Nachkriegsmoderne: Transformationen der deutschsprachigen Lyrik 1945-1960 9783110229240, 9783110229233

This volume examines German poetry from 1945 to 1960 with a focus on how the literary life of the post-war years renegot

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German Pages 503 [504] Year 2013

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Table of contents :
I. Probleme
1. Moderne in der deutschsprachigen Lyrik zwischen 1945 und 1960: Historische und systematische Perspektiven
2. Begriffe, Methoden, Fragen
II. Signaturen
1. Krisensymptomatik: ›Verlust der Mitte‹ und ›unbehauster Mensch‹
2. Projektionen: Abendland und Europa
3. Wandlungen: Lyrikkonzepte nach 1945
4. Fallbeispiele: Lyrikanthologien nach 1945
4.1 Kontinuität in der Katastrophe: De Profundis
4.2 Moderate Moderne in Krisenzeiten: Ergriffenes Dasein
4.3 Programmatische Modernisierung zur Jahrhundertmitte: Walter Höllerers Transit
4.4 Konsolidierung der Moderne: Benders Widerspiel und Bingels Deutsche Lyrik
4.5 Der lange Weg zur Nachkriegsmoderne
III. Koordinaten
1. Naturlyrik und Moderne
2. Erneuerungsansätze: ›Trümmerlyrik‹ und ›Kahlschlag‹
3. Gottfried Benn: Nachkriegsartistik und ›Phase II‹ der Moderne
4. Bertolt Brecht: Politische Lyrik nach 1945
IV. Transformationen
1. Günter Eich und Peter Huchel: Die sprachkritische Aktualisierung der Naturlyrik
1.1 Günter Eich: Moderate Modernisierung und Sprachskepsis
1.2 Peter Huchel: Naturlyrische Zeichensprache
2. Karl Krolow: Revision der Naturlyrik im Zeichen des Surrealismus
2.1 Retrospektive Selbstvermessung: Aspekte zeitgenössischer Lyrik
2.2 Artistik nach der Katastrophe: Krolows Poetik der frühen Nachkriegsjahre
2.3 Variationspoetik: Krolows Lyrik der 40er und 50er Jahre
2.4 Internationale Moderne: Krolows Rezeption französischer und spanischer Surrealisten
2.5 Selektive Modernisierung zwischen Surrealismus und Existentialismus
3. Ingeborg Bachmann: Sprache als Erfahrung
3.1 Frankfurter Vorlesungen: Von der Wahrnehmungsästhetik zur Sprachutopie
3.2 Bachmanns Lyrik: Von der Widerstandspoetik zum ›Sprachland‹
3.3 Diesseits der Sprachkrise: Moderne Lyrik auf der Suche nach der verlorenen ›Wirklichkeit‹
4. Paul Celan: Sprachwirklichkeit nach der Shoa
4.1 Die »Todesfuge« und ihre Alternativen: Von Mohn und Gedächtnis bis Von Schwelle zu Schwelle
4.2 Die Poetik der ›graueren‹ Sprache
4.3 Mallarmé-Diskurs und Mandelstam-Begegnung
4.4 »Stimmen«: Zur Poetik von Sprachgitter
4.5 Reine Sprachlichkeit und zweideutiger Realitätsbezug: Celans Lyrik als Variante der Nachkriegsmoderne
5. Peter Rühmkorf und Hans Magnus Enzensberger: Modernisierung und politische Lyrik
5.1 Peter Rühmkorf: Parodistische Aktualisierung der lyrischen Tradition
5.2 Hans Magnus Enzensberger: Politische Lyrik im ›Museum der modernen Poesie‹
Resümee und Ausblick
Bibliographie
Register
Dank
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Nachkriegsmoderne: Transformationen der deutschsprachigen Lyrik 1945-1960
 9783110229240, 9783110229233

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Fabian Lampart Nachkriegsmoderne linguae & litterae

19

linguae & litterae Publications of the School of Language & Literature Freiburg Institute for Advanced Studies

Edited by

Peter Auer · Gesa von Essen · Werner Frick Editorial Board Michel Espagne (Paris) · Marino Freschi (Rom) Ekkehard König (Berlin) Michael Lackner (Erlangen-Nürnberg) Per Linell (Linköping) · Angelika Linke (Zürich) Christine Maillard (Strasbourg) · Lorenza Mondada (Basel) Pieter Muysken (Nijmegen) · Wolfgang Raible (Freiburg) Monika Schmitz-Emans (Bochum) Editorial Assistant Aniela Knoblich · Frau ke Janzen

19

De Gruyter

Fabian Lampart

Nachkriegsmoderne Transformationen der deutschsprachigen Lyrik 1945–1960

De Gruyter

ISBN 978-3-11-022923-3 e-ISBN 978-3-11-022924-0 ISSN 1869-7054 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. 쑔 2013 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen 앝 Gedruckt auf säurefreiem Papier 앪 Printed in Germany www.degruyter.com

Zur Erinnerung an Elmar Lampart (1932–2011)

VII

Inhalt

I.

Probleme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1

1. Moderne in der deutschsprachigen Lyrik zwischen 1945 und 1960: Historische und systematische Perspektiven . . . . 2. Begriffe, Methoden, Fragen . . . . . . . . . . . . . . . . . .

2 13

II. Signaturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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1. Krisensymptomatik: ›Verlust der Mitte‹ und ›unbehauster Mensch‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Projektionen: Abendland und Europa . . . . . . . . . . . . 3. Wandlungen: Lyrikkonzepte nach 1945 . . . . . . . . . . . 4. Fallbeispiele: Lyrikanthologien nach 1945 . . . . . . . . . . 4.1 Kontinuität in der Katastrophe: De Profundis . . . . . . 4.2 Moderate Moderne in Krisenzeiten: Ergriffenes Dasein . . 4.3 Programmatische Modernisierung zur Jahrhundertmitte: Walter Höllerers Transit . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4 Konsolidierung der Moderne: Benders Widerspiel und Bingels Deutsche Lyrik . . . . . . . . . . . . . . . . 4.5 Der lange Weg zur Nachkriegsmoderne . . . . . . . . .

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III. Koordinaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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1. Naturlyrik und Moderne . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Erneuerungsansätze: ›Trümmerlyrik‹ und ›Kahlschlag‹ 3. Gottfried Benn: Nachkriegsartistik und ›Phase II‹ der Moderne . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Bertolt Brecht: Politische Lyrik nach 1945 . . . . . . .

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IV. Transformationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 1. Günter Eich und Peter Huchel: Die sprachkritische Aktualisierung der Naturlyrik . . . . . . . . . . . . . . . . . 132 1.1 Günter Eich: Moderate Modernisierung und Sprachskepsis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134 1.2 Peter Huchel: Naturlyrische Zeichensprache . . . . . . . 164

VIII

Inhalt

2. Karl Krolow: Revision der Naturlyrik im Zeichen des Surrealismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Retrospektive Selbstvermessung: Aspekte zeitgenössischer Lyrik . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Artistik nach der Katastrophe: Krolows Poetik der frühen Nachkriegsjahre . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Variationspoetik: Krolows Lyrik der 40er und 50er Jahre . 2.4 Internationale Moderne: Krolows Rezeption französischer und spanischer Surrealisten . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5 Selektive Modernisierung zwischen Surrealismus und Existentialismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Ingeborg Bachmann: Sprache als Erfahrung . . . . . . . . . 3.1 Frankfurter Vorlesungen: Von der Wahrnehmungsästhetik zur Sprachutopie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Bachmanns Lyrik: Von der Widerstandspoetik zum ›Sprachland‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Diesseits der Sprachkrise: Moderne Lyrik auf der Suche nach der verlorenen ›Wirklichkeit‹ . . . . . . . . . . . . . 4. Paul Celan: Sprachwirklichkeit nach der Shoa . . . . . . . . . 4.1 Die »Todesfuge« und ihre Alternativen: Von Mohn und Gedächtnis bis Von Schwelle zu Schwelle . . . . 4.2 Die Poetik der ›graueren‹ Sprache . . . . . . . . . . . . . 4.3 Mallarmé-Diskurs und Mandelstam-Begegnung . . . . . 4.4 »Stimmen«: Zur Poetik von Sprachgitter . . . . . . . . . . . 4.5 Reine Sprachlichkeit und zweideutiger Realitätsbezug: Celans Lyrik als Variante der Nachkriegsmoderne . . . . 5. Peter Rühmkorf und Hans Magnus Enzensberger: Modernisierung und politische Lyrik . . . . . . . . . . . . . 5.1 Peter Rühmkorf: Parodistische Aktualisierung der lyrischen Tradition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2 Hans Magnus Enzensberger: Politische Lyrik im ›Museum der modernen Poesie‹ . . . . . . . . . . . . . .

192 194 202 212 240 251 255 264 281 304 308 316 339 352 364 377 381 386 408

Resümee und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 445 Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 457 Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 485 Dank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 495

1

I. Probleme

»Anverwandlung der ›klassischen Moderne‹«,1 »Einholen der […] Moderne«,2 ›reflektierte‹3 oder ›rekonstruierte‹4 Moderne –: Die Begriffe stammen aus der Literaturwissenschaft, die Diagnose gilt für das historische Verständnis der Nachkriegszeit insgesamt. Heinrich August Winklers Deutung der jüngeren deutschen Geschichte als ›langer Weg nach Westen‹5 ist nur die prägnanteste Ausformulierung der These, dass Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg politisch und kulturell die westlich-demokratische Tradition mehr und mehr assimilierte und sich ihr in einem durch die Daten 1968 und 1989 skandierten Transformationsprozess endgültig einreihte; andere Historiker sprechen von ›Ankunft im Westen‹6 oder ›geglückter Demokratie‹.7 Ob man nun der teleologischen Insinuation, die hinter diesen Begriffen aufscheint, folgen will oder auch nicht8 – sie diagnostizieren einen tiefgreifenden politischen und kulturellen Wandlungsprozess, der nach 1945 einsetzte und der zunächst im ›Provisorium‹9 der ›alten‹ Bundesrepublik und, mit Einschränkungen, spätestens seit 1990 auch in der ehemaligen DDR von 1

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Friedhelm Kröll, »Anverwandlung der ›klassischen Moderne‹«, in: Ludwig Fischer (Hrsg.), Literatur in der Bundesrepublik Deutschland bis 1967, München 1986, S. 244– 262. Vgl. Wilfried Barner (Hrsg.), Geschichte der deutschen Literatur von 1945 bis zur Gegenwart, 2. Aufl. München 2006, S. 163. Vgl. Helmuth Kiesel, Geschichte der literarischen Moderne. Sprache, Ästhetik, Dichtung im zwanzigsten Jahrhundert, München 2004, S. 299–303 und S. 437–441. Kiesels Begriff der ›reflektierten‹ Moderne umschreibt das Phänomen allerdings nur zum Teil. Er versteht darunter die um 1930 einsetzende Konsolidierungsphase der Moderne, die allerdings durch den Nationalsozialismus nicht nachhaltig modifiziert wurde und so »nach 1945 nahezu unverändert wieder zur Geltung kam« (S. 300). Vgl. Klaus R. Scherpe, Die rekonstruierte Moderne. Studien zur deutschen Literatur nach 1945, Köln, Weimar, Wien 1992, bes. S. XIVf. Vgl. Heinrich August Winkler, Der lange Weg nach Westen, Bd. 2, Deutsche Geschichte vom ›Dritten Reich‹ bis zur Wiedervereinigung, München 2000. Axel Schildt, Ankunft im Westen. Ein Essay zur Erfolgsgeschichte der Bundesrepublik, Frankfurt am Main 1999. Edgar Wolfrum, Die geglückte Demokratie. Geschichte der Bundesrepublik Deutschland von ihren Anfängen bis zur Gegenwart, Stuttgart 2006. Eine Kritik der Verwestlichungsthese wird vertreten von Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 5, Bundesrepublik und DDR 1949–1990, München 2008, z. B. S. 437. Vgl. Andreas Wirsching, Abschied vom Provisorium. Geschichte der Bundesrepublik Deutschland 1982–1990, München 2006.

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Probleme

assimilatorischer Annäherung an westeuropäisch-amerikanische Modelle geprägt war. Den Jahren zwischen 1945 und 1960 kommt in diesem Wandlungsprozess eine spezifische Bedeutung zu. In den späten 1940er Jahren bildeten sich die Denkfiguren heraus, wurden die Programme und Leitvorstellungen ausgehandelt, gegen die und an denen entlang sich im darauffolgenden Jahrzehnt jene, zunächst von restaurativen Tendenzen verdeckten politischen, wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und kulturellen Veränderungen entfalteten, die Zeithistoriker als ›Modernisierung im Wiederaufbau‹ beschrieben haben.10 Freilich stammten die kulturellen Muster, aus denen diese Modernisierung hervorging, zum guten Teil aus der Zeit vor dem Krieg und der Diktatur. Die Ideenlandschaft der 50er Jahre ist von einer Wiederbelebung der »Krisendiskurse[ ] der Zwischenkriegszeit« geprägt.11 In deren konservativkulturpessimistischem Moderne-Verständnis werden gesellschaftliche und kulturelle Modernisierung, Krieg, Diktatur und hin und wieder sogar der Holocaust als Stationen einer kontinuierlichen kulturellen Verfallsgeschichte gedeutet. In diesem enthistorisierenden Krisen- und durch den beginnenden Kalten Krieg verstärkten Endzeitbewusstsein erscheint der aus heutiger Sicht ›geglückte‹ Prozess der Eingliederung in den politischen und kulturellen ›Westen‹ wesentlich weniger zwingend. Der Wandlungsprozess war nicht alternativlos, sondern offen. Gerade an der widersprüchlichen Gemengelage intellektueller Debatten in den 50er Jahren ist das abzulesen.

1.

Moderne in der deutschsprachigen Lyrik zwischen 1945 und 1960: Historische und systematische Perspektiven

Hier setzt diese Untersuchung an. Literatur ist von jeher ein Medium, in dem nicht nur Ergebnisse historischer und gesellschaftlicher Entwicklungen abzulesen sind. Ebenso und vielleicht sogar vorrangig konstituiert Literatur einen kulturellen Resonanzraum, in dem sich Alternativen und Kontrafakturen, nicht realisierte Möglichkeiten und Abwege der Geschichte ablagern. 10

11

Dazu siehe v. a. den von Axel Schildt und Arnold Sywottek herausgegebenen Sammelband Modernisierung im Wiederaufbau. Die westdeutsche Gesellschaft der 50er Jahre, Bonn 1993; vgl. auch Axel Schildt, Moderne Zeiten. Freizeit, Massenmedien und »Zeitgeist« in der Bundesrepublik der 50er Jahre, Hamburg 1995 sowie Ders., Zwischen Abendland und Amerika. Studien zur westdeutschen Ideenlandschaft der 50er Jahre, München 1999 sowie Axel Schildt/Detlef Siegfried, Deutsche Kulturgeschichte. Die Bundesrepublik von 1945 bis zur Gegenwart, München 2009, bes. S. 152–178. Vgl. Schildt, Ankunft im Westen, S. 149f.

Moderne in der deutschsprachigen Lyrik zwischen 1945 und 1960

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Das Gegeneinander aus Restauration und Modernisierungsanspruch, das die Zeit von 1945 bis etwa 1960 charakterisiert, hat in literarischen Texten denn auch prägnantere und zugleich vieldeutigere Spuren hinterlassen, als das die Teleologie der retrospektiv angelegten Begrifflichkeiten von Restauration und Anverwandlung vermuten ließe.12 Denn literarhistorisch wurde die Struktur der Modernisierung als Westorientierung übersetzt in ein Modell literarischer Rezeption der internationalen, besonders der angloamerikanischen und romanischen Moderne.13 Der Akzent lag und liegt zumeist auf der auch sozialgeschichtlich grundierten Vorstellung, dass in den späten 40er und 50er Jahren, mehr oder weniger parallel zur vermeintlichen kulturell-gesamtgesellschaftlichen Entwicklung der West-Annäherung,14 auch in der Literatur Annäherungs- und Assimilierungsbewegungen an die westeuropäischen und angloamerikanischen Traditionen der Moderne zu beobachten seien. Die deutschsprachigen Avantgarde-Bewegungen aus dem ersten Drittel des 20. Jahrhunderts konnten als ohnehin unbestrittener Bestandteil der internationalen Moderne problemlos in diese Denkfigur integriert werden. Manches spricht dafür, dieses Assimilations- und Rezeptionsmodell auch weiterhin, besonders mit Blick auf die Jahre seit 1960, als ein Analyseraster 12

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14

Auf die Probleme (und auf mögliche Ursachen) der Einverleibung der Restaurationsthese in die Literaturgeschichtsschreibung hat bereits vor einem Jahrzehnt Helmuth Kiesel hingewiesen; vgl. Helmuth Kiesel, »Die Restaurationsthese als Problem für die Literaturgeschichtsschreibung« in: Walter Erhart/Dirk Niefanger (Hrsg.), Zwei Wendezeiten. Blicke auf die deutsche Literatur 1945 und 1989, Tübingen 1997, S. 13–45. Beispiele für die unbestrittene, aber revisionsbedürftige Produktivität dieses Analyserasters wären: Angelika Schmitt-Kaufhold, Nordamerikanische Literatur im deutschen Sprachraum nach 1945. Positionen der Kritik und Kriterien der Urteilsbildung, Frankfurt am Main, Bern 1977; Jochen Vogt/Alexander Stephan (Hrsg.), Das Amerika der Autoren. Von Kafka bis 09/11, München 2006, darin bes. Markus M. Payk, »Visionen eines amerikanisierten Faust. Die Vereinigten Staaten im deutschen Feuilleton der 50er Jahre« (S. 209–232) und Helmut Peitsch, »›The past is never dead. It’s not even past.‹ Ein Faulkner-Zitat und deutsch-deutsche Vergangenheitsbewältigung« (S. 279–298); sowie neuerdings Gregory Divers, The image and influence of America in German poetry since 1945, Rochester, NY 2002, bes. S. 1–44 und Günter Butzer/Joachim Jacob (Hrsg.), Berührungen. Komparatistische Perspektiven auf die frühe deutsche Nachkriegsliteratur, Paderborn 2012. Eine solche kulturhistorische Perspektive findet sich bei Hanna Schissler (Hrsg.), The Miracle Years. A Cultural History of West Germany, 1949–1968, Princeton, NJ, Oxford 2001, bes. der Beitrag von Kaspar Maase, »Establishing Cultural Democracy: Youth, ›Americanization‹, and the Irresistible Rise of Popular Culture« (S. 428–450).

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Probleme

für die literaturwissenschaftliche Erforschung der Nachkriegsmoderne beizubehalten. Vieles deutet aber auch darauf hin, dass das Muster einer in den ersten Nachkriegsjahren einsetzenden und seitdem kontinuierlichen ›Anverwandlung‹ der literarischen Moderne in Bezug auf den Zeitraum zwischen 1945 und 1960 einer Revision bedarf. Die Kulturgeschichte der ›janusköpfigen‹ 50er Jahre ist von Ambivalenzen und Suchbewegungen gekennzeichnet;15 ein einziges dominantes Erklärungsmodell – ob es nun die Restaurationsthese oder die Westorientierung privilegiert – greift vor diesem Hintergrund zu kurz. Teil des Problemzusammenhangs der 50er Jahre ist auch das Sprechen über die Moderne. Fragen, welche positiven und häufiger negativen Qualitäten mit dem Epochenkomplex und dem Phänomen Moderne verbunden seien und in welches Verhältnis diese zur historischen Katastrophe von Nationalsozialismus und Holocaust zu setzen seien, stehen bis weit in die 1950er Jahre im Vordergrund der Diskussionen. Natürlich gibt es eine literarische Auseinandersetzung mit ästhetischen Programmen, Schreibweisen und Poetiken wichtiger internationaler Autoren der ›klassischen‹ Moderne16 und bestimmte dominante Annahmen darüber, dass moderne Lyrik nur in der Form von »reimlose[n] Gedichte[n] mit unregelmäßigen Rhythmen […] dem fortgeschrittenen Bewusstseinsstand angemessen« sei und generell nur in dieser Form eine literarische Antwort auf »die Entwicklung anderer gesellschaftlicher Teilsysteme (der Politik, der Wirtschaft, der Wissenschaft)« gegeben werden könne.17 Obwohl sich frühe Antizipationen der erst gegen Ende der 50er Jahre massiv einsetzenden Rezeptionsbewegungen dieses Moderne-Verständnisses finden – u. a. wären hier die Texte Rainer Maria Gerhardts zu nennen18 –, bewegen sich auch diese Rezeptionslinien in der Regel im diskursiven Horizont der kulturkritischen Debatten um den Begriff der Moderne19 – und

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16 17

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19

Vgl. v. a. den Band von Georg Bollenbeck/Gerhard Kaiser (Hrsg.), Die janusköpfigen 50er Jahre, Wiesbaden 2000, bes. »Einleitung« (S. 7–15); aber auch Werner Faulstich (Hrsg.), Die Kultur der 50er Jahre, Paderborn 2002. Vgl. wiederum Kröll, »Anverwandlung der ›klassischen Moderne‹«. Vgl. Dirk von Petersdorff, »Die Öffnung des ästhetischen Feldes«, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der Deutschen Literatur (IASL) 34/2009, 2, S. 228–234, hier S. 229. Rainer Maria Gerhardt, Umkreisung. Das Gesamtwerk, Uwe Pörksen (Hrsg.), Franz Josef Knape/Yong-Mi Quester (Zusammenarbeit), Göttingen 2007. Vgl. zur Produktivität der Kulturkritik als »Reflexionsmodus der Moderne« Georg Bollenbeck, Eine Geschichte der Kulturkritik. Von J. J. Rousseau bis G. Anders, München 2007, bes. S. 7–21.

Moderne in der deutschsprachigen Lyrik zwischen 1945 und 1960

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sind, wie im Fall Benns sichtbar, zusätzlich von Strategien der Selbstvergewisserung eigener Autorschaft beherrscht.20 Es sind also die Diskussionen um Vorstellungen, Begriffe und Konzepte einer in der Regel als krisenhafter Verfallszustand verstandenen Moderne, die die Rezeption bestimmter Texte durch einzelne Autoren filtern und vorselektieren. Besonders bei den Schriftstellern der mittleren oder älteren Generation, die gegen Ende des Krieges bereits auf eine gewisse Kontinuität im eigenen Schreiben zurückblicken konnten, sind konkrete Versuche zur Entwicklung neuer Poetiken geradezu getränkt von den Residuen kultur- und sprachkritischer Moderne-Konzeptionen. Für Benn oder Eich scheinen bestimmte Topoi aus diesem Diskussionsfundus mindestens ebenso bedeutsam wie vermeintlich neue Schreibweisen. Bei Lyrikern ist zudem zu beobachten, wie Versatzstücke der Krisendiskussionen in poetologische Texte und in Gedichte Einzug halten und dann von dort aus das eigene Schreiben modellieren. Entsprechend bestand für Bachmann oder Celan das poetologische Ausgangsproblem nicht mehr in der Transformation bereits fixierter Poetiken naturlyrischer Provenienz, sondern in der Frage, wie man die Moderne auch in ihrer ästhetischen Alterität postulieren und gestalten könne. Aber selbst für sie ist die Notwendigkeit der Verortung im seit 1945 virulenten Diskussionszusammenhang einer krisenhaften und sprachkritischen Moderne noch zwingend genug, und sie widmen ihm in poetologischen Schriften intensive Aufmerksamkeit. So kann nicht zuletzt auch der deutlich evolutionäre Charakter der Bachmann’schen und noch mehr der Celan’schen Lyrik seit Mitte der 50er Jahre als Indiz dafür gewertet werden, dass die Möglichkeiten der diskursiven Integration bestimmter Fermente aus dem Ideenraum der kultur- und sprachkritischen Moderne-Konzeptionen erschöpft waren. An ihre Stelle tritt das Bedürfnis nach einer radikaleren Umsetzung der Modernisierungspostulate; es macht sich in einem neuen Ton der essayistischen Selbsterkundung und auf der Ebene des lyrischen Schreibens gleichermaßen bemerkbar. Rühmkorf und Enzensberger gelingt es, die Traditionen der Moderne für eine breite produktive Rezeption zu öffnen. Erst um 1960 ist die Phase dieser Diskussionen über das Phänomen abgeschlossen und wird ersetzt durch einen nunmehr vollends installierten und institutionalisierten Rezeptionsprozess. Anders gesagt: Das Sprechen über Moderne tritt hinter der wieder erarbeiteten Verfügbarkeit einer Praxis des Schreibens 20

Vgl. Dieter Lamping, »Benn, Marinetti, Auden – Eine Konstellation der Moderne«, in: Friederike Reents (Hrsg.), Gottfried Benns Modernität, Göttingen 2007; vgl. auch: Christian Schärf, Der Unberührbare. Gottfried Benn – Dichter im 20. Jahrhundert, Bielefeld 2006, bes. S. 319–409.

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Probleme

in der Tradition der Moderne zurück. Die Nachkriegsmoderne als Phase der diskursiven Erkundung ist um 1960 abgeschlossen, ihre produktive Rezeption rückt in den Vordergrund. Sicher sind die Verlaufskurven dieser Nachkriegsmoderne der späten 40er und der 50er Jahre je nach Gattung zeitlich verschoben. Gemeinsam ist ihnen allen aber die Überlagerung des lyrischen Schreibens durch Denkformationen einer eher kultur- und ideengeschichtlichen Wahrnehmung der Moderne. In Bezug auf die Lyrik kann man sogar davon sprechen, dass das Schreiben bei einem bestimmten Segment von Autoren geradezu determiniert war von diesen Vorannahmen, denen eine Betonung der Krisenund Verfallssemantik in Bezug auf avantgardistische Ästhetiken gemeinsam ist. Gerade Autoren, die bereits in den 20er Jahren oder vorher einen Platz im literarischen Leben hatten, also Gottfried Benn, Bertolt Brecht oder auch Wilhelm Lehmann, kommt deshalb in Bezug auf die Nachkriegsmoderne eine eigentümliche Funktion zu. Natürlich haben sie auch weiterhin eine wichtige Rolle als Lyriker – aber für die nachfolgende Generation von Autoren, die versuchen, sich im Feld einer auszuhandelnden Moderne neu zu positionieren, sind sie in erster Linie von Bedeutung mit Blick auf die Ideen und Diskurse, die sie seit den ersten Nachkriegsjahren repräsentieren und wirkmächtig vertreten – und die dann im Horizont der Nachkriegsmoderne jeweils neu kontextualisiert und instrumentalisiert werden. In dieser Untersuchung wird es deshalb darum gehen, bei Benn und Brecht vordringlich an ihre diskursive Funktion im Feld der lyrischen Nachkriegsmoderne zu erinnern. Benn ist als Vertreter eines kulturkonservativ imprägnierten, pessimistischen Ästhetizismus bekanntlich derjenige, der eine bestimmte Auffassung von moderner Lyrik geradezu institutionalisiert. In ähnlicher Weise wird, allerdings zeitverschoben Ende der 50er Jahre, auch Brecht als Vertreter einer durchaus auch ideologisch ausgerichteten politischen Lyrik bedeutsam. Benn und Brecht bereiten, wie auch Lehmann und die gesamte Schule der Naturlyrik, bestimmten Möglichkeiten der Rezeption moderner Lyrik den Weg; in dieser Perspektive werden sie hier behandelt. Im Mittelpunkt dieser Untersuchung stehen diejenigen Lyriker, die weder dezidiert klassizistische noch prononciert avantgardistische Ästhetiken vertreten und fortführen und trotzdem den Anspruch erheben, sich der Herausforderung einer Modernisierung der Lyrik zu stellen. Günter Eich, Peter Huchel und Karl Krolow sind Beispiele für die langsame, produktiv-transformatorische Integration bestimmter poetologischer Konzepte der Naturlyrik in die Ästhetiken der modernen Lyrik; und »[t]rotz manchen polemischen Einwurfes avancierte der Name Bachmann in den fünfziger

Moderne in der deutschsprachigen Lyrik zwischen 1945 und 1960

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Jahren zusammen mit jenem Celans […] zum Markenzeichen eines neuartigen lyrischen Sprechens«.21 Bachmann und Celan vertreten in Lyrik und Poetik beide das Anliegen, den nach wie vor krisenhaft besetzten Moderne-Konzepten Alternativen entgegenzustellen, bei denen die grundsätzlich sprach- und wirklichkeitskritische Diagnostik nicht mehr in Frage gestellt, sondern durch einen neuen Sprach- und Wirklichkeitsbezug ersetzt wird. Das populärste deutschsprachige Dokument der Sprachkrise, Hofmannsthals Chandos-Brief, wird bei Bachmann nicht als souveräne sprachliche Gestaltung bestimmter Frakturen zwischen Sprache und Wirklichkeit gelesen, sondern als Diagnose einer Unmöglichkeit, sich sprachlich in der Wirklichkeit zu orientieren; daraus kann Bachmann dann zumindest poetologisch die Utopie einer ›neuen‹ Sprache entwickeln. Peter Rühmkorf und Hans Magnus Enzensberger sind die beiden prominentesten Lyriker, die diese Phase des Übergangs und des Aushandelns bestimmter Moderne-Konzepte abschließen. Aus dieser Perspektive ergibt sich eine interessante Umakzentuierung von Enzensbergers berühmtem Diktum aus dem Nachwort (ehemals Vorwort) zum Museum der modernen Poesie: »Die moderne Poesie ist hundert Jahre alt. Sie gehört der Geschichte an.«22 Dieser Satz, verkündet 1960 in einer der ersten deutschsprachigen Anthologien der internationalen Moderne, kann natürlich den resümierenden Charakter haben, den man ihm gemeinhin zuschreibt. Historisch gesehen naheliegender aber ist es, ihn retrospektiv auf die Versuche der späten 1940er und 50er Jahre zu beziehen, eine Wiederbelebung moderner Schreibtraditionen unter dem Vorzeichen der Restauration eines modernekritischen Denkens zu vollziehen. Der Satz wäre dann weniger eine Prognose hinsichtlich der Entwicklung der modernen Lyrik nach 1960, sondern eine Diagnose über die eigentümlichen, diskursiv manipulierten Figurationen der Moderne-Rezeption vor 1960. Dass diese mit dem Erscheinen des Museums, das nur ein Beispiel für die Institutionalisierung einer Rezeption der Texte – und eben nicht mehr der Konzepte moderner Lyrik darstellt, an ihr Ende gekommen ist, leuchtet ein. Die Vorhersage, dass damit grundsätzlich ein Ende der modernen Lyrik erreicht sei, hat Enzensberger Ende der 70er Jahre selbst zurückgenommen. In den 1960er Jahren gibt es nicht nur Beispiele für die fortgesetzte Rezeption von Lyrikern und Poetiken 21

22

Primus-Heinz Kucher/Luigi Reitani, »Zur Lyrik Ingeborg Bachmanns: Annäherungen«, in: Dies. (Hrsg.), »›In die Mulde meiner Stummheit leg ein Wort …‹. Interpretationen zur Lyrik Ingeborg Bachmanns, Wien, Köln, Weimar 2000, S. 7–33, hier S. 10. Hans-Magnus Enzensberger (Hrsg.), Museum der modernen Poesie, Frankfurt am Main 1980 [11960], S. 765.

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Probleme

der Moderne, in gewisser Hinsicht erreicht dieser Prozess sogar erst in diesem Jahrzehnt seinen Höhepunkt. Nicht zuletzt sind dafür die rastlosen Vermittlungsaktivitäten Enzensbergers ausschlaggebend.23 Demgegenüber fallen Spielarten experimenteller Lyrik, wie sie etwa von Eugen Gomringer und in der Wiener Gruppe vertreten wurden, nicht in den Bereich der Fragestellungen dieser Untersuchung. So wichtig ihr Beitrag zu einer Wiederentdeckung und Verfügbarmachung bestimmter AvantgardeÄsthetiken in der deutschsprachigen Lyrik war, so ist doch gerade deren affirmative Assimilation ein Grund dafür, sie nicht im Segment der transformatorischen Modernisierer zu untersuchen, wo zunächst schrittweise und diskursiv bestimmte Moderne-Vorstellungen diskutiert und dann auch lyrisch umgesetzt werden. Die Probleme einer Nachkriegsmoderne, die sich im Spannungsfeld von ideologischen und ästhetischen Diskussionen und nicht zuletzt auch der historischen Bedingungslage der Nachkriegszeit bewegt, rücken bei Autoren, die eine eindeutig avantgardistische Position vertreten, in den Hintergrund. Diese Untersuchung widmet sich gerade denjenigen, die zwischen den eindeutig fixierten Positionen stehen – und gerade darin zentrale Fragen und Möglichkeiten literarhistorischer Konstellationen repräsentieren. Es geht hier also nicht darum, die deutschsprachige Lyrik zwischen 1945 und 1960 in gewissermaßen literaturgeschichtlicher Überschau zu behandeln, sondern ein bestimmtes repräsentatives Segment zu betrachten, an dem sich der Prozess des Erkundens und poetologischen Reformulierens bestimmter Moderne-Vorstellungen auf der Basis bestehender Traditionsbestände untersuchen lässt. Es geht um die Ausgangskonstellationen einer modernen deutschsprachigen Lyrik um 1945, die durch eine doppelte Konstellation des Antimodernismus geprägt ist: einmal die offensichtliche kulturelle Isolation, die durch die nationalsozialistische Diktatur und durch den Zweiten Weltkrieg erzeugt wurde, zum anderen die grundsätzlichere Struktur antimodernistischer Poetiken, die bereits um 1930 als Reaktion auf die von manchen der späteren Naturlyriker als ungebremst und oberflächlich empfundene neusachlich-avantgardistische Moderne einsetzen. Vordringlich ist also die Bedeutung zentraler literarischer Traditionen, die 1945 das literarische Leben in Deutschland beherrschten. Neuere Untersuchungen zeigen, dass ästhetische Kontinuitäten über die historischen Brüche

23

Vgl. Dieter Lamping, »Gibt es eine Weltsprache der modernen Poesie? Über W.C. Williams’ deutsche Rezeption«, in: Ders., Literatur und Theorie. Poetologische Probleme der Moderne, Göttingen 1996, S. 69–85.

Moderne in der deutschsprachigen Lyrik zwischen 1945 und 1960

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hinweg gerade in der Lyrik stärker berücksichtigt werden müssen.24 Erst unlängst haben Stephen Parker, Peter Davies und Matthew Philpotts die These von der ›modern restoration‹ entwickelt, die eben diese Kontinuität ästhetischer Entwicklungen von den 30er bis in die 50er Jahre hinein betont und dabei frühere Untersuchungen aufgreift.25 Die These besagt, dass »during the 1930s, 1940s, and 1950s, for all its political dislocations, the German literary sphere is characterised by a common set of aesthetic concerns […]«: The prevailing literary mood in the middle three decades of the twentieth century is characterised by a re-assertion of the conventional bourgeois institution of literature, allied to a search for stability of meaning, against the background of successive and on-going crisis.26

Eine ähnliche These vertreten Gustav Frank, Rachel Palfreyman und Stefan Scherer.27 Mit dem Begriff der ›Synthetischen Moderne‹ versuchen sie, »die Doppelung von literarischer Modernität und Synthesis auf dem aktuellen Stand der Forschungsgeschichte«28 zu fassen. Der doppelte Ursprung von literarischer Syntheseproduktion und ›reflexiver Reaktion‹ […] um 1925 reagiert auf das Historischwerden der künstlerischen Avantgarden: auf die Historisierung der frühen Moderne. Die poetischen Bilanzen der Epoche in einer ›reflektierten‹ und ›kombinatorischen Moderne‹ dienen der Sichtung und Bändigung der gesellschaftlichen und ästhetischen Modernisierung. ›Synthesen‹ bearbeiten die Krisen- und Destabilisierungsverfahren seit dem Ersten Weltkrieg und die massenmedialen Repräsentationsformen der neuen Populärkultur durch eine ebenso poetische wie metaphysische Integration der neuen ›Tatsachen‹.29

Beide Ansätze konvergieren mit der These dieser Untersuchung: Die zentrale Denkfigur einer Aufarbeitung der internationalen Moderne nach 1945 muss vor dem Hintergrund starker Kontinuitäts-, Synthese- und Reflexions24

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Die folgenden Ansätze weisen eine gewisse Parallelität zu Ulrich Herberts Thesen zur ›Hochmoderne‹ auf; vgl. Ulrich Herbert, »Europe in High Modernity. Reflections on a Theory of the 20th Century«, in: Journal of Modern European History 5/2007, S. 5–20. Stephen Parker/Peter Davies/Matthew Philpotts, The Modern Restoration. Rethinking German Literary History 1930–1960, Berlin, New York 2004. Ebd., S. 12. Gustav Frank/Rachel Palfreyman/Stefan Scherer (Hrsg.), Modern Times? German Literature and Arts Beyond Political Chronologies. Kontinuitäten der Kultur: 1925–1955, Bielefeld 2005, und darin bes. Dies., »Modern Times? Eine Epochenkonstruktion der Kultur im mittleren 20. Jahrhundert – Skizze eines Forschungsprogramms«, ebd., S. 387–430. Vgl. ebd., S. 404. Ebd.

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Probleme

bewegungen seit Ende der 1920er Jahre modifiziert werden. Für breite Teile der Lyrik nach 1945 gilt: Es handelt sich viel stärker um eine Assimilation von Strömungen der internationalen Moderne in bereits bestehende ästhetische Muster als um den Beginn neuer Entwicklungen.30 Ebenso verändert sich vor diesem Hintergrund auch die Einschätzung des Datums ›1945‹ für den Modernisierungsprozess. ›1945‹ bleibt von zentraler Bedeutung, aber eher als Indikationspunkt von Diskussionen und Auseinandersetzungen, die erst nach und nach gleichsam ins literarische Feld diffundieren. Daraus ergibt sich eine Konzentration auf Poetiken, die an die Konzeptionen der 30er Jahre anknüpfen und die ihrem Selbstverständnis nach weniger antimodern waren, als dass sie eine für notwendig erachtete Korrektur der Moderne anstrebten.31 Zumindest die ältere Generation der Lyriker, die sich so fassen lassen, entstammte dieser zumeist naturlyrisch geprägten Tradition. Die Vertreter dieser Ansätze schrieben nach 1945 bis auf einige Ausnahmen in Westdeutschland und später in der Bundesrepublik, und das ist der Hauptgrund, warum das Paradigma der ›restaurativen Modernisierung‹ in erster Linie (wenngleich nicht ausschließlich) auf den kulturellen Kontext und die Literaturgeschichte der Bundesrepublik Bezug nimmt. Auch wenn davon auszugehen ist, dass im Literaturbetrieb der SBZ/ DDR analoge Entwicklungen in Richtung einer Annäherung an die Moderne wie im Westen stattfinden, unterscheiden sich die Voraussetzungen dieser Prozesse von denen in Westdeutschland doch so markant, dass sie 30

31

In Frank/Palfreyman/Scherer, Modern Times? wird das besonders in drei Beiträgen verdeutlicht: Thomas Betz, »›mit fremden Zeichen‹ – Zur Poetologie im Werk Günter Eichs 1927–1955«, in: Frank/Palfreyman/Scherer (Hrsg.), Modern Times?, S. 93–114; Leonard Olschner, »Lyric Poetry in the Shadow of Time«, in: ebd., S. 115–132; Hans J. Hahn, »Expressionistische Nachbeben? Gottfried Benns Modernismus vor und nach 1945«, in: ebd., S. 133–148. Mit diesem Plädoyer für eine stärkere Berücksichtigung jeweils diskursgeschichtlich relevanter Moderne-Konzepte liefert diese Untersuchung auch einen Beitrag zur im Internationalen Archiv für Sozialgeschichte geführten Diskussion um die literaturwissenschaftliche Moderne-Forschung. Vgl. Walter Erhart, »Editorial – Stichworte zu einer literaturwissenschaftlichen Moderne-Debatte«, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der Deutschen Literatur (IASL) 34/2009, 2, S. 176–194; Anke-Marie Lohmeier, »Was ist eigentlich modern? Vorschläge zur Revision literatur-wissenschaftlicher Modernebegriffe«, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 32/2007, 1, S. 1–15; Thomas Anz, »Über einige Missverständnisse und andere Fragwürdigkeiten in Anke-Marie Lohmeiers Aufsatz ›Was ist eigentlich modern?‹«, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 33/2008, 1, S. 227–232; Dirk von Petersdorff, »Die Öffnung des ästhetischen Feldes«, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der Deutschen Literatur (IASL) 34/2009, 2, S. 228–234.

Moderne in der deutschsprachigen Lyrik zwischen 1945 und 1960

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eine eigene, höchst voraussetzungsreiche Untersuchung verlangen würden, in der eine systematische Differenzierung der spezifischen Problemlage in Bezug auf die DDR-Literatur geleistet werden müsste.32 In Barners literarhistorischer Perspektive »scheint die ›System‹-Verschiedenheit der DDR eine gesonderte Darstellung zu erwingen«;33 entsprechend sind auch bereits vorliegende Literaturgeschichten der DDR zu verstehen.34 Auf der anderen Seite schließt die personelle Kontinuität der deutschen Literatur nicht aus, dass in Einzelfällen Autoren der DDR in einer Untersuchung über die diskursive und ästhetische Modernisierung der deutschsprachigen Literatur ihren Platz finden können. Peter Huchel vertrat nicht nur mit seiner Arbeit als Herausgeber von Sinn und Form eine bis zu einem gewissen Grad gesamtdeutsche Perspektive.35 Als Lyriker, der in den Bereich der ›modern restoration‹ fällt, setzte er die Kontinuität der Naturlyrik in der DDR bis in die 60er Jahre hinein fort – und kam dadurch zu Lösungen, die denen Günter Eichs in vielem nahe stehen und zugleich als eine individuelle Akzentuierung ›politischer Lyrik‹ verstanden werden können. Weniger radikal, aber ähnlich dürfte die Diagnose für die Literaturen Österreichs und der Schweiz ausfallen. Aus der Sicht des Literaturhistorikers mögen sich die Differenzen zwischen den Literaturen der alten Bundesrepublik, Österreichs und der deutschsprachigen Schweiz entsprechend der historischen Entwicklung des literarischen Lebens nach 1945 relativieren,36 auch wenn sie damit keinesfalls aufgehoben sind und sogar ganz andere Differenzierungen entwickeln.37 Sowohl mit Blick auf die Autorinnen und 32

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Für Fallanalysen von Phänomenen, die den hier verhandelten analog sind, vgl.: Heinrich Küntzel, »Traditionen und Tendenzen in der Lyrik der DDR«, in: Lothar Jordan/Axel Marquardt/Winfried Woesler (Hrsg.), Lyrik – Blick über die Grenzen. Gedichte und Aufsätze des ersten Lyrikertreffens in Münster, Frankfurt am Main 1981, S. 79–98; sowie: Anneli Hartmann, »Von Vorbildern und poetischen Referenzen. DDR-Autoren im lyrischen Gespräch mit sowjetischen Dichtern«, in: Lothar Jordan/Axel Marquardt/Winfried Woesler (Hrsg.), Lyrik – Blick über die Grenzen. Gedichte und Aufsätze des zweiten Lyrikertreffens in Münster, Frankfurt am Main 1984, S. 182–200. Vgl. Barner (Hrsg.), Geschichte der deutschen Literatur von 1945 bis zur Gegenwart, S. XX. Vgl. v. a. Wolfgang Emmerich, Kleine Literaturgeschichte der DDR, erw. Neuausgabe, Berlin 2000; sowie Hans-Jürgen Schmitt (Hrsg.), Die Literatur der DDR, München, Wien 1983. Vgl. Uwe Schoor, Das geheime Journal der Nation. Die Zeitschrift »Sinn und Form«, Chefredakteur: Peter Huchel (1949–1962), Berlin 1992. Vgl. Barner (Hrsg.), Geschichte der deutschen Literatur von 1945 bis zur Gegenwart, S. XIX. Vgl. programmatisch für die Schweizer Literatur Michael Böhler, »Schweizer Literatur im Kontext deutscher Kultur unter dem Gesichtspunkt einer ›Ästhetik der

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Probleme

Autoren, die ihre Bücher »seit den fünfziger Jahren […] mit Vorliebe in deutschen Verlagen herausbringen«, als auch aufgrund des »mit Selbstverständlichkeit ›grenzüberschreitend[en]‹« Lesepublikums könne man von einem »größeren deutschsprachigen Kontext« ausgehen. »Erst innerhalb dieses größeren deutschsprachigen Kontexts […] gewinnen spezifisch regionale und nationale Perspektiven ihre Kontur« und seien entsprechend »selbstverständlich herauszuarbeiten«.38 Natürlich lassen sich Konzepte wie ›Westernisierung‹ oder ›restaurierte Moderne‹,39 deren Erklärungspotential für die Kulturgeschichte der Bundesrepublik der 50er Jahre akzeptiert ist und die mit den nötigen Differenzierungen auch als Grundlage spezifisch literarhistorischer Prozesse dienen können, nur bedingt auf die Schweiz oder Österreich und schwerlich überhaupt auf die in ganz anderen kulturpolitischen Konstellationen entstehende DDR-Literatur anwenden. Dass allerdings – wenn auch ungleichzeitig, unter strukturell und individuell verschiedenen Ausgangsbedingungen und im Bezug auf zumindest partiell andere Paradigmen und Leitfiguren – eine der bundesrepublikanischen in Grundzügen vergleichbare Phase eines ›modernism revisited‹40 zumindest in den Literatursystemen der Schweiz,41 Österreichs42 und sogar der DDR zu be-

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39

40

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Differenz‹«, in: Text und Kontext, Sonderreihe 30/1991, S. 73–100 sowie Ders., »Paradoxie und Paratopie. Der Ort der Schweizer Literatur«, in: Michael Braun/ Birgit Lermen (Hrsg.), Begegnung mit dem Nachbarn (IV.). Schweizer Gegenwartsliteratur, St. Augustin, S. 31–63. Ebd. – Die Konturierung der Literaturen Österreichs und der Schweiz auch für die Zeit nach 1945 wurde seit den 70er Jahren vorangetrieben: Vgl. Hilde Spiel (Hrsg.), Die zeitgenössische Literatur Österreichs, München, Zürich 1976 sowie Klaus Zeyringer, Österreichische Literatur seit 1945. Überblicke, Einschnitte, Wegmarken, Innsbruck 2001; ebenso: Elsbeth Pulver, »Die deutschsprachige Literatur der Schweiz seit 1945«, in: Manfred Gsteiger (Hrsg.), Die zeitgenössischen Literaturen der Schweiz, München, Zürich 1974, S. 143–405, bes. S. 215–227 u. S. 274–290; sowie: Peter Rusterholz/Andreas Solbach (Hrsg.), Schweizer Literaturgeschichte, Stuttgart, Weimar 2007, bes. S. 241–256. Zur Lyrik vgl. Joseph Strelka, »Die Entwicklung der Lyrik seit 1945 in Österreich«, in: Klaus Weissenberger (Hrsg.), Die deutsche Lyrik 1945–1975. Zwischen Botschaft und Spiel. Düsseldorf 1981, S. 49–61; Werner Weber, »Die Entwicklung der Lyrik seit 1945 in der Schweiz«, in: Klaus Weissenberger (Hrsg.), Die deutsche Lyrik 1945–1975. Zwischen Botschaft und Spiel, Düsseldorf 1981, S. 62–77. Vgl. Manfred Görtemaker, Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Von der Gründung bis zur Gegenwart, Frankfurt am Main 2004, S. 249–270, bes. S. 253–255 und S. 268–270. Ingo R. Stoehr, German Literature of the Twentieth Century. From Aestheticism to Postmodernism, Rochester, NY 2001, S. 223. Zu den Voraussetzungen vgl. Ursula Amrein, Phantasma Moderne. Die literarische Schweiz 1880 bis 1950, Zürich 2007.

Begriffe, Methoden, Fragen

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obachten ist, daran ließe sich nach einem vorsichtigen Vergleich literarhistorischer Daten wohl festhalten. Insofern bleibt die Grundannahme der nachgeholten Moderne bei allen Differenzen ein mögliches Erklärungsmodell für Entwicklungen in den deutschsprachigen Literaturen der Nachkriegszeit. Entscheidend für die Auswahl der Autoren, die im vierten Teil dieser Untersuchung in den Blick genommen werden, ist freilich etwas anderes: Die literarischen Systeme Österreichs und auch der Schweiz sind gegenüber dem der alten Bundesrepublik so durchlässig, dass zumindest im Fall Bachmanns und Celans spätestens seit der Teilnahme an der Tagung der Gruppe 47 in Niendorf 1952 de facto ein Zustand der Partizipation dieser beiden Autoren an den Diskussionen und Diskursen der westdeutschen Literaten gegeben war – wobei Celans Sonderstellung natürlich einer zusätzlichen Differenzierung bedarf. Unter diesem Gesichtspunkt nehmen sie auch in dieser Untersuchung die zentrale Position derjenigen Lyriker ein, die erste markante Alternativen zu den naturlyrisch und restaurativ geprägten Varianten der Nachkriegsmoderne formulieren und ästhetisch umsetzen.

2.

Begriffe, Methoden, Fragen

So offensichtlich die literarhistorische Eingrenzung des Gesamtphänomens Nachkriegsmoderne sein mag, so facettenreich gestaltet sich seine Analyse. Schon der Begriff Moderne an sich ist polyvalent.43 Die definitorischen Probleme werden nicht kleiner, wenn man dann noch von moderner Lyrik spricht. Das liegt auch daran, dass in den 40er und 50er Jahren im kollektiven Verständnis ebenso wie in Literaturkritik und Literaturwissenschaft der Lyrikbegriff eine deutliche Verschiebung erfährt, die zugleich Teil und Konsequenz der Aufarbeitung der Moderne nach 1945 ist: Die klassisch-romantische Vorstellung, die Selbstaussprache des Subjekts sei eine spezifische Gattungseigentümlichkeit der Lyrik, wird immer mehr relativiert und historisiert; gleichzeitig entstehen Variationen von ›entsubjektivierten‹, ›sprachkritischen‹ und schließlich im weiteren Sinn ›politischen‹ Lyrikkonzepten.

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43

Vgl. zu den marktsystematischen Überschneidungen zwischen den literarischen Systemen der verschiedenen Länder Barner (Hrsg.), Geschichte der deutschen Literatur von 1945 bis zur Gegenwart, S. XIXf. Vgl. für einen Forschungsaufriss: Sabina Becker/Helmuth Kiesel, »Literarische Moderne. Begriff und Phänomen«, in: Dies. (Hrsg.), Literarische Moderne. Begriff und Phänomen, Berlin, New York 2007, S. 9–35.

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Probleme

Ebenso wenig ist im Kontext der Nachkriegsjahre die nach wie vor diskutierte Frage nach der Bedeutung des Datums ›1945‹ für die deutsche Literatur zu umgehen. Mittlerweile herrscht Konsens darüber, dass die einstmals als ›Stunde Null‹ postulierte und konstruierte Trennfunktion des Kriegsendes eher eine Konstruktion der Zeitgenossen als ein historisches Datum war.44 Es ist deshalb nur folgerichtig, dass gegenwärtig – wieder – Fragen nach der Kontinuität literarischer Entwicklungen in den Jahrzehnten zwischen 1930 und 1960 debattiert werden45 oder auch die Figurationen der Wiederaufnahme des literarischen Lebens nach 1945 zur Diskussion stehen.46 Aber auch wenn das Jahr 1945 keine essentielle Trennfunktion hat, entfalten doch auf mittlere Sicht die relativen Selbstwahrnehmungen und -beschreibungen der Autoren um und nach 1945 eine gewisse Wirkung. Sie produzieren in den frühen Nachkriegsjahren die Auffassung eines Neubeginns, der zwar vorwiegend postulatorischer Natur war, aber doch in selektiven Gedankenfiguren und Konzepten in den 50er Jahren seine Wirkung entfaltete. Für die begrifflich-methodische Praktikabilität der vorliegenden Untersuchung sind deshalb zwei Kriterien leitend: Zum einen bedarf es eines möglichst präzisen und zugleich für historische Varianten offenen Begriffs von moderner Lyrik. Zum anderen muss es angesichts der Wichtigkeit der in den 40er und 50er entwickelten Begrifflichkeiten von Moderne und Lyrik gewährleistet sein, dass diese in ihrer Historizität rekonstruiert und auch jederzeit relativiert werden können. »Literarhistorischer Periodisierungsbegriff für rezente Entwicklungen«:47 Die Polyvalenz des Periodisierungsbegriffs Moderne48 bezieht sich in ers44

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48

Vgl. Waltraud Wende, »Einen Nullpunkt hat es nie gegeben. Schriftsteller zwischen Neuanfang und Restauration – oder: Kontinuitäten bildungsbürgerlicher Deutungsmuster in der unmittelbaren Nachkriegsära«, in: Bollenbeck/Kaiser (Hrsg.), Die janusköpfigen 50er Jahre, S. 17–29; sowie mit Blick auf die Lyrik: Hermann Korte, Deutschsprachige Lyrik seit 1945, 2. Auflage, Stuttgart, Weimar 2004, S. 5–10. Vgl. Parker/Davies/Philpotts, The Modern Restauration; Frank/Palfreyman/Scherer (Hrsg.), Modern Times? Für den Stand der neueren Diskussion vgl. Irmela von der Lühe/Claus-Dieter Krohn (Hrsg.), Fremdes Heimatland. Remigration und literarisches Leben nach 1945, Göttingen 2005. Vgl. Günter Blamberger, »Moderne«, in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, Bd. II, S. 620–624, hier S. 620. Vgl. Hans Ulrich Gumbrecht, »Modern. Modernität, Moderne«, in: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, hrsg. von Otto Brunner/Werner Conze/Reinhart Koselleck, Bd. 4, Stuttgart 1978,

Begriffe, Methoden, Fragen

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ter Linie auf die Epochen, die damit definiert sein können. In der literaturwissenschaftlichen Moderne-Forschung haben sich vor allem zwei Ansätze herausgebildet, die ihren Fluchtpunkt allesamt in der Vieldeutigkeit des Epochenbegriffs Moderne finden. Die Unterscheidung in Makro- und Mikroperiode, die Günter Blamberger im Reallexikon einsetzt,49 markiert dabei einen Minimalkonsens, der es erlaubt, diese grundsätzliche Polyvalenz des Begriffs für seine Verwendung als literarhistorische Epochenmarkierung einzuhegen. In den Ästhetischen Grundbegriffen führt Cornelia Klinger vom Mittelalter bis in die Zeit nach 1970 nicht weniger als sieben Etappen an, in denen das semantische Feld modern umschrieben wird.50 Erst die vierte dieser Etappen (nach Mittelalter, Renaissance und der ›Querelle des anciens et des modernes‹ im späten 17. Jahrhundert) ist dabei die Zeit um 1800. Klinger sieht das »vielleicht wichtigste Argument dafür, in der Periode um 1800 eine, wenn nicht überhaupt die für die Begriffsgeschichte von modern/Moderne entscheidende Schwelle zu sehen, […] in der Zeit- und Geschichtserfahrung der gebildeten und gelehrten Zeitgenossen selbst«.51 Für die Literaturwissenschaft ausgeführt wurde dieses Konzept einer um 1800 einsetzenden Makroepoche der literarischen Moderne in problemgeschichtlicher Perspektive von Silvio Vietta.52 Für ihn umfasst die literarische Moderne »einen Zeitraum von mindestens 200 Jahren«53 und artikuliert sich »als kritische Gegenstimme gegen die Einseitigkeit der rationalistisch-technisch-ökonomischen

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S. 93–131; sowie: Christoph Brecht/Peter Andraschke/Michael F. Zimmermann, »Moderne«, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, hrsg. von Gert Ueding, Bd. 5, Darmstadt 2001, Sp. 1404–1448; Rainer Piepmeier/Redaktion, »Modern, die Moderne«, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hrsg. von Joachim Ritter u. Karlfried Gründer, Bd. 6, Darmstadt 1984, Sp. 54–62; Klaus Peter Müller, »Moderne«, in: Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie, hrsg. von Ansgar Nünning, 4. Aufl. Stuttgart, Weimar 2008, S. 508–511. Vgl. Blamberger, »Moderne«, in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, S. 620. Cornelia Klinger, »Modern / Moderne / Modernismus«, in: Ästhetische Grundbegriffe, Karlheinz Barck/Martin Fontius/Dieter Schlenstedt/Burkhart Steinwachs/ Friedrich Wolfzettel (Hrsg.), Bd. 4, Stuttgart, Weimar 2002, S. 121–167. Ebd., S. 129. Vgl. z. B. Silvio Vietta, Die literarische Moderne. Eine problemgeschichtliche Darstellung der deutschsprachigen Literatur von Hölderlin bis Thomas Bernhard, Stuttgart 1992. Vgl. aber auch: Dirk Kemper, »Ästhetische Moderne als Makroepoche«, in: Silvio Vietta/ Dirk Kemper (Hrsg.), Ästhetische Moderne in Europa. Grundzüge und Problemzusammenhänge seit der Romantik, München 1997, S. 97–126; sowie allg. Silvio Vietta/ Dirk Kemper, »Einleitung«, in: Vietta/Kemper (Hrsg.), Ästhetische Moderne (s. o.), S. 1–55. Ebd., S. 34.

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Probleme

Moderne«,54 die ihrerseits mit der Grundlegung des rationalistisch-exakten Denkens im zweiten Drittel des 17. Jahrhunderts einsetzt. Eine entscheidende Differenz zwischen diesen Konzepten von literarischer Moderne scheint in der methodischen Grundierung der Erklärungsmodelle zu liegen. Viettas Vorstellung von der Makroperiode ist wesentlich problemgeschichtlich bestimmt; sie ist dadurch gekennzeichnet, dass sie sich seit Hölderlin und der Romantik kritisch-utopistisch an der rationalistischen Moderne abarbeitet. Der Ansatz scheint dafür geeignet, Kontinuitäts- und Transformationsphänomene zu berücksichtigen. Auch wenn diese Überlegungen in der Bestimmung der Mikroperiode durchaus eine Rolle spielen, dann geraten, auch infolge der verkürzten Zeitperspektive, hier doch Erklärungsmodelle in den Vordergrund, bei denen nicht die Reaktion auf Probleme und Diskussionen, sondern das jeweils im Verhältnis zum Vorhergehenden spezifisch ›Neue‹ sich in einem Willen zur Progression und zur formalen Innovation manifestiert.55 In diese Richtung geht auch Helmuth Kiesels Bestimmung der Moderne als ein seit dem späten neunzehnten Jahrhundert identifizierbarer »Prozeß aus Prozessen«,56 die den systematischen Ausgangspunkt und die darstellerische Fundierung seiner Geschichte der literarischen Moderne darstellt. Kiesel bewegt sich eindeutig im Horizont der Ansätze, die von der Moderne als Mikroperiode ausgehen und sie auf jene »künstlerischen und literarischen Strömungen des ausgehenden neunzehnten und besonders des frühen zwanzigsten Jahrhunderts in Europa« einschränken, »die mit dem bürgerlichen Realismus wie dem epigonalen Historismus gebrochen und sich der Kategorie des Neuen verschrieben haben«.57 Ein solcher Ansatz ist wiederum besonders für die Profilierung der Eigenarten und Qualitäten von ästhetischen Verfahren und Poetiken von Nutzen, die sich seit der Wende zum zwanzigsten Jahrhundert entwickelt haben. Ein zentrales Element des Moderne-Begriffs ist auch für Kiesel der Innovationsanspruch, der sich auf »die Entwicklung künstlerischer Verfahren« und »auf die Aufnahme aktueller Erfahrungsbereiche und Wissensbestände der industriellen Massengesellschaft«58 bezieht. Problematisch werde deshalb die »zeitliche Eingrenzung der Moderne innerhalb der deutschen Lite54 55

56 57 58

Ebd., S. 28. Ähnliche Beobachtungen bereits bei Jörg Schönert, »Gesellschaftliche Modernisierung und Literatur der Moderne«, in: Christian Wagenknecht (Hrsg.), Zur Terminologie der Literaturwissenschaft. Akten des IX. Germanistischen Symposions der Deutschen Forschungsgemeinschaft, Würzburg 1986, Stuttgart 1988, S. 393–413. Vgl. Kiesel, Geschichte der literarischen Moderne, S. 9. Blamberger, »Moderne«, in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, S. 620. Ebd.

Begriffe, Methoden, Fragen

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raturgeschichte von ca. 1880 bis 1930« erst, wenn man unter Moderne »nicht nur einen Epochen-, sondern vor allem einen Stilbegriff versteht«.59 Die Koppelung des Innovationskonzepts (angezeigt bereits durch die Etymologie des zunächst ausschließlich zeitliche Neuheit anzeigenden Adjektivs ›modernus‹) mit dem Stilbegriff, der in der Literaturgeschichte die in der avantgardistischen Phase der Moderne entwickelte Formenvielfalt meint, erzeugt innerhalb des Begriffs eine gewisse Spannung: Als modern kann man nun auch die Perpetuierung, selektive Anwendung und Reflexion der einmal entwickelten Formen verstehen. Das absolute Primat der Erneuerung tritt hinter der Konsolidierung der erneuerten »Formen und Institutionen des etablierten bürgerlichen Kulturbetriebs«60 zurück. Helmuth Kiesel hat dieses Phänomen mit dem Begriff der ›reflektierten‹ Moderne beschrieben, die in der ›Sattelzeit‹ um 1930 zu beobachten sei.61 Während die avantgardistischen Innovationen – vor allem die extreme Sprachskepsis – mit der Formierung des Surrealismus ab etwa 1924 an ein Ende kamen und »Expressionismus und Aktivismus […] durch die sogenannte Neue Sachlichkeit abgelöst [wurden], die nicht nur weniger aufgeregt wirkte, sondern auch weniger innovativ«,62 nahm um 1930 der Reiz traditioneller Ausdrucksformen wieder zu. Hans-Dieter Schäfer, auf den sich auch Kiesel beruft, spricht von der »Abkehr von revolutionären Ausdrucksformen«63 und sieht die Einengung des experimentellen Spielraums sogar als eine bis ins kollektive kulturelle Bewusstsein spürbare Auswirkung der Erschütterung durch die Weltwirtschaftskrise.64 ›Reflektiert‹ sei die Moderne ab 1930 aber nach Kiesel vor allem aus generationalen Gründen: […] einige Autoren, die in die sich entfaltende Moderne hineingewachsen waren und in den avantgardistischen zehner Jahren mit ersten beachtenswerten Werken hervorgetreten waren, [kamen] um 1930 in ein Alter […], das zur Selbstreflexion und zur Summierung der ästhetischen Erfahrungen und Einsichten in profilierten dichterischen Werken wie in poetologischen Abhandlungen drängen mochte.65

Diese Behauptung mag mit einem anthropologisierenden Vermutungscharakter behaftet sein, den Kiesel auch zugesteht. Aber er hält doch daran 59 60 61 62 63

64 65

Ebd. Ebd. Vgl. Kiesel, Geschichte der literarischen Moderne, S. 299–303. Ebd., S. 299. Hans-Dieter Schäfer, »Zur Periodisierung der deutschen Literatur seit 1930«, in: Ders., Das gespaltene Bewußtsein. Deutsche Kultur und Lebenswirklichkeit 1933–1945, 2. Aufl. München 1982, S. 55–71, hier S. 57. Ebd., S. 56. Kiesel, Geschichte der literarischen Moderne, S. 299.

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fest, dass in Döblins Bau des epischen Werks (1930), Brechts Kleinem Organon für das Theater (1948) und Benns Problemen der Lyrik (1951) drei poetologische Grundschriften vorliegen, die »gleichermaßen als gattungsspezifische Kodifikationen jener reflektierten Moderne betrachtet werden [können], die sich in den Jahren vor 1933 vollends herausbildete und die nach 1945 wieder zu Geltung kam«.66 Die Entstehung des Kleinen Organons und der Probleme der Lyrik erst nach 1945 lässt sich wiederum aus den historischen Umständen erklären, aber beide Texte basieren auf bereits um 1930 fixierten Erkenntnissen, wogegen sich die »dazwischenliegende Zeit des Zweiten Weltkriegs und des Holocaust […] demgegenüber auf diese beiden Poetiken nicht erkennbar ausgewirkt«67 habe. Deshalb spreche alles dafür, die drei Schriften als Kodifikationen ein und derselben Spielart der Moderne zu behandeln –: der reflektierten Moderne, die sich vom forcierten Avantgardismus abkehrte, seine Innovationen aber nicht vergaß, sondern in komplexere und differenziertere Konzepte und Werke überführte.68

Zwei Aspekte machen das Konzept der ›reflektierten‹ Moderne auch im Kontext der Moderne nach 1945 bedeutsam. Zum einen erlaubt es, aus historischer Perspektive, die Kontinuität zwischen den verschiedenen Phasen der Moderne seit dem Ende der 20er Jahre literarhistorisch zu illustrieren. Gerade die schrittweise Engführung der ›reflektierten‹ Moderne-Konzeptionen der 20er Jahre mit den nach 1945 weiterhin virulenten Vorstellungen einer restaurativen Korrektur der Moderne ist für die Literatur und besonders die Lyrik der 1950er Jahre von zentraler Bedeutung. Zum anderen eröffnet die Vorstellung einer ›reflektierten‹ Moderne die Möglichkeit, Fortschreibungen moderner Poetiken, die »aus einer umsichtigen und kritischen Aufarbeitung und Weiterführung früherer und zumal avantgardistischer Schreibweisen […] hervorgegangen sind«,69 deskriptiv zu fassen. Begriff und Erklärungsmuster der ›reflektierten‹ Moderne erlauben also eine präzisere Verortung und Bestimmung der spezifisch transformatorischen Lyrik-Konzepte der späten 40er und der 50er Jahre. Hermann Kortes Einführung ist weiterhin der umfassendste Versuch einer historischen Gesamtdarstellung der Deutschsprachigen Lyrik seit 1945.70 66 67 68 69 70

Ebd., S. 300. Ebd., S. 301. Ebd. Ebd. Korte, Deutschsprachige Lyrik seit 1945; vgl. auch Ders., »Deutschsprachige Lyrik seit 1945«, in: Franz-Josef Holznagel/Hans-Georg Kemper/Hermann Korte/ Mathias Mayer/Ralf Schnell/Bernhard Sorg, Geschichte der deutschen Lyrik, Stuttgart 2004, S. 581–665.

Begriffe, Methoden, Fragen

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Die dem Band zugrunde gelegten Abschnittsgliederungen nach programmatisch synthetisierten Jahrzehnten fixieren den Stand der literaturwissenschaftlichen Differenzierung: Die Lyrik zwischen 1945 und 1949 wird trotz der ›Kontrafakturen‹ der ›Trümmerlyrik‹ als von Kontinuitäten bestimmt charakterisiert,71 die der 50er Jahre bewege sich zwischen ›Tradition und Artistik‹.72 Die 60er Jahre, das Jahrzehnt, an dessen Beginn der Prozess der Wiedererprobung und Neuaufnahme der literarischen Moderne abgeschlossen ist, werden als das Jahrzehnt der Umbrüche markiert. Eine vergleichbar umfassende Überblicksdarstellung liefern die Lyrik-Kapitel in der von Wilfried Barner herausgegebenen Geschichte der deutschen Literatur von 1945 bis zur Gegenwart73 sowie, unter stärker konzeptioneller Perspektivierung, diejenigen in Ralf Schnells Geschichte der deutschsprachigen Literatur seit 1945.74 Die wichtigsten begrifflichen und historischen Perspektivierungen zur modernen Lyrik stammen von Dieter Lamping und finden sich in seiner Einführung Moderne Lyrik.75 Auch Lamping versteht den Begriff ›Moderne‹ zunächst als Bezeichnung für eine Epoche, »die sich wesentlich durch ihr Verhältnis zur Tradition definiert: Sie beansprucht, mit ihr zu brechen.«76 Die Dialektik der Moderne wird als »Kontinuität nicht nur jenseits des Traditionsbruchs«, sondern als »Kontinuität auch im Traditionsbruch«77 bestimmt. Entsprechend lassen sich die verschiedenen Konzeptionen von Moderne nach 1945 als Aktualisierungen bestimmter Aspekte dieser Dialektik fassen und in ihren diskursiven Formationen von politischer, gesellschaftlicher, kultureller und literarischer Modernisierung verfolgen.

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Korte, Deutschsprachige Lyrik seit 1945, S. 5–32. Ebd., S. 33–86. Barner, Geschichte der deutschen Literatur von 1945 bis zur Gegenwart. Ralf Schnell, Geschichte der deutschsprachigen Literatur seit 1945, Stuttgart, Weimar 2003. Dieter Lamping, Moderne Lyrik, Göttingen 2008. Vgl. auch Peter Bürger, »Moderne«, in: Fischer Lexikon Literatur, hrsg. von Ulfert Ricklefs, Bd. 2, Neuausgabe, Frankfurt am Main 2002, S. 1287–1319; Blamberger, »Moderne«, in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Dieter Lamping, Moderne Lyrik, Göttingen 1991, S. 10. Ebd., S. 11. Noch markanter betont Werner Frick in anderem Zusammenhang die »oft massive[ ] Vergangenheitspräsenz«, mit der »das dezidiert präsentische und futurische Pathos« im Fall der »›avantgardistischen‹ Blickrichtung wesentlicher Literaturströmungen der klassischen Moderne« einhergeht. Vgl. Werner Frick, »Avantgarde und longue durée. Überlegungen zum Traditionsverbrauch der klassischen Moderne«, in: Becker/Kiesel (Hrsg.), Literarische Moderne, S. 97–112, hier S. 98. Vgl. auch Ders., ›Die mythische Methode‹. Komparatistische Studien zur Transformation der griechischen Tragödie im Drama der klassischen Moderne, Tübingen 1998.

