso ders., Euthanasia and assisted suicide: juridical profiles, in: Juan de Dios Vial Correa/Elio Sgreccia (Hrsg.), The Dignity of the Dying Person. Proceedings of the Fifth Assembly of The Pontifical Academy for Life, Vatikanstadt 1999, S. 172 – 211, hier S. 179 ff.; zuletzt ders., Strafrechtliche Verantwortung in ethischen Grenzbereichen? Plädoyer für eine Zurückhaltung des Strafrechts jenseits fundamentaler Verhaltensregeln, in: Bundesministerium für Justiz (Hrsg.), 38. Ottensteiner Fortbildungsseminar aus Strafrecht und Kriminologie, Wien/Graz 2010, S. 5 – 27, hier S. 5 ff. 16 Vgl. oben Anm. 10.

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rer, nicht anders abwendbarer Lebensgefahr für die Schwangere und gleichzeitiger Unerreichbarkeit ärztlicher Hilfe (enge medizinische, nämlich vitale Indikation). Angesichts der insoweit klaren Regelung der Indikationen besteht kein Zweifel, dass die Straflosigkeit in den Fällen der § 97 Abs. 1 Z. 2 und 3 StGB an keine Frist gebunden ist, also z. B. die Tötung eines schwer behinderten Kindes noch Tage oder Stunden vor der Geburt keine Strafe nach sich zieht. Selbst die Tötung eines gesunden Kindes knapp vor der Geburt bleibt straffrei, falls die Schwangere bei der Zeugung das 14. Lebensjahr noch nicht vollendet hatte. 3. Keine ausdrückliche Erlaubnis Während die Straflosigkeit des Schwangerschaftsabbruchs in den angegebenen Fällen klar geregelt ist, hat der Gesetzgeber offen gelassen, ob bzw. inwieweit diese Regelungen als rechtliche Erlaubnis für einen Schwangerschaftsabbruch (der somit „rechtmäßig“ wäre) zu verstehen sind oder ob bzw. inwieweit es sich nur um eine Rücknahme der Strafbarkeit bei einem grundsätzlich doch gegen die Rechtsordnung verstoßenden (also „rechtswidrigen“) Verhalten handelt. Die Entscheidung zwischen diesen beiden Sichtweisen („rechtmäßig“ oder „rechtswidrig, aber straflos“) ist zwar für die Beurteilung der Strafbarkeit irrelevant (weil die Straflosigkeit feststeht), von ihr hängen aber doch wesentliche rechtliche Konsequenzen ab: So kommt z. B. eine Schadenersatzpflicht bei Vereitelung eines Schwangerschaftsabbruchs durch fehlerhafte Diagnose, wie sie der OGH bejaht hat, nur in Betracht, soweit der Schwangerschaftsabbruch tatsächlich als „rechtmäßig“ zu beurteilen ist.17 Auch eine öffentliche Subventionierung von Schwangerschaftsabbrüchen, insbesondere durch Bereitstellen von entsprechenden Einrichtungen ohne kostendeckendes Entgelt, setzt eine „Rechtmäßigkeit“ des Schwangerschaftsabbruchs voraus. Ferner ist ein zivilrechtlicher Vertrag auf Durchführung eines Schwangerschaftsabbruchs nur dann gültig (und damit z. B. das Honorar einklagbar), wenn der Schwangerschaftsabbruch als „rechtmäßig“ bewertet wird, andernfalls wäre der Vertrag gemäß § 879 Abs. 1 ABGB nichtig.18 Weiters dürfte nur ein „rechtmäßiger“ Schwangerschaftsabbruch z. B. im Schulunterricht als rechtlich unproblematisches Verhalten dargestellt werden; entsprechende Probleme haben sich beim Lehrausgang einer Hauptschulklasse in eine Wiener Abtreibungsklinik bereits ergeben.19 Ebenso könnte eine öffentlich-rechtliche Auszeichnung an 17

Vgl. die Nachweise in Anm. 1 – 3. Dazu sowie zu weiteren zivilrechtlichen Konsequenzen näher Erwin Bernat, Der Status des Ungeborenen im Kontext des österreichischen Medizinrechts, in: Brigitte Tag (Hrsg.), Lebensbeginn im Spiegel des Medizinrechts, Zürich 2011, S. 49 – 78, hier S. 63. 19 Der Fall beschäftigte die Volksanwaltschaft, die letztlich eine weitgehende „Rechtswidrigkeit“ auch des straflosen Schwangerschaftsabbruchs bejaht und deshalb den Lehrausgang an eine Abtreibungsklinik, falls die Schüler einer entsprechenden Werbung oder Verharmlosung ausgesetzt sein könnten, als unzulässig beurteilt hat; vgl. die Entscheidung der Volksanwaltschaft vom 9. 4. 2005 (Zl. VA W/203-Schu/02), abgedruckt in: IMABE (Hrsg.), 18

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eine Abtreibungsklinik nur dann verliehen werden (wie dies in Salzburg erwogen wurde)20, wenn die dort durchgeführten Schwangerschaftsabbrüche als „rechtmäßig“ zu bewerten sind; denn eine Auszeichnung rechtswidrigen Verhaltens würde die Rechtsordnung desavouieren. Und schließlich wäre etwa der Vorwurf eines „rechtswidrigen“ Verhaltens unter Umständen dann als Üble Nachrede gemäß § 111 StGB zu qualifizieren, wenn in Wahrheit ein „rechtmäßiger“ Schwangerschaftsabbruch durchgeführt wurde.21 Im Gesetz ist nur für einen eng umgrenzten Bereich des straflosen Schwangerschaftsabbruchs klargestellt, dass dieser nicht nur straflos, sondern „rechtmäßig“ ist, nämlich für den Fall einer unmittelbar drohenden Lebensgefahr für die Schwangere (vitale Indikation als Sonderfall der medizinischen Indikation). Gemäß § 97 Abs. 2 StGB ist nämlich in diesem Fall ein Arzt oder Angehöriger eines medizinischen Berufs zur Durchführung des Schwangerschaftsabbruchs verpflichtet. Da die Rechtsordnung niemanden zu einer rechtswidrigen Verhaltensweise verpflichten kann, ergibt sich aus § 97 Abs. 2 StGB für diesen engen Bereich eindeutig die Rechtmäßigkeit des Schwangerschaftsabbruchs.22 Darüber hinaus ist die Frage der Rechtmäßigkeit oder Rechtswidrigkeit der einzelnen Fallgruppen des straflosen Schwangerschaftsabbruchs seit Inkrafttreten des StGB umstritten. Auch das in § 97 Abs. 3 StGB geregelte Diskriminierungsverbot (für den Fall der Durchführung oder Verweigerung eines Schwangerschaftsabbruchs)23 lässt keine eindeutigen Schlussfolgerungen zu. Denn einerseits spricht das Verbot der Diskriminierung im Ergebnis eher für „Rechtmäßigkeit“ (der Durchführung bzw. deren Verweigerung)24, andererseits bräuchte aber für ein ohnehin „rechtmäßiges“ Verhalten im Gesetz kein ausdrückliches Diskriminierungsverbot Sexualaufklärung von Hauptschülern in Abtreibungskliniken, Wien 2005, S. 8 – 40, sowie in: Franz Bydlinski/Theo Mayer-Maly (Hrsg.), Mensch von Anfang an?, Wien 2008. 20 In Salzburg wurde das Schwangerschaftsabbruchs-Ambulatorium „Gynmed“ im Jahr 2010 für den jährlich von Stadt und Land Salzburg am Internationalen Frauentag vergebenen „Troll-Borosty‚ni-Preis“ nominiert, was erhebliche Debatten ausgelöst hat. Allerdings ist es bei einer Nominierung geblieben, weil der Preis nach einer stichprobenartigen Abstimmung der Bevölkerung (1513 Befragte) an das Frauenhaus in Salzburg ging. 21 Dies könnte etwa relevant werden, wenn Abtreibungsgegner vor einer Abtreibungsklinik mit Transparenten, in deren Aufschrift „rechtswidrige Tötungen“ vorkommt, demonstrieren. 22 Ebenso Bernat, Status (Anm. 18), S. 67 Anm. 76; Winfried Platzgummer, Der Ungeborene im österreichischen Strafrecht, in: IMABE u. a. (Hrsg.), Der Status des Embryos, Wien 1989, S. 185 – 189, hier S. 188. 23 § 97 Abs. 3 StGB lautet: „Niemand darf wegen der Durchführung eines straflosen Schwangerschaftsabbruchs oder der Mitwirkung daran oder wegen der Weigerung, einen solchen Schwangerschaftsabbruch durchzuführen oder daran mitzuwirken, in welcher Art immer benachteiligt werden.“ Vgl. ferner § 6 Abs. 3 KAKuG: „Die Anstaltsordnung darf keine Bestimmungen enthalten, die die Durchführung eines straflosen Schwangerschaftsabbruchs oder die Mitwirkung daran verbieten oder die Weigerung, einen solchen Schwangerschaftsabbruch durchzuführen oder daran mitzuwirken, mit nachteiligen Folgen verbinden.“ 24 In diesem Sinn z. B. Bernat, Status (Anm. 18), S. 65.

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formuliert zu werden. § 22 ABGB, nach dem auch „ungeborene Kinder … einen Anspruch auf den Schutz der Gesetze“ haben, wird immer wieder als Argument für die „Rechtswidrigkeit“ auch des straflosen Schwangerschaftsabbruchs angeführt.25 Umgekehrt lässt sich wiederum argumentieren, dass die im Jahr 1974 mit der Regelung im StGB verfolgten Ziele am ehesten dann sinnvoll umgesetzt werden können, wenn die Straflosigkeit des Schwangerschaftsabbruchs – zumindest in den meisten Fällen – als „rechtmäßig“ interpretiert wird. Denn insbesondere mit der „Fristenlösung“ wollte der Gesetzgeber für ungewollt schwangere Frauen gerade innerhalb der Rechtsordnung einen Weg zur Beendigung der Schwangerschaft eröffnen26 (§ 97 StGB wäre insoweit eine Sonderregelung zu § 22 ABGB).27 Infolge der unklaren Rechtslage hinsichtlich der Frage, ob bzw. inwieweit ein Schwangerschaftsabbruch in den straflosen Fällen (außerhalb der engen vitalen Indikation) als „rechtmäßig“ anzusehen ist, werden im rechtswissenschaftlichen Schrifttum sehr unterschiedliche Varianten vertreten: – Nach der engsten Ansicht ist eine „Rechtfertigung“ allein im ausdrücklich geregelten Fall der vitalen Indikation anzunehmen, also bei Lebensgefahr für die Schwangere.28 – Häufiger wird vertreten, dass alle Fälle der medizinischen Indikation „rechtfertigend“ wirken, während dies nicht für die anderen beiden Indikationen (embryopathische Indikation und Unmündigkeit) sowie für die „Fristenlösung“ gelte.29 – Nach wieder anderer Abgrenzung seien alle drei in § 97 Abs. 1 Z. 2 StGB geregelten Indikationen als „Rechtfertigungsgrund“ einzustufen (mit der Konsequenz, dass in allen drei Fällen eine Tötung des Ungeborenen noch unmittelbar vor der Geburt „rechtmäßig“ wäre), während im Rahmen der „Fristenlösung“ nur der

25 Franz Bydlinski, Der Schutz des Ungeborenen in zivilrechtlicher Sicht, in: Herta Pammer/Rudolf Weiler (Hrsg.), Volle Menschenrechte für das ungeborene Kind, Wien 1980, S. 89 – 96, hier S. 90 ff.; ders., Lebensschutz und rechtsethische Begründungen, in: JBl 1991, S. 477 – 489, hier S. 485; Peter Lewisch, Strafrecht, Besonderer Teil I, Wien 21999, S. 94. 26 Vgl. insbesondere die Passage im Bericht des Justizausschusses zum StGB (959 BlgNR, 13. GP, S. 23): Unter den Voraussetzungen des § 97 Abs. 1 StGB sei „die Rechtswidrigkeit des Schwangerschaftsabbruches und die Strafbarkeit jedes an der Tat Beteiligten … ausgeschlossen“. 27 In diesem Sinn ausführlich Bernat, Status (Anm. 18), S. 67 f. 28 So die Entscheidung der Volksanwaltschaft vom 9. 4. 2005 (Anm. 19); ähnlich Otto Triffterer, Zur strafrechtlichen Beurteilung kapselgeschützter Organtransplantationen, in: Jos¦ Luis de la Cuesta u. a. (Hrsg.), Crimonolog†a y Derecho Penal al servicio de la persona (FS Beristain), Donostia/San Sebastian 1989, S. 1203 – 1218, hier S. 1214 f.; Platzgummer, Ungeborene (Anm. 22), S. 187 ff.; Lewisch, Besonderer Teil I (Anm. 25), S. 94. 29 Alois Birklbauer/Marianne Hilf/Alexander Tipold, Strafrecht, Besonderer Teil I, Wien 2011, §§ 96 – 98 Rz. 27 ff.; Peter Schick, Die Einwilligung in den Schwangerschaftsabbruch, in: Reinhard Moos u. a. (Hrsg.), FS Jesionek, Wien/Graz 2002, S. 467 – 482 (zusammenfassend 482); Schmoller, in: SbgK (Anm. 11), § 97 Rz. 19, 29, 31 und 34; wohl auch Helmut Fuchs/Susanne Reindl-Krauskopf, Strafrecht, Besonderer Teil I, Wien 32009, S. 61.

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Strafrechtsschutz (bei verbleibender „Rechtswidrigkeit“) zurückgenommen worden sei.30 – Schließlich wird auch die Ansicht vertreten, dass alle Fälle des straflosen Schwangerschaftsabbruchs als „rechtmäßig“ einzuordnen seien, also sowohl ein Abbruch unter den Voraussetzungen der „Fristenlösung“ als auch ein solcher aus einer der drei gesetzlich geregelten Indikationen, diesfalls auch noch unmittelbar vor der Geburt.31 Vor dem Hintergrund der unsicheren Rechtslage sowie der unterschiedlichen Meinungen soll im Folgenden der Frage nachgegangen werden, ob, unter welchen Voraussetzungen und bis zu welchen Grenzen sich eine vertretbare Argumentation dafür finden lässt (auch wenn man diesen Argumenten nicht unbedingt folgen muss), einen (straflosen) Schwangerschaftsabbruch als „rechtmäßig“ zu beurteilen. Besonderes Augenmerk ist dabei der Frage zuzuwenden, ob bzw. in welchen Fällen sich sogar dafür argumentieren lässt, einen Schwangerschaftsabbruch auch noch wenige Tage oder Stunden vor der Geburt (immerhin die vorsätzliche Tötung eines geburtsreifen, lebensfähigen Menschen) als „rechtmäßig“ zu bewerten. III. Mögliche Begründung einer rechtlichen Erlaubnis Auszugehen ist von der – durch §§ 96 ff. StGB bestätigten – Grundwertung, dass das ungeborene menschliche Leben prinzipiell, auch wenn der Strafrechtsschutz gegenüber dem geborenen Leben abgeschwächt oder überhaupt zurückgenommen ist, ein schützenswertes Rechtsgut darstellt. Aus diesem Grund greifen die Strafvorschriften gegen den Schwangerschaftsabbruch grundsätzlich ab Beginn der Schwangerschaft ein. Die grundsätzliche Schutzwürdigkeit des ungeborenen menschlichen Lebens bereits im Anfangsstadium wird ferner durch das Fortpflanzungsmedizingesetz (FMedG) belegt, das „entwicklungsfähige Zellen“ außerhalb des Mutterleibs ab der Befruchtung schützt (zwar nicht durch gerichtliches Strafrecht, aber immerhin durch Verwaltungsrecht und Verwaltungsstrafrecht).32 Geht man von dieser grundsätzlichen rechtlichen Schutzwürdigkeit aus, so kann eine Handlung, die auf die Zerstörung einer befruchteten menschlichen Eizelle bzw. eines Embryo oder Fötus gerichtet ist, jeweils nur dann als „rechtmäßig“ angesehen werden, wenn sich ein plausibler Grund dafür angeben lässt, warum der rechtliche Schutz des ungeborenen Lebens (also das Lebensrecht des Ungeborenen) zurücktritt. Die Situation unterscheidet sich insbesondere von der Begründung einer bloßen 30 Maria Eder-Rieder, in: Frank Höpfel/Eckart Ratz (Hrsg.), Wiener Kommentar zum Strafgesetzbuch, Wien 21999, 23. Lfg. 2001, § 97 Rz. 2 f.; ähnlich Christian Bertel/Klaus Schwaighofer, Österreichisches Strafrecht, Besonderer Teil I, Wien 112010, § 97 Rz. 1. 31 Bernat, Status (Anm. 18), S. 62 f.; Diethelm Kienapfel/Hans Valentin Schroll, Studienbuch Strafrecht, Besonderer Teil I, Wien 22008, zu § 97; Otto Leukauf/Herbert Steininger, Kommentar zum österreichischen StGB, Eisenstadt 31992, § 97 Rz. 1. 32 Vgl. oben Anm. 10.

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Straflosigkeit. Denn eine Strafe ist für sich gesehen die Zufügung eines Übels, die generell nur dort erfolgen soll, wo dies unbedingt notwendig erscheint. Daraus erklärt sich, dass Strafen generell nur als ultima ratio – subsidiär zu anderen Möglichkeiten der Verhaltenssteuerung – eingesetzt werden sollen.33 Eine Begründung für einen bloßen Verzicht auf die Strafbarkeit (bei verbleibender Rechtswidrigkeit) fällt daher vergleichsweise leichter, weil damit nur die Aussage verbunden ist, dass im jeweiligen Bereich darauf verzichtet wird, das schärfste Mittel der Verhaltenssteuerung, nämlich gerichtliche Strafen, einzusetzen. Deshalb lässt sich der abgestufte Strafrechtsschutz des ungeborenen Lebens, insbesondere der weitgehend ausgedünnte Strafrechtsschutz im ersten Stadium der Schwangerschaft, schon damit begründen, dass in diesem Bereich der Einsatz gerichtlicher Strafen kein geeignetes und angemessenes Mittel der Verhaltenssteuerung darstellt. Wenn aber nicht nur auf Strafe verzichtet, sondern der Eingriff in menschliches Leben als „rechtmäßig“ bewertet werden soll, bedarf dies einer zusätzlichen plausiblen Begründung. Angesichts der grundsätzlichen rechtlichen Schutzwürdigkeit auch des ungeborenen menschlichen Lebens kann eine „Rechtmäßigkeit“ des Schwangerschaftsabbruchs nur dort überzeugen, wo höher bewertete Interessen dem rechtlichen Schutz des Ungeborenen entgegenstehen. Bei der folgenden Erörterung soll nicht entschieden werden, ob bestimmte Gründe tatsächlich schwerwiegend genug sind, einen Schwangerschaftsabbruch als „rechtmäßig“ anzusehen; es wird hier also keine abschließende Bewertung angestrebt (das Ergebnis hängt insoweit häufig von Abwägungen ab, die unterschiedlich getroffen werden können). Vielmehr soll der Themenstellung entsprechend geprüft werden, wo die äußersten Grenzen eines „rechtmäßigen“ Schwangerschaftsabbruchs zu ziehen sind bzw. welche Gründe kein geeignetes Argument für die Rechtfertigung eines Schwangerschaftsabbruchs darstellen. 1. Fristenlösung Im ersten Schwangerschaftsstadium dominiert als Straflosigkeitsgrund jener der „Fristenlösung“ (§ 97 Abs. 1 Z. 1 StGB). Ob es sich in diesen Fällen lediglich um einen Verzicht auf die Strafbarkeit oder um ein „rechtmäßiges“ Verhalten handelt, wird im Gesetz offen gelassen34 und ist umstritten.35 Im Folgenden ist zu zeigen, dass eine Begründung der „Rechtmäßigkeit“ – auch wenn man sich dieser nicht anschließt – unter bestimmten Prämissen zumindest möglich erscheint. 33 Vgl. z. B. Heinz Zipf, Kriminalpolitik, Heidelberg 1980, S. 52 f.; Claus Roxin, Strafrecht, Allgemeiner Teil I, München 42006, § 2 Rz. 97 ff.; Günther Jakobs, Strafrecht Allgemeiner Teil, Berlin 21991, Abschn. 2/26 ff. 34 Die gesetzlichen Formulierungen „Die Tat ist … nicht strafbar …“ (§ 97 Abs. 1 StGB) bzw. „Der Täter ist … nicht zu bestrafen …“ (§ 98 Abs. 2 StGB) können im StGB „bloße Straflosigkeit“ (z. B. § 16, § 141 Abs. 3 und 4 StGB) oder aber auch „Rechtmäßigkeit“ (z. B. § 269 Abs. 4 StGB) bedeuten. 35 Vgl. die Nachweise oben Anm. 28 – 31.

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Die Begründung kann allerdings nicht primär – wie man vielleicht auf den ersten Blick vermuten würde – darin gesehen werden, dass ein überwiegendes Interesse der Schwangeren bestehe, die mit dem (später) geborenen Kind verbundenen Belastungen zu vermeiden. Auch wenn das Hauptmotiv zum Schwangerschaftsabbruch häufig gerade darin liegen wird, die spätere Existenz des Kindes zu verhindern, lässt sich die Erlaubnis zum Schwangerschaftsabbruch nicht vorrangig auf dieses Anliegen stützen. Denn zum einen betreffen die Belastungen seitens des später geborenen Kindes nicht speziell das Verhältnis zwischen Mutter und Kind. Je nach den konkreten Umständen können vielmehr auch andere Personen durch die Existenz eines Kindes stark belastet werden; im Fall eines ehelichen Kindes ist der Vater jedenfalls gesetzlich gleichermaßen wie die Mutter zur persönlichen Obsorge sowie zum Unterhalt verpflichtet. Wenn diese Belastungen aber dem Vater (der von sich aus keine Möglichkeit hat, ihnen auszuweichen) ohne weiteres aufgebürdet werden können, trifft dies grundsätzlich auch für die Mutter zu. Zum anderen sind Situationen denkbar, in denen der Mutter die Belastungen durch das später geborene Kind von vornherein weitgehend abgenommen werden, etwa durch die verbindliche Zusage einer Adoption nach seiner Geburt oder allgemein dadurch, dass jemand (z. B. der Kindesvater, die Eltern der Schwangeren oder sonst ein Gönner) von vornherein hinreichende Geldmittel zur Bestreitung der gesamten persönlichen Obsorge und des Unterhalts zur Verfügung stellt.36 Ginge es also allein um die späteren Belastungen, müssten solche Möglichkeiten wohl im Einzelfall der Erlaubnis zum Schwangerschaftsabbruch entgegenstehen, was aber gesetzlich gerade nicht vorgesehen ist. Diese Überlegungen sprechen dafür, dass die Begründung einer allfälligen „Rechtsmäßigkeit“ des Schwangerschaftsabbruchs von der spezifischen körperlichen Verbindung von Mutter und Kind, wie sie während der Schwangerschaft bis zur Geburt besteht, ausgehen muss. Denn allein diese körperliche Verbindung prägt die besondere Situation der Schwangeren und ist auf andere Personen, auch auf den Vater des Kindes, nicht übertragbar. Nur die Anknüpfung an die einzigartige körperliche Verbindung ist deshalb geeignet, der Mutter eine besondere – auch von jener des Vaters abweichende – Rechtsstellung in Bezug auf das ungeborene Kind einzuräumen. Auf dieser Grundlage könnte für die „Rechtmäßigkeit“ des Schwangerschaftsabbruchs argumentiert werden, dass das höchstpersönliche Interesse einer Frau, ihren Körper nicht für die Austragung und Geburt eines Kindes zur Verfügung zu stellen (jedenfalls im ersten Schwangerschaftsstadium), das Lebensrecht des Embryo überwiege. Immerhin ist eine Schwangerschaft einschließlich der Geburt mit erheblichen physischen, psychischen und emotionalen Belastungen für die Schwangere verbunden. Ihr Körper wird über Monate hinweg nicht unwesentlich beansprucht, die Geburt bedeutet für die Mutter überhaupt eine physische und psychische Extremsituation. Das Interesse einer Frau, die höchstpersönlichen und ihr 36 Mit genügend Geldmitteln lassen sich nahezu alle Belastungen weitgehend abnehmen bzw. ausgleichen, insbesondere durch die Anstellung von Personal, das sich um das Kind kümmert. Bei Medien-Stars, Top-Managerinnen oder Spitzenpolitikerinnen lässt sich das auch in der Praxis immer wieder beobachten.

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nicht abnehmbaren physischen, psychischen und emotionalen Belastungen von Schwangerschaft und Geburt zu vermeiden, könnte als jenes höherwertige Interesse angesehen werden, das einen Schwangerschaftsabbruch auf Wunsch der Schwangeren (unabhängig von den Wünschen des Vaters) erlaubt. Freilich kann eine solche Argumentation nur dann zur „Rechtmäßigkeit“ des Schwangerschaftsabbruchs führen, wenn man das Interesse der Frau an einer Vermeidung der mit einer Schwangerschaft verbundenen Belastungen tatsächlich höher einschätzt als das Lebensrecht des Embryo. Gegen eine solche Höherbewertung bestehen gewiss Einwände, insbesondere für den Regelfall, dass die Schwangere durch freiwilligen Geschlechtsverkehr eigenverantwortlich das Risiko der Schwangerschaft eingegangen ist (wenn also die Frau einsichtsfähig war und nicht vergewaltigt oder genötigt wurde). Sofern man allerdings bereit ist, das Interesse der Frau an einer Vermeidung der mit der Schwangerschaft und Geburt verbundenen Belastungen generell höher als das Lebensrecht des Ungeborenen zu bewerten, führt dies schlüssig zur Bewertung des Schwangerschaftsabbruchs als „rechtmäßig“. Bezüglich der österreichischen Rechtslage ist anzumerken, dass die Bewertung eines Schwangerschaftsabbruchs innerhalb der „Fristenlösung“ als „rechtmäßig“ leichter fiele, wenn die „Fristenlösung“ – wie in anderen Ländern – restriktiver ausgestaltet wäre. So ist insbesondere das Beratungserfordernis etwa im Vergleich zu Deutschland auf ein Minimum reduziert: Zwar wird in § 97 Abs. 1 Z. 1 StGB eine „vorhergehende ärztliche Beratung“ verlangt, es ist aber weder der Inhalt dieser Beratung, noch eine Personenverschiedenheit zwischen beratender Stelle und Durchführung des Eingriffs noch eine Bedenkzeit zwischen Beratung und Eingriff festgesetzt, sodass, wie bereits angemerkt, eine kurze Beratung unmittelbar vor dem Eingriff durch den ausführenden Arzt für die Straflosigkeit ausreicht.37 Außerdem ist die Frist vergleichsweise lang bemessen, weil sich die gesetzliche Umschreibung bei extensiver Interpretation als drei Kalendermonate ab Nidation auslegen lässt, was – wie erst jüngst gezeigt wurde – zu einer Frist von bis zu 17 Wochen nach der letzten Menstruation führt38 (vgl. dagegen in Deutschland § 218a Abs. 1 Z. 3 dStGB: 12 Wochen seit der Empfängnis; in der Schweiz Art. 119 Abs. 2 schwStGB: 12 Wochen seit Beginn der letzten Periode). 2. Indikation bei nicht selbständig lebensfähigem Fötus In einem von der „Fristenlösung“ nicht mehr abgedeckten Schwangerschaftsstadium ist der Abbruch, wie oben unter II. 2. dargelegt, gemäß § 97 Abs. 1 Z. 2 StGB nur bei Vorliegen einer medizinischen Indikation, einer embryopathischen Indikation oder jener der Unmündigkeit der Schwangeren zum Zeitpunkt der Empfängnis straf37

Zur Kritik unten V. Elisabeth Köck, Die strafrechtliche Behandlung „vorgeburtlichen Lebens“, in: ÖJZ 2011, S. 546 – 552, hier S. 551. 38

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los. Wiederum ist umstritten, ob in diesen Fällen bloße Straflosigkeit oder aber „Rechtmäßigkeit“ des Schwangerschaftsabbruchs gemeint ist.39 Sieht man zunächst vom Sonderfall eines bereits lebensfähigen Fötus ab (dazu unten 3.), so stellt sich die Situation hinsichtlich einer möglichen Begründung der „Rechtmäßigkeit“ des Schwangerschaftsabbruchs letztlich ähnlich dar wie im Rahmen der „Fristenlösung“: Zunächst lässt sich auch für dieses Schwangerschaftsstadium ein das Leben des Fötus überwiegendes Interesse der Schwangeren am Schwangerschaftsabbruch nicht primär aus jenen Belastungen ableiten, die das später geborene Kind mit sich bringt. Denn auch hier gilt, dass die Belastungen durch das geborene Kind zum einen kein Spezifikum der Mutter darstellen, weil auch andere Personen, insbesondere der Vater, ähnlichen Belastungen ausgesetzt sein können. Wenn diese Belastungen dem Vater als unvermeidbar aufgebürdet werden – weil er selbst ja keinen Schwangerschaftsabbruch durchsetzen kann –, müssten sie auch der Mutter aufgebürdet werden können. Ebenso sind auch in den Indikationsfällen Situationen vorstellbar, in denen der Mutter die vom geborenen Kind ausgehenden Belastungen durch eine andere Person von vornherein weitgehend abgenommen werden, etwa durch Adoptionszusage oder indem jemand von vornherein hinreichende (Geld-)Mittel zur Bestreitung der gesamten persönlichen Obsorge und des Unterhalts bereitstellt.40 Zwar ist bezüglich der embryopathischen Indikation evident, dass die Obsorge für ein behindertes Kind deutlich mehr Belastung mit sich bringt als jene für ein gesundes, und gewiss geht ein starkes Bestreben dahin, gesunde Kinder zu haben. Aber auch hier trifft die Mehrbelastung nicht spezifisch die Mutter, sondern in der Regel ebenso den Vater; auch ihm wird diese Mehrbelastung ohne Abwendungsmöglichkeit aufgebürdet. Hinzu kommt, dass die Behinderung eines geborenen Kindes kein Anlass zu dessen Diskriminierung sein darf, somit auch die Mehrbelastungen durch das geborene behinderte Kind nicht Argument für eine „vorgezogene“ Vernichtung von dessen Existenz sein dürfen; eine solche Argumentation würde geborene Behinderte diskriminieren. Ähnliches gilt bezüglich der Unmündigkeit der Schwangeren. Gewiss ist für eine unmündige oder erst knapp mündige Mutter die Obsorge- und Unterhaltspflicht oft eine besondere Belastung. Jedoch treten ähnliche Belastungen wieder nicht nur spezifisch für die Mutter, sondern z. B. auch für einen unmündigen Vater auf. Würde man primär auf die Belastungen durch das später geborene Kind abstellen, müsste die Indikation deshalb auch bei Unmündigkeit des Vaters eingreifen, was aber gesetzlich nicht vorgesehen ist. Somit liegt auch in den Indikationsfällen – wie innerhalb der „Fristenlösung“ (oben 1.) – nahe, den Grund für eine allfällige „Rechtmäßigkeit“ des Schwangerschaftsabbruchs in der einzigartigen körperlichen Verbindung zwischen Mutter und Kind zu suchen. Denn eine solche Argumentation ist von vornherein allein auf die Mutter zugeschnitten und kann deshalb z. B. erklären, warum allein auf 39 40

Vgl. erneut die Nachweise oben in Anm. 28 – 31. Vgl. Anm. 36.

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die Unmündigkeit der Mutter, nicht auf jene des Vaters, abgestellt wird. Somit ist auch hier an das höchstpersönliche, auf andere Personen nicht übertragbare Interesse der Schwangeren anzuknüpfen, die mit der Fortsetzung der Schwangerschaft einschließlich der Geburt verbundenen Belastungen zu vermeiden; man müsste damit argumentieren, dass gerade in den Indikationsfällen von der Schwangeren nicht (mit rechtlichem Zwang) verlangt werden könne, ihren Körper diesen Belastungen auszusetzen. Im Fall der embryopathischen Indikation müsste man davon ausgehen, dass die mit einer Schwangerschaft und Geburt allgemein verbundenen Beeinträchtigungen für die Schwangere dann eine noch größere Belastung darstellten, wenn sie nicht mit der Aussicht auf ein gesundes Kind verbunden sind. Das Interesse der Schwangeren, diese erhöhten Belastungen zu vermeiden, müsste dann gegenüber dem Leben des Fötus als höherwertig eingestuft werden. Ebenso müsste bei einer unmündigen Schwangeren argumentiert werden, dass in diesem Fall das Interesse, die Belastungen der Schwangerschaft zu vermeiden, stets den Wert des Fötus überwiege. Freilich ist bei beiden Indikationen eine solche Argumentation nicht leicht: Denn es ist dabei in Rechnung zu stellen, dass bei einem fortgeschrittenen Schwangerschaftsstadium einerseits das ungeborene Leben bereits weiter entwickelt und deshalb schutzwürdiger ist als im Anfangsstadium der Schwangerschaft und andererseits aufgrund der kürzeren noch verbleibenden Schwangerschaftszeit die bevorstehenden Belastungen geringer sind als wenn noch nahezu die gesamte Schwangerschaft bevorsteht. Letztlich hängt die Annahme eines „rechtmäßigen“ Schwangerschaftsabbruchs auch hier davon ab, ob das Interesse auf Vermeidung der mit der (weiteren) Schwangerschaft sowie der Geburt verbundenen Belastungen gegenüber dem Lebensrecht des Embryo tatsächlich als höherwertig eingestuft wird. Ohne dass dies hier befürwortet werden soll41, ist einzuräumen, dass eine entsprechende Bewertung zumindest möglich ist und deshalb die „Rechtmäßigkeit“ des Schwangerschaftsabbruchs begründet werden könnte. Die vorstehenden Überlegungen führen ferner zu wichtigen Schlussfolgerungen für die medizinische Indikation: Ein Schwangerschaftsabbruch im Rahmen dieser Indikation wird im Ergebnis ganz überwiegend als „rechtmäßig“ eingestuft, weil dem Leben und der Gesundheit der Mutter aufgrund der spezifischen körperlichen Verbindung Vorrang vor dem Leben des Ungeborenen eingeräumt wird.42 Diesem Vorrang ist grundsätzlich zuzustimmen. Gleichzeitig muss aber eine wesentliche Einschränkung getroffen werden, die nicht immer hinreichend beachtet wird: Auch im Rahmen der medizinischen Indikation kann es nicht auf gesundheitliche Gefahren ankommen, die vom (später) geborenen Kind ausgehen, etwa wenn zu befürchten ist, 41

Nach Ansicht des Verfassers ist dem ungeborenen menschlichen Leben nach Ablauf der Drei-Monats-Frist aufgrund des schon weit fortgeschrittenen Entwicklungstands bereits ein besonders hoher Wert beizumessen. 42 Vgl. die oben in Anm. 29 – 31 angegebenen Nachweise. Allein bei den in Anm. 28 angegebenen Nachweisen wird ein „rechtmäßiges“ Verhalten nur in den engeren Fällen einer vitalen Indikation (Gefahr für das Leben der Schwangeren) angenommen.

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die Mutter könne infolge der Existenz des (zusätzlichen) Kindes durch Überforderung oder wegen ihrer psychischen Labilität einen gesundheitlichen Schaden erleiden. Denn wieder gilt das Argument, dass ebenso die Gefahr bestehen kann, das später geborene Kind werde voraussichtlich (infolge Überforderung oder psychischer Labilität) einen gesundheitlichen Schaden des Vaters bewirken, ohne dass dies zum Schwangerschaftsabbruch legitimiert. Auch die medizinische Indikation ist deshalb auf Gefahren für das Leben oder die Gesundheit der Schwangeren zu beschränken, die gerade vom Zeitraum der Schwangerschaft ausgehen, also ihre Ursache in der noch bevorstehenden Zeit der Schwangerschaft finden. Dies ist etwa der Fall, wenn eine akut notwendige Krebsbehandlung der Mutter mit einer Fortsetzung der Schwangerschaft nicht kompatibel wäre oder wenn aufgrund psychischer Labilität eine akute Selbstmordgefahr der Mutter während der Schwangerschaft besteht. Ausreichend ist dabei auch, wenn die Vorstellung der Mutter über das später geborene Kind, die ja bereits während der Schwangerschaft zu einer erheblichen Belastung führen kann, eine psychische Gesundheitsschädigung der Mutter befürchten lässt. Dagegen kann z. B. die allfällige Gefahr, dass das später geborene Kind die labile Mutter – vielleicht Jahre nach der Geburt – in den Selbstmord treiben könnte, keine medizinische Indikation begründen; dem späteren Selbstmord der Mutter wäre vielmehr zum späteren Zeitpunkt mit denselben Mitteln entgegen zu wirken wie einem befürchteten Selbstmord des Vaters oder einer dritten Person. Abzulehnen ist deshalb die deutsche Regelung in § 218a Abs. 2 dStGB insoweit, als nach ihr eine medizinische Indikation zum Schwangerschaftsabbruch auch dann vorliegen und zu einem „rechtmäßigen“ Abbruch legitimieren soll, wenn „unter Berücksichtigung der gegenwärtigen und zukünftigen Lebensverhältnisse der Schwangeren … eine Gefahr für das Leben oder die Gefahr einer schwerwiegenden Beeinträchtigung des körperlichen oder seelischen Gesundheitszustandes der Schwangeren“ besteht.43 Denn bei konsequenter Argumentation kann es nur auf vom Zeitraum der Schwangerschaft ausgehende Gefahren ankommen, nicht auf Gefahren, die von „zukünftigen Lebensverhältnissen“ mit dem geborenen Kind drohen (und die gleichermaßen z. B. den Vater betreffen könnten). Es muss also z. B. bereits die Fortsetzung der Schwangerschaft eine psychische Erkrankung der Schwangeren befürchten lassen (wobei gewiss die Zukunftssorgen der Schwangeren mit eine Rolle spielen können), nicht erst die späteren nachgeburtlichen Belastungen.

43 Hervorhebung vom Verfasser. Nach dieser gesetzlichen Formulierung können auch Gefahren, die ihren Ausgang erst im später geborenen Kind nehmen, den Schwangerschaftsabbruch legitimieren. Aus diesem Grund wird in Deutschland nicht mehr von rein „medizinischer“, sondern von „medizinisch-sozialer“ Indikation gesprochen und als Beispiel angeführt, dass etwa auch „die mögliche (durch die Betreuung einer großen Anzahl an Kindern hervorgerufene) nachgeburtliche Überforderung der Schwangeren die Annahme dieser Indikation begründen“ könne; Eser, in: Schönke/Schröder (Anm. 11), § 218a Rz. 26 ff., 31; ferner z. B. Walter Gropp, in: Wolfang Joecks/Klaus Miebach (Hrsg.), Münchener Kommentar zum Strafgesetzbuch, 3. Bd., München 2003, § 218a Rz. 46.

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3. Indikation bei selbständig lebensfähigem Fötus? Eine besondere Situation tritt im Rahmen der Schwangerschaft ein, sobald der Fötus seine selbständige Lebensfähigkeit erreicht, sodass er im Fall einer vorzeitigen Geburt (durch Einleitung oder durch Kaiserschnitt) überleben könnte. Dies trifft – nach dem derzeitigen Stand der Medizin – etwa ab der 21. oder 22. Schwangerschaftswoche zu. Auch in diesem letzten Schwangerschaftsstadium ist ein Schwangerschaftsabbruch gemäß § 97 Abs. 1 Z. 2 StGB straflos, sofern eine der drei Indikationen (medizinische oder embryopathische Indikation, Indikation der Unmündigkeit) vorliegt. Danach ist also z. B. die Tötung eines behinderten ungeborenen Kindes noch unmittelbar vor der Geburt straflos; dasselbe gilt für die Tötung eines gesunden Ungeborenen unmittelbar vor der Geburt bei entsprechend geringem Alter der Mutter. Die in § 97 Abs. 1 Z. 2 StGB vorgesehene Straflosigkeit eines Schwangerschaftsabbruchs noch unmittelbar vor der Geburt geht – im internationalen Vergleich – sehr weit.44 Andere Rechtsordnungen akzeptieren ab selbständiger Lebensfähigkeit des Fötus allein die medizinische Indikation als Grund für eine straflose Abtreibung.45 Darüber hinaus gibt es Rechtsordnungen, nach denen der Fötus ab Erreichen der selbständigen Lebensfähigkeit überhaupt einen vollständigen rechtlichen Schutz wie das geborene Leben genießt, die Tötung also gleichermaßen strafbar ist wie die Tötung eines geborenen Menschen.46 44 Zur Kritik daran Erwin Bernat, Pränataldiagnostik und Spätabtreibung bei schweren Behinderungen, in: Journal für Rechtspolitik 2006, S. 113 – 122, hier S. 116 ff.; Eder-Rieder, in: WK-StGB (Anm. 30), § 97 Rz. 18; Köck, Leben (Anm. 38), S. 551; Lewisch, Besonderer Teil I (Anm. 25), S. 95; Birklbauer/Hilf/Tipold, Besonderer Teil I (Anm. 29), §§ 96 – 98 Rz. 29; Kurt Schmoller, Schwangerschaftsabbruch im Spätstadium – Die Situation in Österreich, in: Brigitte Tag (Hrsg.), Lebensbeginn im Spiegel des Medizinrechts, Zürich 2011, S. 187 – 211, hier S. 191, 203 f, 206 ff.; ders., in: SbgK (Anm. 11), § 97 Rz. 32, 35. – Siehe auch den Abschlussbericht des in den Jahren 2001/02 vom Bundesminister für Gesundheit und Soziales eingesetzten Experten-Arbeitskreises zur Überprüfung und Einschränkung der embryopathischen Indikation: Helmut Fuchs, Arbeitskreis „Embryopathische Indikation – Straflosigkeit des Schwangerschaftsabbruchs“, Abschlussbericht und Regelungsvorschläge, 1. 7. 2002 (unveröffentlicht; näher dazu Schmoller, Schwangerschaftsabbruch (wie oben), S. 205 f.). 45 So etwa in Norwegen und Japan; vgl. Eser/Koch, Schwangerschaftsabbruch (Anm. 11), S. 195 u. 580 Anm. 43. – Ebenso in Deutschland die Regelungsvorschläge von Albin Eser/ Hans-Georg Koch, Schwangerschaftsabbruch und Recht. Vom internationalen Vergleich zur Rechtspolitik, Baden-Baden 2003, S. 326; Heiko Hofstätter, Der embryopathisch motivierte Schwangerschaftsabbruch, Frankfurt a.M./Wien 2000, S. 177 und 203 f.; Tanja Drescher, Beginn des Menschseins im Sinne der §§ 211 ff. StGB nach Fortfall des § 217 StGB a. F., Frankfurt a.M./Wien 2004, S. 158 f.; ähnlich Frank Czerner, Reform der Reform: Wiedereinführung der embryopathischen Indikation bei Spätabtreibungen?, in: ZRP 2009, S. 233 – 236, hier S. 236. Für Österreich: Bernat, Pränataldiagnostik (Anm. 44), S. 117; Eder-Rieder, in: WK-StGB (Anm. 30), § 97 Rz. 18; Köck, Leben (Anm. 38), S. 551; Lewisch, Besonderer Teil I (Anm. 25), S. 95; Schmoller, Schwangerschaftsabbruch (Anm. 44), S. 207. 46 Ausdrücklich § 82a niederländisches StGB; ähnlich in England die „child destruction“ nach dem Infant Life Act; vgl. Eser/Koch, Schwangerschafsabbruch (wie Anm. 45); Walter

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In Österreich ist im Fall der angegebenen Indikationen nicht nur die Straflosigkeit gesetzlich geregelt47, diese wird zudem teilweise sogar als „Rechtmäßigkeit“ des Schwangerschaftsabbruchs interpretiert.48 Danach wäre also die Tötung eines behinderten Ungeborenen noch unmittelbar vor der Geburt „rechtmäßig“, ebenso die Tötung eines gesunden Ungeborenen unmittelbar vor der Geburt, wenn die Schwangere nicht viel älter als 14 Jahre ist. Es stellt sich sohin die Frage, auf welche Argumente die Annahme von „Rechtmäßigkeit“ in solchen Fällen gestützt werden könnte. Als Ausgangsposition ist erneut daran festzuhalten, dass die Legitimation des Schwangerschaftsabbruchs nicht auf das Interesse der Schwangeren gestützt werden kann, die Belastungen durch das (später) geborene Kind zu vermeiden, weil solche Belastungen nicht spezifisch das Verhältnis zwischen Mutter und Kind betreffen, sondern auch andere Personen ähnlich belastet sein können, ohne dass diese Belastung für sie vermeidbar wäre. Der Grund für die Rechtfertigung könnte deshalb auch in solchen Fällen nur in der spezifischen körperlichen Verbindung zwischen Schwangerer und Ungeborenem zu finden sein. Als überwiegendes Interesse käme nur das Interesse der Schwangeren an einer Vermeidung der mit der Fortsetzung der Schwangerschaft einschließlich der Geburt verbundenen Belastungen in Betracht. Eine Berufung auf das Interesse, eine Fortsetzung der Schwangerschaft zu vermeiden, stößt ab selbständiger Lebensfähigkeit des Fötus aber an Grenzen. Denn zum einen ist die Schutzwürdigkeit des Fötus aufgrund seiner selbständigen Lebensfähigkeit bereits der Schutzwürdigkeit eines Geborenen weitgehend angenähert, sodass ein überwiegendes Interesse besonders hochrangig sein müsste. Zum anderen ist die verbleibende Zeit der Schwangerschaft nur mehr vergleichsweise kurz, vor allem jedoch käme ab selbständiger Lebensfähigkeit des Fötus als alternative Handlungsmöglichkeit zur Beendigung der Schwangerschaft stets die Einleitung der Geburt (allenfalls durch Kaiserschnitt) in Betracht. Dem Interesse der Schwangeren, eine Fortsetzung ihrer Schwangerschaft zu vermeiden, könnte in diesem Stadium somit prinzipiell auch ohne Tötung des Ungeborenen durch körperliche Trennung von Schwangerer und Kind Rechnung getragen werden. Dabei ist zu beachten, dass in diesem letzten Stadium der Schwangerschaft auch ein Schwangerschaftsabbruch nicht ohne erheblichen Eingriff in den Körper der Mutter möglich ist. Jedenfalls dann, wenn ein Schwangerschaftsabbruch im letzten Stadium der Schwangerschaft Gropp, Der Embryo als Mensch: Überlegungen zum pränatalen Schutz des Lebens und der köperlichen Unversehrtheit, in: Goltdammers Archiv für Strafrecht 2000, S. 1 – 18, hier S. 11 ff. (der zusätzlich auf ähnlich ausgerichtete Abtreibungsgesetze in den US-Staaten Pennsylvania und Illinois hinweist); zur englischen Rechtslage auch Drescher, Menschsein (Anm. 45), S. 122 ff. – Ausdrücklich befürwortend in Deutschland Gropp, Embryo (siehe oben), 1 ff.; ders., in: MK-StGB (Anm. 43), Vor §§ 218 ff. Rz. 38; ders., Strafrechtlicher Schutz des Lebens vor und nach der „Geburt“, in: Eva Schumann (Hrsg.),Verantwortungsbewusste Konfliktlösungen bei embryopathischem Befund, Göttingen 2008, S. 19 – 40, hier S. 38 f. 47 Schon diese Straflosigkeit bis zur Geburt geht jedoch klar zu weit; vgl. die Nachweise in Anm. 44. 48 Vgl. die oben in Anm. 30 und 31 angegebenen Nachweise.

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für die Schwangere ähnlich eingriffsintensiv ausfiele wie eine vorzeitige Einleitung der Geburt49, lässt sich kein schlüssiges überwiegendes Interesse an einer Tötung des Kindes begründen. Dieses Ergebnis gilt gleichermaßen für die Fälle der embryopathischen Indikation wie jene der Unmündigkeit der Schwangeren. Eine Besonderheit im Rahmen der embryopathischen Indikation stellen allerdings jene Fälle dar, in denen das Ungeborene aufgrund seiner Behinderung trotz entsprechend weit fortgeschrittener Schwangerschaft die selbständige Lebensfähigkeit gar nicht erreicht (sodass nicht mit der Geburt eines lebensfähigen Kindes zu rechnen ist).50 In derartigen Fällen besteht die Möglichkeit einer körperlichen Trennung von Schwangerer und Kind ohne Tötung des Kindes nicht, d. h. die mögliche Alternative der vorzeitigen Einleitung der Geburt entfällt. Insoweit ist die Situation an jene eines noch nicht selbständig lebensfähigen Fötus in einem früheren Schwangerschaftsstadium angenähert; daher gelten die oben unter 2. erörterten Grundsätze. Somit käme bei einem lebensfähigen Ungeborenen als Grund für einen „rechtmäßigen“ Schwangerschaftsabbruch allein eine akute medizinische Indikation in Betracht. Wenn eine Lebens- oder schwere Gesundheitsgefahr für die Schwangere51 nicht anders als durch Tötung des Ungeborenen abwendbar ist, erscheint es aufgrund der besonderen körperlichen Verbindung von Schwangerer und Kind auch noch im Endstadium einer Schwangerschaft legitim, den Lebens- und Gesundheitsinteressen der Mutter den Vorrang einzuräumen. 4. Ergebnis Für die Ausgangsfrage nach den Grenzen eines „rechtmäßigen“ Schwangerschaftsabbruchs haben sich vor allem zwei Aspekte als wichtig erwiesen: – Eine rechtliche Erlaubnis zum Schwangerschaftsabbruch kann sich nicht primär auf das Interesse an einer Vermeidung der mit dem später geborenen Kind verbundenen Belastungen stützen. Denn da solche späteren Belastungen auch andere Personen, insbesondere den Vater des Kindes, treffen, berühren sie nicht spezifisch das Verhältnis zwischen Schwangerer und Kind, auf dem eine allfällige Erlaubnis zum Schwangerschaftsabbruch aufbaut. Zudem sind Situationen denkbar, in denen die späteren Belastungen der Schwangeren von anderen Personen weitge49

Dies ist regelmäßig der Fall, weil in einem so späten Schwangerschaftsstadium der Abbruch in der Regel dadurch erfolgt, dass zunächst der Fötus im Mutterleib getötet und anschließend die „Geburt“ eingeleitet bzw. ein Kaiserschnitt durchgeführt wird; z. B. EderRieder, in: WK-StGB (Anm. 30), § 97 Rz. 20; Fuchs/Reindl-Krauskopf, Besonderer Teil I (Anm. 29), S. 59. 50 Z. B. Eder-Rieder, in: WK-StGB (Anm. 30), § 97 Rz. 18; Köck, Leben (Anm. 38), S. 551; Schmoller, Schwangerschaftsabbruch (Anm. 44), S. 207 f. 51 Diese Lebens- oder Gesundheitsgefahr muss allerdings vom Zeitraum der weiteren Schwangerschaft, nicht vom später geborenen Kind ausgehen (vgl. oben im Text nach Anm. 42).

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hend abgenommen werden; da solche Situationen bei der Regelung des Schwangerschaftsabbruchs nicht berücksichtigt werden, kommt es auf die Belastungen durch das später geborene Kind offenbar nicht an. Vielmehr ist für die Begründung einer allfälligen Erlaubnis zum Schwangerschaftsabbruch von der – auf andere Personen nicht übertragbaren – einzigartigen körperlichen Verbindung zwischen Schwangerer und Kind auszugehen, die mit erheblichen Belastungen der Schwangeren schon während der Schwangerschaft und bei der Geburt verbunden ist. Es kommt somit darauf an, das höchstpersönliche Interesse der Frau, ihren Körper nicht für die Austragung eines Kindes einschließlich der Geburt zur Verfügung zu stellen, gegen das Leben des Ungeborenen abzuwägen. – In einem späten Stadium der Schwangerschaft, in dem der Fötus bereits die selbständige Lebensfähigkeit erreicht hat (ca. 21. bis 22. Schwangerschaftswoche), ist als mögliche Alternative zum Schwangerschaftsabbruch die vorzeitige Einleitung der Geburt (bzw. Kaiserschnitt) zu berücksichtigen. Wenn eine Tötung des Ungeborenen für die Schwangere ähnlich eingriffsintensiv ist wie eine vorzeitige Einleitung der Geburt, lässt sich eine Tötung des Ungeborenen grundsätzlich nicht mehr legitimieren. Von diesen Überlegungen ausgehend hat sich gezeigt, dass es argumentativ zumindest möglich ist (unabhängig davon, ob man diesen Argumenten folgen will), einen Schwangerschaftsabbruch im ersten Schwangerschaftsstadium („Fristenlösung“) und unter Umständen bis zur selbständigen Lebensfähigkeit des Fötus als „rechtmäßig“ zu bewerten. Freilich setzt dies voraus, dass man das Interesse der Schwangeren an der Vermeidung ihrer weiteren Schwangerschaft tatsächlich als höherrangig gegenüber dem ungeborenen Leben einstuft. Eine solche Bewertung ist gewiss problematisch; wenn man sich aber zu ihr bekennt, folgt daraus die „Rechtmäßigkeit“ des Schwangerschaftsabbruchs. Sobald jedoch das Ungeborene eine selbständige Lebensfähigkeit erreicht, lässt sich eine „Rechtmäßigkeit“ des Abbruchs nur noch bei akuter medizinischer Indikation begründen (wobei die Gesundheitsgefahr für die Schwangere aus der Schwangerschaft selbst, nicht seitens des später geborenen Kindes resultieren muss). Denn sobald das Interesse an der Vermeidung einer Fortsetzung der Schwangerschaft prinzipiell auf andere Art als durch Tötung des Ungeborenen, nämlich durch vorzeitige Einleitung der Geburt (bzw. Kaiserschnitt), realisiert werden könnte (und – wie im Regelfall – die Einleitung der Geburt nicht eingriffsintensiver wäre als die Tötung des Ungeborenen), ist nicht mehr ersichtlich, welche überwiegenden Interessen eine Tötung legitimieren könnten. Das Interesse an der Vermeidung der mit dem später geborenen Kind verbundenen Belastungen ist auch in diesem Stadium kein schlüssiges Argument für eine – allein in die Entscheidungsfreiheit der Mutter gelegte – Tötung des Kindes.

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IV. Konsequenzen für die Auslegung des § 97 StGB Die Ausgangsfrage, ob die in § 97 StGB geregelte Straflosigkeit eines Schwangerschaftsabbruchs im Sinn eines „bloß straflosen“ oder aber „rechtlich erlaubten“ Verhaltens zu verstehen ist, lässt sich nach dem Gesagten nicht vollständig beantworten. Im Bereich der „Fristenlösung“ und darüber hinaus bis zur selbständigen Lebensfähigkeit des Fötus hängt die Beurteilung davon ab, welchen Wert man einerseits dem ungeborenen Leben und andererseits dem Interesse der Schwangeren an einer Vermeidung der mit der Schwangerschaft und Geburt verbundenen Belastungen beimisst. Als wesentliches Ergebnis lässt sich aber festhalten, dass ab selbständiger Lebensfähigkeit des Fötus, jedenfalls dann, wenn eine vorzeitige Einleitung der Geburt nicht eingriffsintensiver wäre als ein Schwangerschaftsabbruch, eine „rechtmäßige“ Tötung des Ungeborenen außerhalb der medizinischen Indikation nicht begründbar ist. Deshalb sind die in § 97 Abs. 1 Z. 2 StGB straflos gestellten Fälle eines Schwangerschaftsabbruchs bei embryopathischer Indikation und bei Indikation der Unmündigkeit der Schwangeren jedenfalls in jenem Bereich, in dem sie einen selbständig lebensfähigen Fötus betreffen, nicht im Sinn eines „rechtmäßigen“ Schwangerschaftsabbruchs, sondern im Sinn einer „bloßen Straflosigkeit“ auszulegen.52 Insbesondere ist deshalb die Ansicht des OGH, dass ein Schwangerschaftsabbruch im Fall dieser Indikationen „rechtmäßig“ sei,53 nicht auf die Fälle eines bereits selbständig lebensfähigen Fötus zu erstrecken, sondern – sofern man überhaupt daran festhalten will – auf das Stadium vor der 21. oder 22. Schwangerschaftswoche bzw. auf Föten, die sich aufgrund ihrer Schädigung überhaupt nicht zur Lebensfähigkeit entwickeln können, zu beschränken. Bei selbständiger Lebensfähigkeit des Fötus ist der Schwangerschaftsabbruch zwar entsprechend ausdrücklichen gesetzlichen Vorgaben straflos, der Eingriff bleibt aber „rechtswidrig“. Aus der „Rechtswidrigkeit“ in diesen Fällen sind alle sich daraus ergebenden Konsequenzen zu ziehen; insbesondere erscheint für diese Fälle ein Schadenersatz für die Vereitelung eines Schwangerschaftsabbruchs – da die Vereitelung rechtswidriger Handlungen keinen Schadenersatzanspruch begründen kann – ausgeschlossen. Allein die Fälle der medizinischen Indikation, in denen die Gesundheitsgefahr für die Schwangere unmittelbar von der Schwangerschaft (nicht vom später geborenen Kind) ausgeht, können auch noch im Stadium der selbständigen Lebensfähigkeit des Fötus als tatsächliche „rechtliche Erlaubnis“ ausgelegt werden.

V. Forderungen an den Gesetzgeber Im Schrifttum besteht weitgehende Einigkeit darüber, dass § 97 StGB in verschiedener Hinsicht dringend reformbedürftig ist. So wird insbesondere gefordert, die 52

Jene Ansicht, die in diesen Indikationen grundsätzlich einen „Rechtfertigungsgrund“ sieht (Nachweise oben in Anm. 30 und 31), ist somit dahin einzuschränken, dass dies jedenfalls nicht mehr ab Lebensfähigkeit des Fötus gelten kann. 53 Oben bei Anm. 2 und 3.

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Voraussetzung einer vorhergehenden Beratung erstens detaillierter zu regeln und zweitens auch bei den Indikationenfällen – mit Ausnahme einer akuten medizinischen Indikation – vorzusehen, bei denen bisher im Gesetz gar keine Beratung erwähnt wird.54 Der Inhalt der erforderlichen Beratung sollte gesetzlich festgelegt sein, außerdem geregelt werden, dass die beratende Stelle von der den Eingriff durchführenden Person verschieden sein muss und eine Bedenkzeit zwischen Beratung und Eingriff (etwa 3 Tage) erforderlich ist.55 Zu Recht ist im Schrifttum darauf hingewiesen worden, dass die unbefristete, also bis zur Geburt reichende Straflosigkeit im Rahmen der embryopathischen Indikation sowie jener der Unmündigkeit zu weit geht. Beide Indikationen sollten spätestens in der selbständigen Lebensfähigkeit des Fötus ihre Grenze finden;56 die Indikation der Unmündigkeit wäre überhaupt verzichtbar.57 Sollten jedoch die Indikationen im Sinn einer Straflosigkeit beibehalten werden, müsste zumindest gesetzlich klargestellt sein, dass eine Tötung des Ungeborenen nach eingetretener Lebensfähigkeit jedenfalls nicht mehr als „rechtmäßig“ erfolgt. Ganz allgemein wäre wünschenswert, dass der Gesetzgeber ausdrücklich klarstellt, ob bzw. welche Fälle des straflosen Schwangerschaftsabbruchs als „rechtmäßig“ oder aber als „rechtswidrig, aber straflos“ einzustufen sind. Ab eingetretener Lebensfähigkeit des Ungeborenen ist allerdings eine ausdrückliche rechtliche Tötungserlaubnis inhaltlich nicht mehr begründbar; eine solche Regelung wäre deshalb strikt abzulehnen.

54 Ebenso Bertel/Schwaighofer, Besonderer Teil I (Anm. 30), § 97 Rz. 4; Köck, Leben (Anm. 38), S. 551; Schick, Einwilligung (Anm. 29), S. 479; Schmoller, Schwangerschaftsabbruch (Anm. 44), S. 207, 210; vgl. auch den Abschlussbereicht des Experten-Arbeitskreises von Fuchs, Arbeitskreis (Anm. 44), S. 17, 20, 23. 55 Ebenso Köck, Leben (Anm. 38), S. 551; Schick, Einwilligung (Anm. 29), S. 482; Schmoller, Schwangerschaftsabbruch (Anm. 44), S. 210. 56 Nachweise oben in Anm. 44. 57 Bernat, Pränataldiagnostik (Anm. 44), S. 117; Eder-Rieder, WK-StGB (Anm. 30), § 97 Rz. 23; Köck, Leben (Anm. 38), S. 551; Schick, Einwilligung (Anm. 29), S. 480; Schmoller, Schwangerschaftsabbruch (Anm. 44), S. 209.

VII. Kirche und Staat

Die Europäische Union und die Kirchen: Zwei Formen des Dialogs und deren Entwicklungsmöglichkeiten im Vergleich Von Burkhard Berkmann Die Sorge um ein angemessenes Verhältnis von Staat und Kirche prägt einen großen Teil des Werks von Hans Paarhammer, dem der vorliegende Band zugedacht ist. Dabei hat der Jubilar den Schwerpunkt auf Österreich gelegt, ohne jedoch den größeren, insbesondere den europäischen Zusammenhang zu übersehen, der dieses Thema immer mehr beeinflusst. Das zeigt der Titel der Tagung „Kirche und Staat im Horizont einer globalisierten Welt“, die er am 7. und 8. März 2007 in Salzburg veranstaltet hat.1 Auf dieser Tagung, zu der er auch junge Nachwuchswissenschaftler eingeladen hatte, durfte ihn der Autor dieses Aufsatzes persönlich kennen lernen. Ihm soll daher dieser Beitrag gewidmet sein, der sich mit dem Verhältnis der Europäischen Union zu den Kirchen beschäftigt. Dieses Verhältnis ist seit einigen Jahren durch einen wechselseitigen Dialog gekennzeichnet, der immer festere, auch rechtlich gesicherte Formen annimmt. Zwei dieser Formen sollen hier vorgestellt werden: die Konsultationen im Rahmen der europäischen Transparenzinitiative und der „offene, transparente und regelmäßige Dialog“, der seit 1. Dezember 2009 in Art. 17 Abs. 3 AEUV2 verankert ist. Der Vergleich der beiden Formen wird Besonderheiten des Dialogs mit den Kirchen deutlich machen und Perspektiven für die weitere Entwicklung aufzeigen. I. Vorhandene Strukturen des Dialogs zwischen der Europäischen Union und den Kirchen Auf Seiten der christlichen Kirchen haben sich vor allem zwei Dialogpartner herausgebildet: die Kommission der europäischen Bischofskonferenzen (COMECE)3 1 Vgl. den von ihm zusammen mit Gerlinde Katzinger herausgegebenen Tagungsband „Kirche und Staat im Horizont einer globalisierten Welt“, Frankfurt am Main 2009. 2 Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV), Konsolidierte Fassung in: ABl. Nr. C 115, vom 9. 5. 2008, S. 47 – 200. 3 „Commissio Episcopatuum Communitatis Europensis“. Vgl. Josef Homeyer, Erfahrungen und Perspektiven kirchlicher Arbeit auf europäischer Ebene, in: zur debatte 35 (2005) S. 6 – 8; NoÜl Treanor, Das Verhältnis von Gesellschaft, Staat und Kirche aus der Perspektive der Kommission der Bischofskonferenzen der Europäischen Gemeinschaft (COMECE), in:

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als Organ der katholischen Kirche und die Konferenz europäischer Kirchen (KEK), der 126 orthodoxe, protestantische und altkatholische Kirchen aus allen Ländern Europas angehören.4 Beide stimmen einen großen Teil ihrer Aktionen miteinander ab.5 Auf Seiten der Europäischen Union widmet sich bisher vor allem die Europäische Kommission dem Dialog mit den Kirchen, Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften. Kommissionpräsident Barroso vertraute diesen Dialog dem „Bureau of European Policy Advisers“ (BEPA) an.6 Auf seine Initiative geht auch ein Treffen mit den Vertretern monotheistischer Religionen am 12. Juli 2005 zurück.7 Es findet seither jährlich statt und wurde auf weitere Religionsgemeinschaften ausgedehnt. Neben dem Kommissionspräsidenten nehmen auch die Präsidenten des Europäischen Parlaments und des Europäischen Rates daran teil.8 Außerdem veranstalten COMECE und KEK regelmäßig Dialogseminare zu aktuellen Themen, an denen hochrangige Politiker und Beamte der Europäischen Union teilnehmen. Solche Formen des Dialogs haben sich seit einiger Zeit eingespielt und bewährt, aber entbehrten bisher einer soliden Rechtsgrundlage und waren daher stark vom politischen Wohlwollen der Beteiligten abhängig. Gegenwärtig zeigen sich jedoch Möglichkeiten, wie sie in rechtlich gesicherte Strukturen eingehen können: die europäische Transparenzinitiative und der „offene, transparente und regelmäßige Dialog“ gemäß Art. 17 Abs. 3 AEUV.

Burkhard Kämper/Michael Schlagheck (Hrsg.), Zwischen nationaler Identität und europäischer Harmonisierung: Zur Grundspannung des zukünftigen Verhältnisses von Gesellschaft, Staat und Kirche in Europa, Berlin 2002, S. 123 – 133; Adrian van Luyn, Die strukturelle Zusammenarbeit der Bischöfe von Europa. CCEE und COMECE, in: Werner Schreer/Georg Steins (Hrsg.), Auf neue Art Kirche sein: Wirklichkeiten – Herausforderungen – Wandlungen. Festschrift für Bischof Dr. Josef Homeyer, München 1999, S. 404 – 418. 4 Vgl. Beatus Brenner, Die neue KEK-Kommission Kirche und Gesellschaft, in: MD 49 (1998) S. 111; Joachim Christoph, Interessenvertretung der evangelischen Kirchen bei der Europäischen Union, in: ZevKR 47 (2002), S. 250 – 263, hier S. 255; Rüdiger Noll, Europäische Integration einmal anders. Anmerkungen zum Zusammenschluss von KEK und EECCS, in: Una Sancta 54 (1999), S. 68 – 72, hier S. 68. 5 Vgl. Michael Weninger, Europa ohne Gott? Die Europäische Union und der Dialog mit den Religionen, Kirchen und Weltanschauungsgemeinschaften, Baden-Baden 2007, S. 185 – 188. 6 Vgl. Patrick Roger Schnabel, Geschichte und Strukturen christlicher Vertretungen bei der Europäischen Union, in: ÖARR 54 (2007), S. 222 – 290, hier S. 275. Im Kabinett Barroso ist heute Henning Klaus dafür zuständig. 7 Weninger, Europa (Anm. 5), S. 334. 8 Das jüngste dieser Treffen fand am 30. 5. 2011 mit 22 Religionsvertretern statt, at: http:// ec.europa.eu/bepa/pdf/conferences/hlrl_agenda_30may2011.pdf [4. 7. 2011].

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II. Die europäische Transparenzinitiative 1. Der Weg zur Transparenzinitiative Je größer der Einfluss der Europäischen Union auf die Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten wurde, desto mehr wurde ihr vorgeworfen, dass die Bürgernähe und die demokratische Legitimation ihrer Rechtssetzung zu schwach ausgeprägt seien. Gleichzeitig versuchten immer mehr Interessensgruppen durch Vertretungsbüros in Brüssel die europäische Rechtsetzung in ihrem Sinne zu beeinflussen. Angesichts dieser Situation bemühte sich die Europäische Kommission, das Engagement der Interessensgruppen durch die Vorgabe einer Struktur zu kanalisieren und transparent zu machen, es aber gleichzeitig zu nützen, um die Beteiligung der Bevölkerung über derartige intermediäre Verbände an der europäischen Rechtsetzung zu intensivieren. Deutlich zeigt sich dieses Bemühen der Kommission um eine Stärkung der partizipativen Demokratie bereits in einer Mitteilung9 vom 2. Dezember 1992. In ihrem Weißbuch „Europäisches Regieren“10 vom 12. Oktober 2001 strebte die Kommission eine stärkere Einbindung der Verbände der Zivilgesellschaft an, innerhalb derer sie den Kirchen und Religionsgemeinschaften ausdrücklich eine besondere Rolle zuerkannte (Nr. III.1). Mit ihrer Mitteilung11 vom 11. Dezember 2002 gab sie Mindeststandards für Konsultationen und Ansätze zu einem Verhaltenskodex für Interessensgruppen vor. Zur Konkretisierung der „europäischen Transparenzinitiative“ veröffentlichte die Kommission am 3. Mai 2006 ein Grünbuch.12 Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA)13, der Ausschuss der Regionen (AdR)14 sowie die interessierte Zivilgesellschaft diskutierten das Grünbuch und gaben dazu Stellungnahmen ab. Diese berücksichtigte die Kommission in einer weiteren Mitteilung vom 21. März 2007.15

9 Europäische Kommission, Ein offener und strukturierter Dialog zwischen der Kommission und den Interessengruppen (93/C 63/02) (2. 12. 1992). 10 KOM (2001) 428 endg., Europäisches Regieren – ein Weißbuch, in: ABl. Nr. C 287 vom 12. 10. 2001, S. 1. 11 KOM (2002) 704 endg., Mitteilung: Hin zu einer verstärkten Kultur der Konsultation und des Dialogs – Allgemeine Grundsätze und Mindeststandards für die Konsultation betroffener Parteien durch die Kommission (11. 12. 2002). 12 KOM (2006) 194 endg., Grünbuch - Europäische Transparenzinitiative. 13 EWSA, Anhörung: Initiative europ¦enne en matiÀre de transparence. Compte rendu (11. 7. 2006), at: http://www.eesc.europa.eu/sco/events/11_07_06_transparency/affiche_fr.pdf [10. 1. 2010]. EWSA, Stellungnahme: Grünbuch Europäische Transparenzinitiative (26. 10. 2006), in: ABl. Nr. C 324 vom 30. 12. 2006, S. 74 – 77. 14 AdR, Stellungnahme: Europäische Transparenzinitiative (13. 2. 2007), in: ABl. Nr. C 146 vom 30. 6. 2007, S. 53. 15 KOM (2007) 127 endg., Mitteilung: Folgemaßnahmen zu dem Grünbuch „Europäische Transparenzinitiative“ (21. 3. 2007).

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Seit Juni 2008 können sich Interessenvertreter in ein neues Register eintragen und unterstellen sich damit einem Verhaltenskodex. Zu den ersten Erfahrungen fand eine öffentliche Konsultation16 statt und die Kommission veröffentlichte eine Zwischenevaluation.17 Seit längerer Zeit war geplant, auch das Europäische Parlament, das bisher eigene Standards für die Beziehungen mit Interessenvertretern aufstellte, in die europäische Transparenzinitiative einzubinden.18 Der grundlegende Schritt zu diesem Projekt wurde im Juni 2011 durch eine interinstitutionelle Vereinbarung zwischen Kommission und Parlament gesetzt. Es scheint, dass das bisherige und das neue gemeinsame Register zunächst parallel geführt werden, auch wenn für beide ein einheitliches Internetportal geschaffen wurde.19 Daher sollen im Folgenden zuerst die Erfahrungen mit dem bisherigen Register der Kommission untersucht werden, um dann mögliche neue Entwicklungen durch das gemeinsame Transparenzregister vorzeichnen zu können. 2. Das bisherige Register der Transparenzinitiative Die europäische Transparenzinitiative präsentiert sich auf der Internetseite der Kommission.20 Unter den Begriff der Interessenvertretung fallen nach der weiten Definition des Grünbuchs vom 3. Mai 2006 und der Mitteilung vom 21. März 2007 „alle Tätigkeiten, mit denen auf die Politikgestaltung und den Entscheidungsprozess der europäischen Organe und Einrichtungen Einfluss genommen werden soll“. Auf die Art des Akteurs oder die vertretenen Inhalte kommt es nicht an. Alle Interessenvertreter, die eine Beziehung mit der Kommission pflegen, sind aufgefordert, sich unter Angabe verschiedener Informationen zu ihrer Organisation in das Register einzutragen, doch ist die Registrierung nicht obligatorisch. Es ist in vier Kategorien untergliedert:21 (1) Professionelle Berater und Anwaltskanzleien, die in der EU-Lobbyarbeit tätig sind; (2) Unternehmenslobbyisten und Wirtschaftsverbände; (3) NGO und Denkfabriken („think-tanks“); (4) Andere Organisationen. Zur 16

Vgl. Commission Staff, Working Document. Results of the Consultation on the Code of Conduct for Interest Representatives, SEC (2008) 1926 (27. 5. 2008). 17 KOM (2009) 612 endg., Mitteilung: Europäische Transparenzinitiative: ein Jahr seit Eröffnung des Registers der Interessenvertreter (28. 10. 2009). 18 Europäisches Parlament, Entschließung: Aufbau des Regelungsrahmens für die Tätigkeit von Interessenvertretern (Lobbyisten) bei den Organen der Europäischen Union INI/2007/ 2115 (8. 5. 2008); Europäische Kommission, Mitteilung: Europäische Transparenzinitiative. Rahmen für die Beziehungen zu Interessenvertretern (Register und Verhaltenskodex), KOM (2008) 323 endg. (27. 5. 2008); High-Level Working Group on a Common Register and Code of Conduct for Lobbyists, Joint statement regarding the progress achieved to date (22. 4. 2009), at: http://ec.europa.eu/commission_2010 – 2014/sefcovic/documents/transparency/code_of_ conduct_lobby_en.pdf [4. 7. 2011]. 19 http://europa.eu/transparency-register/index_de.htm [4. 7. 2011]. 20 http://ec.europa.eu/civil_society/interest_groups/index_de.htm [4. 7. 2011]. 21 http://ec.europa.eu/transparencyregister/public/consultation/search.do?reset=de#de [4. 7. 2011].

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vierten Kategorie gehört die Unterkategorie „Vertreter von Religionen, Kirchen und Glaubensgemeinschaften“. Der Verhaltenskodex22 betrifft die Offenlegung des Namens, das Verbot falscher und irreführender Angaben, das Verbot, Informationen auf unlautere Weise zu erschleichen und Regeln zum Verhalten gegenüber EU-Bediensteten. Register und Verhaltenskodex dienen als Grundlage für die Online-Konsultationen, die die Kommission vor Entscheidungsvorhaben nach einem Modell durchführt, das sie im Rahmen der Transparenzinitiative entwickelt hat. Was ist die Rechtsgrundlage der Transparenzinitiative? Die in Abschnitt II.1. genannten Dokumente sind nur Diskussionspapiere oder politische Absichtserklärungen. Sie haben höchstens den Charakter von Selbstverpflichtungen. Die Kommission möchte bewusst keine rechtsverbindlichen Konsultationsstandards, damit erstens eine klare Trennlinie zwischen den von der Kommission freiwillig initiierten Konsultationen und dem sich anschließenden formellen und verbindlichen Beschlussfassungsprozess besteht und damit zweitens keine Partei einen beim Gerichtshof einklagbaren Anspruch auf Konsultation ableiten kann.23 Dies entbindet die Kommission jedoch nicht von der Pflicht, ihr gesamtes Handeln auf der Grundlage des Rechts vorzunehmen (vgl. Art. 263 Abs. 1 AEUV). Die Befugnis der Kommission, bei Legislativvorhaben Konsultationen durchzuführen, um die erforderlichen Informationen einzuholen, beruht auf Art. 337 AEUV. Durch den Vertrag von Lissabon kommen Art. 11 EUV24 als Grundlage für den Dialog mit der Zivilgesellschaft und Art. 17 AEUVals Grundlage für den religiösen Dialog hinzu. Das Europäische Parlament stützt seinen Verhaltenskodex auf die Geschäftsordnung.25 Was die Kommission betrifft, so hat der Präsident die Kompetenz, über die interne Ordnung zu beschließen (Art. 17 Abs. 6 lit. b EUV). 3. Kirchen, Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften im Transparenzregister Im Register der Transparenzinitiative waren mit 11. Juni 2011 ca. 4000 Organisationen eingetragen. Die Unterkategorie „Kirchen, Religionsgemeinschaften und Glaubensgemeinschaften“ enthielt 21 Eintragungen. Nur wenige betreffen Kirchen und Religionsgemeinschaften selbst, wie etwa „Church of Sweden“, „Church of Cyprus“, „Eparchia per lÏItalia della Chiesa Ortodossa Montenegrina“. Den größten Teil der Eintragungen machen religiös inspirierte Organisationen aus, die zwar einer Kir22 http://europa.eu/transparency-register/about-register/code-of-conduct/index_de.htm [4. 7. 2011]. 23 KOM (2002) 704, Nr. IV.1. 24 Vertrag über die Europäische Union (EUV), Konsolidierte Fassung in: ABl. Nr. C 115 vom 9. 5. 2008, S. 13 – 46. 25 Art. 9 Abs. 4 Geschäftsordnung des Europäischen Parlamentes, in: ABl. Nr. L 116 vom 5. 5. 2011, S. 1 – 151.