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Probleme

Auf diesen Positionen basiert auch das methodische Selbstverständnis dieser Untersuchung. Die Nachkriegsmoderne soll ebenso aus den Diskussionen und Diskursen wie aus den ästhetischen Erkundungsversuchen einiger wichtiger Lyriker erläutert werden – in einer Doppelperspektive aus historischer Rekonstruktion und gleichzeitiger Historisierung der jeweiligen Begrifflichkeiten, Denkfiguren und der damit verknüpften poetologischen Ansätze. Insofern geht es in erster Linie um die analytisch möglichst präzise Bestimmung historisch spezifischer Vorstellungen und Auffassungen von Moderne und Lyrik – und der entsprechenden Selbstbeschreibungen in individuellen Poetiken. Verfolgt wird dabei grundsätzlich der Ansatz einer kontextorientierten philologischen Rekonstruktion, wobei die Kontexte, die in den Blick genommen werden, auf das Feld historisch-politisch grundierter und im Bereich des intellektuellen Lebens angesiedelter Diskussionen begrenzt sind. Dieser Aspekt kann am ehesten als ideengeschichtliche Aufarbeitung bestimmter historisch virulenter Leitbegriffe beschrieben werden. Man könnte eine derartige Rekonstruktion und Historisierung von Leitbegriffen auch als diskursgeschichtlich charakterisieren – sofern man dabei einen möglichst implikationsfreien Diskursbegriff zugrunde legt, wie ihn etwa Simone Winko vor dem Hintergrund der literaturwissenschaftlichen Diskursanalyse der letzten Jahrzehnte formuliert hat: Diskurse sind demnach »keine Einzeltexte oder Textgruppen, sondern Komplexe, die sich aus Aussagen und den Bedingungen und Regeln ihrer Produktion und Rezeption in einem bestimmten Zeitraum zusammensetzen«.78 Ein solcher Diskursbegriff, der sich dreifach, nämlich »über seinen Gegenstand […], über die Weise, in der dieser Gegenstand thematisiert wird […], und über seine Beziehungen zu anderen Diskursen der Zeit«,79 bestimmt, ist geeignet, die auf der Ebene der Poetiken und des poetologischen Selbstverständnisses der Autoren angesiedelten ideen- und begriffsgeschichtlich erweiterten Analysen im zweiten Teil dieser Untersuchung methodisch zu fundieren. Im dritten und vierten Teil werden die Fortschreibungen bestimmter Konzeptionen und Konzepte in poetologischen und lyrischen Texten untersucht. Hier ist die methodische Ausrichtung der Untersuchung dem hermeneutischen Anliegen der Erklärung und Erläuterung einzelner Texte verpflichtet. Gerade bei lyrischen Gedichten, die in ihrem modernen Selbstverständnis thematisch und diskursiv eine bestimmte Art der Sinnproduk78

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Simone Winko, »Diskursanalyse, Diskursgeschichte«, in: Heinz Ludwig Arnold/ Heinrich Detering (Hrsg.), Grundzüge der Literaturwissenschaft, 3. Aufl. München 1999, S. 463–478, hier S. 464. Ebd., S. 464f.

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tion in Frage stellen – eine wichtige diskursive Strategie der Annäherung an moderne Positionen in lyrischen Texten der 50er Jahre –, ist ein solcher Ansatz der historisch angemessene Weg, die jeweils textuell inszenierten und generierten Grenzen eines herkömmlichen, erfolgreiche Deutungen oder Interpretationen implizierenden Leseverständnisses an einzelnen Punkten präzise zu fassen. Die Praxis dieser Untersuchung basiert somit auch auf der unlängst in einem wichtigen Sammelband zur Lyrik des 19. Jahrhunderts geäußerten Prämisse, dass »gerade philologische Frageraster kulturwissenschaftliches Potential haben«80 – wobei nochmals präzisiert werden muss, dass der kulturwissenschaftliche Kontext, der von der modernen Nachkriegslyrik und ihren Poetiken mitbeleuchtet wird, hier vor allem im Sinn eines bestimmten Typs von kulturkritisch-literarischen Diskursen im intellektuellen Feld verstanden wird, die mit gattungspoetischen und poetologischen Äußerungen der Autoren ein zuweilen recht intensives Kommunikationsverhältnis eingehen. Das bedeutet auch, dass den hier vorgestellten Überlegungen die Auffassung von ›Poetiken‹ als einem semiliterarischen Genre zugrunde liegt, in dem poetologische und ästhetische Diskurse verhandelt und mit der literarischen Praxis überkreuzt werden.81 In älteren Einzeldarstellungen wie der von Otto Knörrich82 finden sich Ansätze zu einer Gliederung der Lyrikgeschichte nach Epochen, Strömungen und Generationen, eine Verortung der Modernisierungsbewegung nach 1945 im spezifischen Nachkriegshorizont findet allerdings nicht statt. Ähnliches gilt in anderen Fällen.83 Solche und andere Untersuchungen aus den 80

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Steffen Martus/Stefan Scherer/Claudia Stockinger, »Einleitung. Lyrik im 19. Jahrhundert – Perspektiven der Forschung«, in: Dies. (Hrsg.), Lyrik im 19. Jahrhundert. Gattungspoetik als Reflexionsmedium der Kultur, Bern, Berlin u. a. 2004, S. 9–30, hier S. 14. Vgl. Sandra Richter, Poetiken. Poetologische Lyrik, Poetik und Ästhetik von Novalis bis Rilke, Berlin 2004 und Dies., A history of poetics. German scholarly aesthetics and poetics in international context, 1770–1960. With bibliographies by Anja Zenk, Berlin, New York 2010; vgl. auch Olaf Hildebrand (Hrsg.), Poetologische Lyrik von Klopstock bis Grünbein. Gedichte und Interpretationen, Köln, Weimar, Wien 2003. Otto Knörrich, Die deutsche Lyrik seit 1945, 2., neu bearbeitete und erw. Auflage, Stuttgart 1978 [11971]. Prominent bei Clemens Heselhaus, Deutsche Lyrik der Moderne. Von Nietzsche bis Yvan Goll. Die Rückkehr zur Bildlichkeit der Sprache, Düsseldorf 1961; vgl. auch Kurt Leonhard, Moderne Lyrik. Monolog und Manifest. Ein Leitfaden, Bremen 1963; Hartmut Müller, Formen moderner deutscher Lyrik, Paderborn 1970; sowie: Klaus Weissenberger (Hrsg.), Die deutsche Lyrik 1945–1975. Zwischen Botschaft und Spiel, Düsseldorf 1981; vgl. aber auch: William H. Rey, Poesie der Antipoesie. Moderne deutsche Lyrik. Genesis – Theorie – Struktur, Heidelberg 1978; späte Reflexe bei Bernd Witte, »Von der

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Probleme

1960er und 70er Jahren sind nicht nur, aber unter anderem auch Dokumente für die Konstruktion der Moderne als einer »von der Germanistik hervorgebrachte[n] literaturgeschichtliche[n] Epoche«, wie sie unlängst von Walter Erhart untersucht wurde. Selbst die nach Erhart überraschend avancierten literaturwissenschaftlichen Fortentwicklungen der Beschreibungsbegriffe ›Moderne‹ und ›Lyrik‹ verraten dabei gewisse ideologische Restbestände,84 hinter denen die Signaturen kulturkritischer Denk- und Argumentationsmuster noch hervorscheinen. Sie werden in dieser Untersuchung als Dokumente für die Rekonstruktion zeittypischer Auffassungen von Moderne herangezogen. In der Zusammenschau mit den poetologischen und in einigen Fällen dezidiert literaturwissenschaftlich orientierten Äußerungen von Autoren – affirmativ bei Krolow,85 mit anti-literaturwissenschaftlichem Affekt bei Bachmann86 – zeigt sich, dass Selbstzuschreibungen und spätere literarhistorische Vermessungen oftmals mit denselben Begriffen arbeiten – was hauptsächlich daran liegen dürfte, dass die erste Generation von Historikern der Literatur nach 1945 gar nicht umhin konnte, von den Selbstzuschreibungen der Autoren auszugehen. In der Retrospektive freilich ist eine größtmögliche Differenzierung zwischen den jeweils mit einer spezifischen historischen Semantik versehenen Begrifflichkeiten und ihren in literaturwissenschaftliche Beschreibungskategorien transferierten Korrelaten erforderlich. Für die lyrikgeschichtlichen Teile dieser Untersuchung ist deshalb Dieter Lampings Buch zum Lyrischen Gedicht87 maßgeblich. Sowohl die terminologischen Klärungen zum ›lyrischen Gedicht‹ als auch die historischen Teile liefern überzeugende Grundlagen für eine analytisch differenzierende Klassifikation moderner Lyrik. Hugo Friedrichs ältere, kanonische Monographie88

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Trümmerlyrik zur Neuen Subjektivität. Tendenzen der deutschen Nachkriegsliteratur am Beispiel der Lyrik«, in: Dieter Breuer (Hrsg.), Deutsche Lyrik nach 1945, Frankfurt am Main 1988, S. 10–42. Walter Erhart, »Die germanistische Moderne – eine Wissenschaftsgeschichte«, in: Becker/Kiesel (Hrsg.), Literarische Moderne. Begriff und Phänomen, Berlin, New York 2007, S. 145–166, hier S. 145. Vgl. dazu Kapitel II.3. Karl Krolow, Aspekte zeitgenössischer deutscher Lyrik, Gütersloh 1961; v. a. Karl Krolow, »Die Lyrik in der Bundesrepublik seit 1945«, in: Dieter Lattmann (Hrsg.), Die Literatur der Bundesrepublik Deutschland. München, Zürich 1973, S. 345–533. Ingeborg Bachmann, »Frankfurter Vorlesungen: Probleme zeitgenössischer Dichtung«, in: Werke 4, S. 181–271. Dieter Lamping, Das lyrische Gedicht. Definitionen zu Theorie und Geschichte der Gattung, 3., durchges. Aufl., Göttingen 1993. Hugo Friedrich, Die Struktur der modernen Lyrik. Von der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts bis zur Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts, Hamburg 1956 (erw. Neuausgabe 1985).

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dagegen soll in erster Linie in ihrer Historizität, als Beispiel für eine wirkmächtige, institutionell vermittelte Kodifizierung einer bestimmten Spielart moderner Lyrik betrachtet werden. Lampings Vorschlag, »epochale Einschnitte in der Geschichte der deutschen Lyrik« als »Abweichungen von literarischen Quasi-Normen zumindest entweder auf der Ebene der Versform oder auf der Ebene der Rede zu betrachten«,89 liefert die Basis für eine Phasenbeschreibung der deutschsprachigen Nachkriegslyrik, die den literarhistorischen Rahmen dieser Untersuchung segmentiert. Lamping geht von einem Drei-Phasen-Modell aus. Die erste Phase reicht nach Lamping von den 90er Jahren des 19. Jahrhunderts bis hin zum Dadaismus und zeichnet sich vor allem durch die »Abwendung von der traditionellen Quasi-Norm metrischer Regulierung des Verses und die Hinwendung zu freien Versen« aus.90 Die zweite Phase sei als »Reaktion auf die Extremposition der dadaistischen Richtung«91 zu sehen und bestehe aus drei Richtungen, die miteinander konfligieren: Die eine Richtung ist charakterisiert durch die neuerliche Dominanz traditioneller Formen, die vor allem Benn bewirkt. Die zweite Richtung ist gekennzeichnet durch einen sozialen Realismus in der Darstellung vor allem des Großstadtlebens, wie er von Brecht zur höchsten Wirkung gebracht wird. Die dritte Richtung schließlich stellt der magische Realismus der Naturlyrik insbesondere Loerkes und Lehmanns dar.92

Charakteristisch für alle drei Richtungen sei, dass sie »Gegenbewegungen gegen die Moderne innerhalb der Moderne« darstellen. Die ästhetischen und poetologischen Grundlagen dieser Gegenbewegungen der zweiten Phase, die »bis über das Ende des Zweiten Weltkriegs hinaus«93 dauert, markieren dann auch die Positionen, die erst nach 1945 »zu allgemeiner Anerkennung«94 gelangten. Die sich anschließende dritte Phase der modernen deutschen Lyrik […] ist weniger durch kühne Innovationen als durch behutsame, zum Teil skrupulöse Modifikationen und Synthesen gekennzeichnet. Sie ist insgesamt deutlich von dem Bemühen geprägt, nach einer Zeit staatlich geforderter und staatlich geförderter anti-moderner Literatur wieder Anschluß an die Moderne zu finden, und zwar sowohl an die moderne deutsche Lyrik der ersten und zweiten Phase wie an die moderne Lyrik außerhalb Deutschlands.95 89 90 91 92 93 94 95

Lamping, Das lyrische Gedicht, S. 138. Ebd., S. 140. Ebd., S. 141. Ebd. Ebd., S. 230. Ebd. Ebd., S. 231.

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Eben hier setzt die vorliegende Untersuchung an: Ob man den Übergang von der zweiten zur dritten Phase nun als restaurierte oder reflektierte, anverwandelte oder nachgeholte Moderne bezeichnet: Die Diagnosen einer in der deutschsprachigen Literatur nach 1945 in verschiedenen Schüben einsetzenden und im literarischen System zu beobachtenden programmatischdiskursiven und produktiven Wiederannäherung an die Moderne sind Ausgangspunkte der hier vorgestellten Überlegungen.96 Verfolgt werden dabei zwei Ziele: Literarhistorisch geht es darum, die Nachkriegsmoderne in der deutschsprachigen Lyrik an exemplarischen Autoren und Autorengruppen aufzuarbeiten. Zugleich sollen aber die individuellen Lyrikkonzepte, Poetiken und Programme im Kontext kulturgeschichtlicher Nachkriegsdiskurse verortet werden. Moderne und Modernisierung werden dabei zunächst als Diskussionszusammenhänge in den Blick genommen, die als literarische Ausläufer jenes Prozesses gelesen werden können, der historisch als »Modernisierung im Wiederaufbau«97 beschrieben wurde. Diese Muster kultureller, ideologischer und mentalitätsgeschichtlicher Selbstverständigung werden im folgenden Kapitel als Signaturen gefasst. Mit dem Begriff wird unterstrichen, dass charakteristische Indizien für diese widersprüchliche Modernisierungskonstellation in verschiedenen kulturellen Kontexten erkennbar sind. Sie werden zunächst relational als zeichenhafte Denkfiguren in einem auch jenseits literarisch-ästhetischer Diskussionen angesiedelten Selbstverständigungsprozess begriffen, um dann zugleich als wichtige Aspekte in historisch einschlägigen Lyrikkonzeptionen untersucht zu werden. Mit dem Begriff ›Koordinaten‹ hingegen werden innerliterarische Markierungen gefasst, also Paradigmen einer modernen Lyrik, die um 1950 im deutschen literarischen Leben präsent waren und Ansatzpunkte für die poetologischen Markierungen der Nachkriegszeit liefern. Da diese entgegen der Rhetorik des Neuanfangs in den unmittelbaren Nachkriegsjahren nicht als revolutionäre Neuorientierung, sondern in vorsichtigen Modifikationen bereits bestehender Poetiken ablaufen, werden die gattungsinternen Koordinaten der Entwicklung einer Lyrik nach dem Krieg hier als Transformationen begriffen – also als langsame Arbeit an Traditionsbeständen, die erst Ende der 1950er Jahre durch markantere Neuorientierungen ersetzt werden. 96

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Vgl. allerdings auch Hermann Kinder, »Deutschsprachige Literatur zwischen 1945 und dem Ende der fünfziger Jahre«, in: Hans Joachim Piechotta/Ralph-Rainer Wuthenow/Sabine Rothemann (Hrsg.), Die literarische Moderne in Europa, Bd. 3: Aspekte der Moderne in der Literatur bis zur Gegenwart, Opladen 1994, S. 238–243. Vgl. Schildt/Sywottek, Modernisierung im Wiederaufbau.

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Welche Ergebnisse sind von einer solchen Untersuchung zu erwarten? Vor allem lassen sich daraus Ansätze zu einer vorsichtigen Revision der literaturgeschichtlichen Epochenkonstruktion Moderne für die deutsche Literatur zwischen 1945 und 1960 gewinnen. Damit käme diesem Zeitraum gegenüber bisherigen Auffassungen ein stärkerer Übergangscharakter zu. Betont werden müssten dabei relational orientierte Denkformen des Aushandelns und der Neubestimmung eines ästhetischen und historisch spezifischen Moderne-Verständnisses gegenüber den Vorstellungen einer bald nach 1945 einsetzenden, als kontinuierliche Sukzession gedachten Modernisierung.98 In einem solcherart revidierten, in der Dominanz temporaler Erklärungsmuster relativierten Verständnis könnte ein entsprechend geschärfter Begriff der Nachkriegsmoderne diesen literarhistorischen Resonanzraum umschreiben. Dass diese Neubestimmung hier nicht mit Blick auf epische oder dramatische Texte, sondern gerade an der Lyrik der ersten eineinhalb Nachkriegsjahrzehnte unternommen wird, deutet auf ihre historisch erschöpfte Sonderstellung im gattungshierarchischen Agon. Die spätestens seit der Romantik bestehende, zwar niemals konfliktfreie, aber als Position relativ stabile Funktionalisierung der Lyrik als privilegierte Gattung individueller oder gar subjektiver Selbstaussprache ist in den 50er Jahren auch im Vergleich zu früheren Phasen gattungshierarchischer Konkurrenz massiven Zweifeln ausgesetzt, die durch Verschiebungen im Mediensystem zusätzlich intensiviert werden. Gerade deshalb ist das Gegeneinander von höchst verschiedenartigen und oftmals schroff widersprüchlichen ästhetischen Entwürfen und Denkfiguren in den poetologischen und gattungspoetischen Diskussionen der Lyrik in besonders auffälligen Formationen zu beobachten. Und gerade deshalb ist die Lyrik als ›Reflexionsmedium‹99 der literarischen Nachkriegsmoderne besonders geeignet.

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Den Hinweis auf »eine historische Entwicklung […], die sich nicht gradlinig und eindeutig, sondern mehrdimensional und vielfältig vollzieht«, geben bereits Frank, Palfreyman und Scherer in Bezug auf die ›Synthetische Moderne‹ zwischen 1925 und 1955; vgl. Frank/Palfreyman/Scherer, »Modern Times? Eine Epochenkonstruktion«, S. 404. Zum hier aufgenommenen Begriff vgl. Martus/Scherer/Stockinger, »Einleitung. Lyrik im 19. Jahrhundert – Perspektiven der Forschung«, in: Dies. (Hrsg.), Lyrik im 19. Jahrhundert, S. 9–30.

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II. Signaturen

Den Ausgangspunkt für die literarische Nachkriegsmoderne bilden zunächst weniger Autoren und Texte, sondern Vermutungen, Vorstellungen, Diskussionen und Annahmen über die Moderne und das Verhältnis, das man zu diesem Komplex von Problemen, Fragen und Konzepten einnehmen solle. Auch die Debatten um eine moderne Lyrik, die den ästhetischen Anforderungen der Nachkriegsjahre gerecht werden könne, sind zuallererst von solchen kulturellen, ideologischen und keineswegs ausschließlich literaturspezifischen Konstanten bestimmt. Was dabei entsteht, ist ein Feld von Diskussionen, ein Kommunikations- und Versuchsraum, in dem kulturelle Annahmen und Auffassungen über die Rolle der Literatur neu ausgehandelt werden und nach und nach auch auf die Frage einer Literatur nach dem Krieg bezogen werden. Dabei steht zunächst weniger die Orientierung an einzelnen literarischen Vorbildern im Vordergrund. Zwischen 1945 und etwa 1949 geht es eher darum, bestimmte Leitgedanken zu erkunden, die erst später aus dem Feld der kulturellen und literarischen Debatten in literarische Programmatik überführt werden – um dann bei einzelnen Autoren zu Transformationen bereits bestehender Poetiken oder zur Modellierung radikalerer Neuansätze zu führen. Einige dieser Signaturen werden hier genauer betrachtet. Mit dem Begriff soll betont werden, dass ähnliche oder sogar identische Konzepte in verschiedenen Kontexten kultureller Diskussionen erkennbar sind. Die Denkfigur einer modernen Kulturkrise wird als universaler Erklärungsansatz für die kulturelle Situation der Nachkriegsjahre gesetzt, um dann in verschiedenen kulturellen und literarischen Diskussionen und Institutionen der Nachkriegszeit aufgegriffen und produktiv weitergeführt zu werden. Kulturkritik ist auch in diesem Kontext ein, wie Georg Bollenbeck dargelegt hat, zentraler »Reflexionsmodus der Moderne«; es handelt sich um bestimmte Haltungen und Denkmuster, die nicht Wissen sind, sondern die Verarbeitung und Produktion von Wissen ermöglichen, indem sie mit dem Anspruch auf Totalkonstruktion bestimmte Abläufe und Lagen, Verhältnisse und Verhaltensweisen als Indikatoren einer Verfallsgeschichte thematisieren, ohne sie notwendigerweise zu analysieren.1

Das ist der Grund, warum das Sprechen über die Moderne für die Untersuchung der Nachkriegsmoderne mindestens ebenso wichtig ist wie die Aus1

Georg Bollenbeck, Eine Geschichte der Kulturkritik. Von J. J. Rousseau bis G. Anders, München 2007, S. 11.

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einandersetzung einzelner Autoren mit bestimmten Positionen einer ästhetischen Moderne, wie Schreibstilen, Tendenzen oder Poetiken. Die Diskussionen um die Moderne unter den Bedingungen der Nachkriegszeit, die in den folgenden Kapiteln in zentralen Positionen skizziert werden, zeichnen sich durch eine gewisse Ambivalenz aus. Zum einen verrät allein die Tatsache, dass man über eine Fortschreibung der Moderne nachdenkt, das Bedürfnis, mit den ästhetischen auch die kulturellen und ideologischen Versäumnisse der Jahre der nationalsozialistischen Diktatur zu überwinden. Den Weg dieser Überwindung scheint man in der erneuten Aktivierung des Gedankenguts der Moderne der 20er und frühen 30er Jahre, vor allem aber im Anschluss an nicht deutschsprachige Entwicklungen zu sehen. Zum anderen zeigt die Nachdrücklichkeit, mit der der Komplex der Moderne vor allem mit den kulturkritischen Krisendiskursen der Zwischenkriegszeit verknüpft wird, dass gerade ein historisch und konzeptionell entscheidender Kern des ›Moderne-Gefühls‹, nämlich die dezidierte Intention, sich gegenüber der Tradition abzugrenzen und ›Neues‹ zu schaffen,2 zunächst vollständig in den Hintergrund gedrängt wird. Das Moderne-Verständnis der ersten Nachkriegsjahre ist geprägt von der ideologischen und ästhetischen Restauration eines Literaturbegriffs, der seit den frühen 1930er Jahren überraschend konstant ist. In diesem Klima der ›modern restoration‹ herrscht im Kern eine bürgerlich-konservative Konzeption von Kultur und Literatur.3 Parker, Davies und Philpotts argumentieren, dass »during the 1930s, 1940s, and 1950s […] the German literary sphere is characterised by a common set of aesthetic concerns«. Sie äußern sich in einer »re-assertion of the conventional bourgeois institution of literature«; ihre Ziele sind »a search for stability of meaning, against the background of successive and on-going crisis«.4 Frank, Palfreyman und Scherer sehen diesen Restaurationskontext im komplexen und vielstimmigen Zusammenhang des »um 1925 […] beginnenden Umbau[s] der Frühen Moderne«, der seinerseits als »Reaktion auf die Problematik der ›Moderne‹ in der ›Modernisierung‹« zu sehen ist.5 Auch im Anschluss an eine solche Ausgangslage muss die Wiedererkundung der Moderne fast zwangsläufig unter negativem Vorzeichen geschehen. 2

3

4 5

Vgl. Helmuth Kiesel, Geschichte der literarischen Moderne. Sprache, Ästhetik, Dichtung im zwanzigsten Jahrhundert, München 2004, S. 13–23. Stephen Parker/Peter Davies/Matthew Philpotts, The Modern Restoration. Rethinking German Literary History 1930–1960, Berlin, New York 2004. Ebd., S. 12f. Gustav Frank/Rachel Palfreyman/Stefan Scherer (Hrsg.), Modern Times? German Literature and Arts Beyond Political Chronologies. Kontinuitäten der Kultur: 1925–1955, Bielefeld 2005, S. 400.

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Erste sichtbare Folge dieser negativen Konnotation der kulturellen und literarischen Moderne in den Diskussionen der ersten Nachkriegsjahre ist die weitgehende Ablehnung der avantgardistischen, radikal innovativen Aspekte moderner Ästhetiken. Stattdessen konzentriert man sich auf Konzepte einer bereits ›reflektierten‹ Moderne. Mit diesem Begriff markiert Helmuth Kiesel die »Selbstreflexion und […] Summierung der ästhetischen Erfahrungen und Einsichten«,6 die um 1930 zu beobachten ist. Die ›reflektierte‹ Moderne, werkgeschichtlich und ästhetisch exemplarisch in Döblin, Brecht und Benn verkörpert, ist nach Kiesel durch eine Abkehr »vom forcierten Avantgardismus« gekennzeichnet, ohne dabei dessen Innovationen zu vergessen, die sie stattdessen »in komplexere und differenziertere Konzepte und Werke überführte«.7 Die ästhetischen Spielräume dieser ›reflektierten‹ Moderne sind freilich sehr schnell erschöpft. Das zeigt nicht nur die poetologische Orientierung an Benn, die schnell ein unverkennbar epigonales Gepräge annimmt. Auch die Versuche naturlyrisch geprägter Lyriker wie Eich, Huchel und Krolow, in ihrer Lyrik die sprachkritisch fundierten Krisendiskurse aufzunehmen, führen bald zum Bedürfnis nach anderen Orientierungen, partiell und selektiv auch schon zu einer Wahrnehmung von Exponenten der internationalen modernen Lyrik.8 Dennoch ist der Anspruch einer Überwindung der sprachkritisch-krisenhaften Moderne erst bei Bachmann und noch stärker bei Celan zu beobachten und später bei Rühmkorf und Enzensberger vollzogen. Die Details dieser Transformationen der ›reflektierten‹ Moderne werden im vierten Teil dieser Untersuchung behandelt. Hier geht es vorerst nur darum, die Signaturen des Moderne-Verständnisses nach 1945 in wichtigen Grundlinien nachzuzeichnen und zu zeigen, in welcher Form der ideologisch-kulturelle Diskussionszusammenhang Moderne das Lyrikverständnis berührt. Deshalb wird zunächst an zwei prominenten Beispielen die Krisenrhetorik aufgearbeitet, die in der Folge auch zur Deutung und Relativierung von Nationalsozialismus und Zweitem Weltkrieg als Teile eines das gesamte ›Abendland‹ betreffenden, modernen Verfallsprozesses herangezogen wird. In einem zweiten Abschnitt werden mit Blick auf die Begriffe ›Abendland‹ und ›Europa‹ diejenigen Konzepte betrachtet, die als eine Art Gegenentwurf zu den kulturpessimistischen Moderne-Vorstellungen gesehen werden können – wobei beide anfänglich stark kontaminiert 6 7 8

Kiesel, Geschichte der literarischen Moderne, S. 299. Ebd., S. 301. Das zeigt, mit Bezug auf Holthusens essayistische Rezeption v. a. T. S. Eliots und die Anregungen, die Krolow aus der surrealistischen Lyrik bezieht, Hanna Klessinger in Bekenntnis zur Lyrik. Hans Egon Holthusen, Karl Krolow, Heinz Piontek und die Literaturpolitik der Zeitschrift »Merkur« in den Jahren 1947 bis 1957, Göttingen 2011.

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sind vom Krisendenken. Wohl deshalb verharren sie lange im Aggregatzustand nur punktuell eingelöster Postulate und werden erst in der zweiten Hälfte der 50er Jahre produktiv als Projektionen einer nunmehr auch institutionell gestützten, nachhaltigen Öffnung zur internationalen Moderne. Symptomatisch dafür steht Enzensbergers Formulierung von der ›Weltsprache der modernen Poesie‹. Im dritten Abschnitt wird eine Engführung dieser Kontexte mit zeitgenössischen Lyriktheorien versucht. Auch hier ist die Beobachtung auffällig, dass traditionalistisch orientierte Überlegungen zur Gattung Lyrik in den unmittelbaren Nachkriegsjahren dominant sind. Erst in der zweiten Hälfte der 50er Jahre werden sie von einem Verständnis moderner Lyrik abgelöst, das diese nicht mehr ausschließlich als literarische Variante des kulturellen Verfallsprozesses sieht. Anzumerken ist, dass gerade in Hugo Friedrichs Struktur der modernen Lyrik die ›negativen Kategorien‹ deutlich erkennbar als Restbestand der Krisendiskurse überdauern. Im vierten Abschnitt werden Anthologien deutschsprachiger Lyrik zwischen 1946 und 1962 mit Blick auf die programmatische Selbstverortung ihrer Herausgeber betrachtet. Sie liefern Momentaufnahmen, in denen der jeweilige Stand der Diskussion um die moderne Lyrik unter den Bedingungen der Nachkriegszeit erkennbar ist. Der Querschnitt markiert zugleich die historischen Grenzen dieser Untersuchung.

1.

Krisensymptomatik: ›Verlust der Mitte‹ und ›unbehauster Mensch‹

In den Nachkriegsjahren ist die Frage, was man unter ›modern‹ und ›Moderne‹ zu verstehen habe, zunächst wichtiger als der Bezug auf bestimmte Autoren oder Texte. Wo diese übersetzt, kritisiert oder vorgestellt werden, müssen sie oftmals als Grundlage für die Ausformulierung kulturkritischer Ideen und Deutungsansätze herhalten, mit denen Krieg, Diktatur und Holocaust in Figuren geschichtsphilosophischer Verallgemeinerung erklärt, aber längst nicht thematisiert werden. Diese kultur- und ideengeschichtlichen Vorstellungen, was modern sei, sind nach 1945 zunächst weitgehend negativ konnotiert. Die Moderne wird als kulturgeschichtliche Großepoche beschrieben, die von einer Krisen- und Verfallsdynamik beherrscht ist, wobei die Untergangsrhetorik aus der Weltanschauungsliteratur der 20er Jahre aufgegriffen wird. Auch wenn die Literaturkritik moderne Literatur thematisiert, geschieht das unter Aktivierung kulturpessimistischer Denkfiguren. Allerdings entwickeln sich im Gegenzug in den Jahren nach 1945 Konzeptionen der internationalen kulturellen Öffnung, die bis zu einem gewissen

Krisensymptomatik: ›Verlust der Mitte‹ und ›unbehauster Mensch‹

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Grad initialisiert sind von der alliierten Politik der kulturellen re-education und in den damit verbundenen Zeitschriften und Übersetzungsprogrammen wurzeln;9 vor allem aber spielt die kollektive Überzeugung der überlebenden und nicht exilierten Intellektuellen eine Rolle, die geistige Isolation der Kriegsjahre überwinden zu müssen. In diesem Zusammenhang werden ›Abendland‹ und ›Europa‹ als Konzepte diskutiert, deren Kontinuitätsgarantien die deutsche ›Kultur‹ nach der Zeit des Nationalsozialismus reaktivieren muss und die dementsprechend für alle Arten postulatorischer Selbstzuschreibungen eingesetzt werden. Beide Konzepte werden diskursiv mit der Funktion Goethes als genuin abendländischer und europäischer Autor verknüpft. – In diesem Abschnitt werden zunächst zwei Beispiele für den Krisendiskurs betrachtet; im folgenden Kapitel geht es dann um die Funktionalisierung des Abendland- und Europa-Gedankens in literarischen und literaturpolitischen Diskussionen. Aus zeithistorischer Perspektive hat Axel Schildt in diversen Studien zur Modernisierung in der westdeutschen Gesellschaft der 1950er Jahre die kulturellen Diskussionen der späten 40er und der 50er Jahre intensiv aufgearbeitet.10 Im resümierenden Essay Ankunft im Westen fasst er die Ergebnisse seiner Überlegungen zur kulturellen Diskurslage pointiert zusammen unter der Überschrift »Vom christlichen Abendland zum modernen Pluralismus – eine Skizze der ideologischen Landschaft der fünfziger und sechziger Jahre«.11 Um 1950, so Schildt, sei die publizistische Grundstimmung der »schmalen bildungsbürgerlichen Schicht« von einer Gemengelage aus widersprüchlichen Gefühlen gekennzeichnet gewesen. Das Bewusstsein, »[i]n einer düsteren Endzeit zu leben«, »Trauer über die Niederlage«, »Katzenjammer nach nationalsozialistischen Rausch«, Erleichterung über das Ende einer geistlos-banausischen Diktatur und gleichzeitig die Blamage, sich auf den Nationalsozialismus eingelassen zu haben, Gefühle der Scham angesichts deutscher Verbrechen, aber auch tiefe Kränkungen durch die Herrschaft fremder, mitunter gar dunkelhäutiger »Besatzer«, Verstocktheit 9

10

11

Vgl. Hansjörg Gehring, Amerikanische Literaturpolitik in Deutschland 1945–1953. Ein Aspekt des Re-Education-Programms, Stuttgart 1976. Vgl. Axel Schildt/Arnold Sywottek (Hrsg.), Modernisierung im Wiederaufbau. Die westdeutsche Gesellschaft der 50er Jahre, Bonn 1993; Axel Schildt, Moderne Zeiten. Freizeit, Massenmedien und »Zeitgeist« in der Bundesrepublik der 50er Jahre. Hamburg 1995; Ders., Ankunft im Westen. Ein Essay zur Erfolgsgeschichte der Bundesrepublik. Frankfurt am Main 1999; Ders., Zwischen Abendland und Amerika. Studien zur westdeutschen Ideenlandschaft der 50er Jahre, München 1999; Ders./Detlef Siegfried, Deutsche Kulturgeschichte. Die Bundesrepublik von 1945 bis zur Gegenwart, München 2009, bes. S. 42–79, S. 143–146, S. 152–168. Vgl. Schildt, Zwischen Abendland und Amerika, S. 149–180.

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Signaturen und Aufrechnung alliierter gegen deutsche Verbrechen und schließlich das Gefühl der Ohnmacht und Angst, selbst zur Verantwortung gezogen zu werden:12

All diese Aspekte überschnitten sich im intellektuellen Klima der Nachkriegsjahre und führten nicht nur »zu starken Widerständen gegen eine konkrete historische Sicht auf das ›Dritte Reich‹«, sondern förderten auch »allgemein die philosophische Überhöhung und Sinngebung des Geschehens«.13 Schildt fasst die Grundlinien dieser ideologisch-kulturellen Diskurse folgendermaßen zusammen: »Aggressive deutschnationale Ideologie mutierte zu wehmütig gestimmtem christlichen Konservatismus, und düstere lebensphilosophische Betrachtungen erlebten eine kräftige Konjunktur.«14 Als Auseinandersetzung über die Frage, ob die Kontinuität einer spezifisch deutschen Kulturtradition auch nach 1945 zu retten sei, verortet Wolf Lepenies in seiner Studie zu Kultur und Politik15 Friedrich Meineckes Die deutsche Katastrophe16 (1946) in den Diskussionen der ersten Nachkriegsjahre. Meineckes Buch, für Lepenies bei allem, was zugunsten seines Autors angeführt werden kann, »ein Teil der Katastrophe, die es beschrieb«,17 zielt vor allem in seinem letzten Kapitel auf eine Restauration der Kultur im Zeichen des Unpolitischen: »Auf eine Verinnerlichung unseres Daseins kommt heute alles, alles an«,18 so Meinecke; und der Weg zu dieser Verinnerlichung könne unter anderem in der »Gründung von Kulturbünden und Kulturgemeinden«19 liegen, denen Meinecke »den Namen einer ›Goethegemeinde‹ geben möchte«.20 Im Kontext solcher konservativ ausgerichteter Denkfiguren sind auch Versuche angesiedelt, die Moderne in Nachkriegszeiten zu bestimmen, von denen nun zwei vorgestellt werden. Ihr skeptisch-pessimistisches Kolorit prägte auch die negativen Semantisierungen in literarischen Moderne-Diskursen nach 1945 und hinterließ Spuren in den poetologischen Selbsterkundungen der Lyriker, die hier betrachtet werden sollen. Zunächst soll eine Position analysiert werden, die die moderne Kunst als symptomatisch für den kulturellen und menschlichen Verfall des 20. Jahr12 13 14 15 16

17 18 19 20

Ebd., S. 149. Ebd. Ebd. Wolf Lepenies, Kultur und Politik. Deutsche Geschichten, München, Wien 2006. Friedrich Meinecke, Die deutsche Katastrophe. Betrachtungen und Erinnerungen, Wiesbaden 1946. Ebd., S. 274. Meinecke, Die deutsche Katastrophe, S. 168. Ebd., S. 440. Ebd., S. 443.

Krisensymptomatik: ›Verlust der Mitte‹ und ›unbehauster Mensch‹

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hunderts ansieht. Es ist das Buch des Kunsthistorikers Hans Sedlmayr. Der Titel – Verlust der Mitte. Die bildende Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts als Symptom und Symbol der Zeit21 – wurde nicht nur zum Schlagwort für das geistige Klima der Nachkriegsjahre, sondern verdeutlicht auch die geistesgeschichtliche Methodik der konsequenten Analogisierung von künstlerischen mit mentalitäts- und kulturgeschichtlichen Phänomenen. Sedlmayr betrachtet die moderne Kunst als Symptom einer allgemeineren Krise der Kultur, die in der Französischen Revolution erstmals sichtbar geworden sei und sich seitdem unablässig fortgesetzt habe: In den Jahren und Jahrzehnten vor 1789 hat in Europa eine innere Revolution von unvorstellbaren Ausmaßen eingesetzt: die Ereignisse, die man als »Französische Revolution« zusammenfasst, sind selbst nur ein sichtbarer Teilvorgang dieser ungeheuren inneren Katastrophe. Es ist bis heute nicht gelungen, die dadurch geschaffene Lage zu bewältigen, weder im Geistigen, noch im Praktischen.22

Nur die historische Untersuchung dieser Epochenwende ermögliche es, unsere Gegenwart zu verstehen, denn »mit ihr beginnt unsere Gegenwart und von ihr her erkennen wir auch noch unsere Lage, erkennen wir uns selbst«.23 Und nur in der »Betrachtung der Kunst« könne man »das Unvergleichliche, Neue, das damals begonnen und Epoche gemacht hat«, zu fassen bekommen. Nur die »außerordentliche Prägnanz« künstlerischer Äußerungen erlaube es, »diese Erscheinungen nicht bloß als historische Tatsachen zu sehen, sondern als Symptome«, aus denen sich dann »zwanglos eine Diagnose des Leidens der Zeit« ergebe.24 Sedlmayr propagiert eine symptomatologisch-diagnostische Lesart, in der die Moderne als ein Krisenzustand gedeutet wird, dem ein jahrhundertelanger Verfallsprozess vorangeht. In den Kapiteln des ersten Teils – ›Auf der Suche nach dem verlorenen Stil‹, ›Die Zerspaltung der Künste‹, ›Das entfesselte Chaos‹, ›Der Sinn des Fragments‹ – wird die negative Semantisierung der Moderne vorbereitet, die im siebten Kapitel, das den Titel des Buchs aufnimmt, gebündelt erscheint. Erst hier werden die verschiedenen Symptome so zusammengefasst, dass damit »analoge Zustände und Tendenzen in Bereichen außerhalb der Kunst, Zustände, die charakteristisch für die Zeit sind«,25 beleuchtet werden können. Diese Symptomgruppen werden identifiziert als »Aussonderung ›rei21

22 23 24 25

Hans Sedlmayr, Verlust der Mitte. Die bildende Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts als Symptom und Symbol der Zeit, 11. Aufl. Salzburg, Wien 1998 [11948]. Ebd., S. 7. Ebd. Sämtliche Zitate ebd. Ebd., S. 143.

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ner‹ Sphären (Purismus, Isolation)«, »Neigung zum Anorganischen« oder »Herabsetzung des Menschen«. Nach ihrer Erläuterung wird eine allgemeine kulturgeschichtliche Diagnose unter dem Titel »Fort von der Mitte« formuliert. Die Zusammenschau dieser Symptomgruppen ergibt die Diagnose: Verlust der Mitte. Die Kunst strebt fort von der Mitte. Das gilt sowohl von den Aufgaben der Kunst wie von dem Verhältnis der Kunstarten zueinander, in dem die Plastik ihre vermittelnde Stellung einbüßt, wie von den Ideen und Themen, denen sich die Kunst mit Vorliebe zuwendet. Es gilt ebenso wie für den Zustand der Künste im ganzen von der Auffassung, die man jetzt vom Wesen der Kunst hat, es gilt im kleinen für das einzelne Kunstwerk. Die Kunst wird – in jedem Sinne des Wortes – exzentrisch. Der Mensch will fort von der Kunst, die ihrem Wesen nach »Mitte« zwischen dem Geist und den Sinnen ist. Die Kunst strebt fort von der Kunst, an der sie ebensowenig Genüge hat wie der Mensch am Menschen. Indem sie zu einer Überkunst strebt, stürzt sie oft in Unterkünstlerisches ab. Die Kunst strebt fort vom Menschen, vom Menschlichen und vom Maß. All diese Symptome aber sind symbolischer Ausdruck für analoge Tendenzen im Menschen überhaupt. Nicht nur in der Kunst will der Mensch fort von der »Mitte«, fort vom Menschen. Und gerade diese Tendenz wird von den Phänomen der modernen Kunst so scharf beleuchtet und durchleuchtet wie kaum von irgendwelchen anderen Tatsachen.26

Sedlmayrs Ausführungen sind von der rhetorischen Verlust- und Verfallsdiagnostik beherrscht. Die Menschen verlören in der Moderne, die als geistesgeschichtliche Bewegung seit der Französischen Revolution aufgefasst wird, die stabile Basis der traditionellen abendländischen Werte. Mit dieser kulturkritischen Moderne-Diagnose greift er Ansätze der geschichtsphilosophisch grundierten Weltanschauungsliteratur der Zwischenkriegszeit und insbesondere von Spenglers Der Untergang des Abendlandes27 auf, wo mit dem Verfahren der Analogie zwischen höchst unterschiedlichen kulturellen und historischen Phänomenen und Denkfiguren, die in der Regel wenig miteinander zu tun haben, unmittelbare, oft kausale Beziehungen hergestellt werden. In dieser vermeintlich diagnostischen Methodik entwirft nun auch Sedlmayr ein Panorama der Krisen: Es geht »[f]ort vom Humanismus«,28 »[f]ort vom Menschen«,29 es tritt ein der »Verlust des Menschenbildes«30 und schließlich geht 26 27

28 29 30

Ebd., S. 148. Oswald Spengler, Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte. Nachw. von Detlef Felken, 16. Aufl. München 2003 [11918/1922]. Sedlmayr, Verlust der Mitte, S. 149. Ebd., S. 151. Ebd., S. 153.

Krisensymptomatik: ›Verlust der Mitte‹ und ›unbehauster Mensch‹

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es »[h]inab zum Chaotischen«;31 im letzten Abschnitt in diesem Kapitel – »Analogia morbi«32 – wird dann auch die Vermutung ausgesprochen, dass all die ›Analogien‹ zwischen Kunst und Kulturgeschichte ein übergreifendes Zeichen seien – ein Zeichen dafür, daß es außer den individuellen Leiden so Erkrankter auch ein Leiden der Zeit gibt, dessen innerste Voraussetzungen offenbar sehr ähnliche sein müssen wie in jenen Erkrankungen und die ja auch von den gleichen ins Kollektive gesteigerten Lebensgefühlen begleitet werden: Angst, Melancholie, Verlust der Realität.33

Sedlmayr steht für eine explizit negative Interpretation der Moderne. Sie ist für ihn ein gesamteuropäischer Krisenzusammenhang, der aus einer Kette von Auflösungserscheinungen besteht, die allesamt zur Destruktion verbindlicher Werte führen. Er liefert damit die Grundlagen für ein beliebtes Verständnis der Moderne auch in literarischen Diskussionen. In diesen werden dann alle konkreten historischen Zusammenhänge nivelliert und als Folge der allgemeinen Kulturkrise der Moderne dargestellt. Diese Enthistorisierung war in den literarischen und ästhetischen Diskussionen der Nachkriegsjahre eine attraktive Denkfigur, die es erlaubte, die Erneuerung und Modernisierung poetologisch in eine allgemeine Rhetorik der Krisensymptome zurückzuübersetzen und von da aus in literarische Texte zu integrieren. Das vielleicht wirkmächtigste Beispiel für eine solche literarisch transformierte Diagnostik der Moderne ist Hans Egon Holthusen. In einer Reihe von Essaysammlungen über meist zeitgenössische Autoren popularisierte er die Vorstellung von einer spezifischen ›Bewußtseinslage der modernen Literatur‹, die zudem internationalen Charakter hat. Ihre Charakteristik deutet sich bereits in den Titeln seiner Bücher an: Indem er über Autoren wie Thomas Mann, Rilke, Benn oder T. S. Eliot schreibt, erläutert Holthusen den modernen Zustand einer Welt ohne Transzendenz,34 die bewohnt ist vom »unbehauste[n] Mensch[en]«.35 In immer neuen Anläufen diagnostiziert Holthusen, wie dieses Aufeinandertreffen von »[…] Mensch und […] Katastrophe«36 aussieht und wie der Widerspruch von »Nichts und […] 31 32 33 34

35

36

Ebd., S. 162. Ebd., S. 163. Ebd., S. 164. Hans Egon Holthusen, Die Welt ohne Transzendenz: Eine Studie zu Thomas Manns »Dr. Faustus« und seinen Nebenschriften, Hamburg 1949. Hans Egon Holthusen, Der unbehauste Mensch: Motive und Probleme der modernen Literatur, München 1951. Hans Egon Holthusen, »Der Mensch und die Katastrophe«, in: Ders., Der unbehauste Mensch. Motive und Probleme der modernen Literatur, München 1951, S. 122–136.

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Sinn«37 in einem Akt von »Konversion und Freiheit«38 überwunden werden könne. Holthusens Krisendiagnostik ist wie bei Sedlmayr eine Fortführung der kulturkonservativen Ansätze der 20er Jahre – mit dem wichtigen Unterschied, dass bei Holthusen die grundsätzliche Gültigkeit der modernen Weltdeutung anerkannt wird. Allerdings wird eine Dimension der Sinnstiftung – im Gegensatz etwa zu den radikalen ästhetischen Absolutheitsansprüchen Benns – weiterhin postuliert: Die Frage nach der Bewusstseinslage der Epoche im Bereiche der modernen Literatur schließt ein die Frage nach der Möglichkeit, in einer Vielheit vertretbarer Sinngebungen eine sinnvolle eigene Position zu behaupten und von ihr aus eine Perspektive zu eröffnen, wie man eine Schneise in einen Wald hineinlegt. Sinn, verpflichtender Sinn ist in allen geistigen und künstlerischen Dokumenten von Rang, in denen unsere Zeit sich ausgedrückt findet […].39

Holthusen macht in seinem Panorama der Moderne, das mit den »sehr weitgehenden Veränderungen, Erweiterungen und Erschütterungen des epochalen Bewusstseins«40 »von etwa 1910 bis heute«41 (also bis 1950) umschrieben ist, eine »sehr vieldeutige und perspektivenreiche Veränderung unseres Verhältnisses zur Welt«42 aus. Gemeinsam ist in seinen Augen »vielen maßgebenden Autoren der modernen Literatur […] die merkwürdige Radikalisierung der Frage- und Themenstellung, nämlich das Durchbrechen und Überschreiten der überkommenen und für unser Gefühl naiven Bewußtseinsordnung unserer Väter und die Frage nach dem Dasein überhaupt«.43 Kafka, Rilke und Valéry werden als Beispiele für die Aufhebung des »alten Wahre[n]«44 des Christentums angeführt. Dabei fände bei Rilke der »rühmende, sagende, dichtende Mensch […] in der Kraft des Gesanges die Rettung aus der Unsicherheit und Wirklichkeitslosigkeit seiner Existenz«,45 aber ebenso werden die »Menschen Hemingways«, die »einer durchaus nachzivi-

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38

39

40 41 42 43 44 45

Hans Egon Holthusen, »Das Nichts und der Sinn. T. S. Eliot als Lyriker«, in: Ders., Der unbehauste Mensch, S. 66–98. Hans Egon Holthusen, »Konversion und Freiheit«, in: Ders., Der unbehauste Mensch, S. 169–95. Hans Egon Holthusen, »Die Bewußtseinslage der modernen Literatur«, in: Ders., Der unbehauste Mensch, S. 7–39, hier S. 7. Ebd., S. 9. Ebd., S. 8. Ebd., S. 10. Ebd., S. 10f. Ebd., S. 19. Ebd., S. 15.

Krisensymptomatik: ›Verlust der Mitte‹ und ›unbehauster Mensch‹

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lisatorischen Welt zu entstammen [scheinen]«,46 die jedenfalls »streng gottlos«47 gedacht ist, in den Kontext der modernen Krisensymptomatik eingeordnet. Am Ende des Aufsatzes schließlich wird das Werk T. S. Eliots – bei Holthusen immer in einem Atemzug mit Benn genannt – angeführt als »der Ort […], wo der Akt der Zurücknahme der ›Anti-Legende‹ und der Wiederherstellung des alten Wahren in der unbeschränkten Offenheit des epochalen Bewusstseins mit der größten Überzeugungskraft und eigentlich beispielhaft vollzogen worden«48 sei. Die Diagnostik des modernen Daseinszustandes, auf die Benn mit konsequentem Ästhetizismus reagiert, wird in Holthusens Dramaturgie der Moderne bewältigt vom re-katholifizierten Eliot der Four Quartets, »mit Recht […] das bedeutendste dichterische Ereignis des zweiten Weltkriegs«.49 Der Fluchtpunkt von Holthusens Moderne-Diagnostik liegt in der »grenzenlose[n] Offenheit des Horizonts«, der es gelingt, »den modernen Nihilismus auf eigenem Felde zu überwinden«.50 Auch Holthusens mit religiösem Auflösungszeichen versehene Diagnostik der Moderne bleibt bezogen auf die internationale Moderne – die deutschen Autoren werden in einem Dialog mit den Klassikern der französischen und englischen Moderne dargestellt, die Zeitdiagnose ist ein gesamteuropäisches Problem; der deutsche Horizont von Nachkrieg und Holocaust geht in der Grundsätzlichkeit der Probleme auf.51 Die Vorstellung, dass die deutsche Literatur der 40er und 50er Jahre ihre Impulse hauptsächlich aus der internationalen Moderne bezogen habe, wird durch Holthusens Übertragung der deutsch-konservativen Krisenrhetorik auf die gerade erst wieder entdeckten und maßgeblich von ihm selbst vermittelten Kontexte der internationalen Moderne verdeckt. Ein Blick auf die thematischen Schwerpunkte von Der unbehauste Mensch zeigt, wie sehr es bei Holthusen um eine diskursive Bestimmung zeitgenössischer und moderner Literatur geht. Hier finden sich Titel wie »Das Nichts und der Sinn. T. S. Eliot als Lyriker«, »Der Mensch und die Katastrophe« oder »Konversion und Freiheit«. Die einzelnen Aufsätze sind von einem le46 47 48 49 50

51

Ebd., S. 20. Ebd., S. 24. Ebd., S. 33. Ebd., S. 36. Ebd., S. 37. Analog wird im Aufsatz über T. S. Eliot im selben Band argumentiert und in Hans Egon Holthusen, »Das Schöne und das Wahre in der Poesie. Zur Theorie des Dichterischen bei Eliot und Benn«, in: Ders., Das Schöne und das Wahre. Neue Studien zur modernen Literatur, München 1958, S. 5–37. Vgl. Klessinger, Bekenntnis zur Lyrik, S. 70f.

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bensphilosophisch-existentialistischen Blick auf die Erfahrungswirklichkeit »[n]ach dem zweiten Weltkrieg« geprägt – einem Blick, der sich in religiös geladenen Begriffen der Sinnsuche in moderner Verlorenheit manifestiert. In der unmittelbaren Konfrontation mit der »Katastrophe« sucht der »unbehauste Mensch« im »Nichts« dennoch weiterhin nach Sinn. Der spezifische Weg ins »deutsche Verhängnis« und der konkrete Hintergrund der deutschen Literatur nach dem zweiten Weltkrieg werden reflektiert, die Antworten darauf scheint Holthusen jedoch in der Literatur der Moderne zu suchen, die mit diesen archetypischen Problemen schon vorher konfrontiert gewesen sei – und entsprechend schon vorher Lösungen oder Lösungswege formuliert habe.52 Diese in die moderne Literatur verlagerte Sinnsuche mag einem »Gang durchs Labyrinth« gleichen und hin und wieder auch ergebnislos oder »im eisernen Käfig« enden. Dennoch scheint eine Hoffnung auf Erlösung im Gedanken von »Konversion und Freiheit« zu liegen, und auch ein universalistisch als »Dichter der Schöpfung« gelesener Goethe könnte als Leuchtturm für eine »deutsche Literatur nach dem zweiten Weltkrieg« dienen. Bei Holthusen findet sich also eine Kombination von religiöser Gegenwartsdiagnose und Literaturkritik, die seinen zahlreichen Essays zugrunde liegt. Der Literatur kommt dabei zweierlei Funktion zu: Zum einen ist sie Instrument der Diagnose eines Zeitzustandes, womit Holthusen ganz in der Tradition einer geistesgeschichtlichen Literaturwissenschaft steht; zum anderen kann Literatur bestenfalls auch Instrument der Überwindung solcher Krisenzustände sein. Hier zeichnen sich klare Rangordnungen ab. Holthusens Aufsätze beanspruchen eine Betrachtung der Literatur, die trotz ihrer Diagnosefunktion der modernen Gesellschaft nicht den Anspruch aufgibt, eine Hilfe zu sein: Literatur soll weiterhin ein Mittel der Orientierung sein, auch wenn die Krise der abendländischen Wirklichkeit ungeahnte Ausmaße angenommen hat. Besonders in der Gestalt Goethes findet diese Hilfsfunktion der Literatur Bestätigung – sie wird in der Rede zu Goethes 200. Geburtstag ausformuliert, die als ein Beispiel für die Übertragung und Anreicherung der Krisendiskurse mit literaturspezifischen Kontexten im Folgenden diskutiert wird. Indes sollte hier noch eine dritte und deutlich spätere Position erwähnt werden, an der sich erkennen lässt, dass die negative Semantisierung der Moderne, die man bei Sedlmayr und bei Holthusen finden kann, im Laufe der 50er Jahre umgedeutet und schließlich sogar als produktive Qualität gesehen werden konnte. Eine solche Umdeutung der negativen und dissoziierenden 52

Vgl. für sämtliche Zitate Holthusen, Der unbehauste Mensch.

Krisensymptomatik: ›Verlust der Mitte‹ und ›unbehauster Mensch‹

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Züge der Moderne liegt Gustav René Hockes Büchern zum Manierismus zugrunde. Sowohl in der Untersuchung zum Manierismus in der Literatur53 als auch im vorangehenden kunsthistorischen Teil Die Welt als Labyrinth. Manier und Manie in der europäischen Kunst54 wird der Manierismus, kunsthistorisch eine Spätphase der italienischen und dann europäischen Renaissancekunst, stilgeschichtlich umgedeutet als Oberbegriff für in Verfallsphasen ehemals stabiler Kulturepochen rekurrente Auflösungserscheinungen. Der Manierismus ist gekennzeichnet durch Phänomene, wie man sie aus Sedlmayrs Symptomatologie der Moderne kennt: Deformation der Formen, Verzerrung der Größenverhältnisse, Verschiebung der Perspektiven. Hocke – und, etwas später und mit leicht verschobener Akzentuierung, der Kunst- und Sozialhistoriker Arnold Hauser55 – behaupten, dass die Stilmerkmale dieser Periode nicht nur in verschiedenen Künsten analog zu beobachten sind, sondern auch, dass es sich bei dieser Tendenz zur Auflösung um eine stilgeschichtliche Konstante mit kulturgeschichtlichen Implikationen handelt. Immer wieder gebe es Phasen, in denen zu beobachten sei, dass klassische oder klassizistische Kunstformen zerfielen und durchbrochen würden von manieristischen Ansätzen, die jeweils durch ihren extremen Kunstcharakter gekennzeichnet seien. Derartige manieristische Phasen gebe es bereits in der Antike – aber eben auch in der Gegenwart. Genau dieser Aspekt der Übertragbarkeit auf aktuelle Diskussionen machte Hockes These in den späten 50er Jahren für Literaten attraktiv; ein Beispiel wäre seine Erwähnung durch Ingeborg Bachmann in den Frankfurter Vorlesungen.56 Obwohl Hockes Manierismus antiharmonistisch angelegt ist – das Einzelne, das Detail, das Subjektive werden betont – hat er kulturgeschichtlich eine Harmonisierungsfunktion: Es ging darum, die auseinanderstrebenden Tendenzen wieder zusammenzubinden. Im Gegensatz zur Renaissance-Zeit sei das dem Gegenwarts-Manierismus eben nur noch nicht gelungen. Die diskursiven Zuschreibungen, mit denen die Moderne in den unmittelbaren Nachkriegsjahren noch ganz in der Tradition der Kulturkritik der 20er Jahre als negativer Verfallszustand versehen wurde, verändern also im Verlauf der 50er Jahre ihren Charakter. In der Manierismus-These wird die 53

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Gustav René Hocke, Manierismus in der Literatur. Sprach-Alchimie und esoterische Kombinationskunst, Reinbek bei Hamburg 1959. Gustav René Hocke, Die Welt als Labyrinth. Manier und Manie in der europäischen Kunst, Reinbek bei Hamburg 1957. Arnold Hauser, Der Ursprung der modernen Kunst und Literatur. Die Entwicklung des Manierismus seit der Krise der Renaissance, München 1973 [11964]. Ingeborg Bachmann, »Frankfurter Vorlesungen: Probleme zeitgenössischer Dichtung«, in: Dies., Werke 4, S. 181–271, hier S. 215.

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Moderne amplifiziert zu einer regelhaften Übergangszeit, die auch in früheren Epochen eine notwendige Voraussetzung letztlich produktiver Erneuerung gewesen sei. Ein kulturgeschichtlicher Krisenzustand wird in seiner Eigenart betont, als Teilausschnitt eines Prozesses interpretiert – und eben dadurch als überwindbar und sogar notwendig markiert. Auch das ist ein Weg der Annäherung an die Moderne unter den Bedingungen der Nachkriegszeit.

2.

Projektionen: Abendland und Europa

Es gibt auch andere Diskussionszusammenhänge kulturpolitischer Art, auf deren Grundlage dann binnenliterarische Diskussionen um die Moderne weitergeführt und konzeptionell ausdifferenziert wurden. Die leitende Frage ist nun, mit welchen Konzepten und Denkfiguren der Moderne-Begriff, der sich in den bei Sedlmayr und Holthusen vorgeführten Krisendiskursen herauskristallisiert, Verbindungen eingeht, die das ursprüngliche Konzept so modifizieren, dass es in anders intendierten Zusammenhängen einsetzbar wird. In Kombination mit Vorstellungen von der Öffnung der deutschen Kultur und Literatur nach einer Phase der Isolation unter dem Nationalsozialismus begegnen in zeitgenössischen Diskussionen immer wieder die Begriffe ›Abendland‹ und ›Europa‹.57 An ihnen lässt sich die Entwicklung einer Erneuerungsprogrammatik der deutschen Literatur verfolgen, die später auch die Vorstellung von einer Öffnung mit vorbereitet. In Holthusens Rede »Goethe als Dichter der Schöpfung«, die zum 200. Geburtstag Goethes gehalten wurde, wird die Diagnose der negativen und krisenhaften Moderne reformuliert; Holthusen ist aber dennoch nicht gewillt, die Funktion der Literatur als einer Hilfs- und Trostinstanz aufzugeben. Weiterhin beansprucht er, dass Literatur in einer Beziehung zum ›heutigen‹ Menschen zu stehen habe – auch wenn er es für nötig hält, dieses Verhältnis grundlegend zu überprüfen. Wie steht es mit dem Menschen, der sich heute aus festlichem Anlaß zu Goethe und seinem Werke in ein Verhältnis setzen soll; in welcher inneren und äußeren Verfassung befindet er sich?58

57

58

Vgl. Schildt/Siegfried, Deutsche Kulturgeschichte. Die Bundesrepublik von 1945 bis zur Gegenwart, S. 143–146. Hans Egon Holthusen, »Goethe als Dichter der Schöpfung. Eine Rede zum 28. August 1949«, in: Ders., Der unbehauste Mensch. Motive und Probleme der modernen Literatur, 3. Aufl. München 1955 [11951], S. 216–245, hier S. 216.

Projektionen: Abendland und Europa

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Die folgenden Gedanken stehen ganz im Kontext der Abendland-Debatten der Nachkriegsjahre. Holthusen greift Überlegungen Ortega y Gassets auf, in denen (wiederum im Anschluss an Spengler) der Zweite Weltkrieg als Katastrophe des Abendlandes gedeutet wird. Es ist durchaus möglich, daß das »Abendland« im Sinne der Spenglerschen Diagnose – […] als Kulturgestalt – bereits untergegangen ist, daß dies uns nur noch nicht recht zum Bewußtsein gekommen ist.59

Holthusen legt Wert darauf, die Frage, ob Goethe in dieser Situation überhaupt noch in eine Beziehung zur Lebenswirklichkeit der Nachkriegszeit gebracht werden könne, ausdrücklich zuzuspitzen: Wenn wir es heute wagen, dem Genius Goethes unsere Huldigung darzubringen, wenn wir versuchen, seine Dichtung in uns wirken zu lassen und Worte von ihm auf unser Dasein anzuwenden, so stellt sich die Frage, ob denn zwischen ihm und uns noch ein Zusammenhang besteht, ob die Wirklichkeit, die er dichterisch bewältigt hat, auch unsere Wirklichkeit ist. Hat Goethes Wort noch Klang für uns? Kann es in der Situation, in der wir uns befinden, noch die Regungen unseres Herzens zum Ausdruck bringen?60

Für Holthusen ist klar, dass die Gegenwart der Vergangenheit unterlegen ist. Deshalb stellt er die Frage, ob die Leser der Nachkriegszeit Goethe noch gewinnbringend rezipieren können. Dabei liefert er auch eine Charakteristik des Zustands der Zerstörung abendländischer Werte nach der Katastrophe, die zugleich als Katalog der Eigenschaften gelesen werden kann, die das Profil der Moderne charakterisieren: »[…] Angst, Ohnmacht, Verzweiflung, Wirklichkeitszerfall, Nihilismus oder wie immer man die wesentlichen Symptome der geistigen Situation der Gegenwart benennen mag […].«61 Auffällig ist die Kombination dieser Qualitäten: Wirklichkeitszerfall und Nihilismus gehören ins Repertoire der klassischen Moderne-Diagnosen; Angst, Ohnmacht und Verzweiflung scheinen eher der unmittelbaren Nachkriegssituation geschuldet. Die Verknüpfung von Elementen, die einer unmittelbar historischen Diagnose zugehören, mit solchen aus dem Umfeld einer geistesgeschichtlich-kulturkritischen Sicht auf die Krise des Abendlandes – diese Argumentationsfigur läuft in der Summe auf eine Enthistorisierung und Verallgemeinerung des Nachkriegszustandes hinaus. Der Krieg ist für Holthusen nur ein Teil der abendländischen Gesamtkatastrophe. Das Sprechen über den Krieg verliert seine Konkretheit, die Katastrophe wird verallgemeinert. So sei die negativ semantisierte Gegenwart 59 60 61

Ebd., S. 216. Ebd., S. 217. Ebd., S. 218.

42

Signaturen den Werken und Taten der großen, positiven, gestaltungsmächtigen Jahrhunderte kategorisch unterlegen, so wahr als das Nein dem Ja, das Chaos der Schöpfung, die Finsternis dem Lichte unterlegen sind.62

Die Relativierung des konkreten historischen Präsens in einer geschichtsphilosophisch und kulturkritisch begründeten Gesamtkrise des Abendlandes, die sich in einer Reihe ›moderner‹ und somit negativer Werte äußert, bestätigt sich dann in der Antwort, die Holthusen auf die eingangs aufgeworfene Frage gibt. Goethe soll und kann einen Halt in der Krise des Abendlandes geben. Kann […] das Wort eines Dichters, der unter anderem auch der größte Repräsentant des bürgerlichen Zeitalters war, noch ein Echo in uns finden? […] Ich glaube, wir haben Anlaß, diese Fragen zu Gunsten Goethes zu beantworten. Der Mensch ist sehr veränderlich, und zwischen dem Zeitalter unseres größten Dichters und dem unsrigen liegt ein Abgrund. […] Wesentlicher, ja ›wirklicher‹ noch als der geschichtlich bestimmte, mit den Epochen veränderliche Mensch ist der Mensch überhaupt in seiner unveränderlichen Geschaffenheit ›ad imaginem Dei‹.63

In dieser Diagnostik der Nachkriegszeit werden anthropologische Konstanten eines allgemeinen Menschseins über die historischen Probleme der unmittelbaren Gegenwart gestellt. Deutlich wird auch hier die grundsätzlich religiöse Grundierung seiner Weltsicht: Der Mensch, nach dem Bilde Gottes geschaffen, stehe über den Wechselfällen der historischen Veränderungen – diese Überzeugung ist Grundlage für die Forderung nach einer Literatur, die auf die Katastrophen der Gegenwart nicht nur reagiert, sondern ihnen auch einen gewissen Widerstand entgegensetzt. Anders akzentuiert, aber mit vergleichbaren Grundgedanken deutet Ernst Robert Curtius 1949 Goethe im Essay »Goethe – Grundzüge seiner Welt«.64 Goethe wird neben Dante und Shakespeare als »Selbstkonzentration der abendländischen Geisteswelt in einem Menschen« gesehen.65 Allerdings sei bei Goethe die »Totalisierung der Tradition in originaler Schöpfung […] zum letzten Mal gelungen«, denn schon »damals waren die geistigen Grundlagen Europas von den ersten Erdbeben durchwühlt«.66 Goethe ist ein Autor, der »ein weltumfassendes positives Werk in einem Zeitalter beginnender Desintegration [schuf]«.67 Curtius sieht Goethe als »letzte Selbstkonzentra62 63 64

65 66 67

Ebd. Ebd., S. 218f. Ernst Robert Curtius, »Goethe – Grundzüge seiner Welt«, in: Kritische Essays zur Europäischen Literatur, Bern 1950, S. 59–77. Ebd., S. 76. Ebd. Ebd.

Projektionen: Abendland und Europa

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tion der abendländischen Geisteswelt in einem großen Individuum«68 und kann ihn damit für eine humanistische und westeuropäische Konzeption der europäischen Kultur reklamieren: »Er ist solidarisch mit dem Geisteserbe Europas. Er steht in der Reihe Homer, Sophokles, Platon, Aristoteles, Virgil, Dante, Shakespeare.«69 Wie Holthusen zieht Curtius also Goethe heran, um das Ende der kulturellen Tradition des Abendlandes zu diagnostizieren; im Unterschied zu Holthusen ist es aber Curtius’ Hoffnung, auf der Basis des Goethe’schen Werks eine Rückversicherung der Aufgaben und Möglichkeiten der Dichtung zu erzeugen. Beide zielen dabei auf die Restauration einer am Abendland- und Europa-Gedanken fixierten übernationalen kulturellen Identität ab. In Holthusens Diagnostik der modernen Literatur ist diese Abendland-Ideologie mit der Überzeugung eines jenseits aller Geschichte liegenden Menschseins verknüpft. Der Mensch der Gegenwart ist den Fliehkräften und Katastrophen ausgeliefert, die in der modernen Literatur schon seit Jahrzehnten reflektiert wurden. Eine Aufarbeitung der Literatur der Moderne kann also mindestens zu einer Beschreibung des Gegenwartszustands beitragen. Für Curtius dagegen soll Goethe zum Gründungsvater eines neuen, lateinischabendländischen Humanismus in Nachkriegszeiten werden. Eine deutlich sichtbare begriffliche Verknüpfung der Abendland- und Europa-Diskurse mit literarischen Fragen findet sich in der seit den späten 40er Jahren zu beobachtenden Wiederbelebung des Begriffs der ›Weltliteratur‹. Dieser Impuls ist ein wichtiger Schritt in der Debatte um die Öffnung der deutschen zur internationalen Literatur und unterminiert auch die Auffassungen der Moderne. Vor allem von Vertretern der älteren Generation wird das Goethe’sche Konzept der ›Weltliteratur‹ reanimiert. Es präfiguriert eine erste Vorstellung von Internationalität und ›internationaler‹ Literatur. Mit Fritz Strichs Goethe und die Weltliteratur70 wurde der Begriff zum Ausgangspunkt einer sich über mehrere Stadien entwickelnden Europa- bzw. Internationalismus-Diskussion und nebenbei grundlegend für die Selbstdefinition der Komparatistik als einer an deutschen Universitäten praktisch neuen akademischen Disziplin.71 Die ›Weltliteratur‹-Debatten der späten

68 69 70

71

Ebd., S. 77. Ebd. Fritz Strich, Goethe und die Weltliteratur, 2. Aufl. Bern 1957 [11946]. Für eine Untersuchung des diskursgeschichtlichen Umfelds vgl. Manfred Koch, Weimaraner Weltbewohner. Zur Genese von Goethes Begriff der ›Weltliteratur‹, Tübingen 2002, S. 6–8. Hendrik Birus, »Weltliteratur«, in: Jan-Dirk Müller u. a. (Hrsg.), Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, Bd. 3, Berlin, New York 2003, S. 825–827, hier S. 826.

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40er und der 50er Jahre können als Versuch verstanden werden, einen bereits bestehenden, von der nationalsozialistischen Kulturpolitik nicht kontaminierten Begriff der Programmatik einer allgemeinen kulturellen Öffnung anzupassen, in die nach und nach auch das Bewusstsein einer europäisch und schließlich global geöffneten Literatur einfließen kann; dieser Prozess wiederum geht einher mit der wachsenden Verfügbarkeit und Rezipierbarkeit der nicht deutschsprachigen Literatur.72 Wie eng benachbart die Abendland- und Europa-Konzepte dem Gedanken einer Öffnung der deutschen zu anderen Literaturen sind, zeigte sich nach dem Krieg schon früh. Es dauerte nicht allzu lange, bis Forderungen nach einer Annäherung der deutschen Literatur an die europäische Moderne formuliert wurden. Ein Beispiel dafür ist Alfred Anderschs für die erste Ausgabe des Ruf verfasster Artikel Das junge Europa formt sein Gesicht.73 In diesem Aufsatz versucht Andersch auf die Katastrophe des Krieges zu reagieren und die junge deutsche Generation – die Generation von Autoren und Intellektuellen, die sich gerade im Ruf sammeln und die in den Folgejahren in unterschiedlichen Konstellationen den Einfluss der Gruppe 47 begründen werden – in einen Bezug zum restlichen Europa zu setzen. Wenn man bedenkt, dass dieser Artikel im Jahr 1946 geschrieben wurde, dann zeigt der Argumentationsgang, darin den Ausführungen Holthusens und Curtius’ vergleichbar, auf sehr charakteristische Weise, wie auch Intellektuelle mit einer – ihrem Selbstverständnis nach regimekritischen – Vorgeschichte ihre Funktion und Rolle im Nachkriegsdeutschland sahen. Eingangs spricht Andersch von einem »europäischen Wiedererwachen«, dessen Träger »zumeist junge, unbekannte Menschen«74 seien. Sie alle kämen unmittelbar aus dem Kampf, denn für die »Stille von Studierzimmern«75 hätten sie keine Zeit gehabt, und »[i]hr Geist ist der Geist der Aktion«.76 Im Folgenden zählt er die verschiedenen nationalen Angehörigen dieser neuen Generation auf: In Frankreich die »›Existentialisten‹ und deren Mentor Jean Paul Sartre«, deren »Leben in den letzten Jahren […] gleichbedeutend [war] mit dem Leben der französischen ›résistance‹«, in Italien Ignazio Silone und andere; in England, hier wird Andersch vager, sei der »Sieg der Labour Party […] nicht denk-

72

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74 75 76

Vgl. Dieter Lamping, Die Idee der Weltliteratur. Ein Konzept Goethes und seine Karriere, Stuttgart 2010, S. 123–130. Hier zitiert nach: Hans A. Neunzig/Hans Werner Richter (Hrsg.), Der Ruf. Unabhängige Blätter für die junge Generation. Eine Auswahl, München 1976. Ebd., S. 19. Ebd. Ebd.

Projektionen: Abendland und Europa

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bar ohne die innere Erneuerung der Arbeiterbewegung durch ihre jungen Kräfte«.77 Ein Ziel dieser jungen Generation sei »die Forderung nach europäischer Einheit«, und das Werkzeug dafür ein »neuer, von aller Tradition abweichender Humanismus […], ein sozialistischer Humanismus«.78 Im Rahmen seiner Erläuterung kommt Andersch schließlich zu sprechen auf das »religiöse[ ] Erlebnis, das die junge Generation aus dem Kriege mitbringt«.79 Es führe dazu, dass die junge Generation, besonders die Existentialisten, nicht nur »richtiges Denken«, sondern auch »das dazugehörige Leben«80 fordern. An diesem Punkt versucht Andersch eine Verbindung zur jungen deutschen Generation herzustellen. Von hier aus spannt sich ein dünnes, sehr gewagtes Seil über einen Abgrund hinweg zu einer anderen Gruppe junger Europäer, die sich in den letzten Jahren ebenfalls unter rücksichtsloser Hingabe ihrer ganzen Person eingesetzt hat. Wir meinen das junge Deutschland. Es stand für eine falsche Sache (und sie war nicht nur falsch, weil sie jetzt verloren ist). Aber es stand. In durchaus jenem existentiellen Sinne, den Sartre und seine Kameraden meinen. Das dünne Seil, das die feindlichen Lager verknüpft, heißt also Haltung. Gemeinsamkeit der Haltung und des Erlebens, unabhängig von Ideologie und Ethos.81

Man könnte Anderschs gewagte Argumentation nun noch weiterverfolgen, aber der zentrale Gedanke ist hinreichend deutlich: In einer Situation, in der man von Distanz zu Krieg und Nationalsozialismus noch kaum sprechen kann, wird eine Analogisierung der Erfahrungen von Generationen verschiedener europäischer Nationen versucht. Die junge, nach Anderschs Auffassung mehr oder weniger fehlgeleitete deutsche Generation sei so schlecht nicht, sie müsse nur umerzogen werden – Reflexe der re-educationProgramme sind unverkennbar –, dann werde sie bereit sein für das »Erlebnis der Freiheit« und für den »radikalen Neubau«.82 Anderschs Vorstellungen wurzeln im diskursiven Klima der unmittelbaren Nachkriegsjahre, in denen weder Nationalsozialismus noch Krieg und Holocaust in Deutschland ausreichend thematisiert wurden. Insofern wirken Versuche, einen europäischen Zusammenhalt auf der Basis der Katastrophenerfahrung zu postulieren, heute reichlich konstruiert und übereilt. Dennoch sind in Anderschs Ausführungen die Umrisse eines Programms 77 78 79 80 81 82

Ebd., S. 20. Ebd. Ebd., S. 21. Ebd. Ebd., S. 21f. Ebd., S. 24.

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für die Nachkriegsliteratur präfiguriert, womit die Leerstelle der entsprechenden ästhetischen Konzeptionen zumindest markiert ist. Ausgefüllt wird sie in den kommenden Jahren immer stärker durch den Bezug auf die langsame Transformation der Abendland- und Europa-Diskurse, wobei Andersch selbst 1948 mit dem Essay »Die deutsche Literatur in der Entscheidung« die bekannteste literaturprogrammatische Ergänzung liefert. Auch hier wird die Forderung erhoben, »in einem originären Schöpfungsakt eine Erneuerung des deutschen geistigen Lebens zu vollbringen«,83 und auch hier ist die Katastrophe Basis für das ›Neue‹, das nun die Gestalt einer neuen deutschen Literatur annehmen soll. Denn: »Der Zusammenbruch der alten Welt« habe »das Gefühl einer vollkommenen Voraussetzungslosigkeit geschaffen, das Vorgefühl eines originalen Neu-Werdens, für das es keine Muster und Vorbilder«84 gebe. Die hier betrachteten Abendland-Diskussionen markieren Übergänge von kulturellen in literarische Debattenzusammenhänge. Die Konzepte ›Europa‹ und ›Weltliteratur‹, wie auch die Stilisierung Goethes zum Träger einer abendländischen Humanität präformieren Ansätze der internationalen Öffnung der deutschsprachigen Literatur. Generell kann man ein Zusammenspiel kulturkonservativer Tendenzen ausmachen; der immer stärker markierten Öffnungsprogrammatik wird mit ambivalenten Strategien der defensiven Assimilation begegnet. In kulturpessimistisch geprägten Diskursen werden über ein Jahrzehnt Begriffe und Konzepte – symptomatisch: die Moderne – in Stellung gebracht, um der affirmativen Internationalisierung zu begegnen. Ergebnis ist freilich, dass diese eher defensiv eingesetzten Begriffe Qualitäten der Internationalisierung mit der Zeit geradezu integrieren, ihrerseits entsprechend umgewertet werden und schließlich weitgehend transformiert erscheinen.

3.

Wandlungen: Lyrikkonzepte nach 1945

Was versteht man um und nach 1945 unter Lyrik, welche Konturen zeichnen sich in den Lyrikdiskussionen der Nachkriegszeit ab? Wie schon in den vorangehenden Abschnitten werden auch bei der Beantwortung dieser Frage einige zeitgenössische Varianten des Lyrikbegriffs exemplarisch betrachtet – 83

84

Alfred Andersch, »Die deutsche Literatur in der Entscheidung«, in: Ders., Gesammelte Werke, Bd. 8, Essayistische Schriften I, Axel Dunker (Kommentar), Dieter Lamping (Hrsg.), Zürich 2004, S. 187–218, hier S. 210. Ebd., S. 211.

Wandlungen: Lyrikkonzepte nach 1945

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und zwar die Positionen von Emil Staiger, Wolfgang Kayser, Hugo Friedrich und Theodor W. Adorno. Wie bei den kultur- und literaturkritischen Texten, die bereits angesprochen wurden, liefern auch die Formulierungen der Lyriktheorie Beispiele für Denkstile zeitgenössischer Diskussionen. Sie beleuchten schlaglichtartig Beziehungen, die zwischen kulturellen Debatten und dem literarischen System und sogar bestimmten literarischen Gattungsvorstellungen bestehen. Bestimmte Denkfiguren sind gleichzeitig in verschiedenen Diskussionszusammenhängen präsent und lassen sich als vertikale Transferlinien beschreiben: Fermente aus kulturkritischen Krisendiskursen diffundieren gleichsam in spezifisch literarische Kontexte. Im Fall der modernen Lyrik wird vor allem das Instrumentarium modifiziert, das für ihre wissenschaftliche Deskription und feuilletonistische Beurteilung eine Rolle spielt.85 Mit Blick auf die germanistische Literaturwissenschaft ist dabei ein wissenschaftsgeschichtlicher Befund zu beachten, der unlängst von Walter Erhart geliefert wurde.86 Seine Analyse der Moderne als Konstruktion einer »von der Germanistik hervorgebrachte[n] literaturgeschichtliche[n] Epoche«87 zeigt, dass gegenüber dem wissenschaftsgeschichtlichen Topos, die Moderne sei erst mit dem Zürcher Literaturstreit 1966 »zum kanonischen Gegenstand einer modernen ideologiekritischen Germanistik avanciert[ ]«,88 »die literarische Moderne« bereits in den 50er Jahren »ein zentraler und höchst innovativer Forschungsschwerpunkt der germanistischen Literaturwissenschaft«89 war. So wurde Paul Böckmanns frühes »Bekenntnis zur literarischen Form als Antwort auf die gesellschaftliche Moderne« »von fast allen Germanisten seiner Generation geteilt«.90 Die literarische Moderne

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87 88 89 90

Für eine ausführliche Anthologie der wissenschaftlichen Diskussion um Lyriktheorie von den späten 40er Jahren bis 1971 vgl. Reinhold Grimm (Hrsg.), Zur Lyrik-Diskussion, 2., verb. und erw. Aufl. Darmstadt 1974. Für die entsprechenden Autorenpoetiken vgl. Theorie der modernen Lyrik. Dokumente zur Poetik. 2 Bde. Hrsg. von Walter Höllerer, neu hrsg. von Norbert Miller, München, Wien 2003; sowie: Lyriktheorie. Texte vom Barock bis zur Gegenwart. Hrsg. von Ludwig Völker, Stuttgart 1990. Walter Erhart, »Die germanistische Moderne – eine Wissenschaftsgeschichte«, in: Sabina Becker/Helmuth Kiesel (Hrsg.), Literarische Moderne. Begriff und Phänomen, Berlin, New York 2007, S. 145–166. Ebd., S. 145. Ebd., S. 149. Ebd., S. 153. Ebd.

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Signaturen repräsentiert die Krise und überwindet sie gleichzeitig durch ihre ästhetische Form. Mehr noch: Moderne Literatur wird germanistisch institutionalisiert als Programm eines intellektuellen Krisenmanagements, als Bewältigung jeder möglichen Form von intellektueller und geistiger »Krise« – so ist man versucht im Blick auf das Jahr 1945 zu betonen.91

Die Interpretationspraxis der Germanistik der 50er Jahre sei eben »gerade nicht […] existentialistisch[ ], geistesgeschichtlich[ ] und vormodernistisch[ ]« ausgerichtet gewesen«,92 sondern »auch und vor allem hinsichtlich einer heute noch praktizierten formalen Auslegung modernistischer Literatur«93 erstaunlich avanciert. Dem Eindruck, die literaturwissenschaftliche Interpretation habe in den »Werken der Moderne die Existenzangst und das ›Sein‹ des ›weltverlorenen‹ modernen Menschen dechiffriert[ ]«,94 widerspricht Erhart. Dieser wissenschaftsgeschichtliche Hintergrund muss bei der Untersuchung der lyriktheoretischen Diskussionen der Zeit zwischen 1945 und etwa 1960 mitgedacht werden. Das literaturwissenschaftliche Verständnis von moderner Lyrik ist sicher avancierter als die entsprechenden kulturkritisch imprägnierten Positionen einiger prominenter Literaturvermittler. Dennoch drängen sich bei der Lektüre der lyriktheoretischen Diskussionen bis 1960 zwei Befunde auf. Einmal scheinen, trotz aller Bereitschaft, ›Form‹ als ästhetische Krisenbewältigungsstrategie ins begriffliche Instrumentarium der Literaturwissenschaft zu integrieren, hinter diesen Vorstellungen die überkommenen Auffassungen von der negativen Destruktionsqualität der gesellschaftlichkulturellen Modernisierung weiter virulent. So ernsthaft die literaturwissenschaftliche Moderne-Forschung der 50er Jahre diese Kategorien in Formund Strukturanalysen integriert haben mag, so unübersehbar scheint weiterhin die unterschwellige Präsenz der Krisendiskurse. Das ist nicht zuletzt an Hugo Friedrichs explizit historisierten und auf Strukturbegriffe reduzierten, semantisch und in der Analysepraxis aber immer noch ›negativen‹ Kategorien erkennbar.95 Man könnte von einem ideologischen Restbestand sprechen, der bei allem Willen zur Objektivierung selbst in der akademischen Diskussion um die moderne Lyrik nicht vollständig eliminierbar ist. 91 92 93 94 95

Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Vgl. Hugo Friedrich, Die Struktur der modernen Lyrik. Von der Mitte des neunzehnten bis zur Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts, erw. Neuausgabe, Reinbek bei Hamburg 1985 [11956], z. B. S. 19–23.

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Zum anderen unterliegen die lyriktheoretischen Positionen der Zeit zwischen 1945 und etwa 1960 einem Wandlungsprozess. Wachsenden Zweifeln an der gattungshierarchischen Sonderstellung der Lyrik wird mit einer Doppelstrategie begegnet. Traditionelle Domänen der lyrischen Gattungszuständigkeit wie Subjektivität und metaphysische Rückversicherungspotentiale werden offensiv affirmiert und zugleich, das vor allem in den poetologischen Selbsterkundungen der Lyriker, defensiv diversen Aktualisierungsschüben unterworfen. Die Bilanz dieses ambivalenten Zweifrontenkampfs auf dem Feld gattungspoetischer Hierarchisierungen ist natürlich der Zerfall des Verständnisses von Lyrik als genuin subjektiver Gattung. Die Subjektivitätstheorie,96 die klassisch-romantischer Herkunft ist, dominiert zunächst, trotz vielfältiger Impulse aus dem Umfeld der literarischen Moderne im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts, auch um 1945 die Lyriktheorie. Hegels Formulierung, wonach Lyrik diejenige Gattung sei, in der sich das »betrachtende, empfindende Gemüt« ausdrückt, »das, statt zu Handlungen fortzugehen, bei sich als Innerlichkeit stehen bleibt und sich deshalb auch das Sichaussprechen des Subjekts zur einzigen Form und zum letzten Ziel nehmen kann«,97 ist auch in den späten 1940er Jahren noch Kern des vorherrschenden Lyrikverständnisses. Nichts zeigt das deutlicher als Gottfried Benns Polemik gegen die in seinen Augen nach wie vor kollektiv verbindliche Vorstellung einer Lyrik, in der sich der einzelne – das Subjekt – mit seinen Gefühlen und Empfindungen ausdrücke und in der die Außenwelt, vorzugsweise als Natur, nur die Kulisse für dessen solitäre Selbstaussprache liefere: […] die Öffentlichkeit lebt nämlich vielfach der Meinung: da ist eine Heidelandschaft oder ein Sonnenuntergang, und da steht ein junger Mann oder ein Fräulein, hat eine melancholische Stimmung, und nun entsteht ein Gedicht.98

Benn, der seit Ende der 40er Jahre als ein zentraler Repräsentant der modernen Lyrik im deutschen literarischen Leben fungiert, hält diese »Trennung und Gegenüberstellung von angedichtetem Gegenstand und dichtendem Ich« angesichts der Tradition der Moderne für »eine primitive Art, seine 96

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98

Ausführlich zur Subjektivitätstheorie: Dieter Lamping, »Lyrikanalyse«, in: Thomas Anz (Hrsg.), Handbuch Literaturwissenschaft. Gegenstände – Konzepte – Institutionen, Bd. 2, Methoden und Theorien, Stuttgart, Weimar 2007, S. 139–155, bes. S. 139–141. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik III, Frankfurt am Main 1986, S. 322. Gottfried Benn, »Probleme der Lyrik«, in: Ders., Essays und Reden. In der Fassung der Erstdrucke, Frankfurt am Main 1997, S. 505–535, hier S. 505.

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lyrische Substanz zu dokumentieren«.99 Liest man seine Polemik als historisches Dokument, dann spricht sie für die Verbreitung des subjektivistischen Paradigmas. Die späten 40er und die 50er Jahre erscheinen auch aus dieser Sicht als eine Übergangsepoche. Den Tendenzen, klassisch-romantische Ästhetiken restaurativ fortzuführen, stehen eine Reihe von unterschiedlich gelagerten Ansätzen gegenüber, in denen versucht wird, die Schnittmenge zwischen den Konzepten der Moderne und der Lyrik auszuhandeln. Zunächst findet das Fortwirken eines traditionalistischen Lyrikverständnisses seine begriffliche und akademische Kodifizierung in Emil Staigers Grundbegriffen der Poetik.100 Die weit über akademische Kontexte hinaus sichtbare Wirkung dieses Buches unterstreicht die Dominanz des Subjektivitätsparadigmas.101 Staiger möchte eine »literaturwissenschaftliche Propädeutik«102 verfassen, in der »aus der Fundamentalpoetik ein Beitrag der Literaturwissenschaft an die philosophische Anthropologie«103 wird. Er beruft sich explizit auf Husserls Phänomenologie: Es gehe ihm um die ›ideale Bedeutung‹, um die ›Idee‹ von Gattungsbegriffen.104 In der Praxis der Untersuchung dominiert allerdings eine historisch eindeutig identifizierbare, nämlich klassisch-romantische Traditionslinie.105 Der erste Satz aus dem LyrikKapitel lautet: »Als eines der reinsten Beispiele lyrischen Stils gilt ›Wanderers Nachtlied‹ von Goethe.«106 Später werden weiteren Gedichten Goethes Texte von Eichendorff, Mörike, Brentano und C. F. Meyer an die Seite gestellt, und diese Facetten der deskriptiven Erkundung des Lyrischen werden gestützt durch Zitate Goethes, Schillers und Friedrich Theodor Vischers. Staigers Ausführungen kulminieren im Konzept der ›Stimmung‹,107 in der »wir in ausgezeichneter Weise ›draußen‹, nicht den Dingen gegenüber, sondern in ihnen und sie in uns [sind]«; zudem erschließt die Stimmung »das Dasein unmittelbarer als jede Anschauung oder jedes Begreifen«.108 ›Lyrisch‹ ist

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106 107 108

Ebd., S. 512. Emil Staiger, Grundbegriffe der Poetik, 2., erw. Aufl. Zürich 1951 [11946]. Vgl. dazu Lamping, »Lyrikanalyse«, S. 140. Staiger, Grundbegriffe, S. 12. Ebd. Vgl. ebd., S. 9–11. Vgl. Bernhard Böschenstein, »Emil Staigers Grundbegriffe: ihre romantischen und klassischen Ursprünge«, in: Wilfried Barner/Christoph König (Hrsg.), Zeitenwechsel. Germanistische Literaturwissenschaft vor und nach 1945, Frankfurt am Main 1996, S. 268–281. Staiger, Grundbegriffe, S. 13. Ebd., S. 62f. Ebd., S. 63. Gesperrt im Original.

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für Staiger diese »geradezu mystische Verschmelzung von lyrischem Ich und Gegenstand«.109 Damit entsteht eine Konzeption des Lyrischen, die Dieter Lamping als »doppelte Engführung des Begriffs auf eine Untergattung und eine Epoche«110 beschreibt. Die historische Orientierung an der klassisch-romantischen Lyrik wird kurzgeschlossen mit einer philosophischen Zuspitzung, die ein bestimmtes ›Wesen‹ der Lyrik behauptet. Staigers Lyriktheorie deckt sich mit bestimmten Beispielen der naturlyrischen Schule, steht aber modernen Poetiken weitgehend entgegen. Wolfgang Kaysers 1948 erschienenes Das sprachliche Kunstwerk war in den 50er Jahren ein maßgebliches literaturwissenschaftliches Einführungswerk.111 Staigers essentialistischer Lyrikbegriff findet sich hier sogar noch intensiviert. Kayser geht zunächst davon aus, dass die Gattungszugehörigkeit »durch die Form bedingt [ist], in der das Kunstwerk sich darstellt«.112 Aber viel wichtiger ist für ihn das »Gefüge der Gattung«,113 wobei die Gattungsbestimmung durch ›Grundhaltungen‹114 bestimmt sei. An diesem Punkt lehnt Kayser sich ausdrücklich an Staiger an, der in seinen Augen mit der den Grundbegriffen vorangehenden Studie Die Zeit als Einbildungskraft115 der Literaturwissenschaft das »Wegmal gesetzt [hat]«,116 das die Literaturgeschichte in Curtius’ Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter117 habe. Staigers Charakterisierung der Gattungsbezeichnungen als ontologische Grundkonstanten erläutert Kayser als »ein von Innen her Geformt-Sein, aber nicht um Formen im Sinne geschlossener Gefüge«.118 Gerade die umgangssprachlich üblichen Gattungsadjektive ›lyrisch‹, ›episch‹, ›dramatisch‹ beziehen sich nach Kayser auf diese essentialistische Konzeption der Gattungseigenschaften. Auf dieser Grundlage versucht Kayser nun allerdings, Staigers Gattungsontologie vorsichtig zu relativieren. Im Gegensatz zu Staiger möchte er vermeiden, die Gattungstrias »aus größeren Tiefen her als notwendig zu ver109 110 111

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Lamping, »Lyrikanalyse«, S. 140. Ebd. Wolfgang Kayser, Das sprachliche Kunstwerk. Eine Einführung in die Literaturwissenschaft, Bern 1948. Ebd., S. 333. Ebd., S. 331. Ebd., S. 334. Emil Staiger, Die Zeit als Einbildungskraft des Dichters. Untersuchungen zu Gedichten von Brentano, Goethe und Keller, Zürich, Leipzig 1939. Kayser, Das sprachliche Kunstwerk, S. 6. Ernst Robert Curtius, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, 11. Aufl. Tübingen, Basel 1993 [11948]. Kayser, Das sprachliche Kunstwerk, S. 334.

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stehen«.119 Eine dialektische Begründung der drei Gattungen lehnt er ab, ebenso anthropologische Fundierungsversuche. Deshalb begrüßt er auch Staigers Versuch, Cassirers sprachphilosophische Anregungen in die Definition zu integrieren. So nützlich ihm aber diese Klassifikation scheint: Sie genüge nicht den komplexeren Anforderungen der Literatur, wo sich die ›Alltagsphänomene‹ lyrisch, episch und dramatisch nicht ausschlössen. Noch deutlicher als im affirmativen Bezug auf Staiger kann man an diesem Punkt Kaysers historische Position identifizieren. Trotz aller ›pragmatischer‹ und ›analytischer‹ Versuche, die Gattungsbezeichnungen aus den essentialistisch gepolten zeitgenössischen Diskussionen herauszulösen, kann auch er nicht darauf verzichten, die Prämisse einer ästhetischen Sonderfunktion der Literatur im Rekurs auf deren ontologische Qualitäten zu erklären. Denn »beim Eintritt in den Bezirk der Literatur [treten] wir in ein eigenes Reich ein […]«.120 Dichterische Sprache ist von der Zweckbestimmtheit und »Realitäts«-Bezogenheit der Alltagssprache befreit. Die von ihr hervorgerufene Gegenständlichkeit hat eine eigene Seinsweise, und die Sprache steht in besonderen Gefügen.121

Ausgehend von dieser besonderen Qualität der literarischen Seinsweise wird nun das lyrische Gedicht bestimmt. Kayser verwahrt sich auch hier in einem ersten Schritt gegen traditionelle Bestimmungen. Die Charakterisierung der Lyrik als ›subjektiv‹ hält er für problematisch, weil das Gedicht schon lange nicht mehr die Wahrnehmungen »dieses bestimmten Menschen in diesem bestimmten Augenblick und dieser bestimmten Situation«122 wiedergebe. Der eher grundsätzliche Begriff des Subjektiven lenke »immer noch die Aufmerksamkeit auf das Subjekt, auf das reale Subjekt des Sprechenden vielleicht, das als solches überhaupt nicht zum lyrischen Werk gehört«.123 Kayser setzt dieser Vorstellung die ›Gegenständlichkeit‹ entgegen, die »im Lyrischen nicht bloße Basis für subjektive Kundgabe«124 sei. Vielmehr sieht er im ›Lyrischen‹ eine Art Vereinigungsmedium der objektiven Wirklichkeit und subjektiver ›Empfindungen‹ und ›Stimmungen‹. An diesem Punkt wird sichtbar, wie stark trotz aller Distanzierungsversuche auch Kayser in der Tradition einer metaphysisch getönten Sonderbestimmung der Lyrik verhaftet ist, die Entwicklungen der modernen Lyrik bislang nur marginal rezipiert hat: 119 120 121 122 123 124

Ebd., S. 335. Ebd., S. 337. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd.

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[…] im Lyrischen fließen Welt und Ich zusammen, durchdringen sich, und das in der Erregtheit einer Stimmung, die nun das eigentlich Sich-Aussprechende ist. Das Seelische durchtränkt die Gegenständlichkeit, und diese verinnert sich. Die Verinnerung alles Gegenständlichen in dieser momentanen Erregung ist das Wesen des Lyrischen. […] Aus dem Wesen des Lyrischen erklärt sich jene Unschärfe der Konturen, jene Lockerheit der »Sachverhalte« und Unfertigkeit der Sätze, andererseits die starke Wirksamkeit von Vers, Klang und Rhythmus, die alle lyrische Sprache gegenüber der epischen und dramatischen kennzeichnen. Der Vollzug der Verinnerung in der Erregung ist der lyrische Vorgang.125

Diese Sätze sind zentral für Kaysers Konzeption des Lyrischen. Die Versuche begrifflicher Systematisierung und Distanzierung verbürgen noch keine Loslösung vom zentralen Paradigma der klassisch-romantischen Lyrikvorstellung: Das Subjektivititätsparadigma bleibt unter anderem Vorzeichen erhalten – als »Erregtheit der Stimmung«, »Seelisches« oder »Verinnerung«. Natürlich sind diese Kategorien für eine Vielzahl historischer Fälle geeignet, aber sie fixieren gleichzeitig eine Lyrikvorstellung, die wesentlichen Entwicklungen und Elementen der modernen Lyrik nicht gerecht werden kann und damit indirekt auch deren begriffliche Beschreibung erschwert. »Entscheidend ist, daß die ausgesprochene ›Wahrheit‹ nicht nur als Erkenntnis formuliert und zum Erkanntwerden ausgeprochen wird, sondern daß sie zugleich aus gefühlsmäßigem Erleben kommt und gefühlsmäßig erlebt werden will.«126 Zugleich ist die Programmatik des ›Verinnerlichens‹ ein Indikator für zeittypische Diskurse, die weit über den Bereich des literarischen Leben hinausreichen. Friedrich Meineckes Forderung nach einer »Verinnerlichung unseres Daseins«127 als mentalhygienische Therapie nach dem Nationalsozialismus ist diskursiv in enger Nachbarschaft zu solchen Lyrikkonzepten angesiedelt. Insofern ist also auch Kaysers Konzeption von Lyrik wesentlich klassisch-romantisch bestimmt und hat sich den Entwicklungen der modernen Lyrik noch nicht geöffnet. Das überrascht umso mehr, als Kaysers Repertoire an Beispieltexten ganz anders als bei Staiger ausgesprochen international ist und auch Texte der ersten modernen Lyriker – so Baudelaires und Verlaines – enthält. Allerdings führt die Analyse dieser Texte nicht zur Diskussion oder Entdeckung von Kategorien, die über das Paradigma einer Lyrik hinausweisen, in der Subjektives und Objektives verschmolzen werden. So markiert Kaysers Lyrikkonzeption in Das sprachliche Kunstwerk sehr deutlich ein Ende der 40er Jahre dominantes Einverständnis über ein im Wesent125 126 127

Ebd. Ebd., S. 338. Meinecke, Die deutsche Katastrophe, S. 168.

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lichen klassisch-romantisches, durch Kategorien wie ›Gefühl‹, ›Stimmung‹ und die Verschmelzung von Subjektivem und Objektivem bestimmtes Lyrikverständnis. Darin kommen seine Ausführungen einer Bestätigung von Staigers Lyrikvorstellungen gleich. Bestenfalls in Ansätzen – am ehesten bei dem Versuch einer sprachphilosophischen Gattungscharakterisierung – ist abzusehen, in welche Richtung die literaturwissenschaftliche Deskription der Lyrik die Poetiken der Moderne integrieren kann. Kaysers Bestimmung der Lyrik ist ein Dokument der Ende der 40er Jahre vorherrschenden Tradition, Lyrik essentialistisch mit Hilfe des Subjektivitätsparadigmas zu bestimmen, liefert aber eine Öffnung und Erweiterung des deskriptiven Repertoires. Vor dem Hintergrund der negativ getönten Charakterisierungen der Moderne nach 1945 kann man Staigers und Kaysers Festhalten am Subjektivitätsparadigma durchaus als eine Reaktion auf den Krisendiskurs der Moderne verstehen. Eine Ästhetik, deren wesentliche Qualitäten als Auflösung und Verfall beschrieben werden, bedarf keiner theoretischen Aufarbeitung – so könnte man die implizite Voraussetzung von Staigers und Kaysers Position rekonstruieren. Erst im Verlauf der 50er Jahre findet eine Integration der negativ konnotierten Denkfiguren, die in der Literaturkritik bereits popularisiert werden, in literaturwissenschaftliche Diskussionen statt. Als ein Schritt zu dieser Revision kann Käte Hamburgers Ansatz gesehen werden, auf sprachlogischer Basis weiterhin die ›existentielle‹ Aussageposition eines ›lyrischen Ich‹ zu reklamieren.128 Hamburger versucht, die problematische Kategorie zu Subjekts in revidierter Form zu bewahren. »Der moderne Begriff der Existenz ersetzt recht glücklich den des Subjekts und des Subjektiven […].«129 Auf dieser Grundlage reformuliert Hamburger die Aussagemodalitäten in der Lyrik: »Wir haben es nur mit der Wirklichkeit zu tun, die das lyrische Ich uns als die seine kundgibt, die subjektive, existentielle Wirklichkeit, die mit irgend einer objektiven […] nicht verglichen werden kann.«130 Das lyrische Aussagesubjekt verwandle »objektive Wirklichkeit in subjektive Erlebniswirklichkeit, weshalb sie als Wirklichkeit eben bestehen bleibt«.131 Hamburger modifiziert und differenziert die Kategorien des traditionellen Lyrikverständnisses und repräsentiert in gewisser Hinsicht ein theoretisches Pendant zu den transformativen Poetiken der frühen 1950er Jahre. 128 129 130 131

Vgl. Käte Hamburger, Die Logik der Dichtung, Stuttgart 1957, S. 144–208. Ebd., S. 169. Ebd., S. 203. Ebd., S. 204.

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Den Höhepunkt und zugleich die prominenteste Ausformulierung dieser Revision des Lyrikbegriffs lieferte der Freiburger Romanist Hugo Friedrich in der 1956 erstmals erschienenen Studie Die Struktur der modernen Lyrik.132 Die Hauptthese dieses Buchs ist im Titel genannt: Es gebe, so Friedrich, eine Kontinuität in der Struktur der modernen Lyrik, die von ihren Begründern – Baudelaire, Rimbaud, Mallarmé – bis in die Gegenwart der 50er Jahre des 20. Jahrhunderts reicht: Die Gründer und noch heutigen Führer der modernen Lyrik Europas sind Franzosen des 19. Jahrhunderts, nämlich Rimbaud und Mallarmé. Zwischen ihnen und dem Dichten unserer Gegenwart bestehen Gemeinsamkeiten, die man nicht aus Einflüssen erklären kann oder selbst dort, wo Einflüsse erkennbar sind, nicht als solche zu erklären braucht. Es sind Gemeinsamkeiten einer Struktur, d. h. eines Grundgefüges, das mit auffallender Beharrlichkeit in den wechselnden Erscheinungen der modernen Lyrik wiederkehrt.133

Neben der historischen These der eindeutig französisch geprägten Traditionslinie der modernen Lyrik entwickelt Friedrich eine Reihe von formalisierten Strukturmerkmalen, die im Kontext der Untersuchung zwar aus den Gemeinsamkeiten bestimmter Lyriker abgeleitet werden, aber ebenso im Horizont der negativen Semantisierungen der Nachkriegslyrik gelesen werden können. Bei literarischen Erscheinungen bezeichnet ›Struktur‹ ein organisches Gefüge, eine typenhafte Gemeinsamkeit von Verschiedenem. Im vorliegenden Falle ist es diejenige Gemeinsamkeit lyrischen Dichtens, die in der Abkehr von klassischen, romantischen, naturalistischen, deklamatorischen Traditionen, eben in ihrer Modernität besteht. ›Struktur‹ bedeutet hier die Gesamtgestalt einer Gruppe zahlreicher lyrischer Dichtungen, die einander keineswegs beeinflußt zu haben brauchen und deren einzelne Eigentümlichkeiten dennoch zusammenstimmen und auseinander erklärt werden können, jedenfalls so häufig und in gleichen Lagerungen vorkommen, daß sie sich nicht als Zufälle ansehen lassen.134

Die Gemeinsamkeiten der modernen Lyrik werden im Kontrast zur klassisch-romantischen und subjektivistischen Lyrik beschrieben, aber auch mit den Qualitäten der krisenhaften Moderne-Vorstellungen angereichert, die man von Sedlmayr oder Holthusen kennt: Nach einer an der romantischen Poesie abgelesenen (und sehr zu Unrecht verallgemeinerten) Bestimmung gilt Lyrik vielfach als die Sprache des Gemüts, der persönlichen Seele. Der Begriff des Gemüts deutet auf Entspannung durch Einkehr in einen seelischen Wohnraum, den auch der Einsamste mit allen teilt, die zu füh132 133 134

Hugo Friedrich, Die Struktur der modernen Lyrik. Ebd., S. 9. Ebd., S. 12.

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Signaturen len vermögen. Eben diese kommunikative Wohnlichkeit ist im modernen Gedicht vermieden. Es sieht ab von der Humanität im herkömmlichen Sinne, vom ›Erlebnis‹, vom Sentiment, ja vielleicht sogar vom persönlichen Ich des Dichters.135

Friedrich liefert damit eine Kanonisierung der Grundlagen, die sich in den 50er Jahren, nicht zuletzt in der Gefolgschaft Benns, als Konstanten der Diskussion um moderne Lyrik herausgebildet haben. Im Zentrum steht die Abkehr von der Vorstellung des Gedichts als Selbstaussprache des Subjekts. Stattdessen werden negative Kategorien eingeführt – wie »Entpersönlichung«,136 »leere Identität«,137 »Desorientierung«138 oder »Enthumanisierung«139 – die sowohl formal als auch thematisch zu verstehen sind. Friedrich selbst weist darauf hin, dass sie bei der Beschreibung von Lyrik nicht abwertend, wie das noch in der Moderne-Diagnostik der späten 40er Jahre geschieht, sondern deskriptiv-definitorisch gemeint sind. Dennoch ist die Herkunft der Begriffe aus diesem Diskussionshorizont unübersehbar und zeigt einmal mehr die Persistenz des krisenhaft getönten Moderne-Verständnisses. Dazu kommt nun noch die Abkehr vom Bild des Dichters als Genie, als Seher, als Medium der Selbstaussprache – und seine Sicht als Macher, als dichtende Intelligenz, als Operateur der Sprache, als Künstler, der die Verwandlungsakte seiner gebieterischen Phantasie oder seiner irrealen Sehweise an einem beliebigen, in sich selbst bedeutungsarmen Stoff erprobt.140

Die in Ansätzen angedeutete Kontextualisierung Friedrichs kann verdeutlichen, dass all diese Begriffe ihrerseits wieder historisch zu sehen sind und nicht implikationsfrei als Beschreibungsmerkmale der modernen Lyrik herangezogen werden können. Aber sie sind ein erstes Beispiel dafür, wie sich neben dem traditionellen Lyrikparadigma die Konturen ganz anderer Lyrikvorstellungen entwickeln – die dann wieder Ausgangspunkte für entsprechende Erweiterungen in den poetologischen Selbsterkundungen einzelner Lyriker wie Bachmanns, Celans und Enzensbergers sind. Fast nebenbei gibt Friedrich auch eine historische Begrenzung: Für ihn beginnt die moderne Lyrik um 1850 und endet um 1950 – wobei auch hier die Vorstellung einer entscheidenden kulturellen Epochenzäsur mitschwingt, die mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs verbunden ist: 135 136 137 138 139 140

Ebd., S. 16f. Ebd., S. 36. Ebd., S. 47. Ebd., S. 60. Ebd., S. 69. Ebd., S. 17.

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Die Begrenzung auf die Zeit um 1950 ist allerdings entschiedener als diejenige auf 1850. Manches ist seit der Mitte unseres Jahrhunderts in der europäischen Lyrik entstanden, das Anspruch auf Respekt erheben kann. Dennoch wüßte ich nicht, wer seither definitiv und zukunftsbildend das Feld überschritten hätte, das von den Klassikern der Moderne erschlossen wurde. Eher ließen sich Entspannungen beobachten, eine da und dort fühlbare Rückkehr zur humaneren, persönlichen, in Schmerz und Freude schlichter gewordenen Lyrik.141

Für Friedrich ist die moderne Lyrik um 1950 beendet – und das, was er beobachtet in den 50er und 60er Jahren, sind schlichtere Formen. Darüber kann man streiten – man kann aber darin auch einen Hinweis darauf sehen, dass das Anknüpfen an die Traditionen der Moderne in der deutschen Lyrik der Nachkriegsjahre ganz wesentlich über den Bezug auf bestehende Traditionslinien erfolgt, die sich nicht in ein relativ enges, historisch und formal scharf umrissenes Konzept von moderner Lyrik einpassen lassen. Natürlich revidierte Friedrich später diese frühe Einschätzung – was ihre Aussagekraft über die historische Debattenlage aber eher verstärkt, als dass sie ihr Abbruch tut. Eine letzte Position, die das Spektrum der Lyrikkonzepte um 1950 beleuchtet, ist Adornos Rede über Lyrik und Gesellschaft aus dem Jahr 1957.142 Sie fügt den Diskussionen über moderne Lyrik einen entscheidenden Aspekt hinzu, der parallel bei Bachmann und dann immer stärker bei Celan und bei Enzensberger zu beobachten ist: den Bezug auf die Geschichte, auf eine politisch-historische Gegenwart, ohne dabei indes einen vollständigen Verzicht auf die ästhetische Dimension von Lyrik zu leisten. Ausgangspunkt für Adorno ist das hypothetische »Unbehagen«143 eines zeitgenössischen Publikums, das Lyrik noch ganz im Sinn des Subjektivitätsparadigmas als »das Zarteste, Zerbrechlichste«,144 Intimste und Subjektivste sieht und denjenigen für amusisch hält, der versucht, sie mit der Gesellschaft in Verbindung zu bringen – und sich damit dem Verdacht aussetzt, die essentiell antigesellschaftliche Lyrik »arrogant durch die Art ihrer Betrachtung zum Gegenteil dessen« machen zu wollen, als was sie sich selber weiß.145 Die Beziehung der Lyrik zur Gesellschaft ist aber nach Adorno ein Merkmal, das Kunstwerken wesentlich ist, tiefer in sie hineinführt und »etwas 141 142

143 144 145

Ebd., S. 13. Theodor W. Adorno, »Rede über Lyrik und Gesellschaft (1957)«, in: Ders., Gesammelte Schriften, Bd. 2, Noten zur Literatur, Rolf Tiedemann (Hrsg.), Frankfurt am Main 1974, S. 48–68. Ebd., S. 49. Ebd. Ebd.

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vom Grund ihrer Qualität aufdeckt«.146 Denn Kunstwerke seien nicht »bloß der Ausdruck individueller Regungen und Erfahrungen«, sondern sie sind nach Adorno »überhaupt erst dann künstlerisch, wenn sie, gerade vermöge der Spezifikation ihres ästhetischen Geformtseins, Anteil am Allgemeinen gewinnen«.147 Das lyrische Gedicht fixiert nach Adorno in diesem Sinne etwas »Unentstelltes, Unerfaßtes, noch Subsumiertes in die Erscheinung«.148 Charakteristischerweise werde gerade durch die »rückhaltlose[ ] Individuation«149 in der Lyrik das Allgemeine angestrebt. Deshalb hat Allgemeinheit des lyrischen Gehalts für Adorno zwar einen gesellschaftlichen Charakter, aber nicht in einem unmittelbar mimetischen Sinn. Vielmehr muss dabei die Eigenheit, die eigene Qualität des lyrischen Textes bewahrt bleiben; erst daraus könne man erschließen, wie das Ganze einer Gesellschaft im Kunstwerk erscheint: Jene Allgemeinheit des lyrischen Gehalts jedoch ist wesentlich gesellschaftlich. Nur der versteht, was das Gedicht sagt, wer in dessen Einsamkeit der Menschheit Stimme vernimmt; ja, noch die Einsamkeit des lyrischen Wortes selber ist von der individualistischen und schließlich atomistischen Gesellschaft vorgezeichnet, so wie umgekehrt seine allgemeine Verbindlichkeit von der Dichte seiner Individuation lebt.150

Der gesellschaftliche Bezug der Lyrik funktioniert nach Adorno immanent: »Gesellschaftliche Begriffe sollen nicht von außen an die Gebilde herangetragen, sondern geschöpft werden aus der genauen Anschauung von diesen selbst.«151 Um das zu bestimmen, bedarf es letztlich eines »Wissens wie vom Inneren der Kunstwerke so auch von der Gesellschaft draußen«.152 Gerade deshalb bleibt der grundsätzlich gesellschaftskonforme Charakter der Lyrik zentral für ihre Bestimmung und Funktion. Die »Idiosynkrasie des lyrischen Geistes gegen die Übergewalt der Dinge ist eine Reaktionsform auf die Verdinglichung der Welt, der Herrschaft von Waren über Menschen, die seit Beginn der Neuzeit sich ausgebreitet, seit der industriellen Revolution zur herrschenden Gewalt des Lebens sich entfaltet hat«.153 Lyrik hat keinen Anteil an der gesellschaftlichen Praxis, soweit diese sich in reinen Nützlichkeitsfunktionen oder in Materialität äußert – aber Lyrik beschwört ein 146 147 148 149 150 151 152 153

Ebd. Ebd., S. 50. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd., S. 51. Ebd. Ebd., S. 52.

Wandlungen: Lyrikkonzepte nach 1945

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Gegenbild. Es geht um den Versuch, den subjektiven Ausdruck wiederzugewinnen, ohne dabei freilich der Harmonisierung zu verfallen. Dieses »gesellschaftliche Wesen Lyrik« ist nach Adorno »durchaus moderner Art«.154 Dieser Hinweis ist wichtig, weil er zeigt, dass neben den vordergründig formalen, aber negativ konnotierten Kategorien Friedrichs stärker diskursiv orientierte Bestimmungen der Lyrik, wie sie sich in den Transformationspoetiken von Eich bis Enzensberger finden, auch in der theoretisch-ästhetischen Debatte erörtert werden. Historisch gesehen bestimmt Adorno den Charakter des Unmittelbaren, Entstofflichten, Subjektiven als ein Charakteristikum der Lyrik seit der Neuzeit. Hier herrsche ein »Moment des Bruches«,155 weil das Ich »sich als dem Kollektiv, der Objektivität entgegengesetztes bestimmt und ausdrückt«156 und damit eben nicht unmittelbar mit der Natur eins ist, sondern von ihr entfremdet ist und sie gleichsam verloren hat. Das moderne Gedicht zeugt vom Versuch, die Natur wieder für das Subjekt, für das entfremdete Individuum einzufordern. »Erst durch Vermenschlichung soll der Natur das Recht abermals zugebracht werden, das menschliche Naturbeherrschung ihr entzog.«157 Auf diese Weise ist auch in der modernen Lyrik der Bezug von Lyrik auf Gesellschaft eine Dimension, die der Text von sich aus thematisiert. Lyrik vollzieht eine solche Ineinssetzung des Ich mit der Natur, zeugt damit aber nicht von einem vermeintlich »bruchlos[en] und harmonisch[en]«158 Rückschritt, sondern »vom Leiden am subjektfremden Dasein ebenso wie von der Liebe dazu«.159 Adorno schafft mit seinem Essay nicht nur die Begründung einer modernen Lyrik, die sich nicht auf die Fortführung der Revolution formaler Mittel im Dienste einer gänzlich negativ gehaltenen Diagnose des Moderne-Zustands beschränkt. Die Vorgeschichte dieser Entwicklung kann man an den Positionen Staigers und Kaysers ablesen, die eine auf mehr oder weniger komplexen Prämissen basierende Restauration des Subjektivitätsparadigmas versuchen; ihre Voraussetzungen in Hugo Friedrichs die negativen Aspekte der Moderne-Diagnostik affirmierender Struktur der modernen Lyrik verfolgen. Adorno setzt diesen Lyrikkonzeptionen, die gegenüber der klassischromantischen Tradition als defizitär gedacht sind, die emphatische Betonung der diskursiven Qualitäten einer ihrem Selbstverständnis nach modernen 154 155 156 157 158 159

Ebd. Ebd., S. 53. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd.

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Lyrik entgegen. Diese gewinne ihren gesellschaftlichen Gehalt gerade aus dem »Widerstand gegen den gesellschaftlichen Druck«160 und damit aus ihrer in der »Sprachgestalt der Lyrik«161 begründeten idiosynkratischen Eigenart. Der Möglichkeit einer formal modernen Lyrik fügt Adorno den Aspekt ihrer diskursiven Eigenqualität hinzu. In der Diskussion um die Modernisierung der Gattung unter den Bedingungen der Nachkriegszeit, die von den weitgehend negativ bestimmten Krisendiskussionen der späten 40er Jahre ausging, markiert Adornos Position einen Endpunkt. Die Lyrik hat nun auch im ästhetisch-diskursiven Verständnis einen wichtigen Schritt zur Formulierung einer spezifischen Ästhetik der Nachkriegsmoderne getan.

4.

Fallbeispiele: Lyrikanthologien nach 1945

Anthologien sind Archive, in denen sich historisch spezifische Muster des allgemeinen kulturellen Selbstverständnisses ablagern. Wie sehr das für die Nachkriegsjahre in Deutschland gilt, wurde von Fred Lönker exemplarisch am Beispiel von Anthologien der späten 1940er und der 50er Jahre gezeigt. Er untersucht Anthologien, in denen der Anspruch erhoben wird, »lyrische Weltliteratur oder doch zumindest Lyrik aus einem die nationalen Literaturen übergreifenden Kulturkreis zu präsentieren«.162 An diesen Lyriksammlungen lässt sich der Transfer zeitgenössischer Denkfiguren in das literarische Feld symptomatisch beobachten. In den Absichtserklärungen der Herausgeber für die Auswahl der Texte spielen weder allgemeine Kriterien kultureller Differenz eine Rolle, noch sind spezifische Strategien auszumachen, die eine Verknüpfung der ›weltliterarischen‹ Texte mit der jüngsten Zeitgeschichte erlauben würden. Ganz im Gegenteil: Literatur wird, ganz in der Tradition der Kultur- und Abendlanddiskurse der frühen Nachkriegsjahre, als ein Medium möglichst undifferenzierter Einebnung gerade jener Differenzen betrachtet, die im nationalsozialistischen Deutschland ideologisch betont wurden. Dem Auswahlkriterium ›Weltliteratur‹ als überhistorisches Kontinuum entspricht ein normativer Begriff der Menschheit, und Lyrik ist nicht »ein Spiegel der Zeit […], sondern gerade Ausdruck dessen, was allen historischen Veränderungen entzogen ist: das ›Unvergängliche‹ 160 161 162

Ebd., S. 55. Ebd., S. 56. Fred Lönker, »›Bewahrer des Unvergänglichen.‹ Bemerkungen zu deutschen Lyrikanthologien der Nachkriegszeit«, in: Birgit Bödeker/Helga Essmann (Hrsg.), Weltliteratur in deutschen Versanthologien des 20. Jahrhunderts, Berlin 1997, S. 109–117, hier S. 109.

Fallbeispiele: Lyrikanthologien nach 1945

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und ›Unwandelbare‹«.163 So wird »[m]it der Weltliteratur, zu der natürlich auch die deutsche Dichtung gehört, […] ein Bereich angesprochen, der die Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft (›zum Organismus der Menschheit‹) auch dort garantiert, wo die Geschichte des eigenen Volkes für das genaue Gegenteil spricht«.164 Dem Transfer der abendländischen Kulturideologie in Herausgebermaximen entspricht ein »relativ stabiler Kanon von lyrischen Texten«,165 der im Großen und Ganzen die klassisch-romantische Tradition umfasst und in der Regel »vor dem Expressionismus beziehungsweise vor dem Ersten Weltkrieg« endet; andernfalls »[zeichnen sich] die ausgewählten Texte […] durch die Abwesenheit jedes konkreten historischen Bezuges aus«.166 Die Auswahlpraxis der Herausgeber spiegelt sich in der Privilegierung traditionalistischer Ästhetiken in der Lyriktheorie. Lönkers Analyse der Anthologien ›weltliterarischer‹ Lyrik veranschaulicht also zweierlei: zum einen die Analogien zwischen allgemein kulturellen Diskussionszusammenhängen und dem Lyrikverständnis der frühen Nachkriegsjahre; zum anderen, auf dem Gebiet der Lyriktheorie, eine gewisse Dominanz klassisch-romantisch geprägter Poetiken. Wie steht es unter diesen Ausgangsbedingungen um die Diskussion über eine moderne Lyrik unter den Bedingungen der Nachkriegszeit? Das soll im Folgenden im Querschnitt wichtiger Anthologien deutschsprachiger Lyrik zwischen 1945 und 1960 gezeigt werden. Die Rekonstruktion eines lyrikästhetischen Traditionalismus, die in den Weltliteraturanthologien und in der Lyriktheorie sichtbar ist, bleibt auch bei der programmatischen Selbstverortung von Anthologien wirksam, die es sich zum Ziel setzen, die Lyrik der unmittelbaren Gegenwart zu repräsentieren. Freilich kollidieren diese Vorstellungen hier besonders sichtbar mit der Erwartungshaltung, Lyrik müsse in irgendeiner Weise auf die historische Gegenwart ›reagieren‹ – mag diese Reaktion nun eher thematisch oder formal akzentuiert sein. Die vier Lyrikanthologien der Nachkriegsjahre, die hier genauer betrachtet werden, repräsentieren in diesem Zusammenhang sowohl historisch als auch systematisch zentrale Stationen der Debatte um eine lyrische Nachkriegsmoderne. Im einzelnen geht es dabei um die 1946 von Gunter Groll herausgegebene Antho163

164 165 166

Ebd., S. 111. Diesen Aussagen Lönkers liegt v. a. die Anthologie Doch immer behalten die Quellen das Wort. Lyrik-Brevier der Weltliteratur (hrsg. von Erich Felden, Stuttgart 1947) zugrunde, wobei sich in den anderen behandelten Anthologien vergleichbare begriffliche Konzeptionen finden. Ebd. Ebd., S. 114. Ebd., S. 115.

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logie De Profundis, sodann um Hans Egon Holthusens und Friedhelm Kemps Ergriffenes Dasein von 1953, weiterhin um Walter Höllerers als Lyrikbuch der Jahrhundertmitte betitelte Anthologie Transit aus dem Jahr 1956 und schließlich zum Abschluss um die beiden 1961 und 1962 erschienenen Anthologien Deutsche Lyrik von Horst Bingel und Hans Benders Widerspiel. Anthologien sind Archive. Allerdings mutiert im Fall der Anthologien deutscher Lyrik nach 1945 diese Funktion der Bestandsaufnahme bestimmter literarischer Entwicklungen, die bis zum jeweils gegenwärtigen Zeitpunkt reichen, diesen erklären und zum Teil auch definieren; das Archiv wird zur Programmschrift. Bestimmte Orientierungen sollen nun durch gezielte Selektion beeinflusst werden. Auch wenn es erklärtes Ziel ist, bei der Auswahl der versammelten Texte möglichst repräsentativ zu sein und die Vielfalt der Autoren und der literarischen Strömungen in stilistisch und ästhetisch möglichst heterogenen Beispielen zu versammeln, können sich dabei gewisse Verschiebungen ergeben. Das geschieht gerade dann, wenn Anthologien Momentaufnahmen bestimmter Segmente der Literaturgeschichte liefern. Die Auswahlkriterien der Gedichte sind dann auf einen enger umgrenzten Zeitraum eingeschränkt, längerfristige Prozesse der Affirmation oder Negation von Traditionen stehen weniger im Vordergrund. In einem solchen Rahmen können Anthologien zumindest programmatisch auf bestimmte Tendenzen der literarischen oder auch der kulturellen Entwicklung abgestellt und deshalb im Sinne eines dezidierten ästhetischen Programms angelegt sein. Die Auswahl der Texte zielt dann darauf ab, solche Programme oder auch nur Postulate zu unterstützen. Auch wenn die eindeutige Unterscheidung der genannten Anthologien nach systematisch-theoretischen Kriterien nahezu unmöglich ist, haben diese durchaus einen gewissen heuristischen Wert. Erlauben sie doch, die verschiedenen, oft gleichzeitigen und hin und wieder auch miteinander kollidierenden Intentionen der Herausgeber zu benennen. In den Anthologien der Nachkriegsjahre überschneiden und überlagern sich diese Funktionen schon deshalb, weil auch noch so konkrete Auswahlkriterien nicht verdecken können, dass das vorhandene Textmaterial immer nur partiell bestimmten Fragen untergeordnet werden kann. Insofern bieten die Anthologien der Jahre nach 1945 zweierlei: Stellt man die Herausgeberintentionen in den Vordergrund, kann man aus ihnen zentrale Probleme der zeitgenössischen Lyrikdiskussion ableiten. Berücksichtigt man dagegen in erster Linie die versammelten Texte, bieten die Anthologien Momentaufnahmen, aus deren Nebeneinanderstellung sich lyrikgeschichtliche Strömungen weniger Jahre ablesen lassen und die es erlauben, wichtige Tendenzen und Diskussionen in der Lyrik zwischen 1945 und 1960 zu erschließen.

Fallbeispiele: Lyrikanthologien nach 1945

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Um solche Momentaufnahmen von Debatten und Problemkonstellationen geht es im Folgenden. Im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stehen dabei die Vor- und Nachworte der Herausgeber; die Auswahl der Texte wird im Verhältnis zu diesen editorischen Positionierungen in Betracht gezogen. In den Herausgeberkommentaren überschneiden sich verschiedene Ansätze. Versuche, den Bezug der Lyrik zum jeweiligen zeitgeschichtlichen Horizont zu beschreiben, sind ebenso wichtig wie Erörterungen des ästhetischen und programmatischen Rahmens, in den die Lyrikgeschichte der Nachkriegsjahre eingepasst wird. Im Mittelpunkt der Betrachtung steht die Leitfrage nach den Signaturen eines vor allem diskursiv erkundeten und in vielfältigen Diskussionszusammenhängen ausgehandelten Moderne-Verständnisses: Welches sind die Modalitäten der Wiederannäherung an die literarische Moderne und in welchem Verhältnis stehen sie zum Fortwirken traditionalistischer Schreibweisen in der deutschsprachigen Lyrik nach 1945? Stationen dieses komplementären Verlaufs lassen sich an den Anthologien ablesen und einschätzen und bereiten die Analyse der Koordinaten und Transformationen der deutschsprachigen Lyrik nach 1945 vor. 4.1

Kontinuität in der Katastrophe: De Profundis

De Profundis, 1946 von Gunter Groll herausgegeben, war eine der ersten Anthologien der Nachkriegszeit. Ziel der Sammlung, die ausschließlich Gedichte von Autoren enthält, die zwischen 1933 und 1945 in Deutschland lebten, war es nach Aussage des Herausgebers, die Situation des deutschen Geistes in Katastrophe und Katharsis zu dokumentieren: durch Gedichte, deren innere Welt die Leiden und die Verzweiflung, die Anklage und den Widerstand, die Schuld und den Trost jener Epoche spiegelt.167

Im Vordergrund dieser in der unmittelbaren Nachkriegszeit entstandenen Anthologie steht die Absicht, die in Deutschland zwischen 1933 und 1945 entstandene Lyrik zu dokumentieren. Bis zu einem gewissen Grad ging es dabei auch um Rechtfertigung der nach 1933 in Deutschland verbliebenen Autoren. Ohne den polemischen Ton der feindseligen Debatten um Exil und ›innere Emigration‹ aufzunehmen,168 sieht Groll das ›andere Deutschland‹, »das gegen die Barbarei und auf der Seite der Menschheit stand«,169 von Anfang an in das Lager der Emigranten und der im Land gebliebenen 167

168 169

De Profundis. Deutsche Lyrik in dieser Zeit. Eine Anthologie aus zwölf Jahren, Gunter Groll (Hrsg.), München 1946, S. 7. Vgl. ebd., S. 15f. Ebd., S. 12.

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Autoren geteilt. Die zweite Gruppe sollte der Öffentlichkeit vorgestellt werden, um das nicht vorhandene Wissen um einen »inneren Widerstand[ ]«170 zu erweitern. Groll denkt dabei explizit nicht an einen wie immer gearteten politischen Widerstand. Für ihn besteht kein Zweifel daran, dass es »die Emigranten [waren], die in der Welt den deutschen Namen und das Bewußtsein retteten, daß es immer und unverlierbar auch ein anderes und besseres Deutschland gäbe«.171 Und auch im Rahmen der von religiösen Konnotationen überbordenden Sühne-Rhetorik wird klar, dass Groll mit der Anthologie vor allem die in Lyrik reflektierte psychische Befindlichkeit »des im Lande verbliebenen ›anderen Deutschland‹«172 in den Vordergrund stellen möchte. Nach den zwölf Jahren der Diktatur gehe es vor allem darum, alles, was wir hörten, erneut zu prüfen, das Wertvolle und das Unterdrückte zu sammeln und vor dem eigenen Volke wie vor der Welt den Dichtern das Wort zu geben, die entweder zwölf Jahre lang verstummt waren oder die in Gefängnissen und Konzentrationslagern litten oder die in ihren erlaubten Werken in verschlüsselten und in illegalen Schriften in offener Form nicht aufhörten, zu warnen, zu mahnen, zu verfluchen oder zu trösten.173

Die Ziele der Anthologie sind also von historisch-politischen Intentionen getragen. Eine Reaktion auf Diktatur und Krieg auch innerhalb der deutschen Lyrik sei sehr wohl möglich gewesen – allerdings in anderen Formen und Modalitäten, als das in der Außensicht der Emigranten oder der Kriegsgegner vorstellbar sei. Aufschlussreich ist der ausführlich beschworene Vergleich mit dem Dreißigjährigen Krieg, der letzten ›apokalyptischen‹ Erfahrung der deutschen Geschichte. Wie nach diesem »der Glaube an das Recht, der Glaube an den Menschen und das Wissen von der Vergänglichkeit des Irdischen«174 vor allem in Literatur und Musik geblieben seien, so müsse auch nach der viel größeren Katastrophe der Gegenwart, in der »die Möglichkeit der Endzeit […], die den Erdball in Atome zu zertrümmern vermag«,175 in greifbare Nähe gerückt sei, eine »neue Weltepoche«, »ein Zeitalter neuer Synthesen«176 sichtbar werden. Die Ansätze für diesen den Zeitgenossen noch unsichtbaren Neubeginn sollten, so Groll, in der Lyrik zu finden sein, die unter dem Eindruck, aber nicht unter dem Einfluss der Diktatur entstand. 170 171 172 173 174 175 176

Ebd., S. 13. Ebd., S. 15. Ebd., S. 14. Ebd., S. 18. Ebd., S. 9f. Ebd., S. 10. Ebd., S. 11.

Fallbeispiele: Lyrikanthologien nach 1945

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Gleichwohl spielt die Auffassung der Lyrik als einer in erster Linie ›unpolitischen‹, individuellen und ästhetischen Art, auf Erfahrungen zu reagieren, eine wichtige Rolle: »Lyrik bleibt ein persönliches Welterlebnis. Ihr Mysterium ist das Geheimnis der Form, ihre Magie ist der Klang der ins Wort verwandelten Welt.«177 Krieg und Katastrophe werden als beherrschender Hintergrund der Lyrik gesehen, dennoch bleibe die sprachliche Verarbeitung von geschichtlicher Erfahrung ein individueller Vorgang. In De Profundis wird eine Ästhetik der Lyrik entworfen, die das Gedicht als einen indirekten ›Spiegel‹ der »existentielle[n] Situation des Autors und seiner Zeit«178 versteht. In gewisser Weise wird Lyrik als indirekte Antwort auf Geschichte gesehen – und das gilt gerade auch für diejenigen Texte, die auf den ersten Blick jedem historischen Bezug fern stehen. So spiegeln sich auch in den Versen dieser Anthologie die letzten Jahre in Deutschland. Hier ist der Schmerz, die Verzweiflung, die Todesnähe, aber auch die Hoffnung und der unverlierbare Trost Gestalt geworden.179

Welche Funktion haben all diese historisch außerordentlich determinierten Konzeptionen für die Entwicklung der Lyrik nach 1945? Zunächst muss man festhalten, dass Groll anhand von thematisch und formal traditionalistischen Texten eine, wenn auch höchst indirekte, Wechselbeziehung von Lyrik und Geschichte nicht nur postuliert, sondern zu konstruieren versucht. Transmissionsinstanz in dieser Beziehung sind die Biographien der Autoren. Es entspricht der Logik der Auswahl, dass dabei gerade solche Texte im Vordergrund stehen, die später als eskapistisch kritisiert wurden. Groll favorisiert eine indirekte, dechiffrierende und psychologisierende Lesart der Gedichte, die als Dokumente »von einem bestimmten psychischen Zustand und den inneren Wegen einer historischen Epoche«180 gelesen werden sollen. Einer Leserlenkung in diesem Sinne dienen die biographischen Hintergrundinformationen über die einzelnen Autoren, die den jeweiligen Texten vorangestellt sind. Denn hier gehe es ausschließlich darum, zu zeigen, »wie es diesen Dichtern und damit dem deutschen Geist ergangen ist und aus welcher allgemeinen und menschlichen Situation heraus die einzelnen Gedichte entstanden sind«.181 Vor diesem Hintergrund kann man die weiteren Konsequenzen von Grolls Anthologie abschätzen. Mit der intendierten Rehabilitation der in 177 178 179 180 181

Ebd., S. 19. Ebd., S. 20. Ebd. Ebd., S. 23. Ebd., S. 21.

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Deutschland zwischen 1933 und 1945 geschriebenen Lyrik tritt Groll, bei allen moralischen und ästhetischen Einschränkungen, die er selbst anführt, wesentlich für eine Kontinuität der lyrikgeschichtlichen Entwicklung ein. Durch die Beschränkung auf die Außensicht sei ausschließlich eine Unterbrechung oder gar Zerstörung der lyrischen Tradition innerhalb Deutschlands sichtbar, die Rettung der deutschen Literatur scheine ganz allein den Emigranten zuzukommen. »Die Welt weiß wenig von diesen Werken. Vieles konnte nicht publiziert werden und kursierte in geheimen Abschriften.«182 Eben diesen Eindruck der Unterbrechung der lyrischen Tradition möchte die Anthologie relativieren, indem sie verdeutlicht, dass das Schreiben der in Deutschland gebliebenen Autoren als noch so indirekt geäußerte Kritik und als Leiden an der deutschen Situation verstanden werden müsse. Literaturpolitisch bereitet die Anthologie also einer Sicht auf die Jahre zwischen 1933 und 1945 den Boden, in der nicht die Unterbrechung, sondern eine, wenn auch noch so gestörte und deformierte, Fortsetzung literarischer Kontinuität sichtbar ist. In Grolls Perspektive ist es ganz folgerichtig, dass die »regimefeindlichen Dichter Deutschlands«183 zentrale Probleme bereits lang vor dem Ende des Krieges auf ihre Weise aufgriffen: So war »das neu gestellte Problem der Schuld längst in die deutsche Dichtung eingegangen […], bevor sich die Welt-Diskussion über dieses Thema erhoben hatte […]«.184 Dieses Kontinuitätsargument wird verstärkt in Grolls Ausführungen über die junge Generation. Auch wenn »ein wesentlicher Teil der deutschen Jugend noch in Schweigen verharrt« und reden werde, »wenn die Zeit gekommen ist«,185 seien – was er als ›überraschend‹ und ›tröstlich‹ wertet – diejenigen ihrer Vertreter, die in der Anthologie zu Wort kämen, »von dem Offizial-Stil des Regimes«186 wenig beeinflusst. Ganz im Gegenteil stellt Groll auch hier eine Tendenz der Fortsetzung der deutschen Lyrik im Rahmen der Tradition fest. Außer »den Großen und Bekannten [gab es] in Deutschland nicht nur zahlreiche Dreißigjährige, sondern auch Achtzehnund Zwanzigjährige […], die in aller Stille das Erbe der Vergangenheit angetreten haben und deren wesentliche Leistungen noch vor uns liegen«.187 So sehr De Profundis also auf der einen Seite eine Bestandsaufnahme der Lyrik unter der Diktatur sein will, die trotz der und gegen diese Diktatur entstanden ist, so sehr ist die Anthologie in literarhistorischer Sicht ein Manifest 182 183 184 185 186 187

Ebd., S. 19. Ebd., S. 22. Ebd. Ebd., S. 23. Ebd., S. 22. Ebd.

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für die Kontinuität der Traditionen vor 1933. Die Autoren sind diejenigen einer traditionsbetonten Lyrik aus der Zeit um 1930 – u. a. Bergengruen, Carossa, Gertrud von le Fort, Hagelstange, Kasack, Langgässer, Lehmann, Loerke, Schröder, Schneider oder Wiechert. Moralisch-politisch tritt De Profundis, nun unter dem umgekehrten Vorzeichen eines durch die Diktatur erzwungenen Rückzugs ins Private, also für eine Lyrik ein, die historische Probleme indirekt und relational aufnimmt. Ästhetisch-motivisch tendiert sie – und das wird nicht zuletzt durch die Auswahl der Lyriker deutlich – zu einer Fortsetzung und Rehabilitierung der um 1930 dominanten Traditionen einer Natur- und Bewusstseinslyrik mit antimoderner Stoßrichtung. De Profundis ist also nicht nur Bestandsaufnahme, sondern auch Dokument der Konsolidierung des Traditionalismus und der Kontinuität in der Lyrik der ersten Nachkriegsjahre. 4.2. Moderate Moderne in Krisenzeiten: Ergriffenes Dasein Die Konsequenzen dieser Konsolidierungstendenzen in der Zeit unmittelbar nach 1945 kann man einige Jahre später an Hans Egon Holthusens und Friedhelm Kemps Anthologie Ergriffenes Dasein beobachten. Das objektiv formulierte Ziel der 1953 publizierten Anthologie lässt zunächst nicht erkennen, dass der Auswahl der Texte eine ganz bestimmte Tendenz der Rezeption von Gegenwartslyrik zugrunde liegt. Absicht sei es, die Entwicklung der deutschen Lyrik in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in einer sorgfältigen, um Sachlichkeit und Gerechtigkeit bemühten Auswahl darzustellen und den Ertrag einer sehr reichen und vielstimmigen Epoche unserer Dichtung nach den Maßstäben eines besonnenen, in aktueller Programmatik nicht befangenen Urteils zu revidieren.188

Auf den ersten Blick ist das nicht mehr als der Anspruch auf möglichst unvoreingenommene Dokumentation. Im Verlauf des Nachworts wird er durch ausführliche Erläuterungen des historischen Kontexts allerdings konkretisiert und in eine bestimmte Richtung perspektiviert, sodass die Auswahl am Ende sehr wohl als Resultat einer literatur- und, wie die Herausgeber selbst andeuten, sogar »welt- und geistesgeschichtlichen«189 Interpretation kultureller Verlaufslinien erscheinen kann. Drei Aspekte sind dabei von Bedeutung.

188

189

Ergriffenes Dasein. Deutsche Lyrik 1900–1950, Hans Egon Holthusen/Friedhelm Kemp (Hrsg.), Ebenhausen bei München 1953, S. 347f. Ebd., S. 354.