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che oder Religionsgemeinschaft zuzurechnen sind, aber nur in einem bestimmten Sektor wie z. B. dem Sozial- oder Bildungsbereich wirken. Dazu gehören etwa „Beulah Baruch Ministries“, „Quakers and kindred animals“ und einige Ritterorden. Schließlich finden sich auch einzelne nicht-konfessionelle Weltanschauungsgemeinschaften vor allem aus dem freimaurerischen Lager. Konfessionsübergreifende, ökumenische Organisationen sind selten: Hier sind zu erwähnen die „ChurchesÐ Commission for Migrants in Europe“ und das schwedische „Ecumenical Office for EU Relations“. Einige andere sektorspezifische Organisationen mit religiöser Prägung haben sich in die Kategorie NGO und „Think tanks“ eingetragen.26 In dieser Kategorie findet sich auch das Centre Europ¦en Juif dÏInformation (CEJI, 52747712184 – 89), obwohl es eine genuin jüdische Vertretungseinrichtung darstellt. Auch der Quaker Council of European Affairs findet sich hier (3960234639 – 24). Da die Organisationen selbst bestimmen, wo sie sich eintragen, ist die Kategorisierung nicht voll aussagekräftig. Im obligatorischen Register des Europäischen Parlaments scheinen mehr religiöse Organisationen auf, auch KEK und COMECE. Dennoch ist festzustellen, dass bei weitem nicht alle Organisationen des religiös-weltanschaulichen Bereichs, die Vertretungsbüros in Brüssel unterhalten, eingetragen sind. Warum ist das Echo der Europäischen Transparenzinitiative bei religiösen Organisationen so schwach? 4. Schwierigkeiten religiöser Organisationen mit dem Register (1) Mangelnde Differenzierung von anderen im Register eingetragenen Organisationen: Die ersten Dokumente zur Transparenzinitiative bezeichneten die Adressaten als Lobbyisten.27 Davon fühlten sich Organisationen ohne Erwerbsabsicht, die sich nicht für eigene, sondern allgemeine und öffentliche Interessen der Gesellschaft einsetzen, nicht angesprochen.28 So kehrte die Kommission wieder zu dem schon früher29 verwendeten Begriff der Interessenvertreter zurück.30 26

Beispiele: Caritas Europa (6082564924 – 85), Diakonisches Werk der EKD (07483302972 – 25), Christian Aid (72909732967 – 39) usw. 27 Pr¦sident de la Commission/Membres de la Commission Wallström/Kallas/Hübner/Fischer Boel, Memorandum. Communication to the Commission proposing the launch of a European Transparency Initiative (18. 5. 2005), at: http://ec.europa.eu/civil_society/interest_groups/docs/etik-communication_en.pdf [4. 7. 2011]; Grünbuch (Anm. 12), Nr. II.1.1. 28 Vgl. EWSA, Stellungnahme (Anm. 13), Nr. 4.2.1; Beitrag von Sabine von Zanthier für die KEK anlässlich der Anhörung des EWSA (Anm. 13), S. 21; COMECE/CEC, Position Paper, Part I, at: http://ec.europa.eu/transparency/eti/docs/contributions/97_C7_Ch1_COMECE.pdf [4. 7. 2011]; COMECE, A submission concerning the consultation in view of the evaluation oft he European CommissionÏs register of interest representatives (19. 6. 2009), at: http://ec.europa.eu/transparency/eti/docs/review_process/090619_COMECE_Secretriat_contribution_register_of_interest_representatives1.pdf [4. 7. 2011]. 29 In der Mitteilung vom 2. 12. 1992 (Nr. II) hat die Kommission bereits selbst von „Interessengruppen“ als Oberbegriff für die Organisationen mit und ohne Erwerbszweck gesprochen.

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Gerade die katholische Kirche findet sich jedoch auch nicht ohne weiteres in dem umfassenderen Begriff der „Gruppen der Zivilgesellschaft“31 wieder.32 Die organisierte Zivilgesellschaft bildet eine vermittelnde Ebene zwischen den politischen Entscheidungsträgern und den einzelnen Bürgern. Die religiöse Sphäre hingegen ist kein intermediärer Bereich zwischen Staat und Bürger, sondern ist vom säkularen staatlichen Gemeinwesen unabhängig und autonom. Religionsgemeinschaften befassen sich vielmehr mit der spirituellen, ethischen und transzendenten Dimension im Menschen, die dem staatlichen Zugriff entzogen ist, was durch das Grundrecht der Religionsfreiheit ausgedrückt wird. Gerade um diese Dimension im Menschen zu schützen, treten sie mit den politischen Entscheidungsträgern in Dialog. Die Befürchtung, mit sehr unterschiedlichen Organisationen in denselben Topf geworfen und nicht in ihrer Eigenart wahrgenommen zu werden,33 mag viele Kirchen, Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften von einer Eintragung im Register abgehalten haben. (2) Keine Partikularinteressen und Einzelthemen: Wer sich in das Register einträgt, kann aus den vorgegebenen Politikbereichen Interessensschwerpunkte auswählen und wird dann vorab über Konsultationen zu diesen Themen informiert.34 Dies bringt Kirchen, Religionen und Glaubensgemeinschaften jedoch keine Vorteile, weil sich ihr Wirken nicht auf einzelne Bereiche beschränkt.35 Ihr Interesse an der Rechtsetzung der Europäischen Union liegt auf zwei Ebenen: Erstens interessieren sie sich für Maßnahmen, die ihre eigene angestammte Rechtsstellung in den Mitgliedstaaten verändern. Solche Maßnahmen sind auf praktisch allen Politikfeldern der Europäischen Union vorstellbar.36 Zweitens interessieren sie sich aufgrund 30

KOM (2007) 127 endg., Nr. 2.1.1. Vgl. KOM (2001) 428 endg.; KOM (2002) 704 endg., Nr. II. 32 Vgl. Kommissariat der deutschen Bischöfe, Stellungnahme zum Grünbuch „Europäische Transparenzinitiative“ (30. 8. 2006), at: http://ec.europa.eu/transparency/eti/docs/contributions/119_C4_Ch1_kdb.pdf [4. 7. 2011]. 33 Vgl. SEK (2007) 360 (21. 3. 2007), Nr. 2.1; SEK (2008) 1926 (27. 5. 2008), Nr. 3.1. 34 Grünbuch KOM (2006) 194 endg. (3. 5. 2006), Nr. II.3.1. 35 Die Grande Loge F¦minine de France hat 21 von insgesamt 34 möglichen Interessenschwerpunkten ausgewählt; die Auswahl des Centre Europ¦en Juif dÏInformation – 7 Schwerpunkte – mutet eher willkürlich an. 36 Zwei Beispiele sollen hier genügen: die Auswirkungen der Datenschutzrichtlinie (RL 95/46/EG, vom 24. 10. 1995 Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten und zum freien Datenverkehr, in: ABl. Nr. L 281 vom 23. 11. 1995, S. 31 – 50) auf das deutsche Kirchensteuersystem (vgl. Andreas Mösenthin, Systeme der Kirchenfinanzierung in der Europäischen Union und ihre europarechtlichen Rahmenbedingungen, in: KuR 140, S. 69 – 86, hier S. 83; Marcel Vachek, Das Religionsrecht der Europäischen Union im Spannungsfeld zwischen mitgliedstaatlichen Kompetenzreservaten und Art. 9 EMRK, Frankfurt am Main 2000, S. 358 f.) und die Auswirkungen der Gleichbehandlungsrichtlinie (RL 2000/ 78/EG vom 27. 11. 2000 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf, in: ABl. Nr. L 303 vom 2. 12. 2000, S. 16 – 22) auf das kirchliche Arbeitsrecht (vgl. Heidi Reichegger, Die Auswirkungen der Richtlinie 2000/78/EG auf das kirchliche Arbeitsrecht unter Berücksichtigung von Gemeinschafts31

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ihrer ethischen Kompetenz für alle Themen des menschlichen Lebens, soweit sie die Grundrechte, die soziale Ordnung oder die sittliche Dimension des Menschen betreffen. Sie engagieren sich durch ihre Einrichtungen auf vielen Gebieten wie Kultur, Bildung, Gesundheitsfürsorge usw. Auf dieser Ebene ist erst recht keine inhaltliche Begrenzung möglich. (3) Finanzangaben ohne Aussagekraft: Wer sich in das Register einträgt, muss Angaben über die eigene Finanzierung machen. Während Organisationen der ersten beiden Kategorien nur die Kosten für das Lobbying angeben müssen, ist von Organisationen der dritten und vierten Kategorie das Gesamtbudget verlangt.37 Diese Ungleichbehandlung ist nicht verständlich. Während gerade bei Wirtschaftsunternehmen das Gesamtbudget ein Indikator für die Größe und Stärke wäre, ist diese Angabe bei Kirchen, Religionen und Glaubensgemeinschaften wenig aussagekräftig.38 Deren finanzielle Situation ist aufgrund der verschiedenen Kirchenfinanzierungssysteme in den einzelnen Mitgliedstaaten sehr unterschiedlich.39 Viel aussagekräftiger wäre in diesem Bereich die Zahl der Mitglieder, die im Register ohnehin anzugeben ist.40 Zwei rechtliche Unterschiede gegenüber anderen Organisationen sind zu beachten: Erstens gehören die Kirchenfinanzierungsysteme zu dem Status, den Kirchen, religiöse und weltanschauliche Gemeinschaften in den Mitgliedstaaten genießen und der von der Europäischen Union nicht beeinträchtigt wird (Art. 17 Abs. 1 und 2 AEUV). Zweitens fällt die Art und Weise, wie sich die jeweilige Organisation selbst finanziert, unter die von der Religionsfreiheit geschützte Autonomie (Art. 10 GRCH41).42 Daher darf die obligatorische Angabe der Finanzverhältnisse im Register nicht zu einem Druck führen, die Finanzierung zu ändern. (4) Internet-Konsultationen sind nur ein Ansatz zu einem Dialog: Online-Konsultationen laufen in der Regel so ab, dass die Kommission einen Fragebogen zum jegrundrechten als Auslegungsmaxime, Frankfurt am Main 2005, S. 201 – 212; Gerhard Robbers, Das Verbot religiöser und weltanschaulicher Diskriminierung im Recht der Europäischen Union, in: KuR 140, S. 55 – 58). 37 KOM (2007) 127 endg. (21. 3. 2007), Nr. 2.1.3. 38 Ähnlich bei sozialen Organisationen, vgl. Bundesarbeitsgemeinschaft der freien Wohlfahrtspflege, Kapitel 1, at: ec.europa.eu/transparency/eti/docs/contributions/93_C4_Ch1_ BAGFW.pdf [4. 7. 2011]. 39 Vgl. Hans-Joachim Kiderlen, Die unterschiedlichen Systeme der Kirchenfinanzierung in Europa, in: Friedrich Fahr (Hrsg.), Kirchensteuer. Notwendigkeit und Problematik, Regensburg 1996, S. 36 – 52. 40 Die Kirche von Schweden gab die Höhe ihres Gesamtbudgets und die Zahl aller Kirchenmitglieder an. Die Kirche von Griechenland hingegen registrierte nur ihr Vertretungsbüro in Brüssel und gab nur dessen Jahresbudget und als Mitglieder nur dessen Mitarbeiter an. Dieser Vergleich zeigt, wie wenig die Eintragungen über die Repräsentativität aussagen. 41 Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GRCH), in: ABl. Nr. C 303 vom 14. 12. 2007, S. 1 – 16. 42 Auch die Kontrollinstanz, die für die im Register eingetragenen Organisationen angedacht wurde (vgl. Joint Statement [Anm. 18], Nr. 3), könnte bei religiösen Organisationen in Konflikt mit ihrer Autonomie geraten.

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weiligen Thema entwirft, der innerhalb einer bestimmten Frist im Internet beantwortet werden kann. Darauf fasst die Kommission die eingegangenen Antworten in einem Dokument zusammen, das sie dem weiteren Rechtssetzungsprozess zugrunde legt. Diese Vorgangsweise erscheint notwendig, um die Fülle an Beiträgen zu kanalisieren und zu strukturieren. Einige Punkte wurden jedoch immer wieder kritisiert. So ist für die Antworten manchmal nur ein Ankreuzen oder ein begrenztes Zeichenkontingent vorgesehen; die Zusammenfassung der Kommission glättet die Beiträge und bietet kein ausreichendes Feedback.43 Hingegen wollen gerade religiöse und weltanschauliche Gemeinschaften nicht nur Kurzinformationen oder technische Daten, sondern auch Erläuterungen und strukturierte Argumentationen weitergeben. Sie wünschen einen echten Dialog, der eine Auseinandersetzung in beiden Richtungen einschließt.44 5. Neue Entwicklungen Die seit Längerem geplante Zusammenführung der bisher getrennten Register der Kommission und des Parlaments nimmt allmählich Gestalt an. Nachdem das Parlament am 11. Mai 2011 einen entsprechenden Beschluss45 gefasst hatte, ist die Interinstitutionelle Vereinbarung46 zwischen Kommission und Parlament am 27. Juni 2011 in Kraft getreten.47 Damit erhält das Register nun eine klare Rechtsgrundlage. Das Instrument der Interinstitutionellen Vereinbarung wurde durch den Vertrag von Lissabon gestärkt (Art. 17 Abs. 1 EUV, Art. 295 AEUV). Mit dem neuen Register ist nicht nur eine Zusammenlegung, sondern auch eine inhaltliche Verbesserung angestrebt, die einigen Anliegen der Kirchen und Religionsgemeinschaften entgegenkommt. „Der Kommission und dem Parlament ist es gelungen, die Kirchen und ihre Vertretungen mitsamt ihrer Identität und ihrem Selbstverständnis erfolgreich in das neue Register zu integrieren.“48 Sie fallen nicht mehr nur in eine Unterkategorie der „Anderen Organisationen“, sondern bilden die eigene Kategorie V: „Organisationen, die Kirchen und Religions43 Vgl. SEK (2007) 360 (21. 3. 2007), Nr. 3.2.2.5; SEK (2008) 1926 (27. 5. 2008), Nr. 3.1; COMECE/CEC, Position Paper (Anm. 28), Part II., Quaker Council, Chapter II, ec.europa.eu/ transparency/eti/docs/contributions/0_C7_Ch2_QCEA.pdf [4. 7. 2011]. 44 Vgl. Weninger, Europa (Anm. 5), S. 86 f. 45 Europäisches Parlament, Beschluss 2010/2291(ACI): Zum Abschluss einer Vereinbarung zwischen dem Europäischen Parlament und der Kommission über ein gemeinsames Transparenzregister (11. 5. 2011), at: http://www.europarl.europa.eu/sides/getDoc.do?pub Ref=-//EP//TEXT+TA+P7-TA-2011-0222+0+DOC+XML+V0//DE [4. 7. 2011]. 46 http://europa.eu/transparency-register/pdf/agreement-transparency-register_de.pdf [4. 7. 2011]. 47 Die neue Internet-Seite des Transparenzregisters führt beide Register noch parallel an: http://europa.eu/transparency-register/index_de.htm [4. 7. 2011]. 48 Alessandro Calcagno, Transparenzregister: neue Aussichten für das EU-Recht und die Politikgestaltung, in: europeinfos 139 (2011), S. 5.

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gemeinschaften vertreten“, womit ihre Eigenart stärker beachtet wird. Außerdem ist nun klar gestellt, dass nicht die Kirchen und Religionsgemeinschaften selbst zur Eintragung aufgefordert sind, sondern nur deren Vertretungseinrichtungen bei der Europäischen Union (Nr. 11 der Vereinbarung). Die Registrierung ist weiterhin freiwillig, auch wenn das Parlament auf eine Verbindlichmachung drängt (Nr. 5 des Beschlusses). Der erste Eintrag in diese Kategorie betrifft eine ungarische Organisation, die sich für benachteiligte Gruppen einsetzt, also eine sektorspezifische soziale Organisation.49 Die COMECE zog eine Eintragung jedoch in Erwägung.50 Inzwischen ist das Sekretariat der COMECE eingetragen. Außerdem wird das Register nun schlicht in „Transparenz-Register“ umbenannt. Die Bezeichnung „Register der Interessenvertreter“, die immer Anlass zur unglücklichen Gleichsetzung mit „Lobbyisten“ gegeben hat, verschwindet somit. Überdies werden die anzugebenden Informationen nun klarer definiert. Bei der Angabe der Mitglieder wird unterschieden zwischen der Anzahl der Personen, die unmittelbar an der Vertretungstätigkeit beteiligt sind, und den Mitgliedern, aus denen sich die Organisation insgesamt zusammensetzt (vgl. Anhang 2 der Vereinbarung). Die finanziellen Informationen beschränken sich nun eindeutig auf das Gesamtbudget der Vertretungseinrichtung als solcher. Die wichtigste Veränderung liegt aber schließlich darin, dass das Transparenzregister dem Dialog mit der Zivilgesellschaft gemäß Art. 11 Abs. 2 EUV zugeordnet wird51 und dass die speziellen Dialogtypen, die eine eigene Rechtsgrundlage im Primärrecht haben, davon ausgenommen sind. Dazu gehören der Dialog mit den Sozialpartnern, der Dialog mit lokalen und regionalen kommunalen Behörden und eben auch der Dialog mit den Kirchen, Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften, der in Art. 17 Abs. 3 AEUV gesondert verankert ist (vgl. Nr. 11 der Vereinbarung).52 Während im Register also nur die Eintragung der Vertretungseinrichtungen vorgesehen ist, wird den Kirchen und Religionsgemeinschaften als solchen eine eigene Dialogform angeboten. Diese ist im Folgenden genauer zu beleuchten. III. Der religiöse Dialog gemäß Art. 17 Abs. 3 AEUV 1. Eine zweite Art von Dialogverfahren Die Idee, dass neben den für alle Interessierten offenen Konsultationsverfahren, wie sie mit der Transparenzinitiative angestrebt sind, eine zweite, zielgerichtete Art 49

Nr. 31103463775 – 94: Mi Magunk-Saj‚tmagunk¦rt Egyesület. Pressemitteilung vom 11. 5. 2011, at: http://www.comece.org/site/de/presse/pressemitteilungen/newsletter.content/1344.html [4. 7. 2011]. 51 So die Präambel der Vereinbarung. 52 Das Parlament begrüßt ausdrücklich, dass diese Akteure aufgrund ihrer sich aus den Verträgen ergebenden institutionellen Rolle vom Geltungsbereich des Registers ausgenommen sind (Nr. 7c des Beschlusses). 50

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von Dialogverfahren eingerichtet werden könnte, war immer wieder präsent, wartete aber längere Zeit auf ihre Verwirklichung. Im Weißbuch „Europäisches Regieren“ hat die Europäische Kommission angekündigt, für bestimmte Organisationen zusätzliche Konsultationen durchzuführen.53 In den beiden Mitteilungen des Jahres 2002 hob sie die zielgerichteten Konsultationsverfahren von den offenen ab.54 Das offene Konsultationsverfahren steht online allen interessierten Organisationen und einzelnen Bürgern zur Verfügung, während beim zielgerichteten Konsultationsverfahren vorab festgelegte Zielgruppen zu speziellen Konsultationsforen wie z. B. Anhörungen eingeladen werden. Zur dafür nötigen Auswahl der Konsultationspartner verwies die Mitteilung auf die Kriterien des EWSA.55 Als die Transparenzinitiative gestartet war, schien der Kommission eine Forcierung der zielgerichteten Verfahren hingegen nicht mehr erstrebenswert.56 Dennoch wies auch die Mitteilung 2008 noch auf spezielle, eigenständige Dialogverfahren hin, nämlich auf den sozialen Dialog und auf den Dialog mit den regionalen und lokalen Gebietskörperschaften.57 Da an einem zielgerichteten Konsultationsverfahren nur repräsentative Organisationen teilnehmen, wäre davon ein tieferer und effizienterer Dialog zu erwarten. Eine auf den religiösen Bereich zugeschnittene zielgerichtete Konsultation könnte die Besonderheiten der hier tätigen Organisationen besser berücksichtigen. Gewiss stellt die damit verbundene Notwendigkeit, die Zahl der Dialogpartner zu begrenzen, eine Schwierigkeit dar, die jedoch nicht unüberwindlich ist, wie die Auswahlkriterien des EWSA beweisen. Da sich die Repräsentativität von Organisationen im religiösen Bereich anders bemisst als etwa im wirtschaftlichen, wären hier jedoch teilweise andere Kriterien erforderlich. Die Diskussion um eine eigene Dialogstruktur für die Kirchen, Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften führte inzwischen zu einem eindrucksvollen Ergebnis. Der neue, durch den Vertrag von Lissabon seit 1. Dezember 2009 ins Primärrecht der EU eingefügte Art. 17 Abs. 3 AEUV verpflichtet die Europäische Union zu einem Dialog mit den Kirchen, religiösen und weltanschaulichen Gemeinschaften.

53

KOM (2001) 428 endg., S. 3 u. 14. KOM (2002) 277 endg., S. 8; KOM (2002) 704 endg., Nr. IV. 55 KOM (2002) 704 endg., Nr. IV. 56 Vgl. die Antwort des Vertreters der Kommission, Nymand Christensen, auf die entsprechende Frage des Vertreters der COMECE, Henrik Lesaar, anlässlich der Anhörung des EWSA (Anm. 13), S. 50. 57 KOM (2008) 323 endg., Nr. 1.1 et 1.2 ; Auf die Eigenständigkeit des letztgenannten Dialogs achtete vor allem der AdR in seiner Stellungnahme (Anm. 14, Nr. 3.1, 3.3 – 3.5 und 4.2). 54

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Diese Bestimmung, die in der Literatur sehr begrüßt wird,58 lässt eine neue Entwicklung erwarten. 2. Die Auslegung des Art. 17 Abs. 3 AEUV (1) Art. 17 Abs. 3 AEUV als „allgemein geltende Bestimmung“: Art. 17 befindet sich im Titel II „Allgemein geltende Bestimmungen“ am Anfang des AEUV. Dies macht deutlich, dass die Vorschrift gleichsam wie ein „Ausdruck vor der Klammer“ für alle Einzelbestimmungen von Bedeutung ist: für sämtliche Politikbereiche, für das Handeln aller Organe, für alle Gesetzgebungsverfahren usw. Damit ist klargestellt, was in der Transparenzinitiative noch nicht so deutlich zum Vorschein kam, nämlich dass die Kirchen, religiösen und weltanschaulichen Gemeinschaften keine Partikularinteressen vertreten, sondern sich für das gesamte politische Handeln interessieren. Im Unterschied zur Transparenzinitiative, die zunächst ein Projekt der Kommission war, bezieht sich der Dialogartikel des AEUV von vornherein auf alle Organe und Einrichtungen der Europäischen Union.59 (2) Anerkennung der Identität und des besonderen Beitrags: Die besondere Eigenart der Kirchen, religiösen und weltanschaulichen Gemeinschaften kommt nicht nur darin zum Ausdruck, dass sie nicht im zivilen Dialog, der in Art. 11 Abs. 2 EUV verankert ist, aufgehen und einen eigenen Dialogartikel erhalten haben60, sondern auch darin, dass die Europäische Union verpflichtet ist, den religiösen Dialog in Anerkennung der Identität und des besonderen Beitrags der Gesprächspartner zu führen.61 Das bedeutet, dass die Eigenart geachtet wird, die sie von anderen 58

Z. B. Giuseppe Casuscelli, Stati e religioni in Europa: problemi e prospettive, in: Stato, Chiese e pluralismo confessionale 6 (2009), S. 1 – 16, hier S. 2; Peter Häberle, Europäische Verfassungslehre, Baden-Baden 62009, S. 708; Matteo Lugli/Jlia Pasquali Cerioli/Ingrid Pistolesi, Elementi di diritto ecclesiastico europeo. Principi – modelli – giurisprudenza, Torino 2008, S. 18 f. 59 Dies bedeutet noch nicht, dass alle dieselben Konsultationsstandards benützen müssen. Für Kommission und Parlament mag dies sinnvoll sein. Die Kontakte zum Rat und zum Europäischen Rat, der durch den Vertrag von Lissabon ebenfalls zu einem Organ erhoben wurde (Art. 13 Abs. EUV), werden voraussichtlich eher über die Regierungsmitglieder der Mitgliedstaaten erfolgen, aus denen sie sich zusammensetzen. 60 Vgl. COMECE, Submission (Anm. 28). Markus Graulich, Christentum und Europa – die Perspektive des kanonischen Rechts, in: Günter Buchstab/Rudolf Uertz (Hrsg.), Was eint Europa? Christentum und kulturelle Identität, Freiburg 2008, S. 72 – 94, hier S. 83 f. Classen bezweifelt zunächst den eigenständigen Sinn des Art. 17 Abs. 3 AEUV (Rdnr. 12), hebt ihn dann aber doch von jenem ab (Rdnr. 24 und 46): Claus Dieter Classen, Art. 17 AEUV: Religiöse und weltanschauliche Gemeinschaften, in: Eberhard Grabitz/Meinhard Hilf/Martin Nettesheim (Hrsg.), Kommentar zur Europäischen Union. Das Recht der Europäischen Union (Loseblatt), München, 41. EF Juli 2010. 61 Vgl. Jean-Paul Durand, Die strukturierten Beziehungen zwischen den Kirchen und Religionsgemeinschaften und den Organen der Europäischen Union, in: Richard Puza/Stefan Ihli (Hrsg.), Kirchen und Religionsgemeinschaften als „Motoren Europas“. Bausteine zu einem Europäischen Religionsrecht, Berlin 2007, S. 219 – 226; Venerando Marano, Patrimonio religioso e dialogo con le Chiese nellÏUnione Europea, in: Gruppo italiano docenti di diritto canonico (Hrsg.), Libert— religiosa e rapporti Chiesa – societ— politiche (XXXIII In-

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interessierten Kreisen wie etwa Wirtschaftsunternehmen unterscheidet, aber auch die jeweilige Eigenart, durch die sie sich auch untereinander unterscheiden. Damit ist der notwendigen Differenzierung Rechnung getragen worden, die bei der Transparenzinitiative noch zu kurz gekommen ist. (3) Dialog: Art. 17 Abs. 3 AEUV spricht ausdrücklich von einem „Dialog“. Alle bereits bestehenden Formen der Kontaktnahme einschließlich der von der Transparenzinitiative vorgesehenen Internetkonsultationen können als Elemente eines solchen Dialogs angesehen werden. Der Begriff des Dialogs geht aber darüber hinaus und meint einen umfassenden Austausch. Die Regelmäßigkeit, die Art. 17 Abs. 3 ebenfalls verlangt, lässt rein punktuelle Befragungen nicht genügen. Damit ist ein weiteres Anliegen, das die religiösen Organisationen gegenüber der Transparenzinitiative geltend machten, erfüllt. (4) „Offenheit“ des Dialogs: Der religiöse Dialog soll nach Art. 17 Abs. 3 AEUV „offen“ sein. Dies kann mehrerlei bedeuten: Offenheit im Sinne des Respekts vor der Freiheit der Teilnehmer und bei der Gestaltung der Tagesordnung;62 oder Offenheit im Sinne eines offenen Verfahrens, einer offenen Gesprächsatmosphäre oder der Ergebnisoffenheit.63 In Hinblick auf die Transparenzinitiative interessiert hier vor allem die Frage, ob „Offenheit“ im Sinne eines „offenen Konsultationsverfahrens“ gemeint ist oder ob auch „zielgerichtete Konsultationsverfahren“ eingeschlossen sind. Nach einer Erklärung auf der Internetseite der Kommission heißt „offen“, dass jeder, der es wünscht, am Dialog teilnehmen kann.64 Das kann jedoch nicht bedeuten, dass es neben offenen Dialogformen nicht auch zielgerichtete geben könnte. Ziel des Art. 17 AEUV ist es nicht, bewährte Strukturen wie gemeinsame Dialogseminare oder die jährlichen Treffen mit dem Kommissionspräsidenten, an denen naturgemäß nur ein begrenzter Kreis teilnehmen kann, unmöglich zu machen, sondern im Gegenteil sie auf eine solide rechtliche Basis zu stellen. Die Begriffe „Kirchen“ usw. setzen ohnehin eine Abgrenzung von Gemeinschaften voraus, die nicht darunter fallen.65 Ein weiteres Ziel, das mit einem eigenen Artikel für den religiösen Dialog verfolgt wurde, bestand darin, diesen stärker vom allgemeinen Dialog mit der Zivilgesellcontro di Studio, 3. – 7. 7. 2006), Milano 2007, S. 209 – 222, hier S. 221; Êtienne de Poncins, Le trait¦ de Lisbonne en vingt-sept cl¦s, Paris 2008, S. 92 f.; Schnabel, Geschichte (Anm. 6), S. 283; Weninger, Europa (Anm. 5), S. 212. 62 Durand, Beziehungen (Anm. 61), S. 223. 63 Gerhard Robbers, Der Dialog zwischen der Europäischen Union und den Kirchen, in: Wilhelm Rees (Hrsg.), Recht in Kirche und Staat. Joseph Listl zum 75. Geburtstag, Berlin 2004, S. 753 – 759, hier S. 755 f. 64 http://ec.europa.eu/dgs/policy_advisers/activities/dialogues_religions/index_fr.htm [4. 7. 2011]. Auch Robbers (Dialog, Anm. 63, S. 755) äußerte sich im Sinne einer Offenheit für möglichst viele Teilnehmer (ebd.). Dagegen jedoch Marano, Patrimonio (Anm. 61), S. 222. 65 Sogar bei der „offenen“ Transparenzinitiative stellt sich die Frage, wer in die entsprechende Unterkategorie fällt und wer nicht.

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schaft abzuheben, um einen substantielleren und konsequenteren Dialog zu ermöglichen. Aber selbst der Dialog mit der Zivilgesellschaft setzt, obwohl er von vornherein weiter gefasst ist als der religiöse Dialog, gemäß Art. 11 Abs. 2 EUV ausdrücklich die Repräsentativität der Gesprächspartner voraus. Einhelligkeit besteht darüber, dass Gruppen, die in Hinblick auf die öffentliche Sicherheit und Ordnung problematisch sind oder zweifelhafte Ziele verfolgen, nicht in den Genuss des religiösen Dialogs kommen können.66 Die Qualifizierung des Dialogs als „transparent“ und „offen“ dient gerade auch dazu, derartige Missbräuche auszuschließen.67 Die Wendung „in Anerkennung ihrer Identität und ihres spezifischen Beitrags“ bedeutet auch, dass die Identität der Gesprächspartner geprüft wird und eine Zulassung je nach Eignung zu einem Beitrag erfolgen kann.68 Außerdem werden schon Gründe der praktischen Durchführbarkeit sowie der sachlichen Notwendigkeit und Effizienz eine Begrenzung der Teilnehmerzahl unvermeidlich machen. Dies wiederum motiviert die Dialogpartner zur Koordination und Kooperation, um möglichst deutlich mit einer Stimme sprechen zu können. 3. Entwicklungsperspektiven Die Bestimmung des Art. 17 Abs. 3 AEUV lässt bewusst einen Freiraum für die konkrete Ausgestaltung des Dialogs. Zunächst werden die bestehenden Gepflogenheiten weitergeführt werden. Im Laufe der Zeit können sie aber ergänzt und ausgebaut werden. Dabei kommt es den Dialogpartnern selbst zu, Vorschläge zu unterbreiten. In diesem Sinne haben COMECE und KEK ein gemeinsames Dokument ausgearbeitet.69 Darin fordern sie „multiple entry points“ für den Dialog, d. h. dass es auf Seiten der Europäischen Union nicht nur eine einzige Anlaufstelle geben soll. Neben der Kommission und der jeweiligen Ratspräsidentschaft sollten auch die anderen Institutionen für den Dialog zur Verfügung stehen. Auf Seiten der Kirchen sollen sowohl die Mehrheits- als auch die Minderheitskirchen einbezogen werden. Schließlich erläutern KEK und COMECE ihr Verständnis der Begriffe „offen, transparent und regelmäßig“.

66 Vgl. Durand, Beziehungen (Anm. 61), S. 223; Marano, Patrimonio (Anm. 61), S. 222; Poncins, Trait¦ (Anm. 61), S. 92. 67 Weninger, Europa (Anm. 5), S. 217. 68 In diese Richtung deutet Poncins, Trait¦ (Anm. 61), S. 92. 69 COMECE/CEC-CSC, Article 17 of the Treaty on the functioning of the European Union. General Considerations on the implementation of the dialogue foreseen by its paragraph 3 (27. 4. 2010), at: http://csc.ceceurope.org/fileadmin/filer/csc/European_Integration/ 20100427_COMECE-CSC_Proposal_on_Article_17_TFEU.pdf [4. 7. 2011].

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Die KEK hat zusätzlich ein Dokument mit Vorschlägen zu konkreten Verfahrensregeln eingereicht.70 Demzufolge soll der Ratspräsident einen Verantwortlichen für den religiösen Dialog benennen („facilitator“). In ähnlicher Weise soll es im Europäischen Parlament fixe Ansprechpartner geben. Dabei könnte die Aufgabenumschreibung der Verantwortlichen der jeweiligen Organe nach dem Muster von BEPA erfolgen. Ein jährliches Treffen müsste außerdem mit dem Hohen Vertreter für Außen- und Sicherheitspolitik eingerichtet werden, einem Amt, das durch den Vertrag von Lissabon neu geschaffen wurde (Art. 18 EUV). Das bestehende Treffen mit den Präsidenten der Kommission, des Parlaments und des Rates sollte in Zukunft zweimal jährlich stattfinden. Treffen mit den Regierungen, die nach dem Rotationsprinzip die Ratspräsidentschaften übernehmen, müssten hinzukommen. Schließlich wünscht die KEK regelmäßige Informationstreffen über das Gesetzgebungsprogramm und die jährliche Politik der Kommission und beabsichtigt, die Praxis der Dialogseminare, die von der Kommission, der COMECE und der KEK organisiert werden, auf andere Organe der Union auszuweiten. Wie sich diese Vorschläge in die Praxis umsetzen lassen, wird von den Vorstellungen der Unionsorgane abhängen. Am 14. 10. 2010 fand ein Treffen mit der EURatspräsidentschaft statt, bei dem die Implementierung des Dialogs thematisiert wurde.71 Diese Art von Treffen hat selbst schon eine längere Tradition und wurde nun im Rahmen des Art. 17 Abs. 3 AEUV abgehalten. 4. Vergleich der beiden Dialogformen Das Hervorheben des religiösen Dialogs durch den Vertrag von Lissabon bietet die Chance, Repräsentativitätskriterien72 zu entwickeln, die speziell auf den religiös-weltanschaulichen Bereich zugeschnitten sind und damit Probleme vermeiden, wie sie bei den Angaben aufgetreten sind, die im Register der Transparenzinitiative zu machen sind. Dass die Europäische Union den Status, den die religiösen und weltanschaulichen Organisationen in den Mitgliedstaaten genießen, gemäß Art. 17 Abs. 1 und 2 AEUV achten muss, bedeutet nicht, dass sie keine Voraussetzungen für den Zugang zum Dialog nach Abs. 3 festlegen könnte.73 Vielmehr 70 KEK Präsidium, Attuazione dellÏart. 17, parte seconda (Juli 2010), vollständig wiedergegeben bei: Gianni Long, La Conferenza delle chiese europee (KEK) e lÏattuazione del Trattato di Lisbona, in: Stato, Chiese e pluralismo confessionale, febbraio 2011, S. 1 – 13, hier S. 11 – 13. 71 COMECE/KEK, Pressemitteilung vom 14. 10. 2010: Vertreterinnen und Vertreter der Kirchen treffen sich mit der belgischen EU-Präsidentschaft, at: http://www.comece.org/content/site/de/presse/pressemitteilungen/index3.html [4. 7. 2011]. 72 Burkhard Josef Berkmann, Katholische Kirche und Europäische Union im Dialog für die Menschen. Eine Annäherung aus Kirchenrecht und Europarecht, Berlin 2008, S. 270 – 278. 73 Für Kriterien bereits das Europäische Parlament in: Entschließung zu den Menschenrechten im Jahr 2002 weltweit und die Menschenrechtspolitik der Europäischen Union (2002/ 2011(INI)), in: ABl. Nr. C 76E vom 25. 3. 2004, S. 386 – 412, Nr. 137. Nach Ansicht des

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schließt die Verpflichtung zum Dialog implizit auch die Befugnis ein, die Dialogpartner zu identifizieren.74 Würde die Europäische Union einfach jene Gemeinschaften zulassen, die von den Mitgliedstaaten anerkannt worden sind75, so könnte sie den speziellen Erfordernissen, die der religiöse Dialog gerade auf der europäischen Ebene mit sich bringt, nicht Rechnung tragen. Damit würden wieder nationale Gemeinschaften statt europäischen Zusammenschlüssen gefördert. Außerdem ist die Anerkennungspraxis der Mitgliedstaaten zu uneinheitlich und sogar widersprüchlich.76 Als eine Zulassungsvoraussetzung ist auch denkbar, von jeder Gemeinschaft zu verlangen, die anderen zu respektieren. So wirkt sich eine Bedingung, die das Verhältnis zwischen der Union und ihren Dialogpartnern bestimmt, auch auf das Verhältnis unter diesen aus. Das heißt freilich nicht, dass die verschiedenen Glaubenslehren anerkannt werden müssten, denn darin besteht ja gerade die religiöse Vielfalt, dass jede Religionsgemeinschaft eine eigene Lehre vertritt, die sie für die wahre hält und die sie so sehr kennzeichnet, dass sie ihre Identität verlöre, wenn sie eine andere Lehre annähme.77 Wie ist nun das Verhältnis zwischen der Europäischen Transparenzinitiative und dem religiösen Dialog nach Art. 17 Abs. 3 AEUV zu sehen? Die Transparenzinitiative und der religiöse Dialog ergänzen sich sinnvoll. Dieser macht jene nicht überflüssig. Die Beteiligung der Bevölkerung an der Entscheidungsfindung in der Europäischen Union braucht sowohl ein offenes als auch ein spezifisches Dialogangebot. Gerade weil es Konsultationsverfahren gibt, die für alle Interessierten offen sind, lässt es sich rechtfertigen, dass auch Dialogformen gepflegt werden, die stärker auf bestimmte Adressaten und Themen fokussiert sind. So können die Vorteile beider Wege kombiniert werden.

Parlaments sollte der religiöse Dialog jedoch mit lokalen Gemeinschaften geführt werden, was aber wohl an Grenzen der Durchführbarkeit stoßen wird. 74 Vgl. Classen, Art. 17 AEUV (Anm. 60), Rdnr. 19; Durand, Beziehungen (Anm. 61), S. 222: Der Dialog setzt immer eine Identifizierung der jeweiligen Partner voraus. Der Dialog verlangt nach offizieller und autorisierter Information. Diese wiederum verlangt die Zulassung dazu berechtigter Gesprächs- und Verhandlungspartner. 75 So der Vorschlag von Poncins, Trait¦ (Anm. 61), S. 92. Nicht eindeutig Robbers (Dialog [Anm. 63], S. 755), der zuerst für einen eigenen unionsrechtlichen Begriff von Kirchen, Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften plädiert, dann aber alle zulassen will, die in einem Mitgliedstaat anerkannt oder respektiert sind. 76 Berkmann, Kirchen (Anm. 72), S 253 – 258. 77 Ventura ist somit zuzustimmen, dass die religiösen Gesprächspartner akzeptieren müssen, formal auf gleicher Ebene zu stehen und das gleiche Gewicht zu haben, doch geht er zu weit, wenn er auch die Bereitschaft zur gegenseitigen Zusammenarbeit verlangt (Marco Ventura, La Laicit— dellÏUnione Europea. Diritti, mercato, religione, Torino 2001, S. 203).

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5. Der grundrechtliche Rahmen für die beiden Dialogformen Auch der grundrechtliche Rahmen der Europäischen Union hat sich mit dem Vertrag von Lissabon geändert. Über die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK)78 und die gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten79 hinaus verweist der neue Art. 6 EUV nun auch auf die Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GRCH), die damit denselben rechtlichen Rang wie die Verträge erhält.80 Außerdem verpflichtet sich die Union, der Menschenrechtskonvention beizutreten.81 Soweit die Charta Rechte enthält, die Rechten der Konvention entsprechen, haben sie die gleiche Bedeutung und Tragweite wie in der Konvention, doch kann die Europäische Union einen höheren Schutz gewähren (Art. 52 Abs. 3). Zur Auslegung der Unionsgrundrechte kann somit auch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) herangezogen werden. Wie ist das Verhältnis der beiden Arten von Konsultationsverfahren – dem offenen und dem zielgerichteten – zu den Grundrechten zu sehen? Eine für alle interessierten Kreise offene und gleichzeitig freiwillige Registrierung, wie sie die Transparenzinitiative vorsieht, scheint die Religionsfreiheit und das Nichtdiskriminierungsprinzip auf den ersten Blick am wenigsten zu beeinträchtigen. Wie sich jedoch gezeigt hat, kann die mangelnde Beachtung der Eigenart dieser Organisationen zu Spannungen mit der korporativen Religionsfreiheit führen. Aber auch eine zielgerichtete Konsultation kann die Religionsfreiheit beeinträchtigen, wenn die Zugangskriterien die religiöse Eigenart nicht berücksichtigen. Am besten scheint daher ein speziell auf religiöse und weltanschauliche Organisationen zugeschnittener zielgerichteter Dialog beiden Prinzipien zugleich gerecht zu werden. Dies ermöglicht nun Art. 17 Abs. 3 AEUV. Auf die Repräsentativität der Dialogpartner zu achten, entspricht einem grundlegenden demokratischen Prinzip82 und verletzt das Diskriminierungsverbot nicht, wenn zwei Bedingungen eingehalten werden. Nach der jüngsten Rechtsprechung des EGMR ist ein privilegierter Status für einzelne Religionsgemeinschaften nämlich dann zulässig, wenn erstens jede Gemeinschaft, die es wünscht, diesen Status beantragen kann und wenn zweitens die Voraussetzungen für die Verleihung dieses

78

Nr. 5.

Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (4. 11. 1950), in: ETS

79 Bernhard Schima, Grundrechtsschutz, in: Waldemar Hummer/Walter Obwexer (Hrsg.), Der Vertrag von Lissabon, Baden-Baden 2009, S. 325 – 342, hier S. 330 f.; Elena SchulteHerbrüggen, Der Grundrechtsschutz in der Europäischen Union nach dem Vertrag von Lissabon, in: ZEuS 12 (2009), S. 343 – 377, hier S. 352 – 357. 80 Vgl. Albrecht Weber, Vom Verfassungsvertrag zum Vertrag von Lissabon, in: EuZW 19 (2008), S. 7 – 14, hier S. 8. 81 Schulte-Herbrüggen, Grundrechtsschutz (Anm. 79), S. 359 f. 82 Vgl. EWSA, Stellungnahme (14. 2. 2006), Nr. 3.1.

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StatusÐ sachlich und verhältnismäßig sind.83 Zulässig ist etwa eine Differenzierung nach der Größe84 oder historischen Bedeutung und Tradition85, während das Kriterium der Bewährung über einen längeren Zeitraum86 auf Bedenken stößt. Das Prinzip der selektiven Kooperation des Staates mit den Religionsgemeinschaften prägt einen großen Teil der Mitgliedstaaten der Europäischen Union und kann sogar als ein Grundprinzip für ein supranationales Religionsrecht angesehen werden.87 In Art. 17 Abs. 3 AEUV würde die Klausel „in Anerkennung […] ihres besonderen Beitrags“ eine Grundlage für eine Differenzierung bieten. Wie auch immer der Dialog in Zukunft konkret ausgestaltet werden mag, es steht fest, dass das Verhältnis der Europäischen Union zu den Kirchen, Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften vom Prinzip des Dialogs geprägt sein wird. Das bedeutet ein neues System der Koordinierung von weltlicher und geistlicher Sphäre, das den religiösen und weltanschaulichen Pluralismus umfängt und auf gegenseitige Verständigung und Kooperation ausgerichtet ist.88 Hans Paarhammer hat mit Blick auf Österreich schon im Jahr 1985 betont, dass die Probleme, die beide Sphären berühren, „nur mit Vertrauen, gegenseitiger Achtung und insbesondere mittels eines sachlichen Dialogs gelöst werden können“89. So ist nun im Sinne des Jubilars sehr zu wünschen, dass diese Erkenntnis auch auf europäischer Ebene Früchte trägt.

83 EGMR, Nr. 40825/98, Zeugen Jehovas (31. 7. 2008), Rdnr. 92; EGMR, Nr. 33001/03, Koppi (10. 12. 2009), Rdnr. 33. 84 EKMR, Nr. 8160/78, X (12. 3. 1981), Rdnr. 28; EGMR, Nr. 13470/87, Otto-PremingerInstitut (20. 9. 1994), Rdnr. 52 und 56; EGMR, Nr. 65501/01, Vergos (24. 6. 2004), Rdnr. 36 und 40 f. Vgl. Classen, Art. 17 AEUV (Anm. 60), Rdnr. 50. 85 EGMR, Nr. 15472/02, Folgerø (29. 6. 2007), Rdnr. 89; Nr. 1448/04, Zengin (9. 10. 2007), Rdnr. 63; EGMR Große Kammer, Nr. 30814/06, Lautsi (18. 3. 2011), Rdnr. 71. 86 EGMR, Zeugen Jehovas (Anm. 83), Rdnr. 98; EGMR, Nr. 76581/01, Christengemeinschaft (26. 2. 2009), Rdnr. 44; EGMR, Nr. 76836/01 und 32782/03, Kimlya (1. 10. 2009), Rdnr. 98. 87 Richard Puza, Sind wir auf dem Weg zu einem europäischen Religionsrecht? Mit einem Hinweis zur Zivilreligion, in: Puza/Ihli, Kirchen (Anm. 61), S. 251 – 286, hier S. 273. 88 Vgl. Nicola Colaianni, Religioni e ateismi: una complexio oppositorum alla base del neo-separatismo europeo, in: Stato, Chiese e pluralismo confessionale, giugno 2011, S. 1 – 16, hier S. 15. 89 Hans Paarhammer, Kirche und Staat in der Zweiten Republik, in: Franz Pototschnig/ Alfred Rinnerthaler (Hrsg.), Im Dienst von Kirche und Staat. In memoriam Carl Holböck, Wien 1985, S. 557 – 576, hier S. 575.

Säkularisierung im Lichte der europäischen Integration Von Heinrich Neisser I. Säkularisierung als Phänomen des Wandels Die Einigung Europas begann nach dem Zweiten Weltkrieg. Sie vollzog sich in Schritten, die das europäische Projekt voranbrachten. Die Startphase bestand in der Gründung von drei sektoriellen Wirtschaftsgemeinschaften, die als supranationale Einheiten Grundlage eines zukünftigen Wandels wurden. Es waren dies die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (1952) sowie die durch die Römischen Verträge geschaffene Europäische Wirtschaftsgemeinschaft und die Europäische Atomgemeinschaft (1957). Aus ihnen heraus entwickelte sich in einem langjährigen Prozess der Vertiefung und der Erweiterung die Europäische Union, die als politische Gemeinschaft heute 27 Mitgliedstaaten umfasst. Ausgelöst durch die 1989 begonnenen Transformationsprozesse in den mittel- und osteuropäischen Ländern zu demokratischen Systemen und marktwirtschaftlichen Ordnungen hat die europäische Integration zu einer umfassenden Gemeinschaft des europäischen Kontinentes geführt, in der jedoch die Heterogenität der Mitgliedstaaten zum Teil größer wurde. Neben dem Prozess der europäischen Integration fand gleichsam parallel eine Säkularisierung Europas statt, die die europäischen Gesellschaften in rasanter und tiefgreifender Weise änderte. Die Säkularisierung Europas wurde eine soziale Tatsache. Sie hat allerdings nicht zu einem Verschwinden der Religionen geführt. Die europäische Bevölkerung nimmt heute weniger denn je an traditionellen Religionsausübungen teil, sie ist in ihren religiösen Einstellungen individualistischer geworden. Eine religiöse Individualisierung hat sich verbreitet, die zu einem „Glauben ohne Bindung“ führte.1 Nach wie vor sind bei den Europäern eine „säkulare“ und „christliche“ kulturelle Identität in komplexer Weise miteinander verbunden. Der jahrzehntelange Säkularisierungsprozess hat zunächst unmittelbare Auswirkungen in den politischen Systemen der Mitgliedstaaten gehabt. Seit der Integrationsprozess zum Entstehen einer politischen Union führte, die sich als Wertegemeinschaft definiert, hat die Auseinandersetzung mit den Religionsgemeinschaften und mit religiösen Fragen einen neuen Stellenwert gewonnen. Die Ursachen dafür liegen unter anderem darin, dass Säkularisierungsprozesse nicht, wie schon erwähnt, zu einem Verschwinden der Religion 1 Jos¦ Casanova, Der Ort der Religion im säkularen Europa, in: Transit. Europäische Revue 27 (2004), S. 86 – 106, hier S. 86.

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geführt haben. Der Verlust des Deutungsmonopols institutionell verfasster Religion hatte nicht den Rückzug der Religion im Allgemeinen zur Folge. Manche meinen, dass die Säkularisierung geradezu zu einer Renaissance des Religiösen und zu einem Universalismus des religiösen Verständnisses geführt habe. Es ist nicht zu bestreiten, dass auch heute Religion für viele Menschen Antworten bietet, die sich bewährt haben. Doch darf der Einfluss der Religionen nicht überschätzt werden. Diese haben in der modernen Gesellschaft nicht mehr die Funktion eines gesellschaftlichen Zusammenhalts und einer Legitimierung von Herrschermacht. Obwohl Säkularisierung ein vielschichtiger Prozess ist, lässt sich ihre Grundstruktur relativ leicht identifizieren. Die Welt wird nicht mehr als sinnhafte und legitim empfundene Ordnung verstanden, deren höchster Garant die Religion ist. Die einzelnen Sachbereiche wie Technik, Wissenschaft, Politik, Wirtschaft und Kommunikation verselbständigen sich und werden eigenständig.2 Sie setzen sich von der Familie und der Moral ab und werden autonome Teilsysteme, die nicht mehr in einer einheitlichen Sinnordnung organisiert sind. Der Staat soll weltanschaulich neutral bleiben. Die Modernisierung, nämlich „der Übergang von einer einheitlichen und monozentrisch geordneten zu einer pluriformen Kulturengesellschaft“, ist die Trägerin der Säkularisierung.3 Der Säkularisierungsprozess ist allerdings keine Einbahn. Er hat auch gegenläufige Entwicklungen ausgelöst. Sie führten zur Ausbreitung fundamentalistischer Strömungen, im Besonderen auch zu zahlreichen Kontroversen über die islamische Religiosität in Europa. Gerade in diesen Zusammenhängen wird Säkularisierung als Freiheitsbewegung deutlich: nämlich Freiheit des Staates von kirchlicher Bevormundung, Freiheit der Kirchen von staatlicher Abhängigkeit und Interventionen und Freiheit des religiösen Bekenntnisses für die Bürgerinnen und Bürger. Säkularisierung bezieht sich nicht nur auf den Staat, sie umfasst vielmehr alle Ebenen der Gesellschaft und bedingt einen tief greifenden sozialen Wandel unter anderem dadurch, dass man sich von einer Gesellschaft entfernt, in der der Glaube an Gott nicht in Frage gestellt wird, und zu einer Gesellschaft übergeht, in der dieser Glaube eine von mehreren Optionen neben anderen darstellt.4 Die Säkularisierungsprozesse haben nicht nur die Machtbereiche der Kirchen beseitigt und zu einer Trennung von Staat und Kirche geführt, sondern auch eine Weltanschauung des Säkularismus begründet, in der transzendentale Fragen und Perspektiven ausgeklammert werden und man sich auf Immanenz beschränkt. Dies wird auch im Verlaufe des europäischen Einigungsprozesses deutlich. Hatten die berühmten historischen Gründungsväter der Europäischen Gemeinschaft, wie Robert Schuman, Alcide de Gasperi und Konrad Adenauer, noch die Vision einer Res publica christiana vor Augen, ist durch einen umfassenden Säkularisierungsprozess ein nachchristliches Europa entstanden. 2

Miklýs Tomka, Glaubenskrise – erst recht in der postkommunistischen Gesellschaft, in: Theo Faulhaber/Bernhard Stillfried (Hrsg.), Wenn Gott verloren geht. Die Zukunft des Glaubens in der säkularisierten Gesellschaft, Freiburg i. Br. 1998, S. 63 – 85, hier S. 65. 3 Tomka, Glaubenskrise (Anm. 2), S. 65. 4 Charles Taylor, Ein säkulares Zeitalter, Frankfurt a. M. 2009, S. 14.

Säkularisierung im Lichte der europäischen Integration

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Es wird geprägt durch eine „Entkirchlichung“ und eine religiöse Individualisierung.5 Dieser Prozess ist ein allgemeines Phänomen in westeuropäischen Demokratien, der in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union zu einer gesellschaftlichen Transformation führte. Säkularisierung ereignete sich in differenzierter Weise, sie betraf verschiedene Bereiche und führte in manchen Ländern zu Gegenströmungen. Ein illustratives Beispiel dafür bot Polen, wo die Aufnahme des Landes in ein säkularisiertes Europa als „schwer zu meisternde Herausforderung“ angesehen wurde, wobei die fundamentalistischen Teile des polnischen Katholizismus eine ablehnende Haltung gegenüber der europäischen Integration einnahmen.6 In den weiteren Ausführungen dieses Beitrages sollen einige Perspektiven des Prozesses der Säkularisierung, der ein Element der abendländischen Kulturentwicklung ist, im Zusammenhang mit dem Verlauf der europäischen Integration beleuchtet werden. Sie betreffen vor allem vielfältige Zusammenhänge des europäischen Einigungsprozesses mit der Rolle von Glaubensgemeinschaften und Religionsgesellschaften und thematisieren das Verhältnis der Europäischen Union und ihrer Mitgliedstaaten zu religiösen Institutionen und Akteuren. Besondere Aufmerksamkeit verdient in diesem Zusammenhang die Bedeutung von Religion als Motor zivilgesellschaftlichen Engagements. II. Herausforderungen an die europäische Religionspolitik Die durch den Säkularisierungsprozess erfolgten Veränderungen und Verschiebungen verlangen neue Orientierungen in den religionspolitischen Konzepten der Staaten. Die historischen Prämissen des europäischen Kontinents sind von Konflikten, Teilungen und Gegensätzlichkeiten geprägt. Dies gilt vor allem in konfessioneller Hinsicht. Die Teilungsereignisse reichen von dem Bruch zwischen der Ost- und Westkirche (Rom und Konstantinopel) im Jahr 1054 über den Augsburger Religionsfrieden im Jahr 1555, der eine Teilung in katholische und protestantische Regionen zur Folge hatte, bis zur Neuordnung Europas durch den Wiener Kongress (1814/15) und der oktroierten Neugestaltung durch die Friedensverträge nach dem Ersten Weltkrieg, die den Keim für eine neue Unversöhnlichkeit legten. Der Eiserne Vorhang, der das Symbol einer unüberbrückbaren Kluft im Kalten Krieg war und das Teilungsdrama zwischen dem östlichen und dem westlichen Teil des europäischen Kontinentes symbolisierte, machte eine europäische Seele unmöglich.7 Auf der Grundlage dieser geschichtlich bedingten Gegensätze versuchte man, im europäischen Einigungsprozess eine Vielfalt zu fördern und zu schützen, die keine zentrifugalen Wirkungen besitzt, sondern in einer Einheit besteht und sich weiterentwickeln soll. Innerhalb dieser dynamischen Vielfalt verschieben sich in mittel- und langfristigen Prozessen die Gewichte und Herausforderungen; ein prägender Teil dieser

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Grace Davie, Religion in Modern Europe: A Memory Mutates, Oxford 2000. Casanova, Ort der Religion (Anm. 1), S. 87 ff. 7 Hermann Denz (Hrsg.), Die europäische Seele. Leben und Glauben in Europa, Wien 2002, S. 15. 6

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Vielfalt sind die Religionsgemeinschaften, die durch ihre Verschiedenheit die kulturellen Entwicklungen wesentlich beeinflussen. Das gegenwärtige Bild dieser Vielfalt gründet in der Verschiedenheit vergangener Perioden. Europas Geschichte ist Jahrhunderte hindurch eine Geschichte der christlichen Konfessionen und deren Auseinandersetzung mit nichtchristlichen Konfessionen, wie dem Judentum oder dem Islam. Relativ spät kam es zur Begegnung mit asiatischen Weltreligionen. Das Schisma des Jahres 1054 begründete eine historische Spannung zwischen Byzanz und Rom, die zu unterschiedlichen Entwicklungen führte. Im westeuropäischen Raum fokussierte es auf eine Stärkung und Verbreitung des Katholizismus und Protestantismus, im osteuropäischen und slawischen Raum führte es zu einer Dominanz orthodoxer Kirchen. Die konfessionelle Struktur war von großen Unterschieden geprägt. Im west- und südeuropäischen Bereich waren die katholischen Länder stark vertreten: Malta, Polen, Irland, Spanien, Portugal, Belgien, Slowenien, Slowakei, Kroatien, Italien. Im skandinavischen Raum waren es Länder mit protestantischer Mehrheit, wie etwa Dänemark, Finnland und Schweden. Obwohl die Geschichte des Christentums untrennbar mit der Geschichte Europas verbunden ist, ist Europa in sozio-religiöser Hinsicht kein einheitlicher Kontinent. Durch die Aufklärung kam in die Landschaft der europäischen Konfessionen ein Spannungsfeld, das bis heute in den Säkularisierungsprozess Europas hineinwirkt. Es beeinflusst vor allem die Debatten über den Laizismus und das Prinzip der Neutralität, demgemäß der Staat sich nicht mit einer bestimmten religiösen oder weltanschaulichen Lehre oder Institution identifizieren darf. Er darf aber ebenso weder explizit atheistisch oder agnostisch sein. Das nationale Recht bestimmt das Verhältnis zwischen Staat und Religionsgemeinschaften. Die staatskirchlichenrechtlichen Regelungen gestalten dieses Verhältnis unter Anwendung verschiedener Modelle. Die staatskirchenrechtlichen Systeme können typologisch in dreifacher Weise beschrieben werden: – Das Modell der Staatskirche findet man vor allem in den skandinavischen Staaten, wo die lutherische Kirche Staatskirche ist oder – besser gesagt – war. So wurde nämlich die Staatskirche in Schweden im Jahre 2000 beendet. Auch in anderen Ländern (z. B. die anglikanische Kirche in England oder die Church of Scotland in Schottland) ist dieses System, das in einer institutionellen Verbindung von Staat und Kirche besteht, rückläufig. – Ein zweites Modell besteht in der strikten Trennung von Kirche und Staat. Trotz einer formalen Trennung von Staat und Kirche hat dieses Verhältnis zwischen beiden oft einen kooperativen Charakter. Dieses Modell wird im Folgenden noch am Beispiel Frankreich näher beleuchtet. – Am häufigsten hat sich innerhalb der Mitgliedstaaten der Europäischen Union ein drittes Modell, das sogenannte Kooperationsmodell, etabliert. Es handelt sich dabei nicht um eine idealtypische Form des Verhältnisses zwischen Staat und Kirche, sondern um

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Formen einer praktizierten pragmatischen Beziehung (dazu zählen etwa Deutschland, Österreich, Belgien, Spanien, Italien). Dieses Modell hat letztlich auch dort Bedeutung, wo die Trennung von Kirche und Staat eine strikte Laizität begründet. Dies wird im Folgenden am Beispiel Frankreichs näher erörtert werden.

III. Laizität als Gestaltungsprinzip – Frankreich als Modell? Die Trennung von Staat und Kirche ist der Inhalt und das Ergebnis des Säkularisierungsprozesses. Sie gehört zu den Prinzipien, die die Religionspolitik der nationalen Staaten bestimmen. Innerhalb der 27 Mitgliedstaaten der Europäischen Union gibt es – wie bereits vorhin ausgeführt – ein unterschiedliches Staatskirchenrecht, das das Verhältnis von Staat und Religion regelt. Eine paradigmatische Situation ist in Frankreich gegeben, wo der Grundsatz der Laizität ein Verfassungsprinzip ist. Die bereits seit dem Jahr 1905 gesetzlich verankerte Trennung von Kirche und Staat wurde in der Verfassung der V. Republik im Jahr 1958 als konstitutioneller Grundsatz normiert. Nach Art. I dieser Verfassung ist Frankreich „eine unteilbare, laizistische, demokratische und soziale Republik“. Hierin liegt für viele die Verwirklichung eines laizistischen Ideals, dessen Umsetzung in der politischen und gesellschaftlichen Praxis unterschiedlich möglich ist. Es lässt sich als Prinzip im organisatorisch-institutionellen Bereich umsetzen und kann als Absage gegen jede Form von politischer Instrumentalisierung der Kirchen verstanden werden (vergleiche das Phänomen des politischen Katholizismus in Österreich in der Ersten Republik). Schwieriger wird es jedoch, wenn es darum geht, keinen Religionsunterricht zu fördern oder religiöse Symbole in der Schule zu dulden. Für den französischen Laizismus ist die Ausklammerung der Religion aus dem öffentlichen Raum ein probates Mittel, um jede Bevorzugung einer Religion und damit auch eine Diskriminierung zu verhindern. Diesem Grundsatz folgte auch die später noch zu besprechende Entscheidung des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofes (EGMR) aus dem Jahre 2009, wo das Höchstgericht zunächst entschied, dass in öffentlichen Schulen keine Kruzifixe mehr in den italienischen Klassenzimmern hängen dürfen. Unter zahlreichen Kritikern dieser Rechtssprechung wird betont, dass das Religiöse heute nicht mehr aus dem Bildungsbereich ausgespart werden könne. Vor allem wurde darauf hingewiesen, dass die Trennung von Staat und Religion nicht die richtige Lösung für Europa sei, da die Schule „mit ihrer Gegenwart – oder Abwesenheit von Gott – ein Herzstück der nationalen Identität“ sei; dadurch nähre sie eine Vielfalt, die den Reichtum und die Besonderheit Europas ausmache.8 Diese Auffassung ist allerdings nicht die Mainstream-Position in der Debatte über den Laizismus. Die Auseinandersetzung darüber findet streckenweise als ideologischer Bürgerkrieg statt, in dem ein „militanter Laizismus“ jeglichem religiösen Phänomen mit Misstrauen begegnet und die historisch gewachsene öffentliche Relevanz 8 So der französische Zeithistoriker Dominique Durand, zitiert in der Zeitung „Die Presse“ vom 30. Oktober 2010 („Null Religion“ in Schule gescheitert).

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der Kirchen, im Besonderen der Katholischen Kirche, in Frage stellt. Sie zielt auf Privatisierung der Religion in einer bürgerlichen Gesellschaft und deren allmähliches Absterben oder Übergang in einen religiösen Indifferentismus.9 Die Postulate dieses radikalen Laizismus lassen sich wie folgt konkretisieren: – Jeder Gottesbezug muss aus staatlichen Normen verbannt werden, – keine religiösen Symbole in öffentlichen Gebäuden, – Abschaffung von Religionsunterricht und Militärseelsorge, – keine öffentlich finanzierten theologischen Fakultäten an staatlichen Universitäten. Der Laizismus als Ausdruck des Prinzips der Trennung von Kirche und Staat enthält keine präzise Beschreibung der Stellung und Bedeutung von Religionen und Religionsgemeinschaften in Staat und Gesellschaft. Er lässt Entwicklungen eines militanten Laizismus ebenso zu wie einen Säkularismus, in dem sich der Staat im Rahmen eines Modernisierungsprozesses als Wertegemeinschaft konstituiert. Er ermöglicht aber ebenso die „Suche nach einer gesunden Laizität, die Ehrfurcht und Respekt vor dem Heiligen hat und die Religionsfreiheit schützt“10. Kluge Laizität bedeutet nicht eine Konfrontation zwischen einem laizistischen und einem christlichen Europa, sondern „das kluge Eintreten für eine gesunde Laizität auf dem Boden der Religionsfreiheit“11. Durch diese Sicht wird die zentrale Bedeutung hervorgehoben, die der Religionsfreiheit in Säkularisierungsprozessen zukommt. Ihre Gewährleistung, aber auch die Bestimmung ihrer Grenzen, werden zu einem wichtigen Topos im religionspolitischen Diskurs. IV. Religionsfreiheit im säkularisierten Staat Die Forderung nach Religionsfreiheit war ein vorrangiges Anliegen der Aufklärung, die vor allem in der französischen Menschenrechtserklärung des Jahres 1789 und in den amerikanischen Menschenrechtsgarantien artikuliert wurde. In den liberalen Verfassungsurkunden des 19. Jahrhunderts war die Glaubens- und Gewissensfreiheit als Bestandteil der Grundrechtskataloge ein wesentliches Element der Freiheitsgarantien.12 Im 20. Jahrhundert fand eine Internationalisierung des Menschenrechtsschutzes statt. Nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden im Gefolge der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen vom 10. Dezember 9 Vgl. Mariano Delgado, Europa als christliches Projekt, in: Urs Altermatt/Mariano Delgado/Guido Vergauwer (Hrsg.), Europa: Ein christliches Projekt? Beiträge zum Verhältnis von Religion und europäischer Identität, Stuttgart 2008, S. 35 – 57, hier S. 55. 10 Delgado, Europa (Anm. 9), S. 55. 11 Delgado, Europa (Anm. 9), S. 55. 12 Im Staatsgrundsatz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger vom 21. Dezember 1867, RGBL 142, ist die volle Glaubens- und Gewissensfreiheit für jedermann in Art. 14 verankert.

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1948 zahlreiche regionale Menschenrechtskodifikationen. Für den europäischen Raum hatte der Europarat in diesem Zusammenhang eine bahnbrechende Funktion. Die von ihm am 4. November 1950 beschlossene „Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten“ (EMRK), in Kraft getreten am 3. September 1953, war ein bedeutsamer Schritt in Richtung einer effektiven europäischen Grundrechtsordnung. Diese Konvention – durch zahlreiche Zusatzprotokolle weiterentwickelt – ermöglicht durch eine Individualbeschwerde jedem Einzelnen die Anrufung einer supranationalen Instanz – nunmehr des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte in Straßburg.13 Dieser Gerichtshof hat in einer jahrelangen Rechtsprechung auch wesentliche Feststellungen zur Religionsfreiheit getroffen. Die Religionsfreiheit ist durch Art. 9 EMRK gewährleistet. Diese Bestimmung garantiert die Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit. Sie schützt damit einen Bereich menschlicher Überzeugungen, die Ausdruck der persönlichen Identität und daher eng verbunden mit der Menschenwürde sind. Schutzbereiche sind die Gedanken- und Gewissensfreiheit sowie die Religions- und Weltanschauungsfreiheit. Religionsfreiheit gewährleistet das Recht, einen Glauben zu haben (innere Religionsfreiheit), sie umfasst aber auch die Ausübung von Religion (äußere Religionsfreiheit), wobei in Art. 9 EMRK als Formen öffentlicher Religionsausübung Gottesdienste, Unterricht, Andachten sowie die Beachtung religiöser Bräuche genannt sind. Diese Aufzählung der Ausübungsformen ist nicht taxativ und gilt auch für die Ausübung von Weltanschauungen. Religionsfreiheit ist in erster Linie ein Abwehrrecht gegen staatliche Eingriffe, kann aber auch den Staat zum Schutz gegen Einflussnahmen Dritter verpflichten.14 Religionsfreiheit ist nicht absolut geschützt. Eingriffe in sie müssen durch Gesetz vorgesehen sein und können zu einem der im Art. 9 Abs. 2 EMRK genannten Ziele erfolgen: Es sind dies Beschränkungen, die in einer demokratischen Gesellschaft im Interesse der öffentlichen Sicherheit, der öffentlichen Ordnung, Gesundheit und Moral oder für den Schutz der Rechte und Freiheiten Anderer notwendig sind. Für Eingriffe in die Religions- und Weltanschauungsfreiheit gilt der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Das bedeutet, dass die Maßnahmen verhältnismäßig zum verfolgten Ziel sein müssen. Bei der Beurteilung der Angemessenheit einer die Religionsfreiheit beschränkenden Maßnahme haben die Mitgliedstaaten einen Beurteilungsspielraum. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte berücksichtigt dabei die vom jeweiligen Mitgliedstaat vorgenommenen Wertungen, überprüft jedoch ihre Plausibilität.15 Durch den Vertrag von Lissabon hat die Europäische Union die Charta der Grundrechte der Europäischen Union – ihren eigenen Grundrechtskatalog – in den Unionsvertrag inkorporiert und ihr pri13

Die Beschwerde an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte setzt die Erschöpfung des innerstaatlichen Instanzenzuges voraus. 14 Christoph Grabenwarter, Europäische Menschenrechtskonvention. Ein Studienbuch, München/Wien 42009, S. 255. 15 Grabenwarter, Europäische Menschenrechtskonvention (Anm. 14), S. 262 Rz. 104.

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märrechtliche Verbindlichkeit zugesprochen.16 Die Bedeutung der EMRK für die Grundrechtsordnung wurde in zweifacher Weise hervorgehoben: Zum einen sind die Grundrechte, wie sie in der EMRK gewährleistet sind und wie sie sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten ergeben, „allgemeine Grundsätze“ des Unionsrechtes17; darüber hinaus normiert die Union ihren Beitritt zur EMRK.18 Diese zuletzt genannte Entwicklung hat keine substanzielle Änderung im Schutzbereich der Religionsfreiheit gebracht. Art. 10 der Grundrechtscharta der Europäischen Union schützt die Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit: „Jede Person hat das Recht auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit. Dieses Recht umfasst die Freiheit, seine Religion oder Weltanschauung zu wechseln, und die Freiheit, seine Religion oder Weltanschauung einzeln oder gemeinsam mit anderen öffentlich oder privat durch Gottesdienst, Unterricht, Bräuche und Riten zu bekennen.“19

Abs. 2 des Art. 9 EMRK, der Tatbestände für die Einschränkungen dieses Grundrechtes enthält, wurde explizit nicht in den Text der Charta übernommen, doch kommt er aufgrund der horizontalen Bestimmung über die EMRK in der Grundrechtscharta auch in diesem Bereich zur Anwendung.20 Darüber hinaus enthält Art. 10 Abs. 2 der Grundrechtscharta einen ausdrücklichen Hinweis auf das Recht der Kriegsdienstverweigerung, der in der EMRK nicht enthalten ist. Die Charta bestimmt dazu: „Das Recht der Wehrdienstverweigerung aus Gewissensgründen wird nach den einzelstaatlichen Gesetzen anerkannt, welche die Ausübung dieses Rechtes regeln.“ Damit ist das Recht auf Kriegsdienstverweigerung als Bestandteil der Gewissensfreiheit ausdrücklich gewährleistet. Die Charta folgte hier dem Beispiel einzelner nationaler Verfassungen (z. B. Bonner Grundgesetz, Portugiesische Verfassung), wo zum Ausdruck gebracht wird, dass der Staat bei der Festlegung von Pflichten Rücksicht auf die Religion nehmen muss.

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Siehe Art. 6 Abs. 1 des Unionsvertrages. Die Grundrechtscharta der Europäischen Union wurde in einem eigens dafür eingesetzten Konvent vorbereitet und beim Gipfeltreffen am 7. Dezember 2000 feierlich als politisches Dokument verkündet. Die rechtliche Verbindlichkeit dieses Dokumentes war bereits im Vertrag über eine Verfassung Europas vorgesehen, der allerdings nicht wirksam wurde. 17 Siehe Art. 6 Abs. 3 des Unionsvertrages. 18 Die EMRK ist ein offener Vertrag, dem auch Staatengemeinschaften mit Rechtspersönlichkeit beitreten können. 19 In Art. 14 der Charta wird im Zusammenhang mit dem Recht auf Bildung bestimmt, dass das Recht der Eltern, die Erziehung und den Unterricht ihrer Kinder entsprechend ihren eigenen religiösen, weltanschaulichen und erzieherischen Überzeugungen sicherzustellen, nach den einzelstaatlichen Gesetzen, welche ihre Ausübung regeln, zu achten ist. 20 Art. 53 der Charta bestimmt, dass keine Bestimmung der Charta als eine Einschränkung oder Verletzung der Menschenrechte und Grundfreiheiten auszulegen ist, wie sie in der EMRK anerkannt werden.

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Religionsfreiheit sichert Religiosität. Sie ermöglicht Interesse an Religion, dem Besitz einzelner Glaubensüberzeugungen, Gottesdienstbesuche und religiöse Erfahrungen. Sie bedeutet Wahlfreiheit, d. h. Freiheit der Wahl der Religion bzw. Weltanschauung, die Bildung des Gewissens und die Freiheit des Denkens (forum internum).21 Sie umfasst weiters auch Ausübungsfreiheit, die ihren Anhaltspunkt in hergebrachten Formen der Religionsausübung (Gottesdienst, Unterricht, Bräuche und Riten) findet, und unterliegt zahlreichen gesetzlichen Beschränkungen (z. B. nach Bestimmungen des Bau- oder Straßenverkehrsrechtes).22 Religionsfreiheit bedeutet auch negative Religionsfreiheit, d. h. es kann keine Teilnahme an weltanschaulichen, religiösen oder rituellen Handlungen erzwungen werden. Sie bietet „Schutz für Atheisten, Agnostiker, Skeptiker und Unbeteiligte“23. In ihrer praktischen Ausübung berührt die Religionsfreiheit viele Schnittlinien und Spannungsfelder der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Dabei geht es nicht nur um die Abgrenzung zu anderen Freiheiten, wie etwa der Meinungsfreiheit oder Kunstfreiheit. Die Säkularisierung der politischen Ordnung und die damit verbundene Trennung von Staat und Kirche verlangen ein gesellschaftliches Klima, das Toleranz gewährleistet, und zwar eine Toleranz, die nicht nur im Dulden anderer Religionen und Bekenntnisse besteht, sondern wechselseitigen Respekt zum Ausdruck bringt. Religionsfreiheit ist aus der Tradition von Säkularisierungsprozessen heraus geprägt. Die amerikanische Philosophin Martha Nussbaum hat dies in einer jüngst erschienen Publikation sehr anschaulich und überzeugend am Beispiel der amerikanischen Tradition der Religionsfreiheit beschrieben.24 Jahrhunderte lang haben Einwanderungswellen eine Vielfalt religiöser Traditionen in die USA gebracht. Bei ihnen habe es keine Privilegierung einer Mehrheitsreligion gegeben (wie es etwa häufig in Europa der Fall war); alle Menschen seien zur freien Religionsausübung gleich berechtigt, gemäß den Forderungen ihres Gewissens. Diese größtmögliche Freiheit in einer pluralistischen Gesellschaft habe zu einem Respekt vor dem Gewissen des Anderen geführt, zu einer „Tradition der Fairness“. Unbeschadet einer Trennung von Staat und Kirche spielen sich auch heute Religion und Weltanschauung im öffentlichen Raum ab. Der Diskurs über Religion und religiöse Fragen ereignet sich in einer öffentlichen Sphäre, wodurch Kontroversen erkennbar und erklärbar werden. Ein anschauliches Beispiel dafür bietet die Debatte über religiöse Symbolik in öffentlichen Räumen. Das Kruzifix in öffentlichen Räumen ist mehrfach Thema einer grundsätzlichen Auseinandersetzung geworden, in 21 Roland Winkler, Die Grundrechte der Europäischen Union, Wien/New York 2006, S. 411. 22 Winkler, Grundrechte (Anm. 21), S. 412. 23 Jochen Frowein/Wolfgang Peukert, Europäische Menschenrechtskonvention, Straßburg 1996, S. 368. 24 Martha C. Nussbaum, Liberty of Conscience. In Defense of AmericaÏs Tradition of Religious Equality, New York 2008.

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der Religionsfreiheit ein Argumentationsfeld ist. Mehrere Entscheidungen von höchstrichterlichen Instanzen zeigen durchaus unterschiedliche Sichtweisen. Es besteht kein europäischer Konsens. Dies soll im Folgenden anhand von drei Gerichtsentscheidungen näher beleuchtet werden. Für den Anwendungsbereich der EMRK hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg eine Entscheidung von grundsätzlicher Bedeutung gefällt.25 Anlass war eine Beschwerde von Eltern, deren Söhne eine italienische Schule besuchen, wo die Klassenräume mit einem an der Wand hängenden Kruzifix ausgestattet waren. Schon im inneritalienischen Instanzenzug hatte das Oberste Verwaltungsgericht die Anbringung von Kreuzen als mit dem Säkularitätsprinzip vereinbar angesehen: Das Kruzifix symbolisiere in Italien die religiöse Herkunft von Werten wie Toleranz und gegenseitigem Respekt, die die italienische Kultur charakterisieren. Das in Klassenzimmern angebrachte Kreuz erfülle auch aus einer säkularen Perspektive eine starke erzieherische und symbolische Funktion, unabhängig von der Religion der Schüler; das Kreuz sei ein Symbol, das die genannten Werte reflektiere, die die „Säkularisierung in der gegenwärtigen Rechtsordnung des Staates definieren“ würden. Die zweite Kammer des EGMR hatte in einer Entscheidung zunächst die Verletzung der Religionsfreiheit festgestellt. Aufgrund eines Antrages der italienischen Regierung wurde der Fall an die Große Kammer des EGMR herangetragen. Diese nahm einen gegensätzlichen Standpunkt ein. Im Leitsatz ihrer Entscheidung wies sie zunächst darauf hin, dass die nationalen Behörden bei der Gestaltung der schulischen Umgebung gemäß Art. 2 des 1. Protokolls zur EMRK verpflichtet seien, die religiösen und weltanschaulichen Überzeugungen der Eltern zu achten. Dabei hätten sie einen Ermessensspielraum, in dessen Rahmen auch die traditionelle Anbringung von Kreuzen in Klassenzimmern staatlicher Schulen falle; sie sei zulässig, soferne damit kein verpflichtender christlicher Religionsunterricht verbunden sei, die schulische Umgebung auch für andere Religionen offen sei und kein Hinweis auf Intoleranz oder bekehrende Praktiken gegenüber Andersgläubigen vorliege. In der weiteren Begründung führte das Europäische Höchstgericht aus, dass das Kreuz vor allem ein passives religiöses Symbol sei, das keine Form der Indoktrination bedeutet. Kreuze in den Klassenzimmern seien das Ergebnis einer historischen Entwicklung Italiens, einer Tradition, deren Wahrung wichtig sei. Eine verstärkte Sichtbarkeit des Christentums durch die Präsenz des Kreuzes sei im folgenden Zusammenhang zu betrachten: Die Präsenz des Kreuzes stehe in keinem Zusammenhang mit einem verpflichtenden christlichen Religionsunterricht. Weiters sei die schulische Umgebung auch für andere Religionen offen: es sei 25 Die Entscheidung des EGMR ist im Newsletter Menschenrechte (NLMR), hrsg. v. Österreichisches Institut für Menschenrechte, NLMR 2/2011-GMR, S. 81 – 84, wiedergegeben. Aufgrund der Beschwerde Lautsi u. a. gegen Italien hatte die II. Kammer des EGMR zunächst einstimmig eine Verletzung des Art. 2 des 1. Prot. EMRK in Verbindung mit Art. 9 EMRK festgestellt (Urteil vom 03. 11. 2009. – NLMR 2009, S. 326); die Große Kammer revidierte mit Urteil vom 18. 03. 2011 diese Auffassung.

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Schülern nicht verboten, das islamische Kopftuch oder andere religiöse Symbole oder Kleidung zu tragen; um die Einfügung der Schulbildung in die Praktiken von Minderheitsreligionen zu erleichtern, würden in Schulen häufig Anfang und Ende des Ramadan gefeiert; es gäbe Möglichkeiten zu optionalem Religionsunterricht für alle anerkannten Glaubensbekenntnisse. Eine in der Argumentation durchaus vergleichbare Haltung nahm der österreichische Verfassungsgerichtshof bei der Beurteilung der Frage ein, ob das Kreuz in Kindergärten mit Art. 9 EMRK vereinbar sei.26 In der zugrunde liegenden Beschwerde wurde vorgebracht, dass die Anbringung eines Kreuzzeichens im Aufenthaltsraum des Kindergartens eine Störung einer konfessionslosen Erziehung sei. Nach Meinung des Verfassungsgerichtshofs ist das Kreuz ein Symbol der abendländischen Geistesgeschichte geworden und war bzw. ist daher ein Symbol christlicher Kirchen. Es sei jedoch keine staatliche Äußerung einer Präferenz für eine bestimmte Religion oder Glaubensüberzeugung. Durch den Grundsatz der Trennung von Staat und Kirche scheide eine Deutung des Kreuzes dahingehend, dass es als Ausdruck eines Staatskirchentums verstanden werden kann, „von vorneherein aus“. Dem Verfassungsgerichtshof sei es bei Fragen der Religionsfreiheit verwehrt, „sich bei mehreren Möglichkeiten der Deutung eines religiösen Symbols eine bestimmte Deutung zu eigen zu machen und diese der grundrechtlichen Beurteilung der Zulässigkeit des Vorhandenseins solcher Symbole in staatlichen Bildungseinrichtungen zugrunde zu legen“. Erziehung der Kinder sei in erster Linie eine Aufgabe der Eltern. Trotz Anbringung von Kreuzen in Kindergärten bleibe die „Deutungshoheit über das Kreuz beim einzelnen Kind bzw. dessen Eltern“. Die in der UNO-Konvention über die Rechte des Kindes enthaltenen Bildungsziele seien Leitlinien für die staatliche Erziehungsarbeit in den Kindergärten. Diese beinhalten die Vorbereitung auf ein Leben in einer freien Gesellschaft im Geiste der Toleranz und der Freundschaft zwischen allen Gruppen sowie die Vermittlung der Achtung sowohl der eigenen Kultur des Kindes als auch der anderen Kulturen. Die gemeinsame Auffassung zwischen dem EGMR und dem österreichischen Verfassungsgerichtshof ist offenkundig: Kreuze sind kein Versuch einer Indoktrination eines christlichen Glaubens oder einer Präferenz für eine Religion. Sie haben als Symbol eine allgemeine kulturelle Bedeutung und sind im Zusammenhang mit erziehungspolitischen Grundsätzen als Merkmal einer Toleranz und religiöser Pluralität anzusehen.

26 Erkenntnis VfGH vom 9. März 2011, Zl. G 287/09. Der Inhalt dieser Entscheidung ist im Newsletter Menschenrechte NLMR 2 2/2011 – VfGH veröffentlicht. Das Verfahren wurde durch die Beschwerde des Vaters eines Kindergartenkindes gegen das N. Ö. Kindergartengesetz ausgelöst. Dieses Gesetz sieht vor, dass ein Beitrag zur religiösen Bildung geleistet wird und in Kindergärten, in denen die Mehrzahl der Kinder einem christlichen Religionsbekenntnis angehört, ein Kreuz anzubringen ist.

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Eine gegensätzliche Position zu den erwähnten höchstgerichtlichen Entscheidungen nahm das deutsche Bundesverfassungsgericht im sogenannten „Kruzifixbeschluss“ vom 16. Mai 1995 ein. Diese in der öffentlichen Diskussion zum Teil heftig kritisierte Entscheidung verfügte, dass die Anbringung des Kreuzes „in der staatlichen Pflichtschule mit Art. 4 Abs. 1 Grundgesetz unvereinbar ist, soweit es sich nicht um christliche Bekenntnisschulen handelt“27. Das Schulkruzifix wurde als verbindliches Zeichen eines verpflichtenden Glaubensgehaltes angesehen. Für das deutsche Bundesverfassungsgericht ist das Kruzifix kein „wesentlich passives Symbol“, sondern es habe einen offenkundig „appellativen Charakter“. Daher dürfen diejenigen, die sich diesem Appell nicht aussetzen wollen, auch nicht dazu gezwungen werden. Die vorangegangenen Beispiele zeigen, dass in der Frage der Verwendung der religiösen Symbole in öffentlichen Räumen kein Konsens besteht. Der EGMR hat in seiner Entscheidung auf das eigene Recht nationaler Traditionen hingewiesen. In der Tat lässt dieses eine weit gefächerte Praxis erkennen. In wenigen Ländern sind Kruzifixe in Klassenzimmern ausdrücklich verboten (z. B. Mazedonien, in den meisten Regionen Frankreichs); in einigen Ländern sind sie explizit vorgeschrieben (z. B. Italien, Österreich, Polen, Bayern); in manchen Ländern sind sie de facto vorhanden (z. B. Spanien). Allerdings lässt sich seit einigen Jahren feststellen, dass der EGMR dem Säkularismus in seiner Rechtssprechung eine erhöhte Bedeutung beimisst. Er sieht offensichtlich im Zusammenhang mit der Religions- und Bildungsfreiheit die Notwendigkeit gegeben, dass der Staat bei der Gestaltung seiner Rechtsbeziehungen zwischen den religiösen und weltanschaulichen Institutionen zwar einen weiten Gestaltungsspielraum hat, bei dessen Umsetzung allerdings das Prinzip der Neutralität zu beachten ist. Die unterschiedlichen Religionen und Weltanschauungen sind untereinander gleich zu behandeln. Säkularismus wird auf diese Art gleichsam zu einem Baugesetz. Mit der Deutung des Kreuzes als traditionelles Symbol europäischer Kultur hat der EGMR eine wesentliche Dimension der Religionsfreiheit festgeschrieben. Als Symbol der christlich geprägten abendländischen Kultur verlangt es von den Benützern öffentlicher Räume keinerlei konfessionelle Stellungnahme; es hat gleichsam keine missionarische Funktion. Damit wird das Kruzifix im weltanschaulich neutralen Staat ein kulturpolitisches Symbol, es wird selbst neutralisiert. Diese „Säkularisierung“ des Kreuzes bedeutet für alle diejenigen, für die das Kreuz eine Manifestation einer Glaubenswahrheit ist, eine wesentliche Mutation. Freilich muss man in diesem Zusammenhang bemerken, dass in den europäischen Ländern das Kreuz längst zum Bestandteil von profanen Erscheinungen geworden ist. Sie reichen von

27 Entscheidung vom 16. Mai 1995, BVerfGH 93,1. Art. 4 Abs. 1 des Bonner Grundgesetzes bestimmt: „Die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses sind unverletzlich.“

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Wappen der Gemeinden über die Kreuze auf Berggipfeln bis zum Design universitärer Urkunden und zu Schmuckstücken. V. Die europäische Verfassungsdiskussion und ihre religionspolitischen Implikationen Der am 29. Oktober 2004 von den Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten der Europäischen Union unterzeichnete „Vertrag über eine Verfassung für Europa“ enthielt erstmalig eine grundsätzliche Aussage über die Rolle und den Status von Kirchen und weltanschaulichen Gemeinschaften. Im Art. 52 Teil I des Vertrages verpflichtete sich die Union, den Status, den Kirchen, religiöse Vereinigungen oder Gemeinschaften nach den Rechtsvorschriften des Mitgliedstaates genießen, zu achten und ihn nicht zu beeinträchtigen. Das bedeutet die Verpflichtung zum Respekt; die Union nimmt jedoch keine Kompetenz zur Regelung der Rechtsstellung dieser Religionsgemeinschaften in Anspruch; daher bleibt dieser Bereich in der ausschließlichen Zuständigkeit der Mitgliedstaaten. Daran schließt sich allerdings eine Dialogverpflichtung der Union besonderer Art an: Abs. 3 des genannten Artikels bestimmt nämlich: „Die Union pflegt mit diesen Kirchen und Gemeinschaften in Anerkennung ihrer Identität und ihres besonderen Beitrages einen offenen, transparenten und regelmäßigen Dialog.“28

Diese Bestimmung des Europäischen Verfassungsvertrages ist das Ergebnis eines langwierigen und zähen Ringens der Kirchen, aus dem unübersichtlichen Feld der Einrichtungen der Zivilgesellschaft herausgehoben zu werden und die Stellung eines qualifizierten Dialogpartners im europäischen Einigungsprozess zugesprochen zu bekommen. Die erwähnte Verpflichtung der Union zum Dialog ist allgemein formuliert und sagt nichts darüber aus, ob und wie dieser Dialog institutionalisiert werden wird. Der Hinweis, dass die Regelung der Rechtsstellung der Religionsgemeinschaften in der ausschließlichen Zuständigkeit der Mitgliedstaaten bleibt, ist jedenfalls ein Indikator dafür, dass die Organisation dieses Dialogs im Einvernehmen mit den einzelnen Ländern zu erfolgen hat. Der Union geht es dabei um die Anerkennung religiöser Vielfalt und nicht um die Gestaltung konfessioneller Pluralität.

28 Das Bemühen um eine Anerkennung der Rechte der Kirchen und Religionsgemeinschaften reicht weiter zurück. Schon in der Schlussakte des Vertrages von Amsterdam haben die Mitgliedstaaten der Europäischen Union eine gemeinsame Erklärung zu Kirchen und Religionsgemeinschaften abgegeben. In der „Erklärung zum Status der Kirchen und weltanschaulichen Gemeinschaften“ (Erklärung 11 der Schlussakte des Vertrages von Amsterdam) wurde festgelegt: „Die Europäische Union achtet den Status, den Kirchen und religiöse Vereinigungen oder Gemeinschaften in den Mitgliedstaaten nach den Rechtsvorschriften genießen, und beeinträchtigt ihn nicht. Die Europäische Union achtet den Status von weltanschaulichen Gemeinschaften in gleicher Weise.“

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Die Anerkennung der Kirchen und Religionsgemeinschaften als Dialogpartner bringt für diese die Notwendigkeit einer Institutionalisierung mit sich. Um Gesprächspartner zu sein, bedarf es einer institutionellen Struktur, die Repräsentativität und Kompetenz vermittelt. Formen einer Mitsprache religiöser Institutionen entwickeln sich allmählich, oft auch in kleinen Schritten. Einen ersten Schritt einer Mitgestaltung haben Kirchen und Religionsgemeinschaften in den Konventen getan, die zur Ausarbeitung einer Grundrechtscharta (sog. Grundrechtskonvent) und zur Debatte über die Zukunft der Union (sog. Verfassungskonvent) eingesetzt wurden.29 Die Debatten im Verfassungskonvent lösten eine Auseinandersetzung aus, die im Zusammenhang mit Säkularisierungsentwicklungen relevant ist. Es war dies der Vorschlag, in die Präambel des europäischen Verfassungsvertrages einen ausdrücklichen Bezug auf Gott aufzunehmen. Anregung dafür bot die Tatsache, dass einzelne Verfassungen der Mitgliedstaaten der Europäischen Union einen solchen Gottesbezug artikulieren.30 Die Diskussion blieb ergebnislos. Für eine solche Passage im Verfassungstext fanden sich keine überzeugenden Mehrheiten, die Diskussion wurde sehr emotionell geführt. Der Verfassungsvertrag scheiterte im Ratifikationsverfahren durch negative Referenden in Frankreich und den Niederlanden. In dem seit Dezember 2009 in Kraft getretenen Vertrag von Lissabon wurden die Dialogbestimmungen des Verfassungsvertrages übernommen, allerdings nicht im Unionsvertrag angesiedelt, sondern im Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV). Dessen Art. 17 verpflichtet die Union zur Achtung des Status der Kirchen, religiösen Vereinigungen und Gemeinschaften sowie der weltanschaulichen Gemeinschaften nach den Rechtsvorschriften der Mitgliedsstaaten sowie der Durchführung eines „offenen, transparenten und regelmäßigen Dialoges“. Diese Vertragsbestimmung bildet die Grundlage für regelmäßige Treffen zwischen Vertretern von Religionsgemeinschaften (des Christentums, des Islam, des Judentums und des Buddhismus) mit den Präsidenten des Europäischen Rates, des Europäischen Parlaments und der Kommission. Diese drei EU-Amtsträger trafen am 30. Mai 2011 mit 22 Religionsvertretern aus 13 EU-Mitgliedstaaten sowie Russland und Bosnien und Herzegowina zum 7. Male zusammen.31 29 Die Konvente hatten eine „vorbereitende“ Funktion. Sie setzten sich aus Vertretern des Europäischen Parlaments, der nationalen Parlamente, der Regierungen der Mitgliedstaaten und der Europäischen Kommission zusammen. In ihren Beratungen fand auch ein Meinungsaustausch mit Vertretern zivilgesellschaftlicher Organisationen und von Kirchen und Religionsgemeinschaften statt. 30 Ein Gottesbezug ist beispielsweise in der irischen Verfassung von 1937 und der polnischen Verfassung von 1997 formuliert. 31 Im Rahmen dieses Treffens betonte der Präsident des Europäischen Rates van Rompuy die Bedeutung von Werten und ihre „spirituelle, religiöse oder ethische Inspiration“. Der Präsident des Europäischen Parlaments Buzek hob hervor, dass Religionsgemeinschaften für die Außenpolitik der Europäischen Union sehr wichtig seien; die Union brauche in ihrer

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VI. Religionsgemeinschaften als Partner im europäischen Dialog Der Prozess der Säkularisierung hat die religiöse Landschaft in den europäischen Ländern maßgeblich beeinflusst. Europa, das historisch gesehen ein Kontinent war, in dem viele Staaten von der Dominanz einer Religion geprägt waren, wurde zunehmend ein Raum, in dem sich Staat und Kirche wechselseitig emanzipiert haben. Diese zunehmende Trennung von Staat und Kirche verdrängte das religiöse Leben in die Privatheit, ohne es aber für den öffentlichen Bereich bedeutungslos zu machen. Auch im modernen Staat tendiert religiöse Betätigung zur öffentlichen Wahrnehmung. Anstelle von Dominanz einzelner Religionsgemeinschaften ist ein partnerschaftliches Nebeneinander religiöser Bewegungen getreten, für das der moderne Staat Rahmenbedingungen gewährleistet. Zu diesen gehört neben der Achtung der Autonomie (des Rechtsstatus), die von den Mitgliedsstaaten gewährt wird, vor allem eine Gewährleistung grundrechtlicher Freiheitsräume. Die Grundrechtscharta der Europäischen Union hat dafür explizit vier Bezugspunkte normiert: ¢ Das Recht auf Glaubens-, Gewissens- und Religionsfreiheit (Art. 10 der Charta). (vgl. die Ausführungen unter IV. dieses Beitrages.) ¢ Im Recht auf Bildung wird ausdrücklich das Recht der Eltern gewährleistet, die Erziehung und den Unterricht ihrer Kinder entsprechend ihrer eigenen religiösen, weltanschaulichen und erzieherischen Überzeugung sicherzustellen (Art. 14 der Charta). ¢ Ein besonderer Schutz ist gegen Diskriminierung verankert: So sind Diskriminierungen wegen der Religion oder der Weltanschauung verboten (Art. 21 der Charta). ¢ Die Union verpflichtet sich, die Vielfalt der Kulturen, Religionen und Sprachen zu achten (Art. 22 der Charta). Der neue religiöse Pluralismus schließt nicht aus, sich auf das christliche Erbe zu berufen. Auch bei abnehmender Religiosität lässt sich nicht leugnen, dass Europa zumindestens kulturell bis heute christlich geprägt ist. Das – und nichts anderes – bringt die Präambel des Lissaboner Vertrages zum Ausdruck: „schöpfend aus dem kulturellen, religiösen und humanistischen Erbe Europas, aus dem sich die unverletzlichen und unveräußerlichen Rechte des Menschen sowie Freiheit, Demokratie, Gleichheit und Rechtsstaatlichkeit als universelle Werte entwickelt haben“. Ebenso wenig kann man ablehnen, dass die Grundrechtscharta in ihrer Präambel hervorhebt, dass das Bekenntnis zu den unteilbaren und universellen Werten der Union „in dem Bewusstsein des geistigen, religiös-sittlichen Erbes“ gründet. Nachbarschaftspolitik die Zusammenarbeit mit den Religionsgemeinschaften vor Ort in Bereichen wie Bildung, Gesundheitswesen und sozialer Wiederaufbau in Konfliktgebieten. Quelle: http://www.europarl.europa.eu/de/headlines/content/20110526STO20296/html/Dialog, abgerufen am 1. Juni 2011.

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Der religionspolitische Dialog innerhalb der Europäischen Union wird in Zukunft an Bedeutung zunehmen. Dafür sprechen mehrere Gründe. Religiöse Vielfalt und Unterschiedlichkeit werden durch Migration erheblich beschleunigt. Dadurch entstehen Spannungen, aber durchaus auch Chancen für einen neuen Dialog. Ein anschauliches Beispiel dafür sind die vielfältigen Begegnungen mit dem Islam. Des Weiteren bringen die Erweiterung der Union durch die osteuropäischen Staaten und ebenso die bevorstehenden Erweiterungsschritte im südosteuropäischen Raum eine zunehmende Rolle der orthodoxen Kirchen byzantinischer Tradition.32 Religion in säkularisierten Gesellschaften wird zunehmend zum Motor zivilgesellschaftlichen Engagements. Religionsgemeinschaften treten als zivilgesellschaftliche Akteure in Erscheinung. Sie sind Repräsentanten von Glaubensrichtungen, die oft in einem konkurrierenden Verhältnis stehen. Es ist die Aufgabe des Staates, religiösen Pluralismus zu schützen. Das Leitbild einer demokratischen Gesellschaft verlangt auch die Sicherung der Pluralität der Glaubensrichtungen: Der Staat muss die gegenseitige Respektierung und Tolerierung verschiedener Überzeugungen sichern.33 Religiöser Pluralismus stellt auch an die Religionsgemeinschaften selbst neue Anforderungen. Pluralistische Konkurrenz führt zu neuen Formen der Kooperation. Transnationale Zusammenschlüsse verstärken das religiöse Engagement. COMECE, die im Jahr 1980 gegründete Kommission der Bischofskonferenzen der Europäischen Gemeinschaft, sowie GEKE, die Gemeinschaft Evangelischer Kirchen, sind gute Beispiele dafür. Ebenso sind neue Impulse für die Ökumene zu erwarten. Die Ausführungen dieses Beitrages waren der Versuch, Säkularisierung als historisch-politischen und soziologischen Begriff in verschiedenen Facetten zu beschreiben. Sie ist ein weitreichender Prozess, der auch in den Mitgliedsstaaten der Europäischen Union zu gesellschaftlichen Veränderungen führte. Entgegen zahlreichen Prognosen hat er jedoch nicht seinem Verschwinden von Religion in der Gesellschaft geführt. Der Stellenwert der Religion ist nach wie vor bedeutend. Er ist als politische Herausforderung zu begreifen, die zu neuen religionspolitischen Orientierungen führt. Die neue Situation bringt aber auch für Religion und religiöse Gemeinschaften neue Herausforderungen. Der frühere britische Premierminister Tony Blair, der zum katholischen Glauben konvertierte und in der von ihm gegründeten „Faith Foundation“ eine Plattform für den interreligiösen Dialog geschaffen hat, hat es sehr einprägsam beschrieben: „Und schließlich müssen die Religionsführer eine neue Verantwortung akzeptieren: fest und entschlossen für den Respekt gegenüber Menschen anderen Glaubens einzutreten. Aggres32

Es handelt sich dabei um orthodoxe Nationalkirchen der byzantinischen Tradition, die autokephal sind, d. h., sie werden durch gewählte Patriarchen geleitet (z. B. die Orthodoxen Kirchen in Estland, Lettland, Serbien, Rumänien, Bulgarien, Griechenland, Albanien). 33 Dieser Gedanke findet mehrfachen Ausdruck in der Rechtsprechung des EGMR – siehe die bei Grabenwarter, Europäische Menschenrechtskonvention (Anm 14), angeführte Judikatur, S. 263.

Säkularisierung im Lichte der europäischen Integration

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sive Säkularisten und Extremisten nähren sich gegenseitig. Zusammen stellen sie für gläubige Menschen eine echte Herausforderung dar. Wir müssen den liebenden Charakter wahren Glaubens demonstrieren, ansonsten wird die Religion durch einen Kampf definiert, in dem Extremisten die Kontrolle über die Glaubensgemeinschaften ergreifen und die Säkularisten behaupten, dass eine solche Einstellung für die Religion wesenhaft sei.“34

34 „Vom Glauben im Zeitalter der Globalisierung“, in der Zeitung „Der Standard“ vom 3. Jänner 2011, S. 19.

Die Grundrechte im Spannungsfeld von Kirche und Staat – „Unterbelichtete“ Aspekte des Problems Von Heribert Franz Köck I. Einleitende Bemerkung Der Jubilar, dem die vorliegende Festschrift gewidmet ist, hat als Generalvikar der Erzdiözese Salzburg wie kaum ein Zweiter die drängenden Probleme der Kirche und die Schwierigkeit, sie unter den obwaltenden Verhältnissen einer befriedigenden Lösung zuzuführen, persönlich kennengelernt und sich in seinem reichen Schrifttum als Universitätsprofessor auch mit vielen Fragen des Verhältnisses von Kirche und Staat auseinandergesetzt. Sein Wirken stand stets unter dem Augustinus zugeschriebenen Wort „in necessariis unitas, in dubiis libertas, in omnibus caritas“. Es erscheint daher nicht verfehlt, ihm diesen Beitrag zu Grundrechtsfragen, die zwei wichtige, in der Diskussion aber meist diskret um- bzw. übergangene Punkte betreffen, zu widmen. II. Die Funktion von Grundrechten Grundrechte schaffen Freiheitsräume für das Individuum. Ursprünglich wurden sie als Abwehrrechte gegen den Staat verstanden, heute verstehen sie sich aber auch als Abwehrrechte gegen Übergriffe von nicht-staatlicher Seite. Sie haben insoweit eine Drittwirkung, als sie auch Andere („Dritte“) verpflichten, die Grundrechte des Einzelnen zu achten und nicht in seine Freiheitsräume einzugreifen.1 Sie sind insoweit auch Schutzrechte, als vom Staat ein Schutz gegen derartige Übergriffe beansprucht werden kann. Die positivierten Grundrechte sind überdies die einzigen Anhaltspunkte dafür, welche Werte auch in der pluralistischen Gesellschaft von heute vom Staat zu beachten sind. Da der gesellschaftliche Pluralismus dem Staat und der internationalen Gemeinschaft nicht erlaubt, den religiösen, philosophischen und politischen Überlegungen nachzuforschen, welche den Einzelnen bestimmen mögen, eben diesen Staat und sein Recht, die internationale Gemeinschaft und ihr Recht, anzuerkennen und sich ihrem Gehorsamsanspruch zu unterwerfen, oder gar dem Einzelnen irgendwelche re1 Zur Drittwirkung von Grundrechten in Österreich vgl. allgemein Walter Berka, Grundrechte. Grundfreiheiten und Menschenrechte in Österreich, Wien/New York 1999, Rdnrn. 222 ff.

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ligiösen, philosophischen und politischen Überzeugungen aufzuerlegen,2 ist diese Anerkennung die einzige feste Grundlage von Staat und internationaler Gemeinschaft.3 Und sie wird erfahrungsgemäß nur dann geleistet, wenn Staat4 und internationale Gemeinschaft5 ihren Gemeinwohlzweck – Sicherheit, Freiheit und Wohlfahrt – ausreichend erfüllen. III. Nationale und internationale Positivierung der Grundrechte An positivierten, also im positiven Recht verankerten Grundrechten kennen wir solche heute auf drei Ebenen: staatliche Grundrechte, international-regionale Grundrechte und international-universelle Grundrechte. Soweit die auf universeller oder regionaler Ebene international verankerten Grundrechte für die Staaten verbindlich sind, sind die von den Staaten auch dann zu beachten, wenn ihr eigener Grundrechtskatalog hinter diesen internationalen Vorgaben zurückbleibt. Da der dem Einzelnen aufgrund der UN-Menschenrechtspakte von 1966, von denen hier vor allem der zweite, der International Covenant on Civil and Political Rights (ICCPR),6 in Betracht kommt, gewährte Rechtsschutz hinter jenem zurückbleibt, der aufgrund der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) vom 4. November 19507 gegeben ist, und da die in dieser Konvention und ihren Zusatzprotokollen niedergelegten Rechte in Österreich

2 Vgl. Ernst-Wolfgang Böckenförde, Staat – Gesellschaft – Freiheit. Studien zur Staatstheorie und zum Verfassungsrecht, Frankfurt/Main 1976, S. 60: „Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann […] Als freiheitlicher Staat kann er einerseits nur bestehen, wenn sich die Freiheit, die er seinen Bürgern gewährt, von innen her aus der moralischen Substanz des einzelnen und der Homogenität der Gesellschaft reguliert. Anderseits kann er diese inneren Regulierungskräfte nicht von sich aus das heißt mit den Mitteln des Rechtszwanges und autoritativen Gebots, zu garantieren versuchen ohne seine Freiheitlichkeit aufzugeben und – auf säkularisierter Ebene – in jenen Totalitätsanspruch zurückzufallen, aus dem er in den konfessionellen Bürgerkriegen herausgeführt hat.“ 3 Vgl. Heribert Franz Köck, Recht in der pluralistischen Gesellschaft. Grundkurs über zentrale Fragen von Staat und Recht, Wien 1998, S. 146 ff. 4 Zum Thema „Gemeinwohl und Staat“ vgl. Walter Kerber/Alexander Schwan/Alexander Hollerbach, Art. Gemeinwohl, in: StL7 II, Sp. 857 ff. 5 Zum Thema „Gemeinwohl und internationale Gemeinschaft“ vgl. Alfred Verdross, Der klassische Begriff des „bonum commune“ und seine Entfaltung zum „bonum commune humanitatis“, in: Österreichische Zeitschrift für öffentliches Recht und Völkerrecht 28 (1977), S. 143 ff. 6 Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte; authentischer Text in: United Nations Treaty Series, Bd. 999, S. 29 ff. 7 Europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten in der Fassung der Protokolle Nr. 11 und 14 samt Zusatzprotokoll und Protokolle Nr. 4, 6, 7, 12 und 13; deutscher Text als elektronisches Dokument des Europarates, http://www.echr.coe.int/NR/ rdonlyres/F45 A65CD-38BE-4FF7-8284-EE6C2BE36FB7/0/GER_CONVpdf.

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Verfassungsrang genießen8 und unmittelbar anwendbar sind, erscheint es zweckmäßig, vor allem auf diese Rechte zu rekurrieren, weil alle innerstaatlichen Normen in ihrem Lichte ausgelegt werden müssen oder, wo das nicht möglich ist, nicht angewendet werden dürfen. Da die Menschenrechte – wenn nicht in ihrer konkreten Ausgestaltung durch den ICCPR und die EMRK, dann doch in ihrem Kern – zum völkerrechtlichen ius cogens gehören, kann man sich ihnen gegenüber auch auf keine andere völkerrechtliche Regelung, z. B. aus einem Vertrag, berufen, um ihre Nichtbeachtung zu rechtfertigen.9 IV. Grundrechte als Rechte des Individuums Grundrechte sind die positivierte Form der Menschenrechte. Menschenrechte aber sind ihrem Wesen nach Individualrechte. Es geht um den Einzelnen und seinen Freiheitsraum. Nur diese Individualrechte“ sind „ursprüngliche“, „eigenständige“ Grundrechte. Diese Menschenrechte können daher auch keinem höheren Zweck untergeordnet werden. Sie müssen keinem „höheren“ Zweck weichen, weder dem des Staates noch dem der internationalen Gemeinschaft noch dem irgendeiner anderen Institution. Das lässt sich leicht auch dadurch zeigen, dass es kein vom Einzelnen losgelöstes „Gemeinwohl“ gibt. Das Gemeinwohl ist vielmehr nichts als die Summe jener Wohle, die den Individuen gemeinsam sind,10 weil alle an Sicherheit, Freiheit und Wohlfahrt ein Interesse haben. V. Das Grundrecht der Religionsfreiheit als Grundlage des Verhältnisses von Kirche und Staat Wenn wir unter diesen Voraussetzungen das Verhältnis von Kirche, Staat und Individuum in Hinblick auf die Grundrechte des letzteren betrachten, so ist vom Grundrecht der Religionsfreiheit auszugehen. Das hängt damit zusammen, dass – wie gerade gezeigt – alle Grundrechte ihrem Wesen nach Individualrechte sind, weil es immer um den Schutz des Freiheitsraums des Einzelnen vor Übergriffen der Gesellschaft geht – sei es von der Gesellschaft in ihren politischen Organisationsformen, dem Staat und überstaatlichen Gemeinschaften, sei es in ihren anderen, nicht-politischen Organisationsformen, sei es auch in deren einzelnen Gliedern. Zu den nicht-politischen Organisationsformen der Gesellschaft zählen auch die Kirchen 8

Vgl. BGBl. 59/1964. Vgl. die Art. 53 und 64 der Wiener Vertragsrechtskonvention von 1969. Vgl. dazu Jochen Abr. Frowein, Jus cogens, in: Encyclopedia of Public International Law III (1997), S. 65 f. 10 Vgl. Alfred Verdross, Abendländische Rechtsphilosophie, Wien 21963, S. 87 ff.; sowie Kerber/Schwan/Hollerbach, Art. Gemeinwohl (Anm. 4); auch Walter Kerber, Art. Gemeinwohl, in: LThK3 IV, Sp. 439 f. 9

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und Religionsgemeinschaften. Auch sie sind – wie der Staat und internationale Organisationen, aber auch wie innerstaatliche Körperschaften des öffentlichen Rechts oder privatrechtliche Vereine – Faktoren des die Freiheit des Einzelnen potentiell bedrohenden Umfeldes. Und auch gegen sie richtet sich daher der Abwehrcharakter der Grundrechte. Dies gilt auch für das Recht auf Religionsfreiheit. Das wurde nicht immer so gesehen. Frühere Epochen, die nicht vom Einzelnen, sondern von den Gemeinschaften ausgingen, in die der Einzelne eingebettet war, haben das Verhältnis von Kirche, Staat und Individuum unter dem Aspekt des Verhältnisses von Kirche und Staat betrachtet. Es ging nicht primär um die Religionsfreiheit des Einzelnen, sondern um die Freiheit der Kirche; und diese Freiheit der Kirche konnte für den Einzelnen sogar religiöse Unfreiheit bedeuten, wenn er sich mit der etablierten Kirche nicht identifizieren konnte, für religiös Andersdenkende aber kein Platz war.11 Diese Situation herrschte in den europäischen Staaten bis ins 18. Jahrhundert hinein vor, bis unter dem Einfluss der Aufklärung erste Schritte zur Emanzipation religiös Andersdenkender in Form von Toleranzedikten und -patenten12 gesetzt wurden. Auch der Verfassungsstaat des 19. Jahrhunderts stand noch unter dem Einfluss dieser Sicht. Es ist bezeichnend, dass die die Religionsfreiheit betreffenden, in den Artikeln 14, 15 und 16 des Staatsgrundgesetzes über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger von 186713 niedergelegten Grundrechte zwar die negative Religionsfreiheit für alle14 und für die Anhänger eines gesetzlich nicht anerkannten Religionsbekenntnisses die positive Religionsfreiheit in der (eingeschränkten) Form der häuslichen Religionsausübung15 beinhalten, den Anhängern einer gesetzlich anerkannten Kirche oder Religionsgemeinschaft16 aber nicht direkt die positive Religionsfreiheit gewährt, sondern nur indirekt über eben diese Kirchen und Religionsgemeinschaften, hinsichtlich derer es in Art. 15 StGG heißt: „Jede gesetzlich anerkann11 Noch der Augsburger Religionsfriede von 1555 gab nach dem Prinzip cuius regio eius religio den Fürsten ein Recht zur Festlegung der Religion ihrer Untertanen; jenen Untertanen, die sich dem aus Gewissensgründen nicht unterwerfen wollten, stand lediglich ein ius emigrationis zu. 12 So in Österreich unter Kaiser Joseph II. 1781 für die Protestanten und Griechisch-Orthodoxen, 1782 für die Juden. 13 RGBl. 142/1867. 14 Art. 14 StGG: „Die volle Glaubens- und Gewissensfreiheit ist jedermann gewährleistet. […] Niemand kann zu einer kirchlichen Handlung oder zur Teilnahme an einer kirchlichen Feierlichkeit gezwungen werden […].“ 15 Art. 16 StGG: „Den Anhängern eines gesetzlich nicht anerkannten Religionsbekenntnisses ist die häusliche Religionsübung gestattet, insoferne dieselbe weder rechtswidrig, noch sittenverletzend ist.“ 16 Das Staatsgrundgesetz verwendet den Terminus „Religionsgesellschaft“, in der Staatskirchenrechts- bzw. Religionsrechtswissenschaft hat sich aber der Terminus „Religionsgemeinschaft“ durchgesetzt. Auch die jüngere Gesetzgebung verwendet den Begriff der „Gemeinschaft“, wie das Bundesgesetz über die Rechtspersönlichkeit von religiösen Bekenntnisgemeinschaften, BGBl. I Nr. 19/1998, zeigt.

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te Kirche und Religionsgesellschaft hat das Recht der gemeinsamen öffentlichen Religionsübung“. Dies zeigt deutlich, dass man damals das Recht auf individuelle Religionsfreiheit, jedenfalls in ihrer positiven Spielart, noch als ein von der Freiheit der jeweiligen Kirche oder Religionsgemeinschaft abgeleitetes Recht betrachtete oder seinen eigenständigen Charakter jedenfalls nicht näher reflektierte. 1. „Grundrechte“ der Kirchen und Religionsgemeinschaften als (bloß) abgeleitete Grundrechte Demgegenüber ist festzuhalten, dass das Recht auf Religionsfreiheit in seiner positiven wie negativen Spielart ein Recht des Einzelnen ist. Auch die sogenannte kollektive Religionsfreiheit ist nur eine Form der individuellen Religionsfreiheit, denn sie ist nichts anderes als das Recht des Einzelnen, seine Religion nicht nur allein, sondern auch gemeinsam mit anderen auszuüben. Dagegen haben die Kirchen und Religionsgemeinschaften überhaupt kein „ursprüngliches“, „eigenständiges“ Grundrecht und genießen als solche auch keine kollektive Religionsfreiheit; ihre Freiheit ist vielmehr von jener des Individuums abgeleitet, weil dessen Recht auf kollektive Religionsfreiheit je nach seinen Vorstellungen Strukturen und Verfahren voraussetzen kann, wie sie unter den Sammelbezeichnung „Kirchen“ und „Religionsgemeinschaften“ gegeben sind. Unter diesen Umständen ist es vom Standpunkt des Einzelnen aus jedenfalls nicht als negativ anzusehen, sondern kann sogar wünschenswert sein, wenn der Staat und andere politische Organisationsformen Kirchen und Religionsgemeinschaften rechtlich anerkennen und ihnen in ihrer Rechtsordnung eine ihrer gesellschaftlichen Bedeutung entsprechende Position zugestehen. Alle den Kirchen und Religionsgemeinschaften eingeräumten Rechte dürfen aber nicht so gestaltet sein, dass dadurch die Grundrechte des Einzelnen, insbesondere dessen Recht auf Religionsfreiheit, beeinträchtigt werden. 2. Die doppelte Verpflichtung des Staates zum Schutz und zur Achtung der Menschenrechte im Verhältnis des Einzelnen zu seiner Kirche oder Religionsgemeinschaft In diesem Zusammenhang sind zwei Aspekte zu beachten. Unter dem einen ist der Staat gegebenenfalls zu einem Tun in Sinne eines Schutzes der Grundrechte des Individuums, unter dem anderen jedenfalls zur Enthaltung von Maßnahmen zur Durchsetzung bestimmter kirchlicher Ansprüche gegen den Einzelnen verpflichtet. a) Staatlicher Grundrechtsschutz gegenüber Kirchen und Religionsgemeinschaften Einmal kann es Kirchen und Religionsgemeinschaften nicht gestattet sein, in die Grundfreiheiten des Einzelnen in einer Weise einzugreifen, die dem Staat, der Ge-

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sellschaft und ihren Gliedern verwehrt ist. Zum anderen darf der Staat seinerseits nicht zugunsten von Kirchen und Religionsgemeinschaften Akte setzen, die ihrerseits in die Grundrechte des Einzelnen eingreifen. Die Enthaltungspflichten des Staates gegenüber der Freiheitssphäre des Einzelnen können also durch die den Kirchen und Religionsgemeinschaften eingeräumten Rechte nicht aufgehoben sein; und der Staat hat dem Einzelnen Schutz gegenüber etwaigen Eingriffen in seine Freiheitssphäre seitens der Kirchen und Religionsgemeinschaften zu gewähren. aa) Keine „Grundrechte“ der Kirchen und Religionsgemeinschaften im internationalen Bereich Weder der ICCPR noch die Europäische Menschenrechtskonvention kennen (Grund-)Rechte von Kirchen und Religionsgemeinschaften. Soweit für die diese Konventionen überhaupt in Betracht kommen, ist dies nur indirekt der Fall, als sie von dem Recht des Einzelnen auf kollektive Religionsfreiheit profitieren. Dies zeigt, dass dem UN-Menschenrechtspakt und der Europäischen Menschenrechtskonvention die moderne Form des Grundrechtsverständnisses zugrunde liegt, wonach Grundrechte Individualrechte sind und nur vom Individuum als solchem in Anspruch genommen werden können. Das schließt natürlich nicht aus, dass mehrere Individuen ein Grundrecht, das sie teilen und das sie in einer bestimmten Weise nur gemeinsam genießen können, auch gemeinsam beanspruchen. So kann das Recht auf kollektive Religionsfreiheit, welches darin besteht, seine Religion gemeinsam mit anderen auszuüben, eben nur gemeinsam genutzt werden. Damit wird es aber nicht zum Recht einer Gruppe als solcher, sondern bleibt das Recht der einzelnen, das seinen Individualcharakter auch dann nicht verliert, wenn es im Einzelfall gebündelt wird. Durch diese Bündelung wird kein neues Recht zugunsten einer überindividuellen Einheit geschaffen. bb) Das „Grundrecht“ der Kirchen und Religionsgemeinschaften im österreichischen Recht Im Gegensatz zum ICCPR und zur Europäischen Menschenrechtskonvention kennt das österreichische Recht auch ein Grundrecht der Kirchen und Religionsgemeinschaften. Dieses ist in Art. 15 StGG für die gesetzlich anerkannten Kirchen und Religionsgemeinschaften niedergelegt, gilt aber heute mutatis mutandis auch für alle übrigen Bekenntnisgemeinschaften.17 Danach hat jede dieser Kirchen und Religionsgemeinschaften „das Recht der gemeinsamen öffentlichen Religionsübung, ordnet und verwaltet ihre inneren Angelegenheiten selbständig, bleibt im Besitze und Genusse ihrer für Kultus-, Unterrichts- und Wohltätigkeitszwecke bestimmten Anstal-

17 Vgl. Herbert Kalb/Richard Potz/Brigitte Schinkele, Religionsgemeinschaftenrecht. Anerkennung und Eintragung, Wien 1998, S. 23 ff.

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ten, Stiftungen und Fonds, ist aber, wie jede Gesellschaft, den allgemeinen Staatsgesetzen unterworfen“. In diesem Zusammenhang interessieren zwei Punkte. Der eine ist das Recht der Kirchen und Religionsgemeinschaften, ihre inneren Angelegenheiten selbständig zu ordnen und zu verwalten, der andere ihr Unterworfensein unter die allgemeinen Staatsgesetze. Der erste Punkt enthält das Recht auf die innere Selbständigkeit der Kirchen und Religionsgemeinschaften, der zweite einen Vorbehalt zugunsten der staatlichen Gesetze. Hinsichtlich dieses Vorbehalts wiederum gilt die Wesensgehaltssperre, welche besagt, dass der Gesetzgeber aufgrund eines solchen Gesetzesvorbehalts nicht in den Kernbereich des Grundrechts eingreifen darf und denselben unangetastet lassen muss. cc) Das „Grundrecht“ der Kirchen und Religionsgemeinschaften kein den Grundrechten des Einzelnen gleichwertiges Recht Der Umstand, dass die Freiheit der Kirchen und Religionsgemeinschaften, ihre inneren Angelegenheiten selbständig zu ordnen und zu verwalten, innerstaatlich als Grundrecht konzipiert ist, ist jedoch nicht geeignet, dieses Grundrecht zu einem den Grundrechten des Einzelnen gegenüber gleichwertigen Recht zu machen. Im Vergleich zu diesen eigentlichen Grundrechten, die immer Rechte des Individuums sind, ist das Recht der Kirchen und Religionsgemeinschaften auf innere Selbständigkeit also nur ein uneigentliches Grundrecht. Dies hat unmittelbare Folgen für das Verhältnis der beiden Arten von Grundrechten zueinander. Treffen zwei eigentliche Grundrechte aufeinander, so ist es notwendig, die beiden miteinander vereinbar zu machen. Das kann dazu führen, dass das eine oder andere von ihnen, möglicherweise auch beide, in einer ähnlichen Weise eingeschränkt werden müssen, wie dies auch auf der Grundlage eines Gesetzesvorbehaltes geschehen kann. (Selbstverständlich gilt auch hier, dass der Wesensgehalt beider Grundrechte unangetastet bleiben muss; die beiden Grundrechte müssen so miteinander vereinbar gemacht werden, dass beide bzw. diejenigen, die sich auf das eine oder das andere von ihnen berufen, noch wohl bestehen können.) Für das Zusammentreffen des uneigentlichen Grundrechts der Kirchen und Religionsgemeinschaften auf selbständige Ordnung und Verwaltung ihrer inneren Angelegenheiten mit den eigentlichen Grundrechten des Individuums gilt dieses Harmonisierungsgebot nicht. Ihnen gegenüber tritt es zurück; es hat keine einem Gesetzesvorbehalt ähnliche Wirkung, sondern lässt das eigentliche Grundrecht völlig unangetastet. Daher können sich Kirchen- und Religionsgemeinschaften nicht auf ihre innere Ordnung berufen, um die Verletzung eines Grundrechts gegenüber dem Einzelnen zu rechtfertigen. Vielmehr sind sie genauso wie alle nicht-kirchlichen Einrichtungen verpflichtet, der Drittwirkung der Grundrechte Rechnung zu tragen, und zwar ohne alle Abstriche.

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dd) Drittwirkung der Grundrechte des Einzelnen Zwar war die Drittwirkung der Grundrechte lange Zeit Gegenstand von Auseinandersetzungen, wobei sie insbesondere als mit der Privatautonomie unvereinbar bekämpft wurde, doch hat sich mittlerweile die Auffassung durchgesetzt, dass die den Grundrechten zugrundeliegenden Wertvorstellungen für die gesamte Rechtsordnung wirksam und daher nicht nur auf öffentlich-rechtliche, sondern auch auf privatrechtliche Beziehungen anwendbar seien. Sie findet ihre Grenze erst dort, wo sie ihrerseits Grundrechte des Einzelnen unzulässig beeinträchtigen würde; hier muss der schon genannte ausgewogene Ausgleich zwischen unterschiedlichen Grundrechtsansprüchen gesucht werden. Da aber Kirchen und Religionsgemeinschaften ebenso wie der Staat und sonstige öffentlich-rechtliche und privatrechtliche Gemeinschaften nicht Träger von eigentlichen Grundrechten sein können, weil diese – wie ausgeführt – nur Individuen zukommen, können sie der Drittwirkung eigentlicher Grundrechte auch keine eigenen Grundrechte entgegenhalten. Diese Einsicht ist von weittragender Bedeutung, der sich Lehre und Rechtsprechung bis heute nicht wirklich bewusst sind. Tatsächlich ist die Umsetzung derartiger Einsichten in die Rechtswirklichkeit ein sich nur schrittweise vollziehender Prozess. Die entsprechende Bewusstseinsbildung schlägt sich mit einer gewissen zeitlichen Verzögerung auch in einer ausdrücklichen Positivierung nieder. Dies zeigt ein Vergleich der Europäischen Menschenrechtskonvention von 1950 mit der Charta der Grundrechte der Europäischen Union von 2000. Während erstere keinen allgemeinen Gleichheitsgrundsatz enthält und ein Diskriminierungsverbot nur in Zusammenhang mit den in ihr verankerten Grundrechten kennt18, widmet die EU-Grundrechtecharta der Gleichheit ein ganzes Kapitel19 mit sieben Artikeln. Zu nennen ist in diesem Zusammenhang insbesondere Art. 21 (Nichtdiskriminierung), nach dessen Abs. 1 „Diskriminierungen, insbesondere wegen des Geschlechts, der Rasse, der Hautfarbe, der ethnischen oder sozialen Herkunft, der genetischen Merkmale, der Sprache, der Religion oder der Weltanschauung, der politischen oder sonstigen Anschauung, der Zugehörigkeit zu einer nationalen Minderheit, des Vermögens, der Geburt, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung, … verboten [sind].“ sowie Art. 23 (Gleichheit von Männern und Frauen), nach dessen Abs. 1 „[d]ie Gleichheit von Männern und Frauen … in allen Bereichen, einschließlich der Beschäftigung, der Arbeit und des Arbeitsentgelts, sicherzustellen [ist]“. 18

Vgl. Art. 14 EMRK [Verbot der Diskriminierung]: „Der Genuss der in der vorliegenden Konvention festgelegten Rechte und Freiheiten muss ohne Unterschied des Geschlechts, der Rasse, Hautfarbe, Sprache, Religion, politischen oder sonstigen Anschauungen, nationalen oder sozialen Herkunft, Zugehörigkeit zu einer nationalen Minderheit, des Vermögens, der Geburt oder des sonstigen Status gewährleistet werden.“ 19 Kapitel III, Art. 20 (Gleichheit vor dem Gesetz), Art. 21 (Nichtdiskriminierung), Art. 22 (Vielfalt der Kulturen, Religionen und Sprachen), Art. 23 (Gleichheit von Männern und Frauen), Art. 24 (Rechte des Kindes), Art. 25 (Rechte älterer Menschen) und Art. 26 (Integration von Menschen mit Behinderung).

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Die EU-Grundrechtecharta gilt nach ihrem Art. 51 (Anwendungsbereich), Abs. 1, Satz 1, zwar nur „für die Organe und Einrichtungen der Union unter Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips und für die Mitgliedstaaten ausschließlich bei der Durchführung des Rechts der Union“, doch bezieht sich das nur auf ihren formellen Anwendungsbereich und schließt nicht aus, dass alle in ihr niedergelegten Rechte, soweit sie einen materiellen Grundrechtscharakter haben, auch dort Achtung erheischen, wo es nicht um die Durchführung des Unionsrechts geht. Diese Auffassung findet eine Stütze in Art. 2 des Vertrags über die Europäische Union, nach welchem „[d]ie Werte, auf die sich die Union gründet, … die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte einschließlich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören, [sind]. Diese Werte sind allen Mitgliedstaaten in einer Gesellschaft gemeinsam, die sich durch Pluralismus, Nichtdiskriminierung, Toleranz, Gerechtigkeit, Solidarität und die Gleichheit von Frauen und Männern auszeichnet.“ Allein der Begriff der „Achtung der Menschenwürde“, einer Würde, die nach Art. 1 EU-Grundrechtecharta „unantastbar“ ist und die zu den Werten gehört, auf die sich die Union „[i]n dem Bewusstsein ihres geistig-religiösen und sittlichen Erbes gründet“,20 zeigt schon die umfassende Bedeutung der in Art. 2 EUV genannten Werte und Grundlagen für das Grundrechtsverständnis nicht nur der Union, sondern auch der Mitgliedstaaten. Auf ihnen aber beruht auch die EU-Grundrechtecharta, die sie ihrerseits weiter konkretisiert. Es ist unter diesen Umständen schon heute unverständlich, dass es noch immer Kirchen und Religionsgemeinschaften oder doch – um nicht diese Kirchen und Religionsgemeinschaften als solche in einem schiefen Licht erscheinen zu lassen – leitende Funktionäre in denselben gibt, die sich nicht scheuen, sich auf ein angebliches göttliches Recht zu berufen, um Verstöße gegen diese Grundwerte, die im Bereich ihrer Kirchen und Religionsgemeinschaften stattfinden, zu rechtfertigen und sich von der Beachtung von Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit, der Gleichheit von Mann und Frau und vom Verbot der Diskriminierung für dispensiert halten. Noch unverständlicher aber ist es, dass der Staat derartige Verstöße ohne Reaktion hingehen lässt und seine Untätigkeit auch noch Beweis für seine Achtung der religiösen Freiheit ansieht. Tatsächlich müsste der Staat gegen derartige Umtriebe einschreiten, nicht, weil er der Auffassung ist, dass sich diese Religionsrepräsentanten zu Unrecht auf den lieben Gott berufen – denn ein solches Urteil steht dem Staat der pluralistischen Gesellschaft nicht zu –, sondern weil eine solche Berufung auf den lieben Gott im Verhältnis zu den positivierten Grundrechten und Werten gar keine Relevanz haben kann. Diese religiösen Funktionäre dürfen sich aber auch nicht täuschen. So wie früher die Diskriminierung der Frau augenzwinkernd zur Kenntnis genommen wurde, heute aber in Staat und Gesellschaft kein Kavaliersdelikt mehr darstellt, wird man auch die merkwürdigen Vorstellungen, die heute noch bei führenden Vertretern von Kirchen 20

EU-Grundrechtecharta, Präambel, Abs. 2.

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und Religionsgemeinschaften zu diesem und ähnlichen Themen herrschen, nicht auf Dauer hinnehmen. Das heißt ja noch nicht, dass der Staat oder die Europäische Union unter Berufung auf den in Art. 23 Abs. 1 EU-Grundrechtecharta (Gleichheit von Männern und Frauen), zum Ausdruck gebrachten Grundsatz, nach welchem „[d]ie Gleichheit von Männern und Frauen … in allen Bereichen, einschließlich der Beschäftigung, der Arbeit und des Arbeitsentgelts, sicherzustellen [ist]“, gleich dekretieren würden, von jetzt an müssten auch Frauen zum geistlichen Amt in jenen Kirchen und Religionsgemeinschaften zugelassen werden, die sich dazu nicht von innen heraus aufgerafft haben. Es kann aber bedeuten, dass die Beziehung zu diesen Kirchen und Religionsgemeinschaften eingefroren und – was wohl noch schlimmer wäre – dass alle finanzielle Leistungen an sie eingestellt werden, weil nicht einzusehen ist, warum der Staat Einrichtungen fördern soll, welche wesentliche Grundwerte der Gesellschaft für ihren eigenen Bereich ablehnen und sich für die Diskriminierung von Frauen bei der Zulassung zu kirchlichen Ämtern auf den Willen Gottes berufen zu können glauben.21 ee) Schutz der Grundrechte des Individuums gegenüber Kirchen und Religionsgemeinschaften keine Ermessensfrage Es wäre auch verfehlt, die Antwort auf die Frage, ob der Staat hier tätig werden soll, in den Bereich des staatlichen Ermessens zu stellen. Zu den Grundrechten des Einzelnen gehört auch das in Art. 6 Abs. 1 EMRK verankerte Recht jedermanns, „dass seine Sache in billiger Weise öffentlich und innerhalb einer angemessenen Frist gehört wird, und zwar von einem unabhängigen und unparteiischen, auf Gesetz beruhenden Gericht, das über zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen oder über die Stichhaltigkeit der gegen ihn erhobenen strafrechtlichen Anklage zu entscheiden hat“. Damit trifft den Staat eine Justizgewährleistungspflicht, und zwar auch im Zusammenhang mit dem Verhältnis des Einzelnen zu seiner Kirche oder Religionsgemeinschaft. ff) Staatliche Justizgewährleistungspflicht Diese Justizgewährleistungspflicht greift spätestens dann, wenn der Einzelne nicht in der Lage ist, seine Grundrechte im Rahmen der betreffenden Kirche oder Religionsgemeinschaft wirksam geltend zu machen. Die herrschende Lehre und Rechtsprechung anerkennen zwar eine derartige Pflicht des Staates, doch greift dieselbe derzeit noch zu kurz, weil sich die staatlichen Instanzen scheuen, damit auch 21 Vgl. Johannes Paul II., Apostolisches Schreiben Ordinatio sacerdotalis vom 22. Mai 1994, in: AAS 86 (1994), S. 548 ff., wo von der „ Angemessenheit jener göttlichen Verfügung [dass nur Männer zum Priesteramt zugelassen werden dürfen] für die Kirche“ die Rede ist. „[D]er wahre Grund liegt darin, dass Christus es so festgelegt hat, als er die Kirche mit ihrer grundlegenden Verfassung und ihrer theologischen Anthropologie ausstattete“. Vgl. aber Gisbert Greshake, Art. Ordinatio Sacerdotalis, in: LThK3 VII, Sp. 1110 f.

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ernst zu machen und „[w]egen der fehlenden religiösen Kompetenz säkularstaatlicher Organe und zum Schutze des kirchlichen Selbstbestimmungsrechts … Entscheidungen über religiöse Fragen völlig ausgeblendet werden“.22 Damit wird völlig verkannt, dass für die Frage, ob eine Kirche oder Religionsgemeinschaft gegen die Grundrechte verstoßen hat, keine religiöse, sondern bloß eine juristische Kompetenz nötig ist und dass es kein kirchliches Selbstbestimmungsrecht geben kann, welches den Verstoß gegen Grundrechte rechtfertigt. b) Der Ausschluss des bracchium saeculare Der zweite Punkt betrifft Eingriffe des Staates in die Grundrechtssphäre des Einzelnen, und zwar insbesondere im Bereich der Religionsfreiheit, die ihm an sich verwehrt wären, die er aber für gerechtfertigt ansieht, wenn er von der betreffenden Kirche oder Religionsgemeinschaft dazu legitimiert wird. Zum Teil stützt er sich dabei auch auf Konstruktionen, die dazu dienen sollen, dem Eingriff einen neutralen, nicht die Religionsfreiheit tangierenden Charakter zu geben. Das Problem läuft, pointiert gesagt, auf die Frage hinaus, ob der Einzelne seine Rechte aus der Religionsfreiheit an der Tür zur Kirche oder Religionsgemeinschaft abgibt. Damit ist noch nicht jener Themenbereich angesprochen, der in den letzten Jahren verstärkt unter dem Sammeltitel „Menschenrechte in der Kirche“ diskutiert wird,23 jedenfalls dann nicht, wenn man ihn unter dem Aspekt des Verhältnisses des Einzelnen zu seiner Kirche oder Religionsgemeinschaft betrachtet. Man kann den Themenbereich zwar auch nicht völlig isolieren, weil – soweit dieses Verhältnis nicht auf den Gewissensbereich beschränkt bleibt, sondern nach außen in Erscheinung tritt – die Kirchen und Religionsgemeinschaften vom Standpunkt des Staates aus „den allgemeinen Staatsgesetzen unterworfen“24 sind, zu denen insbesondere auch die nationalen und die unmittelbar anwendbaren internationalen Grundrechte zählen.25 Hier interessiert aber nur die Frage, ob sich der Einzelne als Angehöriger 22

Herbert Kalb/Richard Potz/Brigitte Schinkele, Religionsrecht, Wien 2003, S. 79, mit Verweis auf das Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofs vom 22. Jänner 2003, welches überdies dahingehend differenziert, dass die Gewährung staatlichen Rechtsschutzes „subsidiär … in Betracht“ komme, nämlich „dann und insoweit, als [innerhalb der Kirche oder Religionsgemeinschaft] ein den wesentlichen rechtsstaatlichen Grundsätzen verpflichtetes Verfahren … nicht bereit oder dem Beschwerdeführer nicht offen stünde“. Vgl. dazu auch Wilhelm Rees, Faire Verfahren in der Kirche. Rechtsschutz in der römisch-katholischen Kirche, besonders im kirchlichen Strafverfahren, in: Martha Heitzer/Hans Peter Hurka (Hrsg.), Mitbestimmung und Menschenrechte. Plädoyer für eine demokratische Kirchenverfassung, Innsbruck 2011, S. 255 ff. 23 Vgl. Heribert Franz Köck, Menschenrechte in der Kirche, in: Heitzer/Hurka (Hrsg.), Mitbestimmung und Menschenrechte (Anm. 22), S. 79 ff. Der Band enthält auch einschlägige Beiträge von Gotthold Hasenhüttl, Walter Kirchschläger, Daniel Kosch, Wilhelm Rees, Leonard Swidler und Paul Wess. 24 Art. 15 StGG. 25 Vgl. dazu oben III.

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einer Kirche oder Religionsgemeinschaft gegenüber dem Staat nicht auf sein Recht auf Religionsfreiheit berufen kann, wenn der Staat dieser Kirche oder Religionsgemeinschaft seine Hand zur Durchsetzung von Pflichten leiht, die sich nach ihrer Auffassung für den Einzelnen aus der Mitgliedschaft zu ihr ergeben. Da es sich in dem gleich noch zu behandelnden konkreten Fall um ein leider auch emotional besetztes Problem handelt, das nur selten leidenschaftslos diskutiert werden kann, erscheint es zweckmäßig, es zuerst abstrakt zu klären. Ist dies einmal geschehen, ist das Ergebnis nur noch emotionslos auf den konkreten Fall anzuwenden. aa) Positive und negative Religionsfreiheit Es ist zweckmäßig, dabei von Art. 9 EMRK (Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit) auszugehen, der – wie schon gesagt – in Österreich im Verfassungsrang steht. Nach dessen Abs. 1 hat „[j]edermann … Anspruch auf Gedanken-, Gewissensund Religionsfreiheit“ wobei „dieses Recht [auch] die Freiheit des einzelnen zum Wechsel der Religion oder der Weltanschauung sowie die Freiheit, seine Religion oder Weltanschauung einzeln oder in Gemeinschaft mit anderen öffentlich oder privat, durch Gottesdienst, Unterricht, Andachten und Beachtung religiöser Gebräuche auszuüben[, umfasst].“ Teils schon nach dem Wortlaut von Art. 9 Abs. 1 EMRK, teils nach herrschender Lehre und Rechtsprechung umfasst das Recht auf Religionsfreiheit auch die Weltanschauungsfreiheit, die insoweit von der Religionsfreiheit i. e.S. abgegrenzt werden muss, als sie auch nicht-religiöse Weltanschauungen schützt, und im Rahmen der Religionsfreiheit i. e.S. sowohl deren positive Seite, also als Recht zur individuellen und kollektiven, privaten und öffentlichen Religionsausübung, auch deren negative Seite, also das Recht, keine Religion zu haben, sich zu keiner Religion zu bekennen und keine Religion auszuüben, umfasst. bb) Ausübung der Religionsfreiheit als Form der Selbstbestimmung Es gehört zur Religionsfreiheit, dass ihre konkrete Ausübung, sozusagen ihre Ausgestaltung, dem Einzelnen überlassen bleibt, solange damit nicht Verhaltensweisen verbunden sind, die wegen ihrer Schädlichkeit für Andere ein Einschreiten des Staates rechtfertigen.26 Der Einzelne kann sich daher – wenn er überhaupt ein religiöses Bekenntnis ab- bzw. angibt – zu einer schon bestehenden Kirche oder Religionsgemeinschaften bekennen oder sich seine Religion nach seinen eigenen Vorstellungen eklektisch zusammenstellen. 26

Nach Art. 9 Abs. 2 EMRK kann der Staat „im Interesse der öffentlichen Sicherheit, der öffentlichen Ordnung, Gesundheit und Moral oder für den Schutz der Rechte und Freiheiten anderer“ eingreifen, wenn dies (selbst) in einer demokratischen Gesellschaft erforderlich sein sollte. Der Hinweis auf die „demokratische Gesellschaft“ bedeutet, dass nicht der Maßstab eines (autoritären) Polizeistaates angelegt werden darf.

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Er kann, auch wenn er sich zu einer bestimmten Kirche oder Religionsgemeinschaft bekennt, selbst bestimmen, welche Rechte und Pflichten ihm daraus erwachsen. Es gehört zum Wesen der Religionsfreiheit, dass der Staat diese durch den Einzelnen vorgenommene Ausgestaltung der Religionsfreiheit zur Kenntnis nehmen muss und sich in dieselbe nicht einzumischen hat. cc) Keine Beschränkung der (negativen) Religionsfreiheit durch die Ausübung der (positiven) Religionsfreiheit Die Religionsfreiheit kann nicht ihrerseits durch ihre Ausübung eingeschränkt werden, also dadurch, dass sich jemand zu einer bestimmten Kirche oder Religionsgemeinschaft bekennt. Ein solches Bekenntnis erlaubt es dem Staat noch nicht, der Kirche oder Religionsgemeinschaft sein bracchium saeculare zur Erzwingung jener Verpflichtungen, die nach Auffassung der betreffenden Kirche oder Religionsgemeinschaft aus einem solchen Bekenntnis erfließen, zur Verfügung zu stellen. Was den Staat anlangt, gilt daher – um die oben verwendete Formulierung wieder aufzugreifen –, dass der Einzelne seine Religionsfreiheit nicht an der Kirchentüre abgibt. Was der Einzelne, auch als Mitglied einer Kirche oder Religionsgemeinschaft, aus dieser Mitgliedschaft macht, ist allein seine Sache. Weder der Staat noch die betreffende Kirche oder Religionsgemeinschaft darf darauf Einfluss nehmen; und schon gar nicht durch den Einsatz staatlicher Zwangsmittel. Nun ist es klar, dass die Zeiten, wo dem Kirchenbann die Reichsacht folgte27, ebenso vorbei sind wie jene, wo man Ketzer auf dem Scheiterhaufen verbrannt hat.28 Wer heute – um ein Beispiel zu nennen – als Katholik die Auffassung vertritt, die Kirche gehöre dringend reformiert und das „römische System“29 in seiner jetzigen Form beseitigt, muss zumindest nicht damit rechnen, von Seiten der politischen Organisationsform der Gesellschaft, also von Seiten des Staates, verfolgt zu werden, 27 Seit 1220 gingen im Heiligen Römischen Reich Kirchenbann und Reichsacht Hand in Hand. Vgl. auch Plöchl II, S. 383. 28 Vgl. Ludwig Vones, Art. Inquisition, in: LThK3 V, Sp. 527 ff. 29 Also die zentralistische Kirchenregierung durch den römischen Papst mit Hilfe einer Kurie, die mit dem Papst auch ihre eigene Macht zementiert und jeder Reform der Kirche „an Haupt und Gliedern“ ablehnend, ja verständnislos gegenübersteht. Vgl. zuletzt Hans Küng, Ist die Kirche noch zu retten? München/Zürich 2011, bes. II. Diagnostik des römischen Systems, S. 67 ff. Vgl. auch Clemente Jos¦ Carlos Isnard, Gedanken eines Bischofs zu den heutigen kirchlichen Institutionen, deutsche Übersetzung der portugiesisch-sprachigen Originalausgabe, Gösing 2009, S. 59 f.: „Die Punkte, die ich aufzähle, sind disziplinarische, aber lebenswichtig für die Kirche: Die Ernennung der Bischöfe mit Beteiligung der Gläubigen, ohne päpstliche Geheimhaltung, die kirchenpolitische Seilschaften verbirgt und dem Volk Opfer abverlangt; die Gewährleistung für Priester, die keine Berufung zum Zölibat haben, dass sie ihr Priestertum das ganze Leben lang ausüben können; eine vollständige Öffnung für die Frau, damit sie ihren Platz in der Kirche einnehmen kann, den Platz, auf den sie schon seit zweitausend Jahren wartet; die apostolische Nachfolge (Sukzession), die jeden Bischof die authentische Vollmacht als Nachfolger der Apostel gibt und nicht nur die Möglichkeit, in violetten Pontifikalien zu zelebrieren.“

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auch wenn er durchaus von Seiten bestimmter Kreise der Zivilgesellschaft einem sozialen Druck ausgesetzt sein mag. dd) Staatliche Einhebung bzw. Eintreibung von „Kirchensteuern“ und „Kirchenbeiträgen“ In einem Bereich jedenfalls aber hat sich das bracchium saeculare aber noch erhalten, und zwar dort, wo der Staat seine Rechtsordnung und die darin vorgesehenen Zwangsmittel einer Kirche oder Religionsgemeinschaft zur Verfügung stellt, um finanzielle Beiträge der Mitglieder30 einzutreiben. Dies kann grundsätzlich in zweierlei Weise geschehen. Entweder diese Beiträge werden dem Einzelnen vom Staat als Steuer auferlegt und im Wege des staatlichen Steuerwesens eingehoben, wie dies heute in unterschiedlichen Varianten etwa in Deutschland und in Italien der Fall ist.31 Oder der Staat überlässt die Festsetzung und Einhebung der Beiträge den Kirchen und Religionsgemeinschaften, stellt diesen aber zur Eintreibung der Beiträge den staatlichen Rechtsweg einschließlich einer allfälligen Zwangseintreibung in Form der Exekution zur Verfügung, wie dies in Österreich geregelt ist.32 ee) Exkurs: Legitime Verpflichtungen des Staates gegenüber Kirchen und Religionsgemeinschaften Das gerade angesprochene Problem hat nichts mit den allgemeinen Verpflichtungen zu tun, die dem Staat aus der Existenz von Religion(en) erwachsen. Auch hier ist der Ausgangspunkt aber nicht das Interesse einer Kirche oder Religionsgemeinschaft, auch nicht das Interesse des Staates als solchem, sondern das religiöse Interesse der Einzelnen. Dieses Interesse steht mit dem Gemeinwohl nicht im Widerspruch, sondern deckt sich mit ihm in den Bereichen des staatlichen Freiheitszwecks und des staatlichen Wohlfahrtszwecks. Unter den Freiheitszweck fallen die Achtung und der Schutz der Religionsfreiheit. Unter den Wohlfahrtszweck fallen alle Bestimmungen, welche der Förderung der Befriedigung der religiösen Bedürfnisse der Bürger dienen, die genauso legitim sind wie viele andere Interessen. Hier gilt, dass „[d]er freiheitlich-demokratische 30 Zur Frage der finanziellen Beiträge zur Katholischen Kirche vgl. allgemein sowie spezifisch für Deutschland, Österreich und die Schweiz Joseph Listl/Herbert Kalb/Louis Carlen/ Wilhelm Zauner, Art. Kirchensteuer, in: LThK3 VI, Sp. 62 ff. 31 Vgl. Ute Suhrbier-Hahn, Das Kirchensteuerrecht. Eine systematische Darstellung, Stuttgart 1999; Erwin Gatz, Geschichte des kirchlichen Lebens, Bd. VI: Kirchenfinanzen, Freiburg 2000; Felix Hammer, Rechtsfragen der Kirchensteuer, Tübingen 2000; Brigitte Basdevant-Gaudemet/Salvatore Berlingo (Hrsg.), The Financing of Religious Communities in the European Union. Le financement des religions dans les pays de lÏUnion europ¦enne, Proceedings of the Conference organised by Prof. Salvatore Berlingo, Messina, 16 – 19 November 2006. Actes du colloque organis¦ par le Prof. Salvatore Berlingo, Messine, 16 – 19 novembre 2006, Leuven 2009. 32 Vgl. Kalb/Potz/Schinkele, Religionsrecht (Anm. 22), S. 412 f.

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Kultur- und Sozialstaat … seine Legitimation in der Berücksichtigung der pluralen Interessen seiner Bürger [findet] und … dabei die religiös-weltanschauliche Sphäre nicht ausblenden [darf].“33 Da die religiösen Bedürfnisse der Bürger nicht auf den kultischen Bereich eingeschränkt werden, sondern sich auf alle Bereiche des menschlichen Lebens erstrecken können, folgert daraus für den Staat die Pflicht, den Bürgern die Schaffung eines ihren religiösen Bedürfnissen entsprechenden Lebensraumes zu ermöglichen. Hierher gehören insbesondere auch die Finanzierung der von Kirchen und Religionsgemeinschafteten geführten Schulen, Krankenanstalten und Alters- und Pflegeheime, aber auch sonstiger von ihnen betriebener sozialer und karitativer Einrichtungen. Nichts zu tun hat die Frage, ob der Staat den Kirchen und Religionsgemeinschaften seinen Arm zur Eintreibung von Beiträgen leihen darf, auch mit der Frage, ob der Staat aus anderen Gründen zu finanziellen Leistungen an Kirchen und Religionsgemeinschaften verpflichtet ist, z. B. deshalb, weil er Vermögen der Kirchen und Religionsgemeinschaften an sich gezogen hat. Hier gilt das heute als allgemeiner Rechtsgrundsatz anzusehende Prinzip, dass derartige Enteignungen nur gegen eine angemessene Entschädigung zulässig sind. Zahlungen, die der Staat aus diesem Titel an Kirchen und Religionsgemeinschaften leistet, sind daher nicht nur die Erfüllung einer moralischen, sondern auch einer Rechtspflicht. Es liegt auf der Hand, dass der Staat diesen seiner verschiedenen Verpflichtungen gegenüber den Einzelnen bzw. den Kirchen und Religionsgemeinschaften nur aus seinen eigenen Einnahmen nachkommen kann, zu denen eben auch Steuern und Abgaben gehören. Es ist daher kein Verstoß gegen die (negative) Religionsfreiheit seiner Bürger oder eine unzulässige Begünstigung einer bestimmten Kirche oder Religionsgemeinschaft34, wenn der Staat im Rahmen des ihm Möglichen und Zumutbaren – denn auch die Kirchen und Religionsgemeinschaften nehmen am wirtschaftlichen Geschick der Gesellschaft teil und können sich von demselben nicht abkoppeln – diesen Kirchen und Religionsgemeinschaften entsprechende finanzielle Mittel zur Verfügung stellt, und zwar selbst dann, wenn dies aus den allgemeinen Steuertöpfen geschieht. Denn der Staat knüpft bei diesen Steuern ja nicht daran an, ob der Einzelne Mitglied einer bestimmten Religionsgemeinschaft, sondern lediglich daran, ob er nach den allgemeinen staatlichen Steuergesetzen ein Steuerpflichtiger ist.

33

Vgl. Kalb/Potz/Schinkele, Religionsrecht (Anm. 22), S. 1. Kein „establisment of religion“ im Sinne des 1. Zusatzartikels zur Verfassung der Vereinigten Staaten von 1789/91. Vgl. aber Maren Roenkötter, Die Establishment Clause der U.S. Verfassung und staatliche Unterstützung religiöser Privatschulen, Frankfurt am Main/Berlin/ Bern/Bruxelles/New York/Oxford/Wien 2011. 34

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ff) Staatliche Einhebung bzw. Eintreibung von „Kirchensteuern“ und „Kirchenbeiträgen“ (Fortsetzung) Anders verhält es sich, wenn der Staat dem Einzelnen eine Steuer gerade deshalb auferlegt, weil er Mitglied einer bestimmten Kirche oder Religionsgemeinschaft ist, oder wenn er dieser Kirche oder Religionsgemeinschaft den staatlichen Rechtsweg zur Eintreibung von Beiträgen zur Verfügung stellt. Denn das Recht auf individuelle Religionsfreiheit schließt auch das Recht des Einzelnen ein, die von seiner Kirche oder Religionsgesellschaft verordneten Beiträge zu entrichten oder nicht zu entrichten. Jeder staatliche Zwang zur Entrichtung solcher Beiträge ist daher mit der Religionsfreiheit unvereinbar und das Zurverfügungstellen des Rechtsweges zur Eintreibung eines solchen Beitrags verfassungswidrig. (1) Die Verfassungswidrigkeit von § 3 (1) Satz 2 Kirchenbeitragsgesetz Damit erweist sich § 3 (1) Satz 2 Kirchenbeitragsgesetz von 193935 („Für die Geltendmachung des Anspruches auf Kirchenbeiträge ist der Rechtsweg zulässig“) als verfassungswidrig. Es ist schon mit Art. 14 Abs. 3 StGG („Niemand kann zu einer kirchlichen Handlung … gezwungen werden“) unvereinbar, und müsste daher richtiger Weise im Falle einer Anfechtung vom Verfassungsgerichtshof schon aus diesen Grunde als verfassungswidrig aufgehoben werden. Es ist aber auch verfassungswidrig, weil es im Widerspruch zum Recht auf „negative“ Religionsfreiheit in Art. 9 EMRK steht; und es ist darüber hinaus völkerrechtswidrig, weil es gegen den das gleiche Recht enthaltenden Art. 18 ICCPR verstößt.36 Der Verfassungsgerichtshof hat zwar in einer Entscheidung37 die Auffassung vertreten, dass §§ 1 bis 3 Kirchenbeitragsgesetz keinen unmittelbaren Eingriff in die Rechtssphäre einer Person darstellen würden, weshalb sie die Feststellung der Verfassungswidrigkeit dieser Bestimmungen nicht beantragen könne. Der Eingriff erfolge erst durch die Entscheidung des Zivilgerichts über das Klagebegehren der Kirche auf Zahlung des Kirchenbeitrags. Falls allerdings die Sache vor das Zivilgericht kommt, so kann zwar nicht das in erster Instanz zuständige Gericht, aber ein zur Entscheidung in zweiter Instanz zuständiges Gericht oder der Oberste Gerichtshof einen Antrag auf Feststellung der Verfassungswidrigkeit beim Verfassungsgerichtshof stellen. Jede Verfahrenspartei kann dies anregen. Im Verfahren vor dem Verfassungsgerichthof wird darauf hinzuweisen sein, dass die grundrechtsrelevante Verfassungswidrigkeit des Kirchenbeitragsgesetzes nicht etwa darin besteht, dass die Kirche ihren Mitgliedern einen Beitrag vorschreibt, son35

Gesetz über die Erhebung von Kirchenbeiträgen im Lande Österreich, Gesetzblatt für das Land Österreich Nr. 543/1939. 36 Vgl. auch Art. 18 AEMR und (mit den oben bezüglich ihres unmittelbaren Anwendungsbereiches gemachten Einschränkungen) Art. 10 EU-Grundrechtecharta. 37 Beschluss vom 27. November 1981, GZ V3/81; G12/81; VfGH Slg. 9278.