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Erstens geht es den Herausgebern darum, die Ästhetik der 50er Jahre als eine Fortsetzung der um die Jahrhundertwende begonnenen und um 1920 kulminierenden »Revolution aller künstlerischen Ausdrucksformen«190 zu begreifen. Auch zur Begründungstopik von Ergriffenes Dasein gehört der historische Vergleich. Grolls Parallelisierung der Nachkriegssituation mit dem Barock als der Epoche nach dem Dreißigjährigen Krieg wird bei Holthusen und Kemp die Analogie mit der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg an die Seite gestellt. ›1945‹ wird mit ›1918‹, die späten 40er Jahre werden mit der Zeit um 1920 verglichen – mit dem Ergebnis, dass das »künstlerische und politische Pathos, die leidenschaftliche Aufbruchsstimmung von 1920 […] sich nach 1945 nicht wiederholt«191 habe. Der Vergleich ist vor allem literarhistorisch motiviert, auch wenn er auf die anderen Künste und die Politik ausgedehnt wird. Kemp und Holthusen charakterisieren die Blüte der Avantgarde in den 20er Jahren als eine Epoche des »künstlerischen und politischen Radikalismus«.192 Die gegenwärtige Situation der frühen 50er Jahre sei in keiner Hinsicht mehr revolutionär wie vor drei Jahrzehnten. Vielmehr sei »[a]ll das Neue, Kühne, das Unerhörte und hinreißend Skandalöse, was vor mehr als dreißig Jahren, auf dem Höhepunkt der expressionistischen Bewegung, in der berühmten ›Menschheitsdämmerung‹ von Kurt Pinthus präsentiert wurde, […] längst historischer Besitz geworden […]«.193 Entsprechend sei auch die Situation der Künste in den 50er Jahren von einer Kontinuität in der Revolution der 20er Jahre gekennzeichnet. »Wo schöpferische Kräfte sind, da bewegen sie sich immer noch auf dem vor einem Menschenalter eroberten Gelände, nicht nur im Reiche der Dichtung, sondern auch in allen anderen Künsten.«194 Zweitens steht im Mittelpunkt der Anthologie die Vorstellung von einer Tradition der Moderne; überhaupt ist der Bezug zur Tradition ein Leitmotiv in der Komposition der Sammlung. Holthusen und Kemp sehen in der Fortschreibung der Revolution des Expressionismus in den späten 40er und in den frühen 50er Jahren eine historische Gesetzmäßigkeit. »[…] es würde den Gesetzen einer geschichtlichen Rhythmik widersprechen, wenn nicht alle Kräfte noch damit beschäftigt wären, die Errungenschaften der revolutionären Epoche zu verarbeiten, zu erweitern, zu korrigieren und zu modifizieren.«195 Kontinuität und Traditionsprägung seien nicht nur die wesentlichen 190 191 192 193 194 195

Ebd., S. 347. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd.

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ästhetischen Kennzeichen der Nachkriegszeit: Man befinde sich, »wie im Politischen und Sozialen, so im Künstlerischen, offenbar in einer nachrevolutionären Situation«.196 Diese Vorstellung einer Tradition der Moderne seit 1900 bestimmt die Auswahl der Texte. Teil I der Anthologie beginnt mit Hofmannsthal, um dann unter anderem Gedichte von George, Borchardt, Schröder, Carossa, Wilhelm von Scholz, Hesse, Goes, Bergengruen, Ricarda Huch, Gertrud von le Fort, Friedrich Georg Jünger und Josef Weinheber zu versammeln. Allein diese Namensliste verdeutlicht, dass die Moderne in der Anthologie ihrerseits mit einem deutlichen Akzent für ihre ›traditionsbewussten‹ Vertreter versehen ist. Sowohl bei Hofmannsthal, in dessen »Pathos der Modernität […] sich eine ganz ursprüngliche Leidenschaft für Tradition [regte] […]«,197 als auch bei George, dessen Symbolismus sich »mit den Substanzen der deutschen und europäischen Überlieferung«198 verbindet, sei diese starke Traditionsbindung auszumachen, die bis Weinheber reiche. Natürlich werden in den folgenden drei Teilen der Anthologie auch andere Entwicklungen der deutschen Lyrik angeführt. In Teil II finden sich Däubler, Mombert oder Rilke, die nach Ansicht der Herausgeber »zur Vorbereitung der expressionistischen Kulmination«199 beitrugen. Autoren, »welche die expressionistische Bewegung zum Siege geführt und die neuen Erfahrungen aus dem Umkreis des ersten Weltkrieges lyrisch bewältigt haben […]«,200 tauchen in Teil III auf – hier sind durchweg Exponenten des Expressionismus versammelt, also Trakl, Heym, Ernst Stadler, Anton Schnack, Georg von der Vring, Else Lasker-Schüler, Paula Ludwig, Ivan Goll, sowie Werfel, Brecht und Benn. Teil IV präsentiert satirische und humoristische Autoren, u. a. Morgenstern, Wedekind, Lichtenstein, Klabund, Ringelnatz oder Erich Kästner. Spätestens in Teil V, der die »Entwicklung in der Epoche des zweiten Weltkriegs samt Vor- und Nachkriegszeit« umfasst und versucht, »einen charakteristischen Eindruck zu geben von dem Kräftespiel der unmittelbaren Gegenwart«,201 wird in der ausführlichen Würdigung Loerkes und Lehmanns dann wieder die Bevorzugung der traditionalistischen Varianten der Moderne sichtbar; dazu finden sich allerdings Texte von Elisabeth Langgässer, Friedrich Schnack, Georg Britting, Horst Lange, Rudolf Hagelstange, Oda Schaefer, Günter Eich, Peter Huchel, Holthusen, Karl Krolow und Heinz Piontek. 196 197 198 199 200 201

Ebd. Ebd., S. 349. Ebd., S. 348. Ebd., S. 349. Ebd., S. 350. Ebd., S. 351.

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Die Naturlyrik wird dabei als ein notwendiges Korrektiv zur expressionistischen und modernen Revolution der Formen und Inhalte verstanden – als andere Seite der Moderne und als ihr natürliches Gegengewicht. Wieder ist der Bezug zur literarischen Tradition willkommen; sie dient nun als ein Mittel der Relativierung der ganz auf geschichtliche Erfahrungen ausgerichteten Lyrik des Expressionismus. Den Dichtern des Dorfteichs treten die Dichter der City und der Zeitgeschichte ergänzend und widersprechend entgegen. Daß die letzteren sich auf bedeutende Vorbilder aus der vergangenen Generation berufen können, liegt auf der Hand, aber jene neue, aus romantischen Überlieferungen gespeiste, merkwürdig radikale Poesie der Landschaft und des elementaren Lebens, wie ist sie zu erklären? Hier scheint eine Analogie zur Schäferdichtung des 16., 17., 18. Jahrhunderts zu bestehen: wie diese sich gegen die heroische und hochzeremoniöse Welt des großen barocken Stils als eine unerläßliche Neben- und Gegenstimme erhob, so präsentiert sich heute der Naturlyriker als der notwendige Gegenspieler des Dichters der Zeit und des geschichtlichen Bewußtseins. Um neue Sach- und Wortwelten höchst erfolgreich bemüht, die Gefahr des ›Eskapismus‹, das heißt der Flucht aus der Zeit in eine zeitverlorene Idylle, nicht immer vermeidend, haben diese modernen Schäfer ihre sinnvolle Funktion darin, natürliche Widerstandsordnungen zu behaupten gegen die aufreibenden Tendenzen des geschichtlichen Prozesses und den von kulturpessimistischen Schwindelanfällen bedrohten Geist des Menschen an die zeitlosen Mächte des Seins zu erinnern.202

Eine Positionierung der Herausgeber kann man am ehesten aus diesen Ausführungen ablesen. Sie akzeptieren die Lyrik der Avantgarde bis zu einem gewissen Grad, machen aber aus ihrer Sympathie für »die zeitlosen Mächte des Seins« kein Hehl. Diese äußern sich in den vielfältigen Bezügen der Naturlyrik zur poetischen Tradition. Alles in allem scheinen Holthusen und Kemp überzeugt, dass die Moderne der 20er Jahre in ihren Ansprüchen und Mitteln ein wenig zu weit gegangen sei und ihr eine gegenrevolutionäre Korrektur durch die Naturlyrik recht gut bekomme. Es kann deshalb (drittens) nicht überraschen, wenn diese moderat moderne Lyrik der unmittelbaren Gegenwart, nicht ohne teleologischen Einschlag, als Endpunkt der in der Anthologie erfassten Entwicklung gedeutet wird. In der Logik der historischen Verarbeitung der radikalen Moderne versteht es sich von selbst, dass die Gegenwartslyrik – Huchel, Eich, Hagelstange, Kaschnitz, Holthusen, Demetz, Krolow, Celan, Piontek und Höllerer sind die Namen, die sie in der ersten Auflage vertreten – sich weder durch eine Revolution der sprachlichen Mittel noch durch den »Wille[n] zu großen Entwürfen einer Seins- und Lebenslehre im Sinne Rilkes und Georges«203 202 203

Ebd., S. 351f. Ebd., S. 353.

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auszeichnet. Stattdessen konstatieren Holthusen und Kemp beim zeitgenössischen Dichter »Bescheidung und Beschränkung«:204 Er hält sich an Einzelnes, an eine besondere sinnliche oder seelische Erfahrung und deren präzise Vergegenwärtigung in der Sprache. Seine Aufmerksamkeit entzündet sich wieder am unbezwingbaren Widerstand der äußeren Welt, und wo er ihr heimliches Bröckeln und Zerfallen, und ihr gespenstisches Verwehen spürt, da genügt es ihm schon, ein kleines Stück Sicherheit in vier Strophen verfestigt und drei Schritte Wirklichkeit als Existenzgrund für sich gewonnen zu haben.205

In dieser »nachsintflutliche[n] Atmosphäre«206 habe [d]ie großspurige, mit Sonnen und Gestirnen Ball spielende Demiurgengeste […] im allgemeinen einer Art von kleinmeisterlicher Haltung Platz gemacht. […] Man nimmt ein bescheidenes Stück Welt an sich, um es in der Sprache abzubilden und dann »dem Unerfahrbaren zurückzugeben« (Piontek).207

Darin sehen die Herausgeber das Ende einer »Entwicklung, die mit Hofmannsthals ›Lebenslied‹ einsetzte und trotz krisenhafter Schübe und radikaler Umwälzungen erstaunlich viel energische Kontinuität beweist«.208 In der ähnlich gestalteten Anthologie Deutsche Lyrik der Gegenwart von Willi Fehse aus dem Jahr 1955 wird eine vergleichbare Position vertreten. Auch hier wird zunächst auf die Entfremdung des Menschen von der Natur hingewiesen und die krisenhafte Gegenwart skizziert, die durch »äußere und innere Auflösung oder Atomisierung des Lebens«209 gekennzeichnet sei. Am Ende lässt Fehse aber keine Zweifel daran, dass er die Aufgabe des Dichters darin sehe, »die zerdachte und zerstörte Welt wieder zusammen, wieder heil zu denken und sie singend zu ordnen«.210 Die Auswahl der Autoren entspricht dieser Programmatik. Neben einer großen Anzahl von Namen, die als ältere und jüngere Repräsentanten einer modernen Lyrik figurieren – Benn und Brecht sowie Bachmann, Celan, Eich, Höllerer, Holthusen, Huchel, Kaschnitz, Kästner, Krolow – ist die Tradition der Naturlyrik weiterhin stark vertreten – u. a. mit Bergengruen, Billinger, Carossa, Hagelstange, Piontek –, aber auch Autoren, die sich im weiteren Sinn als religiös verstanden, wie Albrecht Goes, Reinhold Schneider oder Rudolf Alexander Schrö-

204 205 206 207 208 209

210

Ebd. Ebd. Ebd. Ebd., S. 353f. Ebd., S. 354. Deutsche Lyrik der Gegenwart. Eine Anthologie, Willi Fehse (Hrsg.), Stuttgart 1955, S. 5. Ebd., S. 6.

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der. Die letzten beiden Gruppen bilden gegenüber der Gruppe moderner Lyriker nach wie vor die Mehrheit. Nicht anders fällt der Befund aus, wenn man einen Blick auf spätere Auflagen von Ergriffenes Dasein wirft. Die Konturen einer traditionalistischen Lyrikkonzeption, die auf Krisenbewältigung und Rekonstruktion ausgerichtet ist, zeichnen sich deutlich ab. Denn bald werden mit Ingeborg Bachmann, Paul Celan oder Hans Magnus Enzensberger auch Autoren in die Anthologie aufgenommen, deren Ansätze die ganz auf Kontinuität und bestenfalls moderate Modernisierung ausgerichtete Lyrik um 1950 deutlich revidieren. Allerdings verändert die Integration dieser Lyriker eben nicht die grundsätzliche Anlage der Anthologie. In der neunten Auflage von 1962 werden sie charakterisiert mit dem Verweis auf »die thematischen und formalen Errungenschaften einiger jüngerer Autoren von Rang«, die sich auszeichneten durch »ganz neuartige Stimmungen«, »ein[en] neue[n] Sprachgebrauch, eine neue Ästhetik«.211 Die Entwicklungen der frühen 50er Jahre seien dadurch »wenn nicht erledigt, so doch relativiert worden«, und die Herausgeber sprechen geradezu von einer »zweiten Nachkriegszeit«.212 So wird in den späteren Auflagen von Ergriffenes Dasein ein anderes Bild der Nachkriegsmoderne erkennbar. An Stelle der moderaten Fortführung traditionalistischer Poetiken treten nun deutliche Tendenzen der Revision. Inhaltlich werden diese Texte freilich an die bereits bestehende Auswahl vorheriger Auflagen gleichsam nur angedockt, die Erklärungsmuster werden nicht überdacht oder gar erneuert. Insgesamt herrscht also in den frühen Auflagen von Ergriffenes Dasein wie auch in Fehses Deutsche Lyrik der Gegenwart eine retrospektiv-teleologische Einschätzung der Nachkriegslyrik vor. Angesichts der starken Betonung von Kontinuitätsfiguren – sowohl der Tradition der literarischen Moderne als auch ihrer Gegenbewegungen – verschwimmt die Einschätzung der Nachkriegslyrik als spezifisch moderne Phase der Gattung. Eindeutig ist immerhin, dass in ihr sowohl die deutsche Tradition des Expressionismus als auch außerdeutsche Einflüsse aufgenommen und verarbeitet werden. Holthusen und Kemp tendieren dazu, die Nachkriegsmoderne als eine Schwundstufe der Moderne zu sehen, die motivisch und ästhetisch nur eine moderate Fortführung von Teilaspekten der großen Entwürfe der 20er Jahre liefert. Tradition und Kontinuität sind die beherrschenden Größen. Das Fortschreiben 211

212

Ergriffenes Dasein. Deutsche Lyrik des zwanzigsten Jahrhunderts, S. 406. Vgl. auch Wilfried Barner (Hrsg.), Geschichte der deutschen Literatur von 1945 bis zur Gegenwart, 2. Aufl. München 2006, S. 203f. Ergriffenes Dasein, S. 406.

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der Moderne unter den Bedingungen der Nachkriegszeit war für Holthusen und Kemp 1953 ganz offenbar als Problemzusammenhang noch nicht sichtbar genug, um in eine Anthologie aufgenommen zu werden. Als es dann in der zweiten Hälfte der 50er Jahre sichtbar wird, findet eine materielle Integration statt, freilich schließt die Anthologie an die Erklärungsmuster einer modernen Restauration an. 4.3

Programmatische Modernisierung zur Jahrhundertmitte: Walter Höllerers Transit

Erst Walter Höllerers Transit. Lyrikbuch der Jahrhundertmitte von 1956 markiert einen radikalen Neuansatz gegenüber bisherigen Anthologien. Waren diese durchweg darauf ausgerichtet, die Kontinuitäten der Nachkriegslyrik zu betonen, so beansprucht Transit nun dezidiert, eine Art Bestandsaufnahme dessen zu sein, was bis Mitte der 50er Jahre an neuen Impulsen in der deutschsprachigen Lyrik sichtbar ist. Für Höllerer bedeutet Modernisierung nicht nur den Anschluss an die Ästhetiken der ›reflektierten‹ Moderne aus der Zeit um 1930, sondern auch eine Reaktion auf die Bedingungen der Nachkriegszeit. Diesen Anspruch versuchte der Herausgeber Höllerer mit für eine Anthologie denkbar ungewöhnlichen Mitteln einzulösen. Er erfand für Transit eine ganz eigene Präsentationsform, deren Hauptzweck darin zu bestehen scheint, die Präsenz der lyrischen Moderne in der Lyrik der Nachkriegszeit nachweisen zu können. Die Provokation von Transit beginnt, wie Helmut Böttiger anmerkt, schon bei der »klare[n], sachliche[n] Typographie«.213 Zudem veränderte Höllerer, um die Präsentation der Texte grundlegend zu modifizieren, die Herausgeberfunktion. Auch in anderen Anthologien war sie nicht unbedingt beschränkt auf die eines objektiven Dokumentensammlers, aber Höllerer dehnt nun die Kompetenzen des in Vor- oder Nachworten kommentierenden Redakteurs auf die gesamte Textebene aus, indem er »die jeweils abgedruckten Gedichte mit eigenen lyrischen Kommentaren versah«.214 In diesen, »die Assoziationsfäden der Gedichte weiterspinnende[n] poetischessayistische[n] Prosatücke[n]«215 wird der Herausgeber im Verhältnis zu den ausgewählten Texten zu einer Instanz, die dem Autor zumindest auf der Ebene der performativen Darbietung nahe kommt. 213

214 215

Helmut Böttiger (Hrsg.), Lutz Dittrich (Mitarbeit), Elefantenrunden. Walter Höllerer und die Erfindung des Literaturbetriebs, Ausstellungsbuch, Berlin 2005 (Texte aus dem Literaturhaus Berlin, 15), S. 73. Ebd. Ebd.

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Wie sieht Höllerers Poetik der Anthologie im Einzelnen aus? Zunächst sind die Namen der Autoren der einzelnen Gedichte im fortlaufenden Text von Transit nicht genannt und nur über das Register erschließbar sowie in einer Art Personenverzeichnis unmittelbar nach dem Titelblatt alphabetisch aufgeführt.216 Auch diese Strategie erhöht die Sichtbarkeit des anordnenden Herausgebers. Weiterhin sind die einzelnen Gedichte nicht nach Autoren, sondern nach inhaltlich-motivischen Gesichtspunkten zusammengestellt. In der Regel taucht ein Autor an verschiedenen Stellen der Anthologie auf, je nach dem Kontext der Anordnungslogik. Diese wiederum funktioniert nach Kriterien assoziativer Metaphorik und stellt insofern einen Versuch der Leserlenkung dar, als die traditionelle Anthologienform durch eine Perspektive ersetzt werden soll, die in den Gedichten angelegte moderne Erfahrungsund Ausdruckswelten verdeutlicht. Die Gedichte sollen nicht mehr als repräsentativ für bestimmte Autoren oder ästhetische Richtungen rezipiert werden, sondern in Aspekten thematisch-ästhetischer Konstanten der modernen Lyrik. Dabei liegt es in der Absicht des Herausgebers, dass der Leser zunächst einmal nachvollzieht, warum ein bestimmter Text an einer bestimmten Stelle der Anthologie steht. Verantwortlich für die Anordnung sind thematisch-ästhetische Konstanten. Sie werden durch Kapitelüberschriften wiedergegeben, die Titel wie 씮 Modernes Märchen«, »Dunkel 씯 씮 innere Landschaft«, »Jahr»Augenblick 씯 씯 markt 씮 Die Strassen«, »Gesprungenes Glas 씯 씮 Offener Tod« und »Chi씮 Odyssee« tragen. Die Stichworte sind durch zwei gegenläufige mären 씯 Pfeilsymbole verbunden, was zusätzlich auf eine prozessuale Beziehung hindeutet, auf einen offenen Assoziationsgang zwischen zwei Polen, die nur Markierungspunkte für den ästhetischen Bezirk sind, in dem der jeweilige Text angesiedelt ist. Der Titel »Transit« wird somit auch zum Anordnungsprinzip. Die Zwischenstationen werden in den Teilüberschriften der Unterkapitel genannt. Der Weg vom ›Augenblick‹ zum ›Moderne[n] Märchen‹ führt beispielsweise über die ›Erinnerung‹, die ›Ränder des Schweigens‹ und ›Horizont, Konturen‹ (und umgekehrt wieder zurück). Nur der letzte der sechs Hauptabschnitte hat mit »Transit« einen in sich ›transitorischen‹ Titel und endet entsprechend mit der Unterüberschrift ›Fortgang‹.217 216

217

Vgl. ebd. sowie Walter Höllerer. Zu seinen Gedichten und seiner Lyrik-Anthologie »Transit«, Literaturarchiv Sulzbach-Rosenberg, Barbara Baumann-Eisenack (Hrsg.), Sulzbach-Rosenberg 2002, S. 16f. Transit. Lyrikbuch der Jahrhundertmitte, mit Randnotizen von Walter Höllerer (Hrsg.), Frankfurt am Main 1956, S. VII.

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All diese Präsentationstechniken erzeugen eine Rezeptionssituation, in der der Leser nicht nur den Text wahrnimmt, sondern immer auch die Stimme des Herausgebers. Dessen performative Funktion wird schließlich nochmals verstärkt durch seine Präsenz in den Randnotizen, mit denen er die Gedichte in den Kontext seiner im Vorwort erläuterten Ästhetik der modernen Lyrik einordnet. Die Glossen stellen Hinweise für mögliche Interpretationen dar, die zentrale Kennzeichen der modernen Lyrik aus Höllerers Perspektive hervorheben. Die in den Überschriften angedeuteten Konzepte – etwa ›Augenblicke‹ – werden hier anhand der einzelnen Texte exemplifiziert. Diese Präsentationsform könnte nicht funktionieren ohne ihre Fundierung im Vorwort der Anthologie. Denn »Transit steht für Bewegung, für einen Weg ins Offene, für ein Lebensgefühl der Moderne«.218 Höllerer erklärt die Überschriften als »Bewegkräfte[ ], die unsere Zeitlandschaft und die innere Landschaft unseres Selbst formen«.219 Er versteht darunter Größen, die die Differenz zwischen Lebenswirklichkeit und Text überbrücken und durchdringen. Dieser Gedanke einer durchaus als komplexer Reflexionsvorgang gedachten, unzweifelhaft aber bestehenden Beziehung zwischen einem kollektiven historischen Bewusstsein und seinen prismatischen Reflexen in der Lyrik ist für Höllerers Vorstellung von moderner Lyrik und damit für die Konzeption der Anthologie essentiell. Die Beziehung zwischen dem Autor und seinem historischen Umfeld erfährt nach Höllerers Überzeugung in der Lyrik nach 1945 eine besondere Zuspitzung. Die Nachkriegssituation produziere in ihrer Befreiung von historischen Lizenzen kreative Potenz. Sie könne Ausgangspunkt für ein neues Austarieren des verschobenen Verhältnisses von individuellem lyrischen Ausdruck und historisch kulturellem Erleben sein. Momente der Klarsicht inmitten der Städte und Landschaften ringsum, in den Jahren 1950 bis 1955, suchten Verbindung mit den Gestaltmomenten moderner Gedichtlandschaften als mit ihren Brüdern. Die Ahnung davon verstärkte sich, dass diese Gedichtlandschaften unser Selbst wiedergeben, wie es sich in solchen entblößten und versteckten Momenten aus der Uniformität dessen drängt, der sich Zeitgenosse nennt. Der Moment 1945, der dem Ich ein wahreres Gegenüber befreite, der Bestand und Nichtbestand erwies bei verbrannten Versicherungskarteien und Organisationslisten, stehen gebliebenen Fahrstühlen und entmythisierten Uniformstücken, musste weiterwirken als ein moment créateur. Die Wahrheit des lyrischen Moments will kein verschlafenes, unverwandeltes Zurück zulassen, keinen Ausverkauf an die Vergangenheit. Das Gedicht stößt sich dabei an entgegenstarrenden Vorgängen ringsum.220 218 219 220

Böttiger (Hrsg.), Elefantenrunden, S. 73. Transit, S. XIII. Ebd., S. X.

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Höllerer versucht in seinem programmatischen Vorwort eine Grundlegung der modernen Lyrik aus der Lebenswelt der Nachkriegsjahre zu konstruieren. ›1945‹ wird ›gelesen‹, und das nicht als Zeitpunkt der absoluten Zerstörung, sondern als notwendiger Ausgangspunkt eines neuen Zugangs zur Wahrheit lyrischer Augenblicke. Die Nachkriegszeit wird umgedeutet zur notwendigen Bedingung der modernen Lyrik. Die »Momente der Klarsicht« inmitten der Zerstörung sind auch die zersplitterten, fragmentierten Wahrnehmungen, die in den Gründungsdokumenten der modernen Sprachkrise zu Beginn des Jahrhunderts formuliert wurden221 und dabei auch »die Lage des Menschen im modernen wissenschaftlichen Zeitalter«222 bestimmen: »Das Ich weiß sich nicht mehr als der allein maßgebliche Mittelpunkt der auf ihn zukommenden Erfahrungen, wie in den Gedichten, die sich auf das Einzelerlebnis stützen […].«223 In seinen Gedanken zum transitorischen Charakter moderner Lyrik liefert Höllerer letztlich selbst einen in der Tradition von Hofmannsthals Chandos-Brief angesiedelten Essay, »in dem die Grenzen zwischen primärer und sekundärer Literatur gesprengt werden«.224 Höllerers Anthologie konstatiert ein literaturpolitisches Anliegen. Sie soll programmatisch demonstrieren, dass die deutsche Lyrik den Anschluss an die Tradition der lyrischen Moderne bereits in höchst authentischer Weise vollzogen hat, ja, dass sie vor dem Hintergrund der deutschen Nachkriegssituation, die für Höllerer eine nunmehr lebensweltlich fundierte Fortsetzung der sprach- und wahrnehmungskritischen Moderne-Erfahrung ist, genau besehen gar nicht umhin konnte, ihn zu vollziehen. Ob die in der Anthologie versammelten Gedichte der Forderung nach einer »seismographischen«225 Funktion freilich genügen und wirklich den Anschluss an die lyrische Moderne dokumentieren, bleibt dennoch fraglich. Vergleicht man die Autoren, die in Transit zu Wort kommen, mit denen aus Willi Fehses Deutsche Lyrik der Gegenwart, dann fallen immerhin die Differenzen sofort ins Auge. Autoren, die als ausschließlich traditionalistisch und vielleicht auch epigonal gesehen werden können – Andres, Bergengruen, Carossa, aber auch etwa Goes oder Hagelstange – finden in Transit keinen Platz mehr. Ganz anders verhält es sich mit einem Vertreter der ersten Generation der lyrischen Moderne wie Hofmannsthal, dessen sprachkritisch imprägnierte Lyrik die Stichworte für Höllerers Moderne-Verständnis lie221

222 223 224 225

Vgl. Helmuth Kiesel, Geschichte der literarischen Moderne. Sprache, Ästhetik, Dichtung im zwanzigsten Jahrhundert, München 2004, S. 177–231, bes. S. 188–198. Transit, S. XIV. Ebd. Böttiger (Hrsg.), Elefantenrunden, S. 73. Transit, S. XIV.

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fert; aber auch Repräsentanten der Avantgardebewegungen der ersten Jahrhunderthälfte wie Schwitters, Kandinsky oder Paul Klee sind vertreten. Dennoch sind trotz des Anliegens, die Brücke zur Moderne-Tradition der ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts zu schlagen, und einer gewissen Ausklammerung zu traditionalistischer Autoren weiterhin wichtige Repräsentanten der Übergangsepoche wie Lehmann oder Loerke präsent. Zumindest auf der Ebene der Autorenauswahl demonstriert auch Transit, dass eine deutschsprachige Lyrik ohne eine Transformation der restaurativen oder synthetischen Moderne schwer vorstellbar ist. So bleibt es in jedem Fall die Weise der Präsentation, die diese Anthologie ›modern‹ in Höllerers Sinn macht. Natürlich kann auch Höllerers Glossentechnik die ästhetischen Differenzen zwischen den einzelnen Texten nicht einebnen. Aber immerhin vermag die fortwährende Verknüpfung der ästhetischen Anliegen des Herausgebers mit den einzelnen Texten Ansatzpunkte für eine Auseinandersetzung mit modernen Poetiken herauszuarbeiten. Am ehesten lässt sich an der Kollektion eine literarhistorisch plausible Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, das Neben- und Ineinander traditioneller und gezielt avantgardistischer Tendenzen feststellen. Insofern ist Höllerers »Transit« gleich in doppelter Weise exemplarisch für das Verhältnis von Innovation und Tradition in der deutschen Lyrik um 1956 und liefert gegenüber den eindeutig kontinuitätsbetonten Vorgänger-Anthologien eine Akzentuierung, die auf Verschiebungen im poetologischen Selbstverständnis der Gattung hindeutet. Konzeptionen moderner Lyrik, die auf der langsamen Transformation bestehender Poetiken basieren, werden langsam abgelöst von programmatischen Forderungen nach einer Modernisierung unter gleichzeitiger Integration der Nachkriegssituation. Auch wenn die Texte diese Vorstellung nur zum Teil einlösen, gibt Walter Höllerer damit doch eine Richtung in der Nachkriegsmoderne vor, die gegen Ende der 50er Jahre immer deutlichere Konturen annimmt. 4.4

Konsolidierung der Moderne: Benders Widerspiel und Bingels Deutsche Lyrik

Anfang der 60er Jahre erscheinen gleich zwei Anthologien: 1961 publiziert Horst Bingel die Deutsche Lyrik, 1962 Hans Bender Widerspiel. Es wäre übertrieben, von einer Synthese zu sprechen. Aber im Vergleich zu den Anthologien der 50er Jahre ist unübersehbar, dass die beiden Bände die Gleichzeitigkeit der verschiedenen Strömungen zwischen Traditionalismus und Moderne-Rezeption deutlicher und differenzierter erfassen. Zum guten Teil ist das darin begründet, dass erst in der zweiten Hälfte der 50er Jahre tatsäch-

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lich verschiedene ›Moderne-Modalitäten‹ in der Lyrik sichtbar werden. Die Assimilation vor allem sprachkritischer Fermente der modernen Poetiken aus der Zeit um 1900 in der naturlyrischen Tradition wird angesichts der Versuche von Lyrikern der jüngeren Generation, mit eigenen Poetiken die Moderne fortzuschreiben, in den Hintergrund gedrängt. Auch wenn Ansätze dazu bereits 1953 oder 1954 erkennbar waren: Literarhistorisch sichtbar werden diese Tendenzen erst gegen Ende des Jahrzehnts. Frühere Anthologien waren bestimmt von deutlichen Perspektivierungen. Kontinuität und avantgardistische Moderne als Erklärungsansätze für die Entwicklungen der Lyrik vor und nach 1945 standen sich in einem zuweilen verbindungslosen Nebeneinander gegenüber. Exemplarisch kann man das im Vergleich von Ergriffenes Dasein und Transit erkennen. Erst langsam erfolgt die Wahrnehmung einer gewissen Interdependenz der beiden Größen, ja sogar Ansätze zu einer Integration. Ohne die Bedeutung von Kontinuität und Tradition zu leugnen, ist nun das Bewusstsein für die Probleme der modernen Lyrik und zugleich – ein Ergebnis der über ein Jahrzehnt anhaltenden Diskussion – das begriffliche und poetologische Instrumentarium für ihre Wahrnehmung deutlich geschärft. Am deutlichsten wird diese Tendenz zur Differenzierung in dem ausführlichen Nachwort Horst Bingels; aber auch schon in Benders Vorwort deuten sich drei wichtige Akzentverschiebungen an. So wird der Titel der Anthologie – Widerspiel – nicht nur im bekannten Sinn der Lyrik als einer indirekt-gebrochenen und selektiv-reflektierenden Reaktion auf geschichtliche Abläufe gedeutet, sondern ausdrücklich auch als Widerspruch gegen herrschende Ideologien und Mehrheitsmeinungen.226 Das deutet darauf hin, dass sich die Funktion und Rolle der Literatur im literarischen System der 50er Jahre langsam verändert hat. In der Zeit des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Aufschwungs verliert die Literatur, damit aber auch die Lyrik, ihre Rolle als literarische Variante der Konsolidierung nach der Katastrophe und steht immer mehr in Asymmetrie zu gesellschaftlichen Entwicklungen.227 Zweitens verändert sich bei Bender die Einschätzung der historischen Daten für lyrikgeschichtliche Entwicklungen. ›1933‹ und ›1945‹ seien »entscheidende Kerben«: »1933 bezeichnet einen radikalen, fast tödlichen Schnitt durch die organischen Stränge, die von Anfang des Jahrhunderts in die Zukunft wachsen wollen. Daß die Lyrik am empfindlichsten getroffen 226 227

Widerspiel. Deutsche Lyrik seit 1945, Hans Bender (Hrsg.), München 1962, S. 8f. Vgl. z. B. Ludwig Fischer, »Literarische Kultur im sozialen Gefüge«, in: Ders. (Hrsg.), Literatur in der Bundesrepublik Deutschland bis 1967, München, Wien 1986, S. 142–163, bes. S. 150–153.

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war, bewies ihre Verkümmerung.«228 In der Lyrik nach 1933 sieht Bender nur Epigonen, auch in Exil und Emigration sei vor allem eine Verkümmerung des expressionistischen Erbes festzustellen. Auch wenn die früheren Anthologien den Einfluss des politischen Umbruchs auf die Literatur nicht unterschätzten, betonten sie die über die Brüche fortbestehenden Kontinuitäten – gerade Groll mit seiner Anthologie des ›inneren‹ Widerstands zielte darauf ab. In gleicher Weise wird bei Bender die lyrikgeschichtliche Bedeutung des Datums 1945 aufgeladen – »das Jahr, in dem die Fessel weggenommen wurde«.229 »Alles, was heute an Lyrik vorliegt, verdankt seine Möglichkeit jener Befreiung«230 – auch wenn der Neubeginn »mehr ein besonnener als ein aktiver«231 gewesen sei. Die Kombination der moderaten Re-Modernisierung der deutschen Lyrik ab Anfang der 50er Jahre mit dem in erster Linie postulierten Neuanfang nach 1945 scheint erst mit wachsender zeitlicher Distanz zu funktionieren. Drittens konstatiert Bender für das Wiederanknüpfen an die Moderne in der Lyrik der Nachkriegszeit das Zusammenwirken einer nationalen und einer internationalen Tradition der Moderne. Nach der »Lyrik des Widerstandes«,232 die etwa in De Profundis gefunden werden konnte, zeigte sich das nach Bender vor allem an den Lyrikern der 20er Jahre und des Exils, die nach 1945 sehr langsam wieder zugänglich wurden; und schließlich in der Treue der »Lyriker der mittleren Generation«233 gegenüber ihren Vorbildern und Anregern – Lyrikern der Jahrhundertwende wie Hofmannsthal, George, Rilke, »aber auch Loerke«.234 Die Rezeption der internationalen Lyrik stehe unter dem Zeichen des Nachholens internationaler Strömungen. Nicht »nur die Zeitgenossen waren nachzuholen (Eliot, Eluard, Dylan Thomas), sondern auch um zwei oder drei Jahrzehnte zurückliegende Protagonisten der Weltlyrik (Apollinaire, Majakowski, Jessenin, Lorca).«235 Wie stark sich die Wahrnehmung der Lyrik in der zweiten Hälfte der 50er Jahre verschoben hat, wird dann anhand von Bingels Ausführungen im Nachwort zu Deutsche Lyrik sichtbar. Unter den hier vorgestellten Selbsterläuterungen handelt es sich dabei um einen entscheidenden Gradmesser für die zunehmende Differenzierung in der Sicht auf die deutsche Lyrik. 228 229 230 231 232 233 234 235

Widerspiel, S. 9. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd., S. 10. Ebd. Ebd.

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Eine wichtige Verschiebung ergibt sich in der Bewertung der gesellschaftlichen Funktion der Gattung. Gerade bei Groll und Holthusen/Kemp stand eine teilweise noch religiös konnotierte Vorstellung des Dichters als einer mit besonderem Wahrnehmungsvermögen ausgezeichneten kulturellen Mittlergestalt im Vordergrund. Gedichte waren dementsprechend Gebilde, in denen mentalitätsgeschichtliche Krisenerfahrungen der Gegenwart reflektiert wurden. Zweifel an dieser ›seismographischen‹236 Funktion von Gedichten gibt es auch in der eigenwilligen, ästhetisch motivierten Präsentationspolitik von Transit nicht. Dichtung ist bis dahin ein zentraler Aspekt kultureller Erfahrung. Ganz anders nun bei Bingel. Er stellt in den Mittelpunkt seiner Ausführungen die Begründung der »Unverständlichkeit« der heutigen Dichtung, der »Diskrepanz zwischen Autor und Publikum«.237 Diese mache sich besonders in der Entwicklung der Lyrik nach 1945 bemerkbar. Dem kurzen Abschnitt »eines vielfältigen geistigen Lebens nach der Währungsreform«238 sei eine Phase gefolgt, in der »die noch einmal Davongekommenen vor allem vergessen wollten«.239 Angesichts dieser kollektiven Verdrängung stelle sich die Frage, warum »der allgemeine Protest der Schriftsteller« ausblieb, warum »so vieles an der zeitgenössischen Lyrik statt dessen so unverständlich«240 wurde. Diese Neubewertung der »Wechselbeziehungen zwischen dem Lyriker und der Gesellschaft«241 nach 1945 ist der erste Punkt, an dem Bingels in Ansätzen literatursoziologische Diagnosen die bisherigen Anthologien entschieden erweitern. Grundsätzlich ist Bingel überzeugt, dass in der Gesellschaft der 50er Jahre eine Auseinandersetzung mit der Vergangenheit nicht stattfand und somit auf Seiten der Lyriker eine Abschottung erzeugt wurde. Dabei verweist er auf Höllerer und Enzensberger als Ausnahmen, was einmal mehr demonstriert, wie sehr die Veröffentlichungen der jüngeren Generation gegen Ende der 50er Jahre die Perspektiven verschoben haben. Was daher die Dichter in einen Gegensatz zur Umwelt bringt, ist die Tatsache, daß nach 1945 wohl nach außen hin alles wieder aufgebaut und neu errichtet wurde, daß der notwendige Reinigungsprozeß im Geistigen jedoch weitgehend ausblieb.242

236 237 238 239 240 241 242

Vgl. Transit, S. XIV. Deutsche Lyrik. Gedichte seit 1945, Horst Bingel (Hrsg.), Stuttgart 1961, S. 267. Ebd., S. 270. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd., S. 273.

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Vor allem in diesem Zusammenhang wird die Akademisierung der Moderne-Diskussion in der zweiten Hälfte der 50er Jahre sichtbar. Der Rezeptionshorizont für moderne Lyrik hat sich verschoben und versachlicht. Bingel versucht eine historische Herleitung der Differenz zwischen Dichter und Gesellschaft. Zunächst erläutert er historische Parallelen: Die romantische Antithese von Künstler und Gesellschaft sei auch in der Gegenwart noch gültig, überdies habe es – so bei den italienischen Manieristen – immer wieder Zeiten der Entfremdung zwischen Künstler und Publikum gegeben. In kulturellen Umbruchsituationen sei der Künstler regelrecht zum Experiment gezwungen, »weil jede Kunst unglaubwürdig erscheint, wenn sie auf die althergebrachte Weise fortgeführt wird, während die Fundamente des Weltbildes fragwürdig werden«.243 Der Vergleich mit dem Manierismus als einer Stilepoche, die sich zur Moderne analog verhält, ist ein Topos in den Moderne-Diskussionen der späten 50er Jahre. Er zeigt, wie diese sich im Vergleich zur geistesgeschichtlichen Krisensymptomatik, wie man sie noch bei Holthusen findet, versachlicht hat. Akademische Diskurse – hier die stilgeschichtlich motivierte, von Gustav René Hocke244 und später von Arnold Hauser245 vertretene Manierismus-These – sind mittlerweile von der literarischen Diskussion absorbiert worden. Noch viel mehr trifft das auf Hugo Friedrichs Buch zur modernen Lyrik zu. Die Struktur der modernen Lyrik erschien erstmals 1956. Für die deutsche Diskussion war der Ansatz, die Moderne literarhistorisch und typologisch aus der französischen Tradition zu erklären, zwar schon in Benns Äußerungen, besonders in Probleme der Lyrik vorgeprägt; aber Hugo Friedrichs Buch fundierte diese Thesen akademisch und verhalf ihnen auch vergleichsweise schnell zu einer hohen Verbreitung. Bingels Verweis auf die zunehmende Distanzierung der Dichter von »den Kirchen und der Tradition«,246 sein Hinweis auf Mallarmés Verbindung zur Tradition über den Alexandriner und »Rimbauds Flucht in die monologische Dichtung«, in der »erstmals die isolierte Stellung des modernen Dichters deutlich«247 werde: All das sind Signale einer von Friedrich nachhaltig geprägten Perspektive auf die moderne Lyrik. Im Vergleich zu früheren Erklärungsansätzen, die noch viel 243 244

245

246 247

Ebd., S. 271. Gustav René Hocke, Manierismus in der Literatur. Sprach-Alchimie und esoterische Kombinationskunst. Reinbek bei Hamburg 1959; sowie Ders., Die Welt als Labyrinth. Manier und Manie in der europäischen Kunst, Reinbek bei Hamburg 1957. Arnold Hauser, Der Ursprung der modernen Kunst und Literatur. Die Entwicklung des Manierismus seit der Krise der Renaissance, München 1973 [11964]. Deutsche Lyrik, Horst Bingel (Hrsg.), S. 277. Ebd.

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stärker am Manifest- und Programmcharakter der von den Autoren verwendeten Begriffe orientiert waren, ist das zunächst als Schritt zur Verwissenschaftlichung der Debatte zu werten. Dass in Friedrichs Kategorien, wie oben gezeigt, nach wie vor die Krisensemantik des ersten Nachkriegsjahrzehnts mitschwingt, tut ihrer im engeren Sinn wissenschafts- und im weiteren Horizont diskursgeschichtlichen Funktion keinen Abbruch. In der Tat ist Bingels Anthologie ein Beleg dafür, dass das Feld der weltanschaulichen Spekulation über moderne Lyrik Anfang der 60er Jahre einer Tendenz zur Deskription weicht. Die letzten (wenn auch verspäteten) zeitgenössisch geprägten Wahrnehmungen von Modernität – die modernistisches Schreiben in einer letztlich mimetischen Denkfigur als Reaktion auf eine krisengeschüttelte Gegenwart begreifen – weichen der Perspektive der ersten Nachfolgegeneration. Diese versucht, die zeitgenössisch verzerrten Begriffe zu objektivieren und literarhistorische Prozesse zu erkennen. Das gilt auch für die Beschreibung der literarhistorischen Dynamiken im Umfeld von 1933 und 1945. Die Tendenz zum Experiment ist für Bingel notwendiges Charakteristikum der Lyrik nach 1945. Das Experiment war allein schon wegen der Neuorientierung und des Anschlusses an die Literatur vor 1933 erforderlich, weil während der Periode des Dritten Reichs die literarische Entwicklung wie auch die kulturellen Kontakte zu anderen Ländern unterbrochen waren.248

Parallel verweist Bingel auf zwei verschiedene, wenn auch einander überschneidende Traditionen der Moderne-Rezeption. Einmal müssen deutsche Autoren die Rezeption der »zeitgenössischen Weltliteratur«249 nachholen und damit eine für zwölf Jahre unterbrochene Entwicklung wieder aufnehmen. Zum anderen überkreuzt sich damit oftmals die Wiederbelebung einer deutschen Moderne-Tradition, was beispielsweise dazu führt, dass »man […] Elemente des Expressionismus sozusagen als Surrealismus wieder importierte«.250 Diese Ansätze distanzierter Deskription, Differenzierung und Verwissenschaftlichung der Lyrikbetrachtung bei Bingel werden erweitert durch einen ersten Versuch der Form- und Motivanalyse moderner deutscher Nachkriegslyrik. Wiederum ist der Einfluss Hugo Friedrichs spürbar. Ausgehend von Mallarmé konstatiert Bingel, dass »das Verschweigen, die Reduktion der Worte, das Aussparen gerade des Wichtigsten, die vorausgesetzte Mitarbeit

248 249 250

Ebd., S. 275. Ebd. Ebd.

Fallbeispiele: Lyrikanthologien nach 1945

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des Lesers […] noch heute einige der Hauptkennzeichen der Lyrik«251 seien. Im Anschluss an Walter Jens252 – eine weitere Popularisierungsinstanz für die Rezeption der Moderne im nachkriegsdeutschen Literaturleben – verweist Bingel auf das »Bestreben, private Impressionen zu objektivieren«.253 Weitere zentrale Kennzeichen wären die Deprivilegierung des Menschen – er sei Objekt unter Tieren und anderen Dingen254 – in der modernen Wirklichkeit, sowie die Einführung des Absurden, Grotesken und Paradoxen, die vor allem an Günter Grass’ Lyrik exemplifiziert wird. Bingels kleiner Katalog mag ein erster Versuch sein – vor allem aber ist er ein Signal in Richtung einer veränderten Rezeptionshaltung, die der Spezifik moderner Nachkriegslyrik gerecht zu werden versucht. Ein Indiz für das Bewusstsein einer grundsätzlichen Verschiebung der ästhetischen Parameter ist es in diesem Zusammenhang auch, wenn Bingel Max Picards Kritik an der Schulvermittlung einer klassisch-romantischen Dichtungsvorstellung aufgreift, in der alles auf ›Unmittelbarkeit‹ und ›Gefühl‹ abgestimmt sei.255 Stattdessen müsse auch eine Rezeptionsfähigkeit für diejenigen Phänomene erzeugt und vorbereitet werden, die eben nicht mit dem Gefühl wahrgenommen werden könnten. Diesem Befund entspricht die Auswahl der Autoren, die nun praktisch das gesamte Personal der Nachkriegslyrik umfassen. Allein die ansonsten weniger aussagekräftigen numerischen Verhältnisse unterstreichen die deutliche Neuausrichtung des Lyrikverständnisses, die in Bingels Anthologie stattfindet. Eine deutliche Mehrheit der (einschließlich des Herausgebers) 102 Autorinnen und Autoren ist in den 1920er und 1930er Jahren geboren, nämlich insgesamt 72; von diesen sind wiederum 56 zwischen 1920 und 1929 und 16 nach 1930 geboren. Und auch die 24 zwischen 1910 und 1919 geborenen Autoren gehören 1963 noch zur jüngeren Generation. Die Namen der nur vier zwischen 1900 und 1909 geborenen Autoren – Eich, Huchel, Kaschnitz und Weyrauch – verdeutlichen signifikant, dass die transformatorische Nachkriegsmoderne seit etwa 1960 abgelöst wird von der nachfolgenden Generation. Nelly Sachs als einzige vor 1900 geborene Autorin wiederum zeigt vor allem die Schwierigkeit im Umgang mit einer zentralen Exponentin der jüdisch-deutschen Exilliteratur. Bingel unterzieht in Deutsche Lyrik fast sämtliche Gemeinplätze der Lyrikrezeption der 50er Jahre einer Revision. Ohne grundsätzliche Feststellungen 251 252

253 254 255

Ebd., S. 278. Vgl. v. a. Walter Jens, Deutsche Literatur der Gegenwart. Themen, Stile, Tendenzen, München 1961. Deutsche Lyrik, Horst Bingel (Hrsg.), S. 278. Ebd. Ebd., S. 275.

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anzuzweifeln, differenziert er bisherige Ansätze aus und befreit sie von dem weltanschaulichen Begründungsgeflecht, das bislang das Sprechen über Lyrik dominierte. Auf der Grundlage erster wissenschaftlicher Analysen ist er bemüht, die Nachkriegslyrik in ihrer historischen und strukturellen Spezifik darzustellen; zudem reflektiert er nicht nur die Auswirkungen der Situation nach 1945, sondern auch die kulturellen und gesellschaftlichen Entwicklungen der 50er Jahre als notwendigen Hintergrund. Bingels Anthologie ist einer der Punkte, die das Ende der ästhetischen Debatten um das Einholen der Moderne und zugleich den Anfang der Historisierung dieser Debatten anzeigen. 4.5

Der lange Weg zur Nachkriegsmoderne

Inwieweit kann man Verlauf und Charakteristika der Diskussion um die Qualitäten der Moderne, die mit dem Ziel einer Neuvermessung, Reaktivierung und Fortsetzung der modernen Lyrik geführt wird, aus Anthologien und den ihnen zugrunde liegenden Auswahlkriterien ablesen? Wie aussagekräftig sind Anthologien als Gradmesser für lyrikgeschichtliche Entwicklungen und für die jeweiligen zeitgenössischen Einschätzungen dieser Entwicklungen? Erst Anfang der 60er Jahre beginnt in den Anthologien eine Tendenz zur distanzierten Betrachtung der Nachkriegslyrik hervorzutreten. Die Sammlungen der 50er Jahre waren beherrscht von Ansätzen, in denen die zeitgeschichtliche Reaktionsqualität der Lyrik betont wurde; vorherrschend ist eine Tendenz zur Relationierung zwischen Geschichte und ihrer ästhetischen Verarbeitung. Das trifft sowohl auf eher traditionalistisch orientierte Autoren und Herausgeber zu als auch auf diejenigen, die avantgardistische Programme favorisieren. Erst Anfang der 60er Jahre werden die verschiedenen Ansätze dann verbunden und zugleich relativiert, wobei Ergebnisse der in den 50er Jahren geführten Diskussionen über moderne Lyrik in die neu gewonnenen begrifflichen Differenzierungen integriert werden können. Die Anthologien von Bingel und Bender synthetisieren den Stand der Diskussion um moderne Lyrik; sie bieten das Resümee des langen Wegs zur lyrischen Nachkriegsmoderne, der in den 50er Jahren in der literarischen Praxis nicht weniger als bei Kritik, literaturkritischer Publizistik und in den akademisch organisierten Segmenten des literarischen Lebens stattfindet. All das führt zu einigen Ergebnissen, die den Stand der sachlichen und begrifflichen Diskussion um 1960 erkennen lassen. So ist man sich einig, dass zwei Stränge der Moderne bestehen – ein nationaler und ein internationaler –, die sich überkreuzen und für die Wiederbelebung ihrer Tradition etwa

Fallbeispiele: Lyrikanthologien nach 1945

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von gleicher Wichtigkeit sind. Gleichfalls herrscht Einigkeit über die Kontinuitäten nationaler Lyriktraditionen; sie bestehen im Anknüpfen an den Expressionismus und an seine in den 20er Jahren entstehenden Nachfolgebewegungen, wie sie von Benn, Brecht und von den Naturlyrikern repräsentiert werden. Die Rezeption der internationalen Moderne ist demgegenüber noch weniger sichtbar. Erst in der zweiten Hälfte der 50er Jahre entwickeln sich hier die begrifflichen Instrumente einer Differenzierung, die es erlauben, literarhistorische Tendenzen ebenso wie formanalytische Beobachtungen zu formulieren.

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III. Koordinaten

Wie sahen die Annäherungen an Poetiken der klassischen Moderne unter den Bedingungen der Nachkriegssituation aus? Die Fortschreibung der Moderne nach 1945 trifft gerade im Fall der Lyrik auf höchst ambivalente Gattungstraditionen. Dieter Lamping geht bei seiner lyrikgeschichtlichen Phasenbildung davon aus, dass die zweite Phase der modernen deutschen Lyrik, die zu Beginn der 20er Jahre einsetzt, von drei »Gegenbewegungen gegen die moderne deutsche Lyrik der ersten Phase« geprägt ist, die allesamt »selbst immer noch modern« sind:1 Benns formaler Traditionalismus als ein Mittel der anti-realistischen Montage; Brechts sozialer Realismus sowohl durch die wenigstens zeitweise Bevorzugung freier Verse wie durch die – spätere – Einbeziehung vor allem metaphorischer Verfahren der Verfremdung; der Naturrealismus Loerkes und Lehmanns durch Verfahren magischer Verfremdung.2 Für die dritte Phase der modernen deutschsprachigen Lyrik, die nach Lamping Anfang der 50er Jahre einsetzt, ist die Charakterisierung der von Benn, Brecht sowie von der naturlyrischen Schule repräsentierten Spielarten der Moderne als »Gegenbewegungen gegen die Moderne innerhalb der Moderne«3 von zentraler Bedeutung. Denn nach »dem Zwischenspiel der politisch engagierten ›Trümmerlyrik‹«4 werden die Möglichkeiten und Spielarten der Nachkriegsmoderne nicht ausschließlich, aber wesentlich zwischen den drei Paradigmen der Gegenmoderne der 20er und 30er Jahre ausgehandelt und entwickelt. Dass dabei zunächst vorwiegend die Ausläufer der naturlyrischen Poetiken im Vordergrund stehen, ist vor allem darin begründet, dass diese durch den Nationalsozialismus im Verhältnis am wenigsten in ihrer Entwicklung gehindert worden und so auch unmittelbar nach 1945 rezipierbar waren. Die Naturlyriker gelangten überhaupt erst nach 1945 »zu allgemeiner Anerkennung«;5 der Durchbruch Gottfried Benns »zum tonangebenden Lyriker der 50er Jahre«6 wurde durch dessen frühes und kurzes

1

2 3 4 5 6

Dieter Lamping, Das lyrische Gedicht. Definitionen zu Theorie und Geschichte der Gattung, 3. Aufl. Göttingen 2000, S. 141. Ebd. Ebd. Ebd., S. 231. Ebd., S. 230. Ebd.

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emphatisches Engagement für den Nationalsozialismus kurzzeitig verzögert; und nur die »Rezeption des Exilanten Brecht« ist tatsächlich verzögert: Sie »setzt im Westen erst gegen Ende der 50er Jahre ein, dann aber mit Vehemenz«;7 in der sich herausbildenden DDR-Literaturlandschaft ist Brecht zwar präsent, aber auch hier beginnt sein poetisches Werk erst gegen Ende der 50er Jahre mit dem »Aufbruch der jungen Lyriker« wie Sarah Kirsch, Volker Braun oder Wolf Biermann Wirkung zu entfalten.8 Im Folgenden geht es also darum, diese drei Paradigmen einer modernen Lyrik, die um 1950 im deutschen literarischen Leben präsent waren, in ihren poetologischen Markierungen zu charakterisieren. Das bedeutet in Bezug auf die Tradition der Naturlyrik, dass in erster Linie die Affinität dieser um 1930 entstandenen Poetiken zur literarischen Moderne herausgearbeitet werden muss. Sie ist nach 1945 dafür verantwortlich, dass naturlyrisches Schreiben zu einer Projektionsfläche für Modernisierungsansätze werden kann. Der Blick auf den einzigen aus der unmittelbaren Nachkriegssituation hervorgegangenen Ansatz einer Erneuerung des lyrischen Sprechens, die ›Trümmerlyrik‹, ist eher dazu geeignet, die Persistenz der bereits existierenden Modelle zu unterstreichen. Deshalb werden auch Benn und Brecht hier im Anschluss an James Rollestons nach wie vor wichtigen Aufsatz9 vorderhand in ihrer Funktion als maßgebliche Kristallisationspunkte der Diskussionen und Debatten um die Aufarbeitung von Moderne-Diskursen unter den Bedingungen der Nachkriegszeit betrachtet – als wirkmächtige Modelle, die das Selbstverständnis und die Diskussionen der Autoren bestimmen, die nach 1945 auf der Suche nach Möglichkeiten einer Lyrik nach dem Krieg sind.10

7 8

9

10

Ebd. Vgl. Wilfried Barner (Hrsg.), Geschichte der deutschen Literatur von 1945 bis zur Gegenwart, München 2006, S. 542. James Rolleston, »Der Drang nach Synthese: Benn, Brecht und die Poetik der fünfziger Jahre«, in: Klaus Weissenberger (Hrsg.), Die deutsche Lyrik 1945–1975. Zwischen Botschaft und Spiel, Düsseldorf 1981, S. 78–94. Die Aufarbeitung der poetologischen Charakteristika der späten Lyrik Benns und Brechts würde den konzeptionellen Rahmen dieser Arbeit sprengen; ihr Fokus liegt auf den Transformationen der nach Benn und Brecht einsetzenden Autorenpoetiken. Zum Doppelparadigma Benn-Brecht vgl.: Simon Karcher, Sachlichkeit und elegischer Ton. Die späte Lyrik von Gottfried Benn und Bertolt Brecht – ein Vergleich, Würzburg 2006.

Naturlyrik und Moderne

1.

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Naturlyrik und Moderne

Die Wahrnehmung der Naturlyrik nach 1945 ist ambivalent. In den Diskussionen ab und nach 1945 stand sie meist für eine Kontinuität der Antimoderne. Zugleich gehen seit den späten 40er bis weit in die 50er Jahre hinein wesentliche Impulse von denjenigen Lyrikern aus, die aus der Tradition der naturlyrischen Schule stammen – vor allem von Günter Eich, Peter Huchel und Karl Krolow. Wie kann man diese Ambivalenz erklären? In gewisser Weise liegt sie bereits in der Entstehung der Naturlyrik begründet. Sie enthält revisionistisch-antimoderne Elemente ebenso wie Ansätze eines gedämpften Avantgardismus. In den Nachkriegsjahren identifizierte man sie oft vereinfachend mit der klassisch-romantischen Lyriktradition. Ihre Poetiken um Lehmann und Loerke und im Umkreis der Zeitschrift Kolonne waren in ihren Ursprüngen in den frühen 30er Jahren aber reflektierte Reaktionen auf die avantgardistische Moderne, besonders auf den Expressionismus der 20er Jahre. Es wäre ein Missverständnis, die Rückführung auf traditionalistische Formen und Sprechweisen grundsätzlich als ein Aussparen moderner Elemente zu verstehen. Vielmehr handelte es sich um eine Strategie, die sich der zentralen Krisendiagnostik der Moderne durchaus bewusst war. Die Autoren der Kolonne verbinden neusachliche Ansätze aus den 20er Jahren mit modernistischen Tendenzen.11 »Die Konzentration auf das konkrete Naturphänomen wahrt dabei ein Moment jener Sachlichkeitspostulate, die sich Mitte der zwanziger Jahre in erster Linie auf Technik und soziale Umwelt bezogen haben.«12 Insofern stellen die Gedichte der naturmagischen Schule Ansätze dar, die Entfremdungsszenarien moderner Erfahrungswelten nicht zu negieren, aber in einer Diktion zu reflektieren, »welche gerade im Zusammenhang mit der Natur lyrisch-sprachliches Neuland erschließt«.13 Hans-Peter Bayerdörfer argumentiert, dass es falsch wäre, bei den Autoren der Kolonne von »einer einfachen naturmagischen Beschwörung« auszugehen.14 Demgegenüber seien in der Regel »Natur und Geschichte viel stärker vermittelt, als es auf den ersten Blick schei-

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13 14

Eine ausführliche Diskussion der Poetik der Kolonne-Autoren findet sich bei Stephen Parker/Peter Davies/Matthew Philpotts, The Modern Restoration. Re-thinking German Literary History 1930–1960, Berlin, New York 2004, S. 24–40. Hans-Peter Bayerdörfer, »Weimarer Republik«, in: Walter Hinderer (Hrsg.), Geschichte der deutschen Lyrik. Vom Mittelalter bis zur Gegenwart, 2., erw. Aufl. Würzburg 2001, S. 439–476, hier S. 468. Ebd., S. 468. Ebd., S. 467.

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nen mag«.15 Eine Reihe von Faktoren belegen, dass die Naturlyrik sehr wohl als eine Spielart der modernen Lyrik gesehen werden muss: Die Konzentration auf das konkrete Naturphänomen wahrt dabei ein Moment jener Sachlichkeitspostulate, die sich Mitte der zwanziger Jahre in erster Linie auf Technik und soziale Umwelt bezogen haben. Die Folge ist aber auch jetzt der Versuch, grammatisch-sprachlich die Dominanz der Subjektivität des Ich auszuschließen und zu einer Diktion zu gelangen, welche gerade im Zusammenhang mit der Natur lyrisch-sprachliches Neuland erschließt. Von daher verbietet sich […] jeder Rückfall in Muster der Erlebnislyrik und ihrer emotionalen Äußerungsformen […]. Auch im Ideologischen wahren die Autoren der Kolonne eine Distanz zu zeitgemäßen Regressionserscheinungen.16

Aus dieser Perspektive gesehen ist die Naturlyrik ihrerseits entschieden Teil der Moderne, und die These der ›modernen Restauration‹ weist in eben diese Richtung.17 Mit Mitteln, die deutlich weniger radikal als die der Avantgardisten sind, sucht sie Antworten auf identische Diagnosen moderner Daseinszustände zu geben. Hier hat man es also mit einem Fall der Integration einer im Gestus antimodernistischen Gegenbewegung in den Rahmen der modernen Lyrik zu tun.18 Retrospektiv könnte man die Naturlyrik also zunächst als eine konservative Spielart der Moderne charakterisieren. Freilich bemerkt auch Bayerdörfer, dass selbst in den frühen Poetiken der Naturlyriker »das Vertrauen auf die nach wie vor unbefleckt zu empfangende Natur doch bisweilen anachronistisch an[mutet]« und auch »die Gefahr der nostalgischen Rückwendung nicht immer gebannt« sei.19 Die Ambivalenz zwischen ›moderater‹ (oder auch entschärfter) Moderne und einer antimodernen Reaktionsästhetik ist also bereits im Programm der Naturlyrik angelegt. Diese Spannung kommt dann nach 1945 zum Ausdruck. Gerade in der Rezeption der Naturlyrik überwiegt seit Mitte der 50er Jahre die Tendenz, sie als modifizierte Spielart klassisch-romantischer Subjektivität abzuqualifizieren. Wohl in Folge solcher Setzungen galt die Dominanz der Naturlyrik lange Zeit ausschließlich als Symptom für die restaurativen Tendenzen im kulturellen Klima der späten 40er und der 50er Jahre. In poetologischen Äußerungen der Autoren überwog die Tendenz, sie ausschließlich aus avantgardistischer Perspektive zu beurteilen – als traditionalistisch, konservativ und antimodern. 15 16 17 18

19

Ebd. Ebd., S. 468. Vgl. Parker/Davies/Philpotts, The Modern Restoration. Vgl. Axel Vieregg, »›Mein Raum und meine Zeit‹: Antimodernismus und Idylle beim frühen Günter Eich«, in: Ders. (Hrsg.), »Unsere Sünden sind Maulwürfe«. Die Günter-Eich-Debatte, Amsterdam, Atlanta, GA 1996, S. 3–27. Hans-Peter Bayerdörfer, »Weimarer Republik«, S. 468.

Naturlyrik und Moderne

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Zunächst polemisiert Benn in Probleme der Lyrik gegen die zurückgebliebene und auf das Niveau einer kollektiv akzeptierten Unterhaltungslyrik reduzierte Ästhetik des Naturgedichts, wie man sie in der Zeitung »am Sonntag morgen […] und manchmal sogar auch mitten in der Woche […] meistens rechts oben oder links unten« finde, hervorgehoben »durch gesperrten Druck oder besondere Umrahmung«.20 Vermutlich war auch Benn bewusst, dass man die neueren Naturlyriker wie Lehmann oder Loerke nicht vollständig auf sein parodistisches Zerrbild – »da ist eine Heidelandschaft oder ein Sonnenuntergang, und da steht ein junger Mann oder ein Fräulein, hat eine melancholische Stimmung, und nun entsteht ein Gedicht«21 – reduzieren konnte. Denn was er kritisiert, ist aus heutiger Sicher weniger die Naturlyrik als eine Gattungsvorstellung, bei der die Selbstaussprache des Subjekts im Mittelpunkt steht. Diese bestimmt trotz diverser Moderne-Schübe um 1945 das Lyrikverständnis vieler Leser, Autoren, Kritiker und Literaturwissenschaftler. Benn blendet in seiner Polemik ein Problem aus: Wenn das Subjektivitätsparadigma bei vielen der naturlyrisch orientierten Autoren am deutlichsten zu beobachten ist, kann das noch lange kein Beleg für ihre grundsätzlich traditionalistische Ausrichtung sein. Wenn auch mit einer Verspätung von zwei, drei Jahrzehnten vorgetragen, dient Benns polemische Ablehnung traditioneller Lyrikkonzepte zunächst der schärferen Konturierung der eigenen Position. Eine differenzierte Einschätzung der grundsätzlich verachteten »deutschen Bewisperer von Gräsern und Nüssen und Fliegen«22 ist von ihm ohnehin nicht zu erwarten. Moderne Lyriker sind in Probleme der Lyrik ganz ausschließlich Autoren wie Valéry, Eliot, Pound,23 und die deutsche Ahnenreihe der Moderne endet nach dem Expressionismus, obwohl Benn um 1950 Versuche beobachtet, »eine Art Neutönerei in der Lyrik durchzusetzen«.24 Auch seine vierstufige Symptomatologie des nicht-modernen Gedichts ist unmissverständlich gegen die bekannten Widersacher gerichtet – vor allem die Ablehnung der »unbelebte[n] Natur, die angedichtet wird«,25 als einer ›veralteten Methode‹ zeigt, dass er die auch in der Naturlyrik angelegten Spielräume für poetische Erneuerung entweder 20

21 22

23 24 25

Gottfried Benn, »Probleme der Lyrik«, in: Ders., Essays und Reden. In der Fassung der Erstdrucke, Frankfurt am Main 1997, S. 505–535, hier S. 505. Ebd. Gottfried Benn, »Vorbemerkung zu Frühe Lyrik und Dramen (1952)«, in: Ders., Szenen und Schriften. In der Fassung der Erstdrucke, Frankfurt am Main 1990, S. 283–285, hier S. 285. Vgl. Benn, »Probleme der Lyrik«, S. 506ff. Ebd., S. 509. Ebd., S. 512.

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gar nicht sah oder, als Sachwalter der lyrischen Moderne, grundsätzlich polemisch übersehen zu müssen glaubte. Ein anderes Beispiel für diese konservativ-restaurative Wahrnehmung der Naturlyrik ist Peter Rühmkorfs Diagnose in Das lyrische Weltbild der Nachkriegsdeutschen. Hier wird Naturlyrik als realitätsfern gekennzeichnet; ihre Popularität führe geradezu zu einer Verdrängung der Nachkriegsrealität. »[D]ie ersten Nachkriegspublikationen [hatten] mit Umbruch und Erschütterung, mit Wandlung oder Neubeginn nicht das mindeste zu tun […].«26 Nach den wenigen Ansätzen einer »authentischen Lyrik«,27 so Rühmkorf, [i]n den Jahren zwischen 1948 und 1950[,] begann die Naturlyrik dann ins Weite und Breite zu wuchern. Anhaltend auf der Flucht vor tragischen Bedrängungen und rück- und rückgetrieben an den Hang, den Knick, zum Rasenstück, zum Beet und Blumentopf, geriet die Lyrik immer aussichtsloser ins Bescheidene und Beschnittene. […] Weil jener Exodus aus der Zeit, weil diese Flucht vor widerwärtig Gegenwärtigem die lyrischen Naturisten allgemach in die ästhetische Provinz führte, wo sie sich am Ende alle die gleichen bunten Blumen an den Hut steckten.28

Rühmkorfs Interpretation der Naturlyrik ist polemisch zugespitzt, aber auch wenn man sie literarhistorisch objektiviert, entspricht sein Bild eines thematisch gegenwartsfernen und formal rückwärtsgewandten traditionellen Schreibens dem Tenor der Rezeption. In Literaturgeschichten ist die Rede vom »Votum für die Grundmächte«29 und man verweist auf das weltanschauliche Motiv, das die Traditionalisten treibe: »[…] gegen den Verlust der Mitte wird eine ›kosmische Ordnung‹ beschworen […].«30 Rühmkorf resümiert: »Als im Jahre 1953 die von Holthusen und Friedhelm Kemp herausgegebene Anthologie Ergriffenes Dasein herauskam, war letztlich kein Zweifel mehr, daß die poetische Moderne ins Treibhaus verbannt worden war.«31 Rühmkorfs Zuspitzung ist repräsentativ für die zeitgenössische Diskussion. Einige Jahre später beschreibt Karl Krolow in seinen Poetik-Vorlesungen es als »[d]as größte Problem […] für das Gedicht der Nachkriegszeit in Deutschland, wie es sich aus der Isolation, aus der Kenntnislosigkeit und

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27 28 29 30 31

Peter Rühmkorf, »Das lyrische Weltbild der Nachkriegsdeutschen (1962)«, in: Ders., Schachtelhalme. Schriften zur Poetik und Literatur. Werke 3, Hartmut Steinecke (Hrsg.), Reinbek bei Hamburg 2001, S. 7–42, hier S. 7. Ebd., S. 10. Ebd., S. 13. Barner (Hrsg.), Geschichte der deutschen Literatur von 1945 bis zur Gegenwart, S. 199. Ebd., S. 200. Rühmkorf, »Das lyrische Weltbild der Nachkriegsdeutschen«, S. 14.