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dern darin, dass der Staat für das Eintreiben dieses Beitrags den Rechtsweg zur Verfügung stellt, also den von der Kirche erhobenen Anspruch auf Kirchenbeitrag mit staatlichen Machtmitteln durchsetzt. Allein darin besteht der Verstoß gegen die Religionsfreiheit; eine pauschale Anfechtung des Kirchenbeitragsgesetzes oder seiner ersten drei Paragraphen ist dafür nicht erforderlich; es genügt die Anfechtung von § 3 (1) Satz 2 Kirchenbeitragsgesetz. Wenn ein zur Entscheidung in zweiter Instanz zuständiges Gericht oder der Oberste Gerichtshof keinen Antrag auf Feststellung der Verfassungswidrigkeit beim Verfassungsgerichtshof stellen oder wenn der Verfassungsgerichtshof nicht auf Feststellung der Verfassungswidrigkeit erkennt, so steht der Partei, gegen die ein verurteilendes Erkenntnis des in letzter Instanz entscheidenden Zivilgerichts ergeht, das Recht auf Beschwerde beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zu, die binnen sechser Monate ergriffen werden muss.38 (2) Keine Rechtfertigung aus in bilateralen völkerrechtlichen Verträgen enthaltenen Regelungen Verstößt das Zurverfügungstellen des staatlichen Rechtsweges zur Eintreibung von Beiträgen zu Kirchen und Religionsgemeinschaften gegen die auch international verankerten Grundrechte, so kann sich der Staat zur Rechtfertigung nicht auf etwaige bestehende besondere vertragliche Verpflichtungen berufen, wie sie insbesondere aus Art. XIV Abs. 3 des Konkordats mit dem Heiligen Stuhl von 193339 in Zusammenhalt mit Art. II Abs. 4 des Vermögensvertrags von 196040 abgeleitet werden könnten. Allerdings sprechen das Konkordat nur von Leistungen, die „im Einvernehmen mit der Staatsgewalt auferlegt wurden“, und der Vermögensvertrag überhaupt nur lapidar von einer „weiteren Einhebung“ der Kirchenbeiträge. Die Bestimmungen müssen daher nicht zwingend so ausgelegt werden, als bestünde eine unbedingte Verpflichtung für den Staat zur Bereitstellung des Rechtswegs zur Eintreibung von Kirchenbeiträgen. Da alle Bestimmungen eines Vertrags im Gesamt der Völkerrechtsordnung auszulegen sind, zu der auch die Prinzipien und Regelungen der Menschenrechte und Grundfreiheiten gehören, könnte der Heilige Stuhl heute nicht mehr auf

38 Vgl. Art. 35 EMRK [Zulässigkeitsvoraussetzungen], Abs. 1: „Der Gerichtshof kann sich mit einer Angelegenheit erst nach Erschöpfung aller innerstaatlichen Rechtsbehelfe in Übereinstimmung mit den allgemein anerkannten Grundsätzen des Völkerrechts und nur innerhalb einer Frist von sechs Monaten nach der endgültigen innerstaatlichen Entscheidung befassen.“ 39 BGBl. II Nr. 2/1934 i.d.g.F. Art. XIV Abs. 3 lautet: „Zur Hereinbringung von Leistungen seitens der Mitglieder von kirchlichen Verbänden wird der Kirche der staatliche Beistand gewährt, soferne diese Leistungen im Einvernehmen mit der Staatsgewalt auferlegt wurden oder aus sonstigen Titeln zu Recht bestehen.“ 40 BGBl. 195/1960 i.d.g.F. Art. 2 Abs. 4 lautet: „Die Kirchenbeiträge werden weiter eingehoben; über ihre Erträgnisse kann die Katholische Kirche frei verfügen.“

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einer Auslegung bestehen, die den Staat zu einer Maßnahme verpflichten würde, die mit diesen Menschenrechten und Grundfreiheiten unvereinbar sind. Zieht man noch in Betracht, dass die Grundrechte heute zumindest in ihrem Kernbestand zu völkerrechtlichem ius cogens gehören und daher alle Bestimmungen im Konkordat, die so ausgelegt werden müssten, dass sie den Staat zu Maßnahmen verpflichten, die gegen die „individuelle“ Religionsfreiheit verstoßen, wegen Verstoßes gegen ius cogens jedenfalls nichtig wären (ganz gleich, ob dieses ius cogens zum Zeitpunkt des Konkordatsabschlusses bereits bestanden hat oder erst später entstanden ist), kann sich heute aus Art. XIV Abs. 3 Konkordat und Art. II (4) Vermögensvertrag auf keinen Fall eine Verpflichtung Österreichs ergeben, der Katholischen Kirche für die Eintreibung des Kirchenbeitrags den Rechtsweg zur Verfügung zu stellen. (3) Keine Rechtfertigung aus einer Analogie mit („sonstigen“) Vereinen Es steht zu erwarten, dass zur Rechtfertigung des Umstandes, dass der Staat für das Eintreiben des Kirchenbeitrags den Rechtsweg zur Verfügung stellt, sinngemäß damit argumentiert werden wird, der Staat stelle ja auch sonst natürlichen und juristischen Personen zur Durchsetzung ihrer Ansprüche den Rechtsweg zur Verfügung; die Kirche werde daher in diesem Punkt nicht besser und nicht schlechter behandelt als jeder Verein auch. Dieses Argument ist verfehlt. Auf das Verhältnis des Einzelnen zu (s)einer Kirche oder Religionsgemeinschaft sind die Grundsätze und Normen betreffend das Verhältnis des Einzelnen zu (s)einem Verein nicht durchwegs übertragen bzw. per analogiam anwenden, weil die Grundsätze und Normen betreffend das Verhältnis des Einzelnen zu (s)einem Verein nicht unter der Einschränkung des Grundrechts auf „individuelle“ Religionsfreiheit stehen, das Verhältnis des Einzelnen zu (s)einer Kirche oder Religionsgesellschaft aber sehr wohl. Nicht alles, was der Verein gegenüber seinem Mitglied kann und darf, kann und darf die Kirche oder Religionsgesellschaft gegenüber ihrem Mitglied; und die Hilfe, die der Staat einem Verein zur Durchsetzung von Ansprüchen gegen (s)ein Mitglied leisten darf, darf er der Kirche oder Religionsgesellschaft zur Durchsetzung von Ansprüchen gegen ihr Mitglied nicht leisten. Die staatlichen Regelungen für „normale“ Vereine werden also nicht nur durch Art. 15 StGG zugunsten der „kollektiven“ Religionsfreiheit41 der gesetzlich anerkannten Kirchen und Religionsgemeinschaften, sondern auch durch Art. 14 StGG sowie durch die einschlägigen völkerrechtlichen Grundsätze und Bestimmungen zugunsten der „individuellen“ Religionsfreiheit (Art. 18 Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, Art. 18 ICCPR, Art. 9 EMRK, Art. 10 EU-Grundrechtecharta) – 41 In Wahrheit sichert Art. 15 StGG freilich die kollektive Religionsfreiheit, die ja auch ein Recht des bzw. der Einzelnen und nicht das eines Kollektivs ist, allenfalls indirekt durch die den anerkannten Kirchen und Religionsgemeinschaften zugestandenen Freiheiten.

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überlagert und dürfen daher, ja können – soweit diese Bestimmungen in Österreich im Verfassungsrang stehen – auf das Verhältnis des Einzelnen zu seiner Kirche oder Religionsgemeinschaft nicht angewendet werden. (4) Keine Rechtfertigung aus den Schranken der Religionsfreiheit Der staatliche Zwang zur Zahlung von Beiträgen an eine Kirche oder Religionsgesellschaft, wie er in der Zurverfügungstellung des Rechtsweges gegeben ist, kann auch nicht mit den in Art. 9 Abs. 2 EMRK genannten Gründen42 gerechtfertigt werden, weil die Ausübung eines solchen Zwanges in einer demokratischen Gesellschaft weder für die öffentliche Sicherheit, zum Schutz der öffentlichen Ordnung, Gesundheit oder Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer notwendig ist. gg) Nur interne kirchliche Sanktionen zur Eintreibung des Kirchenbeitrags zulässig Den Kirchen und Religionsgesellschaften bleiben gegenüber ihren Mitgliedern zur Eintreibung von Beiträgen nur jene Sanktionen, die ihnen nach ihrem eigenen Recht zur Verfügung stehen43 und in deren Verhängung der Staat – weil es sich um die selbständigen Ordnung und Verwaltung ihrer inneren Angelegenheiten handelt – nicht eingreifen darf, soweit diese Sanktionen nicht mit den Grundrechten des Einzelnen unvereinbar sind.44 VI. Zu einem partizipatorischen Kirchenverständnis Eine Umsetzung dieser Einsichten würde nicht nur eine wesentliche Verbesserung der Position des Individuums im Verhältnis zu seiner Kirche oder Religionsgemeinschaft durch vermehrten Rechtsschutz im Grundrechtsbereich bringen, sondern dieses Verhältnis als Ganzes auf eine Grundlage stellen, bei welcher der (dann wirklich) freiwilligen Beitragsleistung durch die eine Seite die Gewährung eines entsprechenden Mitspracherechts durch die andere Seite entsprechen müsste.45 Dies würde – um mit einem von der größten österreichischen Religionsgemeinschaft, der Katholischen Kirche, genommenen Bild zu schließen – durch einen unter den so geänderten Umständen erforderlichen partizipatorischen Entscheidungsprozess, durch partizipatorische Entscheidungsumsetzung und durch partizipatorische 42

Vgl. oben, Anm. 26. Zu diesen Kirchenstrafen vgl. allgemein Klaus Lüdicke, Art. Kirchenstrafen, in: LThK3 VI, Sp. 68 f. 44 Dazu vgl. oben V. 2. a). 45 Die innerkirchliche Problematik des derzeitigen Kirchensteuersystems spricht vorsichtig an auch Wilhelm Zauner, Art. Kirchensteuer VI. Praktisch-Theologische Probleme, in: LThK3 VI, Sp. 66 ff. 43

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Kontrolle den Charakter der Kirche als der Gemeinschaft des Volkes Gottes46, wie er vom Zweiten Vatikanischen Konzil47 herausgestellt wurde48, wesentlich sicht- und spürbarer machen.

46 Vgl. Christian Frevel/Wolfgang Kraus/Siegfried Weidenhofer/Medard Kehl/Rainer Bucher, Art. Volk Gottes, in: LThK3 X, Sp. 843 ff. 47 Und zwar besonders in der Dogmatischen Konstitution über die Kirche Lumen gentium, in: AAS 57 (1965), S. 5 ff. Dazu Antonio Acerbi, Art. Lumen gentium, in: LThK3 VI, Sp. 1118 ff. 48 Vgl. nochmals Kehl, Volk Gottes, III. Systematisch-theologisch, 4. Die grundlegende Gemeinsamkeit aller Glaubenden (Anm. 46), Sp. 848 f., hier Sp. 849: „Im Voraus zu jeder Unterscheidung der verschiedenen Charismen, Dienste und Ämter und zu jeder hierarchischen und ständischen Strukturierung hebt der Begriff Volk Gottes die allen Glaubenden gemeinsame, unter ihnen eine ,wahre GleichheitÐ beim Aufbau des Leibes Christi begründende Berufung zur Heiligkeit (LG 32), welche sich in der gemeinsamen Teilhabe am prophetischen, priesterlichen und königlichen Amt Christi realisiert (,gemeinsames PriestertumÐ) und zur gemeinsamen Verantwortung für die Sendung der Kirche als universales Heilssakrament befähigt (LG 10 – 12).“

Die Leugnung des Holocaust im Spannungsfeld zwischen der kirchlichen und der staatlichen Rechtsordnung Von Peter Krämer In einem instruktiven Beitrag, der sich mit der päpstlichen Diplomatie, mit ihrer Entstehung und historischen Entwicklung sowie mit der geltenden Rechtslage befasst, hat Hans Paarhammer, dem diese Festschrift gewidmet ist, darauf aufmerksam gemacht, dass die erste Funktion der päpstlichen Gesandten darin besteht, gleichsam ein Bindeglied zwischen den Ortskirchen und dem Apostolischen Stuhl zu sein.1 Diese Funktion kann natürlich nur wahrgenommen werden, wenn das Beziehungsverhältnis zwischen Kirche und Staat in dem jeweiligen Land geprüft wird, um dem Apostolischen Stuhl wichtige Informationen über Bestrebungen und Tendenzen im Kirche-Staat-Verhältnis zukommen zu lassen. Aus den Ausführungen von Paarhammer wird deutlich, dass der Apostolische Stuhl wie keine andere Institution in der weltweiten Staatengemeinschaft über einen Erfahrungsschatz des rechten Zusammenwirkens von Kirche und Staat verfügt.2 Umso erstaunlicher ist es, dass gerade heute, da der Prozess der Globalisierung im politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Bereich rapid fortschreitet, der Informationsaustausch zwischen dem Apostolischen Stuhl und den jeweiligen Ortskirchen gewissen Störungen zu unterliegen scheint. Entweder gelangen wichtige Informationen nicht oder in eingeschränkter Weise an den Apostolischen Stuhl oder diese werden in einzelnen Behörden des Apostolischen Stuhles unter Verschluss gehalten bzw. nicht weitergegeben, so dass manche Irritationen entstehen können. Hierfür ist die Leugnung des Holocaust durch einzelne Vertreter der sog. Piusbruderschaft ein treffendes Beispiel, was in den nachstehenden Überlegungen näher zu bedenken ist. I. Ausgangslage Ein Interview hat eine Entrüstung ausgelöst, die weltweit zu beobachten war: Das Interview, das der von Marcel Lefebvre illegal geweihte Bischof Richard Williamson in Zaitzkofen, einem Zentrum der Piusbruderschaft bei Regensburg, einigen Journa1 Hans Paarhammer, Die päpstliche Diplomatie. Funktionen und Aufgaben im Kontext der verschiedenen Systeme des Verhältnisses von Kirche und Staat in einer globalisierten Welt, in: Hans Paarhammer/Gerlinde Katzinger (Hrsg.), Kirche und Staat im Horizont einer globalisierten Welt, Frankfurt a. M. 2009, S. 119 – 140. 2 Vgl. ebd., S. 140.

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listen gegeben hat.3 Die weltweite Entrüstung entzündete sich vor allem daran oder wurde zumindest dadurch verstärkt, dass Papst Benedikt XVI. neben den anderen von Lefebvre 1988 illegal geweihten Bischöfen auch Bischof Williamson von der Strafe der Exkommunikation losgesprochen hat.4 Was ist nun aber Gegenstand des Interviews, das auf heftige Kritik gestoßen ist? Williamson stellt in dem Interview die Behauptung auf, dass der Holocaust gar nicht stattgefunden habe: „Es wurde kein Jude in Gaskammern getötet; das sind alles Lügen, Lügen, Lügen.“5 Nach Williamson sprechen historische Beweise stark dagegen, dass sechs Millionen Juden absichtlich in Gaskammern als eine vorsätzliche Politik Adolf Hitlers vergast wurden; allenfalls seien zweihundert- bis dreihunderttausend Juden in Nazi-Konzentrationslagern gestorben, aber nicht einer von ihnen durch Vergasung in Gaskammern. Nach einem Bericht, der unter dem Titel „Helden der Antimoderne“ in der Wochenzeitschrift „Der Spiegel“ 2010 erschienen ist6, denkt Williamson gar nicht daran, seine Ansichten zu den Gaskammern zu revidieren: „Tatsache bleibt, dass die sechs Millionen Vergasten eine Riesenlüge darstellen.“7 Freilich kann es in diesem Zusammenhang nicht darum gehen, sich mit den von Williamson vorgenommenen Geschichtsfälschungen auseinanderzusetzen. Eine solche Auseinandersetzung ist von historischer Seite aus bereits gründlich geführt worden.8 Außerdem ist ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts von Bedeutung, in welchem festgestellt wird, dass das Leugnen des Holocaust nicht unter das Grundrecht der Meinungsfreiheit nach Art. 5 Abs. 1 des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland falle; es handele sich hierbei vielmehr „um eine Tatsachenbehauptung, 3 http://www.svtplay.se/v/1413831/webbextra_langre_intervju_med_williamson (Stand: 11. 08. 2010). Vgl. hierzu: Hans Maier, Können Papst und Kirche irren?, in: Til Galrev (Hrsg.), Der Papst im Kreuzfeuer. Zurück zu Pius oder das Konzil fortschreiben?, Berlin 2009, S. 1 – 3. 4 Dekret der Kongregation für die Bischöfe (21. 01. 2009): Aufhebung der Exkommunikation von vier Bischöfen der Bruderschaft „St. Pius“, in: Wolfgang Beinert (Hrsg.), Vatikan und Piusbrüder. Anatomie einer Krise, Freiburg i. Br. 2009, S. 232 – 233; AAS 101 (2009), S. 150 f. Zu einer kirchenrechtlichen Würdigung der Aufhebung der Exkommunikation vgl. die überzeugenden Darstellungen von Stephan Haering („Der Apostolische Stuhl und die Priesterbruderschaft St. Pius X.“, in: TThZ 119, 2010, Heft 4) und Thomas Schüller („Zwischen päpstlicher Gnade und Schisma“, in: Christoph Böttigheimer/Erich Naab [Hrsg.], Weltoffen aus Treue, Sankt Ottilien 2009, S. 251 – 284). 5 Übersetzung des Interviews mit Richard Williamson, vgl. Anm. 3. 6 Peter Wensierski/Stefan Winter, Helden der Antimoderne, in: Der Spiegel 5/2010, S. 30 – 33. 7 Ebd., S. 30. 8 Vgl. Wolfgang Benz (Hrsg.), Dimensionen des Völkermords. Die Zahl der jüdischen Opfer des Nationalsozialismus, München 1991; Raul Hilberg, Die Quellen des Holocaust. Entschlüsseln und Interpretieren, Frankfurt 2002; Jean-Claude Pressac, Die Krematorien von Auschwitz. Die Technik des Massenmordes, München 21995. Über die historischen Arbeiten hinaus bietet einen bewegenden Einblick in das Leben und Leiden eines Konzentrationslagers die autobiografische Schrift von Viktor E. Frankl, … trotzdem Ja sagen zum Leben. Ein Psychologe erlebt das Konzentrationslager, München 161997.

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die nach ungezählten Augenzeugenberichten und Dokumenten, den Feststellungen der Gerichte in zahlreichen Strafverfahren und den Erkenntnissen der Geschichtswissenschaft erwiesen unwahr ist. Für sich genommen genießt eine Behauptung dieses Inhalts daher nicht den Schutz der Meinungsfreiheit“9. Hier geht es also nicht um die historische Auseinandersetzung mit der Leugnung des Holocaust, auch nicht um eine juristische Aufarbeitung nach der weltlichen Rechtslage, sondern vielmehr um die grundsätzliche Frage, ob und in welchem Umfang die Kirche zu innerweltlichen Sachverhalten Stellung beziehen kann. Ist eine verbindliche Lehrentscheidung in diesem Bereich überhaupt denkbar? Über welche Möglichkeiten verfügt die Kirche, gegenüber Gläubigen, die abweichende Meinungen vertreten und propagieren, vorzugehen oder diese sogar mit Sanktionen zu belegen? Welche Grenzen sind dabei zu beachten, wenn sich die Kirche nicht den Vorwurf gefallen lassen muss, per Dekret etwas entscheiden zu wollen, was Aufgabe der einzelnen wissenschaftlichen Disziplinen, hier vor allem der Geschichts- und Politikwissenschaft, ist oder in einem weltlichen Strafverfahren einer Klärung zugeführt werden sollte? II. Inhaltliche Reichweite kirchlicher Lehrentscheidungen Unstrittig ist, dass die Kirche den Anspruch erhebt, ihre Glaubens- und Sittenlehre verbindlich und unverwechselbar auszusagen. Freilich darf dies nicht in starrer Weise geschehen. Vielmehr geht es unter dem Beistand des Heiligen Geistes um einen Wechselbezug zwischen der kirchlichen Lehrautorität und dem im Volk Gottes wirksamen Glaubenssinn. Inwieweit kann dieser Anspruch aber auch auf innerweltliche Sachverhalte bezogen werden? Hierauf will c. 747 § 2 CIC, zu dem es keinen Vergleichscanon im früheren kirchlichen Gesetzbuch gibt, eine Antwort geben: „Der Kirche kommt es zu, immer und überall die sittlichen Grundsätze auch über die soziale Ordnung zu verkündigen wie auch über menschliche Dinge jedweder Art zu urteilen, insoweit die Grundrechte der menschlichen Person oder das Heil der Seelen dies erfordern.“

Der Verkündigungsdienst der Kirche im weiteren Sinn hat, wie Heinrich Mussinghoff im Kommentar zu c. 747 § 2 CIC betont, „zwei Bezugspunkte, die Menschenrechte und das Heil der Seelen. Die Kirche kann da nicht schweigen, wo die Menschenrechte in Gefahr geraten und missachtet werden oder wo das Heil der Seelen, das in der Kirche immer das höchste Gesetz sein muss, auf dem Spiel steht“10. In c. 747 § 2 CIC wird dabei zurückgegriffen auf das, was das Zweite Vatikanische Konzil in der Pastoralkonstitution „Gaudium et spes“ im Blick auf den Verkündigungsdienst der Kirche feststellt: „Immer und überall aber nimmt sie das Recht in Anspruch, in wahrer Freiheit den Glauben zu verkünden, ihre Soziallehre kund zu machen, ihren Auftrag unter den Menschen unbe9 10

Az. 1 BvR 23/94, veröffentlicht in BVerfGE 90, S. 241. Heinrich Mussinghoff, 747, Rdnr. 5, in: MK CIC (5. Erg.-Lfg., März 1987).

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hindert zu erfüllen und auch politische Angelegenheiten einer sittlichen Beurteilung zu unterstellen, wenn die Grundrechte der menschlichen Person oder das Heil der Seelen es verlangen.“ (GS 76,5)

Der Anspruch der Kirche, über politische Angelegenheiten, oder allgemeiner ausgedrückt, über innerweltliche Sachverhalte zu urteilen, ist also nicht unbegrenzt. Sie kann in diesem Bereich nur dann verbindlich Stellung beziehen, wenn die grundlegenden Rechte der menschlichen Person oder das Heil der Seelen bedroht sind. Eine solche Einschränkung hängt damit zusammen, dass die Kirche gemäß der Lehre des Konzils (vgl. GS 36) einerseits die Autonomie der irdischen Wirklichkeiten, also deren Eigenständigkeit und Eigengesetzlichkeit, anerkennt, diese aber andererseits nicht absolut setzt, weil die irdischen Wirklichkeiten über sich selbst hinaus auf Gott als den Schöpfer der Welt verweisen, und insofern einer sittlichen Beurteilung zugänglich sind.11 Was hat all dies nun aber mit der Leugnung des Holocaust zu tun? Aus den bisherigen Überlegungen folgt, dass die Kirche nicht beansprucht und auch nicht beanspruchen darf, historische Einzelfragen entscheiden zu wollen. Dies muss der Geschichtswissenschaft überlassen bleiben, der auch die Kompetenz zukommt, sich mit absonderlichen Einzelmeinungen auseinanderzusetzen und diese zu widerlegen. Der Holocaust darf aber nicht isoliert betrachtet werden, als ob es nur darum ginge, auf welche Weise, wann und wie viele Juden in den nationalsozialistischen Konzentrationslagern ums Leben gekommen sind. Der Holocaust steht für ein menschenverachtendes System, das unsägliches Leid über die Menschheit, insbesondere über das jüdische Volk, gebracht hat. Mit Betroffenheit stellt das Konzil fest: „Unmenschlich ist es, wenn eine Regierung auf totalitäre oder diktatorische Formen verfällt, die die Rechte der Person und der gesellschaftlichen Gruppen verletzen“ (GS 75,3). Wo das geschieht, geht es nicht mehr nur um historische Detailfragen, sondern um Verbrechen, zu denen die Kirche klar und eindeutig Stellung beziehen muss, erst recht, wenn es sich um einen bewusst geplanten und durchgeführten Völkermord handelt. Welche Möglichkeiten aber stehen der Kirche zur Verfügung, wenn der Holocaust von einzelnen Gläubigen und von (wenn auch unerlaubt) geweihten Amtsträgern geleugnet oder verharmlost wird? III. Möglichkeiten kirchlicher Maßnahmen gegen die Leugnung des Holocaust Bevor einzelne Maßnahmen ergriffen bzw. dargestellt werden, muss klar und eindeutig feststehen, wie die Kirche die Leugnung des Holocaust bewertet. Hier genügt es, auf den Brief Papst Benedikts XVI. hinzuweisen, den er am 10. März 2009 an die Bischöfe der katholischen Kirche bezüglich der Aufhebung der Exkommunikation der vier von Erzbischof Marcel Lefebvre geweihten Bischöfe gerichtet hat. In diesem 11

388.

Vgl. Kommentar von Alfons Auer zu GS 36, in: LThK VatII/3, Freiburg 21968, S. 385 –

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Schreiben räumt der Papst durchaus einen Fehler ein, in dem er von einer für ihn nicht vorhersehbaren Panne spricht, die darin bestand, dass die Aufhebung der Exkommunikation von dem Fall Williamson überlagert wurde. Wörtlich heißt es in dem Schreiben: „Der leise Gestus der Barmherzigkeit gegenüber vier gültig, aber nicht rechtmäßig geweihten Bischöfen erschien plötzlich als etwas ganz anderes: als Absage an die christlich-jüdische Versöhnung, als Rücknahme dessen, was das Konzil in dieser Sache zum Weg der Kirche erklärt hat. Aus einer Einladung zur Versöhnung mit einer sich abspaltenden kirchlichen Gruppe war auf diese Weise das Umgekehrte geworden: ein scheinbarer Rückweg hinter alle Schritte der Versöhnung von Christen und Juden, die seit dem Konzil gegangen wurden und die mitzugehen und weiterzubringen von Anfang an ein Ziel meiner persönlichen theologischen Arbeit gewesen war. Dass diese Überlagerung zweier gegensätzlicher Vorgänge eingetreten ist und den Frieden zwischen Christen und Juden wie auch den Frieden in der Kirche für einen Augenblick gestört hat, kann ich nur zutiefst bedauern. Ich höre, dass aufmerksames Verfolgen der im Internet zugänglichen Nachrichten es ermöglicht hätte, rechtzeitig von dem Problem Kenntnis zu erhalten. Ich lerne daraus, dass wir beim Heiligen Stuhl auf diese Nachrichtenquelle in Zukunft aufmerksamer achten müssen. Betrübt hat mich, dass auch Katholiken, die es eigentlich besser wissen konnten, mit sprungbereiter Feindseligkeit auf mich einschlagen zu müssen glaubten. Umso mehr danke ich den jüdischen Freunden, die geholfen haben, das Missverständnis schnell aus der Welt zu schaffen und die Atmosphäre der Freundschaft und des Vertrauens wiederherzustellen, die – wie zur Zeit von Papst Johannes Paul II. – auch während der ganzen Zeit meines Pontifikats bestanden hatte und gottlob weiter besteht.“12

Aus diesen Worten geht hervor, dass der Papst keineswegs hinter das Zweite Vatikanische Konzil zurück gehen will, erst recht nicht bezüglich der seit dem Konzil gegangenen Schritte der Versöhnung zwischen Christen und Juden. Die Leugnung des Holocaust durch Williamson ist für ihn nicht akzeptabel, weshalb er auch bedauert, dass er hierüber zum Zeitpunkt der Aufhebung der Exkommunikation in Unkenntnis war.13 Nach der Aufhebung der Exkommunikation sind zahlreiche Erklärungen theologischer Fakultäten und anderer Einrichtungen abgegeben worden, die hier nicht im Einzelnen dargestellt oder bewertet werden sollen. Es soll hier nur auf die Erklärung einiger Hochschullehrerinnen und -lehrer der Katholischen Universität Eichstätt 12 Benedikt XVI., Brief an die Bischöfe der Katholischen Kirche in Sachen Aufhebung der Exkommunikation der vier von Erzbischof Lefebvre geweihten Bischöfe (10. 03. 2009), in: Beinert (Hrsg.), Vatikan und Piusbrüder (Anm. 4) S. 249 – 256, hier S. 250; AAS 101 (2009), S. 270 – 275. 13 Mit Recht macht Roman A. Siebenrock darauf aufmerksam, dass kein kausaler Zusammenhang zwischen der Aufhebung der Exkommunikation und der Leugnung des Holocaust besteht: „Ich kenne keinen einzigen Moment im Lehren und Leben Joseph Ratzingers, resp. Papst Benedikts XVI., der einen solchen Verdacht begründen könnte. Daher frage ich mich, ob hier nicht bewusst verwischt worden ist; – zumal dieser Bischof noch nicht, oder vielleicht sogar endgültig nicht zur katholischen Kirche gehört oder gehören wird.“ (Quadratur des Kreises – oder: Die Grenzen des Heilmittels der Barmherzigkeit, in: Galrev [Hrsg.], Der Papst im Kreuzfeuer [Anm. 3], S. 43 – 53, hier S. 44.)

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Bezug genommen werden, in welcher der Fall Williamson besonders angesprochen wird. Für die Unterzeichner der Erklärung ist es nicht hinnehmbar, dass die Anhänger der Piusbruderschaft von den jüdischen Mitgläubigen der Gegenwart als Gottesmördern sprechen, solange diese nicht getauft seien; dies dürfe gerade in der Kirche des 20. Jahrhunderts nach 1945 nicht mehr akzeptiert werden. Unerträglich sei, dass ein Bischof der Priesterbruderschaft St. Pius X. das Versöhnungsbemühen des Papstes mit einer Geschichtslüge quittiert, die aller wissenschaftlichen Redlichkeit Hohn spricht. Ein Bischof, der die historische Wahrheit im Wissen darum verfälscht, dass er damit nicht nur auf allgemeine gesellschaftliche Ablehnung stößt, sondern auch ein Delikt begeht, das in Deutschland strafrechtlich geahndet wird, dürfe nicht rehabilitiert, sondern müsse in die Schranken gewiesen werden.14 Diese Forderung wird noch untermauert, wenn man die Erklärung des Zweiten Vatikanischen Konzils „Nostra aetate“ über das Verhältnis der Kirche zu den nichtchristlichen Religionen hinzu nimmt. Ein Grundanliegen des Konzils war es ja, „das den Christen und Juden gemeinsame geistliche Erbe“ herauszustellen (NA 4,6). Wie das Konzil betont, darf der gewaltsame Tod Jesu weder allen damals lebenden Juden ohne Unterschied noch den heutigen Juden zur Last gelegt werden. Auch wenn sich die Kirche als das neue Volk Gottes versteht, darf man die Juden nicht als von Gott verworfen oder verflucht darstellen, als wäre dies aus der Heiligen Schrift ableitbar. Deshalb darf niemand in der Katechese oder bei der Predigt des Gotteswortes etwas lehren, was mit der evangelischen Wahrheit und mit dem Geist Christi nicht in Einklang steht (vgl. NA 4,6). Nachdrücklich verurteilt das Konzil „alle Hassausbrüche, Verfolgungen und Manifestationen des Antisemitismus, die sich zu irgendeiner Zeit von irgendjemandem gegen die Juden gerichtet haben“ (NA 4,7).15 Welche Maßnahmen können nun aber von der Kirche gegenüber der Leugnung des Holocaust ergriffen werden, die nicht isoliert werden darf, sondern in einem größeren historischen und theologischen Zusammenhang steht? Hier ist zwischen Disziplinarmaßnahmen und Sanktionen im strafrechtlichen Sinn zu unterscheiden. 1. Disziplinarmaßnahmen In der kirchlichen Rechtsordnung spielt die Verpflichtung zum Gehorsam eine große Rolle. So sind die Gläubigen gemäß c. 212 § 1 CIC verpflichtet, in christlichem 14

Erklärung von Hochschullehrerinnen und Hochschullehrern der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt zur Rehabilitierung von Richard Williamson, in: Galrev (Hrsg.), Der Papst im Kreuzfeuer (Anm. 3), S. 235 – 236. Zum Vorwurf des Gottesmordes aus traditionalistischer Sicht vgl. u. a. Franz Schmidberger, Die Zeitbomben des Zweiten Vatikanischen Konzils, Stuttgart 1989, S. 17. 15 Bezüglich des Perspektivenwechsels, den die Konzilserklärung im Verhältnis zwischen Christen und Juden herbeigeführt hat, vgl. Roman A. Siebenrock, Einleitung zu Nostra aetate, in: Herders Theologischer Kommentar zum Zweiten Vatikanischen Konzil, 3. Bd., Freiburg 2005, S. 595 – 642, hier S. 616 ff.; Reinhold Bohlen, Wende und Neubeginn: Judentum und Kirche, in: Walter Andreas Euler (Hrsg.), 40 Jahre danach. Das Zweite Vatikanische Konzil und seine Folgen, Trier 2005, S. 53 – 69.

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Gehorsam das zu befolgen, was die geistlichen Hirten in Stellvertretung Christi als Lehrer des Glaubens erklären oder als Leiter der Kirche bestimmen. Der hier geforderte Gehorsam bezieht sich also unmittelbar auf den Bereich des Glaubens und die Gestaltung des kirchlichen Lebens, wobei eigens darauf verwiesen wird, dass der hier geforderte Gehorsam im Bewusstsein der eigenen Verantwortung geleistet werden soll.16 Über c. 212 § 1 CIC hinaus wird die Gehorsamsverpflichtung nachdrücklich im Hinblick auf die Kleriker eingeschärft; sie sind nach c. 273 CIC „in besonderer Weise verpflichtet, dem Papst und ihrem Ordinarius Ehrfurcht und Gehorsam zu erweisen“. Noch eindringlicher wird die Gehorsamsverpflichtung im Hinblick auf das Bischofsamt betont, insofern jeder, der in das Bischofsamt berufen wurde, gegenüber dem Apostolischen Stuhl einen Treueid zu leisten hat (vgl. c. 380 CIC). Ob und in welcher Weise ein solcher Treueid von Bischof Williamson und den anderen illegal geweihten Bischöfen geleistet wurde, bleibt fraglich. Doch ist das, was in c. 380 CIC eingefordert wird, auch auf diese zu beziehen, da sie die Autorität des Papstes grundsätzlich anerkennen. Die Verpflichtung zum Gehorsam macht natürlich nur dann einen Sinn, wenn derjenige, der den Gehorsam verweigert, zur Rechenschaft gezogen werden kann. Unter dieser Rücksicht stehen vielfältige Möglichkeiten disziplinärer Maßnahmen zur Verfügung, wozu unter anderem auch gehört, dass dem Betroffenen von der zuständigen kirchlichen Autorität untersagt wird, sich zu einem bestimmten Sachverhalt zu äußern, oder ihm auferlegt wird, den Sachverhalt gründlicher zu untersuchen und Aspekte mit zu bedenken, die von ihm bisher ausgeblendet wurden. Tatsächlich ist Bischof Williamson von Papst Benedikt XVI. untersagt worden, seine historisch unhaltbaren Thesen bezüglich der Leugnung oder Verharmlosung des Holocaust in der Öffentlichkeit weiterhin zu vertreten.17 Allerdings tauchen schon jetzt Zweifel auf, ob Williamson sich an das Verbot hält, was gegebenenfalls zu weiteren Maßnahmen führen kann. Natürlich kann eine innere Gesinnung nicht einfach hin per Dekret verändert werden. Es kann und muss aber eine loyale Einstellung gegenüber der zuständigen kirchlichen Autorität gefordert wer16

Vgl. Sabine Demel, Das Recht auf freie Meinungsäußerung unter dem Anspruch des christlichen Gehorsams – eine Quadratur des Kreises? in: MThZ 50 (1999), S. 259 – 273; Libero Gerosa, Meinungsfreiheit und Kommunikation in der Kirche. Ein kanonistischer Überblick, in: Karl-Theodor Geringer/Heribert Schmitz (Hrsg.), Communio in Ecclesiae Mysterio. Festschrift für Winfried Aymans, St. Ottilien 2001, S. 129 – 146, hier S. 132 f.; Ludger Müller, „Im Bewusstsein der eigenen Verantwortung …“ Die Gehorsamspflicht im kirchlichen Recht, in: AfkKR 165 (1996), S. 3 – 24, hier S. 10 f. 17 Vatikanisches Staatssekretariat, Note zu den vier Bischöfen der Bruderschaft „St. Pius X.“ (04. 02. 2009), in: Beinert (Hrsg.), Vatikan und Piusbrüder (Anm. 4), S. 237 – 239, hier v. a. S. 239. Eine Zurücknahme der Leugnung oder Verharmlosung des Holocaust durch Bischof Williamson ist bislang nicht erfolgt, auch wenn er am 30. 01. 2009 den Papst gebeten hat, sein „aufrichtiges Bedauern für das Leid und die Probleme zu akzeptieren“, in: http://www.rponline.de/panorama/ausland/Holocaust-Leugner-entschuldigt-sich_aid_667487.html [11. 08. 2010]. Hiermit hat sich Williamson nur für den Ärger entschuldigt, den er dem Papst bereitet hat, nimmt inhaltlich von seinen problematischen Äußerungen aber nichts zurück.

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den. Wo diese Loyalität in grober Weise verletzt wird, sind Sanktionen im strafrechtlichen Sinn unausweichlich. 2. Sanktionen im strafrechtlichen Sinn Im kirchlichen Gesetzbuch sind unterschiedliche Möglichkeiten vorgesehen, um eine Gehorsamsverweigerung oder Gebotsverletzung in strafrechtlicher Hinsicht zu ahnden. Einen ersten Ansatzpunkt bietet c. 1371 n. 2 CIC. Hiernach soll mit einer gerechten Strafe belegt werden, wer dem Apostolischen Stuhl, dem Ordinarius oder dem Oberen, der rechtmäßig gebietet oder verbietet, nicht gehorcht und nach Verwarnung im Ungehorsam verharrt. Der Straftatbestand ist also erst gegeben, wenn eine Verwarnung vorausgegangen ist, die aber nicht dazu führt, dass der Täter sein Verhalten ändert. Dann stellt sich nun aber die Frage, welche Sanktion verhängt werden kann bzw. als angemessen erscheint. Aus c. 1349 CIC geht hervor, dass eine Strafe für immer, also zum Beispiel die Entlassung aus dem geistlichen Stand, bei einer Gehorsamsverweigerung nach c. 1371 CIC nicht ausgesprochen werden kann; denn in der angeführten Rechtsnorm ist nur eine unbestimmte Strafe (mit einer „gerechten Strafe“ ist zu belegen …) vorgesehen, die keine für immer fortbestehende Wirkung nach sich ziehen kann. In Betracht kommen dürfte daher wohl am ehesten das Gebot, sich an einem bestimmten Ort, etwa in der Zurückgezogenheit eines Ordenshauses oder eines Säkularinstituts, aufzuhalten (vgl. c. 1336 § 1 n. 1 CIC), um den eigenen Standpunkt zu überdenken und keine Aktivitäten nach außen hin wahrzunehmen, bis die Gehorsamsverweigerung aufgegeben wird.18 Der Entzug eines Amtes, einer Vollmacht oder einer Befugnis (vgl. c. 1336 § 1 n. 2 CIC) dürfte im Fall von Bischof Williamson wohl kaum sinnvoll sein, da er kein Amt in der katholischen Kirche inne hat und als suspendierter Bischof keine Funktionen in der katholischen Kirche ausüben kann.19 In einem zweiten Schritt ist dann zu fragen, ob mit der Leugnung oder Verharmlosung des Holocaust auch ein Verstoß gegen den Glauben und die Einheit der Kirche gegeben ist. Wer den Holocaust leugnet oder verharmlost, der lehnt Kernaussagen des Zweiten Vatikanischen Konzils über die religiöse Freiheit und das Verhältnis der Kirche zu den nichtchristlichen Religionen ab und nimmt damit das authentische Lehramt der Kirche nicht ernst, sondern setzt sich über dieses hinweg. Unmissverständlich lehrt das Zweite Vatikanische Konzil, dass jeder Mensch ein Recht auf religiöse Freiheit hat und Zwang in religiösen Dingen der Freiheit des christlichen Glaubensaktes widerspricht (vgl. DH 2 und 10). Nach der Lehre des Konzils wird, wie die Erklärung über die nichtchristlichen Religionen herausstellt, „jeder Theorie oder Praxis das Fundament entzogen, die zwischen Mensch und Mensch, zwischen Volk und Volk bezüglich der Menschenwürde und der daraus 18

Die Sanktion nach c. 1336 § 1 n. 1 CIC kann nur Kleriker oder Ordensleute treffen, nicht aber die Laien (vgl. c. 1337 CIC); diesen könnten wohl aber gemäß c. 1336 § 1 n. 2 Mitwirkungsrechte oder Dienste und Ämter entzogen werden. 19 Vgl. Haering, Der Apostolische Stuhl und die Priesterbruderschaft St. Pius X. (Anm. 4).

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fließenden Rechte einen Unterschied macht“ (NA 5,2). Daraus folgt, dass die Kirche jede Diskriminierung eines Menschen oder jeden Gewaltakt gegen ihn um seiner Rasse, seiner Farbe, seines Standes oder seiner Religion willen verwirft, weil dies dem Geist Christi widerspricht (vgl. NA 5,3). Das sind Aussagen des authentischen Lehramtes, denen die Gläubigen, erst recht die geistlichen Amtsträger, „religiösen Gehorsam“ entgegenbringen müssen (vgl. c. 752 CIC). Und wer solche Lehren trotz Verwarnung hartnäckig ablehnt, soll mit einer gerechten Strafe belegt werden (vgl. c. 1371 n. 1 CIC). Bei der Leugnung oder Verharmlosung des Holocaust könnte aber noch ein anderer Aspekt von Bedeutung sein. Ist in einem solchen Verhalten nicht auch ein schismatischer Akt erkennbar, der die kirchliche Gemeinschaft zutiefst belastet und zu spalten droht? Natürlich ist mit Klaus Lüdicke deutlich zu unterscheiden zwischen einer einfachen Gehorsamsverweigerung und einem schismatischen Akt.20 Doch kann eine Gehorsamsverweigerung im Einzelfall so gravierend sein, dass von ihr eine Spaltung, ein Schisma, ausgeht, wie dies ja 1988 auf Grund der unerlaubt vorgenommenen Bischofsweihen geschehen ist. Sollte es tatsächlich zu einer Versöhnung mit der Piusbruderschaft kommen, was Papst Benedikt XVI. mit der Aufhebung der Exkommunikation angezielt hat, dann blieben die Thesen von Williamson für die kirchliche Gemeinschaft so belastend, dass eine Wiederherstellung der Einheit wohl kaum vorstellbar ist mit jenen, die an der Leugnung des Holocaust festhalten und diese propagieren. Im Übrigen ist ein schismatischer Akt auch dann gegeben, wenn verbal an der besonderen Stellung des Papstes in der Kirche festgehalten wird, diese Anerkennung aber im faktischen Verhalten keine Rolle spielt, sondern das Gegenteil von dem getan wird, was mit Worten nach außen hin zum Ausdruck kommt. In einem dritten Anlauf ist schließlich noch das weltliche Recht in Blick zu nehmen. Anlass hierfür bietet die Tatsache, dass das Amtsgericht von Regensburg Williamson am 16. April 2010 wegen Volksverhetzung mit einer Geldstrafe (10.000 Euro) belegt hat. Den Grund für die Verurteilung bildet der Vorwurf der Volksverhetzung (vgl. § 130 Abs. 3 StGB), der gegenüber Williamson wegen seiner in Zaitskofen gemachten Äußerungen zum Holocaust erhoben wurde. Aus der Tatsache eines solchen Strafverfahrens zieht Richard Puza nun die Folgerung, dass es innerkirchlich angebracht sei, eine entsprechende Bestimmung in das kirchliche Gesetzbuch von 1983 aufzunehmen, die das Leugnen des Holocaust eindeutig verbietet und unter Strafe stellt. Puza weist mit Recht darauf hin, dass dies bisher so nicht der Fall ist.21 Allerdings sind gegenüber dem Vorschlag, die Leugnung des Holocaust als Straftatbestand in den CIC aufzunehmen, von Stephan Haering starke Bedenken angemeldet worden. Denn so sehr eine öffentliche Leugnung der gewaltsamen Vernichtung von Millionen Juden sittlich zu verwerfen ist, könne es doch nicht Aufgabe des kanonischen Strafrechts sein, sich ausdrücklich mit solch speziellem Verfahren zu 20

Vgl. Klaus Lüdicke, 1371, Rdnr. 5, in: MK CIC, (38. Erg.-Lfg., Juli 2004). Richard Puza, Kirchenrechtliche Fragen zur Aufhebung der Exkommunikation, in: Galrev (Hrsg.), Der Papst im Kreuzfeuer (Anm. 3), S. 65 – 74, hier S. 74. 21

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befassen und damit andere ernsthafte Fehlhaltungen mittelbar herunterzuspielen.22 Auch wenn man wohl sagen muss, dass der Holocaust ein Verbrechen darstellt, das mit anderen Verbrechen in der Menschheitsgeschichte kaum vergleichbar ist, dürften die von Haering geäußerten Bedenken zurecht bestehen, zumal wenn man c. 1369 CIC im Hinblick auf eine Leugnung oder Verharmlosung des Holocaust heranzieht. Der in c. 1369 CIC umschriebene Straftatbestand lautet: „Wer in einer öffentlichen Aufführung oder Versammlung oder durch öffentliche schriftliche Verbreitung oder sonst unter Benutzung von sozialen Kommunikationsmitteln eine Gotteslästerung zum Ausdruck bringt, die guten Sitten schwer verletzt, gegen die Religion oder die Kirche Beleidigungen ausspricht oder Hass und Verachtung hervorruft, soll mit einer gerechten Strafe belegt werden.“ Für unseren Zusammenhang dürfte vor allem der zuletzt genannte Straftatbestand von Bedeutung sein: Das Hervorrufen von Hass und Verachtung. Näherhin ist damit natürlich das Hervorrufen von Hass und Verachtung gegen die Religion und die Kirche gemeint, was aus dem Textzusammenhang hervorgeht; c. 1369 CIC steht innerhalb des Abschnitts über Straftaten gegen die Religion und die Einheit der Kirche.23 In dieser Perspektive kann das Leugnen und Verharmlosen des Holocaust durchaus dazu führen, Hass und Verachtung gegen die Kirche zu schüren. Denn dann wird die Kirche in Verbindung gebracht mit einem menschenverachtenden System, das sich die Vernichtung des jüdischen Volkes zum Ziel gesetzt hat. Wenn also die Leugnung des Holocaust als Straftatbestand im kirchlichen Gesetzbuch nicht ausdrücklich aufgeführt wird bzw. werden sollte, dürfte sie unter Berücksichtigung von c. 1369 CIC auch kirchenrechtlich durchaus sanktioniert werden können, da ein solches Verhalten dazu angetan ist, Hass und Verachtung gegen die Kirche hervorzurufen. Zusammenfassend lässt sich nun sagen, dass die Kirche durchaus über Möglichkeiten verfügt, gegen die Leugnung oder Verharmlosung des Holocaust rechtlich vorzugehen. Das ist die Kirche dem jüdischen Volk schuldig angesichts der Verbrechen, die in der nationalsozialistischen Zeit an diesem Volk begangen wurden. Eindrucksvoll erinnert uns Benedikt XVI. an diese Verbrechen, wenn er in der Generalaudienz vom 28. Januar 2009 sagt: „In diesen Tagen, in denen wir der Shoah gedenken, kommen mir Bilder meiner wiederholten Besuche in Auschwitz wieder in Erinnerung, einem jener Lager, in denen der grausame Mord an Millionen von Juden, den unschuldigen Opfern eines blinden Rassen- und Religionshasses, verübt wurde. Während ich erneut aus ganzem Herzen meine volle und unbestreitbare Solidarität mit unseren Brüdern, den Trägern des ersten Bundes, zum Ausdruck bringe, wünsche ich, dass die Shoah die Menschheit dazu bewege, über die unvorhersehbare Macht des Bösen nachzudenken, die das Herz des Menschen ergreifen kann. Die Shoah sei für alle eine Mahnung gegen das Vergessen, gegen die Leugnung oder die Verharmlosung. Denn Gewalt, die gegen einen einzigen Menschen ausgeübt wird, wird

22 23

Vgl. Haering, Der Apostolische Stuhl und die Priesterbruderschaft St. Pius X. (Anm. 4). Vgl. Klaus Lüdicke, 1369, Rdnr. 6, in: MK CIC, (22. Erg.-Lfg., November 1993).

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gegen alle verübt … Die Würde des Menschen darf nie wieder von der Gewalt erniedrigt werden!“24

24 OssRom (dt.) 39 vom 6. 2. 2009, S. 6. Zur Beurteilung der Shoah vgl. auch Jan-Heiner Tück, „Wer euch antastet, tastet meinen Augapfel an…“ Anmerkungen zur Einzigartigkeit der Shoah, in: IKZ Communio 39 (2010), S. 440 – 453.

Zur Anwendbarkeit des Unternehmensgesetzbuches (UGB) auf kirchliche Rechtsträger Von Helmuth Pree I. Einleitung Hans Paarhammer hat sich als Kanonist nicht zuletzt im Bereich des kirchlichen Vermögensrechts einen Namen gemacht. Exemplarisch sei auf die beiden von ihm herausgegebenen (und mit mehreren Beiträgen aus seiner Hand versehenen) Sammelbände hingewiesen: „Vermögensverwaltung in der Kirche“ (Ritter-FS), Thaur 2 1988; sowie „Kirchliches Finanzwesen in Österreich. Geld und Gut im Dienste der Seelsorge“, Thaur 1989. In Anerkennung seiner Verdienste und in aufrichtiger Wertschätzung sei dem Jubilar der folgende Beitrag, der eine aktuelle vermögensrechtliche Frage aus dem Grenzbereich zwischen staatlichem und kirchlichem Recht aufgreift, gewidmet. Das Problem, auf welches die folgenden Seiten eine Lösung zu geben versuchen, lässt sich auf folgende Weise darstellen: § 189 des am 1. Januar 2007 in Kraft getretenen Unternehmensgesetzbuches (UGB, zuletzt geändert durch BGBl I 111/2010) unterwirft, soweit nicht anderes bestimmt wird, den Bestimmungen seines Dritten Buches („Rechnungslegung“) die Kapitalgesellschaften und unternehmerisch tätige Personengesellschaften, bei denen kein unbeschränkt haftender Gesellschafter eine natürliche Person ist (d. h. die GmbH & Co. KG) sowie alle anderen Unternehmer – mit Ausnahme der in Abs. 4 genannten (dazu zählen u. a. die freien Berufe sowie Land- und Forstwirte) –, die hinsichtlich der einzelnen einheitlichen Betriebe jeweils mehr als 700.000 E Umsatzerlöse im Geschäftsjahr (sog. Schwellenwert: § 189 Abs. 2) erzielen (§ 189 Abs. 1 UGB). § 189 Abs. 3 lautet: „Rechnungslegungsrechtliche Sonderbestimmungen gehen der Anwendung dieses Gesetzes vor.“ Die Regierungsvorlage1 nennt demonstrativ § 22 VereinsG 2002: Dies wird damit gerechtfertigt, dass „Vereine neben der Einnahmen-/Ausgaben-Rechnung auch ein Vermögensverzeichnis aufzustellen haben, so dass die Aktiva und Passiva des Vereinsvermögens ersichtlich sind“; weiters werden genannt: die betreffenden Bestimmungen des GenG, des BWG, des VAG; „aber auch jene der öffentlichen Hand (Kameralistik) sind vorrangig anzuwenden“. An dieser Aufzählung fällt auf, dass aus1

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schließlich Beispiele des staatlichen Rechts als Sonderbestimmungen angeführt werden. Hier stellt sich die Frage, ob mit dem Ausdruck „Rechnungslegungsrechtliche Sonderbestimmungen“ kirchenrechtliche Bestimmungen mit umfasst sind oder nicht. Auch die bislang erschienene Literatur zum UGB hat sich, soweit ersichtlich, dieses Problems nicht speziell angenommen.2 Die Antwort auf diese Frage ist entscheidend aus der staatskirchenrechtlichen Stellung der katholischen Kirche zu gewinnen. Darauf liegt der Schwerpunkt dieses Gutachtens. Dabei ist auch von Interesse, ob das katholische Kirchenrecht überhaupt verbindliche Regelungen über die Führung von Büchern und die Rechnungslegung enthält und wer für den Erlass rechnungslegungsrechtlicher Bestimmungen bei kirchlichen Trägern zuständig ist. II. Der Tatbestand „Unternehmen“ gemäß UGB Das Dritte Buch des UGB findet nur auf „Unternehmen“ gemäß § 1 Abs. 2 UGB Anwendung: „Ein Unternehmen ist jede auf Dauer angelegte Organisation selbstständiger wirtschaftlicher Tätigkeit, mag sie auch nicht auf Gewinn gerichtet sein.“3 Entscheidend ist dabei, dass auf dem Markt wirtschaftlich werthafte Waren oder Leistungen gegen Entgelt angeboten werden; das Entgelt muss nicht marktgerecht sein, Entgeltlichkeit liegt auch bei einem nur kostendeckenden Entgelt vor. Vorausgesetzt ist weiters ein Minimum an Organisation der wirtschaftlichen Tätigkeit, nicht jedoch eine bestimmte Unternehmensgröße. Bei der Selbstständigkeit der wirtschaftlichen Tätigkeit kommt es auf die rechtliche, nicht auf die wirtschaftliche Selbstständigkeit an.4 Die wirtschaftliche Tätigkeit muss auf Dauer angelegt sein, d. h. sie „darf sich von ihrer planmäßigen Absicht her jedoch nicht in einmaligen oder in Gelegenheitsgeschäften erschöpfen, sondern muss auf eine grundsätzlich offene Zahl von Geschäften hin ausgerichtet sein“, so dass z. B. regelmäßige kostenpflichtige Veranstaltungen den Unternehmensbegriff in der Regel erfüllen.5 Der Tatbestand des „Unternehmens“ ist folglich von vorneherein nicht gegeben im Falle der religiösen und seelsorgerlichen Aktivitäten der Kirche sowie des caritativen Wirkens kirchlicher Träger – sowie vergleichbarer Tätigkeiten der Non-Pro-

2 Das gilt auch für den soeben erschienenen, von Heinz Krejci herausgegebenen Reformkommentar: Heinz Krejci, Kommentar zu den durch das HaRÄG 2005 eingeführten Neuerungen im Unternehmensgesetzbuch und im Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuch, Wien 2007. 3 Zu den einzelnen Tatbestandsmerkmalen sowie zum Folgenden: Heinz Krejci, Das Unternehmensgesetzbuch (UGB), VR 2006,17 (II. A.); Wilma Dehn, in: Krejci, Reformkommentar (Anm. 2), S. 52 – 64 (§ 1, Rdnr. 17 – 61); Sonja Bydlinski, Das Unternehmensgesetzbuch im Überblick, in: ÖJZ 2006/4, S. 41 – 53. 4 Bydlinski, Unternehmensgesetzbuch (Anm. 3), S. 46. 5 Bydlinski, Unternehmensgesetzbuch (Anm. 3), S. 46.

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fit-Organisationen6. Diesbezüglich hat bereits der Justizausschuss verneinend Stellung bezogen, und zwar mit folgender Begründung: Die NPOÏs finanzieren sich nicht über Entgelte für ihre Leistungen, die sie auf dem Markt anbieten, sondern durch Mitgliedsbeiträge, Spenden und Subventionen; die Leistungen werden nicht in einer Marktsituation angeboten, sondern dort, wo sich ein Markt aufgrund der Bedürftigkeit der Leistungsbezieher erst gar nicht entwickeln kann.7 Kirchen, Religions- und Bekenntnisgemeinschaften und deren rechtsfähige Einrichtungen können jedoch auch tatsächlich wirtschaftliche Waren oder Dienstleistungen gegen Entgelt auf dem offenen Markt, d. h. in Konkurrenz zu Wirtschaftsunternehmen, anbieten und insofern unternehmerisch tätig werden.8 Bei Vereinen ist im Einzelfall zu prüfen, ob die Tatbestandsmerkmale des Unternehmens vorliegen, insbesondere, ob sie Waren und Dienstleistungen wirtschaftlicher Art regelmäßig auf dem Markt (über die Vereinsmitglieder hinaus) gegen Entgelt anbieten und über eine auf Dauer angelegte Organisation dieser wirtschaftlichen Tätigkeit verfügen.9 „Unternehmer kraft Rechtsform“ sind – unabhängig von den Kriterien des § 1 Abs. 2 UGB – u. a.: Aktiengesellschaften, Gesellschaften mit beschränkter Haftung, Erwerbs- und Wirtschaftsgenossenschaften, Versicherungsvereine auf Gegenseitigkeit (§ 2 UGB). Keine Unternehmer kraft Rechtsform sind Vereine, GmbH & Co. KG, eingetragene Personengesellschaften (OG, KG), Privatstiftungen. Auf die Unternehmereigenschaft kraft Eintragung ins Firmenbuch (§ 3 UGB, vgl. auch § 8 UGB) sei lediglich hingewiesen. Juristische Personen des öffentlichen Rechts unterliegen lediglich dem Vierten Buch des UGB („unternehmensbezogene Geschäfte“) hinsichtlich ihrer privatwirtschaftlichen Tätigkeit (unabhängig davon, ob sie unternehmerisch tätig sind), dem Dritten Buch UGB hingegen unterliegen sie nur dann, wenn sie tatsächlich unternehmerisch tätig sind (vgl. § 343 Abs. 1 UGB).10

6 Zu deren Rechtsstellung ausführlich: Studiengesellschaft für Wirtschaft und Recht (Hrsg.), Das Recht der Non-Profit-Organisationen, Wien 2006. 7 Krejci, Unternehmensgesetzbuch (Anm. 3) II. E; Bydlinski, Unternehmensgesetzbuch (Anm. 3), S. 48. 8 Krejci, Unternehmensgesetzbuch (Anm. 3), II. E; vgl. auch Wilma Dehn, in: Krejci, Reformkommentar (Anm. 2), S. 85 (§ 8, Rdnr. 12). 9 Bydlinski, Unternehmensgesetzbuch (Anm. 3), S. 47 f. 10 Krejci, Unternehmensgesetzbuch (Anm. 3) II. C.; Bydlinski, Unternehmensgesetzbuch (Anm. 3), S. 50.

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III. Kirchliche Rechtsträger als „Unternehmer“ Die katholische Kirche in Österreich gliedert sich in eine Vielzahl juristischer Personen verschiedener Ebenen und Arten. Gemeinsam ist diesen allen der religiöskirchliche Zweck, der naturgemäß für die Vermögensgebarung von Bedeutung ist. Denn kirchliche juristische Personen dürfen Vermögenswerte nur zu den der Kirche eigenen Zwecken erwerben, besitzen, verwalten und verwenden (c. 1254 § 1 CIC). Die der Kirche eigenen Zwecke sind der Gottesdienst, die Sicherstellung des Unterhalts derer, die im Dienste der Kirche stehen, sowie die Ausübung der Werke des Apostolats und der Caritas, vor allem gegenüber den Armen (c. 1254 § 2 CIC).11 Diese Zwecktrias wird einhellig so verstanden, dass sie alle der Sendung der Kirche dienlichen Zwecke umfasst, und daher nicht auf einzelne Gruppen von ihnen beschränkt werden darf. So bereits die Auffassung der Redaktoren.12 Die Aufzählung in c. 1254 § 2 CIC enthält nach überwiegender Auffassung keine Rangordnung.13 Nach kanonischem Recht wird dem Erfordernis des kirchlichen Zwecks auch dann entsprochen, wenn ein Vermögenswert oder eine Sachgesamtheit nur mittelbar den genannten Zwecken dient14, z. B. wenn der Gastronomiebetrieb, die Brauerei oder der land- und forstwirtschaftliche Betrieb eines Klosters der Erwirtschaftung des Lebensunterhalts der klösterlichen Gemeinschaft und der finanziellen Sicherung des Klosters dient. Daraus ergibt sich eine Unterscheidung danach, je nachdem ob eine Einrichtung in kirchlicher Trägerschaft unmittelbar (und gegebenenfalls ausschließlich) religiös-kirchlichen Zwecken dient oder ob sie diesen Zwecken nur mittelbar, durch Sicherung der finanziellen Voraussetzungen, dienlich ist. Ersteres trifft jedenfalls auf alle juristischen Personen der Kirchenverfassung, sowohl der hierachischen (insbesondere Diözese, ÖBK, Domkapitel, Pfarre, Pfarrkirche) als auch jenen der Ordensverfassung (Gesamtorden, Provinz, Einzelniederlassungen; vgl. c. 634 § 1 CIC) zu, insoweit diese im Rahmen ihrer kirchlichen Aufgabe tätig werden – man denke z. B. an die vielfältigen seelsorgerlichen Aktivitäten auf Ebene der Pfarre – und insofern nicht auf dem Markt wirtschaftlich werthafte Leistungen gegen Entgelt angeboten werden, was jedoch im Falle seelsorgerlicher Tätigkeiten mangels wirtschaftlicher Werthaftigkeit und wegen prinzipieller Unentgeltlichkeit grundsätzlich ausgeschlossen ist. Dient daher ein kirchlicher Träger ausschließlich und unmittelbar religiösen Zwecken, so kann die Unternehmereigenschaft ausgeschlossen werden. 11

Vgl. cc. 114; 215; 222 § 1 CIC/1983. Communicationes 12 (1980), S. 396 f. Vgl. Comentario Exeg¦tico al Cýdigo de Derecho Canýnico, Pamplona 32002, IV, c. 1254 (Mariano Lýpez Alarcýn); MK CIC, c. 1254 Rdnr. 7 (Winfried Schulz); Hans Heimerl/Helmuth Pree, Handbuch des Vermögensrechts der Katholischen Kirche, Regensburg 1993, S. 56 – 60, Rdnr. 1/20 – 1/38; Velasio De Paolis, I beni temporali della Chiesa, Bologna 1995, S. 52 u. 57 f. 13 Vgl. De Paolis, I beni temporali (Anm. 12), S. 59 f.; Heimerl/Pree, Handbuch (Anm. 12), S. 59 (Rdnr. 1/35 – 1/36). 14 Heimerl/Pree, Handbuch (Anm. 12), S. 57 (Rdnr. 1/26); Jean-Pierre Schouppe, Elementi di diritto patrimoniale canonico, Milano 1997, S. 13. 12

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Solche kirchlichen juristischen Personen können allerdings über ihre seelsorgerlichen Aktivitäten hinaus auch selbst unternehmerisch tätig werden oder dafür Ausgliederungen in einer Rechtsform des Gesellschaftsrechts, z. B. eine GmbH oder eine GmbH und Co. KG, gründen. In beiden Fällen dient das Unternehmen unmittelbar der Gewinnerzielung, mittelbar aber dem kirchlichen Zweck. Es kann auch mit der unmittelbaren wirtschaftlichen Zwecksetzung etwa einer kirchlichen Kapitalgesellschaft ein unmittelbar religiöser Zweck verbunden werden, wie z. B. im Fall eines Verlages mit religiöser Kunst oder mit ausschließlich religiöser Literatur. Auch in diesen Fällen kann die Unternehmenseigenschaft nicht bestritten werden, selbst wenn es sich im Einzelfall nicht um einen Unternehmer kraft Rechtsform gemäß § 2 UGB handelt. Dazu kommen weitere kirchenrechtlich errichtete Rechtsträger, namentlich kirchliche Stiftungen15 und kirchliche Vereine16. Auch auf diese ist die angedeutete Unterscheidung zwischen unmittelbarer und mittelbarer Zweckdienlichkeit anzuwenden: Überwiegend dienen sie unmittelbar religiösen Zwecken und bieten daher nicht wirtschaftlich werthafte Leistungen gegen Entgelt auf dem Markt an – typischerweise sei auf die Caritasverbände verwiesen; jedoch können solche kirchliche Träger den Unternehmensbegriff aufgrund der Art ihrer Tätigkeit erfüllen, wie z. B. das in der Rechtsform einer kirchlichen Stiftung gemäß Art. XIII § 3 Konkordat 1933 betriebene Ordenskrankenhaus. Für die staatliche Rechtsstellung aller juristischen Personen der katholischen Kirche – im Unterschied zu den Ausgliederungen in ziviler Rechtsform – ist Art. II Konkordat 1933 zu beachten: Handelt es sich um eine nach Kirchenrecht errichtete juristische Person, die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des Konkordates (1. 5. 1934) bereits bestand, so genießt sie öffentlich-rechtliche Stellung. Die zu einem späteren Zeitpunkt zu errichtenden kirchlichen juristischen Personen erlangen Rechtspersönlichkeit für den staatlichen Bereich (als juristische Personen des öffentlichen Rechts) durch Hinterlegung der Errichtungs-Anzeige durch den zuständigen Diözesanbischof bei der obersten staatlichen Kultusverwaltungsbehörde, welche hierüber eine Bestätigung ausstellt: Art. II i. V. m. Art. X § 2 und Art. XV § 7 Konkordat 1933. Die Hinterlegung setzt somit das Bestehen der Rechtspersönlichkeit nach kanonischem Recht voraus. Derzeit genießen so gut wie alle kirchlichen Rechtsträger sowohl der hierachischen als auch der ordensrechtlichen Kirchenverfassung in Österreich die Stellung von juristischen Personen bzw. Körperschaften des öffentlichen Rechts. Für die nach dem Zweiten Weltkrieg errichteten Diözesen Eisenstadt, Innsbruck und Feldkirch erfolgte die diesbezügliche Regelung konkordatsrechtlich und ist damit bundesgesetzlich verankert.17 15

Vgl. cc. 115 § 3 i. V. m. 1303 – 1310 CIC/1983. Vgl. cc. 215, 298 – 329 CIC/1983. 17 BGBl. 1960/196 (Vertrag Eisenstadt; Art. V Abs. 1); BGBl. 1964/227 (Vertrag Innsbruck-Feldkirch; Art. V Abs. 1); BGBl. 1968/417 (Vertrag Feldkirch; Art. IV). 16

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Für die mit dem Inkrafttreten des CIC/1983 neu eingeführte Rechtspersönlichkeit jeder Pfarrei (im Sinne des c. 515 § 1 CIC – im Unterschied zu Pfarrkirche und Pfarrpfründe) erfolgte die Hinterlegung für alle bis zum 27. 11. 1983 kirchenrechtlich rechtmäßig errichteten Pfarren und Quasipfarren durch die ÖBK (im Namen aller österreichischen Diözesanbischöfe) am 31. 8. 1989. Damit gibt es typischerweise in jeder katholischen Pfarre in Österreich drei juristische Personen des öffentlichen Rechts: die Pfarrkirche (Gotteshausvermögen); die Pfarrpfründe und die Pfarre (als Personengesamtheit gemäß c. 515 § 1 CIC). Für sonstige kirchenrechtlich errichtete juristische Personen, wie z. B. für die Caritasverbände auf pfarrlicher, diözesaner und gesamtösterreichischer Ebene, ist im Einzelfall zu prüfen, ob die Hinterlegung erfolgt ist. Die öffentlich-rechtliche Rechtsstellung schließt die Unternehmenseigenschaft nicht aus. Diese ist im Einzelfall zu bejahen, wenn und insoweit neben den unmittelbar religiösen Zwecken dienenden Aktivitäten eine unternehmerische Tätigkeit im Sinne des § 1 Abs. 2 UGB durch den Rechtsträger selbst verfolgt wird. Um eine eindeutige Abgrenzung zwischen dem kirchlich-religiösen und dem wirtschaftlichen Tätigkeitsbereich solcher Rechtsträger zu gewährleisten, wird es erforderlich sein, sich entweder für die wirtschaftlichen Aktivitäten eines ausgegliederten Rechtsträgers in ziviler Rechtsform zu bedienen oder, wenn keine Ausgliederung erfolgt, wenigstens die wirtschaftlichen Aktivitäten in einer vom religiösen, seelsorgerlichen und rein internen Bereich klar abgrenzbaren wirtschaftlichen Organisationseinheit mit eigener Buchführung zu betreiben.

IV. Rechnungslegung: „Innere Angelegenheit“ der Kirche? Die katholische Kirche genießt als gesetzlich anerkannte Kirche das verfassungsrechtlich geschützte Recht, ihre inneren Angelegenheiten selbstständig zu ordnen und zu verwalten, bleibt aber den „allgemeinen Staatsgesetzen“ unterworfen (Art. 15 StGG). Fraglich ist, ob das UGB, besonders dessen Drittes Buch über die Rechnungslegungspflicht, den „allgemeinen Staatsgesetzen“ zu subsumieren ist, oder ob es sich dabei um eine den Kirchen zur selbstständigen Ordnung und Verwaltung überlassene Angelegenheit handelt. Den inneren Angelegenheiten ist grundsätzlich all das zuzurechnen, was die Kirche selbst nach ihrem Selbstverständnis als innere Angelegenheit beansprucht.18 Demnach ergibt sich der Inhalt der inneren Angelegenheiten wesensmäßig aus dem Aufgabenbereich der betreffenden Kirche. Die kirchliche Vermögensverwaltung – dazu zählt die Entscheidung über Art und Weise der Verwaltung, über die Verwendung, über Veranlagung oder Veräußerung, wie auch die Aufsicht über die Verwaltung einschließlich der Rechnungslegungspflicht – wird von der Kirche selbst als 18 Vgl. VfGH Slg. 2944/1955; 3657/1959; 11574/1987. Vgl. Herbert Kalb/Richard Potz/ Brigitte Schinkele, Religionsrecht, Wien 2003, S. 66; Helmuth Pree, Österreichisches Staatskirchenrecht, Wien/New York 1984, S. 66 f.

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ihr unveräußerlich zustehendes Recht beansprucht (c. 1254 CIC) und nach unbestrittener Lehre des österreichischen Staatskirchenrechts den inneren Angelegenheiten der Kirche zugezählt.19 Seine Grenze findet der Schutzbereich der inneren Angelegenheiten dort, wo eine Angelegenheit Rechtswirkungen auch im nichtkirchlichen, vom staatlichen Recht geregelten Bereich entfaltet, z. B. bei Abschluss eines zivilrechtlich wirksamen Vertrages eines kirchlichen Rechtsträgers mit einem Dritten. Demgemäß kann die Kirche nicht, unter Berufung auf Art. 15 StGG, ein kirchliches Sonderprivatrecht mit staatlicher Wirkung schaffen.20 Die Beurteilung, ob eine staatliche Regelung, die mit einer kirchlichen kollidiert, ein legitimes „allgemeines Staatsgesetz“ ist oder in verfassungsrechtlich unzulässiger Weise die inneren Angelegenheiten beschneidet, erfordert eine Abwägung zwischen dem Rechtsgut der kirchlichen Selbstbestimmung einerseits und dem durch das staatliche Gesetz geschützten Rechtsgut andererseits. Ein „allgemeines Staatsgesetz“ liegt mithin dann vor, wenn das durch die staatliche Bestimmung „geschützte Rechtsgut im Verhältnis zum kirchlichen Selbstbestimmungsrecht gleich – oder höherrangig ist“.21 Bedient sich die Kirche, d. h. eine kirchliche juristische Person, der ihr aufgrund ihrer staatlichen Rechtsfähigkeit zustehenden Privatautonomie und wird rechtsgeschäftlich tätig oder trifft eine gesellschaftsrechtliche Rechtsformwahl für eine Ausgliederung, z. B. durch Gründung einer GmbH, so verlässt sie den Bereich der inneren Angelegenheiten schon allein deshalb, weil sie sich freiwillig dem diesbezüglichen staatlichen Recht unterwirft. Wo immer die Kirche am allgemeinen, durch staatliches Recht geregelten Rechtsverkehr teilnimmt, unterstellt sie sich dem diesbezüglichen staatlichen Recht. Aus der Perspektive des staatlichen Rechts ist dabei das Gut der Rechtssicherheit im rechtsgeschäftlichen Verkehr, nicht zuletzt im Hinblick auf den Charakter einer staatlichen Regelung als eines „allgemeinen Staatsgesetzes“ relevant. Die Verfassungsgarantie der inneren Angelegenheiten bedeutet aber auch, dass die Kirche staatliche Gesetze im Interesse des Schutzes des Rechtsverkehrs dann nicht als Schranke ihrer inneren Angelegenheiten hinnehmen muss, wenn die Kirche von sich aus – im Rahmen der Ordnung ihrer inneren Angelegenheiten – einen dem staatlichen Regelungszweck entsprechenden, gleichwertigen Schutz des betreffen19 Kalb/Potz/Schinkele, Religionsrecht (Anm. 18), S. 68; vgl. Hugo Schwendenwein, Österreichisches Staatskirchenrecht, Essen 1992, S. 206; Pree, Österreichisches Staatskirchenrecht (Anm. 18), S. 67. 20 So ist etwa das kirchliche Eherecht eine innere Angelegenheit ohne jede staatliche Rechtswirkung. 21 Kalb/Potz/Schinkele, Religionsrecht (Anm. 18), S. 67. Die Kriterien für die Beurteilung der Höherrangigkeit sind der dem staatlichen Verfassungsrecht immanenten Werteordnung zu entnehmen – ohne Kriterienmaßstab bliebe jede Abwägung willkürlich. Vgl. Pree, Österreichisches Staatskirchenrecht (Anm. 18), S. 66 f.

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den Rechtsgutes vorzusehen in der Lage ist und vorsieht und so dem staatlichen Regelungsanliegen von sich aus gerecht wird. In diesem Fall muss die Abwägung zwischen dem Rechtsgut der kirchlichen Selbstbestimmung gemäß Art. 15 StGG und dem durch ein staatliches Gesetz wie das UGB geschützen Rechtsgut zugunsten der ersteren ausschlagen. Sollte daher die Kirche selbst in der Lage sein, „rechnungslegungsrechtliche Sonderbestimmungen“ in einer den Anforderungen des UGB entsprechenden Art vorzusehen, so entfällt die ratio legis für die Unterwerfung unter die „allgemeinen Staatsgesetze“. Mit anderen Worten: Nur wenn das Allgemeininteresse zwingend eine Unterwerfung auch der kirchlichen Rechtsträger unter die Rechnungslegungspflicht verlangt, wäre eine Anwendbarkeit unter dem Titel des „allgemeinen Staatsgesetzes“ gerechtfertigt. Andernfalls überwiegt das verfassungsrechtlich geschützte kirchliche Selbstbestimmungsrecht gemäß Art. 15 StGG. Im vorliegenden Fall ist mit Rücksicht auf das öffentliche Interesse zwingend eine dem Dritten Buch UGB entsprechende Sichtbarmachung der Vermögenslage der kirchlichen Rechtsträger durch entsprechende Führung der Bücher verlangt, nicht jedoch, dass diese Pflicht ausschließlich durch die Beachtung der Bestimmungen des Dritten Buches erfüllt werden könnte. Darauf deuten bereits die Vorbehalte in § 189 Abs. 3 UGB hin. Mit den Worten „gehen der Anwendung dieses Gesetzes vor“ gibt der Gesetzgeber zu erkennen, dass die Erreichung des Regelungszwecks im Vordergrund steht, und nicht so sehr, dass dieser Zweck nur durch die Einhaltung der Bestimmungen des Dritten Buches UGB zu erreichen wäre. Daraus ist zu schließen: Die Kirche – konkret: die betroffenen kirchlichen Rechtsträger – sind, soweit sie unternehmerisch tätig werden, von der Buchführungspflicht gemäß § 189 UGB erfasst (nach Maßgabe der Schwellenwerte: § 189 Abs. 1 und Abs. 2 UGB). Im Hinblick auf das verfassungsgesetzlich geschützte Selbstordnungs- und Selbstverwaltungsrecht gemäß Art. 15 StGG aber erfüllen sie diese Pflicht auch dann, wenn sie im Rahmen dieses ihres Rechts eigene Rechnungslegungsvorschriften erlassen und zur Anwendung bringen, welche den Zielen und den Mindestanforderungen des Dritten Buches UGB genügen. Das aber bedeutet: Unter die in § 189 Abs. 3 UGB generalklauselartig genannten „rechnungslegungsrechtlichen Sonderbestimmungen“ sind auch die im Rahmen des kirchlichen Selbstbestimmungsrechts erlassenen innerkirchlichen Rechnungslegungsvorschriften zu subsumieren. Sie entsprechen dem vom Dritten Buch UGB erstrebten Zweck der Sichtbarmachung der Vermögenslage eines unternehmerisch tätigen Rechtsträgers (Inventarisierungspflicht, Gegenüberstellung der Aktiva und Passiva). Soweit daher kircheninterne Rechnungslegungsvorschriften, die diesem Regelungszweck des Dritten Buches UGB entsprechen, bestehen und angewendet werden, gehen sie im Sinne von § 189 Abs. 3 UGB der Anwendung dieses Gesetzes vor.22 Auf diese Weise wird ein verfassungsrechtlich einwandfreier Ausgleich geschaffen zwischen dem kirchlichen Selbstbestimmungsrecht, das eine Aufsicht des Staa22 Vgl. Helmuth Pree/Bruno Primetshofer, Das kirchliche Vermögen, seine Verwaltung und Vertretung. Handreichung für die Praxis, Wien/New York 22010, S. 64 – 67.

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tes über die kirchliche Vermögensverwaltung ausschließt, einerseits, und dem berechtigten Interesse des Staates nach Einhaltung gewisser Mindeststandards bezüglich der Sicherung des Rechtsverkehrs auch durch die Kirche. Diese Interpretation legt sich umso mehr nahe, als das UGB generell rechnungslegungsrechtliche Sonderbestimmungen gelten lässt, sofern nur ein gewisser Mindeststandard gesichert ist: insbesondere Ersichtlichmachen des Vermögens des Trägers, wozu neben der Einnahmen-/Ausgaben-Rechnung auch die Inventarisierungspflicht gehört.23 Folglich ist kein Grund ersichtlich, aus dem kirchliche juristische Personen mit durchwegs öffentlich-rechtlicher Rechtsstellung im Staate, und den Verfassungsschutz der selbstständigen Ordnung und Verwaltung der inneren Angelegenheiten genießend, nicht berechtigt sein sollten, ihre Rechnungslegung selbstständig, wenn auch in einer materiell den staatlichen Anforderungen gerecht werdenden Weise zu ordnen. Das bedeutet: Die kircheninternen Regelungen betreffend Rechnungslegung sind dem Tatbestand der „rechnungslegungsrechtlichen Sonderbestimmungen“ gemäß § 189 Abs. 3 UGB zu subsumieren. Dies entspricht auch dem von S. Bydlinski hervorgehobenen Kriterium, dass nämlich „auch alle inhaltlich umfassenden rechnungslegungsrechtlichen Sonderbestimmungen“ den Rechnungslegungsbestimmungen des UGB vorgehen sollen, wobei vor allem auf die kameralistische Gebarung im Bereich der öffentlichen Hand hingewiesen wird.24 Dieses Kriterium der inhaltlichen Umfassendheit der Rechnungslegungs-Regelung lässt sich problemlos auf die Rechnungslegungs-, Buchführungs- und Inventarisierungspflichten der kirchlichen Rechtsträger aufgrund der diesbezüglichen ausführlichen innerkirchlichen Regelungen übertragen, wie im Folgenden zu zeigen sein wird. V. Rechnungslegungsrechtliche Bestimmungen des kanonischen Rechts 1. Vorbemerkung Die Vermögensgebarung kirchlicher Rechtsträger unterliegt generell und umfassend der Aufsicht der zuständigen kirchlichen Autorität bezüglich der ordnungsgemäßen Verwaltung und der zweckgemäßen Verwendung kirchliche Güter, sowohl bei privaten als auch bei öffentlichen kirchlichen juristischen Personen.25 Inventarisierung, Buchführungspflicht und Rechnungslegungspflicht sind integrierende Bestandteile dieser kirchenrechtlich vorgesehenen Aufsicht. Gemäß c. 1276 § 2 CIC sind die Ordinarien zur näheren Regelung der gesamten kirchlichen Vermögensverwaltung verpflichtet. Zahlreiche Bestimmungen regeln die Aufsicht über die verschiedenen Arten kirchlicher Rechtsträger und ihrer Vermögensverwaltung im De23 24 25

1058 Blg. XXII. GP. Sonja Bydlinski, in: Krejci, Reformkommentar (Anm. 2), S. 456 f. (§ 189, Rdnr. 35). Ausführlich: Pree/Primetshofer, Das kirchliche Vermögen (Anm. 22), S. 89 – 118.

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tail: cc. 1281; 319; 325; 1300; 1301 f. CIC. Von besonderer Strenge ist diese Aufsicht bei öffentlichen kirchlichen juristischen Personen, zumal deren Vermögenswerte bona ecclesiastica (Kirchengut, Kirchenvermögen, c. 1257 § 1 CIC) sind. Dies trifft auf alle kirchlichen juristischen Personen der hierarchischen Kirchenverfassung und des ordensrechtlichen Bereiches sowie auf solche Vereine oder Stiftungen, die von der zuständigen kirchlichen Autorität als öffentliche kirchliche juristische Personen errichtet werden, zu. Für alle diese gelten die Vorschriften des Fünften Buches des CIC (cc. 1254 – 1310: kirchliches Vermögensrecht) uneingeschränkt; bei ordensrechtlichen Rechtsträgern sind auch die Bestimmungen des Ordensvermögensrechts (cc. 634 – 640 CIC) als leges speciales sowie das Eigenrecht jedes Ordens zu beachten. 2. Im Bereich der hierarchischen Kirchenverfassung Zum Bereich der hierarchischen Kirchenverfassung zählen insbesondere folgende kirchliche juristische Personen: ÖBK, Diözesen, weitere diözesane Rechtsträger wie Mensa Episcopalis, Domkapitel; Pfarren (mit typischerweise drei eigenen Rechtspersonen: Pfarrgemeinde gemäß c. 515 § 1 CIC, Pfarrkirche und Pfarrpfründe).26 Kirchliche Vermögensverwalter haben, bevor sie ihr Amt antreten, ein detailliertes und von ihnen zu unterschreibendes Inventar mit Beschreibung und Wertangabe der Vermögensstücke anzufertigen bzw. ein vorliegendes Inventar zu überprüfen (c. 1283,2 CIC); ein Exemplar des Inventars muss im Archiv des Rechtsträgers, ein weiteres im Archiv der Kurie aufbewahrt werden; beide sind laufend auf Stand zu halten (c. 1283,3 CIC). Jeder Vermögensverwalter muss die Einnahmen- und Ausgaben-Bücher wohl geordnet führen und am Ende jeden Jahres Rechenschaft über die Verwaltung ablegen (c. 1284 § 2,7 und 8 CIC). Die Rechenschaftspflicht setzt zwingend ein geordnetes Rechnungswesen (Buchführung) voraus. „Die jährliche Erstellung von Haushaltsplänen über die Einnahmen und Ausgaben durch die Verwalter wird dringend empfohlen; dem Partikularrecht bleibt es überlassen, diese verpflichtend vorzuschreiben und nähere Anordnungen über die Art und Weise der Erstellung der Haushaltspläne zu treffen“ (c. 1284 § 3 CIC). Für den Rechtsträger „Diözese“ aber ist die jährliche Erstellung von Haushaltsplänen durch den diözesanen Vermögensverwaltungsrat verbindlich vorgeschrieben. Nach Abschluss des Rechnungsjahres hat der Vermögensverwaltungsrat die Haushaltsrechnung über Einnahmen und Ausgaben zu genehmigen (c. 493 CIC).27 26

Vgl. Hans Paarhammer, Aktuelle Fragen der kirchlichen Vermögensverwaltung im pfarrlichen Bereich unter besonderer Berücksichtigung der Salzburger Verhältnisse, in: ders. (Hrsg.), Administrator Bonorum – Oeconomus tamquam paterfamilias (FS Ritter), Thaur 1987, S. 283 – 318. 27 Vgl. Heimerl/Pree, Handbuch (Anm. 12), S. 362 f. (Rdnr. 5/31 – 5/37); Pree/Primetshofer, Das kirchliche Vermögen (Anm. 22), S. 92 – 95.

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Alle Verwalter von bona ecclesiastica solcher öffentlicher kirchlicher juristischer Personen, die der Leitungsgewalt des Diözesanbischofs nicht rechtmäßig entzogen sind – Letzteres trifft grundsätzlich auf die Orden päpstlichen Rechts zu, vgl. c. 593 CIC –, sind jährlich gegenüber dem Ortsordinarius rechenschaftspflichtig (c. 1287 § 1 CIC); über gespendete Vermögenswerte (und ihre Verwendung) hat die Kirche den Gläubigen gegenüber Rechenschaft zu geben gemäß den Bestimmungen des Partikularrechts (c. 1287 § 2 CIC). Die Regelungsbefugnis für das Rechnungslegungswesen der dem Diözesanbischof unterstellten juristischen Personen der hierarchischen Kirchenverfassung, z. B. der Rechtsträger auf Ebene der Pfarre28, liegt grundsätzlich beim Diözesanbischof selbst bzw. ist Sache der Statuten (Letzteres z. B. für das Vermögen des Domkapitels29, vgl. cc. 505 f. CIC). 3. Im Bereich der Ordensverbände Da die ordensrechtlichen Rechtsträger im Kirchenrecht ipso iure personae iuridicae publicae sind, ist ihr Vermögen Kirchengut (bona ecclesiastica, c. 1257 § 1 CIC), unterliegt jedoch zahlreichen ordensspezifischen Besonderheiten:30 Der Ökonom einer ordensrechtlichen juristischen Person (Kloster, Provinz, Gesamtverband) hat zu der Zeit und in der Weise, die im Eigenrecht des Verbandes festzulegen ist, der zuständigen ordensinternen Autorität über seine Verwaltung Rechenschaft abzulegen (c. 636 § 2 CIC).31 Orden päpstlichen Rechts unterstehen bezüglich der Aufsicht über die Vermögensverwaltung unmittelbar und ausschließlich dem Heiligen Stuhl. Rechtlich-selbständige Klöster gemäß c. 615 CIC – das sind Klöster von Regularkanonikern und Mönchen oder Nonnen, die außer dem eigenen Leiter keinem anderen Höheren Oberen (c. 613 § 2 CIC) unterstellt sind –, müssen dem Ortsordinarius einmal jährlich Rechenschaft über die Verwaltung ablegen; darüber hinaus hat der Ortsordinarius das Recht, in die wirtschaftlichen Verhältnisse einer Ordensniederlassung diözesanen Rechts jederzeit Einsicht zu nehmen (c. 637 CIC).32 Die Regelungsbefugnis bezüglich der Vermögensverwaltung, Inventarisierung, Buchführung, Rechnungslegung liegt bei der nach den Konstitutionen zuständigen ordensinternen Autorität, wie z. B. beim Generalkapitel oder Provinzkapitel; bei Verbänden päpstlichen Rechts auch beim Apostolischen Stuhl. Bei Klöstern gemäß c. 615 CIC und bei Verbänden diözesanen Rechts implizieren die dem Diözesanbi28

Vgl. Pree/Primetshofer, Das kirchliche Vermögen (Anm. 22), S. 96 – 99. Vgl. Pree/Primetshofer, Das kirchliche Vermögen (Anm. 22), S. 94 f.; Johann Hirnsperger/Stephan Haering (Hrsg.), Statuten der österreichischen Kathedral- und Kollegiatkapitel, Metten 2007. 30 Näherhin: Pree/Primetshofer, Das kirchliche Vermögen (Anm. 22), S. 99 – 105. 31 Vgl. Pree/Primetshofer, Das kirchliche Vermögen (Anm. 22), S. 86 – 88. 32 Bruno Primetshofer, Ordensrecht, Freiburg i. B. 42003, S. 165 f. 29

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schof zustehenden, als taxativ zu verstehenden Befugnisse (cc. 628 § 2; 637; 638 § 4 CIC) keine Regelungskompetenz. Eine solche würde der vermögensrechtlichen Autonomie der Ordensverbände (c. 586; vgl. auch cc. 593 f. CIC) widersprechen. 4. Bei sonstigen Rechtsträgern (Stiftungen und Vereine)33 Errichtet die kirchliche Autorität rechtsfähige kanonische Stiftungen, so kann es sich um personae iuridicae publicae oder privatae handeln. Ersteres ist nur dann der Fall, wenn die öffentliche Rechtspersönlichkeit eigens und ausdrücklich verliehen wurde (vgl. cc. 116 § 2). In diesem Fall ist das Vermögen des Trägers Kirchenvermögen (bona ecclesiastica, c. 1257 § 1 CIC) und unterliegt den Bestimmungen des Fünften Buches des CIC.34 Bei privaten kanonischen Stiftungen ist es Sache der die Stiftung annehmenden kirchlichen Autorität zu beurteilen, ob die gemäß der Stiftungssatzung vorgesehenen Aufsichts- und Rechnungslegungspflichten ausreichend sind. Öffentliche kanonische Vereine sind solche, die durch die kirchliche Autorität errichtet werden (c. 301 § 3 CIC). Aufgrund ihrer Eigenschaft als personae iuridicae publicae ist ihr Vermögen Kirchenvermögen wie jenes der öffentlichen kirchlichen Stiftungen und untersteht daher in gleicher Weise den Bestimmungen des Fünften Buches des CIC. Darüber hinaus unterliegen öffentliche Vereine auch der Aufsichtsund Rechnungslegungspflicht gemäß c. 319 §§ 1 und 2 CIC. Private kanonische Vereine - sie entstehen durch Rekognoszierung des Statuts durch die kirchliche Autorität (c. 299 § 3 CIC); die Rechtspersönlichkeit wird durch Dekret verliehen (c. 322 § 1 i.V.m. c. 114 § 1 CIC) – unterliegen der Aufsicht der zuständigen kirchlichen Autorität bezüglich der zweckentsprechenden Verwendung ihrer Mittel; im übrigen verwalten sie ihr Vermögen frei gemäß den Statuten – d. h. es ist Aufgabe der Statuten, die entsprechenden Kontrollmechanismen vorzusehen (c. 325 § 1 CIC). Bezüglich der einem privaten Verein zu frommen Zwecken geschenkten oder hinterlassenen Vermögenswerte unterliegt dieser hinsichtlich Verwaltung und Verwendung der Autorität des Ortsordinarius gemäß c. 1301 CIC (c. 325 § 2 CIC).

33

Vgl. Pree/Primetshofer, Das kirchliche Vermögen (Anm. 22), S. 106 – 109; Lluis Mart†nez-Sistach, Le associazioni di fedeli, Cinisello Balsamo (Milano) 2006, S. 56 f., 97 – 102, 136 – 141. 34 Vgl. für die Stiftungen speziell cc. 1299 – 1310 CIC/1983; MK CIC, Einf. vor c. 1299 und cc. 1299 – 1310 (Rüdiger Althaus), Stand: Mai 1998; Heimerl/Pree, Handbuch (Anm. 12), S. 509 – 593 (Rdnr. 5/722 – 5/1093); Schouppe, Elementi (Anm. 14), S. 95 – 107.

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VI. Ergebnis 1. Grundsätzlich Die Bestimmungen des kanonischen Rechts über die Inventarisierungs-, Buchführungs- und Rechnungslegungspflichten genügen den Anforderungen gemäß § 189 Abs. 3 UGB. Wo das universale Recht selbst nicht die Details des Rechnungswesens regelt, verpflichtet es die untergeordneten Autoritäten zur entsprechenden Regelung und Kontrolle (mit Rechnungslegungspflicht der Verwalter). Die innerkirchlichen Vorschriften gewährleisten, dass die Vermögenslage der kirchlichen Rechtsträger umfassend ersichtlich gemacht wird. Der Regelungszweck des Dritten Buches UGB ist durch die innerkirchliche Rechtslage sichergestellt. Gelten nun bereits die Bestimmungen betreffend den privaten Verein (§§ 21 f. VereinsG 2002) als „rechnungslegungsrechtliche Sonderbestimmungen“ gemäß § 189 Abs. 3 UGB, so muss dies umso mehr für die diesbezüglichen Regelungen des kanonischen Rechts gelten, insofern diese den staatlichen Mindestanforderungen entsprechen, zumal die Rechtsträger der katholischen Kirche, soweit sie nicht als Unternehmer kraft Rechtsform (§ 2 UGB) auftreten, durchwegs die Stellung von Körperschaften des öffentlichen Rechts besitzen und das auf Grundlage des Selbstordnungs- und Selbstverwaltungsrechts der Kirche ergangene kircheninterne Rechnungslegungsrecht den verfassungsrechtlichen Schutz als „innere Angelegenheit“ gemäß Art. 15 StGG genießt. Soweit kirchliche juristische Personen am allgemeinen Rechtsverkehr teilnehmen, begeben sie sich in den Bereich des staatlichen Rechts und unterliegen den von diesem im Interesse der Sicherheit und Verlässlichkeit des Rechtsverkehrs aufgestellten Vorschriften. Daher trifft sie, soweit sie „Unternehmen“ gemäß § 1 (2) UGB betreiben, die von diesem Gesetz angeordnete Buchführungspflicht. Der verfassungsrechtliche Schutz gemäß Art. 15 StGG (der insbesondere eine Staatsaufsicht über die Vermögensverwaltung der Kirche ausschließt) wirkt sich dahingehend aus, dass die für die kircheninterne Regelung der Rechnungslegung zuständigen kirchlichen Autoriäten für ihre unternehmerischen Tätigkeiten zwar die Rechnungslegungspflicht gemäß UGB als „allgemeines Staatsgesetz“ gegen sich gelten lassen müssen; dass sie aber zugleich die Befugnis haben, dieser Pflicht durch eine innerkirchliche Regelung und Rechnungslegung zu entsprechen, welche den Anforderungen und Regelungszwecken des UGB gerecht wird.

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2. Bezogen auf die einzelnen Arten kirchlicher Rechtsträger a) Juristische Personen der Kirchenverfassung (hierarchische Kirchenverfassung und Ordensverbände) (1) Im Bereich der kirchenspezifischen (religiösen) Aufgaben, also insbesondere in der Ausübung der Seelsorge und der damit zusammenhängenden Aktivitäten, entfällt die Anwendbarkeit des UGB mangels der tatbestandlichen Verwirklichung des Unternehmensbegriffes. (2) Im Bereich rein interner wirtschaftlicher Tätigkeit (z. B. Küche, Wäscherei, Büro-Verwaltung, Gebäudeinstandhaltung) wird keine wirtschaftlich werthafte Leistung unter Marktbedingungen angeboten, so dass der Unternehmensbegriff nicht zutrifft und folglich das UGB nicht anwendbar ist. (3) Auf land- und forstwirtschaftliche Betriebe findet das Dritte Buch UGB kraft der ausdrücklichen Bestimmung des § 189 Abs. 4 UGB keine Anwendung. (4) Unternehmerische Tätigkeiten im Sinne von § 1 Abs. 2 UGB, z. B. Gewerbebetriebe, Krankenanstalten, Kindergärten, Altenheime erfüllen den Unternehmens-Tatbestand gemäß UGB auch dort, wo keine Gewinnerzielungsabsicht besteht und auch dann, wenn sie nicht durch einen ausgegliederten Rechtsträger, sondern durch die kirchliche juristische Person selbst (juristische Person des öffentlichen Rechts) betrieben werden. Es besteht daher Buchführungspflicht gemäß Drittem Buch UGB. In Wahrnehmung ihrer verfassungsrechtlich geschützten Selbstordnungs- und Selbstverwaltungsbefugnis können die kirchlichen Träger diese Pflicht jedoch auch dadurch erfüllen, dass sie eine gleichwertige kircheninterne rechnungslegungsrechtliche Sonderregelung treffen. Eine solche erfüllt den Tatbestand einer „rechnungslegungsrechtlichen Sonderbestimmung“ gemäß § 189 Abs. 3 UGB. b) Ausgliederungen von juristischen Personen der verfassten Kirche in rein ziviler Rechtsform Gehören diese satzungsgemäß ausschließlich der katholischen Kirche zu und dienen ausschließlich kirchlichen Zwecken, so sind sie gleichwohl entweder Unternehmer kraft Rechtsform gemäß § 2 UGB; oder es ist andernfalls die Unternehmereigenschaft im Einzelfall festzustellen. Jedoch ist für den privaten Verein wie auch für die Privatstiftung staatlichen Rechts unabhängig von ihrer Unternehmereigenschaft die Rechnungslegungs- bzw. Buchführungspflicht verpflichtend vorgeschrieben, und zwar für den Verein im Sinne von §§ 21 f. VereinsG 2002, für die Privatstiftung im Sinne von § 18 PSG35.

35 § 18 PSG zählt jene Bestimmungen des UGB auf, die sinngemäß anzuwenden sind. Die Anordnung im letzen Satz, derzufolge der Lagebericht auch auf die Erfüllung des Stiftungs-

Zur Anwendbarkeit des UGB auf kirchliche Rechtsträger

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c) Sonstige kirchliche Rechtsträger Dabei handelt es sich um nach Kirchenrecht öffentliche oder private kirchliche Vereine oder Stiftungen, welche nach Hinterlegung gemäß Art. II i. V. m. Art. X § 2 und Art. XV § 7 Konkordat 1933 staatliche Rechtspersönlichkeit als juristische Personen des öffentlichen Rechts genießen. Dies trifft in Österreich z. B. auf zahlreiche Rechtsträger der Caritas zu. Die Unternehmereigenschaft gemäß § 1 UGB ist im Einzelfall zu prüfen, wird aber in aller Regel nicht zutreffen, zumal diese Einrichtungen durchwegs ausschließlich und unmittelbar kirchlichen bzw. religiösen Zwecken dienen und sich dadurch von solchen kirchlichen Rechtsträgern unterscheiden, die auch am staatlichen Wirtschafts- und Rechtsverkehr in vollem Umfang teilnehmen und dafür die Ausgliederung in eine rein zivilrechtliche Rechtsträgerform wählen. Für jene kirchlichen Vereine und Stiftungen, für welche die Unternehmenseigenschaft zutrifft, ist die zuständige kirchliche Autorität verpflichtet, entweder das Dritte Buch UGB auf sich anzuwenden oder eine gleichwertige kircheninterne rechnungslegungsrechtliche Sonderbestimmung zu treffen, soweit nicht die bestehenden diesbezüglichen kirchenrechtlichen Vorschriften (vgl. IV.) ohnedies bereits als ausreichend und adäquat anzusehen sind.

zwecks einzugehen hat, kann als Sondersbestimmung angesehen werden: so Bydlinski, in: Krejci, Reformkommentar (Anm. 2), S. 455 (§ 189, Rdnr. 32).

Die Finanzierung der Katholischen Kirche in Slowenien – staatliche Unterstützung Von Andrej Saje Die katholische Kirche in Slowenien ist Teil der Weltkirche und gleichzeitig in die zivile Staatsstruktur eingefügt. Deshalb ist sie beim Erwerb, bei der Verwaltung und bei der Veräußerung von Vermögen an zweierlei Rechtssysteme gebunden: an das eigene kanonische Recht, insbesondere das fünfte Buch des Codex Iuris Canonici, und die dieses Gebiet betreffenden zivilen Gesetze. Hinsichtlich dieser Gebundenheit an die eine und die andere Gesetzgebung ist die Kirche in einer vergleichbaren Lage wie andere Ortskirchen (Bistümer) in den benachbarten Staaten; allerdings gelten für ihren materiellen Bereich gewisse Besonderheiten, die eine Folge der geschichtlichen Umstände und der gegenwärtigen gesellschaftspolitischen Lage sind. In Slowenien gibt es keine Kirchensteuer; deshalb finanziert sich die Kirche in der Regel aus Spenden der Gläubigen und der eigenen Tätigkeit. Der erste Teil dieses Beitrags ist dem geschichtlichen Überblick und den Folgen der politischen Entscheidungen für das heutige materielle Leben der Kirche gewidmet, im zweiten Teil wird die gesetzliche Grundlage für gewisse Formen der indirekten Finanzierung einzelner Kirchentätigkeiten und die Art und Weise des Erwerbs eigener Mittel vorgestellt. I. Geschichtlicher Hintergrund und spezifische Vermögenslage der Kirche 1. Die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg Zum Verständnis der heutigen Finanzierung der Kirche in Slowenien müssen die spezifischen geschichtlichen Umstände auf dem Gebiet des heutigen Slowenien nach 1945 und die rechtliche Stellung der katholischen Kirche in Jugoslawien erwähnt werden. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Kirche im Prozess der Nationalisierung, ähnlich wie in anderen kommunistischen Staaten, aller größerer Immobilien enteignet.1 Die jugoslawische Verfassung aus dem Jahre 1946 legte im Art. 25 die 1

Vgl. Lojze Ude, Property and legal relations of the Church in Slovenia after world war II, in: Slovenska akademija znanosti in umetnosti, State and Church selected historical and legal issues, International Conference, June 21 and 22, 2001, Ljubljana 2002, S. 563 – 572; Irena Strubelj, Financiranje katolisˇke Cerkve v Sloveniji na primerih gradnje cerkve Kristusa Odresˇenika v Novi Gorici in Sˇkofijske gimnazije Vipava (Finanzierung der katholischen

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Trennung von Kirche und Staat fest, und dass der Staat die Religionsgemeinschaften materiell unterstützen kann. Laut Art. 18 war zwar das Privateigentum garantiert; jedoch besagte Art. 19, dass große Besitztümer nicht in Privathand sein dürfen, wobei der maximale Grundbesitz im Gesetz festgelegt wurde. Das damalige politische und ökonomische System, welches auf Staats- und Gesellschaftseigentum basierte, hat das Privateigentum lediglich geduldet. Die Gesetze Jugoslawiens und der Föderativen Volksrepublik Slowenien über die Agrarreform und Kolonisierung2 haben die Grundbesitztümer von Kirchen, Klöstern und religiösen Einrichtungen so wie auch größere Immobilien anderer Eigentümer ohne Entschädigung verstaatlicht. Art. 9 des erwähnten slowenischen Gesetzes besagte, dass kleinere kirchliche juristische Personen bis zu 10 ha Grund und Rechtspersonen größerer Bedeutung (z. B. Klöster, Bistümer) bis zu 30 ha Ackerland und 30 ha Wälder behalten können. Art. 11 des Gesetzes über die Nationalisierung von Mietbauten und Bauland3 besagte, dass Bauten und Gelände, die von Religionsgemeinschaften für ihre religiösen Aktivitäten benutzt werden, wie Kirchen, Klöster, Priesterseminare, Pfarrhäuser und Diözesangebäude, nicht verstaatlicht werden. Das Gesetz über die Rechtslage von Religionsgemeinschaften aus dem Jahre 19534 hat den Religionsgemeinschaften und ihren entsprechenden Organen die zivile Rechtspersönlichkeit zuerkannt. Die gleiche Bestimmung war nach der Verfassungsreform auch im Gesetz über die Rechtslage von Religionsgemeinschaften in Slowenien aus dem Jahre 1976 enthalten, wobei Urkunden von Religionsgemeinschaften keine öffentliche Gültigkeit hatten und die Kirche hinsichtlich des Eigentumserwerbs durch die staatliche Gesetzgebung beschränkt war. Auch Bestimmungen aller weiteren Verfassungen Jugoslawiens und der Teilrepublik Slowenien und ihre Ergänzungen sowie gesetzliche Regelungen bis zum Jahre 1991 haben das Eigentumsrecht der Kirche als Rechtsperson des Zivilrechts hinsichtlich aller Immobilien, sowohl an Grundstücken wie auch an Gebäuden, beschränkt. Aus angegebenen Gründen haben sich einzelne juristische Personen, wie Pfarreien, Klöster und Diözesen, hauptsächlich aus freiwilligen Spenden der Gläubigen und in gewissen Fällen mit Unterstützung aus dem Ausland finanziert. Priester, deren formal erworbene theologische Ausbildung in jener Zeit vom Staat nicht anerkannt wurde5, lebten von den Messstipendien und der Unterstützung der Gläubigen, Kirche in Slowenien anhand der Beispiele der Errichtung der Kirche des Christus des Erlösers und des bischöflichen Gymnasiums Vipava), Diplomarbeit, Ljubljana 2005, S. 2 – 5. 2 Uradni list DFRJ (Amtsblatt der Demokratischen Föderativen Republik Jugoslawien), Nr. 44/45, c. 3; Uradni list SNOS in NVS (Amtsblatt des Rates der Slowenischen Nationalen Befreiung und der Volksregierung Sloweniens), Nr. 62/45. 3 Zakon o nacionalizaciji najemnih zgradb in gradbenih zemljisˇcˇ, Uradni list FLRJ (Amtsblatt der Föderativen Volksrepublik Jugoslawien), Nr. 52/58. 4 Zakon o pravnem polozˇaju verskih skupnosti, Uradni list FLRJ, Nr. 22/53. 5 Die Theologische Fakultät, die im Jahre 1919 eine der Gründungsfakultäten der Universität von Ljubljana war, wurde aus politischen Gründen im Jahre 1952 aus der Universität ausgeschlossen und im Jahre 1992 wieder eingegliedert. Vgl. Alesˇ Gabricˇ, Izkljucˇevanje

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wobei die Mitarbeit von Laien in der pastoralen Arbeit der Pfarrei ausschließlich auf Freiwilligkeit beruhte. 2. Nach der Unabhängigkeit Sloweniens: Die Slowenische Verfassung und das Entnationalisierungsgesetz Nach der Unabhängigkeit Sloweniens im Jahre 1991 bekam Slowenien eine demokratische Verfassung, die keine Grundlage für die Einschränkung von Kircheneigentum darstellt. Die Verfassung legt in Art. 7 die Trennung von Staat und Religionsgemeinschaften fest und bestimmt gleichzeitig, dass die Religionsgemeinschaften gleichberechtigt sind und ihre Tätigkeit unabhängig ist. In Art. 33 sichert sie das Recht auf Privateigentum zu, was auch für die Kirche und andere Religionsgemeinschaften gilt. Das Entnationalisierungsgesetz aus dem Jahre 19916 legte im Art. 14 fest, dass Kirchen und Religionsgemeinschaften, die bei Inkrafttreten dieses Gesetzes auf dem Gebiet der Republik Slowenien tätig sind, das Recht auf Rückgabe des enteigneten Vermögens haben. Primärer Grundsatz dieses Gesetzes ist die Rückgabe in natura; wenn dies nicht möglich ist, haben die Eigentümer Anspruch auf Entschädigung. Das Verfassungsgericht der Republik Slowenien hat im Verfassungsstreit über angebliche Privilegierung der Katholischen Kirche im Jahre 1993 dieses Recht auch auf andere Berechtigte ausgedehnt. Gegner der Rückgabe von Vermögen an die Kirche haben im Weiteren ein Gesetzesreferendum vorgeschlagen, in dem entschieden werden sollte, dass Grund feudalen Ursprungs nicht in Natur zurückgegeben wird, auch nicht dann, wenn die Kirche der Berechtigte ist. Das Verfassungsgericht befand eine solche Referendumsfrage für verfassungswidrig, wobei es seine Entscheidung mit der geschichtlichen Stellung der Kirche auf slowenischem Boden sowie ihrer gesellschaftlich-kulturellen Bedeutung begründete.7 Das Entnationalisierungsgesetz wurde 19988 mit Art. 27a ergänzt, welcher besagt, dass Vermögen feudalen Ursprungs nicht Gegenstand der Entnationalisierung ist, außer in Fällen, wo der Berechtigte die Kirche und andere Religionsgemeinschaften sind. In der Öffentlichkeit wird noch heute die Diskussion in die Richtung fortgesetzt, dass Argumente gegen die Rückgabe kirchlichen Vermögens gesucht werden, in dem Sinne, dass es sich um Vermögen feudalen Ursprungs handelt, worauf die Kirche keinen Anspruch habe und dass die Kirche ohnehin reich genug sei. Trotz dieses Widerstandes wurden der KirTeolosˇke fakultete iz Univerze v Ljubljani, in: Bogoslovni vestnik 63 (2003), S. 255 – 280; Rafko Valencˇicˇ, Prvi koraki zblizˇevanja med Univerzo v Ljubljani in Teolosˇko fakulteto, ebd., S. 281 – 292; Bogdan Kolar, Teolosˇka fakulteta ponovno cˇlanica Univerze, ebd., S. 293 – 302. 6 Zakon o denacionalizaciji, Uradni list RS (Amtsblatt der Republik Slowenien), Nr. 27/ 91. 7 Vgl. Entscheidung des Verfassungsgerichts der Republik Slowenien, Nr. U-I-25/92 vom 4. 3. 1993, Uradni list RS, Nr. 13/93. 8 Vgl. Uradni list RS, Nr. 65/98; Lojze Ude, Property and legal relations (Anm. 1), S. 569 – 570.

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che als größtem Berechtigten mehr als 85 Prozent des nationalisierten Vermögens zurückgegeben.9 Der Rückgabeprozess der Wälder der Erzdiözese Ljubljana im Triglav Nationalpark in Pokljuka in Oberkrain ist aufgrund des politischen Hintergrunds noch nicht abgeschlossen. 3. Umgestaltung der Kirchenprovinz im Jahre 2006 Als im Jahre 1991 Slowenien unabhängig wurde, hatte es knapp zwei Millionen Einwohner und die Katholische Kirche war in drei Diözesen unterteilt: die Diözese Ljubljana, welche 1461 gegründet wurde, die Diözese Maribor, gegründet 1228, und die Diözese Koper, welche ihre Wurzeln im 6. Jahrhundert hat. Die Diözese Ljubljana wurde zum 500. Jahrestag ihres Bestehens im Jahre 1961 zur Erzdiözese erhoben, und im Jahre 1968 vereinigten sich die Diözesen zur slowenischen Kirchenprovinz. Schon seit der Gründung der selbstständigen Slowenischen Bischofskonferenz im Jahre 1993 wurden Vorschläge zur Umgestaltung der slowenischen Kirchenprovinz laut; die Vorbereitungen begannen im Jahr 1998 und wurden nach kurzer Unterbrechung 2005 fortgesetzt. Der Heilige Stuhl gründete am 7. April 2006 drei neue Bistümer. Aus der Diözese Ljubjana ging das Bistum Novo mesto hervor und aus der damaligen Diözese Maribor die Bistümer Celje und Murska Sobota, wobei das Bistum Maribor zum Erzbistum und Metropolitanbistum erhoben wurde, mit Suffraganen in Celje und Murska Sobota.10 Die Demokratisierung Sloweniens und die Umgestaltung der slowenischen Kirchenprovinz gaben neue Hoffnung, dass die Kirche neben dem liturgischen Dienst auch ihre Berufung auf dem Gebiet der Verkündigung und der Wohlfahrt effektiver verwirklichen können wird, was im kommunistischen System nicht gestattet war. Die Slowenische Bischofskonferenz hat – mit der Absicht, eine stabilere materielle Grundlage für die Tätigkeiten der Kirche sicherzustellen -, eine besondere Arbeitsgruppe für Wirtschafts- und Finanzfragen geschaffen, welche, in Hinsicht auf die neuen Verhältnisse, Bedürfnisse und Möglichkeiten einer Übereinkunft zwischen den Bistümern und dem Staat, geeignete Wege zur Sicherung der materiellen Grundlage für die Ausübung der kirchlichen Aufgaben, insbesondere für die Errichtung von Erziehungs- und Bildungseinrichtungen und die Instandhaltung von Kirchen und anderen Kulturdenkmälern, finden sollte.11 Die Kirche hatte dem Staat einige Lösungs-

9 Vgl. Drago Cˇepar, Religious freedom and religious communities in the Republic of Slovenia, in: Office of the Government of the Republic of Slovenia for Religious Communities, The State and Religion in Slovenia, Ljubljana 2008, S. 28 – 29. 10 Vgl. Slowenische Bischofskonferenz, Nova ureditev Cerkve na Slovenskem leta 2006, Ljubljana 2007, CD 117. 11 Die Arbeitsgruppe für die Wirtschafts- und Finanzfragen der Slowenischen Bischofskonferenz bereitete im Jahre 2006 ein Dokument über die Finanzierung der Kirche vor: Financiranje Cerkve. Primerjava Slovenije z Avstrijo, Hrvasˇko, Madzˇarsko, Italijo, Nemcˇijo ter nekdanjo Kraljevino Jugoslavijo, Ljubljana 2006.

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vorschläge der Finanzierung unterbreitet; konkrete Vereinbarungen sind jedoch noch nicht zustande gekommen. II. Gesetzliche Grundlage für materielle Tätigkeiten der Kirche Die Katholische Kirche ist bei ihrer Finanzierung dem kanonischen Recht, dem Abkommen zwischen der Republik Slowenien und dem Heiligen Stuhl über Rechtsfragen12 und der staatlichen Gesetzgebung verpflichtet, wobei insbesondere das Gesetz über die Religionsfreiheit13 aus dem Jahre 2007 hervorgehoben werden muss. Das erwähnte Gesetz ist für die Kirche und andere Religionsgemeinschaften ein wichtiger Wendepunkt bei der Regelung des Verhältnisses zum Staat. Das Gesetz garantiert die Religionsfreiheit, regelt die rechtliche Lage der Kirche und der Religionsgemeinschaften, welche als gesellschaftlich nützliche Organisationen definiert werden, regelt ihr Register sowie das Recht und die Bedingungen der Registrierung und bestimmt die Rechtsgrundlage für ihr materielles Wirken. 1. Abkommen zwischen der Republik Slowenien und dem Heiligen Stuhl über Rechtsfragen In Art. 1 des Abkommens zwischen der Republik Slowenien und dem Heiligen Stuhl über Rechtsfragen (im Weiteren: Abkommen) wird festgelegt: die Republik Slowenien und der Heilige Stuhl bestätigen den Grundsatz, dass der Staat und die Katholische Kirche in ihrer Ordnung unabhängig und selbstständig sind und sich in ihren gegenseitigen Beziehungen zum vollen Beachten dieses Grundsatzes und zur Zusammenarbeit beim Fortschritt der menschlichen Person und dem gemeinsamen Wohl verpflichten. Die Katholische Kirche in Slowenien handelt frei nach kanonischem Recht und im Einklang mit der Rechtsordnung der Republik Slowenien. Gemäß Art. 2 des Abkommens erkennt die Republik Slowenien der Katholischen Kirche die Rechtssubjektivität zu, ebenso wie auch allen territorialen und personalen Kircheninstitutionen mit Sitz in der Republik Slowenien, die eine solche Subjektivität nach den Normen des kanonischen Rechts haben. Nach Art. 9 des Abkommens kann die Kirche Mobilien und Immobilien im Einklang mit der Gesetzgebung der Republik Slowenien erwerben, besitzen, genießen und veräußern, sowie Eigentumsrechte und andere Sachrechte erwerben und veräußern. Für die Finanzierung von kirchlichen Schulen ist Art. 10 des Abkommens von Bedeutung, welcher der Kirche das Recht gibt, Schulen jeder Art und Stufen, Schülerheime und andere Heime, sowie Bildungs- und Erziehungseinrichtungen zu gründen. Der Staat verpflichtet sich dabei, erwähnte Einrichtungen unter den gleichen Bedingungen zu unterstützen, unter denen sie auch andere derartige private Einrichtungen unterstützt. Der gleiche 12

Uradni list RS–MP (Amtsblatt der Republik Slowenien – Internationale Verträge), Nr. 13/04. Das Abkommen ist in slowenischer und italienischer Sprache aufrufbar unter: http:// www.uradni-list.si/1/content?id=47165. 13 Zakon o verski svobodi, Uradni list RS, Nr. 14/07.

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Artikel besagt auch, dass der Status der Studenten und Schüler in kirchlichen Einrichtungen der gleiche ist wie in öffentlichen Einrichtungen. 2. Das „Gesetz über die Religionsfreiheit“ Laut dem Gesetz über die Religionsfreiheit14 ist die Katholische Kirche Rechtsperson des Privatrechts. Auch ihre Bestandteile haben das Recht die Rechtsubjektivität zu erlangen (Art. 6). Das Register der Kirchen und anderer Religionsgemeinschaften wird von dem Regierungsamt für Religionsgemeinschaften geführt. Der Staat erkennt den Kirchen und anderen Religionsgemeinschaften die Stellung von gemeinnützigen Organisationen zu, da sie durch ihren Einsatz für Geistigkeit und die Würde des Menschen sowie durch ihr sonstiges Wirken eine wichtige gesellschaftliche Aufgabe erfüllen. Art. 5 des erwähnten Gesetzes besagt: „Kirchen und andere Religionsgemeinschaften, die sich für die Geistigkeit und die Würde des Menschen im privaten und öffentlichen Leben einsetzen, auf dem Gebiet des religiösen Lebens nach der Sinngebung des Seins streben und gleichzeitig auch durch ihr Wirken bei der Entfaltung ihrer kulturellen, erzieherischen, bildenden, solidarischen, kreativen und anderen Tätigkeiten auf dem Gebiet des Sozialstaats, durch die sie die nationale Identität bereichern und dadurch eine wichtige gesellschaftliche Aufgabe ausüben, eine wichtige Rolle im öffentlichen Leben spielen, sind allgemeinnützige Organisationen.“ Das Gesetz schreibt im Art. 9 das freie Wirken der Kirchen und anderer Religionsgemeinschaften vor und legt in diesem Zusammenhang unter anderem fest, dass sich die Kirchen und andere Religionsgemeinschaften frei organisieren und selbständig entscheiden. a) Grundprinzip: Die Katholische Kirche finanziert sich selbstständig Der Staat stellt nach Art. 29 des Gesetzes über die Religionsfreiheit nicht die Finanzierung jeglicher Tätigkeiten der Kirche bereit, sondern bestimmt die Art und Weise sowie die Möglichkeiten der Finanzierung.15 Die Katholische Kirche kann sich gemäß erwähnter Bestimmung vor allem aus Spenden und anderen Beiträgen von natürlichen und juristischen Personen, aus ihrem anderen Vermögen, sowie auch aus Beiträgen anderer Teilkirchen finanzieren. Sie darf freiwillige Beiträge im Einklang mit ihren Regeln und der geltenden Gesetzgebung sammeln. Wegen ihrer allgemeinnützigen Bedeutung kann der Staat die Kirche materiell unterstüt-

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Zakon o verski svobodi (Anm. 13). Das Verfassungsgericht der Republik Slowenien hat bei der Beurteilung gewisser Artikel des erwähnten Gesetzes mit der Entscheidung Nr. U-I-92/07 – 23, Nr. 130 vom 15. 4. 2010 geurteilt, dass die Finanzierung der Kirche und anderer Religionsgemeinschaften nicht Pflicht des Staates ist, sondern dieser der Kirche lediglich helfen kann. Die Verfassungsrichter sind der Auffassung, dass auch Einzelpersonen in der Regel nicht das Recht haben, vom Staat zu verlangen, dass dieser ihnen die Ausübung der Religionsfreiheit finanziert. 15

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zen.16 Das Gesetz bestätigt mit dieser Bestimmung die schon etablierte Praxis, wonach sich die Kirche in der Regel selber finanziert. Eine Kirchensteuer, welche die Gläubigen zahlen müssten, gibt es in Slowenien nicht, da dies im System der Trennung von Staat und Kirche nicht möglich ist. In der Praxis heißt das, dass das materielle Wirken der Kirche hauptsächlich auf freiwilligen Beiträgen, freiwilliger Arbeit und dem gespendeten Material (z. B. bei der Renovierung von Kirchen und anderen Gebäuden) sowie Einkünften aus eigenem Vermögen basiert. Priester leben in der Regel von den Messstipendien und den Spenden der Gläubigen und erhalten kein Gehalt, wobei der Staat einen Teil der Finanzierung ihrer Versicherung übernimmt. b) Subventionen für die Renovierung von Kulturdenkmälern und Sozialprogrammen Aus dem Grundbuch, welches das offizielle Register für Immobilien der Republik Slowenien darstellt, geht hervor, dass juristische Personen der Katholischen Kirche ungefähr 2.900 Kirchen und andere Sakralobjekte zu eigen und im Besitz haben, was 80 Prozent des slowenischen Kulturguts darstellt. Im Jahre 2010 hat das Kultusministerium nur 5,9 Prozent aller Mittel, EU-Mittel inklusive, die für die Renovierung von Kulturdenkmälern bestimmt waren, der Mitfinanzierung des sakralen Erbes im Eigentum der Kirche zugeteilt.17 Aus den Evidenzen geht hervor, dass 98 Prozent der angeführten Kirchen und anderen Sakralobjekten Kulturdenkmalstatus haben, manche sogar von staatlicher Bedeutung. Kirchliche juristische Personen können für die Mitfinanzierung von Instandhaltungsarbeiten und Renovierungen von sakralen Denkmälern, welche ein Kulturdenkmal darstellen, kandidieren, wobei der Staat gemäß Art. 29 des Gesetzes über die Religionsfreiheit und im Einklang mit anderen Gesetzen ihre Renovierung materiell unterstützen und subventionieren kann. Allerdings gibt es bei der Erlangung von Staatssubventionen Hindernisse, da zum Kandidieren ein großer Anteil von Startmitteln notwendig ist, wobei freiwillige Arbeit und gespendetes Material (z. B. Holz) nicht bewertet werden. Da der Staat bei der Erhaltung und Renovierung des Kulturerbes die Kirche in gleicher Art und Weise unterstützt wie andere Eigen-

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Uradni list RS, Nr. 14/07. Im Jahre 2010 wurden aus der Haushaltsposition des Kultusministeriums und aus den Strukturfonds konservatorische und restauratorische Eingriffe an 103 Denkmälern in einer Höhe von 12.932.244,08 E (mit)finanziert, davon waren 23 Eingriffe an Sakraldenkmälern mit einem Mitfinanzierungswert von 730.988.79 E oder 5,9 Prozent. Zur Zeit Jugoslawiens lag der Anteil der Finanzierung von sakralen Denkmälern immer um 25 Prozent; nach der Unabhängigkeit im Jahre 1991 lag der Wert zwischen 30 und 40 Prozent, ausnahmsweise auch darüber. Bei diesen Berechnungen sind die Mittel für die Renovierung von Erdbebenschäden und der Fonds für Naturkatastrophen nicht berücksichtigt. 17

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tümer von Kulturdenkmälern, stellt dies keine spezifische Finanzierung der Kirche an sich dar.18 Als Rechtsperson des Privatrechts kann sich die Kirche auch um andere Mittel aus dem Staatshaushalt bewerben, z. B. für Wohltätigkeit und die Ausführung von Programmen im Sozialwesen. Die organisierte Wohltätigkeit der Kirche auf slowenischem Boden begann mit den demokratischen Veränderungen im Jahre 1990, als die Slowenische Caritas19 gegründet wurde, welche 2011 insgesamt 431 Pfarrcaritas (ca. 55 Prozent der Pfarreien in Slowenien), Dekanatscaritas und Gemeindecaritas, 6 bischöfliche Caritas, die Slowenische Caritas und zwei Caritas-Vereine zählte. In die Familie der Caritas-Organisationen gehören auch Altersheime und Einrichtungen, die Konzessionstätigkeiten ausführen. Die größten Quellen für die Realisierung von Ausgaben stellten im Jahr 2010 Stifter mit 45,6 Prozent, die Stiftung für die Finanzierung von invaliden und humanitären Organisationen in der Republik Slowenien (FIHO) mit 14,4 Prozent, Nahrung aus Interventionsreserven der Europäischen Union mit 11,3 Prozent, Unternehmen mit gespendeter Nahrung mit 9,9 Prozent, Ausschreibungen der Ministerien mit 7,7 Prozent und Ausschreibungen der Kommunen mit 4,6 Prozent dar. Die restlichen Mittel steuerten andere kleinere Geldgeber bei.20 c) Sozial- und Rentenversicherung Gemäß Art. 28 des Gesetzes über die Religionsfreiheit unterstützt der Staat die Kirche in Form von unmittelbarer Teilfinanzierung der Sozial- und Rentenbeiträge für konfessionelle Angestellte21, das heißt für Priester, Ordensleute und gewisse 18 Vgl. Ursˇka Prepeluh, Nova ureditev svobode religije v Sloveniji, in: Lovro Sˇturm/ Simona Drenik/Ursˇka Prepeluh, Sveto in svetno, Pravi vidiki verske svobode, Ljubljana 2004, S. 199 – 200. 19 Die Slowenische Caritas wurde am 1. 5. 1990 von der damaligen Slowenischen Regionalen Bischofskonferenz gegründet. Am 10. 5. 1995 wurde sie vollberechtigtes Mitglied in Caritas Internationalis und Caritas Europa, am 7. 10. 2004 kannte ihr das Ministerium für Arbeit, Familie und soziale Angelegenheiten der Republik Slowenien den Status einer humanitären Organisation zu. Die gesammte Caritas-Familie verzeichnete im Jahr 2010 ohne Konzessionstätigkeiten Ausgaben in Höhe von 8.777.906,00 E, und zwar 92 % für Programme, 6 % für das Funktionieren und 2 % für Aktionskosten. In der Caritas waren im Jahr 2010 etwas mehr als 9.000 Freiwillige tätig, die insgesammt 470.000 Stunden freiwilliger Arbeit verrichteten. In den Caritas-Organisationen waren 25 Personen im Bereich allgemeine Wohltätigkeit und Administration beschäftigt, wo die Arbeitskosten größtenteils von FIHO getragen werden, 49 Personen waren im Bereich der Programme für soziale Sicherheit beschäftigt, wo die Kosten größtenteils vom Ministerium für Arbeit, Familie und soziale Angelegenheiten getragen werden. 20 Vgl. Jahresbericht der Slowenischen Caritas für das Jahr 2010 vom 6. 4. 2011: http:// www.karitas.si/porocilo/. 21 Das Gesetz definiert im Art. 7 den konfessionellen Angestellten als eine Person, die der Kirche oder einer anderen Religionsgemeinschaft angehört und sich in seiner Religionsgemeinschaft ausschließlich und gänzlich religiös-rituellen, religiös-wohltätigen, religiös-bildenden und religiös-organisatorischen Tätigkeiten im Einklang mit den Regelungen, Vor-

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Laien, die einen Arbeitsvertrag mit der Kirche abgeschlossen haben. Die Unterstützung des Staates beträgt 21,86 Prozent der Grundlage in Höhe von 60 Prozent des Gehalts, was im April 2011 195,89 E pro konfessionellem Angestellten ausmachte. Für Priester ist die Versicherung verpflichtend22, wobei der konfessionelle Angestellte, damit er renten- und sozialversichert ist, selber die restlichen Versicherungskosten tragen muss. Zur Sicherung des Rechts auf die zweckgebundene Unterstützung des Staates teilt die Slowenische Bischofskonferenz im Namen der Katholischen Kirche dem Regierungsamt für Religionsgemeinschaften monatlich Änderungen der Versicherten mit, wobei laut Gesetz ein vernünftiges Verhältnis zwischen der Anzahl der konfessionellen Angestellten und der Anzahl der Kirchenanhänger berücksichtigt wird. Als vernünftiges Verhältnis zählt, laut Gesetz, ein Verhältnis von mindestens 1.000 Kirchenanhängern auf einen konfessionellen Angestellten. Im Mai 2011 erhielt die Kirche staatliche Unterstützung zur Deckung eines Teiles der Beiträge für soziale Sicherung für insgesamt 952 konfessionelle Angestellte, darunter Priester, Ordensleute und ungefähr 105 Laienangestellte; ein Jahr zuvor, im Mai 2010, steuerte der Staat Unterstützung für 999 konfessionelle Angestellte bei. Die Anzahl der Versicherten sinkt aufgrund der niedrigen Anzahl von neuen Priesterberufen und dem Altern der Priester konstant. d) Seelsorge in der Armee, der Polizei, in Gefängnissen und Krankenhäusern Die Slowenische Bischofskonferenz hat am 21. September 2000 mit der Slowenischen Regierung ein Abkommen über die Seelsorge für Armeeangehörige im Slowenischen Militär unterzeichnet, welches die materiellen und personellen Bedingungen der Beschäftigung regelt. Die religiöse Seelsorge für Armeeangehörige und ihre Familienmitglieder wird vom Militärvikariat, welches aus dem Militärvikar, seinem Stellvertreter, dem Militärkaplan und den Pastoralassistenten besteht, geleistet. Zu Beginn des Jahres 2011 waren im Bereich der Seelsorge 11 Personen beschäftigt. Des Weiteren gewährleistet das Gesetz über die Religionsfreiheit im Art. 22 das Recht auf Seelsorge im Militär, in dem es festlegt, dass diese Seelsorge in den Vorschriften über den Militärdienst und die Landesverteidigung genauer reguliert wird.23 Die Seelsorge in der Polizei gewährleistet Art. 23 des Gesetzes über die Religionsfreiheit. Der Staat gewährleistet diese Seelsorge Polizisten, die dies wünschen, in schriften, Ausbildungsanforderungen und Ermächtigungen des obersten Organs der Kirche oder der Religionsgemeinschaft widmet. 22 Die obligatorische Versicherung wurde für Priester im Gesetz über die Renten- und Invaliditätsversicherung festgelegt: Zakon o pokojninskem in invalidskem zavarovanju, Uradni list, Nr. 106/99. Vgl. Cˇepar, Religious freedom (Anm. 9), S. 25 – 26. 23 Die religiöse Seelsorge wird geregelt im Verteidigungsgesetz: Zakon o obrambi, Uradni list, Nr. 103/04, Pravilnik o organizaciji religiozne duhovne oskrbe (Regeln über die Organisation der religiösen Seelsorge) Uradni list RS, Nr. 58/03. Vgl. Cˇepar, Religious freedom (Anm. 9), S. 29 – 30.

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Umständen, in denen ihnen die religiöse Betreuung erschwert ist. Auf der Grundlage dieser gesetzlichen Bestimmung hat der Innenminister die Regeln über die Organisation und die Art der religiösen Seelsorge bei der Polizei ausgegeben, welche die Organisation und die Art und Weise der Ausübung dieses Rechts festlegen. In der Slowenischen Polizei ist im Bereich der Seelsorge ein Priester beschäftigt. Art. 24 des Gesetzes über die Religionsfreiheit stellt die Grundlage für die religiöse Seelsorge in Strafvollzugsanstalten (Gefängnissen) dar. In der Behörde für Strafvollzug der Republik Slowenien ist im Bereich der Seelsorge ein Koordinator für die Seelsorge von Personen in Haft angestellt, wohingegen es in den Gefängnissen selbst keine Beschäftigten in diesem Bereich gibt. Gelegentlich besuchen auf freiwilliger Basis manche Priester oder zu besonderen Anlässen auch Bischöfe die Strafvollzugsanstalten. In Art. 25 des Gesetzes über die Religionsfreiheit wird das Recht auf regelmäßige individuelle und kollektive religiöse Seelsorge in Krankenhäusern und Sozialeinrichtungen, die sich mit institutioneller Obhut beschäftigen, garantiert. Das Gesetz besagt im erwähnten Artikel, dass im Fall einer ausreichend großen Anzahl von zu Pflegenden der gleichen Konfession in Krankenhäusern im ganzen Land das Gesundheitsministerium die Beschäftigung der nötigen Anzahl von Priestern sicherstellt. Krankenhäuser und Sozialeinrichtungen müssen auch räumliche Verhältnisse für die religiöse Seelsorge sicherstellen. Von 27 Krankenhäusern in Slowenien haben 22 Kapellen und regelmäßige heilige Messen. Alle außer einem Priester widmen sich dieser Form der Pastoral neben ihrer Pastoralarbeit in der Pfarrei, sind nicht im Arbeitsverhältnis und erhalten auch keine Bezahlung für ihre Arbeit. Das Verfassungsgericht der Republik Slowenien hat auf Initiative des Staatsrates der Republik Slowenien unter anderem beurteilt, ob die Anstellung von Priestern für die Ausübung der Seelsorge im öffentlichen Sektor im Einklang mit der Verfassung steht. Auf der Basis einer streng laizistischen Auslegung des Grundsatzes der Trennung von Staat und Kirche sowie dessen Neutralität den Religionsgemeinschaften gegenüber hat das Gericht am 15. April 2010 geurteilt, dass Priester aufgrund der Gefahr der Identifizierung des Staates mit der Religion, was folglich nicht vereinbar mit Art. 41 der Verfassung wäre, nicht in Krankenhäusern und Gefängnissen angestellt sein können; allerdings kann ihnen der Staat die Ausübung ihrer Aufgaben vergüten, was bedeutet, dass sie für ihre Leistungen nach einem besonderen Honorarvertrag bezahlt werden können.24 Auf diese Weise führt das Verfassungsgericht 24 Vgl. Entscheidung des Verfassungsgerichtes der Republik Slowenien, U-I-92/07 – 23, Nr. 141 – 157: Das Verfassungsgericht hob hervor, dass die Anstellung von Priestern in Krankenhäusern und Gefängnissen mit dem Ziel der Ausübung der religiösen Seelsorge nach der Verfassung unzulässig ist, weil solche Anstellungen eine symbolische Identifizierung des Staates mit Religionsgemeinschaften bedeuten würden (Nr. 147). Das Wohlwollen des Gesetzgebers bei der finanziellen Unterstützung der Ausübung des religiösen Lebens von Einzelpersonen darf nur so weit gehen, dass der Grundsatz der Trennung von Staat und Kirche nicht beeinträchtigt wird und insbesondere auch die staatliche Neutralität gewahrt wird. Die finanzielle Unterstützung darf nicht den Punkt erreichen, wo sie schon eine symbolische

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eine, im Vergleich zur schon erreichten Form, noch unfreundlichere Form des Verhältnisses von Kirche und Staat ein und rückt damit auf diesem Gebiet von der gängigen europäischen Praxis ab. 3. Das „Gesetz über Dokumentar- und Archivmaterial“ sowie die Archive und der Beschluss der Regierung der Republik Slowenien über die Gründung der öffentlichen Einrichtung des Museums über das Christentum in Slowenien Das Gesetz über Dokumentar- und Archivmaterial sowie die Archive25 aus dem Jahre 2006 legt in Art. 52 fest, dass das Archivmaterial der Katholischen Kirche aus dem kirchlichen Dokumentarmaterial gemäß ihren Vorschriften ausgemustert wird und die Eigenschaft von Archivmaterial besitzt. Das Kultusministerium bestimmt in Übereinkunft mit der Slowenischen Bischofskonferenz die einzelnen Bedingungen für die Verrichtung der Archivtätigkeit und teilt die Mittel für die Verrichtung der Archivtätigkeit der Kirche zu. Bis zur Unterzeichung der Übereinkunft über die Mitfinanzierung der bischöflichen Archive zwischen dem Kultusminister und dem Vorsitzenden der Slowenischen Bischofskonferenz im Jahr 2006 wurde die Archivtätigkeit der Kirche auf der Grundlage der alljährlichen Ausschreibung für Aktionen des Denkmalschutzes vom Staat mitfinanziert. Seit der Unterzeichung der erwähnten Übereinkunft steuert das zuständige Ministerium einen Betrag in Höhe von 70 Prozent des Gehalts für acht Angestellte in den bischöflichen Archiven bei, was im Jahr 2010 167.545.00 E betrug. Dieser Betrag schließt den symbolischen Betrag von 1.000,00 E für Materialkosten ein. Mit Hinblick darauf, dass im Jahre 2006 drei neue Bistümer gegründet wurden, zeigt sich der Bedarf an zusätzlichen Mitteln für die Archivtätigkeit der neu gegründeten Archive. Die Regierung der Republik Slowenien hat am 5. Oktober 2006 den Beschluss gefasst, die öffentliche Einrichtung des Museums über das Christentums in Slowenien26 zu gründen, mit der Absicht, das slowenische sakrale Kulturerbe auf dem ganzen Gebiet der Republik Slowenien zu schützen, instand zu halten, zu präsentieren, verwalten, restaurieren und erwerben, und hat festgelegt, dass diese Einrichtung als spezielles Museum den öffentlichen Dienst auf dem Gebiet des mobilen sakralen Erbes in der Republik Slowenien ausübt. Mitbegründerin des Museums ist die Slowenische Identifizierung des Staates mit der Religion beziehungsweise den Religionsgemeinschaften bedeuten würde. Nach Auffassung des Gerichts wahrt der Staat mit der finanziellen Vergütung für erledigte Arbeit in ausreichendem Maße die Distanz zu den religiösen Tätigkeiten von Priestern, welche ihre Autorität ausschließlich in ihrer Religionsgemeinschaft haben und bei ihrer Arbeit nicht vom Staat abhängig sind. Für die Rechtsauslegung der erwähnten Entscheidung des Verfassungsgerichtes siehe: Andrej Naglicˇ, Svoboda vere v odlocˇbi Ustavnega sodisˇcˇa Republike Slovenije o ustavnosti zakona o verski svobodi, in: Bogoslovni vestnik 70 (2010), S. 483 – 493. 25 Zakon o varstvu dokumentarnega in arhivskega gradiva ter arhivih, Uradni list RS, Nr. 30/06. 26 Uradni list RS, Nr. 106/06.

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Bischofskonferenz, welche schon am 25. September 2003 das Slowenische Religionsmuseum gründete. Das damalige Museum hatte die Museums-Gegenstände, welche seit dem Jahr 1991 der Verein der Freunde des Religionsmuseums in Sticˇna mit dem Status eines Vereins mit öffentlicher Bedeutung verwahrte, zur Verwahrung übernommen. Bevor die Regierung den Beschluss fasste, die öffentliche Einrichtung zu gründen, hatte sich das Museum aus Mitteln finanziert, welche es auf jährliche Ausschreibungen hin erhielt. Seit 2006 stellt die Regierung der Republik Slowenien jährlich Haushaltsmittel für das Betreiben dieser Einrichtung bereit, im Jahre 2010 waren es Mittel in Höhe von 263.261,00 E. 4. Verordnung über die Bestimmung von 0,5 Prozent der Einkommenssteuer für Donationszwecke Laut Art. 3 der Regierungsverordnung über die Bestimmung eines Teils der Einkommenssteuer für Donationszwecke27 vom 3. April 2007 können einkommenssteuerpflichtige Personen bis zu 0,5 Prozent der Einkommenssteuer einem oder mehreren Berechtigten aus Art. 2 dieser Verordnung beimessen. Der Steuerpflichtige kann einzelnen Berechtigten von 0,1 bis 0,5 Prozent der Einkommenssteuer widmen.28 Die Regierung wollte mit der Verordnung die Bürger dazu anregen, dass sie selber entscheiden, welchen Berechtigten sie mit maximal 0,5 Prozent der Einkommenssteuer, die sie in jedem Fall zahlen müssen, unterstützen werden. Unter 3.500 Berechtigten, zu denen Vereine, humanitäre und wohltätige Organisationen gehören, sind als kirchliche juristische Personen auch alle slowenischen Bistümer und Ordensgemeinschaften aufgeführt. Aufgrund der Menge an Berechtigten sind die zugeteilten Mittel sehr verstreut. Außerdem hat sich in der Praxis herausgestellt, dass nur ein kleiner Teil der Bürger von der Möglichkeit zu entscheiden, wem sie einen Teil der Einkommenssteuer zuteilen möchten, Gebrauch macht. In den vergangenen Jahren haben sich anstatt der möglichen 11 Millionen Euro de facto nur gut drei Millionen Euro für Donationen angesammelt. Von den Rechtspersonen der Katholischen Kirche haben die Bürger die meisten Mittel der Slowenischen Caritas zugeteilt, wobei einzelne Bistümer zwischen 7.000,00 E und 25.000 E erhalten, was keine bedeutende Finanzierungs-Quelle der erwähnten kirchlichen juristischen Personen darstellt.29

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Vladna uredba o namenitvi dela dohodnine za donacije, Uradni list RS, Nr. 30/07. Die Regierungsverordnung über die Bestimmung eines Teils der Einkommenssteuer für Donationszwecke ist zu finden unter: http://www.durs.gov.si/fileadmin/durs.gov.si/pageuplo ads/Davki-predpisi_in_pojasnila/Dohodnina/Uredba_o_namenitvi_dela_dohodnine.pdf. 29 Nach Angaben der Finanzverwaltung der Republik Slowenien bekam auf der Grundlage von Donationen von der Einkommenssteuer im Jahre 2010 die Slowenische Caritas 156.471,25 E, das Bistum Celje 11.344,74 E, Bistum Murska Sobota 7.020,13 E, Erzbistum Ljubljana 25.470,60 E, Erzbistum Maribor 9.319,55 E, Bistum Koper 14.606,27 E und das Bistum Novo mesto 8.381.31 E. 28

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5. Steuererleichterungen Die Kirche ist, so wie andere Religionsgemeinschaften, im Rahmen ihrer wirtschaftlichen Tätigkeit steuerpflichtig gemäß Mehrwertsteuergesetz.30 Im Rahmen der Ausführung von im öffentlichen Interesse liegenden Tätigkeiten (z. B. Sozialeinrichtungen, Altersheime, Kinder- und Jugendstätten usw.) ist sie von der Zahlung von Steuern befreit. Solch eine Steuerbefreiung gilt auch für alle anderen Steuerpflichtigen, die nach dem Mehrwertsteuergesetz Tätigkeiten im öffentlichen Interesse ausführen. Nicht besteuert sind z. B. Dienstleistungen für Altersheime und Warenlieferungen, die mit ihnen unmittelbar verbunden sind, insofern sie von öffentlichen Sozialeinrichtungen oder anderen Institutionen auf Grundlage einer Konzession ausgeführt werden (Art. 42 des Mehrwert-Steuergesetzes).31 Laut Einkommenssteuergesetz32 werden die im Laufe des Steuerjahres erworbenen bzw. erreichten Einkommen von natürlichen Personen besteuert. Das Einkommen von konfessionellen Arbeitern, welches aus dem Verhältnis zur Religionsgemeinschaft hervorgeht, ist Gegenstand der Einkommenssteuer, da es sich laut Gesetz um ein Einkommen aus einem Arbeitsverhältnis handelt (Art. 38 in Zusammenhang mit Art. 35 des erwähnten Gesetzes).33 Die Besteuerung solcher Einkommen erfolgt nach einem besonderen System gemäß der Regierungsverordnung über die Bestimmung der Einkommen konfessioneller Arbeiter.34 Die Einkommenssteuer wird nicht auf Pflichtbeiträge für soziale Sicherheit gezahlt, welche für einzelne Verpflichtete gemäß gesonderter Vorschriften die Republik Slowenien bezahlt. Hierzu gehören auch Pflichtbeiträge für soziale Sicherheit, welche für konfessionelle Arbeiter teilweise vom Staat bezahlt werden. Aufgrund des Artikels 9 des Gesetzes über die Steuer auf Einkünfte von juristischen Personen35 sind sowohl die Katholische Kirche als auch andere Religionsgemeinschaften von der Steuer auf Einkünfte juristischer Personen befreit, insofern sie nicht erwerbsmäßige Tätigkeiten ausüben. Die gleiche Steuerbefreiung genießen unter gleichen Bedingungen auch Institute, Vereine und andere Einrichtungen. Das Gesetz besagt auch, dass Religionsgemeinschaften Steuern auf Einkünfte juristischer Personen zahlen, welche sie durch vergütete Erwerbstätigkeit erhalten. Etwaige zusätzliche vergütete Erwerbstätigkeiten, die besteuert sind, müssen im Zusammenhang mit dem Zweck und Ziel der grundlegenden Tätigkeit stehen und dürfen im Verhältnis zur unbesteuerten nicht erwerbsmäßigen Tätigkeit lediglich ergän30

Zakon o davku na dodano vrednost, Uradni list, Nr. 117/06. Vgl. Ursˇka Prepeluh, Nova ureditev (Anm. 18), S. 200; Miha Movrin/Simon Umek, Ali verske skupnosti res zˇe na zemlji zˇivijo v davcˇnem raju? http://www.ius-software.si/Novice/ prikaz_Clanek.asp?id=25726&Skatla=17 (aufgerufen am 24. 2. 2007). 32 Zakon o dohodnini, Uradni list, Nr. 117/06. 33 Uradni list RS, Nr. 54/04. 34 Uradni list RS, Nr. 136/06. Vgl. Cˇepar, Religious freedom (Anm. 9), S. 27 – 28. 35 Zakon o davku od dohodkov pravnih oseb, Uradni list RS, Nr. 117/06. 31

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zende Tätigkeiten darstellen, welche im Rahmen der primären Tätigkeit ausgeführt werden können, in unserem Fall der religiösen Tätigkeit. Die Kirche ist, so wie andere Religionsgemeinschaften, gemäß dem Baulandgesetz von der Ausgleichszahlung für den Gebrauch von Bauland für diejenigen Gebäude, welche für religiöse Aktivitäten benutzt werden, befreit (Art. 59).36 Das Gesetz über die Steuer auf Immobilienverkehr37 legt in Art. 10 fest, dass keine Steuern auf die Übertragung von Immobilien mit Kulturdenkmalstatus bezahlt werden unter der Bedingung, dass das Kulturdenkmal für die Öffentlichkeit zugänglich ist oder für die Ausübung kultureller Tätigkeiten bestimmt ist, worüber der Eigentümer mit dem Kultusministerium eine Vereinbarung von unbegrenzter Dauer abschließt. Hinsichtlich der Steuerbefreiung unterscheidet das Gesetz nicht zwischen einzelnen Adressaten, sondern verpflichtet die Kirche und andere Religionsgemeinschaften zur Zahlung der Steuer auf Immobilienverkehr auch in dem Fall, dass sie über Immobilien verfügen, die Kulturdenkmalstatus haben, aber nicht öffentlich zugänglich sind.38 6. Finanzierung der privaten katholischen Schulen, Kindergärten und Fakultäten Nach dem demokratischen Wechsel und der Unabhängigkeit Sloweniens im Jahre 1991 eröffnete sich die Möglichkeit, Privatschulen zu gründen. Die Kirche hat sich im Einklang mit ihrer Berufung aktiv bei der Gestaltung des pluralen Schulsystems beteiligt. Schon vor der Unabhängigkeit gab es zwei konfessionelle Mittelschulen in Slowenien: in Vipava seit 1957 und in Zˇelimlje seit 1967. Die Schulen waren ausschließlich für die Erziehung und Ausbildung von Priesteramtskandidaten bestimmt und hatten kein öffentlich anerkanntes Programm.39 Im Jahre 1991 wurden beide erwähnten Schulen private katholische Gymnasien mit anerkanntem staatlichem Programm. 1993 wurde in Ljubljana das Bischöfliche humanistische Gymnasium gegründet und im Jahre 1997 das Bischöfliche Gymnasium Anton Martin Slomsˇek40 in Maribor. Im Jahre 2008 wurde die erste katholische Grundschule, die Alojzij Sˇusˇ36

Zakon o stavbnih zemljisˇcˇih, Uradni list SRS (Amtsblatt der Sozialistischen Republik Slowenien), Nr. 18/84. 37 Zakon o davku na promet nepremicˇnin, Uradni list RS, Nr. 117/06. 38 Vgl. Miha Movrin/Simon Umek, Ali verske skupnosti (Anm. 31). 39 Vgl. Roman Globokar, Religious education in Slovenia – Evaluation, in: Religious education in Slovene schools: Evaluation and perspectives, Proceedings of the international Symposium in St. StanislavÏs Institution 26 and 27 November 2009, S. 183 – 188; ders., Katolisˇko sˇolstvo v Sloveniji 1991 do 2011, Manuskript, S. 1 – 21, wird im Jahr 2011 in der Publikation zum Weißbuch über das Schulsystem erscheinen; Ivan Sˇtuhec, Religious education as a cultural and political problem in Slovenia, in: Religious education (siehe oben), S. 189 – 196. 40 Im Schuljahr 2010/2011 waren in katholischen Gymnasien insgesamt 1.677 Schüler eingeschrieben, was 2 Prozent der Schüler auf Mittelschulen ausmacht. Die Alojzij Sˇusˇtar Grundschule hat 200 Schüler, was 0,08 Prozent aller Grundschüler darstellt. Vgl. Globokar, Katolisˇko sˇolstvo (Anm. 39), S. 12.

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tar Grundschule, gegründet. Laut gesetzlicher Regelung der Stellung der Privatschulen im Gesetz über die Organisation und Finanzierung der Erziehung und Bildung41 aus dem Jahre 1996 haben die schon tätigen Schulen und Kindergärten mit Konzession die 100-prozentige Finanzierung beibehalten, wohingegen Privatschulen und Privatkindergärten, die nach dem Inkrafttreten dieses Gesetzes gegründet wurden, nur eine 85-prozentige Mitfinanzierung der Gehälter und Materialkosten, nicht aber auch der Kosten, die über den Standard hinausgehen, sowie Investitions- und Instandhaltungskosten zusteht. In keinem Fall deckt die staatliche Finanzierung alle Kosten; deshalb zahlen Schüler an allen Privatschulen eine Schulgebühr. Diese Schulen führen das öffentliche Schulprogramm aus und stellen kein paralleles Schulsystem dar, wobei zusätzlich das Pflichtfach Religionsunterricht mit dem Namen Religion und Kultur unterrichtet wird. Die katholischen Schulen sind der staatlichen Aufsicht unterworfen und müssen die gleichen Wissens-Standards, die für staatliche Schulen vorgeschrieben sind, gewährleisten. Im Schuljahr 2010/2011 waren in Slowenien 17 katholische Kindergärten tätig, die von 1.264 Kindern besucht wurden. 8 Kindergärten haben von den Gemeinden eine Konzession in Höhe von 85 Prozent erhalten; deshalb werden ihre Programme mit öffentlichen Mitteln finanziert, was die Ausführung des öffentlichen Programms für Kindergärten einschließt, mit der Möglichkeit, religiöse Inhalte zu übermitteln. Der Gründer muss für die Investition aufkommen. Obwohl die nachstehend erwähnte Hochschuleinrichtung nicht zum Privatschulwesen gehört, soll an dieser Stelle noch die Finanzierung der Theologischen Fakultät der Universität Ljubljana erwähnt werden, bei der im Studienjahr 2010/2011 70 Personen beschäftigt und in allen Studienrichtungen insgesamt 780 Studenten eingeschrieben waren. Der Staat finanzierte die Ausführung des Programms und die Materialkosten, die Investition hingegen bezahlte das Erzbistum Ljubljana. Unter der Schirmherrschaft der Slowenischen Bischofskonferenz wurde im Rahmen des Katholischen Instituts im Studienjahr 2010/2011 die Fakultät für Betriebswirtschaftslehre tätig, welche gänzlich von der Kirche finanziert wird. III. Schluss In diesem Beitrag wurde die Stellung der Katholischen Kirche in Zeit und Raum aus dem Gesichtspunkt ihrer materiellen Lage sowie die gesetzliche Grundlage für staatliche Unterstützung bzw. die unmittelbare Finanzierung der kirchlichen Aktivitäten in einigen einzelnen Fällen vorgestellt. In Slowenien gibt es keine Kirchensteuer und keinen Kirchenbeitrag; deshalb ist die Finanzierung der Kirche mit keinem der benachbarten Länder vergleichbar. Die kirchlichen juristischen Personen finanzieren sich hauptsächlich aus freiwilligen Spenden der Gläubigen und in manchen Fällen aus eigenem Vermögen. Letzteres gilt vor allem für die Erzbistümer Ljubljana und Maribor, welche im Vergleich zu anderen Bistümern einen wesentlich größeren 41 Zakon o organizaciji in financiranju vzgoje in izobrazˇevanja, Uradni list RS, Nr. 12/96 und 23/96.

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Etat haben und sich vornehmlich aus Erträgen ihrer Erwerbstätigkeit und aus im Prozess der Entnationalisierung zurückgegebenem Vermögen finanzieren. Die anderen Bistümer sind hinsichtlich ihrer materiellen Tätigkeiten von den Spenden der Gläubigen und anderen Donationen abhängig. Pfarreien finanzieren sich in der Regel aus Spenden der Gläubigen und aus freiwilliger Arbeit, ebenso die Priester, welche, mit Ausnahme der Professoren an der Theologischen Fakultät, für ihre Arbeit kein Gehalt empfangen und von Spenden leben. Bei der staatlichen Unterstützung der Kirche muss erwähnt werden, dass kirchliche juristische Personen gemäß gültiger Gesetzgebung die vorgesehenen Steuern und Beiträge zahlen. Insofern der Staat der Kirche und anderen gemeinnützigen Organisationen gewisse Steuererleichterungen und Steuerbefreiungen gewährt, handelt es sich nicht um Großzügigkeit, sondern dies stellt die gängige Praxis in Staaten, welche einen ausgedehnten öffentlichen Sektor haben, dar. Auf diese Weise wird vom Steuersystem die billigere private und zivilgesellschaftliche Initiative zur Ausführung von immer teurer werdenden Aktivitäten im Bereich des Sozialstaates angeregt. Das Finanzieren privater Schulen bedeutet keine wirkliche Finanzierung der Kirche an sich – eigentlich geht es um das Finanzieren der Ausführung von öffentlichem Schulprogramm –, sondern ermöglicht den Eltern von ihrem durch internationale Konventionen anerkanntem und der Verfassung gesichertem Grundrecht Gebrauch zu machen, ihren Kindern eine solche religiöse Erziehung und Bildung zu gewährleisten, welche im Einklang mit ihrer Überzeugung steht. In der Regel finanziert der Staat die Kirche nicht, sondern kann sie in bestimmten Tätigkeiten wegen ihrer Gemeinnützigkeit für die Gesellschaft unterstützen. Die staatliche Unterstützung in der jetzigen Form ist wegen der angekündigten Änderung des bestehenden Gesetzes über die Religionsfreiheit in Frage gestellt. Eine Gruppe von Abgeordneten linksgerichteter politischer Parteien hat am 8. Juni 2011 den Vorschlag einer Novelle zum Gesetz über die Religionsfreiheit ins Parlament eingebracht, die ein Versuch ist, die von der Regierungskoalition zum Mandatsbeginn im Jahre 2008 angekündigte Redefinierung der Beziehungen zwischen Staat und Kirche im Sinne einer erneuten Ausschließung der Kirche aus dem gesellschaftlichen Leben und eines groben Eingriffs des Staates in die Autonomie der Kirche durchzusetzen. Der Vorschlag beruht auf einer laizistischen Ideologie und folglich einer strengen Interpretation der Trennung von Kirche und Staat. Inhaltlich bedeutet er eine radikale Abweichung von den schon beschlossenen Standards und steht im Widerspruch mit der Verfassungsordnung und dem Abkommen zwischen der Republik Slowenien und dem Heiligen Stuhl über Rechtsfragen sowie der europäischen Praxis auf dem Gebiet der Religionsfreiheit.