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Zusammenhanglosigkeit gegenüber dem Ausland zu befreien habe«.32 Allerdings führt die starke Betonung der traditionalistischen Seite der Naturlyrik dazu, dass ihre andere Seite in den Hintergrund gedrängt wird. Denn die »gemäßigte Moderne«, in der Natur und Mythos von Anfang an eher Chiffre für die Diagnose von Verlustzuständen als Medien der Restauration waren, macht in den Nachkriegsjahren eine langsame Evolution durch, in der sie ihrerseits die Diagnostik der Moderne aufgreift und weiterentwickelt. Diese Fortschreibung der naturlyrischen Tradition bewegt sich im Lauf der 50er Jahre thematisch immer mehr in Richtung einer weltanschaulichen Moderne; die Adaptation bestimmter sprachlicher und metrischer Mittel findet demgegenüber verzögert statt. In der Entwicklung der Lyrik Günter Eichs findet man vor allem eine Aufnahme des Moderne-Diskurses; bei Karl Krolow verschiedene Varianten der Überkreuzung naturlyrischer Poetiken mit surrealistischen Schreibweisen. Ingeborg Bachmann dagegen ist bereits die erste in der Reihe von Autoren der jüngeren Generation, für die eine breite Rezeption der klassischen Moderne selbstverständliche Voraussetzung des eigenen Schreibens ist. Ob in Benns radikaler Verurteilung oder in Rühmkorfs differenzierter, aber nicht weniger spöttischer Darstellung: Die Naturlyrik wird in erster Linie als eine traditionalistische Verirrung konservativer Ästhetik dargestellt und ausschließlich mit entsprechenden Positionen identifiziert, sowohl in thematisch-motivischer als auch in formaler Hinsicht. Sicher sind Autoren wie Friedrich Georg Jünger, Rudolf Alexander Schröder, Hans Carossa, Rudolf Hagelstange oder Oda Schäfer, die Rühmkorf unter anderen anführt, als Beispiele für die Popularität konservativer Ästhetiken beim Lesepublikum der Nachkriegsjahre ganz ausgezeichnet geeignet. Naturlyrik war für einen Autor wie Benn, der als einziger prominenter Repräsentant der klassischen Moderne in der Lyrik nach dem Krieg deren Renaissance befördern konnte, nach wie vor Reaktion. Ebenso waren die Naturlyriker ein Gegenbild für jüngere Autoren, die im Lauf der 50er Jahre die literarische Szene betraten. Man sah in ihnen die Vertreter einer konservativen Ästhetik, gegen die man anschreiben konnte. Rühmkorf ist neben Enzensberger und Grass einer der prominentesten Autoren dieser jüngeren Generation, die in der zweiten Hälfte der 50er Jahre mit eigenen Konzeptionen moderner Lyrik hervortraten. Er machte die Distanz zur Naturlyrik, die sich seit dem Ende des Krieges sukzessive verstärkt hatte, in seinen essayistischen Texten sichtbar – und deutete entsprechend ihre bis weit in die 50er Jahre hinein dominante Position als Reflex der Restaurationszeit. 32

Karl Krolow, Aspekte zeitgenössischer deutscher Lyrik, Berlin 1961, S. 13.

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Andererseits gerät angesichts der Überbetonung dieser traditionalistischen und restaurativen Aspekte der Naturlyrik in den Hintergrund, dass ein wesentlicher Teil der Moderne-Rezeption seit den späten 40er Jahren auf der Grundlage der Naturlyrik geleistet wurde. Rühmkorf gibt das bis zu einem gewissen Grad zu: Im Zuge der Entwicklung der »junge[n] deutsche[n] Poesie« in der Mitte der 50er Jahre habe sich »so etwas wie eine Position«33 konsolidiert und die Naturlyrik dabei ebenso »an Einfluß und Publikum« gewonnen, wie sie »immer mehr an Gesicht [verlor]«.34 In dieser Analyse ist ihr Innovationspotential für die Entwicklung der deutschen Lyrik zwischen 1945 und 1960 ein wenig sichtbarer, aber im Lyrischen Weltbild der Nachkriegsdeutschen wird es immer noch unterschätzt. Die Autoren, die hier im Mittelpunkt stehen, sind, nach kurzer lobender Erwähnung von Krolow, Eich, Weyrauch und (allerdings weniger lobend) Holthusen, die Lyriker, die bis heute prominente und repräsentative Neuentwürfe moderner Poetiken in der Nachkriegslyrik repräsentieren: Höllerer, Bachmann, Celan, Enzensberger, Grass. So verständlich diese Akzentuierung im literarischen Koordinatensystem der 50er Jahre ist, und so nötig sie für die Selbstpositionierung des Autors Rühmkorf sein mochte – nicht zufällig finden sich Vorformen der meisten Gedanken, die den Essay ausmachen, in seiner Autobiographie versammelt –: Die zentrale Funktion der Naturlyrik für die Assimilation der Moderne in der deutschsprachigen Tradition ist darüber etwas aus dem Blick geraten. Rühmkorf ist für die Installation einer solchen Sicht durchaus exemplarisch. In den späten 50er Jahren setzt sich bei einer jüngeren Generation der um 1925 oder später geborenen Autoren also eine negative Sicht auf die Naturlyrik durch. Rein historisch ist das aufgrund der über die 30er und 40er Jahre nahezu ungebrochenen Kontinuität naturlyrischen Schreibens und der damit verbundenen Kontamination mit dem Nationalsozialismus mehr als verständlich. Ebenso ist das im Fall jüngerer Autoren, die sich nicht nur substantiell, sondern auch in der literarischen Selbstdarstellung von den Vorgängern möglichst dezidiert absetzen müssen, binnenliterarisch und werkpsychologisch nachvollziehbar und nahezu unausweichlich. Ausgeblendet wird dabei aber ein schlichter literarhistorischer Befund: Die Modernisierung der deutschsprachigen Lyrik, diese Kette von Prozessen, die seit den späten 40er Jahren zur Intensivierung der kritisch-essayistischen, praktischübersetzerischen und schließlich auch zur produktiven Rezeption der Lyrik 33 34

Ebd., S. 23. Ebd.

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der internationalen Moderne führen, konturiert zwar gegen Ende der 50er Jahre ein neues System, in dem die Naturlyrik alter Prägung eine obsolete Ästhetik darstellt. Aber seine Konstituierung findet zunächst im ästhetischen Rahmen der Naturlyrik statt – als ihre langsame und vorsichtige Transformation in moderne Sprechweisen.35 Dieter Lamping klassifiziert die 50er Jahre als »moderne deutsche Lyrik der dritten Phase«, die »allerdings weniger durch kühne Innovationen als durch behutsame, zum Teil skrupulöse Modifikationen und Synthesen gekennzeichnet« sei.36 Diese Modifikationen, die »deutlich von dem Bemühen geprägt« sind, »nach einer Zeit staatlich geforderter und staatlich geförderter anti-moderner Literatur wieder Anschluß an die Moderne zu finden«,37 spielen sich bis weit in die zweite Hälfte der 50er Jahre auf der Basis der naturlyrischen Poetiken ab – in einem intensiven Wechselspiel aus ästhetischer Erneuerung und Traditionsbezug. Man kann diese wichtige Stellung der Naturlyrik im Prozess der Innovation der deutschen Nachkriegsliteratur mit der Ausgangssituation nach 1945 begründen: Lesegewohnheiten, Marktprägung und ästhetische Vorlieben des Publikums, nicht zuletzt »die Funktion eines kompensatorischen Angebots von Literatur gegen die herrschenden politischen und individuell existentiellen Verhältnisse«38 sprachen für die in der Literaturgeschichtsschreibung längst diagnostizierte Sichtbarkeit der Naturlyrik.39 Hinzu kommt die zumindest in den frühen Nachkriegsjahren noch materiell schwierige, später durch Rezeptionsvorbehalte behinderte Wahrnehmung der Exillyrik.40 Ausschlaggebend für die Wichtigkeit der naturlyrischen Schule im Feld der deutschsprachigen Lyrik nach 1945 ist freilich eine Qualität, die man als ihr immanentes Modernisierungspotential bezeichnen könnte. Es ist bereits 35

36 37 38

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Vgl. Karl Riha, »Das Naturgedicht als Stereotyp der deutschen Nachkriegslyrik«, in: Thomas Koebner (Hrsg.), Tendenzen der deutschen Literatur seit 1945, Stuttgart 1971, S. 157–178. Lamping, Das lyrische Gedicht, S. 230f. Ebd. Horst Ohde, »Die Magie des Heilen. Naturlyrik nach 1945«, in: Ludwig Fischer (Hrsg.), Literatur in der Bundesrepublik Deutschland bis 1967, München 1986, S. 349–367, hier S. 349. Vgl. Barner (Hrsg.), Geschichte der deutschen Literatur von 1945 bis zur Gegenwart, S. 205–211. Vgl. ebd., S. 85–89; sowie Frank Trommler, »Emigration und Nachkriegsliteratur. Zum Problem der geschichtlichen Kontinuität«, in: Reinhold Grimm/Jost Hermand (Hrsg.), Exil und innere Emigration. Third Wisconsin Workshop, Frankfurt am Main 1972, S. 173–197; sowie Irmela von der Lühe/Claus-Dieter Krohn (Hrsg.), Fremdes Heimatland. Remigration und literarisches Leben nach 1945, Göttingen 2005.

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in ihrer Genese angelegt. Bei ihrem Auftreten um 1930 war die Naturlyrik zwar als Reaktion auf die radikale Moderne intendiert, wollte zugleich aber keineswegs deren Errungenschaften eliminieren. Vielmehr war es den Autoren, die sich in der Zeitschrift Kolonne versammelten, darum zu tun, einige der als negativ empfundenen Charakteristika der Moderne in ihrer Lyrik zu bewältigen, ohne die grundsätzliche Diagnose eines Moderne-Gefühls gänzlich aufzugeben. In Martin Raschkes Vorspruch für die Zeitschrift »Die Kolonne«41 aus dem Jahr 1929 findet der Anspruch einer gegenüber dem Avantgardismus der Neuen Sachlichkeit gemäßigten Modernität eine erste Formulierung. In der Vorrede kommen wesentliche Antriebe und Positionen des Programms der Naturlyriker zum Ausdruck, die in den nächsten Jahrzehnten weiterwirken und gerade nach 1945 zur vollen Bedeutung gelangen. Die Zeit ist nichts, das vor den Fenstern der Geistigen sich abspielt, Flieger, Telegraph und Gewerkschaft, wie Literaten uns verschiedentlich glauben machen wollten; ungläubig an jede schöpferische Leistung, doch im Besitz eines sauber ausgearbeiteten Zukunftsschemas nannten sie nur die seiner Verwirklichung dienenden Schritte zeitgemäß. Allein der Angst, den Anschluß an eine Wirklichkeit zu verlieren, die aus sich einer gelobten Zukunft zuzustreben scheint, ist das Entstehen einer Sachlichkeit zuzuschreiben, die den Dichter zum Reporter erniedrigte und die Umgebung des proletarischen Menschen als Gefühlsstandard modernen Dichtens propagierte. […] Aber noch immer leben wir von Acker und Meer, und die Himmel, sie reichen auch über die Stadt. Noch immer lebt ein großer Teil der Menschheit in ländlichen Verhältnissen, und es entspringt nicht müßiger Traditionsfreude, wenn ihm Regen und Kälte wichtiger sind als ein Dynamo, der nie das Korn reifte.42

Zunächst liefert Raschke eine Art Diagnose des gegenwärtigen Zustandes, in der es ihm darum geht, die ausschließliche Identifikation einer in der Dichtung zu erfassenden Wirklichkeit mit der technisch-urbanen Moderne zu revidieren. Er polemisiert gegen die Vorstellung, die Realität sei in der objektiv sichtbaren technischen Modernisierung erkennbar. Dichter, die ihr Schreiben dieser unterordnen, täten das aufgrund einer falschen Einschätzung – aufgrund der Verabsolutierung der Phänomene der urbanen Modernisierung. Im Gegenzug plädiert Raschke dafür, die Natur weiterhin als eine grundlegende Dimension des Lebens anzuerkennen, denn Traditionen und natürliche Zeitrhythmen seien weiterhin für die meisten Menschen wichtiger als technischer Fortschritt. 41

42

In: Die Kolonne 1 (1929); hier zitiert nach: Klaus Schuhmann, Lyrik des 20. Jahrhunderts. Materialien zu einer Poetik, Reinbek bei Hamburg 1995, S. 167f. Ebd., S. 167.

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Nach dieser Diagnose setzt Raschke seine Polemik fort und leitet daraus Vorschläge ab, die sich auf die Möglichkeiten einer neuen Literatur beziehen lassen. Niemand will einer literarischen Mode das Wort reden, die sich mitten in der Stadt ländlich gebärdet und nicht genug von einer Rückkehr zum Geheimnis sprechen kann. Überhaupt ist es an der Zeit, jene Art von Kritik und Literatur aufzugeben, die davon lebt, Wert gegen Wert auszuspielen, und nie fähig ist, die eigene Stellung festzulegen, ohne eine zweite abzulehnen.43

Erst hier werden die Umrisse der neuen Poetik definiert, in der es ausdrücklich nicht um eine im Kontext der urbanen Zivilisation angesiedelte, wirklichkeitsfremde, bukolisch-ländliche Lyrik gehen soll. Ebenso wenig möchte Raschke seinen Ansatz als eine bloße Gegenposition zur Neuen Sachlichkeit verstanden wissen, denn eine Poetik, die sich nur aus Antagonismen heraus konstituiert, soll ja gerade überwunden werden. Es war zu allen Zeiten mißlich, um wieviel mehr also in der unseren, von Gott und Gnade zu reden, diesem Einzigen, das noch durch Schweigen hinlänglich für sich zu zeugen versteht. Wer nur einmal in der Zeitlupe sich entfaltende Blumen sehen durfte, wird hinfort unterlassen, Wunder und Sachlichkeit deutlich gegeneinander abzugrenzen. So kann auch im Bereiche der Dichtung ein Wille zur Sachlichkeit nur dann Berechtigung erlangen, wenn er nicht von Unvermögen, sondern durch die Furcht bedingt wurde, mit allzuviel Worten das Wunderbare zu verdecken. Denn zu Verzicht auf jegliche Metaphysik führt nun, daß die Ordnung des Sichtbaren Wunder genug erscheint. Der Versuch, einige literarische Arbeiten, vorzüglich Dresdner Schriftsteller, scheinbar fern den Themen eines geschäftigen Tages, zu einem Flugblatt zu vereinen, entspringt nicht einem weltfernen Ästhetizismus. Wir fühlen uns den Aufgaben des Tages verpflichtet, auch wenn wir es nicht auf jeder Zeile versichern und uns die mühsam errungene Erfahrung leitet, Kunst habe ein gleiches Daseinsrecht. […]44

Eine scharfe Trennung von Wunder und Sachlichkeit, von sichtbarer Welt und Transzendenz, Menschlichem und Göttlichen, hat in Raschkes Sicht keinen Platz. Allein die sprachlich transparent zu machende Natur spricht gegen solche Unterscheidungen zwischen einem scharf konturierten Gegenstandsrealismus und metaphysischen Ansätzen seiner Deutung und Durchdringung. Insofern vertritt Raschke durchaus einen neusachlichen Ansatz, aber nur als Mittel, das hinter der Natur angesiedelte »Wunderbare« in sprachlicher Durchleuchtung umso prägnanter herauszuarbeiten. Die Versachlichung des literarischen Schreibens, die mit einer anti-psychologisierenden, beobachtenden und weitgehend objektivierenden Ästhetik verbunden ist, wird also von Anfang an in die Poetik der Naturlyrik aufgenommen. 43 44

Ebd. Ebd., S. 167f.

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In Raschkes früher Programmschrift finden sich die Konturen der naturmagischen Poetik angelegt. Diese versteht sich nicht als antimodern, greift aber in der Tat antimodernistische Elemente auf. Es geht darum, Bereiche jenseits einer technischen und urbanen Moderne zu betonen und damit zugleich den Verabsolutierungen eines sachlichen Stils entgegenzutreten, der für sich beansprucht, den Erfordernissen der technisch-modernen Lebenswelt zu entsprechen.45 Historisch gesehen ist der Ursprung der naturmagischen Schule der Versuch, der radikalen, avantgardistischen Moderne der 20er Jahre, die mit Mitteln der Montage und Vielstimmigkeit arbeitet, eine Lyrik entgegenzusetzen, in der ein als verloren betrachteter Bezug des Menschen zur Natur zumindest weiterhin reklamiert werden kann. Diese Vorstellungen waren auch nach 1945 wirksam.46 Wilhelm Lehmann formulierte das 1953 in einem Aufsatz mit dem Titel Kunst als Jubel der Materie folgendermaßen: Wir wurden aus dem Paradies der alten Einheit vertrieben. Diese Vertreibung bedeutet den Beginn des Dichtens, des Schreibens. Wir verloren das Ganze, wir wurden selbst Teil, um uns als Teil des Ganzen zu erinnern und uns seiner in der Sehnsucht zu vergewissern.47

Allerdings liegt hier eine geschichtsphilosophische Grundierung der Poetiken der Naturlyrik vor: Lehmann geht von einer Einheit zwischen Mensch und Natur aus, die durch eine mythisch konnotierte Vertreibung aus dem Paradies zerstört und aufgelöst wurde. Nach diesem Verlust kann der Mensch sich nur als Teil des Ganzen sehen und dieses nur im immer erneuten Reflektieren zurückgewinnen. Wir können, wenn wir uns sprachlich in der Welt zurecht finden, das heißt, Wesen und Ding benennen wollen, nicht die Welt als Ganzes in den Mund nehmen, sondern müssen ihrer mit Hilfe der Partikularität inne werden.48

Dahinter steht die Überzeugung, dass eine grundsätzlich zerfallene Wirklichkeit, in der Wesen und Ding, Bedeutung und Erscheinung, nicht mehr eins sind, nur noch über ihre einzelnen Teile erkundet werden kann. Leh45

46

47

48

Solche Positionen sind bei Eich markanter vertreten. Vgl. Axel Vieregg, »›Mein Raum und meine Zeit‹: Antimodernismus und Idylle beim frühen Günter Eich«, in: Ders. (Hrsg.), »Unsere Sünden sind Maulwürfe«. Die Günter-Eich-Debatte, Amsterdam, Atlanta, GA 1996, S. 3–27, bes. S. 9–11. Für einen Überblick über das Spektrum vgl. Dieter Hoffmann, Arbeitsbuch Deutschsprachige Lyrik seit 1945, 2. Aufl. Tübingen, Basel 2004, S. 34–47. Wilhelm Lehmann, »Kunst als Jubel der Materie [1953]«, in: Ders., Sämtliche Werke, Bd. 3, Gütersloh 1962, S. 157–165, hier S. 159. Ebd.

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mann ist also gerade in der Nachkriegszeit der Überzeugung, dass es möglich ist, »mit Hilfe einer Einzelheit einer Ganzheitsvorstellung nahe zu kommen«.49 Interessant an dieser Position Lehmanns ist, dass sie die Sprachkrise als zentrales diskursives Element der Diskussionen um die Moderne aus der Perspektive einer naturlyrischen Denkschule formuliert. Lehmann vertritt affirmativ den Anspruch einer mystischen Vermittlung zwischen Sprache und Wirklichkeit in der Betrachtung der Natur50 – und wird damit umso anfälliger für die antirestaurative Kritik. Aber er formuliert auch eine Spannung, die zeitgleich bei Eich, Huchel oder Krolow zum Fundament der poetologischen Überlegungen wird. Auch wenn Lehmann die Charakteristika der Naturlyrik – den Glauben, in der Konzentration auf wesentliche Eigenschaften der Natur tiefere Wahrheiten erkennen zu können, den Bezug auf den Mythos als eine übergeschichtliche und gerade deshalb wiederum mehr Wahrheit verbürgende Schicht – aufrechterhält, zeigt sich bei ihm einmal mehr das Potential naturlyrischer Poetiken, anfänglich geglättete Spannungsverhältnisse in Antinomien umschlagen zu lassen, die diese Poetiken zum idealen Andockpunkt für moderne Krisendiskurse machen. Gleiches gilt übrigens für die zentrale Thematik des Subjekts, die Dirk von Petersdorff als maßgeblich für den Konstitutionsprozess der modernen Lyrik des frühen 20. Jahrhunderts herausgearbeitet hat.51 Denn auch der Aufhebung der Integrität des lyrischen Subjekts angesichts der Stimmenvielfalt und der Polyperspektivität der modernen Welt, die in der Großstadt emblematisch wird, setzen die Naturlyriker eine konservative Ästhetik entgegen. Wiederum ist die charakteristische Figur sichtbar: Ohne die Diagnostik der Moderne zu negieren, werden stabilisierende Gegenkonzepte entworfen. Das Subjekt wird nicht reinthronisiert – auch insofern ist die Identifikation der Naturlyrik mit einer im traditionellen Sinn subjektivistischen Lyrik irreführend –, aber man ging in der Darstellung der Entsubjektivierung auch nicht den Weg der radikalmimetischen Umsetzung moderner Lebenswirklichkeiten in entsprechende ästhetische Strukturen. Die urbane Ästhetik der horizontalen und vertikalen Unübersichtlichkeit wird nicht zum zentralen Paradigma hypostasiert, sondern zur negativen Folie, der zum Trotz man an einigen Konstanten festzuhalten versuchte. Denn Natur erscheint als eine 49

50

51

Uwe Pörksen, »Gryllotalpa Gryllotalpa (zu Wilhelm Lehmanns Gedicht ›Grille im Tessin‹)« in: Harald Hartung (Hrsg.), Gedichte und Interpretationen, Bd. 5, Vom Naturalismus bis zur Jahrhundertmitte, Stuttgart 1983, S. 336–347, hier S. 342. Vgl. Wilhelm Lehmann, »Bewegliche Ordnung [1947]«, in: Ders., Sämtliche Werke, Bd. 3, Gütersloh 1962, S. 103–108. Dirk von Petersdorff, Fliehkräfte der Moderne. Zur Ich-Konstitution in der Lyrik des frühen 20. Jahrhunderts, Tübingen 2005.

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vom Subjekt mindestens ebenso unabhängige Größe wie die ›enthumanisierte‹, nur noch in futuristischen Strukturen beschreibbare Metropole. Der Unterschied liegt vor allem in einem Aspekt: In der vom Menschen gemachten (wenn auch aus der Sicht der Moderne-Kritiker seiner Kontrolle entglittenen) Großstadt potenzierte sich die Orientierungslosigkeit des modernen Subjekts. In der dem Menschen grundsätzlich fremden, ganz und gar nicht als Identifikationsraum geeigneten Natur hingegen konnte das Subjekt noch Ansätze einer verlorenen Orientierung, vielleicht sogar, wie man aus Lehmanns Äußerungen erschließen kann, einer natürlichen Ganzheit finden. Und falls das nicht möglich sein sollte, dann kann zumindest in Meditation über die Zeichen der Natur ein fast schon therapeutischer Gegenentwurf zur destruktiven Affirmation moderner Lebenswelten projektiert werden. All das sind Gründe dafür, warum sich einige der prominentesten Poetiken der Moderne nach 1945 auf der Basis der naturlyrischen, oft auch als naturmagisch bezeichneten Tradition entwickeln können. Ausgehend von den ästhetischen Diskussionen, die um 1930 im Umkreis der Zeitschrift Die Kolonne geführt wurden und die vor allem von Oskar Loerke und Wilhelm Lehmann repräsentiert wurden, entwarfen Günter Eich, Peter Huchel, Karl Krolow,52 dann in zunehmender Distanz, aber weiterhin mit Blick auf naturlyrische Diskussionen, auch Ingeborg Bachmann und Paul Celan ihre Auffassungen von moderner Lyrik. Selbst bei Peter Rühmkorf und Hans Magnus Enzensberger finden sich zumindest noch deutliche Reaktionen auf die ästhetischen und poetologischen Diskussionen der Naturlyriker. Die ästhetischen und poetologischen Fermente der Naturlyrik waren für diesen Vorgang des Anknüpfens geeignet, weil sie in jedem Einzelfall mit bestimmten anderen Qualitäten aus dem diskursiv-thematischen und dem formalen Inventar der modernen Lyrik verschränkt werden konnten, die in den zeitgenössischen Diskussionen nach 1945 erkundet und ausgehandelt wurden. Natürlich hatte die naturmagische Schule eine Tradition, die viel weiter als bis 1930 zurückreichte. Lyrik, die Natur thematisierte und motivisch in Hinblick auf übersubjektive Weltordnungsmodelle oder auf subjektive Befindlichkeiten verarbeitete, gab es lange vor der Romantik in der Literatur des 18. Jahrhunderts und in der des Barock. Mit Karl Krolow weist gerade derjenige Autor, bei dem die Herkunft aus der naturmagischen Schule am 52

Karl Krolow führt in seinem für Kindlers Literaturgeschichte der Gegenwart verfassten Überblick von der älteren Generation auch Elisabeth Langgässer, unter den Jüngeren Heinz Piontek und Hermann Kasack an; vgl. Karl Krolow, »Die Lyrik in der Bundesrepublik seit 1945«, in: Dieter Lattmann (Hrsg.), Die Literatur der Bundesrepublik Deutschland. Kindlers Literaturgeschichte der Gegenwart, München, Zürich 1973, S. 345–533, hier S. 383.

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deutlichsten zum Ausgangspunkt für die eigene Aktualisierung moderner Lyrik wurde, immer wieder dezidiert auf die Traditionsgebundenheit der Naturlyriker hin. In seiner Darstellung ist aber auch das eine Qualität, die das »neue deutsche Naturgedicht gleich nach 1945«53 deutlich vor anderen Strömungen oder ästhetischen Versuchen auszeichnet. Es ist nicht das Produkt irgendeines literarischen Arrangements. Nichts wurde forciert. Gerade weil es hier ohne Hast, Gewaltsamkeit, ohne Kunstgriff zugeht und weil vielmehr etwas weiterzuführen ist, ist das so entschiedene In-Erscheinung-Treten eines Gedichts von diesem Typus gerechtfertigt und zwangsläufig. Es ist folgerichtig wie wenig anderes in unserer Literatur zu diesem Zeitpunkt. Man kann […] von einem stillen Hinübergleiten einer ganz bestimmten lyrischen Handschrift, ganz bestimmter Texturen in ein noch nicht erschlossenes Gelände reden.54

Die Konstanz der naturmagischen Tradition über die politischen, vor allem aber über die daraus programmatisch deduzierten und lange Zeit in Literaturgeschichtsschreibung und Kritik überbetonten Zäsuren hinweg wurde bereits in den frühen 70er Jahren verschiedentlich untersucht und in der neueren Forschung geradezu zum Epochenparadigma der ›modern restoration‹ erhoben.55 Folgt man Dieter Lampings Vorschlag, »die Moderne in der Geschichte der deutschen Lyrik durch die Abweichung von den grundlegenden Quasi-Normen zu bestimmen, die die deutsche Lyrik seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts geprägt haben«,56 dann gehört »der magische Realismus der Naturlyrik insbesondere Loerkes und Lehmanns«57 zu den drei »Gegenbewegungen gegen die moderne deutsche Lyrik der ersten Phase«, die allerdings ihrerseits »selbst noch immer modern«58 sind. Neben Benns »formale[m] Traditionalismus« und Brechts »soziale[m] Realismus« erreicht der »Naturrealismus«59 das vor allem »durch Verfahren magischer Verfremdung«.60 Erst auf dieser Grundlage konnte dann ab Beginn der 50er Jahre die »Fortsetzung und behutsame Modifikation der modernen Lyrik im allgemeinen und im besonderen der modernen deutschen Lyrik der ersten und zweiten Phase« stattfinden.61 53 54 55 56 57 58 59 60 61

Ebd., S. 381. Vgl. auch Krolow, Aspekte zeitgenössischer Lyrik, S. 12f. Krolow, »Die Lyrik in der Bundesrepublik seit 1945«, S. 381. Vgl. Parker/Davies/Philpotts, The Modern Restoration. Lamping, Das lyrische Gedicht, S. 140. Ebd., S. 141. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd.

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2.

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Erneuerungsansätze: ›Trümmerlyrik‹ und ›Kahlschlag‹

Im Vergleich zu den prägenden Strukturen der Naturlyrik, aber auch zur programmatischen Strahlkraft Benns und Brechts, ist die »politisch engagierte[ ]« ›Trümmerlyrik‹ ein ›Zwischenspiel‹ in der Entwicklung der Gattung nach 1945.62 Gerade an Günter Eichs »Inventur«,63 dem berühmtesten Beispiel für die Poetik der ›Trümmerlyrik‹, wird das sichtbar.64 Es ist das Gedicht eines Autors, der ganz in der Kontinuität der Moderne aus dem Geist der Naturlyrik steht, diese aber in einer kleinen Gruppe von Texten in den frühen Nachkriegsjahren vorübergehend durchbricht und reflektiert. Die Kriegsgefangenen-Lyrik ist überraschenderweise weitgehend apolitisch; aber im knapp skizzierten Rahmen der Lagerrealität gewinnen poetologische Erkundungen des lyrischen Sprechens nach der Zerstörung eine eminente Bedeutung. In der Entwicklung von Eichs naturlyrischer Poetik zeigt diese Überprüfung der Möglichkeiten, Sprache und eine extrem reduzierte, jeder naturmagischen Sinnqualität beraubte Wirklichkeit in Einklang zu bringen, dann ihre Wirkung.65 Die Doppelstruktur von Aussparung der Politik und Erkundung eines poetologischen Sprechens unter den Bedingungen der Nachkriegskatastrophe ist die wichtigste Erkenntnis, die aus der kurzen Phase der ›Trümmerlyrik‹ in die poetologischen Diskussionen der 50er Jahre weitergereicht wird. Dass Politik ausgespart bleibt, darf man programmatisch verstehen: Der Sprecher setzt auf einen Neuanfang jenseits der Politik. Er zeigt sich ganz auf seine Subjektivität zurückgezogen – interessiert vor allem daran, inmitten seiner kümmerlich beschränkten Existenz schreiben zu können.66

62 63

64

65

66

Ebd., S. 231. Günter Eich, »Abgelegene Gehöfte (1948)«, in: Ders., Die Gedichte. Die Maulwürfe, Bd. I, Gesammelte Werke in vier Bänden, revidierte Ausgabe, Axel Vieregg (Hrsg.), Frankfurt am Main 1991, S. 36. Zur Möglichkeit, Eichs Text exemplarisch für die Poetik der ›Trümmerlyrik‹ zu lesen, vgl. Gerhard Kaiser, »Günter Eich: Inventur. Poetologie am Nullpunkt«, in: Olaf Hildebrand (Hrsg.), Poetologische Lyrik von Klopstock bis Grünbein. Gedichte und Interpretationen, Köln, Weimar, Wien 2003, S. 268–285; vgl. auch Helmuth Kiesel, »Zur Berühmtheit von Eichs Inventur«, in: Carsten Dutt/Dirk von Petersdorff (Hrsg.), Günter Eichs Metamorphosen. Marbacher Symposium aus Anlass des 100. Geburtstages am 1. Februar 2007, Heidelberg 2009, S. 25–32. Vgl. dazu Kapitel 1.1. in Teil IV dieses Buches: »Günter Eich: Moderate Modernisierung und Sprachskepsis«. Dieter Lamping, »Wir leben in einer politischen Welt«. Lyrik und Politik seit 1945, Göttingen 2008, S. 40.

Erneuerungsansätze: ›Trümmerlyrik‹ und ›Kahlschlag‹

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In der sechsten Strophe wird die Bleistiftmine als derjenige Gegenstand thematisiert, der emotional am meisten konnotiert ist – als eine Chiffre, die für eine ambivalente Deutung der Konzentration auf die ›Verse‹ unter den Bedingungen der Katastrophe nach dem Zusammenbruch steht: Die Bleistiftmine lieb ich am meisten: Tags schreibt sie mir Verse, die nachts ich erdacht.67

Die als ›Kahlschlag‹ und ›Trümmerliteratur‹ diskutierten Ansätze der ästhetischen Gestaltung geschichtlicher Katastrophenerfahrungen werden in »Inventur« verhandelt – bis zur Frage nach der Möglichkeit der sprachlichen Benennung der einzelnen verbliebenen Realitätsbestandteile. Offen bleibt, ob diese Art des Rückzugs ein Neuanfang sein kann. Die möglichen Konsequenzen von Eichs Modell wären »bestenfalls eine Wendung zu radikaler Ideologiekritik« – wie sie Eich dann tatsächlich Ende der 50er Jahre vollzieht –, »schlimmstenfalls eine Flucht in die unpolitische Innerlichkeit eines literarischen Subjekts«.68 Auch diese Alternative spielt in den Poetiken der Transformation, ganz besonders in Eichs und Huchels lyrischen Erkundungen der natürlichen Zeichenwelt, immer wieder eine Rolle. Die andere Seite von Eichs aus dem Kontext der ›Trümmerlyrik‹ geborenen Reflexionen findet sich in Texten wie »Sinziger Nacht« oder »Aurora«. Hier wird die Vergänglichkeit der Natur diskutiert, zugleich aber der Versuch unternommen, die »real verlorengegangene und verratene Tradition ästhetisch zu surrogieren und in den banalsten Dingen des Alltags überlebend zu finden«.69 Was sich bei einer Betrachtung der diskursiven Möglichkeiten von Eichs prominenten und schnell kanonisierten Texten andeutet, bestätigt sich, wenn man einen Blick auf das programmatische Grundverständnis der ›Trümmerlyrik‹ wirft, die im weiteren Kontext von ›Trümmerliteratur‹ und ›Kahlschlag‹ angesiedelt ist.70 Natürlich ist schon in den Begriffen das Anliegen angedeutet, sowohl inhaltlich-thematisch als auch formal-ästhetisch auf die Situation der Nachkriegsjahre zu reagieren. Trümmerliteratur deutet nicht nur Themen und Motive an, die von den Autoren behandelt werden, sondern auch die Lebensvoraussetzungen, über die sie nach dem Krieg schreiben. 67 68 69

70

Eich, »Abgelegene Gehöfte«. Lamping, »Wir leben in einer politischen Welt«, S. 40. Susanne Müller-Hanpft, Lyrik und Rezeption. Das Beispiel Günter Eich, München 1972, S. 49. Vgl. Barner (Hrsg.), Geschichte der deutschen Literatur von 1945 bis zur Gegenwart, S. 76–80.

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Das berühmteste Beispiel für diese Doppelung findet sich in Heinrich Bölls Essay »Bekenntnis zur Trümmerliteratur« aus dem Jahr 1952.71 Es handelt sich um eine Art Rückblick auf die Entstehung der Literatur der Nachkriegszeit – zudem aber auch um einen Versuch, die historischen und sozialen Bedingungen als Ausgangspunkt neuer Schreibweisen zu bestimmen. Böll erläutert zunächst die Bezeichnung ›Trümmerliteratur‹; sie bestehe zu Recht, »weil die Menschen, von denen wir [die Schriftsteller] schrieben, […] in Trümmern [lebten], sie kamen aus dem Kriege, Männer und Frauen in gleichem Maße verletzt, auch Kinder«.72 Die Schriftsteller hätten den Erfahrungshintergrund einer chaotischen Nachkriegssituation aufgegriffen, die von Schwarzhandel, Flüchtlingsschicksalen und den Kriegsheimkehrern gekennzeichnet war. Daraus hätten sich dann folgerichtig literarische Sujets ergeben: Wir schrieben also vom Krieg, von der Heimkehr und dem, was wir im Krieg gesehen hatten und bei der Heimkehr vorfanden: von Trümmern; das ergab drei Schlagwörter, die der jungen Literatur angehängt wurden: Kriegs-, Heimkehrerund Trümmerliteratur.73

Wichtiger ist Bölls Apologie der Trümmerliteratur im zweiten Teil des Aufsatzes. Er stellt sich gegen traditionalistische Ansätze, die in den unmittelbaren Nachkriegsjahren als vorherrschend empfunden wurden. Dem Bezug auf eine schöne Literatur setzt er die Themen entgegen, von denen die Nachkriegsliteratur beherrscht ist oder nach seiner Auffassung beherrscht sein sollte. Der Verklärung oder dem Nicht-Thematisieren der Nachkriegsrealität begegnet er mit dem Argument, der Schriftsteller müsse hinschauen und sehen. Wer Augen hat zu sehen, der sehe! Und in unserer schönen Muttersprache hat Sehen eine Bedeutung, die nicht mit optischen Kategorien allein zu erschöpfen ist: wer Augen hat, zu sehen, für den werden die Dinge durchsichtig – und es müßte ihm möglich werden, sie zu durchschauen, und man kann versuchen, sie mittels der Sprache zu durchschauen, in sie hineinzusehen. Das Auge des Schriftstellers sollte menschlich und unbestechlich sein: man braucht nicht gerade Blindekuh zu spielen, es gibt rosarote, blaue, schwarze Brillen – sie färben die Wirklichkeit jeweils so, wie man sie gerade braucht.74

Böll propagiert eine Literatur, deren Gegenstand die unmittelbare Gegenwart, die unmittelbare Realität ist. Begründet in dieser Vorstellung ist zu71

72 73 74

Heinrich Böll, »Bekenntnis zur Trümmerliteratur«, in: Ders., Werke, Bd. 6, Árpad Bernáth (Hrsg.), Annmária Gyurácz (Zusammenarbeit), Köln 2007, S. 58–62. Ebd., S. 58. Ebd. Ebd., S. 61f.

Erneuerungsansätze: ›Trümmerlyrik‹ und ›Kahlschlag‹

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nächst einmal die ausgeprägt realistische Komponente der neorealistischen Ästhetiken der Nachkriegszeit, die vor allem im Umkreis der Gruppe 47 vertreten wurden. Sie sind geprägt von Nüchternheit und sprachlicher Reduktion. Aber dieser Neo-Realismus hat noch eine zweite Komponente. Mit der Vorstellung, dass Kunst hinter die sichtbare Oberfläche der Wirklichkeit schauen könne, wird eine Konstante realistischer Poetiken aufgegriffen, die auch einen Schnittpunkt mit den Vorstellungen der Naturlyrik markiert. Obwohl es bei Böll wesentlich darum geht, sein realistisches Prosa-Konzept zu begründen, ist dieses Postulat der Transparenz der Oberfläche doch ein wichtiger Berührungspunkt, der eine interessante Affinität der Poetiken der Trümmerliteratur zu bestimmten Elementen naturlyrischer Poetiken verdeutlicht. Die Realität, auf die man sich bezieht, mag eine gänzlich andere sein, doch der programmatische Anspruch, durch die Dinge hindurchsehen zu können, ist eine Scharnierstelle. Eichs Wendung zu einer sprachkritisch reflektierten Naturlyrik nach einer kurzen Phase der poetologischen ›Inventur‹ könnte damit erklärt werden. Zudem hat die Trümmerliteratur auch für Böll, neben der realistischen Reaktion auf die Nachkriegswirklichkeit, bereits eine Funktion, die auf eine Kritik restaurativer Tendenzen der 50er Jahre verweist: Man müsse, so Böll, die Fixierungen durchbrechen, die sich in der gesellschaftlichen Organisation einschleichen, und den Blick weiterhin durch die oberflächlich sichtbaren Strukturen auf den Menschen richten. Diese Konstanten bestimmter poetologischer Vorstellungen werden aus den unter dem Dach der ›Trümmerliteratur‹ versammelten ästhetischen Entwürfen in die poetologischen Diskussionen der 50er Jahre transferiert. Ein anderer zentraler Aspekt, nämlich die Programmatik des Neuanfangs – die sehr bald eher eine programmatische Rhetorik des Neuanfangs wird75 –, ist in der Distanzierung von der nationalsozialistisch ›missbrauchten‹ Sprache begründet und findet seine Akzentuierungen im ›Kahlschlag‹. Auch wenn es hier nur um Nuancierungen in einem gemeinsamen Diskussionszusammenhang des, wie Barner formulierte, ›Negierens von Tradition‹ geht,76 betont ›Kahlschlag‹ doch gegenüber den ›Trümmer‹-Ästhetiken stärker das ästhetische Bedürfnis, das Bestehende vollkommen abzubauen und neu anzuset75

76

Vgl. ausführlich Karl Esselborn, »Neubeginn als Programm«, in: Ludwig Fischer (Hrsg.), Literatur in der Bundesrepublik Deutschland bis 1967, München, Wien 1986, S. 230–243. Wilfried Barner, »Über das Negieren von Tradition. Zur Typologie literaturprogrammatischer Epochenwenden in Deutschland«, in: Reinhart Herzog/Reinhart Koselleck (Hrsg.), Epochenschwelle und Epochenbewußtsein, München 1987, S. 3–51.

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zen. Der Begriff wurde von Wolfgang Weyrauch im Nachwort zur ErzählAnthologie Tausend Gramm (1949) geprägt. Die Männer des Kahlschlags […] schreiben die Fibel der neuen deutschen Prosa. […] dem neuen Anfang der Prosa in unserm Land [sind] allein die Methode und die Intention des Pioniers angemessen. Die Methode der Bestandsaufnahme. Die Intention der Wahrheit. Beides um den Preis der Poesie. Wo der Anfang der Existenz ist, ist auch der Anfang der Literatur. Wenn der Wind durchs Haus geht, muß man sich danach erkundigen, warum es so ist. Die Schönheit ist ein gutes Ding. Aber Schönheit ohne Wahrheit ist böse. Wahrheit ohne Schönheit ist besser.77

Sichtbar wird auch hier ein Bedürfnis nach äußerster Konzentration auf das Wesentliche, das mit einer Absetzung von aller instrumentalisierten Rhetorik einhergeht. Postuliert wird ein neuer Anfang, der sich von allem Vorhergehenden radikal absetzt. Zugleich vergisst Weyrauch nicht den Hinweis, dass der Neuanfang nicht ohne eine Bestandsaufnahme möglich sei. Auch hier also zeichnet sich, bei aller postulatorischen Rhetorik, eine Ambivalenz ab. Die Forderung nach einem radikalen Neuanfang ist mit umfangreichen Traditionsbeständen konfrontiert. Es überrascht nicht, dass der – zumindest in den Programmschriften zutage tretende – Impuls dieses radikalen Neuanfangs bereits Ende der 40er Jahre in die bestehenden Traditionslinien reintegriert wird. Neben der naturlyrischen Poetik sind das vor allem die von Benn und Brecht repräsentierten Paradigmen.

3.

Gottfried Benn: Nachkriegsartistik und ›Phase II‹ der Moderne

Benn ist eine zentrale Figur im Prozess der »Anverwandlung der ›Klassischen Moderne‹«78 während der Nachkriegsjahre. Vor allem mit dem 1951 gehaltenen Vortrag Probleme der Lyrik habe Benn, so Kröll, »die ästhetischen und ideologischen Wegmarken für die nächsten Jahre« gesetzt.79 Sein »poetologisch-weltanschauliche[s] Credo«, in dem Formbetonung zum Fluchtpunkt der Lyrik wird, habe das »theoretische Fundament für die ›tech77

78

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Wolfgang Weyrauch, »Nachwort«, in: Ders. (Hrsg.), Tausend Gramm. Sammlung neuer deutscher Geschichten, Hamburg, Stuttgart, Baden-Baden u. a. 1949. – Hier zitiert nach: Die deutsche Literatur 1945–1960, Bd. 2: »Doppelleben« 1949–1952, Heinz Ludwig Arnold (Hrsg.), München 1995, S. 26f. Friedhelm Kröll, »Anverwandlung der ›klassischen Moderne‹«, in: Ludwig Fischer (Hrsg.), Literatur in der Bundesrepublik Deutschland bis 1967, München 1986, S. 244–262, hier S. 250. Ebd.

Gottfried Benn: Nachkriegsartistik und ›Phase II‹ der Moderne

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nologische‹ Aneignung der Bestände der Moderne« gelegt. Unter Vernachlässigung seines anfänglichen Engagements für den Nationalsozialismus wurde Benn zur »normsetzenden literarischen ›Persönlichkeit‹ und ›Institution‹ der fünfziger Jahre«.80 Die Funktion Benns im literarischen Leben der Nachkriegszeit ist damit zutreffend charakterisiert.81 Dennoch erschöpft sich Benns Bedeutung für die moderne deutschsprachige Lyrik der Nachkriegsjahre nicht in der Vorbereitung einer formal-stilistischen Aneignung der Moderne. Tatsächlich hat seine Vermittlerfunktion auf der Ebene formaler Modelle und Verfahrensweisen der internationalen Moderne sogar in erster Linie einen postulatartigen Charakter: Benn behauptet gedankliche und ästhetische Affinitäten zu einer Reihe von Lyrikern der Moderne, auf die in den Ausführungen in Probleme der Lyrik nicht näher eingegangen wird. Was Benn dagegen in Bezug auf die Tradition der europäischen Moderne liefert, sind Namenskataloge und die Verknüpfung bestimmter poetologischer Grundfiguren ästhetizistisch-symbolistischer Herkunft mit seiner eigenen, nihilistisch-pessimistischen Weltanschauung.82 Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass Benn gerade diejenigen Lyriker, die er namentlich besonders intensiv evoziert – und die lange Zeit entsprechend häufig genannt wurden, um Benns Zugehörigkeit zur Tradition der internationalen Moderne zu beschreiben –, kaum, oberflächlich oder nur punktuell rezipiert hat.83 So sei eine Kenntnis des lyrischen Werks Ezra Pounds, mit dem Benn »vor allem in ideologischer Hinsicht« gerne verglichen wird, »nicht recht zu erkennen«.84 Auch T. S. Eliot, dessen Essay Von Poe zu Valéry85 für Probleme der Lyrik intensiv verwertet wurde,86 sei »für Benn kein substantieller Bezug gewesen«.87 Die von Benn mit vielen Namensnen80

81

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83

84 85

86 87

Ebd. Exemplarisch wird die Konstitution der Benn’schen Autorschaft untersucht bei Christian Schärf, Der Unberührbare. Gottfried Benn – Dichter im 20. Jahrhundert, Bielefeld 2006, bes. S. 319–409. Vgl. dazu neuerdings: Hans-Joachim Hahn, »Gottfried Benns ›großer Aufstieg‹ nach 1945«, in: Walter Delabar/Ursula Kocher (Hrsg.), Gottfried Benn (1886–1956). Studien zum Werk, Bielefeld 2007, S. 231–249. Vgl. Reinhold Grimm, »Die problematischen Probleme der Lyrik«, in: Bruno Hillebrand (Hrsg.), Gottfried Benn, Darmstadt 1979, S. 206–239. Vgl. Dieter Lamping, »Benn, Marinetti, Auden – Eine Konstellation der Moderne«, in: Friederike Reents (Hrsg.), Gottfried Benns Modernität, Göttingen 2007, S. 38–54. Ebd., S. 39. T. S. Eliot, »Von Poe zu Valéry«, in: Ders., Essays II, Frankfurt am Main 1969, S. 252–269. Vgl. Grimm, »Die problematischen Probleme der Lyrik«. Lamping, »Benn, Marinetti, Auden«, S. 41.

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nungen inaugurierte und vor allem von Hugo Friedrich und Hans Egon Holthusen diskutierte Nähe zu Mallarmé und Poe entspringe auf Benns Seite eher der Absicht, sich in der symbolistischen Tradition zu verorten. Aber, so Lampings Resümee: »bei allen Referenzen […] geben auch die Verbindungen zu Mallarmé und Poe nicht viel her. Benn scheint keinen von beiden wirklich gelesen zu haben.«88 Die Diagnose ist klar: Benns unmittelbare, auf der Ebene der Lyrik nachvollziehbare Beziehungen zu den Autoren der lyrischen Moderne sind relativ unbedeutend im Vergleich zu seiner Funktion als Initiator der Rezeption dieser Autoren. Die häufigen Namensnennungen Eliots oder Mallarmés und sogar die, wie Lamping zeigt, im Gegensatz dazu überaus gründliche Rezeption des italienischen Futurismus-Begründers Marinetti und des Engländers Auden – als widersprüchliches Duo wesentlich geeigneter, um Benn »in die internationale Moderne einzuordnen«89 – unterstreichen aber eines: Benns Wahrnehmung der internationalen Moderne ist vor allem an Benn selbst orientiert. In seiner Auseinandersetzung mit anderen Autoren geht es immer zunächst darum, Parallelen zum eigenen Selbstverständnis als Lyriker zu installieren. Selbst Marinetti und Auden stehen »für Parallelen zu seinem Werk innerhalb der internationalen Moderne – wie nah oder fern sie auch sein mögen«.90 Sie sind Positionen in einem Debattenzusammenhang, in dem sich weltanschauliche und poetologische Denkfiguren berühren und überkreuzen. Benns Stellung innerhalb der Lyrik der Nachkriegsmoderne erschließt sich von hier aus mit anderen Akzentuierungen. Zunächst einmal ist er derjenige, der das kulturkritisch-konservative Ideengut samt seinem antimodernistischen Affekt für die Poetik der modernen Lyrik attraktiv macht. Der Formbegriff, den Benn in die Diskussionen um die moderne Lyrik einführt, ist literarisch gesehen ästhetizistisch, wird allerdings durch die Verknüpfung mit seiner antigeschichtlichen und dezidiert apolitischen Haltung der Nachkriegsjahre91 verstärkt und damit für essentialistische oder existentialistische Diskussionszusammenhänge anschlussfähig. Neben diesem weltanschaulichen und poetologischen Aspekt Benns steht die Funktion seiner Lyrik – und die hat im Kontext der Nachkriegszeit ihre eigenen Paradoxien. Denn so richtig die Beobachtung ist, dass Benns Montage-Stil als zentrale formale Errungenschaft einer ›reflektierten Mo88 89 90 91

Ebd., S. 42. Ebd. Ebd., S. 53. Vgl. Wolfgang Emmerich, Gottfried Benn, Reinbek bei Hamburg 2006, S. 115–119.

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derne‹92 in der Nachkriegslyrik stilbildend wurde, so ambivalent ist diese Diagnose, wenn man Benns Artistenpoetik aus Probleme der Lyrik mit der Programmatik der »Phase II des expressionistischen Stils«93 und gar mit dem lyrischen Spätwerk vergleicht.94 Die Praxis Benns in den letzten Gedichtbänden unterscheidet sich von der Austerität, die er in seinen akklamierten programmatischen Äußerungen hervorkehrt, und sie weist in manchem auf eine unausgesprochene Revision der weltanschaulich überhöhten Vorstellungen seiner so wirkmächtigen Poetik der modernen Lyrik hin. Die Bedeutung Benns für Poetik und Lyrik der Nachkriegsmoderne soll hier in drei Aspekten skizziert werden: Benns Konstruktion einer, nun auch um die Erfahrungen unter dem Nationalsozialismus erweiterten, ästhetizistischen Außenseiterrolle, die weiterhin auf der Grundlage kulturkritischer Positionen steht; die in zentralen Fragen an diese Außenseiterrolle des Artisten gekoppelte Poetik der modernen Lyrik; und schließlich Benns in den 50er Jahren zusehends davon differierende Praxis des lyrischen Schreibens. Zum ersten: Auch wenn Benns kulturpessimistisches Denken bereits um 1930 voll ausgeprägt war, erfuhr es nach 1945 eine biographisch begründete Neuauflage. In Der Ptolemäer stilisiert sich Benn über seine Zentralfigur, den Inhaber des Schönheitssalons Lotosland, als Vertreter einer ›antiphysikalischen‹, jenseits jeder konventionellen Vorstellung von Intellektualität und Humanität angesiedelten Weltanschauung.95 Die Vorstellung, der Künstler sei »der einzige, der mit den Dingen fertig wird, der über sie entscheidet«,96 also die Verabsolutierung der ästhetischen Existenz, wird begründet im Glaubensbekenntnis des Glasbläsers: 1.) Erkenne die Lage. 2.) Rechne mit deinen Defekten, gehe von deinen Beständen aus, nicht von deinen Parolen. 3.) Vollende nicht deine Persönlichkeit, sondern die einzelnen deiner Werke. Blase die Welt als Glas, als Hauch aus einem Pfei-

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Vgl. Helmuth Kiesel, Geschichte der literarischen Moderne. Sprache, Ästhetik, Dichtung im zwanzigsten Jahrhundert, München 2004, S. 300–303. Vgl. zur Charakterisierung von Benns Montage-Stil, wie er in den 20er Jahren entwickelt wurde, Lamping, Das lyrische Gedicht, S. 202–208. Gottfried Benn, »Doppelleben (1949)«, in: Ders., Prosa und Autobiographie. In der Fassung der Erstdrucke, Frankfurt am Main 1998, S. 355–479, hier S. 472. Vgl. auch Hans-Joachim Hahn, »Expressionistische Nachbeben? Gottfried Benns Modernismus vor und nach 1945«, in: Gustav Frank/Rachel Palfreyman/Stefan Scherer (Hrsg.), Modern Times? German Literature and Arts Beyond Political Chronologies. Kontinuitäten der Kultur: 1925–1955, Bielefeld 2005, S. 133–148. Vgl. Gottfried Benn, »Der Ptolemäer (1947)«, in: Ders., Prosa und Autobiographie, S. 193–234. Vgl. Schärf, Der Unberührbare, S. 319–352. Benn, »Der Ptolemäer (1947)«, S. 215f.

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fenrohr: der Schlag, mit dem du alles löst […] – dieser Schlag ist deiner und er entscheidet.97

Hinter den Ausführungen im Ptolemäer steht weiterhin die Kultivierung der artistischen Außenseiter-Figur, die jenseits aller Bewegungen der Geschichte sich eine eigene »Welt als Glas« bläst. Kontext ist die Diagnose einer abendländischen Verfallsgeschichte, die in der Haltung der Ablehnung aller Ergebnisse dieser Zivilisation gipfelt; sie schränken den Ermessensspielraum des artistischen Einzelnen nur ein. Er macht sich stattdessen als »Prismatiker«98 zum Mittelpunkt der Welt. Auf diese Weise vermag er, die auseinanderstrebenden Phänomene der Gegenwart zusammenzuhalten, denn »[d]er Mensch von heute […] ist zentripetal«.99 Der Pessimismus ist die Vorgeschichte, seine Überwindung die Voraussetzung dieser Position: »Nein, ich bin kein Pessimist –, woher ich stamme, wohin ich falle, das ist alles überwunden. Ich drehe eine Scheibe und werde gedreht, ich bin Ptolemäer.«100 Mit deutlich biographischen Akzenten ist die Selbststilisierung als artistischer Außenseiter in Doppelleben versehen. Durch die Kombination des 1934 publizierten ›Lebensweg eines Intellektualisten‹ als erstem Teil der Schrift mit dem zweiten, wiederum ›Doppelleben‹ betitelten Abschnitt, der weitgehend 1949 entstand, geht es Benn ganz offenbar darum, »sich vor der […] Öffentlichkeit zu rechtfertigen«101 – in Hinblick auf sein Verhalten unter dem Nationalsozialismus. Er stellt sich als Verfolgten dar, dem angesichts der »ganz üble[n] Subjekte«, die sich im literarischen Leben »hoch[spielten]«,102 nur der Weg des Rückzugs blieb. Um aus Berlin »und aus den Verbindungen, die meine Stellung in der Literatur mit sich brachte«, herauszukommen, so Benn, »mußte [ich] meine Praxis aufgeben, meine Wohnung in Berlin, meine materielle Grundlage und ins Ungewisse ziehen«.103 In diesem Zusammenhang fällt auch der Satz: »Die Armee ist die aristokratische Form der Emigration.«104 Benns Eintritt in die Armee erfolgt 1935; in Doppelleben wird er stilisiert zum einzig möglichen Ausweg des auch unter den Nationalsozialismus, so Benns Selbstdarstellung, asozialen »Kunstträgers«, der »nur seinem inneren Material [lebt]« und dafür »Eindrücke in sich hinein [sam-

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Ebd., S. 214f. Ebd., S. 233. Ebd. S. 215. Ebd. Emmerich, Gottfried Benn, S. 118. Benn, »Doppelleben«, S. 414. Ebd., S. 415. Ebd. [Hervorhebung durch Gottfried Benn].

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melt]«.105 Es ist offensichtlich, dass Benn in seiner Selbstdarstellung das Engagement für den Nationalsozialismus in den Jahren 1933 und 1934 relativiert und sich so in den späten 40er Jahren ja auch tatsächlich »einer kritischen Beurteilung seines Handelns im Dritten Reich« entzieht.106 Vor allem aber wird auch in diesem Zusammenhang die artistisch-ästhetizistische Außenseiterrolle inszeniert. Sie ist für die retrospektive Revision der Autobiographie ebenso einsetzbar wie als literarische Strategie – etwa als Erzählinstanz im Ptolemäer. Die Positionen, die Benn in den Prosatexten der ersten Nachkriegsjahre formulierte, finden sich mit unterschiedlichen Akzentuierungen auch in den Statischen Gedichten, von denen ein großer Teil zwischen 1941 und 1943 entstand, also zu einer Zeit, als Benn dem Schreib- und Publikationsverbot unterworfen war. Betrachtet man zwei der bekanntesten dieser Texte, »Verlorenes Ich« und das Titelgedicht der Sammlung, »Statische Gedichte«, die beide aus dem Jahr 1943 stammen, dann findet man wiederum die beiden charakteristischen Denkfiguren aus Ptolemäer und Doppelleben. »Verlorenes Ich«107 kann man als einen Abgesang auf den Verlust ganzheitlicher und sinnstiftender Welterklärungsmodelle lesen, vor allem aber als einen Text, in dem einige kulturkritische Glaubenssätze lyrisch gestaltet werden.108 In der ersten Strophe wird der Angriff der Naturwissenschaften auf die abendländische Kulturtradition, die in Chiffren des mittelalterlichen Christentums kulminiert, mit pathosreicher Rhetorik inszeniert. Verlorenes Ich, zersprengt von Stratosphären, Opfer des Ion –: Gamma-Strahlen-Lamm –, Teilchen und Feld –: Unendlichkeitschimären auf deinem grauen Stein von Notre-Dame.

Das Ich, die individuelle Integrität des abendländisch-christlichen Menschen, kann den »Stratosphären« ebenso wenig standhalten wie den GammaStrahlen, aber vor allem »zersprengt« die physikalische Weltsicht jede Möglichkeit, im kollektiven Ritual der Kommunion die Vereinzelung des Ich zu überwinden. Benn leitet die beiden Schlussstrophen mit einem klagenden »Ach« ein:

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Ebd., S. 380. Emmerich, Gottfried Benn, S. 118. Gottfried Benn, »Verlorenes Ich«, in: Ders., Gedichte. In der Fassung der Erstdrucke, Frankfurt am Main 1999, S. 309f. Vgl. Hugh Ridley, Gottfried Benn. Ein Schriftsteller zwischen Erneuerung und Reaktion, Opladen 1990, S. 102f.

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Ach, als sich alle einer Mitte neigten und auch die Denker nur den Gott gedacht, sie sich den Hirten und dem Lamm verzweigten, wenn aus dem Kelch das Blut sie rein gemacht, und alle rannen aus der einen Wunde, brachen das Brot, das jeglicher genoß –, oh ferne zwingende erfüllte Stunde, die einst auch das verlor’ne Ich umschloß.

Wenn die emotionale Färbung der Verlustdiagnosen in den ersten sechs Strophen noch den Tonfall eines beteiligten, aber zurückgenommenen Konstatierens trägt, dann wird in den letzten beiden Strophen der Verlust eines religiös verbindlichen mittelalterlichen Weltbilds regelrecht beklagt. Textintern ist dieser elegische Charakter von »Verlorenes Ich« ungebrochen; die gedankliche Nähe zu Sedlmayrs Krisenschrift Verlust der Mitte ist schon im Vokabular zu greifen. Insofern kann man mit Blick auf »Verlorenes Ich« tatsächlich von der lyrischen Thematisierung des Krisendiskurses sprechen. In dieser ideologischen Tönung darf man eine Ursache für die Wirkmächtigkeit Benns in den Nachkriegsjahren sehen, obgleich er essayistisch beteuerte, dass von »Verlust der Mitte […] gar nicht die Rede«109 sein könne. Erst in den Prosadiagnosen im Ptolemäer erscheint die Krisengeschichte der abendländischen Kultur nur noch als Anlass für die in zynischer Abgeklärtheit vorgetragenen wissensgeschichtlichen Kataloge, die alle zum Zentrum führen: Dem artistischen Ich, das die zerfallende Welt prismatisch auf das eigene Subjekt zuordnet. Genau diese Position wird dann bekanntlich in »Statische Gedichte«110 thematisiert. Die »Entwicklungsfremdheit« des Weisen, seine vollkommene Distanz gegenüber den Rhythmen menschlichen Lebens, die Ablehnung jeglichen Handelns, das auf eine Selbstpositionierung im Getriebe »einer Welt, / die nicht klar sieht«, hinausläuft – all das beschäftigt den Weisen nur als Material seines statischen Blicks auf die Wirklichkeit. Dieser erlaubt es ihm, im Modus des »Perspektivismus« die auseinanderstrebenden Phänomene der Wirklichkeit »nach Rankengesetz« zu verbinden. Die ›Ranken‹ verweisen dabei auf die alogischen und asystematischen, in pflanzlicher Wachstumsornamentik geknüpften Verbindungen, die nur in der exklusiv subjektiven Weltsicht des Weisen erzeugt werden können.

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Gottfried Benn, »Probleme der Lyrik«, in: Ders., Essays und Reden. In der Fassung der Erstdrucke, Frankfurt am Main 1989, S. 505–535, hier S. 530. Benn, Gedichte, S. 323. Vgl. dazu Hans H. Hiebel, Das Spektrum der modernen Poesie. Interpretationen deutschsprachiger Lyrik 1900 bis 2000 im internationalen Kontext der Moderne, Teil 1, 1900–1945, Würzburg 2005, S. 230–236.

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Sie haben nur für den monologischen Sprecher Gültigkeit, der in tiefstem Einverständnis mit sich selbst ruht: »Du weißt – für wen.« Wie auch immer man also die Variationen von Benns kulturpessimistischem Denken in den 40er Jahren bewertet: Seine Formulierungen in den Nachkriegs-Prosaschriften, noch mehr aber in den Statischen Gedichten, die erstmals 1948 erschienen, verdeutlichen die Schnittmengen mit den kulturellen und literarischen Krisendiskursen der Zeit. Die Position, die Benn ihnen hinzufügt, ist die des extrahistorischen Artisten, der die Bewegungen und Katastrophen der Geschichte über sich ergehen lässt und ihnen in einer, allerdings nur im rhetorischen Sprechgestus fiktionaler oder lyrischer Texte produzierbaren, sich ebenso abgeklärt wie souverän gerierenden Ich-Bezogenheit begegnet. Zum zweiten: Die zentralen Denkfiguren in Probleme der Lyrik bauen auf dieser Reformulierung der artistischen Position aus den ersten Nachkriegsjahren auf. Man kann das verfolgen an der Verknüpfung der Benn’schen Artistik mit der Forderung nach Internationalisierung. In Probleme der Lyrik werden wichtige Kriterien für das moderne Gedicht propagiert und zugleich mit europäisch-angloamerikanischen Traditionslinien verknüpft. Namen wie Valéry, Eliot, Mallarmé, Baudelaire, Pound, Saint-John Perse, Majakowski und Marinetti tauchen gleich zu Beginn auf und werden neben deutschen Vertretern wie George, Rilke und Hofmannsthal als Teil einer internationalen ›Bewegung‹ vorgestellt.111 Benn verfolgt dabei eine Beglaubigungsstrategie durch Namensnennung, denn die katalogartigen Kaskaden moderner Lyriker weisen zwar auf die internationale Tradition hin und tragen im literarischen System der Bundesrepublik mittelfristig dazu bei, einen Rezeptionsrahmen zu installieren, der den nationalen Horizont potentiell übersteigt. Aber dieser vermeintliche internationale Horizont beschränkt sich in Probleme der Lyrik bei genauerem Hinsehen fast ausschließlich auf das Postulat, dass Lyrik eben international sei, weil Benn sie mit den entsprechenden Verweisen versieht. Wie rücksichtslos kompilatorisch er in dem Vortrag arbeitete, ist seit langem von Reinhold Grimm nachgewiesen.112 Benn, »den man als Autorität« in Fragen der modernen Lyrik nahm, »hat das meiste, was er über die Tradition, in die er sich einordnet, vorträgt, aus zweiter oder dritter Hand. Er ist hier vollkommen eklektisch und kompilatorisch.«113 Das bedeutet keine Relativierung der literaturgeschichtlichen Wirkung von Benns Vortrag, wohl aber eine Revision der bald nicht mehr hinterfrag111 112 113

Benn, »Probleme der Lyrik«, S. 506–508. Grimm, »Die problematischen Probleme der Lyrik«. Ebd., S. 211.

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ten Annahme, Benns Rede sei der Beginn der Rezeption der internationalen modernen Lyrik. So ist es nicht, aber Benns Vortrag zeigt musterhaft, dass die selektive Rezeption bestimmter Arten, über moderne Lyrik zu sprechen, Anfang der 50er Jahre mit produktiver Rezeption verwechselt wurde. ›Projektionsfläche‹ ist der Begriff, der die Funktion von Benns Vortrag im Kontext einer Lyrikgeschichte der Nachkriegszeit besser beschreibt. Probleme der Lyrik wird zu einer solchen Projektionsfläche für verschiedenartige Annahmen darüber, was moderne Lyrik ausmache. Der angeblich europäische Horizont wird dabei auch zu einer rhetorischen Position, auf der Benn sein, wie soeben gezeigt, zentrales Konzept der Artistik wieder einführen kann. Benn schiebt sie durch die Hintertür gleichsam wieder in den Vordergrund. Die Begründung für sein Vorgehen liefert er selbst. Artistik, so Benn, sei »ein umstrittener Begriff«, weil er »in Deutschland nicht gern gehört«114 sei. Deshalb wird das Phänomen, noch bevor er seine Definition von Artistik vorstellt, als international markiert. Erst dann kann er seine Position des selbstreferentiellen und gerade deshalb zentralen Ästhetizismus in einer poetologischen Übersetzung vortragen: Artistik ist der Versuch der Kunst, innerhalb des allgemeinen Verfalls der Inhalte sich selber als Inhalt zu erleben und aus diesem Erlebnis einen neuen Stil zu bilden, es ist der Versuch gegen den allgemeinen Nihilismus der Werte einen neuen Stil zu bilden: die Transzendenz der schöpferischen Lust.115

Benns Version der modernen Lyrik ist also von zwei Schwerpunkten gekennzeichnet: Zum einen von der kulturkritischen Diagnose des allgemeinen »Verfalls der Inhalte«, zum anderen von einer Antwort auf diese Krise im Konzept der Artistik. Das theoretisch-poetologische Grundinventar, das Benn mit diesem Programm vorstellt, ist von Anfang an als Teil einer internationalen Tradition legitimiert. Zugleich kommt er damit den intellektuellen Bedürfnissen der ersten Nachkriegsjahre entgegen. Ausdruckskrise und Kulturpessimismus fanden in Benns Konzeption von Artistik, seiner Propagierung des absoluten Gedichts, das allein auf »Form, Stil und Ausdruck«116 konzentriert sei, schließlich in der Befreiung des Autorsubjekts – in Benns Terminologie des »lyrischen Ich« – von den Verpflichtungen seiner empirischen – historischen und gesellschaftlichen – Wirklichkeit ihre Erfüllung. Peter Rühmkorf hat diese historische Funktion Benns in seinem Essay Das lyrische Weltbild der Nachkriegsdeutschen aus dem Jahr 1962 früh erkannt. Er 114 115 116

Benn, »Probleme der Lyrik«, S. 509f. Ebd., S. 510. Hermann Korte, Deutschsprachige Lyrik seit 1945, 2. Aufl. Stuttgart, Weimar 2004, S. 65.

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liefert damit zugleich ein zeitnahes Dokument für die Rezeption Benns im Nachkriegsdeutschland, die geprägt ist von der Verschränkung einer allgemeinen Internationalität der modernen Lyrik mit einer ästhetizistischen Tradition. Die Lehre, die er der jungen deutschen Literatur mit auf den Weg gab, hieß: »Ästhetizismus, Isolationismus, Esoterismus« […]. Das meinte, insgesamt genommen: Abkehr von der Wirklichkeit. Hieß: Rückzug und Rückschau. Bedeutete: Kunst als eine sinnbildhaft geschlossene Enklave in einem menschlich gar nicht mehr verbindlichen Bezugsrahmen aus Ableitungswerten, Teilaspekten, Differentialdiagnosen, Funktionserhebungen und Spezialansichten, kurz: »Begriffschimären«.117

Der Anschluss an den ästhetizistischen Benn garantiert den Autoren der Nachkriegsjahre weltanschauliche Modernität bei gleichzeitiger Aus- oder wenigstens Überblendung des spezifisch deutschen Horizonts, der auf eine Auseinandersetzung mit der Katastrophe des Nationalsozialismus und des Holocaust zulief. So ist die entschieden propagierte Internationalität der Benn’schen Artistik eine Strategie für die Ausblendung des historischen Horizonts, und so wird Benns Variante des kulturpessimistischen Ästhetizismus über den Umweg von Probleme der Lyrik poetologisch wirksam.118 Wie wirkmächtig Benns monopolisierende Internationalisierung der ästhetizistischen Traditionslinie moderner Lyrik war, belegt einmal mehr Hugo Friedrichs 1956 erschienenes Buch Die Struktur der modernen Lyrik. Der von Benn betonte Anschluss an die symbolistisch-französische Tradition der internationalen Moderne wird hier akademisch sanktioniert und für eine institutionelle Verbreitung präpariert. Bereits im Vorwort zur ersten Auflage wird die Verschränkung von Internationalität und Ästhetizismus geradezu statuiert und als Ausgangspunkt für die weitere Diskussion fixiert: Die Beurteilung zeitgenössischer Lyrik begeht fast durchweg den Fehler, nur auf das jeweilige Land und auf die letzten zwanzig oder dreißig Jahre zu achten. […] Die Gründer und noch heutigen Führer der modernen Lyrik Europas sind Franzosen des 19. Jahrhunderts, nämlich Rimbaud und Mallarmé.119

So treffend Friedrichs Untersuchung eine bestimmte Traditionslinie der modernen Lyrik beschreibt: Man erkennt auch in seinen Selbsterläuterungen 117 118

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Rühmkorf, »Das lyrische Weltbild der Nachkriegsdeutschen (1962)«, S. 15–18. Vgl. Jens Dechert, »Probleme der Lyrik. Die Neubestimmung der Lyrik nach 1945«, in: Walter Delabar/Ursula Kocher (Hrsg.), Gottfried Benn (1886–1956). Studien zum Werk, Bielefeld 2007, S. 211–230. Hugo Friedrich, Die Struktur der modernen Lyrik. Von der Mitte des neunzehnten bis zur Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts, erw. Neuausg., Reinbek bei Hamburg 1985 [11956], S. 9.