Kirchenmitgliedschaft, Kirchenaustritt und europäisches Antidiskriminierungsrecht Von Brigitte Schinkele I. Einleitung Das kirchliche Dienstrecht einerseits und das staatliche Arbeitsrecht andererseits stellen zwei Rechtsbereiche dar, in denen es in besonderem Maß zu einer Berührung bzw. Überschneidung von kirchlicher und staatlicher Rechtsordnung kommt. Es stellt sich daher in der Praxis des kirchlichen Dienstes immer wieder die Notwendigkeit, diese beiden Rechtssphären zueinander in Beziehung zu setzen. Unter dieser Perspektive stellen die von der Europäischen Union in Gang gesetzten Entwicklungen im Antidiskriminierungsrecht durchaus eine Zäsur dar. Wird doch nunmehr eine Diskriminierung (unter anderem) aus Gründen der Religion im Bereich von Beschäftigung und Beruf grundsätzlich untersagt und die Zulässigkeit einer Ungleichbehandlung an einen vorgegebenen strikten Rechtfertigungsmaßstab geknüpft. Es sollen daher im Folgenden Überlegungen angestellt werden, welche Implikationen sich daraus für den Themenbereich „Kirchenmitgliedschaft und Kirchenaustritt“ im dienstrechtlichen Kontext ergeben können. Dies nicht zuletzt auch im Hinblick darauf, dass seit gut einem Dezennium Fragen im Zusammenhang mit einem Kirchenaustritt wieder verstärkt in Diskussion gekommen sind. Es handelt sich also um zwei Rechtsbereiche, in denen nahezu zeitgleich eine gewisse Dynamik feststellbar ist, ohne dass die diese jeweils auslösenden Impulse in einem inneren Zusammenhang stünden. Bei Fragen des kirchlichen Dienstrechts geht es oftmals sehr wesentlich auch um das grundsätzliche Verhältnis zwischen dem Staat und den Religionsgemeinschaften, so dass einer Einzelfalllösung im Rahmen eines solchen Spannungsverhältnisses oftmals die Bedeutung einer Fundamentalentscheidung zukommt. Damit kann sie auch Ausstrahlungswirkungen in andere Bereiche der so genannten res mixtae von Staat und Kirche zeitigen. Dass diese „gemeinsamen Angelegenheiten“ stets auch ein besonderes Anliegen des Jubilars waren und sind, macht sowohl sein wissenschaftliches Werk als auch sein kirchlich-pastorales Wirken deutlich und hat die Auswahl des Themas entscheidend mit bestimmt.1 Dies umso mehr, als Staat und Religions1 Herzlich danke ich Lukas Diem für seine Mitarbeit bei der Anfertigung des wissenschaftlichen Apparats sowie beim Lektorieren des Textes. So vor allem Hans Paarhammer (Hrsg.), Vermögensverwaltung in der Kirche. Administrator bonorum, oeconomus tamquam paterfamilias, Thaur/Tirol 21988; ders., Kirchliches

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gemeinschaften sowohl durch die dynamischen gesellschaftlichen und soziokulturellen Veränderungen als auch einen gravierenden Strukturwandel im Bereich des Religiösen vor besondere Herausforderungen gestellt sind. II. Kirchenmitgliedschaft und „Kirchenaustritt“ aus kirchenrechtlicher Sicht 1. Kirchenmitgliedschaft und „Kirchenaustritt“ im CIC Die Eingliederung in die katholische Kirche erfolgt durch den Empfang des Sakraments der Taufe2, womit die aus der Kirchenzugehörigkeit erfließenden Rechte und Pflichten verbunden sind. Hierzu gehören insbesondere das Recht, Sakramente zu empfangen, sowie die Pflicht, im „eigenen Verhalten immer die Gemeinschaft mit der Kirche zu wahren“ (c. 209 § 1 CIC), weiters auch die Pflicht, „für die Erfordernisse der Kirche Beiträge zu leisten“ (c. 222 § 1 CIC).3 Aufgrund des character indelebilis der Taufe (c. 849 CIC) kann die so genannte „konsekratorische Kirchengliedschaft“4 nicht verloren gehen, auch nicht im Fall der Exkommunikation. Wenngleich also ein „Kirchenaustritt“ theologisch nicht möglich ist, kann durch Handlungen gegen den Glauben bzw. die Einheit der Kirche „eine schwere Schädigung der sakramental grundgelegten communio“ herbeigeführt werden.5 Die Exkommunikation als Tatstrafe ist bei Ablehnung des christlichen Glaubens im Ganzen (Apostasie), bei beharrlicher Leugnung einer Glaubenswahrheit (Häresie) sowie bei Verweigerung der Unterordnung unter den Papst oder der Gemeinschaft mit den diesem untergebenen Gliedern der Kirche (Schisma) vorgesehen (vgl. c. 751 und c. 1364 § 1 CIC). Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, wie die vor den staatlichen Behörden abgegebene Kirchenaustrittserklärung zu qualifizieren ist.6 Das geltende KirchenFinanzwesen in Österreich. Geld und Gut im Dienste der Seelsorge, Thaur/Tirol 1989; ders., Kirche und Staat in der Zweiten Republik, in: Franz Pototschnig (Hrsg.), Im Dienst von Kirche und Staat, GS-Holböck, Wien 1985, S. 557 – 576; ders., Rechtliche Ordnung der Militärseelsorge. Universal- und partikularrechtliche Bestimmungen, in: Hans Walther Kaluza/ Hans Richard Klecatsky/Heribert Franz Köck/Hans Paarhammer (Hrsg.), Pax et Iustitia (FS Kostelecky 70), Berlin 1990, S. 463 – 501. 2 Vgl. c. 205 CIC/1983. Näheres bei Alfred E. Hierold, Taufe und Firmung, in: HdbKathKR2, S. 807 – 823, hier S. 807 f. 3 Vgl. auch c. 1254 § 2 CIC/1983. 4 Vgl. Joseph Listl, Die Erklärung des Kirchenaustritts, in: HdbKathKR2, S. 209 – 219, hier S. 211 f. 5 Gerhard Ludwig Müller, Kirchenzugehörigkeit und Kirchenaustritt aus dogmatischer Perspektive, in: Elmar Güthoff/Stephan Haering/Helmuth Pree (Hrsg.), Der Kirchenaustritt im staatlichen und kirchlichen Recht, Freiburg/Basel/Wien 2011, S. 77 – 89, hier S. 87 f. 6 Es handelt sich dabei insbesondere um einen Österreich und Deutschland betreffenden Fragenkomplex, da außerhalb des deutschen Sprachraums ein staatliches Kirchenaustrittsrecht kaum bekannt ist. Siehe dazu Wilhelm Rees, Der Kirchenaustritt und seine kirchenrechtliche

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recht, wie auch bereits der CIC 1917, sieht für den vor der staatlichen Behörde erklärten Kirchenaustritt keine explizite Strafe vor. Eine Strafe kann grundsätzlich dann Platz greifen, wenn ein mit einer strafrechtlichen Sanktion versehenes Gesetz übertreten wird und dies wegen Vorsatzes oder Fahrlässigkeit schwer zurechenbar ist (c. 1321 CIC). Im Schrifttum wurde mehrheitlich davon ausgegangen, dass die vor der staatlichen Behörde abgegebene und von dieser an die Kirche weitergeleitete Erklärung des Kirchenaustritts als Verweigerung der Einordnung in die Teilkirche und der vollen Gemeinschaft mit ihr und somit zumindest als Schisma einzustufen sei. In der Praxis gingen auch die österreichischen Diözesen davon aus, dass ein solcherart erklärter Kirchenaustritt als Abfall von der Kirche anzusehen sei.7 2. Neuere Entwicklungen in Bezug auf den Kirchenaustritt Im Hinblick auf stark steigende Kirchenaustrittszahlen sowie so genannte „modifizierte Kirchenaustritte“ – Austrittserklärungen mit einem Zusatz bzw. Vorbehalt versehen, zwar nicht der Rechts- jedoch der Glaubensgemeinschaft weiterhin angehören zu wollen –, wie sie insbesondere in Deutschland vorgenommen wurden8, sah man sowohl auf universal- als auch partikularkirchlicher Ebene verstärkten Handlungsbedarf. Dabei wurden vor allem die ehe- und strafrechtlichen Konsequenzen in den Blick genommen; es finden sich jedoch auch ausdrückliche Bezugnahmen auf das kirchliche Dienstrecht.9 Angesichts dieser „modifizierten Kirchenaustritte“ wird im Schrifttum – durchaus nicht nur vereinzelt – die Meinung vertreten, dass aus der vor der staatlichen Behörde abgegebenen Kirchenaustrittserklärung nicht immer geschlossen werden könne, dass die betreffende Person ihre „Haltung und Entscheidung inhaltlich als Verweigerung der communio intendiert hat und so auch versteht“.10 Eine solche Handlung erfordere daher auch unter einer strafrechtlichen Perspektive notwendigerProblematik, in: Generalsekretariat der Österreichischen Bischofskonferenz (Hrsg.), Zugehörigkeit zur Katholischen Kirche. Kanonistische Klärungen zu den pastoralen Initiativen der Österreichischen Bischofskonferenz (Die österreichischen Bischöfe 10), Wien 2010, S. 38 – 61 sowie unten Anm. 11. 7 Bruno Primetshofer, Kirchenaustritt – Schisma? Anmerkungen zu einer Erklärung der Deutschen Bischofskonferenz vom 24. 4. 2006, in: ÖARR 53 (2006), S. 205 – 212, hier S. 210, unter Berufung auf eine Erklärung von Kardinal Franz König, worin auch festgehalten wird, dass sich der Ausgetretene nicht mehr am sakramentalen Leben der Kirche beteiligen dürfe. 8 Siehe die Beiträge in Güthoff/Haering/Pree, Kirchenaustritt (Anm. 5) mit vielen weiteren Nachweisen. 9 Vgl. unten V. 2. 10 Ilona Riedel-Spangenberger, Konversion und Rekonziliation im Recht des Staates und der Kirche, in: Heribert Hallermann (Hrsg.), Ökumene und Kirchenrecht – Bausteine oder Stolpersteine?, Mainz 2000, S. 157 – 164, hier S. 161; siehe weiters Stefan Muckel, Kirchenaustritt, „Körperschaftsaustritt“ und das Vorgehen Roms, in: KuR (Neuwied) 2010, S. 188 – 191 und Christoph Ohly, Kirchenaustritt ohne Folgen? Kanonistische Überlegungen zu einer neu entfachten Diskussion, in: ThGl 98 (2008), S. 24 – 36, sowie jüngst die Beiträge in Güthoff/Haering/Pree, Kirchenaustritt (Anm. 5).

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weise eine auf den Einzelfall bezogene Prüfung, sofern der Tatbestand der Apostasie, der Häresie oder des Schismas nicht eindeutig verwirklicht ist. Nur in diesem Fall wäre die Tatstrafe der Exkommunikation in Betracht zu ziehen. Gegebenenfalls könnte nach einer Verwarnung wegen Ungehorsams gegenüber einem rechtmäßigen Gebot oder Verbot der kirchlichen Autorität eine gerechte Strafe gemäß c. 1399 CIC/ 1983 verhängt werden. Nicht zuletzt auch im Hinblick auf die grundsätzliche Problematik dieser Bestimmung, die einen breiten Niederschlag gefunden hat, wurde – so etwa von Wilhelm Rees – im Interesse der Rechtssicherheit auch „die Einführung eines eigenen Straftatbestands mit entsprechenden Sanktionen seitens der österreichischen und ebenso der deutschen Bischöfe“ angedacht.11 Nachdem bereits früher der Päpstliche Rat für die Gesetzestexte auf Anfragen einzelner Diözesanbischöfe hin eine Antwort gegeben hatte, hielt dessen Präsident, Kardinal Juli‚n Herranz, in einem Zirkularschreiben an die Präsidenten der Bischofskonferenzen der römisch-katholischen Kirche vom 13. März 200612 fest, dass der vor einer staatlichen Behörde erklärte Austritt allein nicht als Abfall von der Kirche im Sinn des katholischen Kirchenrechts zu werten sei. Der actus formalis defectionis ab Ecclesia müsse vielmehr auf einer inneren Einstellung beruhen, die nach außen bekundet und von der zuständigen kirchlichen Autorität angenommen werden müsse. Daran anknüpfend sowie an ein weiteres Schreiben, das Ausführungen bezüglich einer an den Betreffenden zu richtenden „Einladung zum Dialog“13 enthält, hat die Österreichische Bischofskonferenz im Rahmen ihrer Erklärung „Zugehörigkeit zur katholischen Kirche“ vom März 200714 bezüglich des Kirchenaustritts eine entsprechende Neuordnung für die österreichischen Diözesen erlassen. Demnach gilt „der staatliche Kirchenaustritt […] als öffentlicher Abfall von der Katholischen Kir11

Wilhelm Rees, Zur Aktualität des kirchlichen Strafrechts. Sexuelle Übergriffe durch Kleriker, Kirchenaustritt und Priesterbruderschaft St. Pius X. – mit einem Blick auf den actus formalis, in: ÖARR 2011 (in Druck) m.w.N. Straftatbestand wäre seiner Ansicht nach die Verweigerung der Kirchenbeitrags- bzw. Kirchensteuerpflicht auf Grund des in öffentlicher Form vor einer staatlichen Behörde erklärten Kirchenaustritts, unabhängig von der inneren Haltung bzw. dem Motiv, das die jeweilige Person zu diesem Schritt bewogen hat. 12 Juli‚n Herranz, Zirkularschreiben an die Präsidenten der Bischofskonferenzen vom 13. März 2006, abgedruckt in: Generalsekretariat der Österreichischen Bischofskonferenz (Hrsg.), Zugehörigkeit zur Katholischen Kirche. Pastorale Initiativen in Zusammenhang mit dem Kirchenaustritt (Die österreichischen Bischöfe 7), Wien 2007, S. 4 – 6. 13 Schreiben von Kardinal Juli‚n Herranz an Kardinal Christoph Schönborn vom 14. März 2006, abgedruckt in: Generalsekretariat der Österreichischen Bischofskonferenz (Hrsg.), Zugehörigkeit (Anm. 12), S. 7 – 8, hier S. 8. 14 Generalsekretariat der Österreichischen Bischofskonferenz (Hrsg.), Zugehörigkeit (Anm. 12), S. 14. Darauf fußend ergingen weitere Regelungen seitens der einzelnen Diözesanbischöfe, die am 1. Oktober 2007 in Kraft getreten sind. Siehe dazu Wilhelm Rees, Partikularnormen der Österreichischen Bischofskonferenz und der Diözesen Österreichs. Überblick über die Gesetzgebung des Jahres 2007, in: ÖARR 56 (2009), S. 117 – 175. Im Jahre 2010 erfolgte eine Überarbeitung. Siehe dazu Generalsekretariat der Österreichischen Bischofskonferenz (Hrsg.), Zugehörigkeit. Kanonistische Klärungen (Anm. 6), mit Beiträgen von Wilhelm Rees und Ludger Müller.

Kirchenmitgliedschaft, Kirchenaustritt, Antidiskriminierungsrecht

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che, wenn er auch vor dem Pfarrer oder vor einem vom Bischof Beauftragten als solcher bestätigt wird“. III. Kirchenmitgliedschaft und Kirchenaustritt nach staatlichem Recht Der Zugehörigkeit zu einer gesetzlich anerkannten Kirche oder Religionsgesellschaft kommt auch für den staatlichen Bereich Relevanz zu. Dies umso mehr, als ausgehend von Art. 15 Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger (StGG)15 die staatliche Rechtsordnung vielfach an den Status der gesetzlichen Anerkennung anknüpft.16 Die Bestimmung der Mitgliedschaft aufgrund innerkirchlicher Regelungen gehört zu den „inneren Angelegenheiten“ im Sinn des Art. 15 StGG und damit zum Selbstbestimmungsrecht der Kirchen und Religionsgesellschaften. Davon zu unterscheiden ist die als Ausfluss des Grundrechts der Gewissensfreiheit gewährleistete höchstpersönliche Überzeugung. Weiters ist gewissermaßen auf einer dritten Ebene die Zugehörigkeit als eine nach staatlichem Recht relevante Mitgliedschaft angesprochen.17 Aufgrund des Grundrechts der Religionsfreiheit, das auch das Recht auf die Aufgabe bzw. den Wechsel des religiösen Bekenntnisses umfasst, sind derartige Akte durch eine staatliche Regelung sicherzustellen, unabhängig von den vielfältigen innerreligionsgemeinschaftlichen Bestimmungen, mit denen sich das staatliche Recht konfrontiert sieht. Gemäß § 3 Anerkennungsgesetz18 werden die Erfordernisse der Zugehörigkeit und die Art des Beitritts zu einer gesetzlich anerkannten Kirche oder Religionsgesellschaft durch deren Verfassung bestimmt. Der Eintritt in eine neugewählte gesetzlich anerkannten Kirche oder Religionsgesellschaft muss vom Eintretenden dem zuständigen Organ derselben persönlich erklärt werden. Der Austritt aus einer gesetzlich anerkannten Kirche oder Religionsgesellschaft mit Wirkung für den staatlichen Bereich muss vor der staatlichen Verwaltungsbehörde erfolgen.19 Diese Regelung intendiert nicht, kirchliche Agenden zu beeinträchtigen, sondern bezweckt, diese Frage so weit zu klären, als die staatliche Rechtsordnung an die Mitgliedschaft oder Nichtmitgliedschaft zu einer bestimmten Religionsgemeinschaft Folgen knüpft. Die Behörde hat die zuständigen Organe der verlassenen Religionsgemeinschaft zu informieren, was jedoch keine Wirksamkeitsvoraussetzung ist. Mit 15

RGBl. 142/1867. Seit dem Bundesgesetz über die Rechtspersönlichkeit von religiösen Bekenntnisgemeinschaften, BGBl. I. 1998/19 i. d. F. BGBl. I. 78/2011, gibt es eine zweite Kategorie von Religionsgemeinschaften. Näheres dazu bei Herbert Kalb/Richard Potz/Brigitte Schinkele, Religionsrecht, Wien 2003, insb. S. 115 – 126. 17 Richard Potz/Brigitte Schinkele, Religionsrecht im Überblick, Wien 22007, S. 64. 18 Gesetz vom 20. Mai 1874 betreffend die gesetzliche Anerkennung von Religionsgesellschaften, RGBl. 68/1874. 19 Art. 6 Gesetz vom 25. Mai 1868, wodurch die interkonfessioellen Verhältnisse der Staatsbürger in den darin angegebenen Beziehungen geregelt werden, RGBl. 49/1868. 16

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der Erklärung vor der staatlichen Behörde werden sowohl die Rechte der betreffenden Kirche gegenüber dem Austretenden als auch dessen Ansprüche gegen diese beendet. Welche Beweggründe zu diesem Schritt geführt haben, sind für den Staat irrelevant. Irgendwelche Zusatzerklärungen, wie etwa die Einschränkung, trotz eines solchen Formalaktes weiterhin der betreffenden Religionsgemeinschaft angehören zu wollen, sind weder vorgesehen noch zulässig und hätten, sollten sie dennoch abgegeben werden, keine rechtliche Relevanz.20 IV. Kirchlicher Dienst und neues Antidiskriminierungsrecht 1. Kirchliches Dienstrecht als „innere Angelegenheit“ Das kirchliche Dienstrecht gehört zu den klassischen „inneren Angelegenheit“ der gesetzlich anerkannten Kirchen und Religionsgesellschaften im Sinne des Art. 15 StGG.21 Danach ordnen und verwalten diese „ihre inneren Angelegenheiten selbständig“, sind aber „wie jede Gesellschaft, den allgemeinen Staatsgesetzen unterworfen“. Bedienen sich die Kirchen und Religionsgesellschaften22 der Instrumentarien des staatlichen Arbeitsrechts, so können sie zwar im Rahmen ihrer Privatautonomie und ihres Selbstbestimmungsrechts die arbeitsrechtlichen Bestimmungen modifizieren und insoweit ihr Selbstverständnis zur Geltung bringen. Gleichzeitig entfaltet jedoch die Schranke der „allgemeinen Staatsgesetze“ ihre Wirkung. Dabei handelt es sich um einen materiellen Gesetzesvorbehalt, der stets eine Rechtsgüterabwägung erfordert. In diesem Sinn ist unter strenger Bindung an den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ausgehend vom Selbstverständnis der jeweiligen Kirche ein Ausgleich, eine so genannte „praktische Konkordanz“, zwischen den kolli20

Vgl. oben Anm. 11. Während sich der Art. 15 StGG ausdrücklich auf gesetzlich anerkannte Kirchen und Religionsgesellschaften bezieht und in § 132 Abs. 4 ArbVG (siehe unten bei Anm. 26) ein „erweiterter Tendenzschutz“ auch nur für diese vorgesehen ist, ist die korporative Religionsfreiheit bzw. das daraus abgeleitete Selbstbestimmungsrecht in Art. 9 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), BGBl. 210/1958, sämtlichen Religionsgemeinschaften, unabhängig von ihrem Rechtsstatus, gewährleistet. Dies gilt insbesondere für jene Religionsgemeinschaften, die aufgrund des Gesetzes über die Rechtspersönlichkeit von religiösen Bekenntnisgemeinschaften als solche staatlich eingetragen sind (BGBl. I 19/1998). Näheres siehe Kalb/Potz/Schinkele, Religionsrecht (Anm. 16), S. 80 f., 115 f. Demgegenüber differenziert das europäische Antidiskriminierungsrecht nicht zwischen verschiedenen Kategorien von Religionsgemeinschaften, so dass auch unter arbeitsrechtlicher Perspektive ein sehr deutliches Signal in einer für das österreichische Religionsrecht höchst aktuellen Frage ausgeht: Inwieweit dürfen Rechtsfolgen, die Ausfluss des Grundrechts auf Religionsfreiheit sind, exklusiv mit der öffentlich-rechtlichen Stellung von Religionsgemeinschaften verbunden werden? Siehe dazu zuletzt Herbert Kalb/Richard Potz/Brigitte Schinkele, Österreichisches Religionsrecht in der jüngsten Straßburger Rechtsprechung, in: ÖARR 56 (2009), S. 400 – 432, sowie Brigitte Schinkele, Privilegierte und diskriminierte Religionen – korporative Religionsfreiheit in europäischer Perspektive, in: ÖARR 57 (2010), S. 180 – 197. 22 Da sich der gegenständliche Beitrag mit dem kirchlichen Dienstrecht befasst, werden Religionsgesellschaften im Folgenden nicht eigens genannt. 21

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dierenden Rechtsgütern – dem kirchlichen Selbstbestimmungsrecht auf einer Seite und dem Gleichbehandlungsanspruch der Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen auf der anderen Seite – herzustellen. Trotz des in diesem Zusammenhang bedeutsamen Begriffs der „kirchlichen Dienstgemeinschaft“ – gewissermaßen als „Programmsatz und Auslegungsregel für die Gestaltung des kirchlichen Arbeitsrechts“23 schlechthin – ist schon bislang, jedenfalls in Österreich, von einem Konzept abgestufter Loyalitätsobliegenheiten ausgegangen worden. In diesem Sinn sind zum einen Differenzierungen nach der Nähe der jeweiligen Tätigkeit zum Kernbereich des kirchlichen Sendungs- und Verkündigungsauftrags vorzunehmen, zum anderen aber auch in Bezug auf Beschäftigte, die einer anderen Kirche oder Religionsgemeinschaft angehören oder gegebenenfalls konfessionsfrei sind. Diese Differenzierungen haben sowohl bei Art und Ausmaß der einzufordernden Loyalitätsobliegenheiten als auch bei der Beurteilung von Loyalitätsverstößen ihren Niederschlag zu finden.24 Gerade in einem arbeitsrechtlichen Kontext ist das unreflektierte Vermischen von theologischer und juristischer Ebene zu vermeiden. Dies umso mehr, als ein derartiges Verständnis der christlichen Dienstgemeinschaft auch in universalen und partikularen kirchenrechtlichen Regelungen zum Ausdruck kommt. Für die Kirche als Arbeitgeber stellt sich vor allem die Frage, inwieweit die Religionszugehörigkeit bzw. das Einfordern von spezifischen Loyalitätsobliegenheiten, also eine gewisse „Religionskonformität“, eine zwingende Voraussetzung für die Begründung bzw. Aufrechterhaltung eines Beschäftigungsverhältnisses darstellen.25 In diesem Sinn stellt die in § 132 Abs. 4 Arbeitsverfassungsgesetz (ArbVG)26 enthaltene Relativklausel darauf ab, ob die Eigenart eines Unternehmens oder Betriebs, welcher konfessionellen Zwecken einer gesetzlich anerkannten Kirche oder Religionsgesellschaft dient, der Anwendung des II. Teils des ArbVG entgegen steht. Dies 23 Vgl. Josef Jurina, Dienst- und Arbeitsrecht in der Katholischen Kirche, in: EssGespr. 10 (1976); Herbert Kalb, Kirchliches Dienst- und Arbeitsrecht in Deutschland und Österreich, in: HdbKathKR2, S. 253 – 262, hier S. 251 f., sowie mit Blick auf das europäische Antidiskriminierungsrecht Michael Germann/Heinrich de Wall, Kirchliche Dienstgemeinschaft und Europarecht, in: Rüdiger Krause/Winfried Veelken/Klaus Vieweg (Hrsg.), Recht der Wirtschaft und der Arbeit in Europa, GS-Blomeyer, Berlin 2004, S. 549 – 578. 24 Vgl. Brigitte Schinkele, Das Arbeitsrecht in der Kirche: Der verfassungsrechtliche und staatskirchenrechtliche Rahmen unter besonderer Berücksichtigung der katholischen Kirche, in: Ulrich Runggaldier/Brigitte Schinkele (Hrsg.), Arbeitsrecht und Kirche. Zur arbeitsrechtlichen und sozialrechtlichen Stellung von Klerikern, Ordensangehörigen und kirchlichen Mitarbeitern in Österreich, Wien/New York 1996, S. 1 – 40; Ulrich Runggaldier, Das Arbeitsrecht in der Kirche: kollektivrechtliche Aspekte, in: Runggaldier/Schinkele, Arbeitsrecht und Kirche, S. 145 – 176, hier S. 162 ff.; Christoph Eibensteiner, Die Kirche und ihre Einrichtungen als Tendenzbetriebe unter besonderer Berücksichtigung der Katholischen Kirche, Linz 1994; Kalb/Potz/Schinkele, Religionsrecht (Anm. 16), S. 276 ff. 25 Im Hinblick auf die Themenstellung des gegenständlichen Beitrags wird der zuletzt genannte Aspekt nicht weiter behandelt. 26 BGBl. 22/1974.

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ist nach der ständigen Rechtsprechung des OGH dann der Fall, wenn die Mitwirkungsrechte der Belegschaft mit den besonderen konfessionellen Zwecken unvereinbar sind oder wenn die Mitwirkung der Arbeitnehmer für die Kirchen oder Religionsgesellschaften zu unerträglichen oder grob unzweckmäßigen Ergebnissen führt.27 Demnach werden Arbeitgeberkündigungen in Tendenzbetrieben durch die staatlichen Arbeitsgerichte weder dahingehend geprüft, ob die zugrundeliegende „Auffassung vertretbar ist, noch darauf, ob dieses Verhalten … so schwerwiegend ist, dass es die Auflösung eines Dienstverhältnisses erfordert“, auch dann, wenn die Tätigkeit „nicht in den Kernbereich der kirchlichen Autonomie fällt“.28 Lediglich innerhalb enger, durch das Willkürverbot und die „guten Sitten“ gezogenen Grenzen können sich über Tatsachenfeststellungen hinausreichende staatliche Prüfungskompetenzen ergeben.29 2. Das neue Antidiskriminierungsrecht Vor diesem Hintergrund geht es mit Blick auf das neue Antidiskriminierungsrecht sehr wesentlich „um die Grenzen arbeitsgerichtlicher Kontrolle“30 im Rahmen gerichtlicher Kündigungsverfahren. Nunmehr ist vor allem die in Umsetzung des Art. 4 Abs. 2 der Gleichbehandlungsrahmen-Richtlinie 2000/78/EG (Antidiskriminierungs-Richtlinie)31 ergangene Tendenzschutzbestimmung in § 20 Abs. 2 Gleich27 Vgl. insbesondere OGH 6. 5. 1987, 14 ObA 29/87; 12. 4. 1995, 9 ObA 31/95 DRdA 1996, 43; OGH 5. 9. 2001, 9 ObA 184/01a, DRdA 2002, 42; 17. 3. 2005, 8 ObA 117/04w, DRdA 2006, 28 (jeweils mit einem Kommentar von Herbert Kalb); 27. 8. 2008, 7 Ob 109/08 t. Danach hat eine Mitwirkung der Belegschaft bereits dann zu unterbleiben, „wenn ein derartiger ,TendenzträgerÐ von einer personellen Maßnahme des Arbeitgebers schlechthin betroffen wird, und nicht erst dann, wenn die Maßnahme aus tendenzbedingten Gründen erfolgt … Zwischen tendenzbedingten und tendenzneutralen Gründen bestehen nämlich häufig Zusammenhänge, so dass es der betreffenden Kirche oder Religionsgesellschaft auch in solchen Fällen unbenommen bleiben muss, die Eignung des betreffenden Tendenzträgers für ein Kirchenamt allein zu beurteilen.“ 28 Obwohl die Frage einer Differenzierung zwischen tendenzunabhängigen und tendenzspezifischen Gründen in unserem Kontext nicht von Bedeutung ist, sei festgehalten, dass dieser Aspekt nunmehr verstärkt in Betracht zu ziehen sein wird. Zur grundsätzlichen Problematik siehe Walter Schrammel, Probleme des Tendenzschutzes in der österreichischen Betriebsverfassung, in: Walter Schwarz u. a. (Hrsg.), Möglichkeiten und Grenzen der Rechtsordnung (FS Strasser 60), Wien 1983, S. 559 – 581, hier S. 580 f., sowie Brigitte Schinkele, Zum Tendenzschutz von gesetzlich anerkannten Kirchen und Religionsgesellschaften. Überlegungen aus Anlass des OGH-Beschlusses 28. 1. 2009, 9 Ob A 156/08v, in: Österreichisches Recht der Wirtschaft (RdW) 10 (2009), S. 654 – 657 m.w.N. 29 Näheres bei Kalb/Potz/Schinkele, Religionsrecht (Anm. 16), S. 78 – 80. 30 Kalb, (Anm. 27), DRdA 1996, S. 43. Staatliche Gerichte müssen stets dann angerufen werden können, wenn die Verletzung einer subjektiven und im staatlichen Recht anerkannten Rechtsposition geltend gemacht wird. Eine solche ist bei Vorliegen eines privatrechtlichen Arbeitsvertrages grundsätzlich gegeben. Dabei ist zu beachten, dass das Kündigungsschutzrecht in Österreich durch eine Verflechtung mit dem ArbVG gekennzeichnet ist, im Unterschied zu Deutschland, wo es individualrechtlich konzipiert ist. 31 Richtlinie des Rates vom 27. 9. 2000 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf (RL 2000/78/EG), ABl. L

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behandlungsgesetz (GlBG)32 als weitere Rechtsgrundlage heranzuziehen. Sie findet auf Arbeitgeber Anwendung, die einem religiösen oder weltanschaulichen33 Ethos verpflichtet sind. Darin wird darauf abgestellt, dass die Religion eines kirchlichen Arbeitnehmers nach der Art der Tätigkeit oder den Umständen ihrer Ausübung eine wesentliche, rechtmäßige und gerechtfertigte berufliche Anforderung angesichts des Ethos der betreffenden Kirche darstellt. Zu betonen ist, dass „Religionszugehörigkeit“ in diesem Sinn stets ein gewisses Maß an „Religionskonformität“ impliziert, anderenfalls würde das Einfordern von Loyalitätsobliegenheiten weitgehend ins Leere gehen. Durch diese Rückbindung an den jeweiligen Aufgabenbereich des betreffenden Arbeitnehmers stellt eine allfällige Rechtfertigung von Ungleichbehandlungen aus Gründen der Religion zwingend auf dessen Funktion ab. Damit wird ein Konzept abgestufter Loyalitätsobliegenheiten verwirklicht, wie es bereits oben angesprochen wurde, wobei nunmehr ein bestimmter Rechtsfertigungsmaßstab vorgegeben wird.34 Über den Gesetzestext des § 20 Abs. 2 GlBG hinausgehend wird in der Gleichbehandlungsrahmen-Richtlinie hinsichtlich der maßgeblichen Vorschriften auf den einzelstaatlichen Rechtsbestand verwiesen und weiters klargestellt, dass die Religionsgemeinschaften ein dementsprechendes loyales Verhalten ihrer Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen einfordern können. Weiters wird in der Gleichbehandlungsrahmen-Richtlinie festgehalten, dass eine solche Ungleichbehandlung sowohl die verfassungsrechtlichen Bestimmungen der Mitgliedstaaten als auch die allgemeinen Grundsätze des Gemeinschaftsrechts beachten müsse. Damit gibt die Richtlinie selbst Raum zur Berücksichtigung mitgliedstaatlicher Vielfalt entsprechend den in Europa durchaus sehr unterschiedlich ausgestalteten, historisch gewachsenen religionsrechtlichen Modellen. Die Richtlinie kann daher durchaus als ein Paradebeispiel für ein „religionsschonendes, mitgliedstaatliches Religionsrecht berücksichtigendes Sekundärrecht“35 bezeichnet werden. Im Hinblick auf ihre Komplexität wirft sie jedoch zahlreiche diffizile Fragestellungen auf, so dass bis zu einer Befassung durch die Höchstgerichte bzw. den EuGH wohl von einer gewissen Offenheit auszugehen ist.

303/16 v. 2. 12. 2000. Zum neuen Gleichbehandlungsrecht siehe unten Anm. 34 sowie Herbert Hopf/Klaus Mayr/Julia Eichinger, GlBG. Gleichbehandlung – Antidiskriminierung, Wien 2009, insbesondere S. 598 ff. 32 BGBl. I. 66/2004. 33 In der Folge wird stets von Kirchen (Religionsgemeinschaften) gesprochen, da Weltanschauungsgemeinschaften in unserem Kontext keine praktische Bedeutung zukommt. 34 Vgl. Michaela Windisch-Graetz, Kommentar zu §§ 17 bis 20 GlBG, in: Robert Rebhahn (Hrsg.), Kommentar zum Gleichbehandlungsgesetz, Wien/New York 2005, S. 423 – 486, sowie Brigitte Schinkele, Religionsfreiheit und europäisches Antidiskriminierungsrecht – einige grundsätzliche Überlegungen, in: ÖARR 55 (2008), S. 179 – 211, hier S. 196 – 204. 35 Detlef Kehlen, Europäische Antidiskriminierung und kirchliches Selbstbestimmungsrecht, Frankfurt a.M./Berlin/Bern/Bruxelles/New York/Oxford/Wien 2003.

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V. Kirchenmitgliedschaft und das neue Antidiskriminierungsrecht Naturgemäß ergeben sich Fragestellungen angesichts des neuen Antidiskriminierungsrechts im Zusammenhang mit Kirchenmitgliedschaft und Kirchenaustritt nicht für den Verkündigungs- bzw. Seelsorgedienst im engeren Sinn, sondern für das sozial-karitative oder auch erzieherische Wirken der Kirche sowie Randbereiche kirchlicher Tätigkeit. Es handelt sich dabei um Tätigkeitsfelder, wo auch Personen beschäftigt sind, die der Kirche nicht angehören. Hier bedarf es weiterer Differenzierungen, die stets den spezifischen Charakter der konfessionellen Einrichtung mit einzubeziehen haben. Da das nunmehrige Gleichbehandlungsrecht neben der Begründung und Beendigung eines Arbeitsverhältnisses auch weitere Diskriminierungstatbestände – so etwa beruflichen Aufstieg und Beförderungen – normiert,36 wird auch unter diesem Aspekt manche Dienstordnung bzw. praktische Handhabung zu überdenken und gegebenenfalls zu modifizieren sein. 1. „Konfessionelle“ Einrichtungen und Kirchenmitgliedschaft Der spezifische Charakter konfessioneller Einrichtungen resultiert aus dem jeweiligen kirchlichen Proprium und dem darauf gründenden Grundauftrag, dem diese Einrichtungen verpflichtet sind. Dabei ist der Begriff der konfessionellen Einrichtung dahingehend in einem weiten Sinn zu verstehen, dass Träger des erweiterten Tendenzschutzes gemäß § 132 Abs. 4 ArbVG sämtliche Einrichtungen sind, die konfessionellen Zwecken der Kirche dienen, unabhängig von ihrer institutionellen bzw organisatorischen Verbindung mit der verfassten Kirche. Entscheidend ist, dass der Tätigkeitsbereich einer Einrichtung materiell als „Lebens- oder Wesensäußerung“ der betreffenden Kirche anzusehen ist, unabhängig von ihrer Rechtsform. Damit ist auch der gesamte sozial-karitative und erzieherische Bereich umfasst. „Die Zwecke also müssen zur Kirche führen, nicht die Rechtsform.“37 Niederschlag findet ein solches umfassendes Verständnis auch in der Gleichbehandlungsrahmen-Richtlinie, die in der für konfessionelle Arbeitgeber enthaltenen Ausnahmebestimmung ausdrücklich von „Kirchen oder anderen öffentlichen oder privaten Organisationen, deren Ethos auf religiösen Grundsätzen oder Weltanschauungen beruht“, spricht.38 Dementsprechend sind etwa auch eine diözesane Caritas, die (ausschließlich) als ideeller Verein auf der Grundlage des staatlichen Vereinsgesetzes konstituiert ist, oder andere Wohlfahrtsträger mit ent-

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§ 17 Abs. 1 Z. 5 GlBG. Theo Mayer-Maly, Arbeitsrecht im kirchlichen Dienst, in: ÖAKR 28 (1977), S. 64 – 80, hier S. 75. 38 Vgl. oben IV. 2. 37

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sprechender Zielsetzung, ohne eine kirchliche Rechtsform aufzuweisen, ebenfalls konfessionelle Einrichtungen in dem aufgezeigten Sinn. Um diese je eigene Prägung grundsätzlich zu wahren, darf der zahlenmäßige Anteil von Angehörigen der eigenen Konfession innerhalb des Mitarbeiterkreises nicht außer Betracht bleiben. Gerade unter diesem Aspekt gibt der Umstand, dass sowohl in der Richtlinie als auch im Gleichbehandlungsgesetz neben „der Art der Tätigkeit“ ausdrücklich auf die „Umstände ihrer Ausübung“ abgestellt wird, Raum für eine auf die konkreten Gegebenheiten abstellende Handhabung. Ab welchem Zahlenverhältnis von Arbeitnehmern und Arbeitnehmerinnen, die dem betreffenden Bekenntnis angehören, und solchen, auf die das nicht zutrifft, erscheint nun aber der konfessionelle Charakter gefährdet? Wesentlicher Anknüpfungspunkt ist zunächst das Selbstverständnis der konfessionellen Einrichtung. Weiters wird in gewisser Weise auch der Gedanke eines „Konsumentenschutzes“ mit einzubeziehen sein, etwa in Bezug auf die Patienten und Patientinnen einer Kranken- oder Pflegeanstalt oder die Kinder und Jugendlichen sowie deren Eltern39 im Fall von Bildungs- und Erziehungseinrichtungen. Die Entscheidung für eine Einrichtung in kirchlicher Trägerschaft ist legitimer Weise auch mit bestimmten Erwartungshaltungen hinsichtlich deren spezifischer Prägung verbunden, die es in adäquater Weise zu erfüllen gilt, mag auch deren Realisierbarkeit angesichts der zunehmenden Pluralisierung der religiös-weltanschaulichen Landschaft an Grenzen stoßen, die in Hinkunft mit regionalen Unterschieden wohl deutlicher spürbar werden.40 Bei einer Gesamtbeurteilung wird auch der Umstand mit einzubeziehen sein, inwieweit der Staat zur Erfüllung seiner Aufgaben im Sozialwesen freie Wohlfahrtsträger und unter diesen wieder vor allem solche in kirchlicher Trägerschaft heranzieht. Hier ist eine „interkulturelle Öffnung“ grundsätzlich notwendig und wird in der Praxis wohl auch weitgehend gehandhabt, wenngleich in unterschiedlichem Ausmaß.41 Bei einer solcherart notwendigen Grenzziehung kann es zwangsläufig zu Spannungen zwischen religiösen Interessen auf der einen Seite und Gleichbehandlungs39

Hier ist vor allem auch Art. 2 des 1. ZP zur EMRK, BGBl. 210/1958, von Bedeutung. Wenn etwa von Petra Budde, Kirchenaustritt als Kündigungsgrund? – Diskriminierung durch kirchliche Arbeitgeber vor dem Hintergrund der Antidiskriminierungsrichtlinie 2000/ 78/EG, in: Arbeit und Recht 2005, S. 353 – 359, hier S. 357 mit Anm. 88, in Bezug auf die neuen deutschen Bundesländer ein Szenario beschrieben wird, wonach ein Krankenpfleger in einem evangelischen Krankenhaus aufgrund eines Kirchenaustritts mit der Kündigung rechnen muss, obwohl gegebenenfalls all seine Kollegen konfessionslos sind, so ist ein solcher Extremfall wohl nicht auf andere Regionen übertragbar. Laut EKD-Statistik sind etwa zwei Drittel der Bevölkerung in den neuen Bundesländern konfessionslos. 41 Vgl. Dorothee Frings, Diskriminierung aufgrund der islamischen Religionszugehörigkeit im Kontext Arbeitsleben – Erkenntnisse, Fragen und Handlungsempfehlungen. Diskriminierungen von Musliminnen und Muslimen im Arbeitsleben und das AGG. S. 53 m.w.N. (http://www.antidiskriminierungsstelle.de/SharedDocs/Downloads/DE/publikationen/rechtswissenschaftliche_expertise.pdf?__blob=publicationFile; Stand 3. 11. 2011), die darauf hinweist, dass etwa in Deutschland in manchen Bereichen von einer Monopolstellung der christlichen Wohlfahrtspflege ausgegangen wird. 40

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bestrebungen auf der anderen Seite kommen, die es mit Sorgfalt auszuloten gilt. Das Kriterium der konfessionellen Prägung wird also in die Rechtsgüterabwägung einzufließen haben, in deren Rahmen sämtliche konkreten Gegebenheiten einzelfallorientiert in den Blick zu nehmen sind. Sehr wesentlich geht es in Bezug auf die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen darum, dass diese bereit sind, das spezifische Ethos, dem eine Einrichtung entsprechend ihrer Zielsetzung verpflichtet ist, mitzutragen. Dies muss nicht zwingend bei einer (bloß) formellen Zugehörigkeit zur eigenen Kirche in einem höheren Maß gewährleistet sein als bei Personen, die dieser nicht angehören.42 In jedem Fall ist es legitim, auf kirchlicher Seite stets – sowohl bei eigener als auch bei fremder Religionszugehörigkeit – ein gewisses Maß an „Religionskonformität“ erwarten zu dürfen43, auf der Basis tätigkeitsbezogener Differenzierungen hinsichtlich Konfessions- und Religionsverschiedenheit sowie allfälliger Konfessionslosigkeit. Die Relevierung der angesprochenen Kriterien soll anhand eines aktuellen Ausschreibungstextes verdeutlicht werden, der eine Stelle als Fachärztin/-arzt für Anästhesiologie und Intensivmedizin im Krankenhaus der Barmherzigen Brüder in Wien betrifft.44 Darin werden neben der fachlichen Kompetenz ausgeprägte Managementkompetenzen sowie soziale, ethische und spirituelle Kompetenzen gefordert. Näherhin wird unter einer ethischen Perspektive sowohl eine aktive Auseinandersetzung mit als auch eine Handlungsorientierung an den Anforderungen des Ethik-Codex der Barmherzigen Brüder erwartet. Mit Blick auf die „spirituelle Kompetenz“ wird ausdrücklich festgehalten, dass eine solche gerade für eine Führungskraft im medizinischen Alltag als wertvoll angesehen wird, „um Sinn und Grenzen der Medizin besser erfassen und vermitteln zu können“. Weiter heißt es im Ausschreibungstext: „Als Ordenskrankenhaus begrüßen wir darüber hinaus Ihre Mitgliedschaft in einer in Österreich staatlich anerkannten Kirche oder Religionsgesellschaft“. Mit einem derartigen Anforderungsprofil wird sowohl dem kirchlichen Selbstverständnis bzw. der konfessionellen Zielsetzung, einschließlich des angesprochenen „Konsumentenschutzes“, als auch dem Kerngehalt des neuen Antidiskriminierungsrechts in sachgerechter Form Rechnung getragen. Es wird in gewisser Weise bereits in der Ausschreibung der oben angesprochene „schonende Ausgleich“, soweit dies möglich ist, vorweg genommen.

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Vgl. unten V. 2. Vgl. Urteil des Arbeitsgerichts Hamburg vom 4. 12. 2007, 20 Ca 105/07 (2. Instanz Landesarbeitsgericht Hamburg, 29. 10. 2008) betreffend die Bewerbung einer Muslima als Sozialpädagogin beim Diakonischen Werk der Evangelischen Kirche im Rahmen eines Integrationsprojekts. Wenngleich im gegenständlichen Fall nicht releviert, könnte dem Umstand Bedeutung zukommen, dass die Bewerberin angegeben hat, „zwar in der Türkei als Muslima geboren worden zu sein, diesen Glaubens jedoch nicht zu praktizieren“. 44 Herzlich danke ich Dr. Jürgen Wallner, MAS, Leiter Management, Organisation und Ethik im Krankenhaus der Barmherzigen Brüder Wien, für diesbezügliche Informationen sowie die Überlassung des im Folgenden behandelten Ausschreibungstextes. 43

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Dass gegebenenfalls für einen bestimmten Tätigkeitsbereich in einer kirchlichen Einrichtung sogar Andersgläubige besser geeignet sein können, macht ein ebenfalls aus der Praxis gegriffenes Beispiel deutlich. So wurde für ein von einer diözesanen Caritas betriebenes Altenheim bevorzugt eine Pflegekraft muslimischen Glaubens gesucht, da diese hauptsächlich für die Betreuung muslimischer Klienten und Klientinnen vorgesehen war.45 Dies macht zum einen deutlich, dass schematische Gleichbehandlungsbestrebungen den Gegebenheiten des konkreten Einzelfalls oft nicht gerecht werden können. Zum anderen aber auch, dass die Bedeutung der religiösen bzw. religiös-kulturellen Dimension gerade im sozial-karitativen Bereich nicht unterschätzt werden darf. 2. Der Kirchenaustritt im Besonderen Einen speziellen Fall der Nichtmitgliedschaft stellt der während eines bestehenden Dienstverhältnisses zu einer kirchlichen Einrichtung vollzogene Kirchenaustritt dar. Der vor der staatlichen Behörde erklärte Austritt aus der Kirche stellt zweifelsohne eine schwere Verfehlung gegen die Gemeinschaft der Kirche dar, aus welchen Gründen dieser auch immer erfolgen mag, ob mit oder ohne Konversion. Eine solche „Ordnungswidrigkeit gegen die Disziplin der Kirche“ gibt dieser nicht nur das Recht, sondern verpflichtet sie auch, „Sanktionen zu verhängen“.46 Die damit verbundenen Konsequenzen werden vor allem aus ehe- und strafrechtlicher Perspektive sowie unter einem pastoralen Gesichtspunkt in Bezug auf den Kommunionempfang erörtert. Mit Blick auf kirchliche Dienst- oder Arbeitsverhältnisse wird in der Regel lediglich sehr allgemein festgehalten, dass auch für diese „der Kirchenaustritt nicht ohne Konsequenzen bleiben“ kann und auf bestehende kirchliche Dienst- und Besoldungsordnungen verwiesen.47 Solche Dienstordnungen enthalten häufig generalklauselartige Bestimmungen, unter die ein Kirchenaustritt jedenfalls zu subsumieren ist.48 In den Erklärenden Ausführungen … zu den Auswirkungen des Kirchenaustrittes nach staatlichem Recht auf die kirchliche Rechtsstellung des Ausgetretenen, welche die Österreichische Bischofskonferenz gemäß c. 34 CIC/1983 vorgenommen

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Es handelt sich dabei um die Mitteilung eines Vertreters der Innsbrucker Caritas im Rahmen eines von der Gleichbehandlungsanwaltschaft am 21. 7. 2011 veranstalteten RoundTable–Gesprächs zu aktuellen Fragestellungen im Zusammenhang mit § 20 Abs. 2 GlBG. 46 Primetshofer, Kirchenaustritt (Anm. 7), S. 209. 47 Primetshofer, Kirchenaustritt (Anm. 7), S. 211. 48 Vgl. etwa § 14 (Beendigung des Dienstverhältnisses) der Dienst- und Besoldungsordnung der Erzdiözese Wien, abrufbar unter http://www.zentralbetriebsrat.at/content/site/service/gesetze/index.html (02. 11. 2011). Darin sind als Kündigungsgründe in Abs. 2 unter anderem a) Grobe oder wiederholte Verstöße gegen die in der Dienstordnung dem Dienstnehmer auferlegten Pflichten; b) Ein Lebenswandel, der dem Ansehen der Kirche abträglich ist, genannt.

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hat, heißt es ausdrücklich und ohne weitere Differenzierungen: „Falls der Betreffende im kirchlichen Dienst steht, muss das Dienstverhältnis beendet werden.“49 Vor diesem Hintergrund soll im Folgenden überlegt werden, inwieweit hier das neue Antidiskriminierungsrecht Problemstellungen aufwerfen kann. Es geht vor allem um die komplexe Frage, ob ein Kirchenaustritt den kirchlichen Arbeitgeber stets zu einer Kündigung berechtigt oder ob für Tätigkeitsbereiche, wo die Kirche auch Mitarbeiter anderer Konfessionen bzw. Religionen sowie mitunter auch konfessionslose Personen beschäftigt, die Mitgliedschaft keine notwendige Voraussetzung für eine Weiterbeschäftigung darstellt. So wird etwa von Petra Budde diesbezüglich die Auffassung vertreten, dass, wo „immer eine Kirche […] auch Mitarbeiter anderer Konfession beschäftigt, der Grundsatz der Gleichbehandlung gewahrt werden [muss]“. In diesen Fällen könne „die Mitgliedschaft je nach Funktion also nie Voraussetzung für eine (Weiter-)Beschäftigung sein“. Der kirchliche Arbeitgeber sei daher nur dann zu einer Kündigung berechtigt, „wenn die Mitgliedschaft zuvor ein rechtmäßiges Einstellungskriterium war. Derjenige, der aus der Kirche austritt, darf nicht anders behandelt werden, als seine Kollegen, die nie Mitglied dieser Kirche waren“. Daher sei auch eine Loyalitätsabstufung in Bezug auf die Konfession der Mitarbeiter nicht länger zulässig.50 Gegenüber einer solchen Argumentation, die im Grundsätzlichen durchaus nachvollziehbar ist, bedarf es jedoch weiterer Differenzierungen, und zwar zunächst und primär auf der innerkirchlichen Ebene. In der Folge ist dann aber auch die staatlichrechtliche Ebene in den Blick zu nehmen.51 Richtig ist, dass der gemäß der Wortfolge „nach der Art der Tätigkeit“ geforderte Funktionsbezug in derartigen Fallkonstellationen nicht gegeben ist. Es ist jedoch darüber hinausgehend auch „auf die Umstände ihrer Ausübung“ abzustellen, was – wie bereits oben angesprochen – Spielraum lässt, auf die konkreten Gegebenheiten, nicht zuletzt auch auf die Wahrung des spezifischen Charakters einer kirchlichen Einrichtung, Bedacht zu nehmen. Eine konkrete Entscheidungsfindung hat unter Ausschöpfung der gerade von der kirchlichen Rechtsordnung zur Verfügung gestellten Instrumentarien zur Umsetzung von Einzelfallgerechtigkeit, wie insbesondere der aequitas canonica und der salus animarum, zu erfolgen, eingebunden in die Prinzipien der katholischen Soziallehre, die zu beachten den kirchlichen Arbeitgebern bzw. Vermögensverwaltern ausdrücklich aufgetragen ist.52 Eine auf das Faktum eines Kirchenaustritts abstellende schematische Automatik würde diesen Prämissen nicht gerecht. So soll die oben aufge49 Generalsekretariat der Österreichischen Bischofskonferenz (Hrsg.), Zugehörigkeit. Kanonistische Klärungen (Anm. 6), S. 16. Zu den unterschiedlichen Formen des kirchlichen Dienstes siehe Winfried Aymans, Die Träger kirchlicher Dienste, in: HdbKathKR2, S. 242 – 252. 50 Budde, Kirchenaustritt als Kündigungsgrund? (Anm. 40), S. 358, unter Verweis auf Art. 4 Grundordnung der katholischen Kirche. 51 Dazu siehe unten V.3. 52 Vgl. insbesondere c. 1286 CIC/1983.

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zeigte Diskussion um die kirchenrechtlichen Konsequenzen einer Austrittserklärung dahingehend fruchtbar gemacht werden, dass gerade im dienst- bzw. arbeitsrechtlichen Kontext die konkreten Umstände und Beweggründe sorgfältig zu erheben und daraus in je sachgerechter Weise Schlussfolgerungen zu ziehen sein werden. Wie bereits angesprochen, kann aus dem Umstand der nicht (mehr) gegebenen formellen Zugehörigkeit zur Kirche nicht zwingend auf eine mangelnde Identifizierung mit dem spezifischen, für eine konfessionelle Einrichtung maßgeblichen Ethos geschlossen werden. Dies insbesondere auch im Vergleich zu Kirchenmitgliedern, deren innere Haltung gegenüber der Kirche durch Gleichgültigkeit oder Distanz bestimmt ist. Innerhalb des doch breiten Spektrums möglicher Motive für einen Kirchenaustritt – vielfach mag es sich auch um ein Motivenbündel handeln – stellt jedenfalls die Absicht, sich dem Kirchenbeitrag bzw. in Deutschland der Kirchensteuer zu entziehen, nicht gerade ein besonders hehres Motiv dar. Auszunehmen sind jene Fälle, in denen durch einen solchen Schritt ein persönliches Unbehagen über konkrete Mittelverwendungen durch die Kirche zum Ausdruck gebracht und eine diesbezügliche Mitbestimmung durchgesetzt werden soll. Dies ist dann allerdings mit einer der Kirchenbeitragsverpflichtung entsprechenden finanziellen Unterstützung selbst ausgewählter kirchlicher Aktivitäten verbunden. Dem rein aus fiskalischen Gründen vollzogenen Kirchenaustritt ist eine personal verantwortete, auf ernsthaften Beweggründen und keinesfalls leichtfertig getroffene Gewissensentscheidung gegenüberzustellen. Hier ist vor allem an die Erklärung des Zweiten Vatikanums über die Religionsfreiheit Dignitatis humanae anzuknüpfen, die „einen Markstein in der Entwicklung des Verhältnisses von Kirche und Staat vor dem Hintergrund religiöser Freiheit“ darstellt.53 Den wesentlichen Anknüpfungspunkt bildet die „Würde der menschlichen Person […] so wie sie durch das geoffenbarte Wort Gottes und durch die Vernunft selbst erkannt wird“54. Weiters wird in Dignitatis humanae betont, dass der Mensch „nicht gezwungen werden [darf], gegen sein Gewissen zu handeln“, ebenso aber auch nicht „daran gehindert werden [darf], gemäß seinem Gewissen zu handeln“. Der Glaubensakt sei „seiner Natur nach ein freier Akt“55. So wird in c. 748 CIC/1983 auf den Schutz des Gewissens vor jeglicher Zwangsanwendung Bezug genommen und ist dieser – anders als die Vorgängerbestimmung im CIC/1917 (c. 1351) – nun zutreffend als „Grundnorm des kirchlichen Verkündigungsrechts konzipiert“56. Wenngleich weiterhin – von Gerhard Luf als mangelhaft qualifiziert – eine „Zentrierung auf die Freiheit der Glaubensannahme“ gegeben ist, während die „rechtstheologisch gleichermaßen geforderte Freiheit der Bewährung im Glauben nicht angesprochen wird“. In diesem Sinn 53

Gerhard Luf, Glaubensfreiheit und Glaubensbekenntnis, in: HdbKathKR2, S. 700 – 708, hier S. 700. 54 Art. 2 Abs. 1 VatII DH. 55 Art. 3 Abs. 3 bzw. Art. 10 VatII DH. In der Anmerkung zu diesem Abschnitt wird auf c. 1351 CIC/1917 Bezug genommen, der Zwang bei Annahme des Glaubens untersagt. 56 Luf, Glaubensfreiheit (Anm. 53), S. 705.

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hatte Heribert Schmitz die ausdrückliche Ergänzung eingemahnt, „daß niemand von irgendeiner menschlichen Macht, auch nicht von der katholischen Kirche, gezwungen werden darf, seinen Glauben gegen sein Gewissen zu bewahren und vor anderen öffentlich zu bekennen“57, die jedoch unberücksichtigt geblieben ist. Dessen ungeachtet, ergibt sich aus der Forderung, personal verantworteten Glauben in den praktischen Lebensvollzügen und der rechtlichen Umsetzung zur Entfaltung zu bringen, die Verpflichtung für kirchliche Amtsträger, die Ausübung ihrer Autorität an „einem diskursiven Stil freiheitsverbürgender ,ZeugnisautoritätГ58 zu orientieren. Aus all dem folgt, dass kirchliche Arbeitgeber in einem so sensiblen Bereich wie dem kirchlichen Dienst „mit allergrößter Zurückhaltung“ (maxima cum moderatione)59 vorzugehen haben, ohne damit im Entferntesten einem reaktionslosen Hinnehmen60 das Wort reden zu wollen. Insgesamt wird man wohl davon ausgehen können, dass angesichts des neuen Antidiskriminierungsrechts – wie das vielfach als Reaktion auf geänderte gesellschaftliche und rechtliche Rahmenbedingungen der Fall ist – gewisse Modifikationen im Rahmen des jeweiligen Selbstverständnisses bzw. dessen Umsetzung Platz greifen werden. Damit einhergehen wird eine gewisse – mehr oder weniger starke – Vereinheitlichungstendenz. Weist doch die praktische Handhabung universal- und partikularrechtlicher Vorgaben in den einzelnen Diözesen, Ordensgenossenschaften – vor allem als Betreiber konfessioneller Krankenhäuser und Schulen – und anderen kirchlichen Rechtsträgern nicht unbedeutende Unterschiede auf. Gerade wenn es um die Glaubwürdigkeit der Kirche geht, sind die Aspekte der Sozialverkündigung in besonderem Maße mit einzubeziehen und Wertungswidersprüche hintanzuhalten. Dies erfordert die Ausschöpfung sämtlicher der Einzelfallgerechtigkeit dienender Instrumentarien. Durch eine diesen Vorgaben entsprechende Handhabung kann die katholische Kirche an Glaubwürdigkeit nur gewinnen. Dies umso mehr in Zeiten, in denen sie angesichts eines lange Zeit praktizierten, nicht im Entferntesten nachvollziehbaren reaktiven Umgangs mit sexueller und anderer Gewaltanwendung gravierende Glaubwürdigkeitverluste hinzunehmen hat.

57

Heribert Schmitz, Glaubens- und Bekenntnispflicht, in: Josef Listl/Hubert Müller/Heribert Schmitz (Hrsg.), Grundriß des nachkonziliaren Kirchenrechts, Regensburg 1980, S. 439 Anm. 2. 58 Luf, Glaubensfreiheit (Anm. 53), S. 704 unter Bezugnahme auf Johann Baptist Metz, Kirchliche Autorität im Anspruch der Freiheitsgeschichte, in: Johann Baptist Metz/Jürgen Moltmann/Willi Oelmüller (Hrsg.), Kirche im Prozeß der Aufklärung, München/Mainz 1970, S. 53 – 90, hier S. 79. 59 c. 1318 CIC/1983. 60 Vgl. Wolfgang Rüfner, Kirchenzugehörigkeit und vor dem Staat vollzogener Kirchenaustritt: Staatskirchenrechtliche Aspekte in: Güthoff/Haering/Pree (Hrsg.), Kirchenaustritt (Anm. 5), S. 42 – 58, hier S. 51, der ausführt: „Es genügt nicht, nur Konsequenzen für kirchliche Ämter und kirchliche Dienst- und Arbeitsverhältnisse anzudrohen. Im Arbeitsrecht wären die bisherigen Regeln der Grundordnung ohnehin kaum mehr durchzusetzen, wenn die Kirche den Austritt nach staatlichem Recht reaktionslos hinnähme.“

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3. Staatlich-rechtliche Aspekte Aus staatlich-rechtlicher Perspektive gilt es mit Blick auf die Kontrolle durch die staatlichen Arbeitsgerichte bzw. deren Grenzen, den grundrechtlichen Schutzbereich der inneren Angelegenheiten und das Wirksamwerden der allgemeinen Staatsgesetze im Sinn von Art. 15 StGG auszuloten. Hier wird das neue Antidiskriminierungsrecht gewisse Ausstrahlungswirkungen in Bezug auf die Sicherstellung rechtsstaatlicher Mindeststandards entfalten. Dies impliziert je nach Fallkonstellation gegebenenfalls eine gewisse Verschiebung zugunsten staatlicher Prüfungskompetenz. Die nunmehrigen rechtlichen Vorgaben hinsichtlich des Rechtfertigungsmaßstabs implizieren auf Seiten der Religionsgemeinschaften eine gewisse Begründungspflicht und einen entsprechenden Argumentationsaufwand, die auch auf staatlicher Seite einzufordern sein werden. Die diffizile einzelfallorientierte Rechtsgüterabwägung hat auf der Basis eines zweistufigen Prüfungsschemas61 unter strikter Bindung an das Verhältnismäßigkeitsprinzip zu erfolgen. Dabei geht es um die Herstellung einer „praktischen Konkordanz“ zwischen konfligierenden Grundrechtspositionen, zwischen der Kirchenfreiheit und der individuellen Religionsfreiheit kirchlicher Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen sowie der staatlichen Justizgewährleistungspflicht.62 Dabei sind die Kirchen anders als der Staat trotz ihrer Stellung als Körperschaften öffentlichen Rechts jedoch nicht unmittelbar an die Grundrechte gebunden, so dass nur eine mittelbare Drittwirkung in Betracht kommt. Bei Einbindung des europäischen Antidiskriminierungsrechts in den nationalen verfassungs- und religionsrechtlichen Rahmen findet auch das kirchliche Selbstbestimmungsrecht als Ausfluss der korporativen Religionsfreiheit innerhalb des umfassenden „europäischen Grundrechtsverbundes“63 seinen Platz. Zur Frage der Reichweite des kirchlichen Selbstbestimmungsrechts ist auch auf jene Textteile in Art. 4 Abs. 2 der Gleichbehandlungsrahmen-Richtlinie zu verweisen, wonach eine durch die Ausnahmebestimmung gerechtfertigte Ungleichbehandlung „die verfassungsrechtlichen Bestimmungen und Grundsätze der Mitgliedstaaten sowie die allgemei61 Zu dem zweistufigen Prüfungsschema vgl. Kehlen, Europäische Antidiskriminierung (Anm. 35), S. 24 ff., sowie Michaela Windisch-Graetz, Antidiskriminierung und Selbstbestimmungsrecht der Kirchen, in: ÖARR 55 (2008), S. 228 – 237. 62 Dabei wird unter Umständen auch eine anderweitige Beschäftigung in einem vom spezifischen Proprium weiter entfernten Aufgabenbereich – so etwa im Rahmen archivalischer, datenpflegerischer oder technischer Tätigkeiten – in Betracht zu ziehen sein. Vgl. das Urteil des deutschen Bundesarbeitsgerichts vom 10. 10. 2002, 2 AZR 472/01, worin dieses – allerdings im privatwirtschaftlichen Kontext – von dem Bemühen des Arbeitgebers ausging, in seinem Unternehmen für die betroffene Arbeitnehmerin (Muslima mit islamischem Kopftuch) gegebenenfalls einen anderen Arbeitsplatz (ohne Kundenkontakt) zur Verfügung zu stellen. 63 Vgl. Richard Potz/Brigitte Schinkele, Europarecht – wie hast DuÏs mit der Religion? (2012), sowie eingehend zu diesem Themenbereich insbesondere Hans Michael Heinig, Öffentlich-rechtliche Religionsgesellschaften. Studien zur Rechtsstellung der nach Art. 137 Abs. 5 WRV korporierten Religionsgesellschaften in Deutschland und der Europäischen Union, Heidelberg 2002, 5. Kapitel: Der Status der Freiheit, Gleichheit und Differenz im Kontext des Europarechts, S. 375 ff.

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nen Grundsätze des Gemeinschaftsrechts beachten“ muss. In diesem Zusammenhang ist zu betonen, dass der Grundrechtsschutz im Allgemeinen und damit auch die Religionsfreiheit in ihrer individuellen und korporativen Dimension im Rahmen des europäischen Grundrechtsverbundes sukzessive ausgebaut wurde und einen vorläufigen Höhepunkt im Vertrag von Lissabon gefunden hat.64 Zu erwähnen ist weiters, dass im Erwägungsgrund 24 der Präambel zur gegenständlichen Richtlinie ausdrücklich auf die – nunmehr mit Art. 17 AEUV in das Primärrecht integrierte – Amsterdamer „Kirchen“-Erklärung Bezug genommen wird. Weiters wird durch die in Art. 2 Abs. 5 enthaltene „Öffnungsklausel“65 zum Ausdruck gebracht, dass sich das Diskriminierungsverbot der Richtlinie am Grundrecht der Nichtdiskriminierung gemäß der Europäischen Grundrechte-Charta in Verbindung mit der EMRK zu halten hat und nicht weiter reichen kann als dieses.66 Durch die Öffnungsklausel, die eine deutliche Parallelität mit der Schrankenregelung in Art. 9 der Konvention aufweist, soll im Wesentlichen die Kohärenz zwischen grund- und sekundärrechtlichem Diskriminierungsverbot sichergestellt werden.67 Insgesamt gilt es – ohne Ausreizung eigener Positionen –, einen schonenden Ausgleich zu herzustellen, mag dieser im Einzelfall auch für beide Seiten mit entsprechenden Herausforderungen verbunden sein. VI. Ausblick Beim kirchlichen Dienst- bzw. Arbeitsrecht handelt es sich ganz allgemein um einen Bereich, in dem das Zusammenwirken von Staat und Kirche, vor allem auch angesichts aktueller Rechtswirklichkeit, stets mit neuen Fragestellungen konfrontiert wird. Das trifft in besonderem Maß auf das neue Antidiskriminierungsrecht zu. Da das kirchliche Selbstbestimmungsrecht von der Natur der Sache her durchaus in Widerstreit mit anderen Grundrechten geraten kann, mag man auch im gegenständlichen Kontext von einer gewissen Konfliktanfälligkeit ausgehen können. Diese sollte jedoch gerade im Arbeitsrecht nicht allzu sehr zum Tragen kommen. War es doch gerade die Kirche, die – als sie sich mit der Enzyklika Leos XIII. „Immortale Dei“ der Menschenrechtsidee zuwandte – zunächst die sozialen und erst später die politischen und liberalen Grundrechte in den Blick nahm. Die in der weiteren Folge entwickelte katholische Soziallehre mit ihren über das Proprium des kirchlichen Dienstes hinausgehenden Grundprinzipien – dem Personen-, Solidaritäts- und 64

Vgl. dazu Potz/Schinkele, Europarecht (Anm. 63). Danach wird die RL nicht durch im einzelstaatlichen Recht vorgesehene Maßnahmen berührt, die in einer demokratischen Gesellschaft für die Gewährleistung der öffentlichen Sicherheit, die Verteidigung der Ordnung, die Verhütung von Straftaten, zum Schutz der Gesundheit und der Rechte und Freiheiten anderer notwendig sind. 66 Vgl. Art. 21 i. V. m. Art. 52 Abs. 1 der Europäischen Grundrechte-Charta, die nunmehr durch den Vertrag von Lissabon in das Primärrecht integriert wurde. 67 So Matthias Triebel, Das europäische Religionsrecht am Beispiel der arbeitsrechtlichen Anti-Diskriminierungsrichtlinie 2000/78/EG, Frankfurt a.M. 2005, S. 118 f. 65

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Subsidiaritätsprinzip sowie dem Gedanken der Partizipation –, an der sich das Arbeitsrecht in der Kirche zu orientieren hat, entspricht doch in nicht unerheblichem Maß den Grundgedanken des staatlichen Arbeitsrechtes.68 Dies sollte eine tragfähige gemeinsame Basis sein, um die im neuen Antidiskriminierungsrecht für beide Seiten liegende Bewährungsprobe bestehen zu können.

68 Darüber hinaus wurden die Bestimmungen des Arbeitsvertragsrechtes durch den CIC (c. 1290) kanonisiert, sofern es nicht göttlichem Recht widerspricht oder das kanonische Recht eine andere Bestimmung trifft.

Der Kirchenaustritt vor dem Staat und seine Konsequenzen im staatlichen und im kirchlichen Bereich Zur Rechtslage in Deutschland Von Stephan Haering Das Thema Kirchenaustritt wurde in den Medien in jüngerer Zeit häufiger aufgegriffen, als es früher im Allgemeinen der Fall war. Anlass dazu bot, insbesondere im Hinblick auf die katholische Kirche in Deutschland, der starke zahlenmäßige Anstieg bei jenen Gläubigen, die im Jahr 2010 den Schritt des Kirchenaustritts vor dem Staat vollzogen haben. In absoluten Zahlen waren es 181 193 Personen, die 2010 in Deutschland vor dem Staat aus der katholischen Kirche ausgetreten sind.1 Diese im langjährigen Vergleich sehr hohe Zahl ausgetretener Katholiken hängt zu einem guten Teil mit der im genannten Jahr aufgetretenen „Missbrauchskrise“ zusammen.2 Aber auch die evangelischen Kirchen in Deutschland haben seit langem mit einem erheblichen Schwund an Mitgliedern durch staatlichen Kirchenaustritt zu kämpfen. Das Thema Kirchenaustritt hat viele verschiedene Facetten und Aspekte.3 Es ist gegenwärtig nicht zuletzt deshalb von besonderem Interesse, weil die Bewertung des staatlichen Kirchenaustritts wenigstens im Bereich der katholischen Kirche nicht unumstritten ist und weil die Wirkungen, die ein Austritt nach sich zieht, im staatlichen und im kirchlichen Recht nicht dieselben zu sein scheinen. In Deutschland kam es in 1 Katholische Kirche in Deutschland. Zahlen und Fakten 2010/11 (Arbeitshilfen 243), Bonn 2011, S. 16. – Der Beitrag ist eine überarbeitete und erweiterte Fassung des Vortrags zum Thema „Wirkungen einer Erklärung über den Kirchenaustritt im staatlichen und im kirchlichen Bereich“, den der Verfasser am 11. Mai 2011 in Aschaffenburg bei der Fachtagung Personenstandswesen des Fachverbandes der bayerischen Standesbeamten e. V. gehalten hat. Der Vortragstext als solcher ist abgedruckt in: Fachverband Standesbeamte Bayern, Vorträge der Fachtagung für Personenstandswesen Aschaffenburg, 09.–11. Mai 2011, [München 2011], S. 121 – 134. 2 Vgl. dazu die kritischen Betrachtungen bei Stephan Haering, Die Kirche und die Erfahrungen des Jahres 2010, in: Alt und Jung Metten 77 (2010/2011), S. 214 – 227. 3 Siehe die Untersuchung des Phänomens aus verschiedenen Perspektiven in dem Sammelband: Der Kirchenaustritt im staatlichen und kirchlichen Recht, hrsg. von Elmar Güthoff/ Stephan Haering/Helmuth Pree (QD 243), Freiburg/Basel/Wien 2011; darin aus soziologischer Sicht: Andreas Feige, Institutionell organisierte Religionspraxis und religiöse Autonomieansprüche der Individuen. Über soziokulturelle Bestimmungsgründe für Kirchenmitgliedschaft und Kirchenaustritt. Eine soziologische Analyse, S. 147 – 178.

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diesem Zusammenhang bereits auch zu gerichtlichen Auseinandersetzungen darüber, ob ein staatlicher Kirchenaustritt im Sinn eines modifizierten Körperschaftsaustritts möglich sei, oder mit anderen Worten, ob der Austritt lediglich die Körperschaft des öffentlichen Rechts, als welche die Kirche in Erscheinung tritt, betreffen könne, nicht aber die Kirche als Glaubensgemeinschaft.4 Jedenfalls steht fest, dass dieses Thema breites Interesse auf sich zieht, zumal in einer Phase der gesellschaftlichen Entwicklung, in der offensichtlich so vieles sich im Umbruch befindet. Der vorliegende Beitrag bietet im ersten Abschnitt einen gerafften historischen Rückblick zum Rechtsinstitut des staatlichen Kirchenaustritts (I.). Danach wenden wir uns der Bedeutung und den Wirkungen des Kirchenaustritts im staatlichen Rechtskreis zu (II.). In einem weiteren Schritt geht es um die kirchlichen Wirkungen des staatlichen Kirchenaustritts, wobei wir uns auf die katholische Kirche, die evangelischen Kirchen und die orthodoxen Kirchen als die in Deutschland der Mitgliederzahl nach bedeutendsten christlichen Konfessionen beschränken (III.). Zusammenfassende Überlegungen beschließen den Beitrag (IV.). I. Historische Einführung zum Kirchenaustritt Das gegenwärtig bestehende Rechtsinstitut der Erklärung des Austritts aus einer Religions- oder Weltanschauungsgesellschaft vor dem Staat ist ohne genügende Kenntnis seiner historischen Genese und Entwicklung kaum sachgerecht zu verstehen. Deshalb bedarf es zunächst eines Überblicks über die geschichtlichen Hintergründe.5 1. Ansätze in der frühen Neuzeit Der Austritt aus der Kirche oder einer anderen Religionsgesellschaft ist ein rechtliches Phänomen, das erst in der Neuzeit begegnet. Im Hintergrund steht nicht zuletzt die Aufklärungsbewegung des 17. und 18. Jahrhunderts, die in Teilen einen freidenkerischen und deutlich religionskritischen Zug aufwies. Während das christliche Mittelalter eine volle Identität von Gesellschaft und kirchlicher Gemeinschaft kann4

Siehe exemplarisch: Urteil des Verwaltungsgerichtshofs Mannheim (1 S 1953/09) zum Kirchenaustritt mit dem Zusatzvermerk „Körperschaft des öffentlichen Rechts“ vom 4. Mai 2010, in: AfkKR 179 (2010), S. 219 – 227; vgl. dazu Johannes Kuntze, Zur Erklärung des Kirchenaustritts vor staatlichen Stellen. Anmerkungen zu VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 04. 05. 2010, Az.: 1 S 1953/09, in: ZevKR 55 (2010), S. 416 – 424; Stefan Muckel, Kein „Körperschaftsaustritt“ als „Kirchensteueraustritt“ – Anmerkung zu VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 4. 5. 2010, Az.: 1 S 1953/09, in: KuR (Neuwied) 16 (2010), S. 26 – 32. 5 Siehe dazu auch eine frühere Darstellung des Verfassers, auf die an dieser Stelle teilweise zurückgegriffen werden konnte: Stephan Haering, Kirchenzugehörigkeit und Kirchensteuer in Deutschland in ihrer geschichtlichen Entwicklung, in: Kirchenaustritt im staatlichen und kirchlichen Recht (Anm. 3), S. 21 – 41, hier S. 22 – 31; ferner Georg May, Der Kirchenaustritt in der Bundesrepublik Deutschland, in: ÖAKR 14 (1963), S. 3 – 67, hier S. 16 – 24; Ren¦ Löffler, Ungestraft aus der Kirche austreten? Der staatliche Kirchenaustritt in kanonistischer Sicht (FzK 38), Würzburg 2007, S. 48 – 72.

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te, begannen sich die Verhältnisse mit Beginn der Neuzeit und der Reformation zu differenzieren. Es gab nun im gesamten Westen Europas nicht mehr ein einziges christliches Bekenntnis, sondern es bildeten sich mehrere Konfessionen, die freilich zunächst noch nicht innerhalb eines Staatswesens nebeneinander bestanden. Denn es galt das Prinzip der konfessionellen Geschlossenheit der einzelnen Territorien, die sich im Grundsatz manifestierte, dass der Landesherr die Konfession der Untertanen festlegte. Die Aufklärung indes förderte allmählich den Gedanken, dass ein individueller Religionswechsel des Bürgers möglich sein solle. In diesem Zusammenhang wurde am Ende des 18. Jahrhunderts erstmals eine gesetzliche Regelung über den Austritt aus der Kirche geschaffen. Für Preußen erging im Jahre 1788 unter König Friedrich Wilhelm II. (1786 – 1797) ein einschlägiges Edikt, welches nach dem zuständigen Minister „Woellnersches Religionsedikt“ genannt wird.6 Dieses Edikt legte fest, dass ein Wechsel der Konfession bei den staatlichen Behörden zu melden sei. Die Möglichkeit der Bekenntnislosigkeit sah das Woellnersche Edikt jedoch nicht vor. Schon bald aber ordnete Preußen das Recht der Kirchenmitgliedschaft neu. Das Allgemeine Landrecht7 (1794) sicherte volle Glaubens- und Gewissensfreiheit zu und ermöglichte damit auch die freie Wahl der Religion.8 Allerdings stand dabei nur die freie Wahl eines christlichen Bekenntnisses im Blick, nicht aber die Verwirklichung der negativen Religionsfreiheit und die Absage gegenüber jeglichem religiösem Bekenntnis. Gleichzeitig schrieb das Allgemeine Landrecht die staatliche Aufsicht über die Kirchen fest. Die Dokumentation des Konfessionswechsels war – wie die Führung der Personenstandsbücher überhaupt – eine Aufgabe der Geistlichen der staatlich anerkannten großen christlichen Konfessionen, nämlich der lutherischen, der reformierten und der katholischen Kirche. Der Übertritt von einer Konfession zur anderen musste also in jedem Fall vor einem kirchlichen Amtsträger erklärt werden. In diesem Zusammenhang verdient auch die obligatorische Verbindung von Zugehörigkeit zu einer anerkannten christlichen Konfession und Staatsbürgerschaft ausdrückliche Erwähnung. Der Besitz der staatsbürgerlichen Rechte hing in Deutschland bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts davon ab, dass man einer der drei anerkannten Kirchen angehörte, also der katholischen, der evangelischen oder der re6

Vgl. Hans-Jürgen Becker, Art. Wöllnersches Religionsedikt, in: HRG V, Sp. 1516 – 1519 (Lit.); Uta Wiggermann, Woellner und das Religionsedikt. Kirchenpolitik und kirchliche Wirklichkeit im Preußen des späten 18. Jahrhunderts (Beiträge zur historischen Theologie 150), Tübingen 2010. 7 Vgl. Gerhard Robbers, Art. Allgemeines Landrecht für die Preußischen Staaten von 1794, in: LKStKR I, S. 58 – 60 (Lit.); Jörn Eckert, Art. Allgemeines Landrecht (Preußen), in: HRG2 I, Sp. 155 – 162 (Lit.). 8 Die staatskirchenrechtlichen Bestimmungen des Allgemeinen Landrechts sind abgedruckt bei Ernst Rudolf Huber/Wolfgang Huber, Staat und Kirche im 19. und 20. Jahrhundert. Dokumente zur Geschichte des deutschen Staatskirchenrechts, Bd. 1, Berlin 1973, S. 3 – 11.

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formierten. Vor diesem Hintergrund war allenfalls ein Konfessionswechsel denkbar, nicht aber eine völlige Aufgabe der kirchlichen Zugehörigkeit. Denn ein Austritt aus der bisherigen eigenen Kirche ohne neue Bindung an ein anderes christliches Bekenntnis hätte ein Herausfallen aus allen öffentlichen Bindungen und den Verlust der Stellung eines Staatsbürgers bedeutet. 2. Neuerungen des 19. Jahrhunderts Der Austritt aus der Kirche ohne Anschluss an eine andere Religionsgemeinschaft wurde nach staatlichem Recht erst im Laufe des 19. Jahrhunderts möglich. Das Königreich Preußen führte unter König Friedrich Wilhelm IV. (1840 – 1861) auf der Grundlage des 1847 erlassenen Religionspatents9 die neue Regelung ein, dass der Austritt aus einer Religionsgemeinschaft vor dem örtlichen Richter zu erklären war, also vor einem staatlichen Organ. Dabei setzte diese Regelung aber noch voraus, dass die betreffende Person sich einer anderen Konfession anschließe. In Bayern hingegen und in anderen deutschen Ländern blieb es dabei, dass die Pfarrämter der verschiedenen Konfessionen alle Personenstandsdinge zu bearbeiten und entsprechend auch den Austritt aus der Kirche beziehungsweise den Konfessionswechsel entgegenzunehmen und zu dokumentieren hatten. Auch wenn die geltenden staatlichen Regelungen es nicht vorsahen und schon gar nicht intendierten, gab es ab Mitte des 19. Jahrhunderts bereits einzelne Fälle von vollständigem Kirchenaustritt, d. h. ein Verlassen der Kirche ohne Übertritt zu einer anderen Gemeinschaft. Dennoch blieben bestimmte Folgen des Kirchenzwangs auch in diesen Fällen erhalten, etwa die Pflicht zur Entrichtung des Zehnten oder die Teilnahme am Religionsunterricht für die Kinder. Der Kulturkampf brachte schließlich eine tiefgreifende Änderung der rechtlichen Verhältnisse bezüglich des Kirchenaustritts. 1873 wurde in Preußen ein eigenes Kirchenaustrittsgesetz erlassen, das eine vollständige Verwirklichung der negativen Religionsfreiheit ermöglichte.10 Diesem Gesetz zufolge war ein bestimmtes Procedere für den Kirchenaustritt zu beachten: Der Austrittswillige musste seinen Entschluss persönlich vor dem Ortsrichter erklären; dieser verständigte von der Erklärung den zuständigen Geistlichen. Vier bis sechs Wochen später war die Erklärung des Austritts vor dem Ortsrichter nochmals zu wiederholen, um vollständig rechtswirksam zu werden. In der Zwischenzeit hatte der Seelsorger die Möglichkeit, auf den zum Austritt aus der Kirche gewillten Christen einzuwirken und ihn eventuell zur Änderung seines Entschlusses zu bewegen. Wenn diese Bemühungen ohne Erfolg blieben und die Erklärung schließlich rechtlich wirksam wurde, dann zog sie bestimmte Folgen nach sich. Der Ausgetretene war nach Ablauf einer bestimmten 9

Abgedruckt bei: Huber/Huber, Staat und Kirche Bd. 1 (Anm. 8), S. 454 f. Abgedruckt bei: Ernst Rudolf Huber/Wolfgang Huber, Staat und Kirche im 19. und 20. Jahrhundert. Dokumente zur Geschichte des deutschen Staatskirchenrechts, Bd. 2, Berlin 1976, S. 454 f.; siehe dazu May, Kirchenaustritt (Anm. 5), S. 21 f.; Löffler, Ungestraft aus der Kirche austreten? (Anm. 5), S. 55 – 59. 10

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Frist von allen Lasten befreit, die als bürgerliche Wirkungen aus der Zugehörigkeit zur Kirche folgten. Den Religionsunterricht mussten die Kinder allerdings weiter besuchen, weil eine konfessionslose Bildung nicht vorgesehen war. Seitens der katholischen Kirche erfuhr dieses Austrittsgesetz eine massive Ablehnung. Andere Länder des Deutschen Reichs orientierten sich an dem preußischen Kirchenaustrittsgesetz und erließen in den 1870er und 1880er Jahren ähnliche Gesetzeswerke. Allerdings musste in manchen Ländern die Erklärung des Austritts gegenüber dem Pfarrer erfolgen, der hierbei als staatliches Organ tätig wurde und auch eine Bescheinigung über den Austritt auszustellen hatte. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts war die Möglichkeit des Kirchenaustritts ohne Wechsel zu einer anderen Konfession im Gebiet des Deutschen Reichs überall gegeben. 3. Kirchenaustritt seit der Weimarer Republik Mit dem Ende des Ersten Weltkriegs (1914 – 1918) brachen in Deutschland die Monarchien zusammen. Ein neues republikanisches Staatswesen wurde begründet, das in der Weimarer Reichsverfassung11 vom 11. August 1919 auch das Verhältnis von Staat und Kirche neu ordnete. Die alten, aus dem Staatskirchentum oder der Staatskirchenhoheit stammenden rechtlichen Elemente wurden beseitigt. Das Prinzip der Trennung von Kirche und Staat setzte sich durch und war verfassungsrechtlich festgeschrieben. Allerdings war diese Trennung eine freundschaftliche, d. h. ein Zusammenwirken der beiden getrennten Partner Staat und Kirche war durchaus zulässig und sogar erwünscht.12 Die bisher öffentlich-rechtlich anerkannten Religionsgesellschaften behielten gemäß der neuen Verfassungsordnung den Status von Körperschaften des öffentlichen Rechts; solche, die ihn nicht besaßen, konnten ihn prinzipiell erwerben. Ein staatlicher Anspruch, aufgrund dieses Körperschaftsstatus eine gewisse Aufsicht über die Kirchen auszuüben, wurde im Zusammenhang mit der Verfassung nicht geltend gemacht. Der Staat hatte sich gegenüber den verschiedenen Religions- und Weltanschauungsgesellschaften neutral zu verhalten und nach den Prinzipien der Parität mit diesen umzugehen.13 Eine wichtige Konsequenz des Trennungsgedankens 11

Vgl. Felix Hammer, Art. Weimarer Reichsverfassung, in: LKStKR III, S. 873 f. (Lit.). Zu dem durch die Weimarer Verfassung grundgelegten deutschen Trennungssystem siehe statt vieler: Joseph Listl/Alexander Hollerbach, Das Verhältnis von Kirche und Staat in der Bundesrepublik Deutschland, in: HdbKathKR2, S. 1268 – 1293; Axel Freiherr von Campenhausen/Heinrich de Wall, Staatskirchenrecht. Eine systematische Darstellung des Religionsverfassungsrechts in Deutschland und Europa, München 42006, S. 90 – 99; Stefan Mückl, Trennung und Kooperation – das gegenwärtige Staat-Kirche-Verhältnis in der Bundesrepublik Deutschland, in: EssGespr. 40 (2007), S. 41 – 83; ders., Grundlagen des Staatskirchenrechts, in: Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, hrsg. von Josef Isensee/Paul Kirchhof, Bd. 7: Freiheitsrechte, Heidelberg 32009, S. 711 – 789. 13 Vgl. Ernst-Lüder Solte, Art. Parität, in: LKStKR III, S. 144 f. (Lit.); Joseph Listl, Art. Parität, in: Stephan Haering/Heribert Schmitz (Hrsg.), Lexikon des Kirchenrechts (Lexikon für Theologie und Kirche kompakt), Freiburg/Basel/Wien 2004, Sp. 721 f. (Lit.). 12

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sowie der Säkularität des Staates und seiner Neutralität gegenüber den verschiedenen religiösen Bekenntnissen bildete der verfassungsrechtlich verbürgte Grundsatz der Selbstordnung und Selbstverwaltung der Angelegenheiten der Religionsgesellschaften durch deren eigene Organe (Art. 137 Abs. 3 WRV). Die Weimarer Reichsverfassung legte in ihren Kirchenartikeln nur die grundlegenden Bestimmungen bezüglich der Religionsgesellschaften vor (Art. 135 – 141 WRV). Die Durchführung der Einzelheiten war in die Kompetenz der Länder verwiesen. Damit lag es auch an den Ländern, die Materie des Kirchenaustritts in eigenen Gesetzen zu regeln. Dem weitaus größten Land der Republik, dem Freistaat Preußen, kam mit seinem Gesetz zum Kirchenaustritt wiederum eine Vorreiter- und Vorbildrolle zu. An der preußischen Gesetzgebung orientierten sich auch andere deutsche Länder. Der Freistaat Preußen erließ sein Gesetz am 30. November 1920.14 Im Vorfeld der Gesetzgebung gab es intensive Diskussionen, wie diese Materie am besten anzugehen und zu gestalten sei. Gesetzentwürfe des Zentrums und der Sozialdemokratie sahen die Möglichkeit einer Befreiung von der Kirchensteuer vor, ohne dass ein eigentlicher Kirchenaustritt erfolgen musste. Es wurde auch eingehend über die Fragen diskutiert, an wen die Erklärung des Austritts zu richten sei, ob die Festlegung einer Karenzzeit angezeigt sei, um den Kirchen die Möglichkeit des seelsorglichen Einwirkens auf den Austrittswilligen zu geben, und zu welchem Zeitpunkt der einmal erklärte Austritt wirksam werden solle. Die katholischen Bischöfe vertraten die Auffassung, dass allein kirchliches Recht für die Zugehörigkeit zur Kirche maßgeblich sein könne. Sie vermieden es aber doch, dem Staat ausdrücklich die Kompetenz zum Erlass eines eigenen Austrittsgesetzes abzusprechen. Die parlamentarischen Kräfte bejahten mehrheitlich eine diesbezügliche Zuständigkeit des Staates und begründeten diese Auffassung mit Hinweis auf den Körperschaftsstatus der Kirchen. Deswegen, so die vorherrschende politische Meinung, besitze der Staat ein gewisses Aufsichtsrecht bezüglich der Kirchen und er müsse deren Mitgliedern die Möglichkeit des Austritts eröffnen. Der Staat wolle aber, so hieß es, nur die bürgerlichen Wirkungen des Kirchenaustritts regeln; die rein innerkirchlichen Folgen seien nicht seine Angelegenheit. In der Frage, wer denn der Adressat der Austrittserklärung sein solle, wurden verschiedene Positionen vertreten. Im Parlament ging die Tendenz eher dahin, eine kirchliche Stelle als Adressatin der Austrittserklärung vorzusehen. Dagegen reagierte man auf kirchlicher Seite ablehnend. Die katholische Kirche machte geltend, dass es für einen Pfarrer nicht zumutbar wäre, die Austrittserklärung entgegenzunehmen und auch noch eine Bestätigung für diesen Akt des Abfalls von der Kirche auszustellen. Auch die evangelische Seite zeigte sich ablehnend, ein kirchliches Organ mit der Entgegennahme der Austrittserklärung zu betrauen. So wurde im Grunde auf kirch14 Abgedruckt bei: Ernst Rudolf Huber/Wolfgang Huber, Staat und Kirche im 19. und 20. Jahrhundert. Dokumente zur Geschichte des deutschen Staatskirchenrechts, Bd. 4, Berlin 1988, S. 152 f.; vgl. Löffler, Ungestraft aus der Kirche austreten? (Anm. 5), S. 66 – 69.

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liches Drängen hin in Preußen das Amtsgericht als Ort der Austrittserklärung vorgesehen, also eine staatliche Stelle. Bei der vorgesehenen Regelung kam den Kirchen jene Bestimmung entgegen, wonach die erfolgte Erklärung des Austritts erst nach einem Monat rechtswirksam werden solle. Denn damit wurde eine gewisse Hürde für unüberlegte oder auf agitatorische Einwirkung hin vollzogene Austritte aufgerichtet. Das Ende der Kirchensteuerpflicht wurde mit Ablauf des Steuerjahres festgesetzt, nicht jedoch vor Ablauf von drei Monaten nach dem Austritt. Das preußische Kirchenaustrittsgesetz entwickelte sich zu einer Art Musterregelung für andere Länder, die in ihre entsprechenden Gesetze zwei Kernelemente der preußischen Regelung aufnahmen. Dabei handelte es sich zum einen die Möglichkeit, einen tatsächlichen „Austritt“ aus der Kirche hinsichtlich der bürgerlichen Wirkungen der Mitgliedschaft zu vollziehen und nicht nur eine Befreiung von der Steuerpflicht zu erreichen. Das andere Kernelement des preußischen Austrittsgesetzes, das fast in ganz Deutschland übernommen wurde, war die Bestimmung, dass die Erklärung des Austritts vor einer staatlichen Stelle erfolgen müsse. Unterschiede in der Gesetzgebung der deutschen Länder gab es hingegen beispielsweise in der Frage, wann die Erklärung des Kirchenaustritts rechtlich wirksam wurde. Manche Landesgesetze sahen nach preußischem Vorbild eine gewisse „Reuefrist“ vor, während andere Länder – so etwa Bayern, Sachsen und Baden – die sofortige Rechtswirksamkeit der Erklärung festlegten. Auch in der Frage, wer der Kirche Nachricht vom erfolgten Austritt zu geben habe, wurden unterschiedliche Regelungen vorgesehen. Die Kirche ist ja von dem Austritt eines Mitglieds hauptsächlich betroffen und muss deshalb über den Vorgang verständigt werden. Preußen sah die direkte Mitteilung durch das Amtsgericht an die Kirche vor, während etwa in Württemberg diese Pflicht dem austretenden Bürger selbst oblag. Die in den 1920er Jahren geschaffenen rechtlichen Verhältnisse bezüglich des Kirchenaustritts blieben bis zum Untergang des Deutschen Reichs 1945 im Wesentlichen unverändert bestehen. Die Nationalsozialisten propagierten aufgrund ihrer antichristlichen Ideologie den Kirchenaustritt und förderten ihn durch verschiedene Aktionen, die gegen die Kirchen und den Klerus gerichtet waren. Infolge dessen kam es in den dreißiger Jahren zu einem beträchtlichen Anstieg der Austrittszahlen. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs (1939 – 1945) und dem Zusammenbruch des nationalsozialistischen Regimes entstanden in Deutschland zwei Staaten, die Bundesrepublik Deutschland und die Deutsche Demokratische Republik (DDR). Die verfassungsrechtliche Ordnung der Bundesrepublik knüpfte im Bereich des Staat-Kirche-Verhältnisses nahtlos an die Weimarer Reichsverfassung an, indem das Bonner Grundgesetz vom 23. Mai 194915 die Weimarer Kirchenartikel durch Verweisung in das bundesdeutsche Verfassungsrecht inkorporierte (Art. 140

15

Vgl. Friedhelm Hufen, Art. Grundgesetz, in: LKStKR II, S. 180 f. (Lit.).

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GG).16 Ähnlich verfuhr die DDR in ihrer ersten Verfassung (1949). Der Rechtslage bezüglich des Kirchenaustritts in der DDR muss hier allerdings keine spezielle Aufmerksamkeit gewidmet werden, weil deren Rechtsverhältnisse mit dem Beitritt der fünf neuen Länder zur Bundesrepublik am 3. Oktober 1990 weitgehend überholt sind. Inzwischen haben die neuen Länder längst eigene Kirchenaustrittsgesetze erlassen, die sich inhaltlich an den Gegebenheiten der alten westlichen Länder orientieren.17 In der Bundesrepublik wurden für die Weiterentwicklung des staatlichen Kirchenaustrittsrechtes die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts vom 8. Februar 1977 bedeutsam, wonach zwei in manchen Austrittsgesetzen vorhandene Regelungen für verfassungswidrig erklärt wurden.18 Es ging zum einen um die teilweise vorgesehene „Reuefrist“ von einigen Wochen und zum anderen um die Möglichkeit der Nachbesteuerung des Ausgetretenen bis zum Ende des laufenden Steuerjahres. Diese beiden Bestimmungen wurden für verfassungswidrig erklärt und mussten beseitigt oder geändert werden. Die Austrittserklärung wurde generell sofort wirksam und die Frist für das Enden der Steuerpflicht wurde verkürzt auf das Ende jenes Kalendermonats, welcher der Austrittserklärung folgt. Außerdem wurde immer wieder die Frage erörtert, ob ein modifizierter Kirchenaustritt möglich sei. Verschiedene Austrittswillige hatten bei ihrem Kirchenaustritt erklärt, sie wollten nur die Körperschaft verlassen (und die Kirchensteuer sparen), im übrigen aber Glied der Glaubensgemeinschaft bleiben. Somit stellte sich die Frage, ob solche Erklärungen die bürgerliche Wirkung des Kirchenaustritts erzielen können. In der Folge wurden manche Kirchenaustrittsgesetze geändert und derartige Zusätze ausdrücklich verboten. II. Wirkungen des Kirchenaustritts im staatlichen Bereich Das Mitgliedschaftsrecht der Religions- und Weltanschauungsgesellschaften gehört zu deren eigenen Angelegenheiten und unterliegt gemäß der deutschen Verfassungsordnung deren Selbstordnung und Selbstverwaltung (Art. 140 GG i. V. m. Art. 137 WRV). Vor diesem Hintergrund scheint ein staatlicher Kirchenaustritt auf den ersten Blick etwas Überflüssiges zu sein, weil die Zugehörigkeit zu einer Religionsgesellschaft sich jeweils nach deren eigenem Recht richtet.

16 Statt vieler vgl. Listl/Hollerbach, Kirche und Staat in der Bundesrepublik Deutschland (Anm. 12); Mückl, Grundlagen des Staatskirchenrechts (Anm. 12). 17 Zum deutschen staatlichen Recht der kirchlichen Mitgliedschaft und insbesondere des Kirchenaustritts siehe Axel Frhr. von Campenhausen, Der Austritt aus den Kirchen und Religionsgemeinschaften, in: HdbStKirchR2, Bd. 1, S. 777 – 785; von Campenhausen/de Wall, Staatskirchenrecht (Anm. 12), S. 149 – 162; Stefan Mückl, Kirchliche Organisation, in: Handbuch des Staatsrechts Bd. 7 (Anm. 12), S. 791 – 830, hier S. 805 – 809. 18 Abgedruckt in: KirchE Bd. 16, S. 41 – 58.

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Gleichwohl ist der Kirchenaustritt vor dem Staat ein notwendiges Rechtsinstitut. Denn wenn ein Staatswesen den Religions- und Weltanschauungsgesellschaften eine besondere Rechtsstellung zuerkennt und mit diesen partnerschaftlich kooperiert und wenn er gleichzeitig das Menschenrecht der Religionsfreiheit anerkennt und schützt, dann muss für den einzelnen Bürger die Möglichkeit gegeben sein, sich mit Wirkung für den weltlichen Rechtsbereich von einer Religions- oder Weltanschauungsgesellschaft zu trennen.19 Diese Notwendigkeit besteht insbesondere dann, wenn mit der Kirchenzugehörigkeit auch Steuerpflichten verbunden sind, wie es in Deutschland der Fall ist. Nur wenn die Zugehörigkeit zu einer Kirche oder Religionsgesellschaft keine Konsequenzen hätte, die im weltlichen Recht erzwungen werden können, könnte dem Staat die Frage der Mitgliedschaft in einer Religionsgesellschaft gleichgültig sein. Das ist in Deutschland aber nicht der Fall. Je nach Landesrecht muss in Deutschland der Kirchenaustritt vor dem Amtsgericht oder vor dem Standesamt erklärt werden. Eine Ausnahme bildet allein die Freie Hansestadt Bremen, wo der Austritt gegenüber einer kirchlichen Stelle zu erklären ist. Das Rechtsinstitut des Kirchenaustritts muss für den Staat ganz eindeutig gestaltet sein. Dazu hält Wolfgang Rüfner fest: „Der Staat darf nicht Gelegenheit oder sogar Anreiz geben, nur aus einer angeblich neben der Kirche bestehenden weltlichen Körperschaft auszutreten und in der Kirche zu bleiben. Der Staat schuldet in diesen Fragen Klarheit und ist selbst an Klarheit interessiert. Deshalb sind alle Formen des Kirchenaustritts unzulässig, die keine Klarheit schaffen, also insbesondere Austrittserklärungen mit Vorbehalten und Zusätzen, welche die Abwendung von der Kirche nicht klar und eindeutig erkennen lassen.“20

Manche Kirchenaustrittsgesetze enthalten daher ausdrückliche Bestimmungen, wonach Zusätze zu der Erklärung des Austritts unzulässig sind. Die Eindeutigkeit eines Kirchenaustritts ist aber nicht nur im Hinblick auf die Kirchensteuerpflicht bedeutsam. Denn der Staat hat die Religionszugehörigkeit seiner Bürger zu beachten und in seinen eigenen Maßnahmen zu berücksichtigen. Für Planungen, welche etwa den Religionsunterricht oder die Organisation der Militär- und Anstaltsseelsorge betreffen, ist es von Belang, welchen Anteil an der Bevölkerung die Angehörigen der verschiedenen Kirchen jeweils ausmachen. Insofern bedeutet der Kirchenaustritt für den Staat stets mehr als die Erklärung, keine Kirchensteuer mehr zahlen zu wollen, auch wenn der Austritt die einzige Möglichkeit ist, die Kirchensteuer zu umgehen. Mit Recht stellt Wolfgang Rüfner fest:

19

Vgl. Mückl, Kirchliche Organisation (Anm. 17), S. 807 f. Wolfgang Rüfner, Kirchenzugehörigkeit und vor dem Staat vollzogener Kirchenaustritt: Staatskirchenrechtliche Aspekte, in: Der Kirchenaustritt im staatlichen und kirchlichen Recht (Anm. 3), S. 42 – 58, hier S. 43 f.; vgl. auch Ilona Riedel-Spangenberger, Art. Kirchenaustritt. I. Staatl. II. Kath., in: LKStKR II, S. 464 – 466, hier S. 464 f. 20

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„Zum Wesen jeder Steuer gehört, bei Erfüllung der Tatbestandsvoraussetzungen zahlen zu müssen, ohne sich abmelden zu können. Wer staatliche Steuern vermeiden will, muss auswandern, wer die Kirchensteuer nicht zahlen will, muss die Kirche verlassen.“21

Es ist aber auch zu bedenken, dass der Staat keine ausdrückliche Erklärung darüber verlangen darf, dass der Austrittswillige sich auch innerlich von seinem Bekenntnis, etwa vom katholischen Glauben abgewendet habe. Der Austretende erklärt seinen Austritt dem Staat gegenüber vielmehr ohne jegliche Erläuterung oder Begründung. Eine andere Sache ist, dass ein Austretender etwa im Zusammenhang mit dem staatlichen Kirchenaustritt, allerdings nicht in der amtlichen Austrittserklärung, kundtut, ein guter Katholik bleiben zu wollen. Die Austrittserklärung vor dem Staat als solche wird davon aber in keiner Weise betroffen. Die Motive eines Kirchenaustritts zu eruieren ist dem Staat versagt. Solche Nachforschungen verbietet schon allein die Religions- und Gewissensfreiheit; damit hängt eng zusammen das Verbot, nach religiösen Überzeugungen zu fragen (Art. 140 GG i. V. m. Art. 136 Abs. 2 Satz 1 WRV). So verhält es sich auch, wenn die Austrittserklärung ausnahmsweise gegenüber einer kirchlichen Stelle erfolgt, wie es in der Freien Hansestadt Bremen der Fall ist. Dazu lässt sich wiederum mit Wolfgang Rüfner feststellen: „Eine Frage nach den Motiven des Austritts wird man der kirchlichen Stelle zwar nicht verbieten können, jedoch darf eine Antwort auf eine solche Frage nicht zur Voraussetzung der Gültigkeit des Kirchenaustritts gemacht werden. Verweigert der Austrittswillige ein Gespräch, muss ihm gleichwohl der Austritt ermöglicht werden.“22

Welche Wirkungen entfaltet die Erklärung des Austritts aus der Kirche nun im Einzelnen vor dem Staat? Eine ganz praktische Folge besteht im Wegfall des entsprechenden Konfessionsmerkmals in allen staatlichen Dokumenten und Unterlagen, die den betreffenden Bürger angehen. Über die Austrittserklärung als solche ist die zuständige amtliche Stelle der Konfession zu verständigen, aus welcher der Austritt erfolgt, also regelmäßig das Wohnsitzpfarramt oder gegebenenfalls ein zentrales kirchliches Matrikelamt. Der Staat zieht die Kirchensteuer bei dem aus der Religionsgesellschaft ausgetretenen Bürger ab sofort nicht mehr ein.23 Handelt es sich bei dem Ausgetretenen um eine Person, die an schulischem Unterricht teilnimmt, dann entfällt auch die prinzipielle Pflicht zur Teilnahme am Religionsunterricht als ordentlichem Lehrfach. Bei der Bereitstellung der Infrastruktur zur positiven Ausübung der Religion, die der Staat etwa im Bereich der Militär-, Polizei- und Anstaltsseelsorge (Haft- und Krankenanstalten) 21

S. 44. 22

S. 47.

Rüfner, Kirchenzugehörigkeit und vor dem Staat vollzogener Kirchenaustritt (Anm. 20), Rüfner, Kirchenzugehörigkeit und vor dem Staat vollzogener Kirchenaustritt (Anm. 20),

23 Vgl. in diesem Zusammenhang neuerdings Stefan Ihli, Kirchenaustritt als Mittel der Kirchensteuervermeidung? Ein Klischee im Spiegel der Demoskopie, in: KuR (Neuwied) 17 (2011), S. 175 – 198.

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leistet, muss der Staat die ausgetretene Person nicht mehr berücksichtigen. Letzteres bedeutet freilich nicht, dass dem Ausgetretenen im Einzelfall nicht auch die Möglichkeit zur Ausübung seiner (positiven) Religionsfreiheit zu geben wäre. Verlangt etwa ein aus der Kirche ausgetretener Häftling beispielsweise nach einem Seelsorger seines früheren (oder auch eines anderen) Bekenntnisses, dann darf ihm der Zugang zu diesem nicht mit Hinweis auf die Tatsache seines Kirchenaustritts verwehrt werden. Es ist deutlich festzuhalten, dass der Kirchenaustritt vor dem Staat diesem gegenüber nichts über die religiöse Haltung und über den Glauben des betreffenden Bürgers aussagt. Die persönlichen religiösen Überzeugungen des Einzelnen gehen den Staat nichts an. Die Wirkungen des Austritts im Hinblick auf den Staat bestehen lediglich darin, dass der Staat diesen Bürger in jenen Fragen, die den Staat interessieren, nicht mehr als Angehörigen der betreffenden Religionsgesellschaft behandelt und eben nicht mehr – dies ist die insgesamt wichtigste Folge in diesem Bereich – die Kirchensteuer für die als öffentlich-rechtliche Körperschaft konstituierte Religionsgesellschaft einzieht oder beitreibt.

III. Wirkungen des Kirchenaustritts im kirchlichen Bereich Es ist die übereinstimmende Auffassung aller großen christlichen Kirchen, dass die Zugehörigkeit zur Kirche mit der Taufe begründet wird.24 Durch den gültigen Empfang der Taufe wird eine Person Glied der Kirche Jesu Christi, wobei es in der theologischen Sichtweise der Kirchenzugehörigkeit bei den verschiedenen Konfessionen unterschiedliche Akzentuierungen gibt. Doch an der grundsätzlichen Tatsache, dass die Kirchengliedschaft auf der Taufe beruht, gibt es keinen Zweifel. Dabei sieht sich die katholische Kirche als die volle Verwirklichung der Kirche Jesu Christi, während die nichtkatholischen Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften am Kirche-Sein auch ihren Anteil haben, aber in je unterschiedlicher Abstufung. Die evangelische Theologie hingegen sieht die einzelnen konkret organisierten Kirchen jeweils „als rechtlich verfasste Partikularkirche und Schauseite der dem menschlichen Recht nicht verfügbaren geistlichen Kirche Christi“ an, weswegen im evangelischen kirchlichen Gliedschaftsrecht ein Unterschied zwischen einer 24 Siehe etwa die Erklärung zur Taufanerkennung, die bei einem ökumenischen Gottesdienst am 29. April 2007 in Magdeburg von Vertretern der folgenden Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften unterzeichnet wurde: Äthiopisch-Orthodoxe Kirche, Arbeitsgemeinschaft Anglikanisch-Episkopaler Gemeinden in Deutschland, Armenisch-Apostolische Orthodoxe Kirche in Deutschland, Evangelisch-altreformierte Kirche in Niedersachsen, Evangelische Brüder-Unität – Herrnhuter Brüdergemeine, Evangelische Kirche in Deutschland, Evangelisch-methodistische Kirche, Katholisches Bistum der Alt-Katholiken in Deutschland, Orthodoxe Kirche in Deutschland, Römisch-Katholische Kirche, Selbständige Evangelisch-Lutherische Kirche, abgedruckt in: Österreichisches Archiv für Recht und Religion 54 (2007), S. 523; vgl. dazu auch Martin Hein, Ekklesiologische Implikationen der Taufe. Die „wechselseitige Taufanerkennung“ von Magdeburg und ihre Konsequenzen für das Verständnis von Kirche, in: Catholica 62 (2008), S. 39 – 46.

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geistlichen Gliedschaft am Leibe Christi und einer juristischen Kirchenmitgliedschaft gemacht wird.25 1. Katholische Kirche Nach katholischem Verständnis bewirkt die Taufe in der katholischen Kirche oder die Aufnahme in die katholische Kirche, nachdem jemand außerhalb der katholischen Kirche gültig getauft wurde, die unwiderrufliche Zugehörigkeit zu dieser Kirche.26 Es gilt der Grundsatz: semel catholicus, semper catholicus. Die Mutter Kirche, als die sich die katholische Kirche gewissermaßen sieht und beschreiben lässt, kann – gleich einer leiblichen Mutter – ihre Kinder niemals lassen. Sie betrachtet ihre Glieder als immer und unverbrüchlich ihrer Sorge anvertraut. Sie gehören zu ihr, welche Wege sie auch immer gehen mögen. Theologisch ist ein Austritt aus der Kirche in dieser Perspektive eine Unmöglichkeit.27 Ein Katholik mag sich einem anderen christlichen Bekenntnis zuwenden oder gar einer anderen Religion oder er mag völlig von der Kirche abfallen, ohne ein anderes Bekenntnis anzunehmen – er bleibt dennoch kirchenrechtlich gesehen ein Katholik, und zwar selbst dann, wenn er grundlegende Pflichten eines katholischen Gläubigen auf das Schwerste verletzt haben sollte.28 Bedeutet dies nun, dass der staatliche Kirchenaustritt eines Katholiken keine Wirkungen in der Kirche habe? Das ist keineswegs der Fall. Die Bischöfe der Länder, in denen es einen staatlichen Kirchenaustritt gibt, haben diesen Akt immer als eine öffentliche Trennung von der Kirche verstanden und darunter die Verwirklichung des Glaubensabfalls (Apostasie) oder der Häresie, auf jeden Fall aber des Schismas gesehen.29 Daher zog der Austritt regelmäßig die Kirchenstrafe der Exkommunikation nach sich, mit der Konsequenz des Ausschlusses von der Sakramentengemeinschaft und von der Ausübung kirchlicher Ämter. Man hat die staatlich Ausgetretenen regelmäßig als von der Kirche abgefallene Katholiken eingestuft. 25 Axel Freiherr von Campenhausen, Kirchenzugehörigkeit, Kirchenaustritt und Kirchensteuer aus protestantischer Sicht, in: Der Kirchenaustritt im staatlichen und kirchlichen Recht (Anm. 3), S. 59 – 74, hier S. 62. 26 Vgl. Peter Krämer, Die Zugehörigkeit zur Kirche, in: HdbKathKR2, S. 200 – 209. 27 Vgl. Stephan Haering, Kann man aus der Kirche austreten? Ekklesiologische und kirchenrechtliche Aspekte eines bedrängenden Themas, in: Fünf vor Elf. Beiträge zur Theologie, hrsg. von Karl J. Wallner (Schriftenreihe des Instituts für Dogmatik und Fundamentaltheologie an der Päpstlichen Phil.-Theol. Hochschule Benedikt XVI. Heiligenkreuz 2), Heiligenkreuz 2010, S. 115 – 136, hier S. 118 – 122. 28 Theologische bzw. vornehmlich theologische Perspektiven auf Kirchenzugehörigkeit und staatlichen Kirchenaustritt werden entfaltet bei Gerhard Ludwig Müller, Kirchenzugehörigkeit und Kirchenaustritt aus dogmatischer Perspektive, in: Der Kirchenaustritt im staatlichen und kirchlichen Recht (Anm. 3), S. 77 – 89; Francesco Coccopalmerio, Die kirchliche communio. Was das Konzil sagt und worüber die Codices schweigen, ebd., S. 90 – 123. 29 Vgl. etwa exemplarisch: Erklärung der Diözesanbischöfe der Bundesrepublik [Deutschland] vom Dezember 1969 zu Fragen des kirchlichen Finanzwesens, in: AfkKR 138 (1969), S. 557 – 559. – Zu Apostasie, Häresie und Schisma siehe c. 751 CIC; vgl. dazu Heinrich Mussinghoff, in: MK CIC, Kommentar zu c. 751 (30. Erg.-Lfg., Dezember 1998).

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Der Päpstliche Rat für die Gesetzestexte hat indes am 13. März 2006 ein von Papst Benedikt XVI. ausdrücklich gebilligtes Schreiben an die Vorsitzenden der Bischofskonferenzen gerichtet, in welchem eine amtliche Klärung des Begriffs des Abfalls von der katholischen Kirche durch formalen Akt vorgenommen wird.30 Was besagte dieser Brief aus Rom? Es wird in diesem Schreiben festgelegt, dass die drei folgenden Merkmale gegeben sein müssen, um von einem Abfall von der katholischen Kirche durch formalen Akt sprechen zu können: (1) der betreffende Gläubige muss eine innere Entscheidung treffen, die katholische Kirche zu verlassen; (2) diese Entscheidung muss ausgeführt und nach außen bekundet werden; (3) die Entscheidung muss von der kirchlichen Autorität entgegengenommen werden. Wörtlich heißt es: „Der Inhalt des Willensaktes [des Austretenden] muss bestehen im Zerbrechen jener Bande der Gemeinschaft – Glaube, Sakramente, pastorale Leitung –, die es den Gläubigen ermöglichen, in der Kirche das Leben der Gnade zu empfangen. Das bedeutet, dass ein derartiger formaler Akt des Abfalls nicht nur rechtlich-administrativen Charakter hat (das Verlassen der Kirche im meldeamtlichen Sinn mit den entsprechenden zivilrechtlichen Konsequenzen), sondern dass er sich als wirkliche Trennung von den konstitutiven Elementen des Lebens der Kirche darstellt: Er setzt also einen Akt der Apostasie, Häresie oder des Schisma voraus.“31

Ausdrücklich wird unterstrichen, dass ein äußerer Abfall von der Kirche allein nicht den genannten Tatbestand ausmache, sondern dass auch der explizite Wille zum Verlassen der Glaubensgemeinschaft gegeben sein müsse. Nach dieser Auffassung wäre beispielsweise im Fall der weiterhin gläubigen Ehefrau eines fanatischen Kirchenhassers, die von ihrem Gatten zum Kirchenaustritt genötigt wurde, nicht von einem Abfall von der Kirche zu sprechen. Der Akt des Abfalls müsse, um rechtlich gültig zu sein, von einer kanonisch rechtsfähigen Person gesetzt werden, und dieser Akt müsse persönlich, bewusst und frei getätigt werden. Es wird ferner „verlangt, dass der Akt von dem Betroffenen schriftlich vor der zuständigen kirchlich-katholischen Autorität bekundet wird: vor dem Ordinarius 30

Päpstlicher Rat für die Gesetzestexte, Schreiben an die Vorsitzenden der Bischofskonferenzen vom 13. März 2006, in: Communicationes 38 (2006), S. 170 – 184 (it., engl., dt., frz., span., port.); abgedruckt: AfkKR 175 (2006), S. 158 – 160 (dt.); siehe dazu Gerald Gruber, Actu formali ab Ecclesia Catholica deficere. Zur Problematik des vor staatlicher Stelle vollzogenen Kirchenaustritts vor dem Hintergrund des Zirkularschreibens des Päpstlichen Rates für die Gesetzestexte vom 13. März 2006 und der Erklärung der Österreichischen Bischofskonferenz zum Kirchenaustritt vom März 2007, Bonn 2009, S. 181 – 211. 31 Päpstlicher Rat für die Gesetzestexte, Schreiben an die Vorsitzenden der Bischofskonferenzen vom 13. März 2006 (Anm. 30), Nr. 2.

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oder dem eigenen Pfarrer, dem allein das Urteil darüber zusteht, ob wirklich ein Willensakt des in Nr. 2 beschriebenen Inhalts vorliegt oder nicht“32. Vor dem Hintergrund dieses Schreibens scheint ein bloßer Kirchenaustritt vor der staatlichen Behörde kirchenrechtlich ganz bedeutungs- und wirkungslos zu sein. Darauf stützt sich beispielsweise jener im Jahr 2006 aus der katholischen Kirche ausgetretene Fachkollege, dessen Fall zu gerichtlichen Auseinandersetzungen geführt hat.33 Er hatte ausdrücklich erklärt, Glied der katholischen Kirche bleiben zu wollen und lediglich aus der staatlichen Körperschaft des öffentlichen Rechts auszutreten. Die deutschen Bischöfe reagierten rasch auf das Schreiben des Päpstlichen Rates für die Gesetzestexte. Wenige Wochen danach, am 24. April 2006, veröffentlichten sie eine Erklärung, wonach der Kirchenaustritt in Deutschland als schismatischer Akt anzusehen sei;34 dieser hat zur Folge, dass die Ausgetretenen sich die Strafe der Exkommunikation zuziehen. Es sollte also nach Auffassung des deutschen Episkopats im Wesentlichen bei der bisherigen kirchenrechtlichen Bewertung des staatlichen Kirchenaustritts bleiben.35 Auch wenn eine erhebliche inhaltliche Spannung oder sogar ein Widerspruch zwischen der römischen und der deutschen Position kaum zu leugnen sind36 und die kir32 Päpstlicher Rat für die Gesetzestexte, Schreiben an die Vorsitzenden der Bischofskonferenzen vom 13. März 2006 (Anm. 30), Nr. 5. 33 Professor Zapp legte seine Sicht der Dinge in zwei Aufsätzen dar: Hartmut Zapp, „Kirchenaustritt“ zur Vermeidung von Kirchensteuern – nun ohne kirchenrechtliche Konsequenzen, in: Dienst an Glaube und Recht. Festschrift für Georg May zum 80. Geburtstag, hrsg. von Anna Egler/Wilhelm Rees (KStuT 52), Berlin 2006, S. 673 – 707; Hartmut Zapp, Körperschaftsaustritt wegen Kirchensteuern – kein „Kirchenaustritt“, in: KuR (Neuwied) 13 (2007), S. 66 – 90. 34 Erklärung der Deutschen Bischofskonferenz zum Austritt aus der Katholischen Kirche vom 24. April 2006, in: AfkKR 175 (2006), S. 160 – 162; vgl. Gruber, Actu formali ab Ecclesia Catholica deficere (Anm. 30), S. 225 – 242. 35 Andere Akzente setzte der österreichische Episkopat in seiner Reaktion auf das Zirkularschreiben des Päpstlichen Rates für die Gesetzestexte: Erklärung der Österreichischen Bischofskonferenz zum Kirchenaustritt, in: ABl. ÖBK Nr. 44 (15. August 2007), S. 15 f.; abgedruckt: Zugehörigkeit zur Katholischen Kirche. Pastorale Initiativen im Zusammenhang mit dem Kirchenaustritt, hg. von der Österreichischen Bischofskonferenz (Die österreichischen Bischöfe 7), Wien 2007, S. 9 f.; AfkKR 176 (2007), S. 545 f.; vgl. dazu Gruber, Actu formali ab Ecclesia Catholica deficere (Anm. 30), S. 242 – 304; Wilhelm Rees, „Die Beurteilung der kirchenrechtlichen Folgen bezüglich Ehesakrament (Can. 1117) obliegt dem Diözesangericht.“ Kirchenbeitrag, Kirchenaustritt, actus formalis und die diesbezüglichen Regelungen der Österreichischen Bischofskonferenz und der jeweiligen österreichischen Diözesanbischöfe, in: DPM 15/16 (2008/2009), S. 245 – 291; Haering, Kann man aus der Kirche austreten? (Anm. 27), S. 132 – 134. 36 Gerade das Spannungsverhältnis, ja die teilweise Widersprüchlichkeit, in der die beiden 2006 vorgelegten Auffassungen zueinander stehen, hat in der Folge vor allem im deutschsprachigen Bereich eine beträchtliche Produktion kirchenrechtlicher Literatur zum Thema ausgelöst: Heribert Schmitz, Kirchenaustritt als „actus formalis“. Zum Rundschreiben des Päpstlichen Rates für die Gesetzestexte vom 13. März 2006 und zur Erklärung der Deutschen Bischofskonferenz vom 24. April 2006. Kanonistische Erläuterungen, in: AfkKR 174 (2005),

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S. 502 – 509; Georg Bier, Was ist ein Kirchenaustritt? Neue Entwicklungen in einer altbekannten Frage, in: HK 60 (2006), S. 348 – 352; Andreas Weiß, Der sog. Kirchenaustritt in Deutschland – stets ein actus formalis defectionis ab Ecclesia catholica? Neue Klärungen in einer alten Frage, in: DPM 13 (2006), S. 147 – 171; Bruno Primetshofer, Kirchenaustritt – Schisma? Anmerkungen zu einer Erklärung der Deutschen Bischofskonferenz vom 24. 4. 2006, in: Österreichisches Archiv für Recht und Religion 53 (2006), S. 205 – 212; Federico R. Aznar Gil, El acto formal de defecciýn de la Iglesia Catýlica. Carta circular del Consejo Pontificio para los Textos Legislativos (13 marzo 2006). Texto y comentario, in: REDC 63 (2006), S. 125 – 148; Marcus Nelles, Der Kirchenaustritt – kein „actus formalis defectionis“, in: AfkKR 175 (2006), S. 353 – 373; Ludger Müller, Die Defektionsklauseln im kanonischen Eherecht. Zum Schreiben des Päpstlichen Rates für Gesetzestexte an die Vorsitzenden der Bischofskonferenzen vom 13. März 2006, in: AfkKR 175 (2006), S. 374 – 396; Klaus Lüdicke, Neues zum Kirchenaustritt in Deutschland und Österreich, in: Kirche und Staat. Festschrift für Stanislav Ojnik zum 75. Geburtstag, hrsg. von Borut Holcman/Gernot Kocher, Maribor 2007, S. 199 – 214; Renato Coronelli, Appartenza alle Chiesa e abbandono: aspetti fondamentali e questioni terminologiche, in: Quaderni di diritto ecclesiale 20 (2007), S. 8 – 34; Marino Mosconi, LÏabbandono pubblico o notorio della Chiesa cattolica e in particolare lÏabbandono con atto formale, in: Quaderni di diritto ecclesiale 20 (2007), S. 35 – 59; Alberto Perlasca, LÏabbandono della Chiesa cattolica e libert— religiosa. Implicazioni canoniche e di diritto ecclesiastico, in: Quaderni di diritto ecclesiale 20 (2007), S. 60 – 81; Gianluca Marchetti, La riammissione alla Chiesa cattolica di coloro che hanno abbandonato la piena comunione, in: Quaderni di diritto ecclesiale 20 (2007), S. 82 – 104; Georg Bier, Abfall von der Kirche – „Kirchenaustritt“ – Schisma. Ein Rundschreiben des Päpstlichen Rates für die Gesetzestexte und seine rechtlichen Konsequenzen, in: Kirchenrecht und Theologie im Leben der Kirche. Festschrift für Heinrich J. F. Reinhardt zur Vollendung seines 65. Lebensjahres, hrsg. von Rüdiger Althaus/Klaus Lüdicke/Matthias Pulte (MK CIC. Beihefte 50), Essen 2007, S. 73 – 102; John M. Huels, Defection from the Catholic Church by a formal act and the circular letter of 13 March 2006, in: StudCan 41 (2007), S. 515 – 549; Peter Krämer, Kirchenaustritt – Beweggründe und Rechtsfolgen, in: StdZ 225 (2007), S. 44 – 54; Löffler, Ungestraft aus der Kirche austreten? (Anm. 5); Heinrich J. F. Reinhardt, Das Konzept des „actus formalis“ in c. 1117 CIC und die Anwendungsprobleme dieser Neuregelung, in: Im Dienst von Kirche und Wissenschaft. Festschrift für Alfred E. Hierold zur Vollendung des 65. Lebensjahres, hrsg. von Wilhelm Rees/Sabine Demel/Ludger Müller (KStuT 53), Berlin 2007, S. 601 – 614; Josef Weber, Religionsfreiheit und Unwiderruflichkeit der Kirchenmitgliedschaft. Zur Problematik des Kirchenaustritts im Horizont des II. Vaticanums, in: Krönung oder Entwertung des Konzils? Das Verfassungsrecht der katholischen Kirche im Spiegel der Ekklesiologie des Zweiten Vatikanischen Konzils, hrsg. von Sabine Demel/Ludger Müller, Trier 2007, S. 56 – 73; Peter Krämer, Freiheit der Religionszugehörigkeit, Menschenrechte und Laizität des Staates, in: TThZ 117 (2008), S. 214 – 234; Heinrich Mussinghoff, Actus formalis defectionis ab Ecclesia catholica. Der Kirchenaustritt in Deutschland – Interpretation und Applikation des Päpstlichen Rates für die Gesetzestexte vom 13. März 2006, in: Malzenstwo i rodzina w prawie kanonicznym, polskim i miedzynarodowym. Ksiega pamiatkowa dedykowana ks. prof. Ryszardowi Sztychmilerowi, hrsg. von der Universität Ermland-Masuren, Allenstein 2008, S. 163 – 173; Andreas Weiß, Der actus formalis in Deutschland. Wir müssen in der eherechtlichen Bewertung des „Kirchenaustritts“ umdenken!, in: Rezeption des Zweiten Vatikanischen Konzils in Theologie und Kirchenrecht heute. Festschrift für Klaus Lüdicke zur Vollendung seines 65. Lebensjahres, hrsg. von Dominicus M. Meier/Peter Platen/Heinrich J. F. Reinhardt/ Frank Sanders (MK CIC. Beihefte 55), Essen 2008, S. 667 – 694; Georg Bier, Der Kirchenaustritt – ein Akt des Schismas?, in: ThPQ 156 (2008), S. 38 – 48; Alphonse Borras, Theologische Fragen zum „Kirchenaustritt“, in: ThQ 188 (2008), S. 86 – 100; Markus Graulich, Ist der Kirchenaustritt ein actus formalis defectionis ab Ecclesia catholica? – Ein Beitrag zur Diskussion, in: KuR (Neuwied) 14 (2008), S. 1 – 16; Christoph Ohly, Kirchenaustritt ohne

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chenstrafrechtliche Seite des staatlichen Kirchenaustritts sehr differenziert betrachtet werden kann37, darf man für Deutschland derzeit weiterhin von den folgenden kirchlichen Wirkungen des staatlichen Kirchenaustritts ausgehen:38 Der aus der Kirche ausgetretene Katholik gilt als exkommuniziert (vgl. c. 1331 CIC).39 Das bedeutet zum einen, dass er keine Sakramente mehr empfangen darf. Zum anderen sind ihm die Ausübung jeglicher Dienste und Ämter in der Kirche, etwa des Amtes eines Tauf- oder Firmpaten, oder eine Tätigkeit als Mitglied in kirchlichen Gremien (Pastoralrat der Diözese, Pfarrgemeinderat, Kirchenverwaltung, Kirchenvorstand u. a.) und in öffentlichen kirchlichen Vereinen untersagt; er verliert auch das aktive kirchliche Wahlrecht. Er kann regelmäßig auch nicht kirchlich bestattet werden (c. 1184 § 1 CIC).40 Steht der Ausgetretene in einem kirchlichen Anstellungsverhältnis, dann kann das Beschäftigungsverhältnis nicht weiter aufrechter-

Folgen? Kanonistische Überlegungen zu einer neu entfachten Diskussion, in: ThGl 98 (2008), S. 37 – 52; Bruno Primetshofer, Der Kirchenaustritt und seine rechtlichen Folgen, in: ThPQ 156 (2008), S. 34 – 38; Wolfgang F. Rothe, Ungestraft aus der Kirche austreten?, in: Theologisches 38 (2008), S. 21 – 24; Richard Puza, Literaturbericht. Ausgewählte Texte zum Thema Kirchenzugehörigkeit, Eintritt, Mitgliedschaft, Austritt, in: ThQ 188 (2008), S. 127 – 141; Stefan Rambacher, Das Rundschreiben des Päpstlichen Rates für die Gesetzestexte vom 13. März 2006 zum actus formalis und die darauf Bezug nehmende Erklärung der deutschen Bischöfe zum Kirchenaustritt vom 24. April 2006, in: DPM 15/16 (2008/2009), S. 219 – 244; Gruber, Actu formali ab Ecclesia Catholica deficere (Anm. 30); Stefan Muckel, Körperschaftsaustritt oder Kirchenaustritt. Der sogenannte Kirchenaustritt im Schnittfeld von staatlichem Verfassungsrecht und katholischem Kirchenrecht, in: Juristen Zeitung 64 (2009), S. 174 – 182; Haering, Kann man aus der Kirche austreten? (Anm. 27); Muckel, Kein „Körperschaftsaustritt“ als „Kirchensteueraustritt“ (Anm. 4); Martin Zumbült, Körperschaft des öffentlichen Rechts und Corpus Christi Mysticum, in: KuR (Neuwied) 16 (2010), S. 176 – 187; Stefan Muckel, Kirchenaustritt, „Körperschaftsaustritt“ und das Vorgehen Roms – Erwiderung auf Martin Zumbült und Überlegungen zu den Hintergründen der Diskussion, ebd., S. 188 – 191; Kirchenaustritt im staatlichen und kirchlichen Recht (Anm. 3); Günter Assenmacher, Der Kirchenaustritt aus der Sicht des Kirchenrechtes, in: PastBl. 63 (2011), S. 136 – 142; Markus Graulich, Der Kirchenaustritt und seine Folgen im kanonischen Recht, in: Religionsfreiheit im Kontext der Grundrechte. Religionsrechtliche Studien, Teil 2, hrsg. von Adrian Loretan, Zürich 2011, S. 331 – 359; ferner auch die beiden Beiträge von Zapp (Anm. 33). 37 Vgl. Löffler, Ungestraft aus der Kirche austreten? (Anm. 5), S. 259 – 292; Elmar Güthoff, Kirchenstrafrechtliche Aspekte des vor dem Staat vollzogenen Kirchenaustritts, in: Der Kirchenaustritt im staatlichen und kirchlichen Recht (Anm. 3), S. 124 – 144. 38 Für die im deutschen Sprachraum vorherrschende Auffassung steht der Standardbeitrag von Joseph Listl, Die Erklärung des Kirchenaustritts, in: HdbKathKR2, S. 209 – 219; RiedelSpangenberger, Art. Kirchenaustritt (Anm. 20), S. 465 f. 39 Zur Exkommunikation vgl. Wilhelm Rees, Die Strafgewalt der Kirche. Das geltende kirchliche Strafrecht – dargestellt auf der Grundlage seiner Entwicklungsgeschichte (KStuT 41), Berlin 1993, S. 385 – 388; Alphonse Borras, Art. Exkommunikation. III. Kath., in: LKStKR I, S. 657 – 660; Wilhelm Rees, Art. Exkommunikation, in: Lexikon des Kirchenrechts (Anm. 13), Sp. 277 f. 40 Siehe Heinrich J. F. Reinhardt, Das kirchliche Begräbnis, in: HdbKathKR2, S. 1016 – 1020, hier S. 1018.

Der Kirchenaustritt vor dem Staat und seine Konsequenzen

1135

halten werden.41 Übt er als staatlich angestellter Religionslehrer oder Theologieprofessor auch einen amtlichen kirchlichen Dienst aus, so wird ihm dieser kirchliche Auftrag durch Rücknahme der kirchlichen Missio canonica oder des bischöflichen Nihil obstat entzogen.42 Handelt es sich bei dem vor dem Staat aus der katholischen Kirche Ausgetretenen um einen Kleriker, dann verliert er aufgrund seiner Exkommunikation alle kirchlichen Ämter und darf keine geistlichen Handlungen mehr vornehmen. Ein Ordensmitglied, das den staatlichen Kirchenaustritt vollzieht, ist regelmäßig als ohne weiteres aus der Ordensgemeinschaft ausgeschlossen anzusehen (c. 694 § 1 CIC).43 Ausnahmen von den genannten Sanktionen werden in bestimmten Fällen gestattet. Wenn etwa ein aus der Kirche ausgetretener Sterbender vor dem Tod Zeichen der Reue gesetzt hat, kann ein kirchliches Begräbnis erfolgen, auch wenn es ihm nicht mehr möglich war, den Kirchenaustritt förmlich rückgängig zu machen.44 Ein anderes Beispiel für eine Ausnahme von den Rechtsfolgen der Exkommunikation bietet die kirchliche Eheschließung einer Katholikin mit einem aus der Kirche ausgetretenen Katholiken; hier kann zugunsten der Braut das gesetzliche Verbot, Sakramente zu empfangen, für den aus der Kirche ausgetretenen Bräutigam ausgesetzt und eine kirchliche Trauung, also die Feier der sakramentalen Ehe, gestattet werden (vgl. c. 1071 § 1 CIC).45 Die gegenwärtig bestehende Spannung zwischen der römischen und der deutschen Position in der Bewertung des staatlichen Kirchenaustritts sollte möglichst bald zu einem Ausgleich gebracht werden, der im Wesentlichen den deutschen Standpunkt zur Geltung kommen lässt. Ein Mittel dazu könnte der Erlass eines eigenen partikularen Strafgesetzes sein, das den Kirchenaustritt vor dem Staat als solchen in Deutschland zum kirchlichen Straftatbestand macht und für den Straftäter den Entzug wichtiger Rechte in der Kirche mit sich bringt. Gesetzgeber einer solchen Vorschrift könnte die Deutsche Bischofskonferenz sein, wenn sie ein entsprechendes

41

Grundordnung des kirchlichen Dienstes im Rahmen kirchlicher Arbeitsverhältnisse (i. d. F. vom 20. Juni 2011) Art. 5 Abs. 5, in: Kirchliches Arbeitsrecht (DDB 95), Bonn 2011, S. 20 – 28, hier S. 24. 42 Vgl. Ilona Riedel-Spangenberger, Art. Missio canonica, in: Lexikon des Kirchenrechts (Anm. 13), Sp. 662 – 664; Dies., Art. Nihil obstat, ebd., Sp. 677 f. 43 Siehe Bruno Primetshofer, Ordensrecht auf der Grundlage des CIC 1983 und des CCEO unter Berücksichtigung des staatlichen Rechts der Bundesrepublik Deutschland, Österreichs und der Schweiz, Freiburg 42003, S. 283; Rudolf Henseler/Dominicus Meier, in: MK CIC, Kommentar zu c. 694, Rdnr. 5 (44. Lfg., Februar 2009); Stephan Haering, Die Entlassung aus einem kanonischen Lebensverband, in: Rechtsschutz in der Kirche, hrsg. von Ludger Müller (Kirchenrechtliche Bibliothek 15), Wien/Berlin/Münster 2011, S. 107 – 126, hier S. 114. 44 Siehe Aymans-Mörsdorf KanR III, S. 549; Rüdiger Althaus, in: MK CIC, Kommentar zu c. 1184, Rdnr. 3 (45. Lfg., Dezember 2009). 45 Vgl. Klaus Lüdicke, in: MK CIC, Kommentar zu c. 1071, Rdnr. 6 und 7 (46. Lfg., August 2010).

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Mandat beim Apostolischen Stuhl erbittet und von diesem erhält (c. 455 § 1 CIC).46 Es könnten aber auch die einzelnen Diözesanbischöfe jeweils für ihre Bistümer entsprechende Gesetze erlassen, die freilich inhaltlich vollständig übereinstimmen und für alle deutschen Bistümer flächendeckend diesbezüglich eine einheitliche Rechtslage schaffen sollten.47 Letzteres liegt nicht nur aus sachlichen Gründen nahe, sondern es würde auch dem allgemeinen Auftrag des gesamtkirchlichen Gesetzgebers an die Diözesanbischöfe entsprechen, bei der partikularen kirchlichen Strafgesetzgebung auf nationale oder regionale Übereinstimmung zu achten (c. 1316 CIC).48 2. Evangelische Kirchen Die Behandlung der evangelischen Sichtweise und der Wirkungen des Kirchenaustritts in den evangelischen Kirchen kann kürzer ausfallen, nicht weil die Anzahl der Kirchenaustrittserklärungen für diese Konfession ein geringeres Problem darstellte als für die katholische Kirche, sondern weil keine kircheninternen Differenzen bezüglich der Bewertung des staatlichen Kirchenaustritts bestehen. Axel von Campenhausen zufolge sind die einzelnen evangelischen Kirchen gemäß ihrem Selbstverständnis jeweils rechtlich verfasste Partikularkirchen und bilden die „Schauseite“ der geistlichen Kirche Christi, die als solche dem menschlichen Recht nicht zugänglich und verfügbar ist.49 Deshalb wird im evangelischen kirchlichen Gliedschaftsrecht zwischen einer geistlichen Gliedschaft am Leibe Christi und der juristischen Mitgliedschaft in einer Landeskirche unterschieden. Die Taufe vermittelt die geistliche Gliedschaft. Die rechtliche Zugehörigkeit zu einer evangelischen Landeskirche setzt zusätzlich das evangelische Bekenntnis und den Wohnsitz im Bereich einer Landeskirche voraus. Im Unterschied zum Recht der katholischen Kirche bewirkt der staatliche Kirchenaustritt für die evangelischen Kirchen gemäß dem Kirchengesetz über die Kirchenmitgliedschaft § 10 Nr. 3 die vollständige Beendigung der rechtlichen Kirchen-

46

Vgl. Aymans-Mörsdorf KanR II, S. 287 f.; Oskar Stoffel, in: MK CIC, Kommentar zu c. 455, Rdnr. 3 (23. Erg.-Lfg., Oktober 1994). 47 Vgl. Güthoff, Kirchenstrafrechtliche Aspekte (Anm. 37), S. 139 – 142. 48 Vgl. Rees, Strafgewalt der Kirche (Anm. 39), S. 374. – Entsprechende diözesane Strafgesetze können ohne vorherige inhaltliche Abstimmung mit dem Apostolischen Stuhl erlassen werden. Allerdings müssten die gesetzgebenden Diözesanbischöfe damit rechnen, dass von interessierter Seite eine Überprüfung der Rechtmäßigkeit ihrer Strafgesetze zum Kirchenaustritt durch den Päpstlichen Rat für die Gesetzestexte veranlasst wird (vgl. Art. 158 PastBon). Daher dürfte es sich empfehlen, auf jeden Fall vor dem Erlass solcher Diözesangesetze informellen Kontakt mit dem Apostolischen Stuhl aufzunehmen und sich bezüglich des Inhalts der Gesetze des römischen Einvernehmens zu versichern. 49 von Campenhausen, Kirchenzugehörigkeit, Kirchenaustritt und Kirchensteuer aus protestantischer Sicht (Anm. 25), S. 62; vgl. auch ders., Art. Kirchenaustritt. III. Ev., in: LKStKR II, S. 466 – 468.

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mitgliedschaft.50 Der Ausgetretene verliert zwar nicht die Taufe und er bleibt Glied der geistlichen Größe Kirche Jesu Christi. Doch er hört mit seinem Austritt auf, ein Mitglied der rechtlich organisierten Kirche zu sein; er hat nicht nur staatlich, sondern auch kirchenrechtlich nichts mehr mit dieser Kirche zu tun. Das zieht natürlich auch gewisse Wirkungen nach sich. Alle Funktionen, für die Kirchenmitgliedschaft gefordert ist, bleiben dem staatlich Ausgetretenen versperrt, nicht weil er einer Kirchenstrafe unterliegt, sondern weil er rechtlich eben kein evangelischer Christ mehr ist. Denn er hat ein für die Kirchenmitgliedschaft entscheidendes Element aufgegeben, nämlich das evangelische Bekenntnis. Insoweit knüpft das evangelische Kirchenrecht viel unmittelbarer an staatliche Rechtsbestimmungen zur Kirchenzugehörigkeit an, als das Recht der katholischen Kirche es tut. In gewisser Weise kommt an dieser Stelle auch eine in Deutschland traditionell – im Vergleich mit der katholischen Kirche und mit anderen religiösen Bekenntnissen – weit größere Staatsnähe und Staatsbindung der evangelischen Kirchen zur Geltung, die bereits im Jahrhundert der Reformation mit der Einsetzung der protestantischen Landesfürsten als „Notbischöfe“ ihren Anfang nahm und bis zur Trennung von Staat und Kirche in der Weimarer Republik unvermindert wirksam blieb. Neuerdings werden im evangelischen Bereich freilich auch Überlegungen angestellt, Formen einer (rechtlich) gestuften kirchlichen Mitgliedschaft zu schaffen. Dahinter steht eine doppelte Zielsetzung, nämlich einerseits konfessionslose Menschen leichter zu erreichen und in einer eher lockeren Form kirchlich einzubinden und andererseits Mitglieder, die den Austritt bereits erwägen, irgendwie bei der Kirche zu halten.51 3. Orthodoxe Kirchen Die orthodoxen Kirchen stehen in ihrer Gliedschaftslehre der katholischen Kirche relativ nahe.52 Der Kirchenaustritt vor dem Staat berührt für diese Kirchen in keiner Weise die durch die sakramentale Initiation grundgelegte Bindung an die Kirche; es gilt also das Prinzip: semel orthodoxus, semper orthodoxus.53 Die in Deutschland vertretenen orthodoxen Kirchen sind nicht alle als Körperschaften des öffentlichen Rechts etabliert. Nur die derart organisierten orthodoxen Kirchen sehen sich mit dem Phänomen des Kirchenaustritts vor dem Staat konfron-

50 § 10 KMitG: „Die Kirchenmitgliedschaft endet … 3. mit dem Wirksamwerden der nach staatlichem Recht zulässigen Austrittserklärung.“ 51 Vgl. dazu Jörg Ennuschat, Kirchenzugehörigkeit ohne Kirchenmitgliedschaft?, in: ZevKR 55 (2010), S. 275 – 289. 52 Zum Standpunkt der orthodoxen Kirchen zu diesem Thema siehe Monica-Elena Herghelegiu, Kirchenzugehörigkeit und „Kirchenaustritt“. Eine orthodoxe Perspektive, in: ThQ 188 (2008), S. 112 – 126. 53 Herghelegiu, Kirchenzugehörigkeit und „Kirchenaustritt“ (Anm. 52), S. 126.

1138

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tiert.54 Sie können ihn kirchenrechtlich als Akt des Abfalls von der Kirche werten. Wie die einzelnen orthodoxen Kirchen konkret mit Fällen des staatlichen Kirchenaustritts umgehen, ist jedoch nicht öffentlich bekannt. Ein Ausschluss von den Sakramenten erfolgt mit Gewissheit nur bei jenen ursprünglich orthodoxen Christen, die sich einer anderen Konfession oder Religionsgemeinschaft zuwenden und dort förmlich als Mitglied anschließen.55 IV. Zusammenfassende Bemerkungen Bei der Betrachtung des Rechtsinstituts des Kirchenaustritts vor dem Staat sind der staatliche und der kirchliche Bereich klar zu unterscheiden. Ein religiös neutraler Staat, der aber die Religionsgesellschaften positiv zur Kenntnis nimmt, den bedeutenderen unter ihnen eine besondere rechtliche Stellung einräumt und mit ihnen auch in rechtserheblicher Weise kooperiert, muss darauf bedacht sein, dass dem Bürger das Recht auf Religionsfreiheit uneingeschränkt gewahrt bleibt.56 Dies geschieht unter anderem dadurch, dass er für seinen Bereich das Rechtsinstitut des Kirchenaustritts zur Verfügung stellt und damit dem einzelnen Bürger die Möglichkeit bietet, sich wenigstens für den staatlichen Rechtsbereich von allen Folgen einer Zugehörigkeit zur Kirche zu lösen. Dabei muss der Staat sich aber auch streng auf seinen Bereich beschränken und insoweit die Eindeutigkeit einer Kirchenaustrittserklärung gewährleisten. Es ist von erheblichem Interesse, ob aufgrund des Revisionsverfahrens vor dem Bundesverwaltungsgericht zur Causa Zapp neue Entwicklungen bezüglich einer mit Zusätzen versehenen Erklärung des Kirchenaustritts zu verzeichnen sein werden. Die Kirchen ziehen Konsequenzen aus der Erklärung des Kirchenaustritts vor der staatlichen Behörde, soweit sich solche gemäß ihrem Selbstverständnis und ihrer Ekklesiologie ergeben müssen. Für die evangelischen Kirchen ist mit dem staatlichen Kirchenaustritt die rechtliche Kirchenmitgliedschaft beendet; der Ausgetretene gehört nicht mehr zur Kirche. Die katholische Kirche hält an der kirchlichen Zugehörigkeit des staatlich Ausgetretenen fest, belegt ihn aber mit erheblichen rechtlichen Beschränkungen. Bezüglich der orthodoxen Kirchen erscheint die rechtliche Praxis des Umgangs mit dem staatlichen Kirchenaustritt unübersichtlich. Ein staatlicher Kirchenaustritt darf für die großen Kirchen aber nicht das letzte Ereignis in der Beziehung zu einem getauften Menschen sein. Dem missionarischen Auftrag gemäß, der den Kirchen wesenhaft eignet, sind sie darum bemüht, auch diese Menschen zum öffentlichen Bekenntnis zu Jesus Christus und zur vollberechtigten 54 Siehe den Überblick bei Herghelegiu, Kirchenzugehörigkeit und „Kirchenaustritt“ (Anm. 52), S. 122 f. 55 Siehe Herghelegiu, Kirchenzugehörigkeit und „Kirchenaustritt“ (Anm. 52), S. 123. 56 Zum Grundrecht der Religionsfreiheit in der deutschen Verfassungsordnung umfassend Axel Freiherr von Campenhausen, Religionsfreiheit, in: Handbuch des Staatsrechts Bd. 7 (Anm. 12), S. 579 – 662.

Der Kirchenaustritt vor dem Staat und seine Konsequenzen

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und aktiven Gliedschaft in der Kirche zurückzugewinnen. In der katholischen Kirche ist es den Bischöfen und den Pfarrern ausdrücklich von Gesetzes wegen aufgetragen, sich um die von Glauben und Kirche abständigen Getauften zu sorgen (vgl. cc. 383 § 1, 528 § 1 CIC). Gelingt es, solche Getaufte zu einem Leben nach ihrer christlichen Berufung zu führen, dann nützt es diesen Menschen zum Heil – für Zeit und Ewigkeit. Es nützt aber zweifellos auch unserem deutschen Gemeinwesen in erheblichem Maße, wenn die Bürger die geistige Tradition des europäisch-abendländischen Christentums im öffentlichen und im privaten Bereich respektvoll bewahren, aktiv aufgreifen und gestaltend fortführen. Denn der freiheitliche Rechtsstaat und unsere säkulare Gesellschaft sind mittel- und langfristig dringend darauf angewiesen, dass ihre geistigen Fundamente eine breite Akzeptanz und Stützung in der Bevölkerung erfahren. Andernfalls werden diese Fundamente in gefährlicher Weise erodieren.57

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Das sattsam bekannte sogenannte „Böckenförde-Diktum“ bringt diesen Sachverhalt klar auf den Punkt: „Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann.“ Ernst-Wolfgang Böckenförde, Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation, in: ders., Kirche und christlicher Glaube in den Herausforderungen der Zeit. Beiträge zur politisch-theologischen Verfassungsgeschichte 1957 – 2002, fortgeführt bis 2006 (Wissenschaftliche Paperbacks 25: Rechtswissenschaft), Berlin 22007, S. 213 – 230, hier S. 229; vgl. auch Stephan Haering, Bayern auf dem Weg zum laizistischen Staat?, in: KlBl. 91 (2011), S. 109 – 111.

Bibliographie Hans Paarhammer Zusammengestellt von Stephan Haering und Gerlinde Katzinger* I. Monographien 1. Der Spender der Sakramente. Eine rechtssprachliche Untersuchung, Salzburg 1973 [Diplomarbeit an der Universität Salzburg zur Erlangung des Grades eines Magisters der Theologie; ungedrucktes Manuskript]. 2. Das Salzburger Offizialatskonsistorium von seinen Anfängen bis zum Konzil von Trient (1300 – 1569). Diss. theol. Salzburg 1976 – Gedruckt: Rechtsprechung und Verwaltung des Salzburger Offizialates (1300 – 1569) (Dissertationen der Universität Salzburg 8), Wien: Verband der wissenschaftlichen Gesellschaften Österreichs 1977. 3. Das Kollegiatstift Seekirchen. Eine Institution bischöflichen Rechts im Dienste der Gemeindeseelsorge, Diss. habil. Graz 1981. – Gedruckt: Thaur: Österreichischer Kulturverlag o. J. [1982]. 4. Pfarrei und Pfarrer im neuen CIC. Rechtliche Ordnung der Seelsorge, der Verkündigung des Wortes Gottes und der Feier der Sakramente in der Christengemeinde, Wien/München: Herold 1983 (zusammen mit Gerhard Fahrnberger).

II. Herausgeberschaft Bücher 1.

Recht im Dienste des Menschen. Eine Festgabe. Hugo Schwendenwein zum 60. Geburtstag, Graz/Wien/Köln: Styria 1986 (zusammen mit Klaus Lüdicke/Dieter A. Binder).

2.

Administrator bonorum. Oeconomus tamquam paterfamilias. Sebastian Ritter zum 70. Geburtstag, Thaur: Österreichischer Kulturverlag 1987. a) 2. Aufl.: Dass., unter dem Obertitel: Vermögensverwaltung in der Kirche, Thaur: Österreichischer Kulturverlag 1988.

3.

Kirchliches Finanzwesen in Österreich. Geld und Gut im Dienste der Seelsorge, Thaur: Österreichischer Kulturverlag 1989.

* Stand: 27. November 2011. – Bei der Erstellung des vorliegenden Verzeichnisses konnte für den Erscheinungszeitraum bis 1. März 1995 zurückgegriffen werden auf: Verzeichnis der Schriften von Hans Paarhammer (1971 – 1995). Zusammengestellt von Bernhard Ausweger/ Stephan Haering, in: Stephan Haering/Josef Kandler (Hrsg.), Salzburger Miszellen. Gewidmet Hans Paarhammer, Salzburg 1996, S. 455 – 464; zugleich in: Mitteilungen der Gesellschaft für Salzburger Landeskunde 135 (1995), S. 455 – 464.

1142

Bibliographie Hans Paarhammer

4.

Uni Trinoque Domino. Karl Berg – Bischof im Dienste der Einheit. Eine Festgabe. Erzbischof Karl Berg zum 80. Geburtstag, Thaur: Österreichischer Kulturverlag 1989 (zusammen mit Franz-Martin Schmölz).

5.

Pax et iustitia. Festschrift für Alfred Kostelecky zum 70. Geburtstag, Berlin: Duncker & Humblot 1990 (zusammen mit Hans Walther Kaluza/Hans R. Klecatsky/Heribert Franz Köck).

6.

Scientia canonum. Festgabe für Franz Pototschnig zum 65. Geburtstag, München: Roman Kovar 1991 (zusammen mit Alfred Rinnerthaler).

7.

Im Dienst des Guten Hirten. Papst Johannes Paul II. an die Priester, Thaur: Kulturverlag 1993.

8.

Neue Positionen des Kirchenrechts, Graz: Ulrich Moser (Styria Medienservice) 1994 (zusammen mit Klaus Lüdicke/Dieter A. Binder).

9.

60 Jahre Österreichisches Konkordat (Veröffentlichungen des Internationalen Forschungszentrums für Grundfragen der Wissenschaften Salzburg, Neue Folge 56), München: Roman Kovar 1994 (zusammen mit Franz Pototschnig/Alfred Rinnerthaler).

10. Berg, Karl, Cäsarius von Arles. Ein Bischof des sechsten Jahrhunderts erschließt das liturgische Leben seiner Zeit. Festgabe zum 85. Geburtstag des Verfassers Alterzbischof DDr. Dr. h.c. Karl Berg (Frühes Christentum. Forschungen und Perspektiven 1), Thaur: Kulturverlag 1994 (zusammen mit Peter Hofrichter). 11. Deus Caritas. Jakob Mayr. Festgabe – 25 Jahre Weihbischof von Salzburg, Thaur: Druck& Verlagshaus o. J. [1996]. 12. Staat und Kirche in der „Ostmark“ (Veröffentlichungen des Internationalen Forschungszentrums für Grundfragen der Wissenschaften Salzburg, Neue Folge 70), Frankfurt am Main u. a.: Peter Lang 1998 (zusammen mit Maximilian Liebmann/Alfred Rinnerthaler). 13. Österreich und der Heilige Stuhl im 19. und 20. Jahrhundert (Veröffentlichungen des Internationalen Forschungszentrums für Grundfragen der Wissenschaften Salzburg, Neue Folge 78), Frankfurt am Main u. a.: Peter Lang 2001 (zusammen mit Alfred Rinnerthaler). 14. Salzburg und der Heilige Stuhl im 19. und 20. Jahrhundert. Festgabe zum 75. Geburtstag von Erzbischof Georg Eder (Veröffentlichungen des Internationalen Forschungszentrums für Grundfragen der Wissenschaften Salzburg, Neue Folge 84), Frankfurt am Main u. a.: Peter Lang 2003 (zusammen mit Alfred Rinnerthaler). 15. Kirche in einer säkularisierten Gesellschaft, Innsbruck/Wien/Bozen: StudienVerlag 2006 (zusammen mit Dieter A. Binder/Klaus Lüdicke). 16. Kirche und Staat im Horizont einer globalisierten Welt (Wissenschaft und Religion 21), Frankfurt am Main u. a.: Peter Lang 2009 (zusammen mit Gerlinde Katzinger).

Reihen 17. Wissenschaft und Religion, Frankfurt am Main u. a.: Peter Lang 2003 ff. (zusammen mit Alfred Rinnerthaler), bislang 24 Bände. 18. Kirchenrecht im Taschenbuch, Wien u. a.: LIT 2008 ff. (zusammen mit Gerlinde Katzinger), bislang 2 Bände.

Bibliographie Hans Paarhammer

1143

III. Beiträge in Zeitschriften und Sammelwerken 1.

Zur Rechtsgeschichte des Kollegiatstiftes Seekirchen (1679 – 1979), in: Rupert in Seekirchen. 300 Jahre Kollegiatstift, hrsg. vom Stiftspfarramt Seekirchen, o.O. o. J. [Seekirchen: Stiftspfarramt 1979], S. 60 – 68.

2.

Das Strafverfahren, in: Grundriß des nachkonziliaren Kirchenrechts, hrsg. von Joseph Listl/Hubert Müller/Heribert Schmitz, Regensburg: Friedrich Pustet 1980, S. 817 – 824.

3.

Pfarrei und Pfarrer im neuen CIC. (Leitlinien zum Inkrafttreten des neuen kirchlichen Gesetzbuches), in: Wiener Diözesanblatt 121 (1983), Beilage zu Nr. 12, S. I – III.

4.

Das Strafverfahren, in: Handbuch des katholischen Kirchenrechts, hrsg. von Joseph Listl/ Hubert Müller/Heribert Schmitz, Regensburg: Friedrich Pustet 1983, S. 1002 – 1011.

5.

Die geistliche Gerichtsbarkeit, in: Geschichte Salzburgs. Stadt und Land, hrsg. von Heinz Dopsch/Hans Spatzenegger, Salzburg: Anton Pustet Bd. I/2, 1983, S. 1054 – 1070; Bd. I/3, 1984, S. 1541 – 1545.

6.

Freiheit und Bindung. Anmerkungen zum neuen Ordensrecht, in: Jetzt. Ordensfrauen – Ordensleben – Kirche/Information – Konfrontation 17 (1984), H. 4, S. 14 – 16.

7.

Kirche und Staat in Österreich, in: uni-aktuell. Die Zeitschrift der Universität Salzburg, Studienjahr 84/85, Nr. 2 vom November 1984, S. 6 – 10.

8.

Die Beziehungen des Klosters Michaelbeuern zum Erzbischof von Salzburg, in: Benediktinerabtei Michaelbeuern. Eine Dokumentation anläßlich der Eröffnung und Weihe der neu adaptierten Räume für Internat, Schule und Bildungsarbeit, Michaelbeuern: Benediktinerabtei 1985, S. 119 – 131.