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noch die Herkunft bestimmter Konzepte aus dem Diskussionshorizont des ersten Nachkriegsjahrzehnts.120 Benn war für dieses poetologische Selbstverständnis prägend. Zuletzt soll noch auf die erst unlängst wieder von Dirk von Petersdorff formulierte Beobachtung hingewiesen werden,121 dass Benns Lyrik der 50er Jahre in einem auffälligen Dissonanzverhältnis zur in Probleme der Lyrik und anderen poetologischen Programmschriften122 vertretenen Poetik einer artistischen Isolation steht. Die Texte, in denen »das lyrische Ich sich von seiner Umwelt distanziert und sowohl melancholisch als auch selbstbewußt seine Position bestimmt«,123 werden in Benns letzten drei Gedichtbänden – Fragmente (1951), Destillationen (1953) und Apréslude (1955) – von einer ganz anderen Art von Lyrik abgelöst. Wolfgang Emmerich sprach mit Blick auf diese Gedichte, in denen »man eine neue Sprechhaltung, eine veränderte lyrische Form, ein anderes Weltverhältnis erkennen«124 könne, von »ParlandoGedichten«125 – wobei auch er zugesteht, dass Benns »sowohl in seinen poetologischen Reflexionen als auch in der lyrischen Praxis« zu beobachtender Richtungswechsel »irritierend widersprüchlich« gewesen sei.126 Festzuhalten bleibt jedenfalls, dass Benn seit etwa 1950 »in geballter Form Alltagserlebnisse in die Lyrik eingespeist« hat.127 Das vormals ›entwicklungsfremde‹, aus dem Quasi-Jenseits eines »Tal[s] / darin […] sich die Schatten [sammeln]«,128 auf die Welt herabblickende lyrische Benn-Ich »hält sich in Drogerien und Restaurants auf, hört Radio, hört den Gesprächen von Wirtschaftsvertretern zu, sieht in einer Bar ›die Amis rasen‹, beobachtet erotische Annäherungen, meditiert über Konfetti, das in Sträuchern hängt«.129 Benns späte Lyrik ist 120

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Die 1969 erschienene und in einem ganz anderen Traditionshorizont angesiedelte Studie Michael Hamburgers wartet mit diversen anderen Varianten moderner Lyrik auf; vgl. Michael Hamburger, Wahrheit und Poesie. Spannungen in der modernen Lyrik von Baudelaire bis zur Gegenwart, Frankfurt am Main 1985 (The truth of poetry. Tensions in modern poetry from Baudelaire to the 1960s, London 1969). Dirk von Petersdorff, »Benn in der Bundesrepublik. Zum späten Werk«, in: Friederike Reents (Hrsg.), Gottfried Benns Modernität, Göttingen 2007, S. 24–37. Vgl. aber auch explizit Kiesel, Geschichte der literarischen Moderne, S. 424–436. Wie der Einleitung zu »(W.H. Audens Das Zeitalter der Angst)« (1951) und der »Einleitung zu: Lyrik des expressionistischen Jahrzehnts« (1955); beide in: Gottfried Benn, Essays und Reden, S. 403–412 und S. 413–424. Von Petersdorff, »Benn in der Bundesrepublik«, S. 24. Ebd. Emmerich, Gottfried Benn, S. 119. Ebd. Von Petersdorff, »Benn in der Bundesrepublik«, S. 27. Benn, Gedichte, S. 323. Von Petersdorff, »Benn in der Bundesrepublik«, S. 27.

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»stark referentiell[ ]«130 und von einem ›Realismus‹ geprägt, dessen Schauplätze, wie schon im expressionistischen Frühwerk, meist in der Großstadtwelt liegen. Ein paradigmatisches Beispiel wäre das Gedicht »Fragmente« (aus dem gleichnamigen Band),131 viele andere Texte, wie die bereits indirekt angeführten »Bar« (aus Destillationen) und »Konfetti« (gleichfalls aus Fragmente), werden bei von Petersdorff untersucht.132 Im Hintergrund dieser Gedichte steht Benns bekannte Formulierung einer »Phase II des expressionistischen Stils«,133 die immer wieder herangezogen wird, um sein Programm einer poetologischen Wandlung in Nachkriegszeiten zu kennzeichnen.134 Die Charakterisierung des »Stils der Zukunft« in Doppelleben greift die Zeitdiagnose aus dem Umfeld der Kultur-Ideologie auf, deutet sie aber affirmativ im Sinne der technischen Moderne um: Der Stil der Zukunft wird der Roboterstil sein, Montagekunst. Der bisherige Mensch ist zu Ende, Biologie, Soziologie, Familie, Theologie, alles verfallen und ausgelaugt, alles Prothesenträger.135

Aus dieser radikalen Diagnose der Verbrauchtheit aller traditionellen Wertsysteme wird eine neue Poetik der Montage abgeleitet: Der Mensch muß neu zusammengesetzt werden aus Redensarten, Sprichwörtern, sinnlosen Bezügen, aus Spitzfindigkeiten, breit basiert –: Ein Mensch in Anführungszeichen. Seine Darstellung wird in Schwung gehalten durch formale Tricks, Wiederholungen von Worten und Motiven – Einfälle werden eingeschlagen wie Nägel und daran Suiten aufgehängt. […] Jetzt werden Gedankengänge gruppiert, Geographie herangezogen, Träumereien eingesponnnen und wieder fallen gelassen. […] Alles bleibt offen. Antisynthetik. Verharren vor dem Unvereinbaren.136

Bemerkenswert ist nicht so sehr die Tatsache, dass für ein unverbundenes Nebeneinander all jener Wirklichkeitselemente plädiert wird, die sich in Benns sattsam bekannter Zeitdiagnose mit den abgenutzten Strategien der Psychologisierung oder Kausalisierung nicht mehr verbinden lassen. Wichtiger ist, dass im Gegensatz zur Poetik der Distanz aus Probleme der Lyrik, in der das artistische Ich immer weit über dem Geschehen verharrte, in dieser Darstellung des offenen Nebeneinanders wieder ein gewisser affirmativer Bezug zu den Einzelphänomenen einer komplexen modernen Realität aufscheint. Simon Karcher hat darauf hingewiesen, dass Benns »letzte[s] poe130 131 132 133 134 135 136

Ebd. Benn, Gedichte, S. 379. Ebd., S. 395 und S. 432. Benn, »Doppelleben«, S. 472. Vgl. Schärf, Der Unberührbare, S. 353–386. Benn, »Doppelleben«, S. 470. Ebd., S. 471.

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tologisches Projekt […] mit größerer Berechtigung als eine ›Phase II der Neuen Sachlichkeit‹ bezeichnet werden könnte«.137 Dirk von Petersdorff sieht die Kompositionslogik von Fragmente gar als ›programmatisch‹ – insofern nämlich »Teile und Stimmen einer Gesellschaft« präsentiert werden, »die als Ganze nicht mehr zu fassen ist«.138 Benn nimmt also in seinen späten Gedichten nicht nur die Großstadtsujets der frühen Texte wieder auf, sondern er führt in seine Poetik ein »Prinzip der Polyphonie« ein, »das einer Gesellschaft entspricht, die auf eine öffentliche Festlegung von ›Wahrheit‹ verzichtet und ein Nebeneinander von Geltungsansprüchen und Lebensformen zuläßt«.139 Damit ist auch eine gewisse Absage an die in Probleme der Lyrik propagierte Vorstellung einer monologischen Lyrik140 verbunden, die mit dem Konzept des jenseits von Welt und Geschichte angesiedelten artistischen Weisen verknüpft ist.141 Gegenüber der essayistisch und diskursiv in den 50er Jahren eminent anschlussfähigen Position einer kulturpessimistischen Artisten-Poetik vollzieht sich in Benns Lyrik dieser Zeit also eine unverkennbare Neuorientierung. Sie ist von der Relativierung vieler der im dogmatischen Gestus vorgebrachten Maximen gekennzeichnet, die Benns essayistische Selbstverlautbarungen beherrschen. Vollzogen werden »die Reduzierung der ästhetischen Autonomie, die Stärkung der Mimesis, die Abkehr vom AvantgardeModell und die Akzeptanz der differenzierten Gesellschaft«.142 Benn ist für die Transformationen der modernen deutschsprachigen Lyrik der Nachkriegszeit in dieser doppelten Funktion bedeutsam: Als ›Institution‹ markiert er die Fortschreibung kulturpessimistischer Interpretationen der Moderne, als Lyriker entwickelt er zeitgleich ein affirmatives oder zumindest integratives Verhältnis zu den vielfältigen und mit einem einzigen Erklärungsmodell nicht mehr zu fassenden Phänomenen der ›Modernisierung im Wiederaufbau‹,143 wie sie die sich ausdifferenzierende westdeutsche Gesellschaft der 50er Jahre zunehmend kennzeichnen. 137 138 139 140 141

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Karcher, Sachlichkeit und elegischer Ton, S. 125 sowie S. 127–131. Von Petersdorff, »Benn in der Bundesrepublik«, S. 31. Ebd. Benn, »Probleme der Lyrik«, S. 532. Vgl. auch Michael Ansel, »Dichtung als Wirklichkeit oder monologische Ausdruckskunst. Zu einem Rundfunkgespräch zwischen Hermann Kunisch und Gottfried Benn«, in: Zeitschrift für Germanistik N. F. 27/2007, 1, S. 79–107; aber auch Emmerich, Gottfried Benn, S. 122. Von Petersdorff, »Benn in der Bundesrepublik«, S. 31. Axel Schildt/Arnold Sywottek (Hrsg.), Modernisierung im Wiederaufbau. Die westdeutsche Gesellschaft der 50er Jahre, Bonn 1993.

Bertolt Brecht: Politische Lyrik nach 1945

4.

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Bertolt Brecht: Politische Lyrik nach 1945

Brecht ist für die deutschsprachige Lyrik nach 1945 nicht weniger wichtig als Benn, aber seine Funktion ist vielschichtiger. Wie Benn war Brecht eine ›Institution‹, aber er war es in der DDR und vorderhand als dramatischer Autor. Diese Einschätzung wirkt bis heute fort: Nicht zufällig fungiert Brecht in Helmuth Kiesels Geschichte der literarischen Moderne als Vertreter des epischen oder ›montierenden‹ Theaters, das eine von drei prominenten Manifestationen der ›reflektierten‹ Moderne um 1930 ist und dessen theatertechnische Realisierung seit den späten 40er Jahren im Mittelpunkt von Brechts Arbeit in Berlin stand.144 Der Repräsentant der Lyrik ist auch in Kiesels aktueller Bestandsaufnahme Gottfried Benn; die Position der maßgeblichen Instanz in Fragen der modernen Lyrik um 1950 wird ihm also auch heute noch zugeschrieben. Sicher wurde die Wahrnehmung des Lyrikers Brecht in der Bundesrepublik auch vom Gegeneinander der beiden deutschen Staaten in der ersten Phase des Kalten Kriegs behindert. Doch bereits Rolleston weist zu Recht darauf hin, dass mit dem 1951 erschienenen und bis 1958 fünf Mal neu aufgelegten Band Hundert Gedichte145 »fast alle seine wichtigen Gedichte vor den Buckower Elegien«146 erreichbar waren. Zudem enthielten »alle wichtigen Anthologien der fünfziger Jahre […] meistens eine große Anzahl von Brecht-Gedichten«.147 Brecht hatte also in Bezug auf die Lyrik der 50er Jahre eine Funktion, die vielleicht nicht der diskursbeherrschenden Rolle Benns gleicht, aber ihr in der Summe doch nahe kommt. Rolleston versucht denn auch, Brechts von den Benn’schen Termini verdeckte Präsenz in den poetologischen Diskussionen der 50er Jahre herauszuarbeiten. Er verweist dabei auf Günter Eichs Büchnerpreisrede von 1959,148 in der dieser seine sprachkritischen Überzeugungen – die Rolleston im Kontext der Benn’schen Poetik ansiedelt – revidiert und sich politisch positioniert: Der »Macht der gelenkten Sprache«149 könne nur durch Kritik be144 145 146

147 148

149

Vgl. Kiesel, Geschichte der literarischen Moderne, S. 299–303 und S. 356–393. Bertolt Brecht, Hundert Gedichte 1918–1950, Berlin 1951. James Rolleston, »Der Drang nach Synthese: Benn, Brecht und die Poetik der fünfziger Jahre«, in: Klaus Weissenberger (Hrsg.), Die deutsche Lyrik 1945–1975. Zwischen Botschaft und Spiel, Düsseldorf 1981, S. 78–94, hier S. 80. Ebd. Günter Eich, »Rede zur Verleihung des Georg-Büchner-Preises (1959)«, in: Ders., Vermischte Schriften, Bd. IV, Gesammelte Werke in vier Bänden, revidierte Ausgabe, Axel Vieregg (Hrsg.), Frankfurt am Main 1991, S. 615–627. Ebd., S. 615.

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gegnet werden.150 Vergleichbare Engführungen von poetologischen Positionen, die man nach ihrer Affinität zu Benn oder Brecht beschreiben könnte, entdeckt Rolleston in den Begriffen Wahrheit und Notwendigkeit. In verschiedenen Poetiken seien sie in antagonistischen Kategorienpaaren organisiert und deuteten deshalb allesamt darauf hin, dass »den Schriftstellern der fünfziger Jahre eine ›Synthese‹ zwischen Benn und Brecht […] verlockend erscheinen« musste.151 Rollestons Ansatz bestätigt vor allem eines: Die Poetiken der 50er Jahre sind wesentlich von diskursiven Positionen bestimmt, die sich immer wieder überlagern, letztlich aber gegen Ende des Jahrzehnts entscheidend verschieben. Zunächst stehe ein Gestus im Vordergrund, in dem Autoren »durch Analysen ihres eigenen Schaffensprozesses […] das Mysterium des Gedichtes zugleich zu entweihen und zu vertiefen [suchen]«;152 diesem trete dann der Anspruch an die Seite, dass »die kritische Tätigkeit sich dem unberechenbaren Rhythmus des poetischen Schaffens angleichen«153 solle: »Alle Poetik soll deskriptiv, ironisch, verantwortlich, vorläufig werden, gerecht dem Engagement wie auch dem Geheimnis gegenüber.«154 Die Synthese dieser beiden Ansätze, so Rolleston, zerbreche gegen Ende des Jahrzehnts, denn »die so fruchtbaren Spannungen der Nachkriegszeit [lösten] sich in Klarheit auf«.155 Die Positionen, die den poetologischen Diskussionsraum der 50er Jahre bestimmten, seien gegen Ende des Jahrzehnts nicht mehr nötig, da die Grundfrage, wie eine moderne Lyrik in Nachkriegszeiten aussehen solle, in eben diesem Diskussionsraum beantwortet ist. Rollestons Darstellung ist bestens geeignet, die Offenheit und den experimentellen Charakter der Poetiken der 50er Jahre herauszuarbeiten. Ob aber die Ausgangsthese, dass sich diese Poetiken in fast allen Aspekten den idealisierten Polen Benn und Brecht zuordnen ließen, tatsächlich trägt, scheint eher zweifelhaft. Die poetologischen Diskussionen, das wird im vierten Teil dieser Untersuchung zu zeigen sein, sind in sich zu komplex, als dass sie einem noch so wirkmächtigen Antagonismus untergeordnet werden könnten, in dem Brecht den Part des kritischen Engagements und Benn die Seite des kulturpessimistischen Artisten übernimmt. Dagegen spricht allein schon Benns späte Wendung zu einer stark realitätsgesättigten Lyrik.

150 151 152 153 154 155

Vgl. dazu Kapitel IV.1.1. dieser Arbeit. Rolleston, »Der Drang nach Synthese«, S. 84. Ebd., S. 93. Ebd. Ebd., S. 94. Ebd.

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Mit dieser realistischen Orientierung vollziehe sich, so die These, die Simon Karcher vertritt, »in Benns Alterswerk […] gleichzeitig eine Annäherung an die späte Lyrik Bertolt Brechts«.156 Man kann ihm darin folgen – oder die schwächere Variante dieser Auffassung vertreten, nach der sich in Brechts und Benns lyrischem Spätwerk schlicht parallele Bewegungen feststellen lassen, die vom antagonistischen Analyseraster bislang verdeckt wurden. In jedem Fall liefert Karchers Untersuchung in vielen Einzelaspekten überzeugende Ergebnisse. Auf dieser Basis kann sie Ausgangspunkt für eine Bewertung von Brechts Funktion im Horizont der deutschsprachigen Nachkriegslyrik sein, die nicht den Versuch unternimmt, eine der diskursiven Dogmatik Benns vergleichbare Position zu konstruieren. Stattdessen werden im Folgenden einige Qualitäten der Lyrik Brechts skizziert, die in den 50er Jahren als Alternativpositionen zu jenen Poetiken gesehen werden können, die im Horizont der modernen Krisendiskurse angesiedelt sind. Brechts Funktion für die Nachkriegslyrik wird in drei Schritten behandelt: Zunächst geht es darum, an einige grundsätzliche Positionen aus seiner Lyriktheorie zu erinnern, die in den 20er und 30er Jahren formuliert wurden und auch nach 1945 Gültigkeit haben; dann um eine Bestimmung von Brechts Lyrikverständnis zwischen Naturlyrik und engagierter Lyrik; und zuletzt werden Beispiele von Brechts später Lyrik betrachtet, um seine Version einer modernen politischen Lyrik zu charakterisieren. Zum ersten: Brechts berühmte Formulierung vom »Gebrauchswert«, den ein Gedicht haben müsse, steht für eine Konzeption von Lyrik, die elitärartistischen Vorstellungen diametral entgegensteht. In seinem vielzitierten Aufsatz Kurzer Bericht über 400 (vierhundert) junge Lyriker aus dem Jahr 1927 prägte Brecht diesen Begriff. Der ›Druck-Kunst‹ seiner Zeit, also dem Imund Expressionismus, spricht er die Eignung dazu ab. Man habe in dieser Epoche Gedichte hergestellt, »deren Inhalt aus hübschen Bildern und aromatischen Wörtern bestand«. Auch wenn es darunter gewisse Glückstreffer gebe, würden »solche ›rein‹ lyrischen Produkte überschätzt. Sie entfernen sich einfach zu weit von der ursprünglichen Geste der Mitteilung eines Gedankens oder einer auch für Fremde vorteilhaften Empfindung«.157 Brechts Text ist bewusst provokatorisch gehalten. Er positioniert sich gegen eine als bildungsbürgerlich verstandene Poesie, die sich durch »Senti156 157

Karcher, Sachlichkeit und elegischer Ton, S. 125. Bertolt Brecht, »Kurzer Bericht über 400 (vierhundert) junge Lyriker (1927/28)«, in: Ders., Ausgewählte Werke in sechs Bänden, Bd. 6, Schriften, Frankfurt am Main 2005, S. 49–51, hier S. 49.

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mentalität, Unechtheit und Weltfremdheit«158 auszeichnet. Allein die »Photographien großer Städte« widerlegten »diese stillen, feinen, verträumten Menschen, empfindsamer Teil einer verbrauchten Bourgeoisie, mit der ich nichts zu tun haben will!«159 Die kollektive Auffassung von Lyrik halte mit der gesellschaftlichen und technischen Modernisierung der 20er Jahre nicht Schritt, so Brechts Botschaft. Sein Gegenvorschlag, einen Song aus einem Radsportblatt zu veröffentlichen, der »eine interessierende Sache«, nämlich den »Sechstage-Champion Reggie Mac Namarra« behandle, ist ironisch-polemisch überzogen, verdeutlicht aber Brechts Auffassung von Lyrik. Sie ist, abgesehen von seinem klassenkämpferischen Impetus, radikal gegen die betonte Wirklichkeitsferne bestimmter Richtungen der modernen Lyrik der 1910er und 20er Jahre gerichtet. Brechts Lyriktheorie wird im Rahmen dieser Vorgaben formuliert. In Über reimlose Lyrik mit unregelmäßigen Rhythmen160 werden einige Hinweise zur formalen und stilistischen Gestaltung einer Lyrik gegeben, die am Konzept des ›Gebrauchswerts‹ und an den damit verbundenen Implikationen festhält.161 Der Satz, Lyrik müsse »zwar keinen regelmäßigen, aber doch einen (wechselnden, synkopierten, gestischen) Rhythmus haben«,162 konzentriert die zentrale Vorstellung. An einer Passage aus dem Leben Eduards des Zweiten von England wird erläutert, wie »Synkopen besser die widersprüchlichen Gefühle des Sprechers«163 enthüllen konnten als alle Versuche, »die Disharmonien und Interferenzen […] formal zu neutralisieren«.164 Stattdessen gehe es darum, diese »in die Vorgänge meiner Dramen und in die Verse meiner Gedichte« einzufangen.165 Brecht begründet seine Auflösung traditioneller Versformen im Drama mimetisch: »in formaler Hinsicht« solle »ein Protest gegen die Glätte und Harmonie des konventionellen Verses« installiert werden, was letztlich der Versuch sei, »die Vorgänge zwischen den Menschen als widerspruchsvolle, kampfdurchtobte, gewalttätige zu zeigen«.166

158 159 160

161

162 163 164 165 166

Ebd., S. 50. Ebd. Bertolt Brecht, »Über reimlose Lyrik mit unregelmäßigen Rhythmen (1938/39)«, in: Ders., Ausgewählte Werke in sechs Bänden, Bd. 6, Schriften, S. 288–295. Vgl. Michael Morley, »Über reimlose Lyrik mit unregelmäßigen Rhythmen«, in: Jan Knopf (Hrsg.), Brecht-Handbuch, Bd. 4, Schriften, Journale, Briefe, Stuttgart, Weimar 2003, S. 257–262. Brecht, »Über reimlose Lyrik mit unregelmäßigen Rhythmen«, S. 289. Ebd., S. 290. Ebd. Ebd. Ebd.

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Es ist nur ein kleiner Schritt von dieser theatralisch-mimetischen Begründung der Auflösung fester Versmodelle zu »Gedichte[n] ohne Reim und mit unregelmäßigem Rhythmus«.167 Deren Logik eines Sprechens, das ganz am »Gestus der sprechenden Person«168 orientiert sein soll, ist die Grundlage für Brechts freie Verse – und zwar nicht nur für ihre formale Gestaltung, sondern auch für die realistische Ausrichtung der Texte. In den Großstadtgedichten der 20er Jahre aus dem Umkreis des Lesebuchs für Städtebewohner werden »die Sprech- und Verhaltensweisen der Großstädter […] mit der Kühle eines Feldforschung betreibenden Soziologen [protokolliert]«.169 Brecht behält den Realismus dieser »sich der Dokumentation nähernde[n] Demonstration von Sprech- und Verhaltensweisen«170 zwar in seinem weiteren Schreiben nicht ungebrochen bei. Aber es herrscht doch Einigkeit darüber, dass »[v]or allem die Gedichte aus dem Exil über das Exil […] mit ihren präzisen Orts- und Zeitangaben und in ihrem teils beschreibendem, teils berichtenden Gestus auf geradezu klassische Weise realistisch [sind]«.171 Insofern kann man festhalten, dass hinter den plakativen Formulierungen vom ›Gebrauchswert‹ des Gedichts und dem ›gestischen‹ Sprechen ein Realismuskonzept steht, das für einen wichtigen Teil von Brechts Lyrik auch nach den 20er Jahren bedeutsam ist. Zum zweiten: Es ist nahe liegend, Brechts Lyrikverständnis an einem der Texte zu untersuchen, der seit den späten 40er Jahren paradigmatisch dafür stand. Es handelt sich um »Schlechte Zeit für Lyrik« aus dem Umkreis der Svendborger Gedichte:172 Ich weiß doch: nur der Glückliche Ist beliebt. Seine Stimme Hört man gern. Sein Gesicht ist schön. Der verkrüppelte Baum im Hof Zeigt auf den schlechten Boden, aber Die Vorübergehenden schimpfen ihn einen Krüppel Doch mit Recht. Die grünen Boote und die lustigen Segel des Sundes Sehe ich nicht. Von allem Sehe ich nur der Fischer rissiges Garnnetz. 167 168 169 170 171 172

Ebd. Ebd., S. 291. Lamping, Das lyrische Gedicht, S. 214. Ebd., S. 215. Ebd., S. 217. Bertolt Brecht, Ausgewählte Werke in sechs Bänden, Bd. 4, Gedichte 2. Frankfurt am Main 2005, S. 306.

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Warum rede ich nur davon Daß die vierzigjährige Häuslerin gekrümmt geht? Die Brüste der Mädchen Sind warm wie ehedem. In meinem Lied ein Reim Käme mir fast vor wie Übermut. In mir streiten sich Die Begeisterung über den blühenden Apfelbaum Und das Entsetzen über die Reden des Anstreichers. Aber nur das zweite Drängt mich zum Schreibtisch.

Der Text ist voller Ambivalenzen und geradezu von einer »widersprüchlichen Radikalität« geprägt.173 Am wichtigsten ist der vom Sprecher-Ich selbst inszenierte Gegensatz zwischen der gegenwärtigen Szenerie der frühlingshaften und lebendigen Natur – konzentriert im »blühenden Apfelbaum« und den »Brüste[n] der Mädchen« – und dem Verhältnis zu Hitler-Deutschland. Diesem Hauptgegensatz an die Seite gestellt werden Beobachtungen, die auf die sozialen Probleme im Gastland verweisen – »der Fischer rissiges Garnnetz«, die »gekrümmt geh[ende] [vierzigjährige Häuslerin]«; sie stimmen den Sprecher nachdenklich und ziehen seine Position des empathischen Beobachters in Zweifel. Daraus entwickelt sich die Frage, ob das Sprecher-Ich im Gedicht das Recht habe, dennoch die Gegenwart zu genießen – und sie entsprechend lyrisch zu thematisieren. Das bedeutet eine Stellungnahme innerhalb einer gattungspoetischen Diskussion, in der es darum geht, ob die in der traditionellen – klassisch-romantischen Lyriktradition – angelegte Vorstellung der Selbstaussprache des Einzelnen im Kontext einer Naturszenerie auch in Zeiten der nationalsozialistischen Diktatur ein Recht habe. Der Sprecher gestaltet diese Frage als inneren Widerstreit, kommt aber zu dem Schluss, dass nur das »Entsetzen über die Reden des Anstreichers«, also die politische Dimension, ihn »zum Schreibtisch« dränge. Inszeniert wird also die Frage, inwieweit ein Gedicht angesichts politischhistorischen Unrechts eine engagierte Dimension vernachlässigen und stattdessen weiterhin »die traditionellen ›Groß‹-Themen von Lyrik: Liebe, Natur, Stimmung«174 thematisieren dürfe.175 Die Antwort ist, dass Lyrik vor einem solchen historischen Kontext »einzig nur noch dadurch [zu rechtfertigen ist],

173

174 175

Jan Knopf, »Schlechte Zeit für Lyrik«, in: Ders. (Hrsg.), Brecht-Handbuch, Bd. 2, Gedichte, Stuttgart, Weimar 2001, S. 322–325, hier S. 323. Ebd., S. 324. Vgl. Hiebel, Das Spektrum der modernen Poesie, Bd. 1, 1900–1945, S. 289–297.

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dass sie sich diesem Selbstwiderspruch stellt und ihre Negation einplant«.176 Der Text thematisiert Gegenstände, die angesichts der dunklen Gegenwart eigentlich nicht mehr thematisiert werden dürften. Eben damit liefert er auch eine »theoretische Reflexion über die traditionellen sowie zeitgemäßen Möglichkeiten und Inhalte von Lyrik«.177 In Bezug auf den Diskussionshorizont der Nachkriegsjahre bedeutet das zweierlei. Brecht liefert eine verallgemeinerbare poetologische Reflexion über die Bedingungen und Möglichkeiten der Gattung in Zeiten der historischen Katastrophe. Das Gedicht dürfe sich der Geschichte nicht entziehen, sondern müsse zumindest die Bedingungen seiner Entstehung thematisieren. In Bezug auf die von Adorno angestoßene Debatte um die Möglichkeiten einer Lyrik nach Auschwitz178 ist das eine von Brecht 1939 nicht intendierte, aber angesichts der Rezeptionsbedingungen des Texts nach 1945 unvermeidliche Implikation. Zum anderen bezieht das Gedicht im engeren Kontext der nach 1945 verfügbaren Spielarten von Lyrik eindeutig Stellung gegen eine Naturlyrik, die an ihren poetologischen Axiomen aus der Gründungsphase um 1930 festhält – die also der prinzipiellen Erkennbarkeit anthropologischer oder gar metaphysischer Grundgegebenheiten menschlichen Daseins durch die Zeichen der Natur auch nach 1945 weiter einen Ort im Zentrum ihrer Poetik zugesteht. Brechts Position ist mit Vehemenz gegen die Perpetuierung der naturlyrischen Poetik gerichtet. Zum dritten: In Brechts später Lyrik gibt es viele Beispiele für ideologisch engagierte Gedichte. Karcher untersucht unter anderem das Aufbaulied der F.D.J.179 aus dem Jahr 1948 und die Kinderlieder von 1952.180 All diese Texte wiesen »hinsichtlich ihrer dichterischen Qualität große Unterschiede auf, einige sind extrem missraten; inhaltlich sind sie in unterschiedlichem Maß von dem Anliegen durchdrungen, ideologisch-erzieherische Aufbauarbeit für die nachwachsende Generation zu leisten.«181 Ein ganz anders gelagertes Beispiel für Brechts politische Lyrik in Nachkriegszeiten ist »Die Lösung« aus den Buckower Elegien.182 Der topisch gewordene Bezug auf die Schlusspointe verdeckt, dass Brecht keineswegs eine Kritik an der SED-Führung 176 177 178

179 180

181 182

Knopf, »Schlechte Zeit für Lyrik«, S. 324. Ebd. Vgl. Lyrik nach Auschwitz? Adorno und die Dichter, Petra Kiedaisch (Hrsg.), Stuttgart 1995. Brecht, Gedichte 2, S. 395f. Brecht, Ausgewählte Werke in sechs Bänden, Bd. 3, Gedichte 1, Frankfurt am Main 2005, S. 393–397. Karcher, Sachlichkeit und elegischer Ton, S. 98. Brecht, Gedichte 1, S. 404.

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oder gar am Staat DDR äußert, sondern lediglich die Aktion des »Sekretär[s] des Schriftstellerverbands« Kurt Bartel verurteilt.183 Nach dem Aufstand des 17. Juni Ließ der Sekretär des Schriftstellerverbands In der Stalinallee Flugblätter verteilen Auf denen zu lesen war, daß das Volk Das Vertrauen der Regierung verscherzt habe Und es nur durch verdoppelte Arbeit Zurückerobern könne. Wäre es da Nicht doch einfacher, die Regierung Löste das Volk auf und Wählte ein anderes?

Brechts Auffassung des Aufstandes war eindeutig: Er war der Meinung, es handle sich nicht um eine »Volkserhebung, sondern eine Revolte von Provokateuren im Dienst des Westens«,184 und er teilte die Befürchtungen, dass dahinter »die Aktivitäten der faschistischen Kräfte im eigenen Teilstaat und in der Bundesrepublik« stünden.185 Die Ängste vor der fortdauernden Präsenz des Nationalsozialismus bestimmen auch andere Texte der Buckower Elegien, vor allem »Der Einarmige im Gehölz« oder »Vor acht Jahren«.186 An diesen Texten zeigt sich deutlicher als an der im Gesamtkontext der Buckower Elegien eher singulären »Lösung« ein charakteristischer Zug von Brechts später Poetik: Die Verknüpfung von zutiefst privaten Reflexionen187 mit einem politisch-gesellschaftlichen Horizont, in dem sich der reflektierende Einzelne mit all seinen Zweifeln an der eigenen Position zu verorten versucht. Das schließt nicht aus, dass in konzentrierten Miniaturen die Idylle, in der die meisten der Reflexionen des Sprechers räumlich situiert sind, mit ihrer ganz eigenen kulturalen Semantik thematisiert wird – so in »Der Blumengarten«, »Rudern, Gespräche«, »Der Rauch« oder »Heißer Tag«.188 Anlage und Pflege des Blumengartens, das besonnene Rudern der jungen Män183

184 185

186

187

188

Vgl. Lamping, »Wir leben in einer politischen Welt«, S. 48. Vgl. auch Hiebel, Das Spektrum der modernen Poesie, Bd. 1, 1900–1945, S. 298–300. Ebd. Jörg Wilhelm Joost, »Buckower Elegien«, in: Jan Knopf (Hrsg.), Brecht-Handbuch, Bd. 2, Gedichte. Stuttgart, Weimar 2001, S. 439–453, hier S. 444. Brecht, Gedichte 1, S. 406 bzw. S. 408. Vgl. Hiebel, Das Spektrum der modernen Poesie, Bd. 1, 1900–1945, S. 302f. Vgl. zur Selbstreflexion in Brechts späten Gedichten: Werner Frick »›Ich, Bertolt Brecht …‹ Stationen einer poetischen Selbstinszenierung«, in: Helmut Koopmann (Hrsg.), Brechts Lyrik – neue Deutungen, Würzburg 1999, S. 9–47, bes. S. 42–47. Brecht, Gedichte 1, S. 401 bzw. S. 402.

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ner, vor allem aber die durch Parallelen, Chiasmen und Konstellationen der Spiegelbildlichkeit aufs äußerste verknappte Reflexion über die zivilisatorische Bedeutung des Hauses am See189 – all das sind Beispiele für ein Nachdenken über die kulturelle Leistung, von der die Idylle geprägt ist und »die sich aus Planung und Ausführung zusammensetzt«.190 Das Rollen-Ich des Dichters berührt aber auch »den Zusammenhang von Privileg und Verpflichtung, die sich aus der Nutzung ergibt«.191 Eine Reflexion über dessen Entfremdungszustände findet sich in »Böser Morgen«.192 Die Silberpappel, eine ortsbekannte Schönheit Heut eine alte Vettel. Der See eine Lache Abwaschwasser, nicht rühren! Die Fuchsien unter dem Löwenmaul billig und eitel. Warum? Heut nacht im Traum sah ich Finger, auf mich deutend Wie auf einen Aussätzigen. Sie waren zerarbeitet und Sie waren gebrochen. Unwissende! Schrie ich Schuldbewußt.

Das Sprecher-Ich nimmt die Natur beim Erwachen als hässlich und deformiert wahr, und der Grund dafür ist der Alptraum, der sich »vor das Naturbild«193 schiebt und eine »veränderte Selbsterfahrung kenntlich« macht.194 Das Ich fühlt sich im Traum von den Arbeitern angeklagt, gegenüber deren »zerarbeitet[en] und / […] gebrochen[en]« Fingern es sich als »Aussätzigen« empfindet. Die Möglichkeit der Kommunikation zwischen dem nunmehr als Dichter erkennbaren Ich und den Arbeitenden ist unterbrochen; an ihrer Unwissenheit ist das Ich mitschuldig, weil es sich nicht mehr mitzuteilen vermag – diese Paradoxie konzentriert sich in den Schlussversen. »Böser Morgen« liefert also, vergleichbar »Schlechte Zeit für Lyrik«, eine Reflexion über die Legitimation der »ästhetischen Existenz des Dichters«.195 Zugleich will das Gedicht »diesen Zustand revidieren, der den Privilegierten zum Außenseiter der Gesellschaft bestimmt«,196 und versteht sich als »emphatisch gerichtete Apostrophe an den Leser [als] Rechtfertigung und Selbstbehaup189 190 191 192 193 194 195 196

Vgl. Hiebel, Das Spektrum der modernen Poesie, Bd. 1, 1900–1945, S. 304–306. Joost, »Buckower Elegien«, S. 445. Ebd. Brecht, Gedichte 1, S. 404f. Joost, »Buckower Elegien«, S. 446. Ebd. Ebd., S. 447. Ebd.

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tung zugleich«.197 Der Text steht damit exemplarisch für die spezifische Verknüpfung der privaten und der politischen Dimension in Brechts später Lyrik. Diese aus der Kontinuität der realistischen ›Gebrauchslyrik‹ der 20er Jahre und der poetologischen Reflexionen der Exillyrik entwickelte Vorstellung einer Poesie, in der Privates und Politisches verschränkt werden und letztlich konvergieren, wodurch auch die Natur zum politischen Reflexionsraum werden kann, ist Brechts Beitrag zur Poetik der 50er Jahre. Er schafft damit eine moderne politische Lyrik, die nicht im Gestus engagierter Literatur auftritt, sondern in der Konzentration auf Privates immer wieder reflexiv eine politisch-gesellschaftliche Dimension aufspannt. Sie nimmt im Spektrum der Nachkriegsmoderne eine wichtige Position ein und ist mithin geeignet, einen engen Begriff von politischer Lyrik zu revidieren.198 Neben den anfänglichen Impulsen der ›Trümmerlyrik‹, vor allem aber neben den Poetiken naturlyrischer Herkunft und neben der ›Institution‹ Benn, sind Brechts späte Gedichte, in denen immer wieder das Politische im Privaten gespiegelt wird, einer der Ausgangspunkte für die Transformationen der deutschsprachigen Lyrik zwischen 1945 und 1960.

197 198

Ebd. Für eine solche Revision vgl. Dieter Lamping, »Bundesrepublik Deutschland / Von 1945 bis zur Wiedervereinigung«, in: Walter Hinderer (Hrsg.), Geschichte der politischen Lyrik in Deutschland, Würzburg 2007, S. 327–362, bes. S. 328f.; sowie Ders., »Wir leben in einer politischen Welt«. Vgl. auch Kapitel IV.5. dieser Arbeit.

Transformationen

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IV. Transformationen

Moderne nach 1945 kann nicht als ein bereits fixiertes ästhetisches Programm oder gar als Epochenzusammenhang verstanden werden, sondern eher als ein Konzept, das in mannigfachen Diskussionen des kulturellen und literarischen Lebens neu ausgehandelt und erschlossen wird. Im zweiten Teil dieser Untersuchung wurde dargestellt, wie in den Europa- und Abendland-Diskursen nach 1945 solche Konzeptionen von Moderne neu austariert wurden, um von da aus in literarische Debatten transferiert zu werden. Die Auffassungen von dem, was Lyrik als Gattung ästhetisch zu leisten vermag und unter welchen Bedingungen man von ›moderner‹ Lyrik sprechen kann, standen in enger Verbindung mit diesen allgemeinen Signaturen eines kollektiven kulturellen Selbstverständnisses um 1950. Entsprechend wurden im dritten Teil die gattungsinternen Koordinaten der Entwicklung einer Lyrik nach dem Krieg skizziert: Auf welchen Traditionsbeständen konnte eine deutschsprachige Lyrik nach 1945 aufbauen, die mit dem Anspruch einer unumgänglich notwendigen Modernisierung auftrat und die zugleich mit dem schwierigen Komplex einer Vorgeschichte konfrontiert war, die von der Diktatur über den Krieg zur Zivilisationskatastrophe des Holocaust geführt hatte – und die sich dazu ins Verhältnis zu setzen hatte? Die entscheidende Traditionslinie in diesem Feld war die Naturlyrik. Ihre poetologischen Grundlinien bewegten sich bereits in den Anfängen zwischen Positionen der Kritik und solchen einer restaurativen Revision der Moderne. Somit war sie bestens als Projektionsfeld für Poetiken der Modernisierung geeignet, die zugleich die negativen Konnotationen aus den Moderne-Diskursen der frühen Nachkriegsjahre internalisiert hatten. Versuche, in Poetiken der Reduktion – wie sie als Trümmerlyrik und Kahlschlag für einige Jahre kursierten – den naturmagischen Poetiken eine Variante radikaler Modernisierung an die Seite zu stellen, waren in ihren ästhetischen Möglichkeiten schnell erschöpft. Als umso anschlussfähiger erwies sich die kulturpessimistisch getönte Lyrik Gottfried Benns, der zugleich einer der letzten überlebenden Vertreter des Expressionismus und der klassischen Moderne war. Seine poetologischen Positionierungen und seine Lyrik waren wichtige Medien der Übersetzung des abendländischen Krisendenkens in die Nachkriegsdiskussionen über die Probleme der – modernen – Lyrik. Wie Benn stand auch Brecht in Opposition zur naturlyrischen Ästhetik, setzte ihr aber in seinen Gedichten, mit denen er bis in die späten 50er Jahre weniger Wirkung entfaltete als Benn, eine Reflexion über die

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politisch-gesellschaftlichen Bedingungen von Lyrik entgegen. Auch wenn der Benn’sche Relativismus, gepaart mit einer restaurativen Montage-Lyrik, sich in den 50er Jahren größerer Beliebtheit erfreute, war Brechts Lyrik doch ein ästhetischer Gegenentwurf, der dann auch folgerichtig bei jüngeren Autoren, am sichtbarsten bei Enzensberger, seine Wirkung entfaltete. So wie die kulturellen Krisendiskurse offenbar eine Möglichkeit waren, die Nachkriegssituation mit ihrer zunehmend verdrängten und verschwiegenen Vorgeschichte zumindest mittelbar zu thematisieren, so war im Bereich der Lyrik die Sprachkrise das diskursive Feld, auf dem die Gegenläufigkeiten von Restauration und Modernisierung ausgetragen werden konnten. Nach 1945 war dieses Bewusstsein eines Bruchs zwischen Sprache und Wirklichkeit am ehesten in der Reflexion der Trümmerlyrik über die materielle Reduktion des Subjekts sichtbar. Parallel wurden die Versuche fortgeführt, Natur als universelles Zeichensystem für das Verständnis einer zunehmend fremden Wirklichkeit einzusetzen. Zugleich wurden aber in den Diskussionen der Nachkriegsjahre die Grundlagen der modernen Poetiken, die Wirklichkeits- und Sprachkrise, die man als Kennzeichen der ersten Phase der modernen Lyrik verstehen kann, aktualisiert und mit der Nachkriegssituation verknüpft. Symptom dafür ist unter anderem die erneute Popularität Gottfried Benns. Sein historisch unkonkreter, kultur- und zivilisationskritisch getönter Moderne-Diskurs ist geeignet, die Katastrophe von Diktatur, Krieg und Holocaust zumindest auf einer abstrakten Ebene zu kontextualisieren. Brechts politische Lyrik spielt, obwohl sie auch in Westdeutschland über die 1951 erstmals veröffentlichten Hundert Gedichte1 präsent ist, in den poetologischen Diskussionen der ersten Nachkriegsjahre eine weniger wichtige Rolle. Die Naturlyriker der jüngeren Generation hingegen diagnostizieren die Kriegskatastrophe und versuchen sie zum Teil in Kriegsgedichten zu verarbeiten, schlagen jedoch dann einen Weg der langsamen Modifikation der Naturlyrik im Sinne moderner Poetiken ein. Bei Krolow äußert sich das in der Adaptation moderner Formexperimente, bei Eich in der zunehmenden Thematisierung der Sprachkrise, bei Huchel in einer elaborierten Chiffrierung, die eine Kombination politischer, poetologischer und mythischer Elemente erlaubt. Eich und Huchel waren also diejenigen, die die Sprachkrise poetologisch diskursiviert und dann auch thematisch in ihre Lyrik integriert haben. Krolow hingegen ging eher den Weg der formalen Erneuerung. Von allen Lyrikern der 50er Jahre ließen sich seine Texte am ehesten mit dem Paradigma der Internationalisierung beschreiben – wobei freilich der Bezug auf interna1

Bertolt Brecht, Hundert Gedichte 1918–1950, Berlin 1951.

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tionale Literatur bei Krolow eingeschränkt blieb auf die symbolistisch-surrealistische Traditionslinie moderner Lyrik. Und trotz dieser Unterschiede bleibt festzuhalten, dass alle drei Varianten einer Restauration der Moderne bereits Revisionen der Naturlyrik waren, die sich noch auf dem Boden der poetologischen Entwürfe aus der Zeit um 1930 bewegten und die diskursiven Bedingungen der Nachkriegszeit zwar implizit aufnahmen, aber nicht explizit integrierten. Das beginnt erst mit Ingeborg Bachmanns radikal gegen jede sprachkritische Tradition gesetztem Anspruch, gerade aus dem Bewusstsein einer für die Anforderungen der Gegenwart unzureichenden Sprache eine ›neue‹, utopische Sprache zu schaffen, den sie in den beiden Gedichtbänden Die gestundete Zeit (1953) und Anrufung des großen Bären (1956) in verschiedenen Ansätzen verfolgte und dann 1960/1961 in der Vorlesungsreihe Probleme zeitgenössischer Dichtung poetologisch formulierte. Paul Celan geht mit seiner Lyrik, die seit der erstmals 1945 erschienenen »Todesfuge« vom Anliegen bestimmt ist, eine lyrische Sprache nach dem Holocaust zu entwickeln, in eine ähnliche Richtung wie Bachmann. Seine in der zweiten Hälfte der 50er Jahre entwickelte Poetik der ›graueren‹ Sprache verfolgt den wahrscheinlich aporetischen Anspruch, im lyrischen Sprechen die Grenzen der sprachlichen Möglichkeiten zu überschreiten und eine sprachlich nicht fassbare Dimension der ›Wirklichkeit‹ präsent machen. So esoterisch dieses Programm in der zusammenfassenden Verkürzung anmuten mag: Auch Celan reiht sich damit in die Gruppe der Lyriker ein, die das Problem einer sprachkritischen Moderne poetologisch reflektieren – allerdings ist sein Weg der einer radikalen Überschreitung aller sprachlichen Bedingtheiten der Lyrik, was zuerst am Band Sprachgitter (1959) deutlich wird. Erst bei Rühmkorf und Enzensberger kann der Abschied von den Poetiken der sprachkritischen Moderne beobachtet werden. Es ist kein Zufall, dass für beide die Aufarbeitung der lyrischen Tradition Ausgangspunkt des eigenen Schreibens ist. Während Rühmkorf aber in parodistischer Umschreibung im Wesentlichen die deutsche Lyrikgeschichte nach Ansatzpunkten für eine produktive Erneuerung untersucht, waltet Enzensberger seit seinen ersten Gedichtbänden souverän im von ihm selbst am nachdrücklichsten vermittelten »Museum der modernen Poesie« – also im Traditionsraum, der von der modernen Lyrik aufgespannt wird. Dieser wird nach den Diskussionen und Selbstverständigungen, die die Zeit seit 1945 beherrscht haben, um 1960 endgültig für die deutschsprachige Lyrik verfügbar. Damit kommt die Phase der diskursiven Annäherung an die Moderne an ihr Ende und es beginnt ein Abschnitt der institutionalisierten Rezeption. Günter Eich und Peter Huchel, Karl Krolow, Ingeborg Bachmann, Paul Celan, Peter Rühmkorf und schließlich Hans Magnus Enzensberger: Die Re-

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konstruktion exemplarischer Transformationspoetiken ausgewählter Autoren bildet den Hauptteil dieser Untersuchung. Sie werden als Varianten einer immer wieder poetologisch diskutierten und in der Lyrik neu zu erschreibenden Nachkriegsmoderne gelesen.

1.

Günter Eich und Peter Huchel: Die sprachkritische Aktualisierung der Naturlyrik

Günter Eich und Peter Huchel sind bereits in ihren Anfängen um 1930 Vertreter einer konservativen Variante der modernen Lyrik, und diese Ausrichtung setzt sich in den Nachkriegsjahren fort. Die Axiome der Avantgardisten lehnen sie ab und schreiben die vor allem von Lehmann und Loerke vertretenen naturlyrischen Poetiken fort. In Avantgarde-Ästhetiken zeigt sich die radikale Veränderung der Lebenswirklichkeit in der thematischen Verarbeitung vielstimmig-chaotischer Großstadtwelten, die oftmals in radikal verstandener Mimesis als Auflösung und Fragmentierung bisheriger Ordnungsstrukturen thematisiert und formal in entsprechende Montagepoetiken übersetzt wird.2 Eich und Huchel (und mit ihnen andere Lyriker aus dem Umkreis der Kolonne) begegnen dieser Fragmentierung und Destabilisierung ihrer zusehends von einem ›modernen‹ Lebensgefühl geprägten Gegenwart mit dem Rückzug auf die Natur: Sie gilt als Raum überhistorischer und existentieller Wahrheiten und wird in entsprechend traditionellen lyrischen Formen und sprachlichen Figurationen behandelt. Auch wenn Diktatur und Holocaust erst nach und nach ins Bewusstsein der Autoren rücken: Die unmittelbaren Erfahrungen des Kriegs und der frühen Nachkriegsjahre finden durchaus in der Lyrik und, mit zeitlicher Verzögerung, auch in poetologischen Überlegungen beider Autoren einen gewissen Niederschlag. Dennoch kann man weder bei Eich noch bei Huchel grundlegende ästhetische Neuansätze verzeichnen. Ihre Lyrik ist geprägt von langsamer Evolution auf der Basis der bereits in Vorkriegszeiten entwickelten naturlyrischen Poetiken. Standen diese in den frühen 30er Jahren im Dienst einer konservativen Abwehr von als zu radikal empfundenen Ansätzen einer avantgardistischen Moderne,3 so werden sie nun zum Vehikel einer 2

3

Vgl. Helmuth Kiesel, Geschichte der literarischen Moderne. Sprache, Ästhetik, Dichtung im zwanzigsten Jahrhundert, München 2004, S. 299–463. Zumindest im Fall Eichs führt Vieregg diese Haltung auf einen grundsätzlichen Antimodernismus zurück. Vgl. Axel Vieregg, »›Mein Raum und meine Zeit‹: Antimodernismus und Idylle beim frühen Günter Eich«, in: Ders. (Hrsg.), »Unsere

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moderaten Modernisierung. Die Erkenntnis, grundsätzlich auf historische Veränderungen reagieren zu müssen, führt in beiden Fällen zu einer sukzessiven Transformation der naturlyrischen Poetiken. Vor allem in Texten der unmittelbaren Nachkriegszeit, in der Reaktion auf Kriegsende, Zerstörung und Zusammenbruch, gelingen Eich und Huchel einige bemerkenswerte Texte, in denen das Moment des Zweifels an den eigenen sprachlichen Möglichkeiten bereits deutlich aufscheint. In den späten 40er und in den 50er Jahren werden dann diese sprachskeptischen Ansätze weiter thematisiert und diskursiv erkundet. Das geschieht über die Integration der sprachkritischen Tradition der literarischen Moderne, die ihrerseits Überschneidungen mit den kulturellen Krisendiskursen der späten 40er Jahre aufweist. Insofern steht die nach Hermann Korte »schon vor 1950 bei Huchel und Eich beobachtete Tendenz zur pessimistischen Perspektive«4 auch im Diskussionszusammenhang der Nachkriegsmoderne. Korte resümiert diese Entwicklung als grundsätzliche Irritation über die »Universalchiffre ›Natur‹«,5 die zur Transformation und Unterwanderung des von der Lehmann-Schule vertretenen Sinnstiftungsanspruchs der Naturlyrik führt. Bei beiden Lyrikern ist dieser Prozess »vom zunehmenden Misstrauen gegen die Möglichkeiten der eigenen Sprache begleitet«.6 Je intensiver die Reflexion über die historische Katastrophe, desto deutlicher werde die Wahrnehmung, dass »Formeln und Bilder nicht über die Unbegreiflichkeit des Vergangenen hinwegtäuschen können und jede bündige Interpretation der Zeitgeschichte im ästhetischen Arrangement von Vers, Rhythmus und Reim – mit Adornos Worten – ›Geschwätz‹ zu werden droht […]«, »umso dunkler und pessimistischer wird das Naturbild, bis es am Ende nur noch ein fragmentarisches Zeichen antiquierten lyrischen Sprechens selber ist«.7 Diese von Korte so skeptisch beurteilte Transformation des Naturkonzepts kann im Fall Eichs und Huchels auch als durchaus ambitionierter Versuch begriffen werden, poetologische Denkfiguren der Moderne in die eigene Lyrik zu integrieren, ohne die naturlyrisch grundierte Poetik vollständig aufzugeben. Dieter Lamping hält fest, dass diese Phase der modernen deutschen Lyrik »weniger durch kühne Innovationen als durch behutsame, zum

4

5 6 7

Sünden sind Maulwürfe«. Die Günter-Eich-Debatte, Amsterdam, Atlanta, GA 1996, S. 3–27. Hermann Korte, Deutschsprachige Lyrik seit 1945, 2. Aufl. Stuttgart, Weimar 2004, S. 38. Ebd., S. 33f. Ebd., S. 39. Ebd.

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Teil skrupulöse Modifikationen und Synthesen gekennzeichnet«8 sei. Es sind genau diese »skrupulöse[n] Modifikationen und Synthesen«, die man in den Blick nehmen muss, um Eichs und Huchels Umweg zur Moderne würdigen zu können: als den Versuch, eine im Ursprung modernitätsskeptische Poetik nach der Kontamination durch historische und politische Katastrophenerfahrungen wieder mit den gedanklichen Grundlagen der modernen Lyrik zu verknüpfen. Es ist gerade die intensive Infragestellung naturlyrischer Poetiken, die dann die Grundlagen liefert, auf denen Ingeborg Bachmann und Paul Celan ihre Varianten von Weiterführung und Überwindung der sprachkritischen Tradition gestalten können. 1.1

Günter Eich: Moderate Modernisierung und Sprachskepsis

Betrachtet man die eher spärlichen poetologischen Äußerungen Günter Eichs zwischen 1930 und 1960, dann fallen trotz wichtiger Verschiebungen die Kontinuitäten ins Auge. Die strukturellen Ähnlichkeiten in Eichs Positionierungen aus den Jahren 1930, 1947, 1956 und 1959 lassen sich nicht übersehen, auch wenn sie beileibe nicht identisch sind. Krieg, Gefangenschaft und Nachkriegswirklichkeit lösen wichtige Reflexionen aus, aber zugleich bleiben zentrale Grundpositionen bestehen. Während Eich um 1930 noch den Primat einer ganz auf die Erfahrungen des Subjekts konzentrierten Lyrik hervorhebt, betrachtet er bereits in den ersten Nachkriegsjahren den »Rückzug vor der Gegenwart« als den »Mangel unserer Lyrik«.9 Aber bei aller Öffnung der ästhetizistisch-unpolitischen Poetik der frühen 30er Jahre nach 1945 wird Eich doch nie zum engagierten Autor. Nachdrücklich vertritt er seit Kriegsende das Konzept einer Literatur, die gegenüber den gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen wach und auf kritische Widerständigkeit angelegt sein soll. Aber seine Aufmerksamkeit gilt nach wie vor unhistorischen, von gesellschaftlicher Aktualität nur marginal berührten, ontologischen Konstanten menschlichen Lebens – die nun allerdings im Kontext einer modernen Lebenswirklichkeit gesehen werden. »Eich interessieren nicht so sehr die politisch-ökonomischen Voraussetzungen des Lebens, als vielmehr die existentielle Fragestellung.«10 Mit Axel Vieregg lässt sich hinzu8

9

10

Dieter Lamping, Das lyrische Gedicht. Definitionen zu Theorie und Geschichte der Gattung, 3. Aufl. Göttingen 2000, S. 231. Günter Eich, »Neue Versbücher III (1949)«, in: Ders., Vermischte Schriften, Bd. IV, Gesammelte Werke in vier Bänden, revidierte Ausgabe, Axel Vieregg (Hrsg.), Frankfurt am Main 1991, S. 590f. Ree Post-Adams, Art. »Günter Eich« (Stand 1. 3. 2006), in: Kritisches Lexikon zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur – KLG.

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fügen, dass Eichs Selbstverständnis seit den frühen 1930er Jahren und über die in aktiver Assimilation verbrachten Jahre des Nationalsozialismus hinweg von einer dezidierten Haltung des Antimodernismus geprägt ist.11 Folgt man der von Carsten Dutt und Dirk von Petersdorff vorgeschlagenen »Neuorientierung« der Eich-Forschung,12 so kann man Eichs schrittweise Assimilation modernistischer Denkfiguren vor dem Hintergrund solcher Kontinuitäten verfolgen. Kern von Eichs Interpretation der modernen Sprachkrise seit den späten 40er Jahren ist die zunehmende Skepsis gegenüber einer Wirklichkeit, die auch durch nach wie vor sichtbare Naturzeichen sprachlich immer weniger erschlossen werden kann. Vor allem deshalb ist Eich einer der Autoren, deren Entwicklung als Beispiel für die Modernisierung in der Kontinuität der Naturlyrik gelten kann. Worte und Begriffe werden in »Inventur« noch eingesetzt, um die wenigen Objekte zu kennzeichnen, die in der apokalyptischen Gefangenenwirklichkeit im Besitz des Einzelnen verblieben sind. Wenige Jahre später thematisiert Eich das Versagen der Sprache als Medium der Annäherung an die Wirklichkeit. Auf dieser Ebene sprachskeptischer Reflexion über die Möglichkeiten literarischer, vor allem aber lyrischer Texte, spielt sich Eichs Anverwandlung der Moderne ab. Eichs Selbstkommentare seit Beginn der 30er Jahre beleuchten diese Assimilation modernistischer Denkfiguren. Um die Differenz zwischen dem politischen Anspruch von Eichs Literaturbegriff und seiner produktiven Reflexion der Sprachkrise der Moderne zu verdeutlichen, stehen zunächst diese Selbstkommentare im Vordergrund der Betrachtung.13 Im Anschluss daran wird seine produktive Assimilation der Moderne auf der Basis naturlyrischer Poetiken in ausgewählten Gedichten exemplarisch verfolgt. 11

12

13

Vgl. Axel Vieregg, »›Mein Raum und meine Zeit‹: Antimodernismus und Idylle beim frühen Günter Eich«; sowie grundsätzlich die von Vieregg dokumentierte Diskussion um Günter Eichs Verschweigen und Relativieren seiner Position während des Nationalsozialismus in Axel Vieregg (Hrsg.), »Unsere Sünden sind Maulwürfe«. Die Günter-Eich-Debatte, Amsterdam, Atlanta, GA 1996. Vgl. auch Glenn R. Cuomo, Career at the cost of compromise: Günter Eich’s life and work in the years 1933–1945, Amsterdam u. a. 1989 und Axel Vieregg, Der eigenen Fehlbarkeit begegnet. Günter Eichs Realitäten 1933–1945, Eggingen 1993. Carsten Dutt/Dirk von Petersdorff, »Der frühe und der späte Eich. Kontinuitäten in der Werkgeschichte?«, in: Dies. (Hrsg.), Günter Eichs Metamorphosen. Marbacher Symposium aus Anlass des 100. Geburtstages am 1. Februar 2007, Heidelberg 2009, S. 9–24, hier S. 7. Für eine ausführliche Lektüre der poetologischen Schriften vgl. Larry L. Richardson, Committed Aestheticism. The Poetic Theory and Practice of Günther Eich, Bern, Frankfurt am Main, New York 1983.

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1930 erklärt Eich in einer in der Kolonne abgedruckten Selbstbeschreibung seinen Glauben an den absoluten Vorrang des künstlerischen Subjekts vor allen externen Motivationen. Für ihn gebe es keinerlei »[…] Verantwortung vor der Zeit […]«; verantwortlich sei er vielmehr »[n]ur vor mir selber«.14 Diese hochgradig subjektivistische Position wird gattungsimmanent begründet. »Ich bin zunächst Lyriker und alles, was ich schreibe, sind mehr oder minder ›innere Dialoge‹.«15 Die Lyrik ist, entsprechend ihrer gattungseigenen Qualitäten, dasjenige Genre, in dem der Dichter mit sich selbst dialogisiert, in dem er, unabhängig und losgelöst von gesellschaftlichen und historischen Bedingtheiten, nur sich selbst verantwortlich ist. Diese Position – gerichtet gegen jede Form einer gegenwartsbezogenen Lyrik, die Zeitströmungen registriert oder gar motivisch oder ästhetisch verarbeitet – wird in den »Bemerkungen über Lyrik«16 von 1932 konkretisiert. Der Artikel war eine Entgegnung auf einen Aufsatz Bernhard Diebolds, in dem dieser den ›neuen‹ Lyrikern – hauptsächlich der Kolonne – vorwirft, ihre Wahrnehmung der Wirklichkeit sei ebenso wenig zeitgemäß wie ihre Sprache. Anstatt ein mehr als hundert Jahre altes Inventar von Motiven mit klassisch-romantischem Vokabular abzuhandeln, müsse man sich der neuen, gegenwärtigen, modernen Realität zuwenden und zu deren Beschreibung auf neue Formen der Umgangssprache zurückgreifen.17 Günter Eich verwahrt sich in seiner, ebenso wie Diebolds Aufsatz, in der Kolonne gedruckten Antwort gegen die Forderung, Lyrik bestimmten historischen Erkenntnissen und Phänomenen nach- oder unterzuordnen. Gedichte seien stattdessen Phänomene, die »selbst Material sind für Erkenntnisse und Begriffsbildungen«.18 »[D]as Wesentliche einer Zeit« könne nicht in »ihre[n] äußere[n] Erscheinungsformen, Flugzeug und Dynamo«,19 fixiert werden. Vielmehr gehe es um »die Veränderung, die der Mensch durch sie erfährt«.20 Diese sei aber weder im Bekenntnis zu neuen Denkrichtungen noch zu neuen Vokabeln lyrisch imitierbar, und vor allem gehe sie den Lyriker gar nichts an. Denn der Lyriker habe sich aufgrund der Eigentümlichkeiten des Genres, in dem er schreibe, in keiner Weise für die Außenwelt zu interessieren:

14 15 16

17 18 19 20

Günter Eich, »Innere Dialoge (1930)«, in: Ders., Vermischte Schriften, S. 457. Ebd. Günter Eich, »Bemerkungen über Lyrik. Eine Antwort an Bernhard Diebold (1932)«, in: Ders., Vermischte Schriften, S. 458–461. Vgl. ebd., S. 458. Ebd. Ebd. Ebd.

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Der Lyriker entscheidet sich für nichts, ihn interessiert nur sein Ich, er schafft keine Du- und Er-Welt wie der Epiker und der Dramatiker, für ihn existiert nur das gemeinschaftslose, vereinzelte Ich. Und gerade weil er sich für nichts entscheidet, fängt er die Zeit als Ganzes in sich auf und läßt sie im ungetrübten Spiegel seines Ichs wieder sichtbar werden. Denn die Wandlungen des Ichs sind das Wesentliche einer Zeit.21

Hier wird nicht nur begründet, warum den Lyriker die gesellschaftlichen und historischen Probleme seiner Zeit nichts angehen, sondern auch seine Überlegenheit gegenüber den Vertretern anderer Genres als eine Art geistiges Barometer für Zeitstimmungen konstatiert. Weil sich die Essenz einer Zeit, so Eichs Diktum, ungetrübt nur in den »Wandlungen des Ichs«22 niederschlage, könne überhaupt nur der ich-bezogene und gattungskonform positiv egozentrische Lyriker gültige, nicht fragmentarisch selektive Aussagen über das Wesen einer Zeit machen. Diese auf den Autor ausgedehnte normative Gattungsaxiomatik beruht auf dem klassisch-romantischen Gattungsparadigma von der Lyrik als dem genuin subjektiven Genre.23 Auf ihrer Grundlage sind auch Eichs Schlussfolgerungen bezüglich der sprachlichen Gestaltung des Gedichts nachvollziehbar. Da »[d]ie Wandlungen des Ichs […] das Problem des Lyrikers« sind, müsse der fast notgedrungen »im allgemeinen Vokabeln vermeide[n], die ein zeitgebundenes, also ihn nicht direkt interessierendes Problem in sich schließen«.24 Eich ist sogar der Meinung, der Lyriker müsse eher ›alte‹ Vokabeln gebrauchen, weil die »problemlos geworden«, also vom möglichen aktuellen Sprachgebrauch dekontextualisiert und damit der Gegenwart so fern seien, dass sie »ihre neue Bedeutung erst durch das Ich gewinnen«25 könnten. Aus diesem Grund seien Wörter wie ›Baum‹ oder ›Mond‹ im Gegensatz zu ›Dynamo‹ und ›Telefonkabel‹ für den Lyriker so anziehend: Sie seien »ohne ›zeitliche‹ Beziehung und Bedeutung, nur […] Deutungsmöglichkeit des Ichs, d. h. in einem ebenso unverbindlichen Sinn, wie der Lyriker Baum oder Mond sagt, die ihn als Baum oder Mond gar nicht interessieren.«26 Kurz gesagt: Günter Eich präsentiert in seiner Vorkriegspoetik einen nahezu ungebrochenen Glauben an das Vermögen der Lyrik, Wesen und Charakteristik 21 22 23

24

25 26

Ebd., S. 459. Ebd. Vgl. dazu Dieter Lamping, »Lyrikanalyse«, in: Thomas Anz (Hrsg.), Handbuch Literaturwissenschaft. Gegenstände – Konzepte – Institutionen, Bd. 2: Methoden und Theorien, Stuttgart, Weimar 2007, S. 139–155, bes. S. 139–141. Eich, »Bemerkungen über Lyrik. Eine Antwort an Bernhard Diebold (1932)«, S. 459. Ebd. Ebd.

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einer bestimmten Zeit im Spiegel des Dichter-Ichs ontologisch zu dechiffrieren. Die unmittelbaren Nachkriegserfahrungen von Gefangenschaft und Lagerhaft waren für die Entwicklung von Eichs Lyrik und seine poetologische Positionierung wichtig. Gleichwohl setzt die Zäsur schon viel früher ein: Zwischen 1935 und 1945 schrieb Eich keine Gedichte – wohl in den Zeitumständen und dem individuellem Unvermögen begründet, ästhetisch auf die Kriegserlebnisse zu reagieren. Eich verweist darauf im kurzen, vermutlich 1946 oder 1947 »als Einleitung zu einer Lesung entstandenen« ›Lebenslauf‹,27 offenbar der erste andeutungsweise Selbstkommentar nach dem Krieg. Die vorzutragenden Gedichte seien entstanden, »nachdem mir zehn Jahre lang kein Vers beschieden war, im Gefangenenlager und später«.28 Sie hätten »nicht die Absicht, den Leser oder Hörer in eine schönere Welt zu versetzen, sie bemühen sich um Objektivität«.29 Bei aller Trockenheit dieses kurzen Kommentars zu den seit 1945 entstandenen Texten ist die Kontinuität zu den Positionen aus den ersten Kolonne-Jahren greifbar. War damals der ambitionierte Anspruch, das Wesen einer Zeit im absolut zeitunabhängigen Gedicht eines, was Wahrnehmungen und deren sprachliche Verarbeitung angeht, vollständig autarken Lyriker-Ichs zu erfassen, so deutet sich nun eine intensivere Auseinandersetzung mit der kruden geschichtlichen Wirklichkeit an. Zunächst ist das die Wirklichkeit des Prisoner of War Günter Eich in Camp 16 (in der Nähe von Remagen am Rhein), die 1946 endete. Nach wie vor steckt im Begriff der Objektivität allerdings der Anspruch, über die nur realistische Mimesis einer aktuellen Wirklichkeit hinauszugehen. Im folgenden Jahr reflektiert Eich bereits intensiv über die Möglichkeiten der Lyrik nach dem Krieg. Im Aufsatz »Der Schriftsteller 1947«, der in der Probenummer der nie realisierten Zeitschrift Skorpion30 hätte erscheinen sollen (die bekanntlich die unmittelbare Vorstufe zur Gruppe 47 war), versucht Eich, die Verschiebung der Stellung des Schriftstellers angesichts der Veränderungen der Moderne zu beschreiben.31 War es 1932 noch zweifelsfrei 27

28 29 30

31

Vgl. Günter Eich, »Ein Lebenslauf (1946/47?)«, in: Ders., Vermischte Schriften, S. 464; Zitat aus dem Kommentar, ebd., S. 649. Ebd., S. 464. Ebd., S. 464f. Der Skorpion [1948, nicht erschienen], repr. Göttingen 1991. Reprint des Jg. 1/1948, H. 1, München. Mit einer Dokumentation zur Geschichte des »Skorpions« und einem Nachwort zur Geschichte der Gruppe 47 von Heinz Ludwig Arnold. Göttingen 1991. Hier zitiert nach Günter Eich, »Der Schriftsteller 1947 (1947)«, in: Ders., Vermischte Schriften, S. 468–470.

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möglich, dem Charakter der Lyrik »die Absichtslosigkeit eines Naturphänomens«32 zuzuschreiben und dieses Ziel gerade mit dem Vehikel einer ›zeitlosen‹, klassisch-romantischen Sprache zu erreichen, dann – so Eichs neue Position – widersteht die Sprache nach dem Krieg solchen Versuchen. Der Lyriker ist nun gezwungen, seine Position zu ändern. Eich nennt diese Schriftsteller-Figur »mit ironischem Ernst«33 Rönne. Das ist eine gewagte Allusion. Offenbar sollte damit die sprach- und bewusstseinskritische Radikalität des Benn’schen Rönne in Konfrontation mit der Nachkriegsnot redimensioniert werden: »Die sich sonst im Weltall bewegenden Gedanken sind seit langem auf die Erde zurückgekehrt«;34 und Rönnes Reflexionen sind nicht mehr vom Ich-Zerfall, sondern von Lebensmittelkarten sowie der Sorge um Heizkohlen und Kartoffeln beherrscht. Dieser Nachkriegs-Rönne wird nun herangezogen, um Eichs Vorkriegspositionen ein Stück weit zu revidieren. Er erkennt beispielsweise, dass es kaum mehr möglich ist, zum Mond hinaufzublinzeln und »in schwelgerische Gefühle« zu versinken oder den Wald »mit den Augen Stifters oder Eichendorffs zu sehen«.35 Denn die Sprache ist angesichts der historischen Veränderungen widerspenstig geworden und kann sich offenbar, auch wenn die Vokabeln noch so essentialistisch sind, bestimmten Kontexten, die sie evoziert, nicht mehr entziehen. »Der Stoff ist widerspenstig. Wie ärgerlich, daß die Sprache letzten Endes doch immer wieder Gedanken ausdrückt.«36 Eich legt Wert darauf, dass dieser »Vorgang der Verwandlung« »nicht genau nach dem zweiten Weltkrieg begonnen [hat], sondern schon länger an[dauert]«.37 Nur das Tempo habe sich nach dem Krieg beschleunigt, und deshalb müsse man nun, so Eich, ganz unvermeidlich akzeptieren, dass »[d]ie Verkapselung in die private Sphäre […] undicht«38 werde. Wie schon andeutungsweise im Objektivitäts-Diktum aus dem ›Lebenslauf‹, macht sich auch hier der Versuch bemerkbar, den grundsätzlichen Anspruch der Lyrik, zum Wesen der Dinge vorzustoßen, nicht vollends aufzugeben: »Da Schreiben ein Akt der Erkenntnis ist, ist die Situation des Schriftstellers die eines vorgeschobenen Postens.« Geändert werden muss allerdings die Strategie. Die Beschränkung auf den nur subjektiven Bereich des Ich verspricht keinen Erfolg mehr. Der Autor muss sich dem »schneidend kalten Wind der unentrinnbaren Wirklichkeit« stellen, 32 33 34 35 36 37 38

Eich, »Bemerkungen über Lyrik«, S. 461. Eich, »Der Schriftsteller 1947«, S. 468. Ebd. Ebd. Ebd., S. 469. Ebd. Ebd.

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seine Aufgabe habe sich »vom Ästhetischen zum Politischen gewandelt« und das bedeute, »alles, was er schreibt, sollte fern sein jeder unverbindlichen Dekoration, fern aller Verschönerung des Daseins«.39 Der Schriftsteller sei nunmehr zur Wahrheit gezwungen. Die Konsequenz dieser Ästhetik ist eine Abkehr vom Inventar der Naturlyrik als Vehikel zum Ausdruck ›grundlegender‹ Wahrheiten. Eich exemplifiziert dies, indem er das Ende der Isolation des klassisch-romantisch empfindenden, in der Welterkenntnis essentialistisch gestimmten Subjekts in ein Bild postatomaren Ausgesetzt-Seins kleidet: »Die Atomkraft zertrümmert die starken Mauern, die sich die Seele errichtet hat; durch die Breschen pfeift der schneidend kalte Wind der unentrinnbaren Wirklichkeit.«40 Bescheidener ausgedrückt: Das Sammeln von Reisig und Zapfen kann zum Stoff des Gedichts werden, »nicht weil es poetisch ist, sondern weil es keine Kohlen gibt«; ebenso können »Aufforsten und Abholzung, statistische Zahlen und eine Ziffer im Haushaltsplan […] bedeutender sein als die subtilen Gefühle, die der Spaziergänger beim Einatmen des Tannenduftes hat«.41 Trotz allem mag es noch Schönheit geben – aber Wahrheit, verstanden als authentische Reaktion auf die Probleme der eigenen Zeit, ist nun kardinale Voraussetzung des Schreibens. »Der Zwang zur Wahrheit, das ist die Situation des Schriftstellers.«42 In weiteren Aufsätzen aus den unmittelbaren Nachkriegsjahren vertieft Eich diese neue Position. Im zweiteiligen Beitrag »Die heutige Situation der Lyrik«43 wird zunächst ausführlich die traditionelle Lyrikauffassung kritisiert, »das Gedicht diene dazu, das alltägliche Dasein vergessen zu machen, die Seele aus der rauhen Wirklichkeit in das luftige Reich der Phantasie zu erheben […].«44 Dann wird erläutert, warum »das zeitlich Nächste, was sich an Lyrik durchgesetzt hat, George und Rilke […], als Vorbild und Maßstab« für eine zeitgenössische Lyrik ebenso wie für eine zeitgemäße Lyrikkonzeption nicht tauge, sondern dass vielmehr beide »ein Verhängnis«45 seien. Eich sieht in ihnen »Repräsentanten der bürgerlichen Epoche«,46 deren ästhetische Konzeption schon seit dem Ersten Weltkrieg historisch nicht mehr möglich 39 40 41 42 43

44 45 46

Ebd. Ebd. Ebd., S. 470. Ebd. Günter Eich, »Die heutige Situation der Lyrik I, II«, in: Ders., Vermischte Schriften, S. 471–475, S. 476–478. Ebd., S. 472. Ebd., S. 473. Ebd.

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sei. Immerhin sei an Lyrikern wie Loerke, Lehmann oder Benn, dem »lesende[n] und beurteilende[n] Publikum«47 der Gegenwart leider weitgehend unbekannt, eine schrittweise Veränderung der Lyrik zu beobachten – sichtbar bei Benn etwa in der »Auflösung des Satzes«,48 bei allen jüngeren Lyrikern in der »Erweiterung des Wortschatzes«.49 Denn: »Das deutsche Gedicht unserer Tage ist mitten in dieser Eroberung der Wirklichkeit begriffen.«50 Der Rest des Aufsatzes befasst sich damit, den Gegenentwurf zur 1932 vertretenen Position der unbedingten Exklusion bestimmter moderner Vokabeln auszuführen. Vehement wird die frühere Überzeugung dementiert: »Die Meinung, gewisse Vokabeln gehörten nicht in Gedichte, ist sehr charakteristisch für eine verflossene Art von Lyrik.«51 Eich geht es auch hier darum, die kollektive, auch durch die Rezeption Georges und Rilkes als ›moderne‹ Lyriker eher gefestigte Überzeugung, das Gedicht diene vor allem subjektiver Introspektion und bewege sich deshalb thematisch in einem »ihm von der Konvention zugewiesenen Gebiet, das einem Naturschutzpark ähnlich war«,52 zu erschüttern und für eine Lyrik zu werben, die »der Wirklichkeit der Zeit« nicht mehr ›hinterher hinkt‹, sondern diesen Abstand zu vermindern versucht, um ihre »Legitimation im kulturellen Bereich«53 wiederherzustellen. Zu geschehen habe das vor allem durch die Assimilation des Wortschatzes der modernen, vor allem der technischen, Lebenswirklichkeit in die Sprache der Gedichte, denn beim Lesen der ›heutigen‹ Lyrik habe man den Eindruck, sie »sei im vorigen Jahrhundert geblieben und die Wirklichkeit der Maschine, des Flugzeugs und der Atombombe existiere für sie nicht«.54 Das poetologische Programm Günter Eichs in den frühen Nachkriegsjahren, nach dem er nicht nur seine eigene lyrische Produktion ausrichtet, sondern auch zeitgenössische Lyriker beurteilt, ist ein Programm vorsichtiger Revision: Nach der Erschütterung durch den Krieg erfährt die antiavantgardistische Position eine Korrektur – mit dem Ziel, die im kulturellen und literarischen Leben nicht mehr haltbare Position einer subjektivistischen Lyrik durch moderate Assimilation der Moderne zu verteidigen oder erneut zu reklamieren. In einer Serie von Sammelrezensionen, die zumeist unter dem Titel »Neue Versbücher« in den Jahren 1948 und 1949 erschienen, klingt die 47 48 49 50 51 52 53 54

Ebd. Ebd. Ebd. Ebd., S. 474. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd., S. 476.

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Überzeugung, die Gegenwartslyrik verweigere sich der Wirklichkeit, immer wieder durch.55 Zugleich aber wird auch ein gewisser Widerspruch zu der so radikal vertretenen Modernisierungsposition deutlich. Der »Rückzug vor der Gegenwart« sei »im Ganzen gesehen der Mangel unserer Lyrik«,56 bemerkt er einmal, ein andermal kritisiert er »abgestandene Besinnlichkeit und einen Gefühlsqualm, der eher aus der warmen Sofaecke eines Biedermeierzimmers zu stammen scheint«.57 Freilich verrät die Fixierung auf die Vokabularfrage vor allem etwas über die kollektive Verfasstheit des Lyrik lesenden Publikums der unmittelbaren Nachkriegsjahre und dabei implizit auch wieder über den Autor Eich. Bei aller Polemik gegen romantisierende Subjektivismen genügte ja ein Bezug auf die radikale Avantgarde der 10er und 20er Jahre, um die programmatische Notwendigkeit einer sprachlichen Öffnung zu fundieren. Diese Referenz auf die einstmals bekämpften ästhetischen Widersacher wird aber vermieden. Stattdessen formuliert Eich Kriterien einer moderaten Modernisierung, wobei Krieg und Nachkriegserfahrung paradoxerweise zunächst einmal dazu führen, dass die ja auch um 1930 schon halbwegs sichtbare moderne Alltagswirklichkeit anerkannt werden soll: Wie merkwürdig, daß der Mensch Bahnhöfe und Krankenhäuser, Wartesäle, Traktoren und Omnibusse als selbstverständlich hinnimmt und benutzt […], aber andrerseits sehr verwundert wäre, wenn eines dieser selbstverständlichen Requisiten des heutigen Lebens ihm in einem Gedicht begegnete!58

Natürlich geht es in seinen eigenen Gedichten für eine kurze Phase auch um die Behandlung der Nachkriegswirklichkeit im Gefangenenlager. Die daraus abgeleitete poetologische Erneuerung durch Öffnung des Gedichts zur modernen Großstadtwirklichkeit allerdings steht zur Atombombenrhetorik in einem eigentümlich disproportionalen Verhältnis. Gleichzeitig verrät Eich Unschlüssigkeit in der Beurteilung der Naturlyrik. Loerke und Lehmann sind in seiner Darstellung zu Unrecht wenig berücksichtigte zeitgenössische Lyriker; bei den Angriffen auf das beschränkte Vokabular der Gegenwartslyrik spielen sie eine nachgeordnete Rolle. Die Forderung nach dem »Schritt in die Bereiche des Zivilisatorischen«59 scheint sich nicht auf sie zu beziehen, ganz im Gegenteil stehen sie grundsätzlich für 55

56 57 58 59

Günter Eich, »Neue Gedichtbücher (1947)«; »Neue Versbücher I (1948)«; »Neue Versbücher II (1948)«, »Neue Versbücher III (1949)«, in: Ders., Vermischte Schriften, S. 580f.; S. 585–591. Ebd., S. 591. Ebd., S. 590. Eich, »Die heutige Situation der Lyrik II«, S. 476. Eich, »Die heutige Situation der Lyrik I«, S. 474.

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die Lebendigkeit und hohe Qualität der deutschen Literatur. In einer Erwiderung auf (von Manuel Gasser und Gottfried Bermann Fischer erhobene) Vorwürfe, drei Jahre nach dem Krieg müsse man konstatieren, dass in Deutschland nichts von Belang publiziert werde, erklärt Eich ganz explizit, »daß wir in einer großen Zeit der deutschen Lyrik leben«.60 Er gesteht zu, »daß die lyrische Entwicklung in Deutschland einen eigenen Weg gegangen« sei, der sich vom französischen Surrealismus unterscheide, beharrt aber darauf, dass die »Eigenart dieser Entwicklung […] kein Resultat der geistigen Isolation« sei, sondern »ihre Wurzel in dem lyrisch so bedeutenden Expressionismus« habe – der »durch Namen wie Heym, Loerke, Benn, Lehmann bezeichnet ist«.61 Die Naturlyriker werden in einem Atemzug mit den Expressionisten genannt. Obwohl die Forderung, moderne Lebenswelten sprachlich zu thematisieren, genau das vermuten ließe, scheint das Erneuerungsprogramm nicht gegen sie gerichtet zu sein. Offenbar ist die Naturlyrik für Eich Teil des eigenen Wegs der »lyrischen Entwicklung in Deutschland«. Dazu passt, dass Eich selbst in »Die heutige Situation der Lyrik« die Naturmotive nicht gänzlich verurteilen mag. Gewiß, auch der Wald und der Mond sind da und die Kraft dieser leisen und zarten Dinge ist groß. Ein Gedicht an eine Linde kann mehr von unserer Zeit aussagen als eine Hymne auf das elektrische Licht. Es wäre ja töricht zu glauben, mit dem Vokabular der Zivilisation allein entstünden schon gute Gedichte.62

Als Summe leicht widersprüchlicher Aussagen setzt sich also eine gemäßigte Zwischenposition durch, die Eichs eigenen, moderaten Versuchen der Modernisierung aus der Tradition der Naturlyrik heraus eher gerecht wird als die mehrfach wiederholte Forderung, möglichst zügig die Grundvokabeln der zivilisatorischen Moderne nachzuholen. Symptomatisch für diese in den unmittelbaren Nachkriegsjahren rhetorisch progressiv auftretende, tatsächlich aber nur partielle Aufarbeitung der Moderne bei Eich sind auch die Auslassungen. Der Krieg erscheint ausschließlich in den unmittelbaren, auf persönliches Erleben zurückgehenden Reflexen der Gefangenengedichte, die durch seine Gestaltung dann zu Recht eine mehrfache Repräsentativität gewinnen. Der Krieg selbst wird nicht behandelt, ebenso wenig thematisiert Eich die Jahre der Diktatur; und wie für die meisten seiner Zeitgenossen ist der Holocaust für ihn eine große Leerstelle. Auch an Eich bestätigt sich, dass die deutsche Lyrik der Nachkriegs60

61 62

Günter Eich, »Wo bleibt die deutsche Literatur? (1948)«, in: Ders., Vermischte Schriften, S. 478–480. Alles ebd., S. 479. Eich, »Die heutige Situation der Lyrik II«, S. 476.

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zeit, trotz mancher Diskussion über die Möglichkeit einer Lyrik nach Auschwitz, viel stärker vom kollektiven Klima und von den Ideen der späten 40er und der 50er Jahre bestimmt war. Es geht, auch bei einem Autor wie Eich, der sehr bald nach dem Krieg seinen allgemeinen Aufruf zur grundsätzlich gebotenen Systemskepsis formuliert,63 um den Anschluss an die politischen und ästhetischen Tendenzen der Gegenwart – nicht um das spezifisch deutsche Problem der Aufarbeitung oder zumindest einer angemessenen öffentlichen Diskussion von Nationalsozialismus und Holocaust. Auch die Formulierung der eigenen ›modernen‹ Poetik, die seit dem Ende der 40er Jahre folgt, verbleibt solchen Ansprüchen gegenüber im Allgemeinen. Vereinfachend könnte man sagen, Eich versucht seiner Forderung der sprachlichen Öffnung nachzukommen, tut das bis zu einem gewissen Grad und entdeckt dann, dass auch dadurch – wie um 1930 schon und nun in differenzierterer Form erneut oder eigentlich: immer noch – die jenseits der Sprache angesiedelte Wirklichkeit nicht verständlicher, sondern sogar gegenüber den sprachlichen Fassungsversuchen immer flüchtiger wird. Die zunehmende Sprachskepsis ist denn auch das Motiv, das in Eichs Poetik der 50er Jahre bedeutsam wird und seitdem sein Schreiben bestimmt. Formuliert wird sie bereits 1953 in der »Rede vor den Kriegsblinden«, ihre meistzitierte Ausführung findet sich dann drei Jahre später in »Der Schriftsteller vor der Realität«. Es ist dabei zweitrangig, ob Eich sich über die Gattung des Hörspiels äußert, die er in den 50er Jahren so wesentlich mitbestimmte, oder unmittelbar über Lyrik; denn Themen, Motive und Stil der Hörspiele sind denen der Lyrik aufs engste verwandt. Ree Post-Adams weist darauf hin, dass die Figuren der Hörspiele in der Regel Erleidende sind und dass die »Auseinandersetzung des einzelnen mit sich selbst in Form von inneren Monologen, Selbstgesprächen, Träumen, Phantasien«64 erfolgt. Auch die Hörspiele versuchen, existentielle Grundkonstanten des menschlichen Daseins – wie »persönliche Erlebnisse mit der Natur und dem Tod«65 – abzubilden und die Versuche des Einzelnen, eine Ahnung von Transzendenz hinter der Wirklichkeit der sichtbaren Oberfläche der Dinge oder Handlungen sprachlich zu erfassen. Gegenüber der Konzentriertheit eines Gedichttexts allerdings erhöht in den Hörspielen der Zwang zum plot die themati63

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»Tut das Unnütze, singt die Lieder, die man aus Eurem Mund nicht erwartet! / Seid unbequem, seid Sand, nicht das Öl im Getriebe der Welt.« Günter Eich, »Träume (1950/1953/1960)«, in: Ders., Die Hörspiele 1, Karl Karst (Hrsg.), Bd. II, Gesammelte Werke in vier Bänden, revidierte Ausgabe, Axel Vieregg (Hrsg.), Frankfurt am Main 1991, S. 349–380, hier S. 384. Vgl. Ree Post-Adams, Art. »Günter Eich«, S. 7. Ebd.

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schen Bezüge auf gesellschaftliche Realitäten und somit auch der möglichen Kritik daran. Trotzdem trifft die Aussage, die in der »Rede vor den Kriegsblinden« ausdrücklich die Poetik des Hörspiels erläutert, in vollem Umfang auch auf die Lyrik zu: Wir bedienen uns des Wortes, des Satzes, der Sprache. Jedes Wort bewahrt einen Abglanz des magischen Zustandes, wo es mit dem gemeinten Gegenstand eins ist, wo es mit der Schöpfung identisch ist. Aus dieser Sprache, dieser nie gehörten und unhörbaren, können wir gleichsam immer nur übersetzen, recht und schlecht und jedenfalls nie vollkommen, auch wo uns die Übersetzung gelungen erscheint. Daß wir die Aufgabe haben zu übersetzen, das ist das eigentlich Entscheidende des Schreibens, es ist zugleich das, was uns das Schreiben erschwert und vielleicht bisweilen unmöglich macht.66

Die religiösen Anklänge sind gewollt und in der Rede vorbereitet. Nach Eich nähert »alles Geschriebene sich der Theologie«67 insofern, als der Dichter mit seinen sprachlichen Annäherungen an die Wirklichkeit letztlich versuche, einen utopischen Zustand des Einklangs von Wort und Sache erinnernd zu evozieren. Nach der programmatischen Erneuerungskampagne in den späten 40er Jahren bezeichnet dieses Bekenntnis eine Rückkehr zur den nie aufgegebenen essentialistischen Grundzielen von Eichs Poetik. Die Sprache der Dichtung versucht, eine nie gehörte, vollkommene Ursprache in die menschlich-geschichtliche Wirklichkeit zu übertragen. Präzisiert und problematisiert wird diese Überzeugung in Eichs meistzitiertem Poetik-Text, »Der Schriftsteller vor der Realität«.68 Eigentlich handelt es sich dabei nur um eine Konkretisierung der früher formulierten Position in zwei Punkten: in Bezug auf ›Wirklichkeit‹ und auf ›Zeit‹. Wenn bislang relativ unbedarft von ›der Wirklichkeit‹ die Rede war als einer Dimension, von der man, wenn auch vage, wisse, wie es sich mit ihr verhalte, was sie sei und wie man sie identifizieren könne, dann radikalisiert Eich in der Vezelay-Rede seine Position. Gleich zu Beginn erklärt er ausdrücklich, dass er nicht wisse, was Wirklichkeit sei. Philosophisch gesehen ist das keine besonders einfallsreiche Verschärfung, aber für Eich selbst bedeutet sie einen Schritt hin zur kognitiven Radikalskepsis, die man bereits in den Grundschriften der Moderne findet. Im Gegensatz allerdings zur überwältigenden Evidenz außer- und vorsprachlicher Sinneswahrnehmungen, die

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Günter Eich, »Rede vor den Kriegsblinden (1953)«, in: Ders., Vermischte Schriften, S. 609–612, hier S. 612. Ebd., S. 611. Günter Eich, »Der Schriftsteller vor der Realität (1956)«, in: Ders., Vermischte Schriften, S. 613f.

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etwa in Hofmannsthals Brief des Lord Chandos69 erläutert wird, erweitert Eich die Variablen. Die Wirklichkeit ist in keiner Weise verbindlich fassbar, auf die Wahrnehmung der Sinne ist kein Verlass, noch weniger auf die kognitive Verarbeitung der wahrgenommenen Informationen, die nur eine schwer überprüfbare Interpretation darstelle. Die Wirklichkeit ist nicht einmal in Umrissen fixiert und wird durch die Sprache erst konstruiert – und das geschieht zudem unter Voraussetzungen, die allesamt so unsicher sind, dass sie bereits im nächsten Augenblick problemlos durch andere ersetzt werden können. Diese absolute Unsicherheitsqualität der Wirklichkeit wird verstärkt durch den zweiten Aspekt der Zeit. Eich ist überzeugt, dass die Zeit eine Dimension ist, die die Wahrnehmung der Wirklichkeit weiter verfälscht; eine Sache in einem Augenblick zu sagen, so Eich, die dann »sogleich der Vergangenheit angehört, finde ich absurd«.70 Die hier keineswegs präzisierte Vorstellung, dass die Zeit eine perspektivische Verengung der Wirklichkeitswahrnehmung nach sich ziehe, wird im Hörspiel Sabeth ausgeführt, wohlweislich im relativierenden Modus der Figurenrede durch den Schulleiter Woturba, der zusammen mit der Lehrerin die Existenz Sabeths untersucht. Der übergroße Vogel Sabeth, der auftaucht und rätselhaft wieder verschwindet, wird folgendermaßen beschrieben: woturba Er existierte so, daß es war, als ob er nicht existierte. Ich glaube, daß er in einer Welt lebte, in der die unsre als Teil enthalten ist. Deshalb ist er uns unerklärlich, deshalb erreichen ihn weder wir noch unsere Apparate. Haben wir nicht eine Ahnung davon in dem Rätselhaften und Schrecklichen, was wir Zeit nennen? Das ist der Rest, der sich in unserm Raum nicht einordnen läßt. Für Sabeth gab es keine Zeit in unserm Sinne. Er lebte darin wie wir im Raum. Er lebte in der Ewigkeit.71

Die Zeit ist ein Indiz für rational nicht mehr fassbare Wirklichkeitsdimensionen. Sie potenziert die Schwierigkeit, sich sprachlich in der Wirklichkeit zu orientieren, denn es gibt keinen Anhaltspunkt, nur eine Ansammlung von unverständlichen Variablen, deren Relation unklar ist. Die Situation des Einzelnen ist, und damit ist man wieder im Kontext von »Der Schriftsteller vor der Realität«, vergleichbar der eines »taubstumm Blinde[n]«.72 Nur das Gedicht ist ein Mittel, sich in der Wirklichkeit zu orientieren. Dafür prägt Eich das berühmte Bild der Boje:

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Hugo von Hofmannsthal, »Ein Brief (1902)«, in: Ders., Erzählungen, Erfundene Gespräche und Briefe. Reisen. / Gesammelte Werke, Frankfurt am Main 1979, S. 461–472. Eich, »Der Schriftsteller von der Realität«, S. 613. Günter Eich, »Sabeth (1951)«, in: Ders., Die Hörspiele 1, S. 439–473, hier S. 470. Eich, »Der Schriftsteller vor der Realität«, S. 613.

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Ich schreibe Gedichte, um mich in der Wirklichkeit zu orientieren. Ich betrachte sie als trigonometrische Punkte oder als Bojen, die in einer unbekannten Fläche den Kurs markieren. / Erst durch das Schreiben erlangen für mich die Dinge Wirklichkeit. Sie ist nicht meine Voraussetzung, sondern mein Ziel. Ich muß sie erst herstellen. / Ich bin Schriftsteller, das ist nicht nur ein Beruf, sondern die Entscheidung, die Welt als Sprache zu sehen. Als die eigentliche Sprache erscheint mir die, in der das Wort und das Ding zusammenfallen. Aus dieser Sprache, die sich rings um uns befindet, gilt es zu übersetzen. Wir übersetzen, ohne den Urtext zu haben. Die gelungenste Übersetzung kommt ihm am nächsten und erreicht den höchsten Grad von Wirklichkeit.73

In diesen paar Zeilen sind die Ergebnisse von Eichs poetologischen Selbsterkundungen nach 1945 zusammengefasst. Schreiben ist die Herstellung von Wirklichkeit, die zugleich Orientierung in einem ansonsten hochgradig variablen und unbekannten Raum erzeugt. Den Gesamtraum der Wirklichkeit sieht Eich als einen gar nicht oder bestenfalls in Fragmenten zugänglichen Urtext, an den man sich nur mit den begrenzten Mitteln der menschlichen Sprache annähern kann. Nicht erst in der Büchnerpreisrede von 1959 wird diese sehr grundsätzliche Position um einen politischen und gesellschaftskritischen Aspekt erweitert. Resultat ist die eigentümliche ästhetisch-poetologische Position, die Richardson als »committed aestheticism« bezeichnet.74 Die wirkmächtige Aufforderung zur immer wachen Kritik – »[s]eid unbequem, seid Sand, nicht das Öl im Getriebe der Welt«75 – stammt aus dem 1951 erstmals gesendeten Hörspiel Träume. Allerdings wird die politische Wendung, die Eich seiner sprachskeptischen Poetik gibt, in der Preisrede am eindeutigsten vollzogen. Der »Macht der gelenkten Sprache«76 könne nur durch Kritik begegnet werden; und Kritik sei von Natur aus der Sprache der Dichtung zu eigen, »die wie die Schöpfung selber einen Teil von Nichts mit sich führt, in einem unerforschten Gebiet die erste Topographie versucht«.77 Alle Eigenschaften der Sprache der Dichtung sind nach Eich der Sprachlenkung entgegengesetzt: ihre ›Kraft‹, ihre ›Erkenntnismöglichkeiten‹, ihre ›Exaktheit‹ und ihre Tendenz, all diese Qualitäten »in Figuren auszusprechen«, die »Fragen aus-

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Ebd. Richardsons gesamte Studie dient dem Nachweis dieser auf sprachlicher Erkenntnisfähigkeit und Kritik beruhenden Intensivierung ästhetizistischer Denkformen. Vgl. Richardson, Committed Aestheticism, z. B. S. 201–203. Siehe Anm. 63. Günter Eich, »Rede zur Verleihung des Georg-Büchner-Preises (1959)«, in: Ders., Vermischte Schriften, S. 615–627, hier S. 615. Ebd., S. 619.

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sprechen oder Fragen darstellen«.78 Aus solchen Voraussetzungen erwächst ein grundsätzliches Potential für die Widerständigkeit von Sprache, das die Sprache gegen alle Versuche immunisiert, sie durch die Macht zu beeinflussen. Diesen nicht engagierten, aber fundamental macht- und autoritätskritischen Charakter von Literatur – Vieregg bezeichnet ihn mit Odo Marquard als »für seine Generation typischen ›nachgeholten Widerstand‹«79 – entwickelt Eich unmittelbar aus seiner sprachskeptischen Poetik der Moderne der 40er und 50er Jahre. Innerhalb dieses nachgeholten Moderne-Programms betont Eich dann in den 60er Jahren immer mehr die Notwendigkeit subversiver Kritik durch Literatur, die gerade durch ihre alogischen Qualitäten genährt wird. Insgesamt aber verändern sich die Koordinaten von Eichs Poetik nach 1959 kaum mehr. Die 1968 entstandenen »Thesen zur Lyrik« fassen noch einmal alle Qualitäten der zwischen 1946 und 1959 erarbeiteten Poetik zusammen und wehren sich im Übrigen gegen eine Fixierung auf theoretische Verlässlichkeit. Eine ausführlichere Wiederholung der in den späteren 50er Jahren entwickelten Gedanken findet man auch im Gespräch mit Schülern der Droste-Hülshoff-Schule in Berlin 1970 und generell in Interviews aus Eichs letzten Jahren.80 Eichs Assimilation modernistischer Denkfiguren und Verfahrensweisen erscheint gegenüber den Poetiken der avantgardistischen Moderne als moderate Modernisierung. Dennoch bleibt das konsequente Umdenken einer vormals ontologisch-subjektivistisch grundierten Poetik in den Nachkriegsjahren ein Beispiel für die Integration der modernen Lyrik in die Tradition der Naturlyrik. Der Transformationsprozess seiner Lyrik, dessen Stationen und motivisch-stilistische Kennzeichen sich nicht immer kongruent zu den poetologischen Postulaten und den programmatischen Selbstbeschreibungen Eichs verhalten, ist Gegenstand der folgenden Überlegungen. Die Gegenüberstellung von »Die Häherfeder« aus Abgelegene Gehöfte und »Tage mit Hähern« aus Botschaften des Regens ist in der Eich-Forschung beliebt.81 78 79

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Alles ebd., S. 619. Axel Vieregg, »Einleitung«, in: Ders. (Hrsg.), »Unsere Sünden sind Maulwürfe«, S. i–viii, hier S. vii. Marquard spricht von »nachträgliche[m] Ungehorsam«; vgl. Odo Marquard, Abschied vom Prinzipiellen. Philosophische Studien, Stuttgart 1995 [11981], S. 9–14. »Günter Eich im Gespräch mit Schülern der Droste-Hülshoff-Schule in BerlinZehlendorf (1970)«; »Mich interessieren doch noch bis zu einem gewissen Grad Inhalte (1970)«; »Die etablierte Schöpfung. Ein Gespräch mit dem ›neuen‹ Günter Eich (1971)«; »Ich bin ein Erzähler auf dem orientalischen Markt (1971)«, alle in: Vermischte Schriften, S. 519–529; 530–532; 533f.; 535–541. Vgl. Heinz F. Schafroth, Günter Eich, München 1976, S. 46–48; Post-Adams, »Günter Eich«, S. 4f.

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Das liegt nicht zuletzt daran, dass die beiden motivgleichen Gedichte aus den 1948 und 1955 veröffentlichten Sammlungen bestens geeignet sind, eine wesentliche Zäsur in den ästhetisch-weltanschaulichen Orientierungen des Autors zwischen 1945 und 1960 anzuzeigen: Die Wandlung vom natursymbolischen Schreiben, in dem grundsätzlich noch die Möglichkeit einer Entzifferung der Natur als Zeichen der Transzendenz angelegt ist, zu den skeptischen Überzeugungen der 50er Jahre, in denen das Vertrauen in die Sprache als Medium der Übersetzung eines unsichtbaren Jenseitigen schwindet. Im vier Strophen umfassenden Gedicht »Die Häherfeder« wird kein Zweifel daran gelassen, dass der Sprecher sich durch die Beobachtung des Eichelhähers einem jenseits des Alltagsbewusstseins liegenden, sprachlich nicht fassbaren Bereich näher fühle: Ich bin, wo der Eichelhäher zwischen den Zweigen streicht, einem Geheimnis näher, das nicht ins Bewußtsein reicht. Es preßt mir Herz und Lunge, nimmt jäh mir den Atem fort, es liegt mir auf der Zunge, doch gibt es dafür kein Wort. Ich weiß nicht, welches der Dinge oder ob es der Wind enthält. Das Rauschen der Vogelschwinge, begreift es den Sinn der Welt? Der Häher warf seine blaue Feder in den Sand. Sie liegt wie eine schlaue Antwort in meiner Hand.82

Während in der ersten Strophe das Bewusstsein der Nähe einer arationalen, außerhalb der bewusst-kognitiven Wahrnehmung liegenden Sphäre konstatiert wird, behandelt die zweite die physischen Symptome dieser Präsenz, die wiederum mit der Unmöglichkeit konfrontiert werden, sie zu versprachlichen. Immerhin aber herrscht eine große Nähe zu diesem Bereich des Unaussprechlichen; die Grenze zwischen den Naturzeichen und der Übersetzung in Worte scheint sehr dünn zu sein. Diese Nähe wird in der dritten

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Günter Eich, »Abgelegene Gehöfte (1948)«, in: Ders., Die Gedichte. Die Maulwürfe, Axel Vieregg (Hrsg.). Bd. I, Gesammelte Werke in vier Bänden, revidierte Ausgabe, Axel Vieregg (Hrsg.), Frankfurt am Main 1991, S. 43f.

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Strophe bestätigt: Es ist ungewiss, welches der beobachteten Phänomene ›das Geheimnis‹ enthält, aber es ist spürbar, und das Sprecher-Ich wagt sogar die Vermutung, das »Rauschen der Vogelschwinge« könne so etwas wie einen übergreifenden »Sinn der Welt« ausdrücken – wobei durch die Doppeldeutigkeit des Verbs ›begreifen‹ zugleich auch auf eine mögliche Beziehung wechselseitiger Deutung der Naturzeichen untereinander angespielt wird: Ebenso gut könnte die Frage des Sprechers lauten, ob denn das »Rauschen der Vogelschwinge« überhaupt geeignet sei, so etwas Umfassendes wie den »Sinn der Welt« in einem anderen zeichenhaft-vorsprachlichen Ablauf zu spiegeln. Diese Überlegungen werden dann in der vierten Strophe weiter geführt, aber auch weiter verrätselt: Der Häher ›wirft‹ seine blaue, im Echo auf die romantische Farbsemantik Transzendenz und Jenseitigkeit signalisierende Feder in den Sand. In der Schwebe bleibt, ob die Feder dem Betrachter zugeworfen wird oder nur zufällig in seiner Nähe herabfällt; in jedem Fall aber liegt sie »wie eine schlaue / Antwort« in der Hand des Betrachters, womit die Möglichkeit, die Feder könne als ein Zeichen der Natur aufgefasst werden, das den ›Sinn der Welt‹ erklären oder zumindest einen Beitrag zu seiner Erklärung leisten könnte, nahe gelegt, zugleich aber wieder mit einem Vorbehalt versehen wird. Die Formulierung ›wie eine Antwort‹ mag auch auf eine Fehldeutung des Betrachters hinweisen, der sich selbst durch das Aufheben der Feder vielleicht unberechtigt als Mittelpunkt und Deuter begreift. Eben dieser Zweifel über den Status des menschlichen Deuters bildet den Ausgangspunkt von »Tage mit Hähern«. Hier wird im Gegensatz zum ersten Text ausschließlich über die Unmöglichkeit reflektiert, mit der Natur irgendeine Verbindung aufzunehmen, und ein Sprecher-Ich in absoluter Isolation gezeigt. Dazu passt auch die endgültige Aufgabe der vierzeiligen, rhythmisch halbfreien, grundsätzlich aber jambisch grundierten Strophenform. Der Häher wirft mir die blaue Feder nicht zu. In die Morgendämmerung kollern die Eicheln seiner Schreie. Ein bitteres Mehl, die Speise des ganzen Tags. Hinter dem roten Laub hackt er mit hartem Schnabel tagsüber die Nacht aus Ästen und Baumfrüchten, ein Tuch, das er über mich zieht.

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Sein Flug gleicht dem Herzschlag. Wo schläft er aber und wem gleicht sein Schlaf ? Ungesehen liegt in der Finsternis die Feder vor meinem Schuh.83

Auch wenn Eich später betonte, beim Verfassen von »Tage mit Hähern« sei ihm gar nicht bewusst gewesen, »schon ein Hähergedicht geschrieben zu haben«, »[i]ch vergesse meine Sachen sehr häufig«84 –: Die ersten beiden Verse von »Tage mit Hähern« dementieren die schwebende, gleichwohl tendenziell positive Stimmung von »Die Häherfeder«. Denn die Feder, das Zeichen der immerhin möglichen Kommunikation mit der rätselhaften Natur, wird dem beobachtenden Sprecher jetzt eindeutig nicht mehr zugeworfen; mit der Aussage im ersten Abschnitt schließt der Sprecher diese Verbindung explizit aus. Das gesamte Gedicht steht unter dem Zeichen einer nicht mehr dechiffrierbaren Natur, vielleicht sogar der Unmöglichkeit, in dieser Natur ein Reservat des Friedens vor der »Totalität der Gewalt«85 zu finden, die den Alltag beherrscht. Die beiden folgenden Abschnitte bieten Meditationen über dieses neue Naturbild. Überblendungen verschiedener Bildbereiche erzeugen den Charakter einer feindseligen und abweisenden Natur. Von der früheren Vermittlungskraft des Hähers sind nurmehr die »Eicheln seiner Schreie« wahrzunehmen; auf den Beobachter, der reduziert ist auf die Position eines vollkommen Außenstehenden, wirken diese Schreie aggressiv, verletzend – und sind zugleich als einzige Äußerung des Hähers für einen ganzen Tag »ein bitteres Mehl«, also eine Art geistige Nahrung, die denkbar schlecht geeignet ist, daraus eine Art Hinweis für die Entschlüsselung existentieller Geheimnisse zu ziehen. Die Natur ist abwehrend und unzugänglich, und sie bietet dem Einzelnen keinerlei Hilfe. Dass der Häher »mit hartem Schnabel [hackt]«, verstärkt den Eindruck der Gewalttätigkeit seiner Verrichtungen. Tag und Nacht werden als Gegensatzpaar eingeführt, aber gerade in der Engführung mit dem Hacken des Hähers werden ihre denkbaren positiven Konnotationen aufgehoben. Das Tuch der Nacht, das der Häher über den 83

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Günter Eich, »Botschaften des Regens (1955)«, in: Ders., Die Gedichte. Die Maulwürfe, S. 81f. »Günter Eich im Gespräch mit Schülern der Droste-Hülshoff-Schule in BerlinZehlendorf (1970)«, S. 519–529, hier S. 521. So Susanne Müller-Hanpft, zunächst bezogen auf das Titelgedicht der Sammlung Botschaften des Regens, von dort aus aber grundsätzlich auf den gesamten Gedichtband; vgl. Susanne Müller-Hanpft, Lyrik und Rezeption. Das Beispiel Günter Eich, München 1972, S. 103.

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distanzierten, teilnahmslosen Betrachter zieht und das aus Bestandteilen der Natur gewebt ist, scheint dessen Wahrnehmungsfähigkeit nur noch weiter einzudämmen. Die Natur wird ein hermetisch abgeriegelter Raum, der dem Betrachter den Zugang verwehrt. Der letzte Abschnitt setzt ein mit dem Versuch, aus dem Flug des Hähers analogisch einen Hinweis auf das eigene Dasein abzuleiten – auf den ›Herzschlag‹, möglicherweise auf die Zeitlichkeit des menschlichen Lebens. Weiter jedoch kann sich der Betrachter nicht annähern. Das Verfahren der vergleichenden Analogie als Entschlüsselungsinstrument versagt bereits beim Schlaf des Hähers; das Ich weiß nicht, wem er gleicht, es kennt nicht einmal den Ort seines Schlafs, der darauf vielleicht einen Hinweis geben könnte. Als letzte Konsequenz dieser Natur, die alle Hinweise verweigert, kann man die beiden Schlussverse lesen. Die Feder als ein Weg zur Entschlüsselung der Natur wäre sogar noch greifbar, aber sie kann nicht mehr wahrgenommen werden und liegt »ungesehen« in der Nähe des Betrachters.86 Die Ordnungen der vormals beruhigenden, zuversichtlich stimmenden Zeichenwelt der Natur sind aufgehoben. Vergleiche und Analogien, einstmals die sprachlich-kognitiven und zugleich philosophischen Strategien einer Annäherung an die Natur, sind nur noch sehr begrenzt wirksame Zugangswege. Stattdessen ist das Betrachter-Ich mit der Feindlichkeit der Natur konfrontiert und erkennt zugleich seine eigene Unfähigkeit, ihre Zeichen überhaupt noch zu entdecken. Diese grundsätzliche und sehr weit reichende Skepsis beherrscht die Texte in Botschaften des Regens in verschieden stark ausgeprägten Intensitätsgraden. Klar bleibt jedoch, dass hier gegenüber den Gedichten der 30er Jahre und auch gegenüber den Naturgedichten der frühen Nachkriegszeit eine entschiedene Zäsur zu bemerken ist. Eine der Grundgewissheiten der Naturlyrik wird aufgegeben: Die Möglichkeit der Rückversicherung des Einzelnen, wie vermittelt und indirekt sie auch sein mag, in der Natur eine der menschlichen Wahrnehmung offene, entschlüsselbare und sinnstiftende Wirklichkeitsebene zu finden. Stattdessen bleiben nur noch rätselhafte Chiffren, die sprachlich nicht mehr erfassbar, nur noch nennbar sind. Diese Aufhebung der alten Gewissheiten der Naturlyrik und letztlich des Naturgedichts als Genre geht einher mit der endgültigen Aufgabe traditioneller metrischer und rhythmischer Formen. Vor allem aus diesem Grund ist es kaum zu umgehen, Eichs in den 40er und 50er Jahren vollzogene Wendung zu modernistischen Denkfiguren und Poetiken aus dem Horizont der Naturlyrik zu beschreiben. In der Forschung 86

Vgl. Ute Maria Oelmann, Deutsche poetologische Lyrik nach 1945. Ingeborg Bachmann, Günter Eich, Paul Celan, Stuttgart 1980, S. 118–120.

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wird diese Kontinuität auch weitgehend widerspruchslos bestätigt. Hermann Korte meint, Eichs Gedichte wirkten »stellenweise wie Zurücknahmen eigener naturlyrischer Prämissen«; sie seien »im Kern Selbstreflexionen eines lyrischen Subjekts, das jenseits einer für unversehrt gehaltenen Natur einen Herrschaftsraum entdeckt hat und den Schock dieser Erfahrung zur Grundlage seiner Naturwahrnehmung macht«.87 Diese synthetisierende Bewertung erfährt in der Forschung der vergangenen Jahrzehnte allenfalls Differenzierungen. Vor allem Christian Kohlroß leitet seine Darstellung von Eichs »Poetologie der Natur« aus dessen Nähe zu Lehmann und Loerke her.88 Schafroth betont ebenfalls diese Affinität,89 verweist aber auch auf die Tradition anderer Autoren wie Trakl, Rilke, George, der französischen Symbolisten und der deutschen Romantik, vertreten durch Novalis und Brentano sowie durch Hölderlin. Ausgehend von Eichs Selbstbeschreibung, er habe »als verspäteter Expressionist und Naturlyriker begonnen«,90 stellt Susanne Müller-Hanpft Eich in eine Traditionsreihe, die über die bislang genannten Autoren auch Nietzsche und den jungen Brecht als wichtige indirekte oder direkte Einflüsse anführt.91 Egbert Krispyn betont, nicht nur in seiner Eich-Monographie, in besonderer Weise den Einfluss der Romantik.92 Diese literarischen Genealogien vermögen freilich noch lange nicht Eichs Rolle im Prozess der Modernisierung der deutschen Nachkriegslyrik zu erklären. Korte tut das in der Diagnose des Wahrnehmungsschocks, der zur Assimilation einer wesentlichen Denkfigur der Moderne führt, MüllerHanpft, Krispyn und Schafroth erläutern in Detailanalysen Eichs Transformationsprozess zur Moderne; der Grundschritt dieser Interpretationen wurde in der Gegenüberstellung der ›Häher‹-Gedichte dargestellt. Auch Ute Oelmann kommt Anfang der 80er Jahre zu dem Ergebnis, dass Eichs »Absage an die Sprachkonzeption der Naturlyrik« sowie die »Negation der magischen, seinsgebenden Sprache«93 eine entscheidende Voraussetzung für 87 88

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Korte, Deutschsprachige Lyrik seit 1945, S. 42. Christian Kohlroß, Theorie des modernen Naturgedichts. Oskar Loerke – Günter Eich – Rolf Dieter Brinkmann, Würzburg 2000, S. 148–162. Schafroth, Günter Eich, S. 17. Günter Eich, »Mit meinen Versen stelle ich Fragen (1965)«, in: Ders., Vermischte Schriften, S. 502f. Müller-Hanpft, Lyrik und Rezeption, S. 23–31. Egbert Krispyn, »Günter Eich und die Romantik«, in: Albert R. Schmitt (Hrsg.), Festschrift für Detlev W. Schumann, München 1970, S. 359–268; sowie Ders., Günter Eich, New York 1971, S. 35f. Oelmann, Deutsche poetologische Lyrik nach 1945, S. 121.

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seinen Beitrag zu einer ›poetologischen Lyrik‹ ist.94 Allerdings fehlt bei diesem rein dichtungstheoretischen Ansatz die ideengeschichtliche Verortung in der Sprachkritik in den Diskussionen der 30er sowie vor allem der späten 40er Jahre. Erst im Erklärungsmodell der ›modern restoration‹, das Stephen Parker, Peter Davies und Matthew Philpotts vertreten,95 wird Eichs Doppelrolle verständlich. Gerade als einer der wichtigen Repräsentanten der Kolonne und aufgrund seiner radikalen Neupositionierung in den unmittelbaren Nachkriegsjahren ist er einer der Autoren, die für die Annahme einer die 30er, 40er und 50er Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts umfassenden Kontinuität sprechen. Diese ist nach Parker, Davies und Philpotts gekennzeichnet durch eine »search for stability of meaning, against the background of successive and on-going crisis«,96 bewegt sich also zwischen Reaktion auf die avantgardistische Moderne der 20er Jahre und mehr oder weniger moderaten Versuchen, auf das dennoch vorhandene Krisenbewusstsein ästhetisch zu reagieren. Im Spannungsfeld zwischen den beiden Polen von Moderne und Tradition, die seit den späten 40er Jahren die Diskussionen beherrschen, spricht Eichs Herkunft aus dem Kolonne-Kreis einmal mehr für seine gemäßigte Assimilation der lyrischen Moderne. Dieser Transformationsprozess verläuft in der Lyrik nicht kongruent zur Chronologie der poetologischen Schriften. Krispyn bemerkte das schon früh.97 Er konstatierte eine chronologische Dreiteilung von Eichs Lyrik: Den dreißig zwischen 1925 und 1935 entstandenen Gedichten folgte eine Schreibpause bis 1945; die zweite Phase machen die drei großen Sammlungen des ersten Nachkriegsjahrzehnts aus; die dritte schließlich, nach einer weiteren Unterbrechung von fünf Jahren, bilden die in Zu den Akten gesammelten Texte. Die stilistischen und motivischen Wandlungen allerdings fänden nicht zwischen diesen Phasen, sondern jeweils »während der produktiven Perioden statt«.98 Die frühen, vor 1930 geschriebenen und in der 94

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Vgl. ebd., S. IV; zum heutigen Stand der Diskussion vgl. Olaf Hildebrand, »Einleitung«, in: Ders. (Hrsg.), Poetologische Lyrik von Klopstock bis Grünbein. Gedichte und Interpretationen, Köln, Weimar, Wien 2003, S. 1–15. Stephen Parker/Peter Davies/Matthew Philpotts, The Modern Restoration. Rethinking German Literary History 1930–1960, Berlin, New York 2004. Ebd., S. 12f. Egbert Krispyn, »Günter Eichs Lyrik bis 1964«, in: Susanne Müller-Hanpft, Über Günter Eich, Frankfurt am Main 1970, S. 69–89, hier S. 69f. Ähnlich argumentiert Thomas Betz, »›mit fremden Zeichen‹ – Zur Poetologie im Werk Günter Eichs 1927–1955«, in: Gustav Frank/Rachel Palfreyman/Stefan Scherer (Hrsg.), Modern Times? German Literature and Arts Beyond Political Chronologies. Kontinuitäten der Kultur: 1925–1955, Bielefeld 2005, S. 93–114. Ebd., S. 70.

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Sammlung Gedichte veröffentlichten Texte sind vor allem in Hinblick auf die literarischen Einflüsse interessant, die Eich verarbeitet. Je nach Akzentuierung sieht die Forschung hier vor allem eine produktiv ergiebige Auseinandersetzung mit Trakl99 oder betont die ersten Ansätze für Eichs Thematisierung der Sprachproblematik.100 Wichtiger sind jedenfalls bereits die seit 1930 entstandenen Texte, die später zusammen mit den ersten Nachkriegsgedichten in Abgelegene Gehöfte veröffentlicht wurden. An ihnen konstatiert Krispyn eine »thematische Einschränkung« der philosophischen Gemeinplätze »auf das Problem der Zeit«.101 Die Grundtendenz dieser Gedichte entspricht aber der Poetik der frühen 30er Jahre – sie ist subjektivistisch und in ihrer thematischen Gesamtanlage ebenso wie in den Formen (Volkslied- oder ChevyChase-Strophe) klassisch-romantisch; existentielle Probleme werden in die Natur gespiegelt. »Weg durch die Dünen«, erstmals gedruckt 1935, ist einer der Texte, in dem die Konzeption der Natur als einer ausschließlich die Sorgen und Probleme des menschlichen Subjekts konzentrierenden Dimension bereits durchbrochen wird. Der Herbstwind hauset schon am Strande, ich spür ihn durch die Dünen wehn. Ich will die Spuren schaun im Sande, die bald vergehn, den Schritt der Vögel, der im Leeren so plötzlich endet wie beginnt, – er wird so oft noch wiederkehren als Tage sind. Schon oft auch habe ich vernommen, was mir der Ton der Wolken schien, der eilenden, die aus den Meeren kommen und in die Meere ziehn. Ich denke auch der Vogelzüge, der flüchtigsten, der reinsten Spur. Es weiß um ihre schönen Flüge der Himmel nur. Ein Grüßen folget ihrer Reise, die Halme scharren übern Sand, die Hafer zeichnet halbe Kreise wie eine Hand.

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So Krispyn in ebd., S. 70–74; Ders., Günter Eich, S. 16–25. Schafroth, Günter Eich, S. 17–23. Krispyn, »Günter Eichs Lyrik bis 1964«, S. 75.

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Ich will in solchen Schriften lesen. Was schrieb das Gras, was schrieb das Meer? Sie schreiben Zeiten, die gewesen, mit fremden Zeichen her. Kann man in denen Ruhe finden? Der Abend lauert hinterm Strauch. Die Spuren, die im Grau verschwinden, sind meine auch. Sie gehn ins Gestern wie ins Heute. Die Vogelschrift im Sand verrinnt. Ich möchte, daß sie nichts bedeute als Flug und Wind. Ich fühle eine fremde Nähe und eine Last von vieler Zeit, als ob ich sie mit Augen sähe, die tödliche Unendlichkeit.102

Der Text kann die Lyrik des frühen Eich kommentieren, weil sich darin verschiedene Themenbereiche überlagern. Dominant sind die Vogelspuren im Sand, die das Ich während einer Dünenwanderung betrachten will. Das plötzliche Vergehen dieser Spuren wird konfrontiert mit ihrem sich immer wiederholenden Erscheinen. Gerade in ihrer Vergänglichkeit sind die Spuren zeitlos, denn sie werden »so oft noch wiederkehren / als Tage sind«. Die Spuren werden verglichen mit anderen Naturzeichen – dem »Ton der Wolken«, den Vogelzügen, dem Wachsen des Getreides und der Gräser – und gelesen als Zeugnis der Vergangenheit, die allerdings weitgehend unverständlich und furchteinflößend ist: Man kann in diesen der menschlichen Wahrnehmung grundsätzlich fremden Zeichen keine Ruhe finden, sie beziehen sich unkontrolliert auf alle Zeiten, und schließlich empfindet das Ich durch diese spürbare Präsenz der Zeit die Unendlichkeit als bedrohlich. Bereits im »Weg durch die Dünen« wird die Natur als Zeichenraum behandelt, durch den der Betrachter das Wesen der Zeit erahnen, aber nicht begreifen kann. Die Schlussstrophe verweist auf die Begrenztheit des menschlichen Daseins in dieser »tödlichen Unendlichkeit«. Das Ich kann sie »mit Augen« sehen, aber nicht rationalisieren. Das Gedicht endet mit einer Art Lehre, aber dennoch präfiguriert sich hier bereits Eichs in den Nachkriegsjahren entwickelte Distanz zur Natur und seine Skepsis, was die Lesbarkeit der Naturzeichen angeht. 102

Günter Eich, »Abgelegene Gehöfte (1948)«, in: Ders., Die Gedichte. Die Maulwürfe, S. 60f.

Eich und Huchel: Die sprachkritische Aktualisierung der Naturlyrik

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Dennoch unterscheidet sich das Verhältnis des betrachtenden Ich zur Natur noch deutlich von den Positionen, die in den Gedichten nach 1945 erarbeitet werden. Auch wenn manche Interpreten bereits in diesen frühen Gedichten eine »tiefe Irritation der Welt- und Ich-Erfahrung«103 feststellen: Der Grundton der Gedichte vor 1935 ist geprägt von einer prinzipiellen Konsonanz zwischen dem Ich und der Natur, was Probleme bei der Annäherung nicht ausschließt. Die Natur – in der Regel im Motiv der Unendlichkeit fixiert104 – hat keinen grundsätzlich bedrohlichen Charakter. Sie ist unverständlich, rational kaum durchdringbar, und ihr zeitlich-unendlicher Charakter mag bedrohlich anmuten, aber der »Weg durch die Dünen« beschreibt dennoch keine Entfremdung. Es geht um die Erkenntnis einer schwer durchdringbaren, aber keinesfalls feindlichen, menschenfernen Dimension. Die Konsonanz wird erst zerstört in den unmittelbaren Nachkriegsgedichten. Die Gedichte aus dem Gefangenenlager – also vor allem »Inventur« und »Latrine«, aber auch »Blick nach Remagen«, »Lazarett«, »Camp 16«, »Gefangener bei Nacht« – wurden als exemplarisch für die Kahlschlag-Ästhetik der frühen Nachkriegsjahre gelesen und konnten gerade durch ihre absolute Reduktion auf die letzten dem Einzelnen verbliebenen Fragmente von Individualität – Gegenstände, Erinnerungen, Gedichtfetzen – weithin Repräsentativität gewinnen.105 Es ist bemerkenswert und fast paradox, dass gerade diese Texte in Eichs persönlicher Entwicklung vorrangig für die Erschütterung seiner traditionell stabilen Weltsicht stehen und ihre kollektive Repräsentativität für die Literatur und sogar für die Lebenswelt der ersten Nachkriegsjahre offenbar für Eich nachrangig war. Die gemeinsame Veröffentlichung der Texte aus den 30er Jahren und der Nachkriegsgedichte in Abgelegene Gehöfte spricht dafür, dass er diese ästhetische Selbstrevision unter den Augen der Leser austragen und den alten Zustand und seine Irritationen als Teil einer Entwicklung sehen wollte. Unterstrichen wird durch die Zusammenstellung der Vor- und Nachkriegstexte einmal mehr eine nach 1945 immer wieder stellenweise zu beobachtende Präferenz für individuelle und ästhetische Probleme. Die Integration der Kriegserfahrung bringt zunächst keine Reflexion über den deutschen Zivilisationsbruch mit sich, sondern führt zu einer Wiederaufnahme und Neuvermessung der literarischen Positionen der frühen 30er Jahre. 103

104 105

Peter Horst Neumann, »Günter Eich«, in: Klaus Weissenberger (Hrsg.), Die deutsche Lyrik 1945–1975. Zwischen Botschaft und Spiel, Düsseldorf 1981, S. 230–243, hier S. 235. Vgl. auch Krispyn, Günter Eich, S. 33. Vgl. Gerhard Kaiser, »Günter Eich: Inventur. Poetologie am Nullpunkt«, in: Olaf Hildebrand (Hrsg.), Poetologische Lyrik, S. 268–285, hier S. 271.

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Insofern ist »Inventur«, wenn man den Text als eine Station in der poetologischen Entwicklung Eichs liest, eine Bestandsaufnahme der Zurückgeworfenheit eines Ich auf seine engste Umgebung, die ein Ausgreifen auf die Natur vorerst gar nicht mehr erlaubt. Das Konsonanzverhältnis der frühen 30er Jahre ist nachhaltig gestört, weil es vorläufig nicht mehr möglich ist; diese Erkenntnis wird in den Nachkriegsgedichten schrittweise erarbeitet. Der Text kreist um die paar persönlichen Gegenstände, um dann nach dem Höhepunkt in der sechsten Strophe, in der die Bleistiftmine als emotional am meisten geladenes Objekt angesprochen wird, wieder ins parataktische Konstatieren der Anfangsstrophen zurückzufallen: Die Bleistiftmine lieb ich am meisten: Tags schreibt sie mir Verse, die nachts ich erdacht. Dies ist mein Notizbuch, dies meine Zeltbahn, dies ist mein Handtuch, dies ist mein Zwirn.106

Das Schreiben von Versen wird als ein noch annäherungsweise romantisch getöntes Motiv der Wirklichkeitsbewältigung ins Spiel gebracht; syntaktisch wird diese mögliche, aber nicht mehr haltbare Bewältigungsqualität der ›Verse‹ durch die hypotaktisch betonte Alternation unterstrichen. Die vier deiktischen Sätze in der letzten Strophe hingegen lösen diesen Anflug von Emphase wieder auf und werfen das Ich auf die Ausgangssituation zurück, in der die gegenständliche äußere Wirklichkeit nur noch gestisch benannt, nicht mehr sprachlich in Beziehung zum Ich gesetzt werden kann. Noch expliziter wird diese Infragestellung der alten Beziehung zwischen Ich und Natur in »Latrine« durchgeführt: Über stinkendem Graben, Papier voll Blut und Urin; umschwirrt von funkelnden Fliegen, hocke ich in den Knien, den Blick auf bewaldete Ufer, Gärten, gestrandetes Boot. In den Schlamm der Verwesung klatscht der versteinte Kot.

106

Günter Eich, »Abgelegene Gehöfte (1948)«, S. 36.

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Irr mir im Ohre schallen Verse von Hölderlin. In schneeiger Reinheit spiegeln Wolken sich im Urin. »Geh aber nun und grüße die schöne Garonne –« Unter den schwankenden Füßen schwimmen die Wolken davon.107

Die Verse aus »Andenken« fungieren hier (unter anderem) als Markierung für die Möglichkeiten einer Lyrik, in der die Naturbeziehung noch durch einfaches Ansprechen und Benennen eines Flusses gegeben war. Dagegen ist der Fluss (der Rhein, aber eben dieses Detail, in »Blick nach Remagen«108 noch angeführt, wird hier bewusst getilgt), auf den das Ich in »Latrine« blickt, fern, und das »bewaldete Ufer« scheint unerreichbar. Konfrontiert wird diese sichtbare Naturszenerie stattdessen mit dem Greifbar-Nahen: dem »versteinte[n] Kot«, der in den »Schlamm der Verwesung / klatscht«. Schon hier könnte die Distanz des auf seine eigene Körperlichkeit und deren Vergehen zurückgeworfenen Ich zur Natur nicht größer sein. Der Bruch wird dann durch die Spiegelung der ›schneeig reinen‹ Wolken im Urin nochmals verstärkt. Eich notiert in seinen Lagergedichten den Schockzustand eines Ich, das seine gewohnten Verortungsmöglichkeiten verloren hat. Die Texte in Untergrundbahn und Botschaften des Regens gestalten die Konsequenzen dieser Erkenntnis. Die Erweiterung des Themenspektrums, entsprechend den vielen gleichlautenden programmatischen Aussagen in den späten 40er Jahren, ist vor allem in Untergrundbahn zu beobachten. Moderne Stadtwelten spielen nun eine Rolle (z. B. »Weg zum Bahnhof«, überhaupt die Texte im Abschnitt ›Untergrundbahn‹), Technik und zumindest ein naturwissenschaftliches Vokabular treten in den Vordergrund (z. B. »Angst« und »Der Nachmittag«). Grundsätzlich erläutert Krispyn die Tendenz der Texte in Untergrundbahn am Beispiel von »Angst«: Zeilen in die Hügelflanke zieht der Motorpflug, wie ein düsterer Gedanke fällt ein Krähenzug. Hier will ich ihn nicht bedenken zwischen Rohr und Gras, wo die Krähen abwärts schwenken vor dem Auspuffgas. 107 108

Ebd., S. 37. Ebd., S. 35.

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Nimmer soll er mich beschweren, was er mir auch zeigt. Aber wie kann ich mich wehren, wenn der Traktor schweigt? Wie, wenn es noch weiter dauert, da die Stille wächst, mich mit Krähenflug umlauert und mit Flügelschrift behext? In den leeren Himmel starrend weiß ich ihn doch voll, regungslos des Grauens harrend, das ich lesen soll.

Krispyn sieht in diesem Gedicht die Diagnose der Gegenwart als »unentrinnbares, furchtbares Todesreich«, in dem »[d]as Leben […] nicht mehr unter dem Zeichen einer glücklicheren mythischen Vergangenheit, sondern unter dem einer schrecklichen, unausweichbaren Zukunft [steht]«.109 Auffällig ist die Kombination des Traktorgeräuschs – ein technisches Phänomen – mit der Naturbeobachtung, die einen obsessiv-bedrohlichen Charakter annimmt. Die Krähen erscheinen als Zeichen, das in die vom Menschen gezogenen und insofern als Erkenntnismittel nur begrenzt glaubwürdigen Zeilen einfällt und sie mit einer üblen, Angst und Furcht verbreitenden Schrift füllt. In der Schlussstrophe wird der Pessimismus, der Eichs Lyrik nach dem Kriegsschock beherrscht, besonders stark unterstrichen. In Botschaften des Regens kann man eine Konsolidierung dieses neuen Pessimismus feststellen. Die Orientierungsfähigkeit des Einzelnen in der Natur wird nun grundsätzlich als unmöglich dargestellt. Auch setzt sich hier die bereits in Untergrundbahn begonnene endgültige Abkehr von regelmäßigen Versformen fort. Obwohl die Naturszenerien weiterhin auch um moderne Schauplätze und Motive erweitert werden, sind Naturmotive beherrschend – allerdings, wie schon in »Tage mit Hähern«, jeweils als Ausgangspunkt einer absoluten Vereinzelungserfahrung des Ich, die in Bilder der Vergänglichkeit, des Todes, der Ortlosigkeit mündet. Die »entscheidende Weiterentwicklung des Lyrikers Eich«,110 die diese »erste[ ] bewusst moderne[ ] Sammlung […] nach den Gefangenengedichten«111 darstellt, wird in der Forschung durchweg bestätigt. Im Titelgedicht »Botschaften des Regens«112 sieht MüllerHanpft in der Natur »nicht die das Subjekt versöhnende Kraft, sondern 109 110 111 112

Krispyn, »Günter Eichs Lyrik bis 1964«, S. 82. Schafroth, Günter Eich, S. 53. Müller-Hanpft, Lyrik und Rezeption, S. 102. Günter Eich, »Botschaften des Regens (1955)«, S. 85f.

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eine Macht, die sich gegen es richtet und darum höchstens Mißtrauen erfordert«,113 ein Aspekt, der in »Westwind«114 um den Gedanken der »totale[n] Verwaltung und der damit einhergehende[n] Manipulation«115 erweitert wird. Wenn im Appell an individuelle menschliche Gefühle in der Schlussstrophe – »Ich sage dir nicht oft genug, / daß ich dich liebe.«116 – noch eine gewisse Hoffnung auf »Widerstand […] in der privaten Sphäre«117 liege, so sei diese in anderen Texten – »Gegenwart«, »D-Zug München-Frankfurt« – weitgehend getilgt: Das Ich reduziere sich auf die »Rolle des Zuschauers« und werde »zu einem passiven Element, vor dessen Augen sich die Dinge und die zum Ding gewordene Geschichte abspielen«.118 Das Grundmotiv der fremd oder gar feindselig gewordenen Natur wird auch von Schafroth119 und Krispyn120 skizziert. Zugleich weisen beide auf den ›politischen‹ Eich hin, der in »Botschaften des Regens« sichtbar wird. Die Verbindung zwischen Naturpessimismus, Skepsis gegenüber den Möglichkeiten der Sprache, die Natur zu durchdringen, und der Aufforderung zur Fundamentalkritik an sich verfestigenden Systemzwängen erscheint hier in einer weiteren Variante. Die Konfrontation der durch menschliche Kontrolle und Kartographierung zerstörten Natur mit der »kosmischen und überzeitlichen Thematik« des »unendlichen Kreislauf[s] der Schöpfung in seiner Ganzheit«121 ist ein Auslöser für die Aufforderung zum grundsätzlichen Widerstand. Müller-Hanpft schlägt eine solche Verbindung des skeptisch-pessimistischen mit dem politischen Eich in einer Lektüre von »Reise«122 vor: Du kannst dich abwenden vor der Klapper des Aussätzigen, Fenster und Ohren verschließen und warten, bis er vorbei ist. Doch wenn du sie einmal gehört hast, hörst du sie immer, und weil er nicht weggeht, mußt du gehen. // […] 113 114 115 116 117 118 119 120 121 122

Müller-Hanpft, Lyrik und Rezeption, S. 102. In: Günter Eich, »Botschaften des Regens (1955)«, S. 87f. Müller-Hanpft, Lyrik und Rezeption, S. 103. In: Günter Eich, »Botschaften des Regens (1955)«, S. 88. Müller-Hanpft, Lyrik und Rezeption, S. 103. Ebd., S. 105. Schafroth, Günter Eich, S. 53–55. Krispyn, »Günter Eichs Lyrik bis 1964«, S. 85–88; Ders., Günter Eich, S. 108–115. Krispyn, »Günter Eichs Lyrik bis 1964«, S. 86, S. 85. Günter Eich, »Botschaften des Regens (1955)«, S. 95.

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Das Ich kann zwar die Probleme und Zwänge der Außenwelt ignorieren, aber sie werden immer präsent bleiben, wenn sie einmal wahrgenommen wurden. »Du kannst dich zwar heraushalten […], kannst dich allem verweigern und so tun, als ob du von allem nichts wüßtest, doch es wird dir nichts nützen. Die Gewalt aller Mächte und Systeme, die das Individuum bedrohen, ist größer als der einzelne.«123 Müller-Hanpft verortet diese dezidiert ›politische‹ Lesart Eichs im kulturellen Klima der 50er Jahre. Sie stellt Eich an die Seite Celans, Bachmanns und Enzensbergers, die in ihrer Lyrik das Unbehagen am restaurativen Klima der 50er Jahre ausdrückten. Vor allem das Verdrängen der Vergangenheit sei für die Dichter inakzeptabel gewesen.124 Insofern kann die Skepsis und Distanz gegenüber einer Natur, die vormals das Individuum in seiner existentiellen Unsicherheit stabilisierte, eine Aufforderung zur prinzipiellen Kritik an politisch-kulturellen Fehlentwicklungen werden. Allerdings sind Eichs Stilmittel nie im emphatischen Sinn einer engagierten Literatur zuzurechnen. Wenn in »Der Mann in der blauen Jacke«,125 wie Schafroth darstellt, sich ein »biblisch-friedliches Idyll […] unversehens zur Vision der Blutund Bodenmystik«126 verkehrt, dann formuliert Eich keine spezifische, politisch fixierbare Kritik, sondern ein allgemeines Unbehagen an der restaurativen Oberfläche seiner eigenen Gegenwart, das aber nach wie vor im Modus der Sprach- und Naturskepsis verbleibt. Die Diagnose »einer so völlig absurden und chaotischen Welt«127 schließt politisch-kulturelle Symptome mit ein; im Zentrum bleibt aber die Erkenntnis der grundsätzlichen Verunsicherung im Verhältnis des Einzelnen zur Natur. Die Entschlüsselung der Naturzeichen ist an ihr Ende gekommen. Es ist nur eine der Konsequenzen, dass die daraus entspringende Skepsis auch auf die Politik angewandt werden kann. Die Entwicklung von Günter Eichs Lyrik in den 40er und 50er Jahren zeigt nicht nur, wie aus der Kontinuität der Naturlyrik der 30er Jahre in der Assimilation der Sprachskepsis eine Variation von moderner Lyrik entstehen konnte, sondern demonstriert auch, wie diese Lyrik eine gewisse gesellschaftlich-politische Relevanz gewinnen konnte. In Botschaften des Regens erreicht Eichs Rekonstruktion der Moderne ihren Höhepunkt. Ein Ausblick auf Eichs nächste Gedichtsammlung Zu den Akten aus dem Jahr 1964 zeigt einige der Konsequenzen, die Eich nach dieser Entwicklung zur ›modernen Lyrik‹ zog. 123 124 125 126 127

Müller-Hanpft, Lyrik und Rezeption, S. 111. Ebd., S. 114. In: Günter Eich, »Botschaften des Regens (1955)«, S. 98. Schafroth, Günter Eich, S. 55f. Krispyn, »Günter Eichs Lyrik bis 1964«, S. 87.

Eich und Huchel: Die sprachkritische Aktualisierung der Naturlyrik

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Bereits der Titel wird meist als Hinweis auf den abschließenden, resümierenden Charakter dieser Texte gelesen: »Der Band Zu den Akten zieht einen Schlußstrich unter Eichs bisherige Lyrik, indem er ihre Phasen und Errungenschaften in resigniert ironischem Ton zusammenfaßt.«128 Das erste Gedicht, »Die Herkunft der Wahrheit«,129 ist ein fast programmatisches Eingeständnis der Aufgabe: Bei allen Diagnosen moderner Unzugänglichkeit der Natur gab es in Botschaften des Regens noch den – wenn auch resigniert konstatierten – Anspruch, eine Wahrheit hinter der Unverständlichkeit ihrer Zeichen zu entdecken. Dieser bei aller Fragmentarität moderne Einheitsgedanke wird nun endgültig aufgegeben. Die Herkunft der Wahrheit bedenken: ihre mit Sand behafteten Wurzeln, ihre Fußspur, die meßbare Bewegung der Luft, wenn sie als Vogel kam. Einsichten aus Pervitin, zum Abflug gesammelt mit den Schwalben. Fort, fort, in den Abgrund und übers Gebirge! Andere, Steinmetzzeichen im Laub, nur begreiflich dem Schlafe und eins mit den Scherzen der Großmütter: Mach die Augen zu, was du dann siehst, gehört Dir.