9.

Kirche und Staat in der zweiten Republik, in: Im Dienst von Kirche und Staat. In memoriam Carl Holböck, hrsg. von Franz Pototschnig/Alfred Rinnerthaler (Kirche und Recht 17), Wien: Verband der wissenschaftlichen Gesellschaften Österreichs 1985, S. 557 – 576.

10. „Sollicita ac provida“. Neuordnung von Lehrbeanstandung und Bücherzensur in der katholischen Kirche im 18. Jahrhundert, in: Ministerium iustitiae. Festschrift für Heribert Heinemann zur Vollendung des 60. Lebensjahres, hrsg. von Andr¦ Gabriels/Heinrich J.F. Reinhardt, Essen: Ludgerus 1985, S. 343 – 361. 11. Die Pfarre als Festgemeinde, in: Unser Salzburg, hrsg. von Josef Stöger, Salzburg: Druckhaus-Nonntal-Bücherdienst 1985, S. 225 – 229. a) Dass., 2. Aufl.: Unser Salzburg. Heimatkunde in Wort und Bild, hrsg. von Josef Stöger, Salzburg: Druckhaus-Nonntal-Bücherdienst 1987, S. 257 – 261. 12. Neuordnung des Verfahrens zur Absetzung und Versetzung von Pfarrern im CIC, in: Archiv für katholisches Kirchenrecht 154 (1985), S. 452 – 489. 13. Das spezielle Strafrecht des CIC, in: Recht im Dienste des Menschen. Eine Festgabe. Hugo Schwendenwein zum 60. Geburtstag, hrsg. von Klaus Lüdicke/Hans Paarhammer/Dieter A. Binder, Graz/Wien/Köln: Styria 1986, S. 403 – 466. 14. Einführung in das Ordensrecht des neuen Codex Iuris Canonici, in: Ordensnachrichten 25 (1986), S. 395 – 406. 15. Wolf Dietrich als geistliche Persönlichkeit, in: Fürsterzbischof Wolf Dietrich von Raitenau. Gründer des barocken Salzburg/4. Salzburger Landesausstellung, 16. Mai – 26. Ok-

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Bibliographie Hans Paarhammer

tober 1987 im Residenz-Neugebäude und im Dommuseum zu Salzburg, hrsg. vom Amt der Salzburger Landesregierung – Kulturabteilung, Salzburg: Landesregierung 1987, S. 84 – 86. 16. Wolf Dietrich Erzbischof und Metropolit, in: Ebd., S. 104 – 112. 17. Wolf Dietrich und das Domkapitel, in: Ebd., S. 113 – 118. 18. Wolf Dietrichs Zerwürfnis mit Bischof Sebastian Cattaneo, in: Ebd., S. 119 – 122. 19. Die Errichtung von Kirchengebäuden gemäß den Bestimmungen des allgemeinen und partikulären Kirchenrechts, in: Bauten der Erzdiözese Salzburg 1946 – 1986, hrsg. vom Bauamt der Erzdiözese Salzburg, Salzburg: Bauamt der Erzdiözese 1987, S. 9 – 24. 20. Aktuelle Fragen der kirchlichen Vermögensverwaltung im pfarrlichen Bereich unter besonderer Berücksichtigung der Salzburger Verhältnisse, in: Administrator bonorum. Oeconomus tamquam paterfamilias. Sebastian Ritter zum 70. Geburtstag, hrsg. von Hans Paarhammer, Thaur: Österreichischer Kulturverlag 1987, S. 283 – 318. a) Dass., 2. Aufl. unter dem Obertitel „Vermögensverwaltung in der Kirche“, Thaur: Österreichischer Kulturverlag 1988, S. 283 – 318. 21. Brauchtum im Zeichen unserer Zeit, in: Salzburger Heimatpflege 12 (1988), Nr. 2, S. 153 – 160. 22. Kirchliche Rechtsordnung und Religionsunterricht. Zur Frage der Elementarisierung kirchenrechtlicher Inhalte, in: Religionsunterricht heute. Seine elementaren theologischen Inhalte. Mit einem Nachwort von Günter Biemer, hrsg. von Albert Biesinger/Thomas Schreijäck, Freiburg im Breisgau/Basel/Wien: Herder 1989, S. 240 – 263. 23. Die vermögensrechtlichen Beziehungen zwischen Kirche und Staat auf der Grundlage des Konkordatsrechtes, in: Kirchliches Finanzwesen in Österreich. Geld und Gut im Dienste der Seelsorge, hrsg. von Hans Paarhammer, Thaur: Österreichischer Kulturverlag 1989, S. 189 – 252. 24. Grundlagen und Grundsätze der kirchlichen Finanzwirtschaft auf der Ebene der Diözese, in: Ebd., S. 269 – 301. 25. Kirchenprovinz – Metropolit – Provinzialkonzil, in: Uni Trinoque Domino. Karl Berg – Bischof im Dienste der Einheit. Eine Festgabe. Erzbischof Karl Berg zum 80. Geburtstag, hrsg. von Hans Paarhammer/Franz-Martin Schmölz, Thaur: Österreichischer Kulturverlag 1989, S. 469 – 496. 26. „Kirche und Nationalsozialismus. Mit Zeitzeugen im Gespräch“, in: 1938 Kirche in Österreich 1988. Eine Dokumentation, hrsg. von Maximilian Liebmann (Grazer Beiträge zur Theologiegeschichte und Kirchlichen Zeitgeschichte 4), Graz/Wien/Köln: Styria 1990, S. 303 – 307 [zusammenfassender Bericht zu einer Lehrveranstaltung der Theologischen Fakultät Salzburg]. 27. Rechtliche Ordnung der Militärseelsorge. Universal- und partikularrechtliche Bestimmungen, in: Pax et iustitia. Festschrift für Alfred Kostelecky zum 70. Geburtstag, hrsg. von Hans Walther Kaluza u. a., Berlin: Duncker & Humblot 1990, S. 463 – 501. 28. Das Kirchenrecht im Dienste der Seelsorge, in: Theologisch-praktische Quartalschrift 139 (1991), S. 4 – 19.

Bibliographie Hans Paarhammer

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29. Die geistliche Gerichtsbarkeit des Erzbischofs von Salzburg an der Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert, in: Fides et ius. Festschrift für Georg May zum 65. Geburtstag, hrsg. von Winfried Aymans/Anna Egler/Joseph Listl, Regensburg: Friedrich Pustet 1991, S. 317 – 350. 30. „Speciali autem modo a patrinis“. Überlegungen zum Patenamt im geltenden Kirchenrecht, in: Scientia canonum. Festgabe für Franz Pototschnig zum 65. Geburtstag, hrsg. von Hans Paarhammer/Alfred Rinnerthaler, München: Roman Kovar 1991, S. 377 – 398. 31. Bischofsbestellung im CCEO. Patriarchen- und Bischofswahl und andere Formen der Bischofsbestellung, in: Archiv für katholisches Kirchenrecht 160 (1991), S. 390 – 407. 32. Feste feiern – Grundlagen, Bedeutung und Form, in: Salzburger Volkskultur 16 (1992), Nr. 3, S. 43 – 49. 33. Kirchenfinanzierung im Spannungsfeld von Kirche und Staat. Konflikte und ihre Lösungen, gestern – heute – morgen, in: Christliche Verantwortung in der Politik. Festschrift für Franz-Martin Schmölz, hrsg. von Gertraud Putz u. a. (Veröffentlichungen des Internationalen Forschungszentrums für Grundfragen der Wissenschaften Salzburg, Neue Folge 53), Innsbruck/Wien: Tyrolia 1992, S. 333 – 353. 34. Vermögensrechtliche Aspekte der kulturellen Diakonie der Kirche im Spannungsfeld von Kirche und Staat, in: Kulturförderung in den Alpenländern. Theorie und Praxis. Fritz Prior zum 70. Geburtstag, hrsg. von Clemens-August Andreae (†)/Christian Smekal unter Mitarbeit von Ilse Andreae in Zusammenarbeit mit der Kulturabteilung der Tiroler Landesregierung (Tiroler Wirtschaftsstudien 43), Innsbruck: Wagner 1992, S. 399 – 415. 35. Die Feier der Hochzeit. Im besonderen: Der Hochzeitslader, in: Salzburger Volkskultur 17 (1993), Nr. 1, S. 75 – 81. 36. Das Schützenbrauchtum im Spiegel der Herausforderung unserer Zeit, in: Salzburger Volkskultur 17 (1993), Nr. 2, S. 120 – 124. 37. Streiflichter der rechtsgeschichtlichen Entwicklung des Patenamtes von den Anfängen bis zum Konzil von Trient, in: Österreichisches Archiv für Kirchenrecht 42 (1993), S. 80 – 99. 38. Teufel – Krampus – Nikolaus. Die Entwicklung mittwinterlicher Brauchgestalten aus Sicht der Kirche, in: Salzburger Perchtenbrauch. Tagungsband zum Salzburger Perchten-Symposion Maske, Mystik, Brauch. Burg Hohenwerfen, 13. bis 15. November 1992, hrsg. vom Landesverband Salzburger Volkskultur, Salzburg: Salzburger Volkskultur o. J. [1994], S. 71 – 80. 39. Rechtliche Grundlagen und praktische Handhabung, in: Das Testament des Weltpriesters. Salzburg: Erzbischöfliches Ordinariat 1994 [Beilage zum Verordnungsblatt der Erzdiözese Salzburg Nr. 11 vom November 1994], S. 1 – 10. 40. Päpstlich delegierte Richter im mittelalterlichen Salzburg. Ein Beitrag zur Geschichte der geistlichen Gerichtsbarkeit des 12. und 13. Jahrhunderts, in: Iuri canonico promovendo. Festschrift für Heribert Schmitz zum 65. Geburtstag, hrsg. von Winfried Aymans/KarlTheodor Geringer unter Mitwirkung von Peter Krämer/Ilona Riedel-Spangenberger, Regensburg: Friedrich Pustet 1994, S. 729 – 767. 41. Die Diözesansynode in ihrer gegenwärtigen Rechtsgestalt. Anmerkungen zum geltenden Recht und zu partikulären Neuentwicklungen des kirchlichen Synodalwesens auf Diözes-

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anebene, in: Neue Positionen des Kirchenrechts, hrsg. von Klaus Lüdicke/Hans Paarhammer/Dieter A. Binder, Graz: Ulrich Moser (Styria Medienservice) 1994, S. 81 – 117. 42. Probleme des Kirchenbeitragswesens, in: 60 Jahre Österreichisches Konkordat, hrsg. von Hans Paarhammer/Franz Pototschnig/Alfred Rinnerthaler (Veröffentlichungen des Internationalen Forschungszentrums für Grundfragen der Wissenschaften Salzburg, Neue Folge 56), München: Roman Kovar 1994, S. 545 – 561. 43. Die rechtsgeschichtliche Entwicklung des Patenamtes vom Trienter Konzil bis zum CIC/ 1917, in: Österreichisches Archiv für Kirchenrecht 44 (1995 – 97), S. 166 – 196. 44. Das Salzburger Konsistorium in seiner rechtsgeschichtlichen Entwicklung, in: Deus Caritas. Jakob Mayr. Festgabe – 25 Jahre Weihbischof von Salzburg, hrsg. von Hans Paarhammer, Thaur: Druck- & Verlagshaus o. J. [1996], S. 407 – 487. 45. „Te saxa loquuntur – Von Dir reden die Steine“, in: Vorträge am österreichischen Betontag 1996, hrsg. vom Österreichischen Betonverein (Schriftenreihe des Österreichischen Betonvereins 27), Wien: Bankl 1996, S. 5 – 10. 46. Schützenbrauch und religiöser Kult, in: Salzburgs Schützen und Bürgergarden. Landesverteidigung und Brauchtum, hrsg. von Friederike Zaisberger/Harald Dengg (Schriftenreihe des Museumsvereines Werfen 13), Salzburg: Landesverband Salzburger Volkskultur 1996, S. 59 – 84. 47. Die kirchenrechtlichen Beziehungen des Erzbischofs von Salzburg zur Stadt Ptuj im Mittelalter, in: Ptujer Stadtrecht im mitteleuropäischen Raum. Stadtrecht von 1376, Ptuj 1997, S. 203 – 216. 48. Ein geistliches Wort zum Gut-Hirten-Sonntag, in: Verordnungsblatt der Erzdiözese Salzburg 80 (1997) (Beilage), S. 3 – 8 (gemeinsam mit Kardinal Christoph Schönborn und den Regenten der österreichischen Priesterseminare). 49. Der Kirchenaustritt und seine Folgen in der NS-Zeit, in: Staat und Kirche in der „Ostmark“, hrsg. von Maximilian Liebmann/Hans Paarhammer/Alfred Rinnerthaler (Veröffentlichungen des Internationalen Forschungszentrums für Grundfragen der Wissenschaften Salzburg, Neue Folge 70), Frankfurt am Main u. a.: Peter Lang 1998, S. 281 – 308. 50. Die Salzburger Erzbischöfe als Appellationsinstanz. Anmerkungen zur geistlichen Gerichtsbarkeit in der Kirchenprovinz Salzburg im Mittelalter, in: 1200 Jahre Erzbistum Salzburg. Dom und Geschichte, hrsg. vom Domkapitel zu Salzburg, Salzburg: Salzburger Druckerei 1998, S. 185 – 200. 51. Erzbischof Dr. Georg Eder – der erste Pfarrer auf dem Stuhl des hl. Rupert, in: Verordnungsblatt der Erzdiözese Salzburg 81 (1998), Nr. 4/2, S. 3 – 17. 52. Amt und Würde des Metropoliten gemäß den rechtlichen Bestimmungen der lateinischen Kirche und der katholischen Ostkirchen. Eine rechtsvergleichende Darstellung. Festrede anläßlich der Versammlung der Domkapitel von Salzburg, München-Freising, Regensburg, Passau, Brixen, Gurk und Graz-Seckau in Maria Plain am 23. Mai 1998, in: Verordnungsblatt der Erzdiözese Salzburg 81 (1998), Nr. 5/4, S. 1 – 27. 53. Johann Pramer und Jakob Haushaimer. Zwei Salzburger Generalvikare und Offiziale am Vorabend der Reformation, in: Gnade und Recht. Beiträge aus Ethik, Moraltheologie und Kirchenrecht. Festschrift für Gerhard Holotik zur Vollendung des 60. Lebensjahres, hrsg.

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von Stephan Haering/Josef Kandler/Raimund Sagmeister (Schriftenreihe des ErzbischofRohracher-Studienfonds 5), Frankfurt am Main u. a.: Peter Lang 1999, S. 473 – 495. 54. Die Krankensalbung, in: Handbuch des katholischen Kirchenrechts, 2., vollständig neubearb. Aufl., hrsg. von Joseph Listl/Heribert Schmitz, Regensburg: Friedrich Pustet 1999, S. 862 – 866. 55. Das Strafverfahren, in: Ebd., S. 1212 – 1222. 56. Besiedelung und Kultivierung im Spiegel von Urkunden und Urbaren, in: Heimat Koppl. Chronik der Gemeinde, hrsg. von der Gemeinde Koppl, Koppl: Eigenverlag 2000, S. 86 – 99. 57. Rechtsprechung und Verwaltung, in: Ebd., S. 100 – 122. 58. Vom Vikariat zur Pfarrgemeinde. Geschichte der Seelsorge und des pfarrlichen Lebens, in: Ebd., S. 125 – 209. 59. Augustin Winklhofer, der „hochgelehrte Seelsorger“, in: Ebd., S. 248 – 253. 60. Aus der Pfarre Koppl stammende Priester und Ordensleute, in: Ebd., S. 257 – 264. 61. Prof. Dr. Joseph Anton Schöpf, in: Ebd., S. 267 – 272. 62. Koppl im Medienzeitalter, in: Ebd., S. 362 – 365. 63. Der Tiroler Anteil des Erzbistums Salzburg. Kanonistische Anmerkungen zum Problem der Zirkumskription von Teilkirchen, in: Tradition – Wegweisung in die Zukunft. Festschrift für Johannes Mühlsteiger SJ zum 75. Geburtstag, hrsg. von Konrad Breitsching/Wilhelm Rees (Kanonistische Studien und Texte 46), Berlin: Duncker & Humblot 2001, S. 147 – 172. 64. Entscheidung der Konzilskongregation zum Kollegiatstift Seekirchen, in: Österreich und der Heilige Stuhl im 19. und 20. Jahrhundert, hrsg. von Hans Paarhammer/Alfred Rinnerthaler (Veröffentlichungen des Internationalen Forschungszentrums für Grundfragen der Wissenschaften Salzburg, Neue Folge 78), Frankfurt am Main u. a.: Peter Lang 2001, S. 169 – 185. 65. Bemühungen des Salzburger Fürsterzbischofs und Metropoliten Maximilian Joseph Kardinal von Tarnoczy zu einer Neuordnung der Zirkumskription der Suffraganbistümer, in: Ojnikov Zbornik. Zbornik ob 70-letnici rojstva profesorja ddr. Stanislava Ojnika clana Evropske akademije znanosti in umetnosti (Historia iuris 1), Maribor 2002, S. 19 – 30. 66. Die Rezeption des kanonischen Eherechts im Erzbistum Salzburg seit dem Konzil von Trient bis zum CIC 1917, in: Iudicare inter fideles. Festschrift für Karl Theodor Geringer zum 65. Geburtstag, hrsg. von Winfried Aymans/Stephan Haering/Heribert Schmitz, St. Ottilien: EOS 2002, S. 303 – 317. 67. Gegenwart zwischen Religion und Kommerz, in: Bräuche im Salzburger Land. Zeitgeist, Lebenskonzepte, Rituale, Trends, Alternativen. Im Winter und zur Weihnachtszeit, hrsg. von Lucia Luidold/Ulrike Kammerhofer Aggermann, Salzburg 2002 (erschienen auf CDROM). 68. Gemeinde und Familienfeier heute, in: Ebd. 69. Fastenzeit in der katholischen Kirche heute, in: Bräuche im Salzburger Land. Zeitgeist, Lebenskonzepte, Rituale, Trends, Alternativen. Vom Frühling bis zum Herbst, hrsg. von

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Lucia Luidold/Ulrike Kammerhofer Aggermann, Salzburg 2003 (erschienen auf CDROM). 70. Die Gesetzgebung der Salzburger Erzbischöfe auf den Diözesensynoden des 20. Jahrhunderts, in: Ius canonum in oriente et occidente. Festschrift für Carl Gerold Fürst zum 70. Geburtstag, hrsg. von Hartmut Zapp/Andreas Weiß/Stefan Korta (Adnotationes in ius canonicum 25), Frankfurt am Main u. a.: Peter Lang 2003, S. 311 – 328. 71. St. Erhard im Nonntal und das Dom- und Metropolitankapitel zu Salzburg, in: Für Gott und die Menschen. Festgabe zur Jubiläumsfeier 150 Jahre Stadtpfarre St. Erhard im Nonntal 1853 – 2003, hrsg. von Peter Unkelbach, Salzburg: Stadtpfarramt St. Erhard 2003, S. 39 – 42. 72. Das kirchliche Sonn- und Feiertagsrecht im Spiegel der gesellschaftlichen Veränderungen im 18. und 19. Jahrhundert, in: Scientia iuris et historia. Festschrift für Peter Putzer zum 65. Geburtstag, hrsg. von Ulrike Aichhorn/Alfred Rinnerthaler, Egling an der Paar: Roman Kovar 2004, S. 643 – 662. 73. Der kanonische Pfarrer und die Hebammen. Rechtshistorische Reminiszenzen und partikularrechtliche Anmerkungen zu einem kirchenrechtlichen Problem an der Schnittstelle des Verhältnisses von Kirche und Staat, in: Recht in Kirche und Staat. Joseph Listl zum 75. Geburtstag, hrsg. von Wilhelm Rees (Kanonistische Studien und Texte 48), Berlin: Duncker & Humblot 2004, S. 101 – 121. 74. Die Restauration der religiösen Erziehung von 1945 – 1962 (Schulvertrag), in: Historische und rechtliche Aspekte des Religionsunterrichts, hrsg. von Alfred Rinnerthaler (Wissenschaft und Religion 8), Frankfurt am Main u. a.: Peter Lang 2004, S. 103 – 131. 75. Res mixtae. Ein guter österreichischer Weg. Schritte zum „Schulfrieden“ zwischen Kirche und Staat in Österreich seit 1945, in: Mitteilungen. Zeitschrift der Religionslehrerinnen und -lehrer der Erzdiözese Salzburg 2 (2005), S. 4 – 5. 76. Religiöse Festkultur in Salzburg. Religiöse Feier in freier Natur, in: Bräuche im Salzburger Land. In Familie und Gesellschaft, hrsg. von Lucia Luidold/Ulrike Kammerhofer Aggermann, Salzburg 2005 (erschienen auf CD-ROM). 77. Der Religionsunterricht in Diskussion: Wozu Spezialbestimmungen für einen einzelnen Gegenstand, in: Schule & Recht. Tagungsband 27 (2005), S. 16 – 18. 78. Eine neue „Consistorial-Raths Ordnung“ unter dem letzen regierenden Salzburger Fürsterzbischof Hieronymus Joseph Franz de Paula, Graf von Colloredo 1786, in: Recht – Bürge der Freiheit. Festschrift für Johannes Mühlsteiger SJ zum 80. Geburtstag, hrsg. von Konrad Breitsching/Wilhelm Rees (Kanonistische Studien und Texte 51), Berlin: Duncker & Humblot 2006, S. 365 – 387. 79. Das Consistorium Metropoliticum Salisburgense zur Zeit von Fürsterzbischof Sigismund von Schrattenbach (1753 – 1771). Kanonistische Anmerkungen zu einer Dienst- und Geschäftsordnung, in: Salus animarum suprema lex. Festschrift für Max Hopfner zum 70. Geburtstag, hrsg. von Ulrich Kaiser/Ronny Raith/Peter Stockmann (Adnotationes in ius canonicum 38), Frankfurt am Main u. a.: Peter Lang 2006, S. 309 – 324. 80. Rechtshistorische Erinnerungen an das Salzburger Provinzialkonzil 1906. Synodale Maßnahmen und Wegweisungen in der Auseinandersetzung der Kirche mit Strömungen der Gesellschaft zu Beginn des 20. Jahrhunderts, in: Kirche in einer säkularisierten Gesell-

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schaft, hrsg. von Dieter A. Binder/Klaus Lüdicke/Hans Paarhammer, Innsbruck/Wien/ Bozen: StudienVerlag 2006, S. 103 – 120. 81. Das insigne Kollegiatstift Mattsee in seiner gegenwärtigen Rechtsgestalt, in: Dienst an Glaube und Recht. Festschrift für Georg May zum 80. Geburtstag, hrsg. von Anna Egler/Wilhelm Rees (Kanonistische Studien und Texte 52), Berlin: Duncker & Humblot 2006, S. 503 – 526. 82. Privilegierung des Christentums? Das Konkordatssystem als religionspolitische Herausforderung, in: Einst Staatsaffäre – dann Privatsache – heute ein Politikum. Die Gretchenfrage der Religion, hrsg. von Claude Ozankom (Salzburger Theologische Studien 30), Innsbruck/Wien: Tyrolia 2006, S. 107 – 111. 83. Wie viele Feiertage vertragen wir? Kirchenrechtliche Aspekte der Vermehrung und Verminderung von Feiertagen – Anmerkungen zur Entwicklung unseres Festkalenders von den Anfängen bis in die Gegenwart, in: Salzburger Volkskultur 30 (2006), Nr. 1, S. 20 – 27. 84. Das Katechumenat – ein Modell für die Neuevangelisierung, in: Recht auf Mission contra Religionsfreiheit? Das christliche Europa auf dem Prüfstand, hrsg. von Peter Krämer u.a. (Kirchenrechtliche Bibliothek 10), Berlin: LIT 2007, S. 135 – 154. 85. Namen(s)gebung in Kirche und Staat. Einige kirchenrechtliche Anmerkungen zum sogenannten Vor- bzw. (Tauf-)namen, in: Im Dienst von Kirche und Wissenschaft. Festschrift für Alfred E. Hierold zur Vollendung des 65. Lebensjahres, hrsg. von Wilhelm Rees/Sabine Demel/Ludger Müller (Kanonistische Studien und Texte 53), Berlin: Duncker & Humblot 2007, S. 949 – 968. 86. Gasthausbesuch als kirchenrechtliches Problem. Kanonistische Anmerkungen zu einer immer wiederkehrenden Frage des decorum clericale, in: Ojnikov Zbornik. Cerkev in Drzˇava Kirche und Staat. Festschrift für Stanislav Ojnik zum 75. Geburtstag, hrsg. von Borut Holcman/Gernot Kocher, Maribor 2007, S. 215 – 239. 87. Der Salzburger Kirchenbauverein und die „Hirten im Wiederaufbau“. Von Andreas Rohracher (1945) bis Alois Kothgasser (2007), in: Geist und Feuer. Festschrift anlässlich des 70. Geburtstages von Erzbischof Dr. Alois M. Kothgasser SDB, hrsg. von Renate Egger-Wenzel (Salzburger Theologische Studien 32), Innsbruck/Wien: Tyrolia 2007, S. 615 – 640. 88. Univ.-Prof. em. Dr. Franz Pototschnig zum Gedenken, in: Archiv für katholisches Kirchenrecht 176 (2007), S. 189 – 191. 89. Bischofsbestellung durch den Papst. Kirchenrechtliche Streiflichter vom II. Vatikanischen Konzil bis in die Gegenwart, in: Rezeption des Zweiten Vatikanischen Konzils in Theologie und Kirche heute. Festschrift für Klaus Lüdicke zur Vollendung seines 65. Lebensjahres, hrsg. von Dominicus M. Meier u.a. (Münsterischer Kommentar zum CIC. Beihefte 55), Essen: Ludgerus 2008, S. 429 – 445. 90. Die Nottaufe als kirchenrechtliches und pastorales Problem. Kanonistische Anmerkungen zur Rolle des Spenders bzw. einer Spenderin ,in casu necessitatisÐ, in: Mit euch bin ich Mensch. Festschrift anlässlich des 60. Geburtstages von Friedrich Schleinzer, hrsg. von Georg Ritzer (Salzburger Theologische Studien 34), Innsbruck/Wien: Tyrolia 2008, S. 503 – 528. 91. Die päpstliche Diplomatie. Funktionen und Aufgaben im Kontext der verschiedenen Systeme des Verhältnisses von Kirche und Staat in einer globalisierten Welt, in: Kirche und

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Staat im Horizont einer globalisierten Welt, hrsg. von Hans Paarhammer/Gerlinde Katzinger (Wissenschaft und Religion 21), Frankfurt am Main u. a.: Peter Lang 2009, S. 119 – 140. 92. Umgang und Kommunikation mit den Juden. Rechtshistorische Reminiszenzen und aktuelle (staats)kirchenrechtliche Anmerkungen, in: Der Ort des Jüdischen in der katholischen Theologie, hrsg. von Gerhard Langer/Gregor Maria Hoff, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2009, S. 204 – 219. 93. Spiritualität: Wege – Hilfen – Ziele, in: Schmerzbehandlung in der Palliativmedizin, hrsg. von Günther Bernatzky, Wien/New York: Springer 2009, S. 501 – 508. 94. Die Diözesansynoden 1948, 1958 und 1968, in: Erzbischof Andreas Rohracher. Krieg – Wiederaufbau – Konzil, hrsg. von Ernst Hintermaier (Schriftenreihe des Erzbischof-Rohracher-Studienfonds 7), Salzburg: Anton Pustet 2010, S. 283 – 304.

IV. Gesetzeskommentar Münsterischer Kommentar zum Codex Iuris Canonici unter besonderer Berücksichtigung der Rechtslage in Deutschland, Österreich und der Schweiz, hrsg. von Klaus Lüdicke, Essen: Ludgerus seit 1984 (Loseblattwerk): 1. Kommentierung der Kanones 515 – 552 (Pfarrei, Pfarrer, Pfarrvikar): 1. Ergänzungslieferung, August 1985. 2. Kommentierung der Kanones 553 – 555 (Dechant): 11. Ergänzungslieferung, November 1989. 3. Kommentierung der Kanones 556 – 572 (Kirchenrektor, Kaplan): 11. Ergänzungslieferung, November 1989.

V. Lexikonartikel 1.

Generalvikar, in: Lexikon des Mittelalters Bd. 4, München/Zürich: Artemis 1989, Sp. 1223.

2.

Absetzung, in: Lexikon für Theologie und Kirche. Begründet von Michael Buchberger. 3., völlig neu bearb. Aufl., hrsg. von Walter Kasper mit Konrad Baumgartner u. a., Freiburg/ Basel/Rom/Wien: Herder (LThK3), Bd. 1, 1993, Sp. 78. a) Absetzung, in: Lexikon des Kirchenrechts, hrsg. von Stephan Haering/Heribert Schmitz, Freiburg/Basel/Wien: Herder 2004 (LKR), Sp. 7. b) Destituciýn, in: Diccionario enciclop¦dico de Derecho Canýnico, hrsg. von Stephan Haering/Heribert Schmitz, span. Ausg.: Ignacio P¦rez Heredia y Valle/Jos¦ Luis Llaquet, Barcelona: Herder 2008 (DEDC), S. 313.

3.

Amotion, in: LThK3 Bd. 1, 1993, Sp. 540. a) Amotion, in: LKR, Sp. 34 – 35. b) Amotio, in: DEDC, S. 36.

4.

Amtsenthebung, in: LThK3 Bd. 1, 1993, Sp. 565.

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a) Amtsenthebung, in: LKR, Sp. 41. b) Remociýn, in: DEDC, S. 732 – 733. 5.

Baulast, kirchliche, in: LThK3 Bd. 2, 1994, Sp. 89 – 90. a) Baulast, kirchliche Baulast, in: LKR, Sp. 86 – 88. b) Carga edilicia ecclesi‚stica, in: DEDC, S. 140 – 141.

6.

Bauwesen, kirchliches. I. Kirchenrechtlich, in: LThK3 Bd. 2, 1994, Sp. 98. a) Bauwesen, kirchliches Bauwesen, in: LKR, Sp. 88 – 89.

7.

Chorgerichte, in: LThK3 Bd. 2, 1994, Sp. 1092. a) Chorgerichte, in: LKR, Sp. 147.

8.

Engel, Ludwig, in: LThK3 Bd. 3, 1995, Sp. 655. a) Engel, Ludwig, in: LKR, Sp. 1069. b) Engel, Ludwig, in: DEDC, S. 356.

9.

Geld. IV. Geldmittel der Kirche, in: LThK3 Bd. 4, 1995, Sp. 407 – 408.

10. Gnadenakt, rechtlich, in: LThK3 Bd. 4, 1995, Sp. 789. a) Gnadenakt, in: LKR, Sp. 371 – 372. 11. Pfarrei. Römisch-katholisch, in: Theologische Realenzyklopädie, hrsg. von Gerhard Krause/Gerhard Müller, Berlin/New York: Walter de Gruyter (TRE), Bd. 26, 1996, S. 337 – 347. 12. Pfarrer. Römisch-katholisch, in: TRE Bd. 26, 1996, S. 351 – 360. 13. Pate, Patin, Patenamt. II. Kirchenrechtlich, in: LThK3 Bd. 7, 1998, Sp. 1451 – 1452. a) Pate, Patin, in: LKR, Sp. 724 – 725. b) Padrino, madrina, in: DEDC, S. 619 – 620. 14. Pfarrei. II. Kirchenrechtlich, in: LThK3 Bd. 8, 1999, Sp. 164 – 165. a) Pfarrei, in: LKR, Sp. 743 – 749. b) Parroquia 2. Derecho Canýnico, in: DEDC, S. 631 – 633. 15. Pfarrvikar, in: LThK3 Bd. 8, 1999, Sp. 180 – 181. a) Pfarrvikar, in: LKR, Sp. 765 – 767. 16. Sedisvakanz, in: LThK3 Bd. 9, 2000, Sp. 365. a) Sedisvakanz, in: LKR, Sp. 887. b) Sede vacante, in: DEDC, S. 771 – 772. 17. Stolgebühren, in: LThK3 Bd. 9, 2000, Sp. 1017 – 1018. a) Stolgebühren, in: LKR, Sp. 921 – 923. 18. Unterhalt, Unterhaltspflicht. II. Kirchenrechtlich, in: LThK3 Bd. 10, 2001, Sp. 439. a) Unterhaltspflicht, in: LKR, Sp. 969 – 970. 19. Wid(d)um, in: LThK3 Bd. 10, 2001, Sp. 1138 – 1139.

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VI. Besprechungen und Anzeigen 1. Ortner, Franz, Reformation, katholische Reform und Gegenreformation im Erzstift Salzburg, Salzburg: Anton Pustet 1981, in: Archiv für katholisches Kirchenrecht 150 (1981), S. 321 – 324. 2. Plöchl, Willibald M., Die Wiener orthodoxen Griechen. Eine Studie zur Rechts- und Kulturgeschichte der Kirchengemeinden zum Hl. Georg und zur Hl. Dreifaltigkeit und zur Errichtung der Metropolis von Austria (Kirche und Recht 16), Wien: Verband der wissenschaftlichen Gesellschaften Österreichs 1983, in: Archiv für katholisches Kirchenrecht 155 (1986), S. 302 – 307. 3. Rottenburger Jahrbuch für Kirchengeschichte, hrsg. vom Geschichtsverein der Diözese Rottenburg-Stuttgart, Bd. 5, Sigmaringen: Jan Thorbecke 1986, in: Archiv für katholisches Kirchenrecht 156 (1987), S. 257 – 261. 4. Recht, Gericht, Genossenschaft und Policey. Studien zu Grundbegriffen der germanistischen Rechtshistorie. Symposion für Adalbert Erler, hrsg. von Gerhard Dilcher/Bernhard Diestelkamp, Berlin: Erich Schmidt 1986, in: Archiv für katholisches Kirchenrecht 156 (1987), S. 268 – 272. 5. Scheulen, Roland, Das Amt des „Vicarius Episcopalis“. Ein kirchenrechtlicher Beitrag zur Ämterstruktur in der Partikularkirche (Forschungen zur Kirchenrechtswissenschaft 11), Würzburg: Echter 1991, in: Archiv für katholisches Kirchenrecht 161 (1992), S. 295 – 297. 6. Rees, Wilhelm, Die Strafgewalt der Kirche. Das geltende kirchliche Strafrecht – dargestellt auf der Grundlage seiner Entwicklungsgeschichte (Kanonistische Studien und Texte 41), Berlin: Duncker & Humblot 1993, in: Forum Katholische Theologie 10 (1994), S. 146 – 147. 7. Kreusch, Irina Maria, Der Eid zwischen Schwurverbot Jesu und kirchlichem Recht. Verehrung oder Missbrauch des göttlichen Namens? (Kanonistische Studien und Texte 49), Berlin: Duncker & Humblot 2005, in: Archiv für katholisches Kirchenrecht 175 (2006), S. 640 – 644. 8. Schmitz, Heribert, Studien zur kirchlichen Rechtskultur (Forschungen zur Kirchenrechtswissenschaft 34), Würzburg: Echter 2005, in: De processibus matrimonialibus 14 (2007), S. 653 – 658.

VII. Kleine Beiträge und Predigten in Zeitschriften und Zeitungen (in Auswahl) Rupertusblatt. Kirchenzeitung der Erzdiözese Salzburg (RB) 1.

Trägt Kirche zum Landesbewußtsein bei?, in: RB vom 14. 3. 1982, S. 6.

2.

Hilfe auf dem Weg zum Heil?, in: RB vom 27. 2. 1983, S. 10.

3.

Wie das Recht entstand, in: RB vom 13. 3. 1983, S. 17.

4.

Das neue Kirchenrecht, in: RB vom 20. 3. 1983, S. 16.

5.

Patenschaft bei Taufe und Firmung, in: RB vom 27. 3. 1983, S. 20.

6.

Der Sonntag und die Feiertage, in: RB vom 3. 4. 1983, S. 6.

Bibliographie Hans Paarhammer 7.

Das Meßstipendium, in: RB vom 10. 4. 1983, S. 15.

8.

Die Ehe als Bund, in: RB vom 17. 4. 1983, S. 18.

9.

Eigenschaften der Ehe, in: RB vom 24. 4. 1983, S. 18.

1153

10. Eine Ehe ist ungültig, wenn … Die Ehehindernisse im allgemeinen und im besonderen, in: RB vom 1. 5. 1983, S. 18. 11. Der Ehewille, in: RB vom 8. 5. 1983, S. 16. 12. Eheschließungsform, in: RB vom 15. 5. 1983, S. 18. 13. Besiegelt durch die Gabe Gottes. Die Firmung, in: RB vom 22. 5. 1983, S. 18. 14. Die Mischehe, in: RB vom 29. 5. 1983, S. 16. 15. Das „Geschenk des Ablasses“. Entstehung, Sinn und Bedeutung zum Heiligen Jahr, in: RB vom 29. 5. 1983, S. 18. 16. Eine besondere Friedensordnung. Vor 50 Jahren wurde das österreichische Konkordat unterzeichnet, in: RB vom 5. 6. 1983, S. 18. 17. Die Ehevorbereitung, in: RB vom 12. 6. 1983, S. 14. 18. Kein Familienrecht, in: RB vom 26. 6. 1983, S. 16. 19. Sakrament der Weihe, in: RB vom 3. 7. 1983, S. 20. 20. Ordnung des Ordenslebens, in: RB vom 10. 7. 1983, S. 18. 21. Noviziat und Profeß, in: RB vom 17. 7. 1983, S. 14. 22. Das Petrusamt des Papstes. Seine Stellung in Recht und Lehre, in: RB vom 11. 9. 1983, S. 17. 23. Buße und Beichte, in: RB vom 9. 10. 1983, S. 16. 24. Krankensalbung und Sterbesakramente, in: RB vom 16. 10. 1983, S. 15. 25. Teilkirche und Bischofsamt, in: RB vom 30. 10. 1983, S. 17. 26. Die Pfarrei und der Pfarrer, in: RB vom 20. 11. 1983, S. 18. 27. Erst der Geist macht Gesetze lebendig. 70 Jahre Salzburger Landesverfassung, in: RB vom 10. 2. 1991, S. 24. 28. Das gleiche Recht für Caroline. Eheannullierung ist keine Frage von Geld und Prominenz [Interview], in: RB vom 12. 7. 1992, S. 8. 29. Achtet den Staat. Wahlüberlegungen, in: RB vom 13. 3. 1994, S. 21. 30. Palmweihe und österliche Speisensegnung. Liturgie und Brauchtum, in: RB vom 27. 3. 1994, S. 24. 31. Konkordat sichert Frieden, in: RB vom 1. 5. 1994, S. 7. 32. In Gottes Namen, in: RB vom 1. 1. 1995, S. 2 [zum Neujahrstag und zum Diözesanforum Salzburg]. 33. Vorbilder in der Nachfolge Christi, in: RB vom 3. 11. 1996, S. 8. 34. Kirchliche Gesetzgebung – Verwaltung – Rechtsprechung, in: RB vom 3. 11. 1996, S. 3.

1154

Bibliographie Hans Paarhammer

35. Vom Schlosser zum Kardinal. 75. Geburtstag von Kardinal Korec, in: RB vom 7. 2. 1999, S. 8. 36. 350 Jahre Loretokindl, in: RB vom 7. 1. 2001, S. 5. 37. Mit der Sorgfalt des guten Hausvaters. Prälat Ritter zum dankbaren Gedenken, in: RB vom 14. 1. 2001, S. 16 – 17. 38. Er liebte die Kirche. Ferdinand Holböck. Dem Priester und Theologen zum Gedenken, in: RB vom 20. 10. 2002, S. 14. 39. Neue Patronin. Edith Stein zur Patronin des Forschungszentrums erhoben, in: RB vom 27. 10. 2002, S. 15. 40. 20 Jahre neues Kirchenrecht. Tagung im Vatikan: Wissenschaftliche und praktische Erfahrungen, in: RB vom 16. 2. 2003, S. 14. 41. Politik und katholische Soziallehre. Dankbares Gedenken an Univ.-Prof. Dr. Franz Martin Schmölz OP, in: RB vom 23. 2. 2003, S. 7. 42. Einheit in bunter Vielfalt, in: RB vom 25. 5. 2003, S. 7. 43. Patron Europas, in: RB vom 26. 10. 2003, S. 8. 44. Christian A. Doppler zum Gedenken, in: RB vom 16. 11. 2003, S. 15. 45. Menschenrechts-Symposion, in: RB vom 14. 12. 2003, S. 7. 46. Evangelium und Dialog heute. Kardinal Lehmann bei Thomas-Feier des IFZ Salzburg, in: RB vom 2. 5. 2004, S. 14. 47. Edith-Stein-Feier 2004, in: RB vom 26. 9. 2004, 22. 48. Kirche und Wissenschaft, in: RB vom 16. 1. 2004, S. 16. 49. Dankbar für Begegnungen, in: RB vom 10. 4. 2005, S. XII. 50. Die Würde des Menschen. Karl Korinek: Der Verfassungsgerichtshof-Präsident in Salzburg bei der „Thomas-Feier“, in: RB vom 24. 4. 2005, S. 15. 51. Dialog und Vertrag, in: RB vom 18. 3. 2007, S. 12.

Andere Organe 52.

Das Recht der Kirche heute. Interview mit Univ.-Prof. Dr. Richard Strigl, in: Unser Brief 1971. Jahresschrift für die Freunde des Salzburger Priesterseminars, Studienjahr 1970/71, o.O. o. J., S. 6 – 8.

53.

Der christliche Lehrer heute. Gedanken eines Seelsorgers zur Advent- und Weihnachtszeit, in: Schule heute. Zeitschrift des Christlichen Landeslehrervereins für Salzburg H. IV/1982, S. 5 – 8.

54.

Prangerstutzenschützen und christliches Feiern, in: Salzburger Heimatpflege 6 (1982), Nr. 3, S. 63 – 67.

55.

Die Tendenzen der Reform im neuen Rechtsbuch der Kirche, in: Kirche bunt. St. Pöltner Kirchenzeitung Jg. 38, 5. Sonntag im Jahreskreis, 6. 2. 1983, S. 6.

Bibliographie Hans Paarhammer

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56.

Ehe und Familie im Spannungsfeld von Recht und Liebe, in: ehe und familie. Monatszeitschrift für Österreichs Familien Jg. 17, Nr. 1/2 vom Jänner/Februar 1984, S. 8 – 9.

57.

Ehe – „Es gibt ein Wort und das ist für dich das Leben …“, in: Zusage für das Leben. Glaubhaft – zeichenhaft – dauerhaft. Gersthofer Vermählungsworte, hrsg. von Norbert Rodt (Gersthofer Pastoralbehelfe 4), Wien-Gersthof: Eigenverlag 1989, S. 15 – 17.

58.

Heimat „ein Segen sein“. Mehr als bloße Idylle, in: Salzburger Nachrichten Jg. 48, Nr. 83 A (Sonderausgabe Heimat und Brauchtum) vom 8. 4. 1992, S. 2.

59.

Brauchtumspflege aus christlicher Tradition, in: Ladschreiben und Festschrift für die Festwoche zum 200-jährigen Bestandsjubiläum der Prangerschützen Koppl. 28. Juni – 5. Juli 1992, hrsg. von der Prangenschützen-Gesellschaft Koppl, o.O. o. J. [Koppl: Eigenverlag 1992], S. 17 – 18.

60.

Nikolaus bringt Licht und Liebe, in: Salzburger Volkszeitung Jg. 48, Nr. 282 vom 4. 12. 1992, S. 10.

61.

Eine Zeit, die zum Warten einlädt. Adventgedanken, in: Neue Kronen Zeitung. Salzburg Krone Nr. 12.046 vom 27. 11. 1993, S. 17.

62.

Daß wir Bürger eines demokratischen Staates sind, bedeutet für uns Segen und Verpflichtung. Überlegungen zu Staat-Gesellschaft-Kirche, in: Schule heute. Zeitschrift des Christlichen Landeslehrervereins für Salzburg H. 1/1994, S. 4.

63.

Was Ostern für mich bedeutet, in: Neue Kronen Zeitung. Salzburg Krone Nr. 12.171 vom 3. 4. 1994, S. 10.

64.

Das Wort, das Dir hilft, kannst Du Dir selbst nicht sagen. Predigt zum Benediktusfest 1995, in: Alt und Jung Metten 61 (1994/95), S. 123 – 125.

65.

Die Bedeutung der Fahne für unsere Schützengemeinschaften, in: Salzburger Volkskultur 19 (1995), Nr. 2, S. 85 – 91.

66.

Der Mensch in seiner Würde und Einmaligkeit, in: P. I. Pädagogische Impulse. Fachorgan der katholischen Lehrerschaft Österreichs (1996), Nr. 1, S. 6 – 7.

67.

Die Beziehung zwischen der Republik Österreich und der Röm.-Kath. Kirche, in: Ökumenische Information Salzburg (1996), Nr. 11, S. 2 – 3.

68.

Der Mensch wächst an der Aufgabe, in: Salzburger Sportunion aktiv 65 (1996), S. 2.

69.

Danksagung für die Freude des Lebens. Bräuche führen die Menschen zusammen, gleich ob in der Vorbereitung oder im Vollzug, sie vermitteln Lebenswissen, verleihen Identität und fördern Heimatbewußtsein, in: Salzburger Nachrichten, Sonderbeilage März 1998, S. 2.

70.

Dem „Mysterium fidei“ verpflichtet, in: 30 Jahre Institut für Liturgiewissenschaft und Sakramententheologie an der Paris-Lodron-Universität Salzburg 1968 – 1998, Salzburg: Eigenverlag 1998, S. 53.

71.

Bedeutung und Verwendung von Vereinsfahnen, in: Der oberösterreichische Prangerschütze. Zeitung des oberösterreichischen Prangerschützenverbandes, Juni 1998, S. 20 – 23.

72.

Trost und Beistand für Sterbende und deren Angehörige, in: Hand in Hand, Neues aus der Hilfswerk Familie (1999), Nr. 4, S. 4 – 5.

1156 73.

Bibliographie Hans Paarhammer Die Bedeutung der Fahne für unser Vereinswesen, in: Der Fähnrich. Leitfaden für Fahnenträger und Begleiter zum richtigen Umgang mit der Vereinsfahne, hrsg. vom Landesverband der Salzburger Heimatvereinigungen, Salzburg 2000, S. 5 – 7.

74.

Die Osterzeit, in: Kolpophon (2000), Nr. 1, S. 4 – 5.

75.

Das Alter als Gabe und Aufgabe, in: Salzburger Seniorenkalender 2000, S. 81 – 83.

76.

„Ist wohl eine schöne Zeit“. Festansprache zur Pensionierung von Prof. Harald Dengg, in: Salzburger Volkskultur 24 (2000), Nr. 1, S. 5 – 10.

77.

„Hier ist gut sein!“, in: Salzburger Nachrichten, Sonderbeilage vom 20./21.5. 2000, S. II.

78.

Alter – Krone der Stufen des Lebens, in: Salzburger Seniorenkalender 2001, S. 81 – 83.

79.

Die Fahne – Zeichen und Auftrag für Treue und Kameradschaft, in: Die historischen Struckerschützen von Altenmarkt/Pongau. Eine kleine Dokumentation unserer Schützengeschichte zur Fahnenweihe am 15. Juli 2001, o. S.

80.

„Unterwegs mit den Menschen“. Predigt bei der Anton-Wallner-Gedenkfeier in St. Gilgen am 17. Februar 2002, in: Salzburger Volkskultur 26 (2002), Nr. 1, S. 126 – 128.

81.

Kameradschaft – ein Gütesiegel, in: Kameradschaft aktiv, Mai/Juni 2002, S. 2.

82.

Der Dienst des Mesners, in: Mesnerhaus Guggenthal. Eröffnungsfest 25.05.2002 – 26.05.2002, o. S.

83.

Dankbarkeit – Frucht eines beherzten Lebens, in: Salzburger Seniorenkalender 2002, S. 81 – 83.

84.

Prangerschützenbrauch im kirchlichen Leben und Feiern, in: Der Prangerstutzen. Die Handhabung und Verwendung im Salzburger Brauchtum, hrsg. vom Landesverband der Salzburger Schützen, Salzburg 2003, S. 23 – 30.

85.

Schützenformationen und Garden im Dienste von Fest und Feier aus kirchlicher Sicht, in: Hinterlader, Vorderlader, Kanone. Die Handhabung und Verwendung im Salzburger Brauchtum, hrsg. vom Landesverband der Salzburger Schützen, Salzburg 2003, S. 13 – 19.

86.

Ein Leben lang im Aufbruch, in: Salzburger Seniorenkalender 2003, S. 81 – 83.

87.

„Aller guten Dinge sind drei!“. Predigt bei der Anton-Wallner-Gedenkfeier in Oberalm am 16. Februar 2003, in: Salzburger Volkskultur 27 (2003), Nr. 1, S. 119 – 120.

88.

Jesus Christus: Unser Weg, in: Couleur. Zeitschrift des Mittelschüler-Kartell-Verbandes (2003), Nr. 4, S. 16.

89.

Staat und Kirche in Österreich – Konkordat seit 70 Jahren, in: Ebd., S. 18 – 19.

90.

Der Weg der Kirche ist der Mensch, in: Couleur. Zeitschrift des Mittelschüler-KartellVerbandes (2004), Nr. 1, S. 12.

91.

Christus – Hoffnung Europas, in: Coleur. Zeitschrift des Mittelschüler-Kartell-Verbandes (2004), Nr. 2, S. 4 – 5.

92.

Wer mir nachgeht, wird nicht mehr im Finstern sein. Predigt bei der Weihe der Landesschützenfahne am 28. September 2003, in: Salzburger Volkskultur 28 (2004), Nr. 1, S. 90 – 92.

Bibliographie Hans Paarhammer

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93.

Tradition pflegen – Identität stiften – Glauben bekennen – Gesellschaft gestalten. Festansprache beim Europaschützenfest in Vöcklabruck. Generalkapitel des Ritterordens vom heiligen Sebastian am 29. 8. 2003, in: Ebd., S. 94 – 99.

94.

Schöpferische Treue. Auszüge aus der Festansprache beim Jahrtag des Landesverbandes der Salzburger Schützen in Tenneck am 16. April 2004. In. Salzburger Volkskultur 28 (2004), Nr. 2, S. 111 – 112.

95.

Die Bedeutung der Religion im modernen demokratischen Staat. Gedanken zum Verhältnis von religio und patria, in: Couleur. Zeitschrift des Mittelschüler-Kartell-Verbandes (2004), Nr. 4, S. 14 – 15.

96.

Wie wird man ein Heiliger und was ist man dann? Anmerkungen zur gegenwärtigen Selig- und Heiligsprechungspraxis in der röm.-kath. Kirche, in: Couleur. Zeitschrift des Mittelschüler-Kartell-Verbandes (2004), Nr. 5, S. 14 – 15.

97.

Die Garde im Jahreskreis. Georgi-Ritt und Ruperti-Kirchweih, in: Die Bürgergarde der Stadt Salzburg, red. von Hermann Hinterstoisser (Mitteilungen der Gesellschaft für Salzburger Landeskunde. Erg. 21), Salzburg: Gesellschaft für Salzburger Landeskunde 2005, S. 322 – 327.

98.

Christentum und Islam. Anmerkungen zu einem aktuellen Spannungsfeld einer multikulturellen Gesellschaft im neuen Europa, in: Couleur. Zeitschrift des Mittelschüler-KartellVerbandes (2005), Nr. 2, S. 4 – 6.

99.

Wie unauflöslich ist die Ehe?, in: Academia. Zeitschrift für Politik, Wirtschaft, Religion, Kultur 56 (2005), Nr. 3, S. 38 – 39.

100. Traditionen pflegen – Gesellschaft gestalten, in: Salzburger Volkskultur 29 (2005), Nr. 1, S. 74 – 77. 101. „Gottselig und leutselig“ – so leben die Salzburger Schützen! Predigt bei der Anton-Wallner-Feier in Bramberg am Wildkogel am 20. Februar 2005, in: Ebd., S. 112 – 113. 102. Zeichen setzen – Zeichen sein! Predigt zur Weihe der Flachgauer Bezirksschützenfahne in Maria Plain am 5. September 2004, in: Salzburger Volkskultur 29 (2005), Nr. 2, S. 122 – 123. 103. Ein neuer Papst aus dem Seniorenstand, in: Salzburger Seniorenkalender 2006, S. 107 – 109. 104. Das österreichische Kirchenbeitragssystem. Legitimität und Aktualität im Kontext einer sich verändernden Rechtskultur, in: Mitteilungen. Zeitschrift der Religionslehrerinnen und -lehrer der Erzdiözese Salzburg 2 (2006), S. 8 – 9. 105. „Mei Hoamat, mei Salzburg, di halt i in Ehrn“. Auszüge aus der Festpredigt am Jubiläumstag in St. Johann i. Pg. am 4. März 2006, in: Salzburger Volkskultur 30 (2006), Nr. 1, S. 5 – 7. 106. Sind wir Verwalter der Vergangenheit oder Gestalter der Zukunft? Auszüge aus der Predigt zur Anton-Wallner-Feier 2006 in St. Michael im Lungau, in: Ebd., S. 131 – 132. 107. Über alles habt die Liebe. Ausschnitt aus der Predigt zum Jubiläum 50 Jahre Goldhaubengruppe der Mozartstadt Salzburg am 13. Mai 2006 in der Stiftskirche St. Peter, in: Salzburger Volkskultur 30 (2006), Nr. 2, S. 62 – 64. 108. Weisheit des Lebens, in: Salzburger Seniorenkalender 2007, S. 107 – 109.

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109. Dankbarkeit erfüllt unser Leben. Auszüge aus der Predigt bei der Anton-Wallner-Feier in Abtenau am 25. Februar 2007, in: Salzburger Volkskultur 31 (2007), Nr. 1, S. 99 – 100. 110. Was habt ihr Schützen denn auf Eure Fahnen geschrieben? Predigt bei der Weihe der Bezirksschützenfahne des Tennengaus am 2. September 2007 in Adnet, in: Salzburger Volkskultur 31 (2007), Nr. 2, S. 129 – 130. 111. Am Gelde hängt, zum Gelde drängt. Wie die Kirche zu ihrem Geld kommt, in: 40 Jahr, wunderbar. Festschrift zum 40jährigen Jubiläum der Diözese Feldkirch 2008, S. 56 – 57. 112. Der heilige Georg sei unser Vorbild. Auszug aus der Predigt bei der 49. Anton-WallnerFeier in Wals am 17. Februar 2008, in: Salzburger Volkskultur 32 (2008), Nr. 1, S. 128 – 129. 113. Es ist schön und gut, dass es Euch gibt! Auszüge aus der Predigt beim Festgottesdienst zum Jubiläum 100 Jahre Bund der Österreichischen Trachten- und Heimatverbände in St. Peter in Salzburg, in: Salzburger Volkskultur 32 (2008), Nr. 2, S. 8 – 9. 114. „Du zeigst mir den Weg zum Leben …“, in: Salzburger Seniorenkalender 2009, S. 104 – 106. 115. Die besten Segenswünsche für die „4. Heimat und Volkskultur“. Auszug aus dem Grußwort zur Eröffnung der „4. Heimat und Volkskultur“ im Messezentrum Salzburg am 20. 2. 2009, in: Salzburger Volkskultur 33 (2009), Nr. 1, S. 32 – 33. 116. Schützenjahr 2009: Auf all das, was Tugend heißt und lobenswert ist, darauf seid bedacht! Auszüge aus der Predigt bei der Anton-Wallner-Gedenkfeier in Werfen am 15. 2. 2009, in: Ebd., S. 119 – 120. 117. Friede sei mit euch! Predigt zur Gedenkfeier am Pass Lueg am 5. September 2009, in: Salzburger Volkskultur 33 (2009), Nr. 2, S. 126 – 127. 118. Kirche als Communio, in: Mitteilungen. Zeitschrift der Religionslehrerinnen und -lehrer der Erzdiözese Salzburg 2 (2010), S. 4 – 5. 119. Stelle dein Leben unter das Geheimnis des Kreuzes, in: Salzburger Seniorenkalender 2012, S. 107 – 109. 120. Antonius von Padua: „Wohl der größte Volksheilige und Nothelfer, zugleich Theologe und Lehrer“, in: Heiliger Antonius in Söllheim. Transkribierter und ergänzter Nachdruck des Werkes „Die St. Antonius-Kapelle in Söllheim bei Salzburg“ (1899), hrsg. von der Gemeinde Hallwang, Hallwang: Eigenverlag 2012, S. 9 – 12. 121. Von 2003 bis 2007: Wort zum Sonntag, in: Österreichische Bauernzeitung. Wochenzeitung für den ländlichen Raum.

Bibliographie Hans Paarhammer

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VIII. Hochschulschriften an der Paris-Lodron-Universität Salzburg, die durch Hans Paarhammer betreut wurden Habilitationsschriften 1.

Hirnsperger, Johann, Die Statuten des Salzburger Domkapitels (1514 bis 1806). Eine rechtshistorische Untersuchung zur inneren Verfassung des weltgeistlichen adeligen Salzburger Domkapitels, 1993. – Gedruckt: Graz: Austria-Medien-Service 1998.

2.

Kalde, Franz, Kirchlicher Umweltschutz. Ein Beitrag zu den umweltschützenden Handlungs- und Gestaltungsmitteln der Kirche unter besonderer Berücksichtigung Deutschlands und Österreichs, 1998.

3.

Schöch, Nikolaus, Die kirchenrechtliche Interpretation der Grundprinzipien der christlichen Anthropologie als Voraussetzung für die eheprozeßrechtliche Beurteilung der psychischen Ehekonsensunfähigkeit. Eine kanonistische Studie unter besonderer Berücksichtigung der päpstlichen Allokutionen und der Judikatur der Römischen Rota, 1999. – Gedruckt: Frankfurt am Main u. a.: Peter Lang 1999 (Adnotationes in ius canonicum 15).

Dissertationen (Dr. theol.) 4.

Haering, Stephan Bernhard, Die Bayerische Benediktinerkongregation 1684 – 1803. Eine rechtsgeschichtliche Untersuchung der Verfassung eines benediktinischen Klösterverbandes unter Berücksichtigung rechtlicher Vorformen und rechtssprachlicher Grundbegriffe, 1987. – Gedruckt: St. Ottilien: EOS 1989 (Studien und Mitteilungen zur Geschichte des Benediktinerordens und seiner Zweige 100, I/II).

5.

Reißmeier, Johann, Die Entwicklung des Eigenrechtes der Kongregation der Missionare vom Kostbaren Blut. Eine rechtsgeschichtliche Untersuchung zur Verfassung einer Gesellschaft des apostolischen Lebens, 2 Tle., 1988.

6.

Meier, Dominicus Michael, Die Rechtswirkungen der klösterlichen Profeß. Eine rechtsgeschichtliche Untersuchung der monastischen Profeß und ihrer Rechtswirkungen unter Berücksichtigung des Staatskirchenrechts, 1991. – Gedruckt: Frankfurt am Main u. a.: Peter Lang 1993 (Europäische Hochschulschriften, Reihe XXIII Theologie 486).

7.

Laireiter, Gottfried, Das synodale Element in der Erzdiözese Salzburg im 20. Jahrhundert, 1999.

8.

Mick, Walter, Das Metropolitankapitel zu St. Stephan in Wien in seiner rechtsgeschichtlichen Entwicklung von den Anfängen bis in die Gegenwart, 1999.

9.

Halbwachs, Helga, Die Zivilehe vor dem Hintergrund der kirchlichen Gesetzgebung und des katholischen Lehramtes, 2002.

10.

Ekeugo, Nkemakolam, The matrimomial impediments in canon law and in Nigeria. Considerations from african cultural background, 2002.

11.

Struber, Rupert, Bemühungen zur Errichtung einer Korrektionsanstalt für „Deficienten–Priester“ in der Erzdiözese Salzburg im 18. und 19. Jahrhundert. Die Priesterhäuser von Maria Kirchenthal, St. Johann in Tirol, St. Ulrich am Pillersee und Schernberg, 2002. – Gedruckt: Priesterkorrektionsanstalten in der Erzdiözese Salzburg im 18. und 19. Jahr-

1160

Bibliographie Hans Paarhammer hundert. Die Priesterhäuser von Maria Kirchenthal, St. Johann in Tirol, St. Ulrich am Pillersee und Schernberg (Wissenschaft und Religion 5), Frankfurt am Main u. a.: Peter Lang 2004.

12.

Katzinger, Gerlinde, Das kirchliche Bauwesen im Spannungsfeld von kirchlichen und staatlichen Rechtsnormen unter besonderer Berücksichtigung der Situation in der Erzdiözese Salzburg, 2003. – Gedruckt: Kirchliches Baurecht. Das kirchliche Bauwesen im Spannungsfeld von kirchlichen und staatlichen Rechtsnormen unter besonderer Berücksichtigung der Situation in der Erzdiözese Salzburg (Wissenschaft und Religion 6), Frankfurt am Main u. a.: Peter Lang 2004.

13.

Givens, Ronald, Der Spender der Krankensalbung: Nur der Priester? Rechtsgeschichtliche Aspekte und geltendes Recht (von Innozenz I. bis Benedikt XVI.), 2005.

14.

Selvaraj, Appathurai, Canon law and the permanency of marriage in the context of growing number of divorces in modern world with specific reference to India, 2011.

Diplom-/Hausarbeiten, Masterthesis (Mag. theol., Bacc.) 15.

Hasenburger, Andreas, Der Priesterrat in den Statuten der Diözesen Österreichs, 1985.

16.

Heiß, Paulus, Das Sonntagsgebot. Eine rechtstheologische und rechtshistorische Untersuchung, 1985.

17.

Reißmeier, Johann, Die Anfänge der Kongregation der Missionare vom Kostbaren Blut. Eine rechtsgeschichtliche Untersuchung, 1985.

18.

Tauderer, Josef, Die Tiroler Franziskanerprovinz. Eine rechtsgeschichtliche Untersuchung, 1986.

19.

Pillhofer, Josef, Das Stift Reichersberg und seine Patronatspfarren. Eine rechtsgeschichtliche Untersuchung, 1986.

20.

Kahr, Peter Paul, Das kirchliche Friedhofs- und Begräbnisrecht unter besonderer Berücksichtigung der Salzburger Verhältnisse. Eine rechtsgeschichtliche Untersuchung der Quellenlage bis zum CIC/1983, 1986.

21.

Kandler, Josef, Die bischöfliche Visitation. Eine rechtsgeschichtliche Untersuchung der bischöflichen Visitation unter besonderer Beachtung der Visitation in der Erzdiözese Salzburg vom Trienter Konzil bis zur Gegenwart, 1987.

22.

Schöch, Nikolaus, Die Entwicklung des kirchlichen Feiertagsrechts von der Apostolischen Konstitution „Universa“ Urban VIII. bis zum Codex Iuris Canonici von 1917, 1987.

23.

Viertbauer, Thomas, Die Patronatspfarre Waxenberg. Eine rechtsgeschichtliche Untersuchung, 1988.

24.

Urich, Stefan, Pfarrgemeinde und Pfarrer in den Verfassungen der katholischen Kirche und der evangelischen Kirche A.u.H.B. in Österreich, 1989.

25.

Kulnik, Herbert, Rechtliche Aspekte konkreter Mitverantwortung von Laien in pfarrlichen Ratsgremien der Diözese Gurk, 1989.

26.

Schuh, Hansjörg Matthäus, Die Österreichische Benediktinerkongregation im Spiegel der Reform des kanonischen Ordensrechtes, 1990.

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27.

Thanecker, Alfred, Die Römische Kurie. Entstehung und Ausgestaltung bis „Pastor bonus“, 1991.

28.

Esterbauer, Albert Thaddäus, Der kirchliche Rechtsbegriff. Biblische Grundlegung – aktuelle Fragestellung, 1991.

29.

Givens, Ronald Bernhard, Die Konstitutionen der Beuroner Benediktinerkongregation 1884 bis 1984. Eine rechtsgeschichtliche Untersuchung der Verfassungen eines benediktinischen Klösterverbandes, 1991.

30.

Hofer, Engelbert Franz, Die inkorporierten Pfarren des Benediktinerstiftes Admont und ihre rechtshistorische Entwicklung, 1992.

31.

Müller, Wolfgang, Die Salzburger Diözesansynode 1948 auf der Grundlage der archivalischen Quellen. Vorbereitung – Durchführung – Umsetzung, 1992.

32.

Teufl, Johann, Die Ausbildung der Ordensleute unter besonderer Berücksichtigung des Franziskanerordens (speziell in der Nordtiroler Provinz). Eine kirchenrechtliche und spirituell-theologische Untersuchung, 1992.

33.

Schuster, Petrus Robert, Die Katholisch-Theologischen Fakultäten an den österreichischen Universitäten in kirchlichem und staatlichem Recht, 1992.

34.

Hellwagner, Josef, Der Pastoralrat in den Statuten der Diözesen Österreichs, 1993.

35.

Hanak, Siegbert Gottfried, Krankenanstalten in kirchlicher Trägerschaft. Eine Untersuchung über konfessionelle Gesundheitseinrichtungen und -leistungen in Österreich unter rechtlichen und historischen Aspekten, 1994.

36.

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Verzeichnis der Mitarbeiter Althaus, Rüdiger, Dr. theol., Lic. iur can., Prof., Lehrstuhl für Kirchenrecht, Domplatz 12, 33098 Paderborn. Amann, Thomas A., Dr. theol., Lic. iur. can., PD, Waldstraße 27, 73666 Baltmannsweiler. Bair, Johann, Mag. Dr., Ass.-Prof., Institut für Römisches Recht und Rechtsgeschichte, Universität Innsbruck, Innrain 52, 6020 Innsbruck, Österreich. Baumgartner, Harald, Dr., Univ.-Prof., Institut für Rechtsphilosophie, Religions- und Kulturrecht, Schenkenstraße 8 – 10, 1010 Wien, Österreich. Berkmann, Burkhard Josef, Mag. phil., Dr. theol., Dr. iur., Lic. iur. can., Domplatz 1, 3100 St. Pölten, Österreich. Bernard, Felix, Dr., Prälat, Prof., Katholisches Büro Niedersachsen, Nettelbeckstraße 11, 30175 Hannover. Binder, Dieter A., Dr., Univ.-Prof., Heinrichstraße 78 A, 8010 Graz, Österreich. Boekholt, Peter SDB, Dr., Prof., Philosophisch-Theologische Hochschule, Don-Bosco-Straße 1, 83671 Benediktbeuern. Bucher, Anton, Mag. Dr. theol., Univ.-Prof., Fachbereich Praktische Theologie – Religionspädagogik, Katholisch-Theologische Fakultät, Universität Salzburg, Universitätsplatz 1, 5020 Salzburg, Österreich. Edtstadler, Karl, Dr., Landtagsdirektor, Chiemseehof, 5010 Salzburg, Österreich. Egler, Anna, Dr. phil., Akademische Direktorin i.R., Rotkehlchenweg 8, 55126 Mainz. Erdo˝ , P¦ter, Dr. theol., Dr. iur can., Dr. SC, em. Prof. für Kirchenrecht, Kardinal, Erzbischof von Esztergom-Budapest, ¢ri u. 62., 1014 Budapest, Ungarn. Gerosa, Libero, Dr., Prof., Facolt— di Teologia di Lugano, Via Giuseppe Buffi 13, 6900 Lugano, C.P. 4663, Schweiz. Haering, Stephan Bernhard OSB, Dr. theol., Dr. iur. can. habil., M.A., Prof., Ordinarius für Kirchenrecht, Klaus-Mörsdorf-Studium für Kanonistik der Ludwig-Maximilians-Universität München, Geschwister-Scholl-Platz 1, 80539 München. Hallermann, Heribert, Dr. theol. habil., Prof., Lehrstuhl für Kirchenrecht, Katholisch-Theologische Fakultät, Universität Würzburg, Paradeplatz 4, 97070 Würzburg. Hierold, Alfred E., Dr. iur. can., Lic. iur. can., Prälat, Prof. für Kirchenrecht (em.), Josephstraße 12, 96052 Bamberg. Hirnsperger, Johann, Mag. theol., Dr. theol., o. Univ.-Prof. für Kirchenrecht an der KatholischTheologischen Fakultät der Karl-Franzens-Universität Graz, Heinrichstraße 78 A, 8010 Graz, Österreich.

1166

Verzeichnis der Mitarbeiter

Kalb, Herbert, DDr., Univ.-Prof., Institut für Kanonistik, Europäische Rechtsgeschichte und Religionsrecht, Vizerektor, Johannes Kepler-Universität Linz, Altenbergerstraße 69, 4040 Linz, Österreich. Kalde, Franz, Dr. iur. can., Dipl.-Theol., M.A., Univ.-Doz, Erzbischöfliches Offizialat, Domplatz 26, 33089 Paderborn. Kandler-Mayr, Elisabeth, Dr. jur., Lic. iur. can., Ordinariatskanzler der Erzdiözese Salzburg, Kapitelplatz 2, 5020 Salzburg, Österreich. Katzinger, Gerlinde, MMag., Dr. theol., Hochschullehrerin, Kirchliche Pädagogische Hochschule Edith Stein, Gaisbergstraße 7, 5020 Salzburg, Österreich. Köck, Heribert Franz, Dr., DDr. h.c., M.C.L., em. o. Univ.-Prof., The Special Representative for Eastern and South-Eastern Europe, Johannes Kepler Universität, Altenbergerstraße 69, 4040 Linz, Österreich. Krämer, Peter, Dr. theol., Lic. iur. can., Prälat, Prof. für Kirchenrecht (em.), Memelstraße 4, 54295 Trier. Lederhilger, Severin O. Praem, Dr. jur., Dr. iur. can., Mag. theol., Univ.-Prof., KTU Linz, Generalvikar und Offizial des Bistums Linz, Bethlehemstraße 20, 4020 Linz, Österreich. Lienbacher, Georg, Dr., SC a.D., Richter des Verfassungsgerichtshofs, Univ.-Prof., Institut für Österreichisches und Europäisches Öffentliches Recht der Wirtschaftsuniversität Wien, Althanstraße 39 – 45, 1090 Wien, Österreich. Loretan, Adrian, Dr. iur. can., Lic. theol., o. Univ.-Prof., Professur für Kirchenrecht und Staatskirchenrecht der Universität Luzern, Co-Direktor des Zentrums für Religionsverfassungsrecht an der Universität Luzern, Gibraltarstraße 3, 6000 Luzern 7, Schweiz. Lüdicke, Klaus, Dr. iur. can., Dipl.-Theol., Ass. iur., Univ.-Prof. (em.), Hüfferstraße 69/71, 48149 Münster. May, Georg, Dr. theol., Lic. iur. can., Apostolischer Protonotar, o. Univ.-Prof. (em.), Fränzenbergstraße 14, 55257 Budenheim bei Mainz. Meier, Dominicus M. OSB, Dr. theol., Lic. iur. can., Prof., Abt der Benediktinerabtei Königsmünster, Klosterberg 11, 59872 Meschede. Müller, Ludger, Dr. theol., Dr. iur. can. habil., M.A., Univ.-Prof., Vorstand des Instituts für kanonisches Recht an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien, Schenkenstraße 8 – 10, 1010 Wien, Österreich. Neisser, Heinrich, Dr., Univ.-Prof., Institut für Politikwissenschaften, Universitätsstraße 15, 6020 Innsbruck, Österreich. Ohly, Christoph, Dr. theol., Lic. iur. can., Prof., Lehrstuhl für Kirchenrecht an der Theologischen Fakultät Trier, Universitätsring 19, 54296 Trier. Pacik, Rudolf, Mag. art., Dr. theol., Univ.-Prof. für Liturgiewissenschaft, Fachbereich Praktische Theologie an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Salzburg, Universitätsplatz 1, 5020 Salzburg, Österreich. Platen, Peter, Dr. theol., apl. Prof., Katholisch-Theologische Fakultät der Universität Münster i. W., Abteilung Kirchliches Recht des Bischöflichen Ordinariats Limburg, Roßmarkt 4, 65549 Limburg/Lahn.

Verzeichnis der Mitarbeiter

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Potz, Richard, Dr., Univ.-Prof., Institut für Rechtsphilosophie, Religions- und Kulturrecht, Universität Wien, Schenkenstraße 8 – 10, 1010 Wien, Österreich. Pree, Helmuth, Mag. theol., Dr. jur., Dr. iur. can., Prof., Ordinarius für Kirchenrecht am KlausMörsdorf-Studium für Kanonistik der Ludwig-Maximilians-Universität München, Geschwister-Scholl-Platz 1, 80539 München. Pucher, Ernst, Mag. theol., Dr. jur., Lic. iur. can., Apostolischer Protonotar, Dompropst und Offizial der Erzdiözese Wien, Stephansplatz 5, 1010 Wien, Österreich. Pulte, Matthias, Dr. phil. habil., Lic. iur. can., Dipl.-Theol., Univ.-Prof., Seminar für Kirchenrecht, Kirchliche Rechtsgeschichte und Staatskirchenrecht, FB 01 an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Johannes Gutenberg-Universität Mainz, Forum Universitatis 6, 55099 Mainz. Putz, Gertraud, Dr., Ass.-Prof., Katholisch-Theologische Fakultät Salzburg, Fachbereich Praktische Theologie – Gesellschaftslehre, Universitätsplatz 1, 5020 Salzburg, Österreich. Rees, Wilhelm, Dr. theol. habil., o. Univ.-Prof. für Kirchenrecht am Institut für Praktische Theologie der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Innsbruck, Karl-RahnerPlatz 1/2, 6020 Innsbruck, Österreich. Rehak, Martin, Dr. iur. can., Dipl.-Theol., Ass. iur., München. Rinnerthaler, Alfred, Dr. jur., ao. Univ.-Prof., Rechts- und Sozialgeschichte/Religionsrecht im Fachbereich Sozial- und Wirtschaftswissenschaften, Universität Salzburg, Churfürststraße 1, 5020 Salzburg, Österreich. Saje, Andrej, Dr. iur can., Dozent an der Theologischen Fakultät der Universität Ljubljana, Lehrstuhl für Kirchenrecht, Generalsekretär der Slowenischen Bischofskonferenz, Dolnic´arjev 4, 1000 Ljubljana, Slovenien. Schinkele, Brigitte, Dr., Hon.-Prof., Institut für Rechtsphilosophie, Religions- und Kulturecht, Universität Wien, Schenkenstraße 8 – 10, 1010 Wien, Österreich. Schleinzer, Friedrich O.Cist., Dr. theol., o. Univ.-Prof., Fachbereich Praktische Theologie – Pastoraltheologie, Katholisch-Theologische Fakultät der Universität Salzburg, Universitätsplatz 1, 5020 Salzburg, Österreich. Schmoller, Kurt, Dr., Univ.-Prof., Institut für Strafrecht der Universität Salzburg, Kapitelgasse 5 – 7, 5010 Salzburg, Österreich. Schöch, Nikolaus OFM, Dr. theol. habil., Dr. iur. can., Zweiter Kirchenanwalt am Höchstgericht der Apostolischen Signatur, Prof. an der Fakultät für Kanonisches Recht der Päpstlichen Universität Antonianum, Via Merulana 124, 00185 Roma, Italien. Schwarz, Karl W., Dr., Dr. phil. h.c., MinR, Univ.-Prof., Evangelisch-Theologische Fakultät, Universität Wien, BMUKK-Kultusamt, Freyung 1/131, 1014 Wien, Österreich. Schwendenwein, Hugo, Dr. jur., Dr. iur. can., Apostolischer Protonotar, em. Univ.-Prof., Plüddemanngasse 16/18, 8010 Graz, Österreich. Selge, Karl-Heinz, Dr. theol., Lic. iur. can., PD, Offizialatsrat, Richter, Erzbischöfliches Offizialat Paderborn, Domplatz 26, 33098 Paderborn. Stamm, Heinz-Meinolf, Dr. iur. can., Prof. (em.), Vizeoffizial des Erzbistum Paderborn, Domplatz 26, 33098 Paderborn.

1168

Verzeichnis der Mitarbeiter

Weiß, Andreas, Dr. theol. habil, Dr. iur. can., Prof. für Kirchenrecht und Kirchliche Rechtsgeschichte an der Theologischen Fakultät der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt, P.Philipp-Jeningen-Platz 6, 85072 Eichstätt. Weiß, Andreas M., Dr., Ass.-Prof., FB Praktische Theologie, Fach Moraltheologie, KatholischTheologische Fakultät, Universität Salzburg, Universitätsplatz 1, 5020 Salzburg, Österreich. Wijlens, Myriam, Dr., Prof., Lehrstuhl für Kirchenrecht, Katholisch-Theologische Fakultät, Universität Erfurt, Nordhäuser Straße 63, 99089 Erfurt. Witsch, Norbert, Dr. theol., PD, Referat für Hochschulen und Grundsatzfragen im Bistum Mainz, Bischofsplatz 2, 55116 Mainz. Wolbert, Werner, Dr. theol., Dr. h.c., Univ.-Prof., Praktische Theologie, Fach Moraltheologie, Katholisch-Theologische Fakultät, Universität Salzburg, Universitätsplatz 1, 5020 Salzburg, Österreich.