Die verschiedenen Modalitäten der Zeichen werden wieder aufgerufen, aber ihre Entschlüsselung ist kein Ziel mehr. Die Erkenntnis, das die »Steinmetzzeichen im Laub / nur begreiflich dem Schlafe« sind, ist bereits eine Aufgabe der alten Position. Rationalität ist nicht mehr hilfreich, der Rückzug ins Subjektive dagegen garantiert eine zwar begrenzte, aber verlässliche Dimension der Wahrnehmung. In Zu den Akten räumt Eich die Position des Zeichendeuters und Wahrheitssuchers. Stattdessen wird die »mystische Funktion«130 der Zeichen, »in der Vézelay-Äußerung als Übersetzung eines verlorenen Urtexts definiert, […] ad absurdum geführt, das Übersetzen ist ein zerstöreri-

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Ebd., S. 88. Vgl. auch Post-Adams, »Günter Eich«, S. 11. In: Günter Eich, »Zu den Akten (1964)«, in: Ders., Die Gedichte. Die Maulwürfe, S. 98. So Schafroth, Günter Eich, S. 113 am Beispiel einer exemplarischen Analyse der beiden Fassungen von »Gärtnerei«. Schafroth akzentuiert die Weiterentwicklung in Zu den Akten.

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scher Akt«.131 Es ist eine Konsequenz dieses Rückzugs, dass in Eichs Lyrik von nun an die Reduktion, die in manchen Texten132 bis an den Rand des Verstummens geführt wird, als Stilmittel immer dominanter wird.133 Eichs Weg vom Naturlyriker zum Lyriker der modernen Sprach- und Zeichenskepsis war schon vorher, Ende der 50er Jahre, abgeschlossen; die Sammlungen der 60er Jahre bauen auf den Ergebnissen der Reflexion und Rezeption der Moderne in den 40er und 50er Jahren auf, sind aber Weiterentwicklungen und Neuansätze. Die Erkundung der modernen Lyrik unter den Bedingungen der Nachkriegszeit ist für Eich mit Botschaften des Regens beendet. 1.2

Peter Huchel: Naturlyrische Zeichensprache

Den Ausgangspunkt haben Peter Huchel und Günter Eich gemeinsam. Ihre Lyrik nach 1945 ist geprägt von der Fortsetzung und Weiterentwicklung zentraler ästhetischer Konstanten, die im Umkreis der Zeitschrift Kolonne um 1930 entwickelt wurden. Beide zielen darauf ab, eine Poetik im Sinne der Moderne zu aktualisieren, die in ihren Anfängen naturmagisch geprägt ist, ohne jedoch genau diese Ausgangskonstellation aufzugeben.134 Beim Versuch, die eigene Lyrik dem Horizont der internationalen Moderne einzuschreiben, gehen beide Autoren von vergleichbaren ideengeschichtlichen Vorstellungen der Moderne als krisenhaftem Verfallszustand aus – dem eine noch ganzheitliche Natur als ontologischer Fluchtraum sprachlich entgegengestellt werden muss –, und beide erweitern nach der Kriegserfahrung ihre Naturlyrik zu einem Sprechen über existentielle Fragen, das zuweilen das Politische streift oder gar einschließen kann. Doch trotz des gemeinsamen Ausgangspunktes, trotz aller Parallelen: Strategien und Verlaufskurven dieses Prozesses der Modernisierung in der Tradition der Naturlyrik weisen deutliche Unterschiede auf. Bis zu einem gewissen Grad deuten sich die divergierenden Kontinuitätslinien zwischen Eich und Huchel sogar bereits in der Ausgangskonstellation an. Huchel selbst legte in späteren Jahren Wert darauf, sich von den Kolonne131 132

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Ebd. Z.B. »Alte Postkarten«; in: Günter Eich, »Anlässe und Steingärten (1966)«, in: Ders., Die Gedichte. Die Maulwürfe, S. 150f. Vgl. für einen textgenetischen Nachweis dieser wachsenden Tendenz zur Verrätselung Sandy Attia, »Günter Eichs Gedicht Gespräche mit Clemens und seine Vorfassungen, ›Versuche in Wasserfarben‹ und poetologische Verschlüsselungen«, in: Dutt/von Petersdorff (Hrsg.), Günter Eichs Metamorphosen, S. 33–46. Vgl. Thomas Götz, Die brüchige Idylle. Peter Huchels Lyrik zwischen Magie und Entzauberung, Frankfurt am Main, Berlin u. a. 1999, S. 59–67.

Eich und Huchel: Die sprachkritische Aktualisierung der Naturlyrik

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Autoren zu distanzieren; er habe niemals dazu gehört, es sei »reiner Zufall« gewesen, »daß ich den Preis erhielt«, und Eich habe er ohnehin erst 1934 kennengelernt.135 Nach Stephen Parker hat Huchels Bedürfnis, seine frühe Nähe zum Kolonne-Kreis zu verschleiern, verschiedene Ursachen. Unangenehm scheint ihm vor allem die konservative Entwicklung der Kolonne-Autoren in den 30er Jahren gewesen zu sein. Tatsächlich erwies sich die Nähe zur Kolonne für Huchels Arbeit nach 1945 und bei seiner Selbstpositionierung als linker Autor als problematisch.136 Andererseits ist die konzeptionelle Nähe Huchels zu den ästhetischen und stilistischen Konzepten der Kolonne und der Literarischen Welt unverkennbar.137 Ein weiterer Grund für die Distanzierung könnte in Raschkes letztlich kritischer Analyse von Huchels früher Lyrik zu finden sein.138 Der Text stammt aus dem Jahr 1932 und wurde als Präsentation im Anschluss an die Verleihung des Kolonne-Preises geschrieben. Zwar kommt Raschke am Ende zum Ergebnis, dass »die Welt Peter Huchels alles andere als gestrig, als ländlich in einem herkömmlichen Sinne«139 sei; denn die »Einheit des Lebens«, von der die Gedichte wie von einem Traume zu sprechen scheinen, wird nicht vom Dichter in einem naturburschenhaften Sinne erlebt, auch nicht umweglos empfunden, sondern sie kann nur als Illusion durch Beschwörung jener Zeit erreicht werden, von der noch alles Seiende dem schauenden Auge und dem scheuen Herzen eins schien, ruhend in dem großen Mutterleibe der Jahreszeiten: durch Beschwörung der Kindheit.140

Aber Raschke versäumt auch nicht, die Probleme der in seinen Augen zu stark von ästhetizistischer Sprachreflexion affizierten Lyrik Huchels anzudeuten. Er trage oft »Verliebtheit in die Sprache zur Schau« und neige dazu, 135

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Peter Huchel, »Brief an Axel Vieregg vom 3. Januar 1974«, in: Gesammelte Werke, Axel Vieregg (Hrsg.), Bd. 2: Vermischte Schriften, Frankfurt am Main 1984, S. 358. Eine ausführliche Diskussion findet sich bei Stephen Parker, Peter Huchel. A Literary Life in 20th-Century Germany, Bern, Berlin, Frankfurt am Main u. a. 1998, S. 150–154. Stephen Parker, »Peter Huchel«, in: Parker/Davies/Philpotts, The Modern Restoration, S. 335–365, hier S. 341: »Huchel distanced himself from Die Kolonne in general and the conservative nationalist Raschke in particular. Huchel’s aesthetic and stylistic assumptions were much more in tune with the restorative mood promoted in Die Kolonne and in Die literarische Welt than he would later care to acknowledge.« Vgl. auch Joseph P. Dolan, »Die Politik in Huchels früher Dichtung«, in: Axel Vieregg (Hrsg.), Peter Huchel, Frankfurt am Main 1986, S. 92–109. Martin Raschke, »Zu den Gedichten Peter Huchels (1932)«, in: Hans Mayer (Hrsg.), Über Peter Huchel, Frankfurt am Main 1973, S. 157–159. Ebd., S. 159. Ebd.

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»auf der Sprache wie auf einem gutgestimmten Klavier zu spielen anstatt sie neu zu erschaffen«.141 Dieser Sprachgebrauch ist für Raschkes ästhetische Kriterien offenbar zu unauthentisch und habe zur Folge, dass die Worte »zu Drogen« würden: »Sie erzeugen, richtig ausgesprochen, im Dichtenden und in dem gleichgestimmten Leser einen rauschartigen Zustand des Verbundenseins mit dem Urgrund aller Wesen, eingehüllt in einen dumpfen sinnlichen Geruch.«142 Raschkes Hinweise verdeutlichen, dass zwischen dem frühen Huchel und anderen Kolonne-Dichtern tatsächlich ästhetisch eine gewisse Distanz bestanden haben mag. Natürlich steht Huchels Tendenz zu einer erhöhten sprachlichen Artifizialität hinter dem Bedürfnis zurück, eine in der Moderne verlorene natürliche Ganzheit zu evozieren. Aber Huchels Lyrik ist bereits in den Anfängen stärker modernistisch gefärbt – expressionistische Prägungen sind unübersehbar, die Nähe zu Trakl erwähnt Huchel selbst –,143 und weist, deutlicher als bei Eich, bereits jene Markierungen auf, die später zu einem eigenen sprachlichen Zeichensystem ausgebaut werden können. Diese Konstellation setzt sich nach 1945 im Gravitationsfeld der DDRLiteratur fort. Huchel sucht keineswegs die Anpassung an sozialistische Literaturprogramme, sondern entwickelt eine individuelle und idiosynkratische Zeichensprache unabhängig davon weiter. Das geschieht zunächst in einer gewissen Affinität zu den Zielen der frühen Kulturpolitik der DDR, spätestens seit 1953 aber in wachsender Opposition. Seine Lyrik wird auf diese Weise, nicht weniger als die Literaturpolitik, die er als Herausgeber von Sinn und Form vertritt, zur kritischen Auseinandersetzung eines Intellektuellen, der sich selbst als gesamtdeutsch und humanistisch versteht, mit dem zunehmend repressiven DDR-System. Huchel kultiviert ein Literaturverständnis, das jenseits der programmatischen Vorgaben sozialistischer Literaturtheorie angesiedelt ist. Zwischen Affinität und Abwehr verläuft die Evolution einer individuellen lyrischen Zeichensprache, in der die Reflexion der politischen Dimension allerdings weiterhin und gerade wegen Huchels kritischer Distanz eine entscheidende Rolle spielt. In gewisser Weise schafft erst diese Distanz zur Politik die Bedingungen für seinen Beitrag zur DDR-Literatur.

141 142 143

Ebd., S. 157. Ebd. Peter Huchel, »Dankrede anläßlich der Überreichung des Österreichischen Staatspreises für europäische Literatur (1972)«, in: Ders., Gesammelte Werke, Bd. 2, S. 312–314, hier S. 313. Für eine Untersuchung der Trakl-Nähe vgl. Götz, Die brüchige Idylle, S. 50–59.

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Beide, Eich und Huchel, entwickeln ihre Lyrik nach 1945 als ein System von Zeichen, das sich zur Oberfläche der Wirklichkeit inkongruent verhält. Eichs Reflexionen über den Erkenntniswert sprachlicher Zeichen stehen bereits in den 30er Jahren, spätestens aber seit 1945 im Kontext sprachkritischer Überlegungen, wobei sie, allem Skeptizismus zum Trotz, eine rudimentäre, zumindest ›trigonometrische‹ Orientierungsfunktion der Sprache nicht ausschließen. In öffentlich-politischen Kontexten erweitert sich Eichs Position im Laufe der 50er Jahre sogar zur Widerständigkeit eines poetischen, nicht an alltagssprachliche Konventionen angepassten »committed aestheticism«.144 Huchel geht von Anfang an einen anderen Weg. Seine lyrische Sprache ist bereits in den frühen Gedichten geprägt von der Konzentration auf Bildwelten, die allesamt dem Erfahrungsbereich seiner Kindheit im märkischen Alt-Langerwisch entstammen. Die Evokation der Erinnerung an eine ganzheitlich-ursprüngliche Natur zielt bei Huchel auf die Versprachlichung intensiver sinnlicher Wahrnehmungen. Während Eichs wirklichkeitskritische lyrische Reflexionen in erster Linie den Zugang zu einer hinter der sichtbaren Natur liegenden Sinnebene reflektieren, ist der mythologisch-religiöse Charakter der Natur-Dinge in Huchels Gedichten eine zweite Sinnebene, die sich hinter der konkreten, biographisch fundierten Erfahrung auftut. Einer der Texte, der diese Überblendung autobiographischer Realität und mythisch-religiöser Evokation eines verlorenen Ganzheitszustands erkennen lässt, ist »Der glückliche Garten«: Einst waren wir alle im glücklichen Garten, ich weiß nicht mehr, vor welchem Haus, wo wir die kindliche Stimme sparten für Gras und Amsel, Kamille und Strauß. Da saßen wir abends auf einer Schwelle, ich weiß nicht mehr, vor welchem Tor, und sahn wie im Mond die mondweißen Felle der Katzen und Hunde traten hervor. Wir riefen sie alle damals beim Namen, ich weiß nicht mehr, wie ich sie rief. Und wenn dann die Mägde uns holen kamen, umfing uns das Tuch, in dem man gleich schlief.145

Schon der Titel »Der glückliche Garten« evoziert ein religiöses Paradies-Bild, das im ersten Vers wiederholt wird, dann aber in den Versen 3 und 4 mit 144 145

Vgl. Richardson, Committed Aestheticism. Peter Huchel, »Gedichte (1948)«, in: Ders., Gesammelte Werke, Axel Vieregg (Hrsg.), Bd. 1: Die Gedichte. Frankfurt am Main 1984, S. 74.

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einem realistischen Hintergrund aufgeladen wird. Die Szene mit den Kindern, die im Mond Katzen und Hunde erkennen, kann ebenso Erinnerung an ein naives Kinderspiel sein wie Hinweis auf die Gestalt einer mythologischen Muttergottheit, die bereits für den frühen Huchel ein zentrales Symbol ist.146 Die Möglichkeit, diese mythologisch geladenen Zeichen als Grundlinien einer Chiffrensprache zu lesen, ist also in den frühen Gedichten bereits sichtbar, auch wenn hier noch der konkrete, situativ-sinnliche Charakter der Szenerie im Vordergrund steht. Huchel selbst war von diesem realistisch-symbolischen Doppelcharakter seiner Lyrik offenbar zeitlebens überzeugt, denn in seinen poetologischen Selbstkommentaren zeigt sich nirgends, wie bei Eich, das Bedürfnis, die frühen Texte vor den unterschiedlichen historischen Kontexten zu rechtfertigen oder ihnen gar eine grundsätzlich aktuelle Dimension zuzusprechen. Im Verlauf der 40er und 50er Jahre, das hat Axel Vieregg nachgewiesen,147 wird Huchels Lyrik immer entschiedener zu einer Natursprache als Zeichensprache erweitert. Die sinnliche Präsenz der auf Kindheitserinnerungen zurückgehenden Naturgedichte eröffnet eine politische und eine existentielle Dimension. Die immer gezieltere Überkreuzung der Bildbereiche biographischer Provenienz mit mythologisch-biblischen Substraten führt zur Entstehung eines komplexen »privatmythologische[n] Bildsystem[s]«,148 das schließlich Huchels Lyrik um 1960 ausmacht und seine Variante der Nachkriegsmoderne charakterisiert. Die politische Dimension von Huchels Lyrik, vom Kriegserlebnis determiniert und vor allem in »Der Rückzug«149 verarbeitet, verweist ab 1945 auf das gesellschaftliche und politische Bedingungsfeld der sowjetischen Besatzungszone und der DDR, zunächst als Versuch, die eigenen Positionen in die Nähe der kulturpolitischen Richtlinien sozialistischer Literaturprogramme zu rücken, dann aber von distanzierter Kritik beherrscht. Huchels bereits in den Texten der 30er Jahre hin und wieder aufscheinende »Parteinahme für die Entrechteten«150 wird nach 1945 zur biographisch früh verorteten Sympathie für den Sozialismus umgedeutet – so etwa in »Der polnische Schnit146

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Vgl. dazu auch Axel Vieregg, Die Lyrik Peter Huchels. Zeichensprache und Privatmythologie, Berlin 1976, S. 103. Vgl. Axel Vieregg, »Peter Huchels Lyrik«, in: Ders. (Hrsg.), Peter Huchel, Frankfurt am Main 1986, S. 71–91, hier S. 71. Vgl. auch: Vieregg, Die Lyrik Peter Huchels. Zeichensprache und Privatmythologie. Vieregg, »Peter Huchels Lyrik«, S. 73. Huchel, »Gedichte (1948)«, in: Ders., Gesammelte Werke, Bd. 1, S. 100–107. Manfred Dierks, Art. »Peter Huchel« (Stand 1. 3. 2006), in: Kritisches Lexikon zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur – KLG.

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ter«.151 Um 1950 bemüht sich Huchel dann ausdrücklich, sozialistische Themen lyrisch zu verarbeiten; Generalbeispiel dafür ist »Das Gesetz«,152 ein Hymnus auf die Bodenreform. Solche Versuche einer politisch-ideologisch grundierten Lyrik finden sich bei Huchel vor allem in der ersten Hälfte der 50er Jahre. Sie sind Beispiele für die sprachlichen und ästhetischen Strategien, mit denen die naturlyrische Bilddimension politisiert werden soll, zeigen aber letztlich auch, dass der naturlyrische Ansatz bei Huchel nicht durch eine eindeutige politisch-ideologische Ausrichtung verändert werden kann. Seine Lyrik der 50er Jahre – die schließlich 1963 im Band Chausseen Chausseen gesammelt vorliegt – ist eine komplexe Fortführung und an die Grenzen getriebene Transformation der ästhetischen Paradigmen der frühen 30er Jahre – kein Neuansatz. Im Vergleich zu den frühen Texten wird nun die Transparenz für existentiell-religiöse und politische Sinnebenen verstärkt, der Zeichencharakter der Sprache wird intensiviert, die Konnotationsbreite und Vieldeutigkeit von Metaphern und Chiffren nimmt zu. All das hat zur Folge, dass die Texte oft eine Tendenz zum Hermetischen gewinnen. Am Ende seiner Zeit als Herausgeber von Sinn und Form ist Huchels Lyrik geprägt vom Rückzug auf die Poetik einer individuell-biographisch grundierten, zu kulturgeschichtlichen Assoziationsräumen geöffneten, polysemantisch amplifizierten Zeichensprache. Nicht zuletzt durch dieses komplexe ästhetische System, mit dem sich auch Huchel den als ›Bitterfelder Weg‹ bekannten kultur- und literaturpolitischen Zielen der frühen DDR-Jahre entzog, wird er zu einem Lyriker, der die ersten eineinhalb Jahrzehnte der DDR-Geschichte kritisch und ästhetisch vieldeutig reflektiert.153 In der Forschung war es vor allem Axel Vieregg, der die Evolution von Huchels Lyrik erstmals im Zeichen der Kontinuität dargestellt hat, die ihren Anfang in den 30er Jahren nimmt und dann in den 40er und 50er Jahren durch die Phasen der Assimilation und Abstoßung kultursozialistischer Ideologie zur Erzeugung einer idiosynkratischen und zugleich ästhetisch äußerst effektiven Zeichensprache führte. Viereggs Grundthese besagt, »daß es Huchel gelingt, die Elemente, die man als zur Naturlyrik einerseits oder zur politischen Dichtung andererseits gehörend glaubte, auf einer höheren Ebene so zu vereinen, daß sich ein Drittes, nämliche eine existentielle Dich-

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Huchel, »Gedichte (1948)«, in: Ders., Gesammelte Werke, Bd. 1, S. 52. Huchel, Gesammelte Werke, Bd. 1, S. 283–292. Vgl. zum Kontext der DDR-Literatur in den 50er Jahren: Wolfgang Emmerich, Kleine Literaturgeschichte der DDR, erw. Neuausg., Berlin 2000, S. 113–173; zur Lyrik der DDR Wilfried Barner (Hrsg.), Geschichte der deutschen Literatur von 1945 bis zur Gegenwart, München 2006, S. 307–320.

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tung, ergibt«.154 Vieregg geht von der Existenz eines »fest gefügte[n] Denkgebäude[s]« bei Huchel aus, »in dem sich nämlich die Reaktion auf ein chiliastisches Christentum mit der Rückbesinnung auf antike Diesseitsbetonung zur Privatmythologie verbindet […]«.155 Für die Analyse von Huchels Gedichten habe das zur Folge, dass die Existenz mehrerer Bedeutungsschichten von Anfang an ernst genommen werden muss. »Denn was sich in Huchels Gedicht, durch dessen sinnliche Prägnanz, dem Leser zunächst als ein Angeschautes vermittelt, wird von Huchel oft unmerklich in ein Bezugsfeld gesetzt, innerhalb dessen es auf ein Anderes, außerhalb der beobachteten Natur Liegendes transzendiert.«156 Vieregg beschreibt diese Poetik der Bedeutungsüberlagerung als »Technik des mythologischen, biblischen und historischen Bezugs«, der »über die politische Bedeutung« hinausgeht.157 Er sieht Huchels Auffassung der Wirklichkeit als Zeichensystem in der Tradition von Böhmes Mystizismus. Bereits beim frühen Huchel gebe Böhmes Signaturlehre die Anregung, eine eigene lyrische Zeichensprache zu entwickeln, die somit »schon in den zwanziger Jahren festgelegt sei, ehe sie sich, erst unter Hitler und dann wieder in den Jahren seiner Isolation in der DDR, als geeignetes Mittel der Verschlüsselung einer anders nicht mehr aussagbaren Gegenwart erwies«.158 Inhaltlich gefüllt werde dieses Zeichensystem allerdings auf eine gänzlich unmystische Art. Huchels Zeichen verwiesen »auf das Ausbleiben Gottes«; im Gegensatz zu Böhme sei Huchels Zeichenwelt von der Abwesenheit Gottes geprägt und »jede Gottsuche […] illusorisch«.159 Die Instrumente, seine biographische Bildersprache semantisch zu erweitern, findet Huchel in Bachofens in Das Mutterrecht dargelegter Archetypentheorie. »Vereinfachend läßt sich sagen, daß Huchel die Vorstellung einer Signatura Rerum von Böhme bezog, die Signa aber von Bachofen übernahm.«160 Im weiteren Gang seiner Untersuchung beleuchtet Vieregg die Strategien und Mechanismen, mit denen die politische, existentielle und die natur-mythische Bedeutungsschicht erzeugt wird, die nach Vieregg für Huchel als »vollendetes, durchgehend bewußt und zwingend komponiertes Kunstgebäude […] den Charakter einer Privatreligion annahm, deren Gebot er folgt.«161 154 155 156 157 158 159 160 161

Vieregg, Zeichensprache und Privatmythologie, S. 7. Ebd., S. 14. Vieregg, »Peter Huchels Lyrik«, S. 71. Vieregg, Zeichensprache und Privatmythologie, S. 14. Ebd., S. 17. Ebd. Ebd., S. 20. Vieregg, »Peter Huchels Lyrik«, S. 90. Vgl. Johann Jakob Bachofen, Das Mutterrecht. Eine Untersuchung über die Gynaikokratie der alten Welt nach ihrer religiösen und rechtlichen Natur, Stuttgart 1861.

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Nicht weniger wichtig sind Stephen Parkers Untersuchungen zu Huchel, die zunächst in einer grundlegenden Biographie162 dargelegt wurden und neuerdings auch, mit dem Fokus auf der Entwicklung von Huchels Lyrik im Paradigma der ›modern restoration‹, die Parker, Peter Davies und Matthew Philpotts zwischen 1930 und 1960 ansetzen,163 teilweise in einer Einzeluntersuchung vorliegen.164 Noch mehr als Vieregg, der stärker aus dem Horizont einer Autorenmonographie argumentiert, legt Parker Wert darauf, die Kontinuitätslinien in Huchels Entwicklung von den späten 20er bis in die frühen 60er Jahre zu betonen. Vor allem liegt das daran, dass Parker Huchels persönliche Entwicklungen bewusster vor dem zeitgeschichtlichen Hintergrund sieht und den auktorialen Selbststilisierungen gegenüber ein gewisses Misstrauen hegt.165 Parker untersucht zunächst Huchels Poetik während der kurzen Phase der frühen Berühmtheit, die Huchel als Protegé von Willy Haas, des Herausgebers der Literarischen Welt, zwischen 1930 und 1933 genoss. Es war in erster Linie Haas, der Huchel in einem Sonderheft der Literarischen Welt 1932 als wesentlichen Repräsentanten der jungen Dichtung propagierte, und es war wiederum Huchel, der mit seinem betont unkonventionellen Auftreten und dem neusachlich-subjektiven Ton seiner autobiographisch grundierten Naturgedichte schnell als wichtiger Vertreter der jungen Generation populär wurde. Obwohl Huchel seinen ersten Gedichtband Der Knabenteich vom Druck zurückzog, weil er, wie es in Viereggs Eintrag in Killys Autoren- und Werklexikon heißt, »wohl […] seine Kindheits- u. Landschaftsgedichte nicht als Blut- u. Bodendichtung mißverstanden sehen wollte«,166 publizierte er 1933 und 1934 weiterhin Gedichte und war bis in die frühen 40er Jahre hinein ein produktiver Hörspiel- und Filmautor. Insofern muss man wohl eher mit Stephen Parker davon ausgehen, dass Hu162 163 164 165

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Parker, Peter Huchel. A Literary Life in 20th-Century Germany. Vgl. Parker/Davies/Philpotts, The Modern Restoration, S. 1–17, bes. S. 12f. Vgl. Stephen Parker, »Peter Huchel«, S. 335–365. Hub Nijssen tendiert in seiner zeitgleich mit Parkers Untersuchung erschienenen materialreichen Biographie dazu, den oftmals problematischen Aussagen Huchels (und Monika Huchels) stärker zu folgen. Vgl. Hub Nijssen, Der heimliche König. Leben und Werk von Peter Huchel, Würzburg 1998. Für eine detaillierte Auseinandersetzung mit Nijssens Biographie und den Unterschieden zu Parkers Ergebnissen vgl. Parkers Rezension: Stephen Parker, »Rez. zu: Hub Nijssen, Der heimliche König. Leben und Werk von Peter Huchel, Würzburg 1998«, in: IASLonline (10. 05. 1999), http://iasl.uni-muenchen.de/rezensio/liste/parker.htm (Stand 2. 10. 2011). Axel Vieregg, Art. »Huchel, Peter«, in: Killy Literaturlexikon. Autoren und Werke des deutschsprachigen Kulturraumes. 2., vollst. überarb. Aufl., Wilhelm Kühlmann (Hrsg.), Bd. 5, Berlin, New York 2009, S. 621–624.

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chel 1933 keineswegs die Entscheidung traf, nicht mehr am deutschen literarischen Leben teilzunehmen,167 sondern der in der nationalsozialistischen Literaturpolitik prinzipiell vorhandenen Wertschätzung seiner Variante von Naturlyrik weder entgegenwirkte noch sie unterstützte.168 Parker konzentriert sich auf Huchels Versuche, während der frühen Nachkriegsjahre eine in den Erfahrungen von um 1930 motivierte humanistische Ethik – »eine neue Verbreitung menschlicher Gesinnung«169 – zu formulieren, die ihren ästhetischen Ausdruck wiederum in den Ansätzen der Autoren des Kolonne-Kreises um 1930 finden soll.170 Die an der Oberfläche der Texte deutlichste Kontamination mit der historischen Wirklichkeit findet sich in »Der Rückzug« – wo die Auseinandersetzung mit dem Schock des Krieges thematisiert wird – und in »Das Gesetz«, in dem Huchels Sympathien für die politische Linke am klarsten zum Ausdruck kommen. Spätestens nach dem 17. Juni 1953 jedoch gibt Huchel diese Versuche einer der offiziellen DDR-Literaturpolitik gegenüber affirmativen Lyrik auf und begann, jene aus privaten Erinnerungen und mythologischen Substraten kondensierte Zeichensprache weiterzuentwickeln, die von nun an seine Lyrik bestimmt. Deren motivische Grundlagen liegen weiterhin in der Lyrik von um 1930, aber der Verlust der sinnlich-ganzheitlichen Sicht auf die kindheitliche Naturerfahrung, der zunehmende Skeptizismus und die Chiffrierungstechniken, die diese Texte beherrschen, zeigen Huchels Wendung zu einem Verständnis der Moderne als krisenhaft gebrochener Situation. Das Resultat dieser Entwicklung – deren sichtbare öffentliche Seite die zunehmenden Schwierigkeiten bei der Herausgabe von Sinn und Form sind – ist der 1963 erschienene Gedichtband Chausseen Chausseen. Als Ausgangspunkt einer detaillierteren Betrachtung von Huchels Poetik der modernen Lyrik nach 1945 müssen deshalb die Texte aus den frühen 30er Jahren herangezogen werden. Huchels poetologische Selbstkommentare sind spärlich. Immerhin aber verleitete ihn die geplante Publikation des ersten Gedichtbandes Der Knabenteich zu Selbstanzeigen, in denen er seine spezifische Vorstellung von naturmagischem Schreiben darstellt. Man solle sich den Texten »ohne jede Programmforderung […] nähern«, denn sie seien zeitnah nur insofern, als es

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Vgl. Parker, Peter Huchel. A Literary Life in 20th-Century Germany, S. 162f. Vgl. Stephen Parker, »Peter Huchel«, S. 343f. Peter Huchel, »Rede über das Hörspiel (1947)«, in: Ders., Gesammelte Werke, Bd. 2, S. 254–260, hier S. 256. Vgl. Stephen Parker, »Peter Huchel«, S. 355f.

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»ihnen gelungen ist, die vergangene Zeit wieder gegenwärtig zu machen«.171 In den Versen gehe es um eine Kindheitslandschaft, die evozierten Erinnerungen seien eher den Sinnen des Hörens und Riechens verpflichtet als dem Sehen. Niemals wird die Landschaft fotografisch gesehen, niemals wird sie naiv – als Lied zur Laute – besungen; mit Horizonten und Bäumen von innen her will sie über die bloße Idylle hinaus; und meist erscheint sie nur, wenn der Mensch in ihr auftaucht. […] Aber nicht so sehr das Hinfinden des Menschen zur Natur, nicht so sehr das Einfühlen oder die Rückkehr in die Natur will in den Gedichten zum Ausdruck kommen, mehr noch ist es die Natur als Handelnde, die auf den Menschen eindringt und ihn in sich hineinzieht.172

Stephen Parker sieht in dieser Selbstbeschreibung Huchels »a distinctive contribution to the new mood of the early 1930s with its subjective, visionary quality«.173 Allerdings gewinnt Huchels Naturlyrik ihre Eigenart erst dadurch, dass darin die Naturmagie der Kolonne-Autoren mit Fermenten der ›Neuen Sachlichkeit‹ überkreuzt wird. Es war Huchels Anliegen, »to reground meaning through exact description of nature, thereby continuing the ›empirical‹ trend of Neue Sachlichkeit«.174 Seine Texte, so autobiographisch sie sein mögen, sind weniger von lyrischer Subjektivität geprägt (die in den frühen Gedichten Eichs als Paradigma noch deutliche Spuren hinterlässt), sondern versuchen, die Natur möglichst gegenständlich aufzufassen und auch autobiographische Erfahrungen sprachlich exakt zu fassen. Erst dieses Programm einer objektiven Naturdarstellung erlaubt es, die Gegenstände zugleich als Zeichen zu lesen und ihnen eine mythologische Parallelbedeutung einzuschreiben. Sichtbar wird das in vielen Texten der Knabenteich-Sammlung, die später die ersten Abschnitte von Gedichte ausmachten. Ein Beispiel für die Verknüpfung einer realistisch-autobiographischen Dimension mit einem mythologischen Subtext ist »Die Magd«: Wenn laut die schwarzen Hähne krähn, vom Dorf her Rauch und Klöppel wehn, rauscht ins Geläut rehbraun der Wald, ruft mich die Magd, die Vesper hallt. Klaubholz hat sie im Wald geknackt, die Kiepe mit Kienzapf gepackt. Sie hockt mich auf und schürzt sich kurz, schwankt barfuß durch den Stoppelsturz. 171

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Peter Huchel, »Zwei Selbstanzeigen zum Gedichtband ›Der Knabenteich‹ (1932)«, in: Gesammelte Werke, Bd. 2, S. 242–251, hier S. 243 [Hervorhebung durch Peter Huchel]. Ebd., S. 248f. Stephen Parker, »Peter Huchel«, S. 340f. Ebd., S. 341.

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Im Acker knarrt die späte Fuhr. Die Nacht pecht schwarz die Wagenspur. Die Geiß, die zottig mit uns streift, im Bärlapp voll die Zitze schleift. Ein Nußblatt wegs die Magd zerreibt daß grün der Duft im Haar mir bleibt. Riedgras saust grau, Beifuß und Kolk. Im Dorf kruht müd das Hühnervolk. Schon klinkt sie auf das dunkle Tor. Wir tappen in die Kammer vor, wo mir die Magd, eh sie sich labt, das Brot brockt und den Apfel schabt. Ich frier, nimm mich ins Schultertuch. Warm schlaf ich da im Milchgeruch. Die Magd ist mehr als Mutter noch. Sie kocht mir Brei im Kachelloch. Wenn sie mich kämmt, den Brei durchsiebt, die Kruke heiß ins Bett mir schiebt, schlägt laut mein Herz und ist bewohnt ganz von der Magd im vollen Mond. Sie wärmt mein Hemd, küßt mein Gesicht und strickt weiß im Petroleumlicht. Ihr Strickzeug klirrt und und blitzt dabei, sie murmelt leis Wahrsagerei. Im Stroh die schwarzen Hähne krähn. Im Tischkreis Salz und Brot verwehn. Der Docht verraucht, die Uhr schlägt alt. Und rehbraun rauscht im Schlaf der Wald.175

Auf einer realistischen Ebene behandelt der Text, dessen neun Strophen ganz regelmäßig aus Versen in vier Jamben bestehen und in Paarreimen organisiert sind, die Sorge der Magd um ein kindliches Ich. Der zeitliche Rahmen umfasst den einbrechenden Abend, die Heimkehr aus dem Wald über das Feld ins Dorf und auf den Hof, wo die Magd das Kind umsorgt, ihm Essen zubereitet, es putzt und zu Bett bringt. Auch beim Einschlafen ist die Aufmerksamkeit des Kindes auf die strickende Magd gerichtet. Am Ende der letzten Strophe verlässt der Text den Wahrnehmungshorizont des Kindes und verweist auf die Außenwelt, angedeutet in den »schwarzen Hähnen« und im Wald. Auch wenn man die von Axel Vieregg detailliert herausgearbeiteten intertextuellen Verweise auf Bachofens Das Mutterrecht und Erich Neumanns Die 175

Huchel, »Gedichte (1948)«, in: Ders., Gesammelte Werke, Bd. 1, S. 53f.

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große Mutter176 zunächst beiseite lässt, ist die Inszenierung der Magd als einer zumindest archaischen Muttergestalt erkennbar. Besonders deutlich wird sie, wenn man den Bezug des Textes auf ein Gedicht der expressionistischen lyrischen Moderne wie Trakls Die junge Magd aus dem Jahr 1913 verfolgt.177 Einerseits greift Huchel die in Trakls Gedicht dominante, atmosphärisch konzentrierte Darstellung eines bäuerlichen Milieus auf, in dem die Magd konsequent als ausgeliefert, krank und sterbend präsentiert wird. Andererseits überhöht er die Evokation der Stimmung eines ländlichen Milieus durch Strategien der Mythisierung und Archaisierung. Die ländliche Szenerie wird benutzt, um die Konstanten eines natürlichen Lebens zu betonen – den Wald, das Dorf, Pflanzen und Tiere, Nahrung. Das Verhalten der Magd gehört in diesen Naturraum: Sie sammelt Klaubholz im Wald, trägt das Kind nach Hause, melkt die Ziege, kocht Brei, strickt. Mit ihren Nähr- und Sorgetätigkeiten vermittelt sie dem Kind eine Wärme, die die Funktion der Mutter übersteigt: »Die Magd ist mehr als Mutter noch.« Gegen Ende des Textes werden die Hinweise auf diese religiös geladene Mutterfunktion deutlicher. Die Rede ist »von der Magd im vollen Mond« und von »Wahrsagerei«. Die realistische Ebene wird nun mythologisiert, wenn auch aus der Sicht des besonders intensiv und sinnlich wahrnehmenden Kindes. Diese Mythologisierungsstrategie erstreckt sich über die aus dem Gedichtkontext unmittelbar erschließbaren Hinweise hinaus. Vieregg weist nach, dass die aufgeführten Pflanzen – der Beifuß als Pflanze der ›Urmutter‹, das Riedgras als »Zeichen der üppigen Fruchtbarkeit des tellurischen Untergrundes«178 –, aber auch die Tätigkeiten der Magd – das Backen und die Milch als Fruchtbarkeitssymbole – durch die Überblendung mit Bachofen und Neumann eine chiffrenähnliche Bedeutung gewinnen. Bereits in den frühen Texten entwickelt Huchel also eine lyrische Sprechweise, die ein wesentliches Strukturmerkmal der modernen Lyrik, die immer stärkere Metaphorisierung und Chiffrierung des Bildrepertoires, aufgreift und vorbereitet, freilich innerhalb von Huchels eigenem autobiographischem Kontext des märkischen Landes. Der erste deutliche Bruch in diesem Programm einer sprachlich evozierten Natureinheit wird hervorgerufen durch die Integration historisch-politischer Ereignisse. Am sichtbarsten ist das in der Kriegserfahrung, die im Zyklus »Der Rückzug« gestaltet ist. In Gedichte wird er bewusst mit den frühen, 176 177

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Vieregg, Zeichensprache und Privatmythologie, S. 94–102. Georg Trakl, Dichtungen und Briefe, Bd. 1, historisch-kritische Ausgabe, Walter Killy, Hans Szklenar (Hrsg.), 2., erg. Aufl. Salzburg 1987, S. 12–15. Vieregg, Zeichensprache und Privatmythologie, S. 95ff.

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seit Beginn der 30er Jahre entstandenen naturmagischen Texten kontrastiert. Die einzelnen Teilgedichte – beherrscht von »Trauer und Anklage« in »barocker Grundstimmung«,179 ebenso aber von einer schonungslosen Darstellung der Zerstörungen des Krieges – zeigen eine Natur, die vom Krieg verwüstet ist. Die Geborgenheit von Mensch und Tier in der Natur wird aber nicht aufgehoben, sondern eher ins Negative transponiert: Leid und Zerstörung sind gleichermaßen über die Natur wie über den Menschen und seine Zivilisation gekommen, der so gesehen nach wie vor Teil der Natur ist – allerdings einer verwüsteten und korrumpierten Natur. Am Bahndamm rostet das Läutwerk. Schienen und Schwellen starren zerrissen, zerschossen die Güterwagen. Auf der Chaussee, den Schotter als Kissen, vom Sturz zersplitterter Pappeln erschlagen liegt eine Frau im schwarzen Geäst. Noch klagt ihr Mund hart an der Erde. In offene Augen fällt Regen und Schnee. […] Hinter der Hürde des Nebels, Schnee in den Mähnen, weiden die toten Pferde, die Schatten der Nacht.180

Die Szenerie schildert Zerstörung auf allen Ebenen: Die Reste der Zivilisation im ersten Abschnitt befinden sich im Zustand der Auflösung und sind verlassen; ebenso sind die Bäume als Teil der Natur zersplittert und haben in der Vernichtung noch eine Frau getötet, deren Klage unmittelbar »an die Erde« gewandt war und die nun durch Schnee und Regen – »[i]n offene Augen / fällt Regen und Schnee« – ebenso der zerstörten Natur wieder einverleibt wird wie die toten Pferde, die vom Nebel und von den »Schatten der Nacht« regelrecht verschluckt werden. Allerdings wird auch bei Huchel die Zerstörung am Ende von »Der Rückzug« in Hoffnung überführt: Des Frühjahrs Regengüsse, sickernd durch Gräber und Finsternis, sind es die Wasser der Wiedergeburt? Eis war die Furt, 179 180

Dierks, »Peter Huchel«. Huchel, »Gedichte (1948)«, S. 100f.

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Nebel zerriß. Aus der erdigen Wurzel des Korns zieht die weiße Sonne ihr Licht. Unter der eiszerfressenden Rinde wächst das bleiche Holundermark, saugt aus der Toten Knochen … […] Und es wächst im Nebel das Korn, noch überwölbt von Finsternis, hinter dem Hang vergorener Herbste, Wasser und Schlamm, leuchtet die Sichel im Widderhorn.181

Die vom Menschen zerstörte Natur reinigt sich selbst im Zyklus ihrer alljährlichen Erneuerung von den Verwüstungen des Krieges. Thematisiert wird die »Rückkehr« zu den gesunden Rhythmen aus der Zeit vor der Zerstörung; sie wurden vom menschlichen Handeln zwar unterbrochen, aber nicht aufgehoben. Insofern unterscheidet sich Huchel nicht von den anderen Naturlyrikern, die unmittelbar nach 1945 der Katastrophe mit den ästhetischen Mitteln, noch mehr aber mit den antihistorischen Denkfiguren naturlyrischer Poetiken zu begegnen versuchen. Allerdings beschränkt er sich bei der Darstellung der Zerstörung nicht auf eine allgemeine, mythologische Ebene, sondern führt die sprachliche Intensität der frühen Lyrik fort. Gleichermaßen ist nun das zyklische Wiedererwachen der Natur kein Vergessen, sondern ein Neuanfang aus dem vorhergehenden Tod, der immer wieder erinnert wird – am prägnantesten vielleicht in der Formulierung »saugt aus der Toten Knochen …«. Aus dieser Sicht ist Huchels Vermittlung der geschichtlichen Katastrophe mit den Selbsterneuerungszyklen der Natur kein Ausblenden historischer Kontingenz, sondern zumindest ein hoch reflektiertes Programm der Integration dieser Kontingenz in sein naturmythologisches System. Huchels Weg einer inhaltlich-motivischen Aktualisierung der Naturlyrik ist markiert von solchen Experimenten der Integration politischer Themen. Ähnliche Tendenzen der Politisierung – als »soziale[ ] Anklage, Parteinahme für die Entrechteten«182 – finden sich etwa in »Der polnische Schnitter«, einem Text, der 1948 in Gedichte unmittelbar nach »Die Magd« steht: 181 182

Ebd., S. 107. Dierks, »Peter Huchel«. Manfred Dierks scheint durch die Positionierung des Textes unter den Gedichten um 1930 implizit dazu tendieren, auch seine Entstehung in dieser Zeit anzusetzen. Stephen Parker sieht für diese frühe Datierung

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Klag nicht, goldäugige Unke, im algigen Wasser des Teichs. Wie eine große Muschel rauscht der Himmel nachts. Sein Rauschen ruft mich heim. Geschultert die Sense geh ich hinab die helle Chaussee, umheult von Hunden, vorbei an rußiger Schmiede, wo dunkel der Amboß schläft. Draußen am Vorwerk schwimmen die Pappeln im milchigen Licht des Mondes. Noch atmen die Felder heiß im Schrei der Grillen. O Feuer der Erde, mein Herz hält andre Glut. Acker um Acker mähte ich, kein Halm war mein eigen. Herbststürme, weht! Auf leeren Böden werden die hungrigen Schläfer wach. Ich geh nicht allein die helle Chaussee. Am Rand der Nacht schimmern die Sterne wie Korn auf der Tenne, kehre ich heim ins östliche Land, in die Röte des Morgens.183

Zwei gegenläufige Tendenzen sind in diesem Gedicht vereint: Der für gewöhnlich zitierte Protestruf in der vierten Strophe hat innerhalb der Dynamik des Gesamttextes den Charakter einer Unterbrechung, einer Aufhebung des friedlichen Einklangs des Schnitters mit der Natur, der in den ersten drei Strophen thematisiert wird. Dort ist die Natur sicher und geborgen, der Himmel erscheint dem Sprecher-Ich »[w]ie eine große Muschel«, sein Rauschen wie ein Ruf nach Hause zu kommen, und das abendliche Dorf ist geprägt von der Ruhe nach getaner Arbeit. Diese Erfahrung vom Einklang

183

keinen gesicherten Hinweis (Parker, Peter Huchel. A Literary Life in 20th-Century Germany, S. 270), Vieregg gibt in der Werkausgabe nur als Publikationsjahr 1948 an (Huchel, Gesammelte Werke, S. 381). Huchel, »Gedichte (1948)«, S. 54f.

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zwischen Natur und Lebewesen erstreckt sich auch auf die Tiere: In der ersten Strophe wird die Klage der »goldäugige[n] Unke« – ein Märchenmotiv, das auf Unerlöstheit, auf den Drang der Befreiung von der Natur anspielt – mit dem Zustand der Geborgenheit unter dem Himmel und in der Natur konfrontiert. In den ersten drei Strophen des Textes werden Bilder einer fast ungetrübten Einheit mit der Natur inszeniert, wobei allerdings der Hinweis auf die Möglichkeit einer zukünftigen Veränderung dieses Zustands mitschwingt: »Noch atmen die Felder heiß / im Schrei der Grillen.« Erst in der vierten Strophe unterbricht der Ausruf des Schnitters die Einheit. Seine ursprüngliche Naturnähe wird damit in Widerspruch gesetzt zu der Tatsache, dass die Natur, der er sich zugehörig fühlt, nach gesellschaftlichen Maßstäben nicht ihm gehört. Rückblickend kann nun das Klagen der Unke als ein Zeichen für diese unaufgelöste Spannung gesehen werden, die in der fünften Strophe auch ein Umschlagen der spätsommerlichen Geborgenheitsszenerie nach sich zieht. Der Aufruf »Herbststürme, weht!« ist das deutlichste Element des Protests: Der Schnitter erklärt damit bewusst sein Einverständnis, den Einheitszustand aufzuheben, den er selbst, als er die Unke anredet, noch artikuliert hat. Das Erwachen der »hungrigen Schläfer«, die mit ihm »die helle Chaussee« gehen, deutet wiederum auf die Repräsentativität seines Zustands als Erntearbeiter, der eine Natur bewirtschaftet, die nur emotional, nicht aber faktisch die seine ist. Seine Heimkehr »ins östliche Land, / in die Röte des Morgens« verspricht Hoffnung auf Änderung dieses Zustands. Soweit man bei Huchel in den Jahren nach dem Krieg von Versuchen der politischen Aktualisierung seiner Lyrik sprechen kann, nimmt sie die Form einer Erweiterung seiner Evokationen einer erinnerten Einheit zwischen Natur und Mensch ins Politische an. Das berühmteste Beispiel dafür ist zweifelsohne »Das Gesetz«, veröffentlicht erstmals 1950 in Sinn und Form. Die Grundtendenz des Textes ist nicht sehr verschieden vom »Polnischen Schnitter«: Der Einklang der Menschen mit der Natur, die sie seit Generationen kultivieren, ist Ausgangspunkt des Gedankengangs. Nach der Zeit der nationalsozialistischen Diktatur – im Sinne der kommunistischen Geschichtsdeutung für die Landbevölkerung beschrieben als Zeit kapitalistischer Ausbeutung – und nach den Wirren von Krieg und Flucht soll durch das Gesetz der Landreform eine neue Zeit geschaffen, »das Siegel der Herren zerbrochen, / […] ihr Testament [zerrissen]«184 werden. Wenn dann »neue[r] Grund«185 gelegt ist und das »[e]rschöpfte[ ] Volk« den »erschöpf184 185

Ebd., S. 288. Ebd., S. 289.

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ten Acker«186 bewegt, könne auch die Harmonie mit der Natur wiedererlangt werden: Septemberabend. Die Ackerwege sind weiß und eben vom Ortscheit des Mondes.187

Am Ende des Textes steht die Erkenntnis, dass das Volk durch die harte Arbeit auf seinem eigenen Boden durch die Katastrophen der Geschichte hindurchgeführt wurde und im zyklischen Rhythmus der Natur erlöst werden kann. Dezemberrissiger Acker, auftauende Erde im März, Mühsal und Gnade trägt der Mensch.188

Man kann also bei Huchel von assimilatorischen Ansätzen der Modernisierung in motivisch-thematischer Hinsicht sprechen: Sowohl die Kriegsthematik als auch die politischen Diskurse in Ostdeutschland werden in die stilistischen und ästhetischen Figurationen der früheren Naturlyrik integriert. Eine weitere Veränderung dieser neuen Konstellation setzt in den frühen 50er Jahren ein. Die Rhetorik der politisierenden Nachkriegslyrik weicht nun zunehmendem Skeptizismus und Pessimismus auf Seiten Huchels. Auch wenn er als Herausgeber von Sinn und Form noch bis 1962 weiterarbeitet, wächst die Distanz zur DDR und zu ihrer Kulturpolitik. Ästhetisch führt das zu einem stärkeren Rückzug in die lyrische Privatsprache der frühen Gedichte; zugleich wird diese durch immer stärkere Verknappung und Chiffrierung zu einem Vehikel der impliziten Kommentierung des politischen Umfelds. Auch stilistisch – sowohl in der immer häufigeren Absage an regelmäßige Metren und Reime als auch in der zunehmenden sprachlichen Verknappung – zeigt sich nun Huchels Wendung zur lyrischen Moderne, die er selbst nicht zufällig 1960 in der Nennung von Trakl, Rimbaud und Baudelaire als seinen wichtigsten Vorbildern andeutet.189 Die Sammlung Chausseen Chausseen, die 1963 erscheint, ist das Ergebnis von Huchels Transformation der Naturlyrik und damit sein genuiner Beitrag zur Modernisierung der deutschsprachigen Lyrik in den 50er Jahren. Es ist 186 187 188 189

Ebd., S. 290. Ebd., S. 291. Ebd., S. 292. Zitiert nach Axel Vieregg, »Editorisches Nachwort«, in: Peter Huchel, Gesammelte Werke, Bd. 1, S. 359.

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kein Zufall, dass das Titelgedicht »Chausseen«,190 das Teil IV der Sammlung eröffnet, ursprünglich als Teil von »Das Gesetz« publiziert wurde.191 Die Integration der historischen Dimension in die ahistorisch-mythologische Kindheitslandschaft war für Huchel ein wichtiger erster Schritt zur Modernisierung der naturmagischen Poetik. Die Spuren dieser Historisierung werden auch in den Band aufgenommen, den man als Protokoll dieses Prozesses auffassen könnte.192 Dabei weist das Gedicht im Vergleich zu »Der Rückzug« eine wichtige Akzentverschiebung auf. Die beiden ersten Abschnitte greifen das bekannte Zerstörungsszenario auf und verknüpfen es mit einer religiösen Dimension.193 Der Krieg wird reflektiert als sündhafte Vergewaltigung der Natur – »[e]rwürgte Abendröte«194 –, die geschichtliche Katastrophe als chaotische Unterbrechung der naturzeitlichen Rhythmen. Aber im dritten Abschnitt fügt Huchel diesen Gedanken eine poetologische Dimension hinzu: Tote, Über die Gleise geschleudert, Den erstickten Schrei Wie einen Stein am Gaumen. Ein schwarzes Summendes Tuch aus Fliegen Schloß ihre Wunden.195

Vor allem der »erstickte[ ] Schrei«, der den Toten »[w]ie ein[ ] Stein am Gaumen« haftet, deutet die sprachliche Dimension der Zerstörung an: Die Sprache versagt vor der historischen und natürlichen Katastrophe, die Artikulation der Opfer wird »erstickt«, es bleibt das Einfrieren der Stimme im Augenblick des Todes, das Verstummen.196 Allerdings ist das Verstummen nur eine Seite im dialektischen Prozess der Rettung und Wiederfindung der Sprache. Auf der anderen Seite steht nicht nur die Natur, deren »schwarzes / Summendes Tuch aus Fliegen« die Wunden der Toten schließt, also die Sprachlosigkeit der Ermordeten mit einem Naturlaut kompensiert und be190 191 192

193 194 195 196

Huchel, »Chausseen Chausseen (1963)«, in: Ders., Gesammelte Werke, Bd. 1, S. 141. Vgl. Huchel, Gesammelte Werke, Bd. 1, S. 284f. und S. 407. Rino Sanders sprach bereits 1964 von einer »rigorosen Prüfung«, der Huchel in den »fünfziger Jahren seine Kunst und seine Mittel […] unterzogen haben« müsse. Vgl. Rino Sanders, »›Chausseen Chausseen‹«, in: Hans Mayer (Hrsg.), Über Peter Huchel, Frankfurt am Main 1973, S. 28–35, hier S. 29. Vgl. Götz, Die brüchige Idylle, S. 90f. Huchel, »Chausseen Chausseen (1963)«, in: Ders., Gesammelte Werke, Bd. 1, S. 141. Ebd. So weit auch Götz, Die brüchige Idylle, S. 90f.

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wältigt. Vor allem steht hier das Gedicht selbst, das in der sprachlichen Aufarbeitung der verstummten Toten ihnen doch wieder eine Stimme verleiht. Selbst der Vorgang des Verstummens im endzeitlichen Zustand der »[e]rwürgte[n] Abendröte / Stürzender Zeit« ist im Gedicht Ausgangspunkt für die Suche nach einer poetischen Sprache nach der Katastrophe. Wie diese Sprache aussehen kann und welche Probleme, Fragen und ästhetischen Strategien damit verknüpft sind, wird in Chausseen Chausseen deutlich, zuallererst am Eröffnungstext. Dass Huchel dem Gedicht »Das Zeichen« eine besondere programmatische Funktion zugedacht hat, geht bereits aus dieser Positionierung hervor. Zudem stellt der Titel den Bezug zu Eichs Reflexionen über eine naturlyrisch grundierte Zeichensprache her und liefert eine Art Stellungnahme zu Eichs poetologischen Überlegungen der 50er Jahre. Fraglos geht die Desillusion über das Vermögen der Sprache, die Wirklichkeit zu erschließen, in Huchels Fall viel weiter als bei Eich. In der Frage »War es das Zeichen?« oder in der Feststellung »Nichts war zu deuten« liegt mehr als Distanz zu einer nicht mehr entzifferbaren Natursprache: Huchel formuliert eine grundsätzliche Skepsis über die Möglichkeiten einer Deutung der Natur. Stephen Parker führt diese »dark negativity of ›Das Zeichen‹«197 auf die Erfahrungen in der DDR zurück. Der Text reflektiere deutlich Huchels »disillusion with rural life in the GDR drained of its magic potential following the collectivization of agriculture, which was pushed through in 1960«.198 Das trifft sicher zu, aber die Negativität von »Das Zeichen« geht noch ein gutes Stück über biographische Enttäuschung wegen der einschneidenden Folgen der Kollektivierung hinaus. Man kann den Text als Huchels Antwort auf die Aktualisierung der Moderne in Nachkriegszeiten unter dem Vorzeichen der Sprachskepsis lesen. Huchel wirft im ersten Text von Chausseen Chausseen, einem Band, in dem er 1963 erstmals seit Gedichte seine Entwicklung einem breiteren Publikum in geschlossener Buchform dokumentieren konnte,199 die Frage nach den ästhetischen und poetologischen Möglichkeiten einer Lyrik unter den Bedingungen der Nachkriegszeit und der misslungenen Allianz aus Naturlyrik und sozialistischer Ideologie auf. Trotz des Eich-Bezugs geht es nicht in erster Linie darum, Eichs Konzept der Natur als noch, kaum oder gar nicht mehr entschlüsselbare Zeichenwelt zu entlarven. »Das Zeichen« hat den Charakter einer radikalen Revision von Huchels bisheriger Poetik. Sowohl die motivischen Grundlagen in der Kindheitslandschaft als auch der Konsequenzen, 197 198 199

Parker, Peter Huchel. A Literary Life in 20th-Century Germany, S. 436. Ebd., S. 436f. Vgl. Sanders, »›Chausseen Chausseen‹«, S. 28f.

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die das für die formalen und ideologischen Qualitäten seiner Version der konservativen Moderne hatte, werden hier reflektiert und weitergeführt. Baumkahler Hügel, noch einmal flog am Abend die Wildentenkette durch wässrige Herbstluft. War es das Zeichen? Mit falben Lanzen durchbohrte der See den ruhlosen Nebel. Ich ging durchs Dorf und sah das Gewohnte. Der Schäfer hielt den Widder gefesselt zwischen den Knien. Er schnitt die Klaue, er teerte die Stoppelhinke. Und Frauen zählten die Kannen, das Tagesgemelk. Nichts war zu deuten. Es stand im Herdbuch. Nur die Toten, entrückt dem stündlichen Hall der Glocke, dem Wachsen des Epheus, sie sehen den eisigen Schatten der Erde gleiten über den Mond. Sie wissen, dieses wird bleiben. Nach allem, was atmet in Luft und Wasser. Wer schrieb die warnende Schrift, kaum zu entziffern? Ich fand sie am Pfahl, dicht hinter dem See. War es ein Zeichen? Erstarrt im Schweigen des Schnees, schlief blind das Kreuzotterndickicht.200

Huchel stellt in »Das Zeichen« die Frage nach der Gültigkeit einer Poetik, die in der Natur einen Ausgangspunkt für Reflexionen über die existen200

Huchel, »Chausseen Chausseen (1963)«, S. 113f.

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tielle oder auch nur über die zeitlich-historische Verfasstheit des Einzelnen sieht.201 Die Antwort, die der Text gibt, ist zutiefst skeptisch. Die Reflexion über die »[k]aum zu entziffern[de]« »warnende Schrift« – im Verhältnis zu den früheren Texten eine nicht mehr entzifferbare Schrift –, deren Status als Zeichen ohnehin unsicher geworden ist, endet in Schlaf, Schweigen und Blindheit. Die Dimension sinnlicher Wahrnehmung, die textuelle Herstellung möglichst intensiver sinnlicher Präsenz – diese für Huchels frühe Poetik so zentralen Merkmale sind hoch fragwürdig geworden. Insbesondere in Zweifel gezogen wird die Möglichkeit, die Natur und das im Einklang mit der Natur stehende ländlich-archaische Leben als Ausgangspunkt existentieller oder religiös-mythologischer Ganzheitserfahrungen zu sehen. Der dritte Abschnitt des Textes ruft diese Konstellation auf als Beobachtungen des Sprecher-Ichs, das bei einem Gang durch das Dorf »das Gewohnte« sieht. Nach wie vor scheint zu gelten, dass die Anschauung der alltäglichen Dinge entscheidend ist und nicht ihre Deutung: »Nichts war zu deuten. / Es stand im Herdbuch.« Dieses Fazit liest sich wie eine Bestätigung der Ästhetik der Sichtbarkeit, die in Gedichte vorherrschte. Aber es ist an diesem Punkt des Textes bereits zweifach in Frage gestellt: Deutlich durch die Frage »War es das Zeichen?«, die den zweiten Abschnitt eröffnet, und implizit durch die Ankündigung der Wiederholungskonfiguration im ersten Abschnitt. »Baumkahler Hügel, / Noch einmal flog […]«: Die vage Zeitbestimmung ›noch einmal‹ impliziert die Erwartung, dass eine offenbar bereits obsolete, nicht mehr zeitgemäße Situation sich letztmalig wiederholt, und natürlich wird diese syntaktisch erzeugte Erwartung durch die Herbstsemantik der bald davonziehenden Wildenten unterstützt. Im zweiten Abschnitt wird der Zweifel dann ausdrücklich formuliert in der Zeichenfrage, die ebenso präzise (war »die Wildentenkette / Durch wäßrige Herbstluft« das Zeichen?) wie unbestimmt (wofür war es ein Zeichen, worauf deutet es hin?) gehalten ist. Der vierte Abschnitt setzt an mit einem radikalen Perspektivenwechsel, denn die Wahrnehmung der Toten, um die es nun geht, liegt außerhalb der menschlichen und der Zeit der Natur; sie sind »[e]ntrückt dem stündlichen Hall / Der Glocke, dem Wachsen des Efeus« und somit fähig, die Bewegungen der Erde und des Mondes als das einzig Dauerhafte zu erkennen, das hinter der lebendigen Natur »[i]n Luft und Wasser« bleibt. Der Bereich lebendig-kreatürlichen Lebens wird mit der kosmischen Kälte sphärischer Bewegungen konfrontiert und damit als Bereich der Toten gekennzeichnet. Die ursprüngliche Natur des dörflich-archaischen Lebens erscheint angesichts 201

Vgl. für eine Gesamtinterpretation Götz, Die brüchige Idylle, S. 92–96.

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des Kosmos relativiert, die Sicherheit dieser dinglich-sinnlichen Gegenwart untergraben. Im fünften und sechsten Abschnitt werden die Konsequenzen dieser Erkenntnis weiterverfolgt, allerdings im Modus der Vermutungen und offenen Fragen – das Ich des Gedichts ist viel eher Diagnostiker eines problematischen Zustands als diejenige Instanz, die diesen Zustand zu Ende denkt oder begrifflich fassen könnte. Zunächst ist die Rede von der »warnende[n] Schrift« – ein weiterer Hinweis auf die Abschluss- und Umbruchssituation, die bereits im ersten Abschnitt angedeutet ist, nun allerdings um einen bedrohlichen Charakter erweitert. Dass sie »[k]aum zu entziffern« ist, vergrößert die Distanz zu der verändernden, nicht mehr wie früher entschlüsselbaren Zeichensprache der Natur. Eben deswegen ist die Schrift eine Warnung, und eben deswegen ist die Frage, ob es sich dabei um »das Zeichen« handle, nicht nur eine Wiederholung der ersten Frage, sondern Ergebnis der im Gedicht verfolgten Gedankengänge: Die Unsicherheit wächst, es wird zusehends fragwürdig, ob überhaupt noch eine Verbindung zur Natur besteht. Genau diese mögliche Konsequenz einer vollkommen ›erstarrten‹, nicht mehr zugänglichen und fernen Natur wird im letzten Abschnitt gezogen. Der einförmig-konturenlose und lebensfeindliche Schnee unterbricht die Beziehung zur Natur. Das erzwungene Schweigen verweist auf die gestörte Kommunikation, die Blindheit und das Schlafen auf die Unterbrechung jeglichen Kontaktes von Seiten der Natur – in diesem Fall einer offenbar bedrohlichen und ohnehin schon schwer zugänglichen Natur im »Kreuzotterndickicht«. Huchel stellt mit »Das Zeichen« seine bisherige Poetik der Naturlyrik in Frage und führt sie an ihre Grenzen. Aber indem er den Text an den Anfang der Sammlung stellt, deutet er zugleich das poetologische Programm für die neue, in Chausseen Chausseen versammelte Lyrik an: Anstatt den Zustand vollendeter Skepsis als Ende zu akzeptieren, liefert er eine Bestandsaufnahme und schafft einen Ausgangspunkt für die Suche nach neuen poetischen Möglichkeiten, zumindest für deren Diskussion auf der Grundlage der krisenhaften und durch historische und biographische Erfahrungen unterminierten bisherigen Poetik. Der Titel Chausseen Chausseen steht in dieser Lesart auch für die Fortsetzung des einmal begonnenen Weges und formuliert in gewisser Weise Huchels Variante einer Kahlschlag-Poetik. Anstatt die Forderung nach einem radikalen Neubeginn in den Mittelpunkt zu stellen, die dann Gefahr läuft, zu einem nicht einlösbaren Postulat zu verkommen, liefert »Das Zeichen« eine schonungslose Reflexion der vorhandenen Möglichkeiten und führt sie an ihr Ende – ins Verstummen und Schweigen. Aber gerade indem diese Konsequenz entwickelt wird, erzeugt der Text neue Möglichkeiten, sie

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sprachlich umzusetzen. Indem Huchel über den Kontext der bisherigen Naturpoetik reflektiert – die Naturszenerie, das Dorf, die Zeichenhaftigkeit der Naturbewegungen –, erzeugt er bereits Möglichkeiten, die Krisendiagnose sprachlich zu reflektieren, vor allem durch eine Verknappung der Aussagen und die Chiffrierung des vorhandenen Inventars an Naturzeichen. So skeptisch also die Grundstimmung des Gedichts sein mag, es deutet zugleich die Möglichkeiten der Transformation von Huchels Poetik an. Poetologisch gesehen beschreibt Chausseen Chausseen Huchels Weg von der Naturlyrik zur Moderne. Wenn den Texten von Chausseen Chausseen eine gemeinsame Poetik zugrunde liegt, dann ist sie geprägt von diesem Versuch, die Möglichkeiten lyrischen Sprechens nach dem Verlust der stabilisierenden Sicherheit einer komplexen, der Wahrnehmung des Einzelnen aber immer noch zugänglichen Natur neu zu bestimmen. Dieser verlorene Zustand bildete die thematische und ideologische Grundlage von Huchels Lyrik einer konservativen Moderne der 30er und 40er Jahre. Aus dem Anliegen einer Neubestimmung kann die Logik von Chausseen Chausseen erschlossen werden. Verschiedene für Huchel zentrale Motive seiner Lyrik – vor allem die Beobachtung und Reflexion von Naturszenerien, von mediterranen Landschaften oder Städten, aber auch die Beschreibung der Kriegskatastrophe – werden in mannigfachen Variationen neu erprobt. Dabei zeigt sich nicht nur eine charakteristische Verknüpfung zwischen der Auflösung traditioneller metrischer Formen und einer Problematisierung einheitsstiftender Naturmotivik. Es findet auch eine Integration der bereits früher entwickelten Bildketten in die krisenhaften Szenerien einer neuen Natursicht statt. Huchel schafft in Chausseen Chausseen eine Lyrik, in der die Tradition der konservativen Moderne aktualisiert und, wo nötig, aufgegeben wird. Einer der Texte, an denen diese Neubestimmung lyrischen Sprechens immer wieder gezeigt wurde, ist »Der Garten des Theophrast«, der ebenso wenig zufällig am Ende der Sammlung auftaucht wie »Das Zeichen« am Anfang. Die Verknüpfung von Naturmotiven mit politischen und poetologischen Bedeutungsebenen zeigt die Möglichkeiten von Huchels neuer Poetik. Meinem Sohn Wenn mittags das weiße Feuer Der Verse über den Urnen tanzt, Gedenke, mein Sohn. Gedenke derer, Die einst Gespräche wie Bäume gepflanzt. Tot ist der Garten, mein Atem wird schwerer, Bewahre die Stunde, hier ging Theophrast, Mit Eichenlohe zu düngen den Boden, Die wunde Rinde zu binden mit Bast.

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Ein Ölbaum spaltet das mürbe Gemäuer Und ist noch Stimme im heißen Staub. Sie gaben Befehl, die Wurzel zu roden. Es sinkt dein Licht, schutzloses Laub.202

Es gibt verschiedene Möglichkeiten der Annäherung an die hermetische Vieldeutigkeit dieses Gedichts, das »in der Tradition chiffrierter politischer Lyrik« steht.203 Dieter Lamping macht dafür in erster Linie »[v]ier Motivkomplexe« von »Feuer und Licht, Tod und Zerstörung, Garten und Baum, Gespräch und Stimme« verantwortlich, »deren antithetischer Charakter« das Gedicht bestimmt:204 »Dabei ist die Grenze zwischen eigentlichem und uneigentlichem Sprechen kaum zu ziehen. Besonders da, wo Huchel die Motivlinien einander kreuzen lässt, wie in den ersten beiden Versen, entsteht eine kühne Metaphorik, die schwer zu referenzialisieren ist.«205 Auch in früheren Ansätzen wurde versucht, die Schwierigkeiten der Interpretation aus der Überlagerung und gegenseitigen Ergänzung verschiedener Sinnebenen zu erklären.206 So meint Peter Hutchinson, dass trotz der Abwesenheit einer klar umrissenen ›Bedeutung‹ mindestens drei Ebenen vorhanden sind, »auf denen man Bedeutung untersuchen«207 könne. Hutchinson sieht zunächst »an der Oberfläche« des Textes »die Klage eines Sterbenden über persönlichen Verlust und Verfolgung«.208 Diese Sprechersituation ist allerdings nicht nur eine Sinnebene, sondern – viel grundsätzlicher – Teil der textuellen Konfiguration des Gedichts, in dem sich dann verschiedene semantische Ebenen überlagern. So gesehen gibt es, allein schon durch die Anspielung im Titel indiziert, tatsächlich eine »Ebene […] der klassischen Bezüge«, die sich auf das »Leben der zentralen Figur, Theophrast«, beziehen und die »bestimmte rätselvolle Bilder und Motive […]« erklären, »insbesondere die Dominanz von Begriffen aus dem pflanzlichen Bereich«.209 202 203

204 205 206

207 208 209

Huchel, »Chausseen Chausseen (1963)«, S. 155. Dieter Lamping, Wir leben in einer politischen Welt. Lyrik und Politik seit 1945, Göttingen 2008, S. 53. Ebd. Ebd. Vgl. Peter Hutchinson, »›Der Garten des Theophrast‹ – Ein Epitaph für Peter Huchel?«, in: Hans Mayer (Hrsg.), Über Peter Huchel, Frankfurt am Main 1973, S. 81–95; Alfred Kelletat, »Peter Huchel: ›Der Garten des Theophrast‹«, in: Hans Mayer (Hrsg.), Über Peter Huchel, Frankfurt am Main 1973, S. 96–100; Birgit Lermen/Matthias Loewen, Lyrik aus der DDR. Exemplarische Analysen, Paderborn, München, Wien u. a. 1987, S. 137–149. Hutchinson, »›Der Garten des Theophrast‹«, S. 82. Ebd. Ebd.

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Besonders mit Blick auf die Vorgeschichte von Huchels Lyrik ist die Natur aber nicht nur als Teil der Bezüge auf Theophrast zu sehen. Dafür spricht allein schon die Formulierung »[d]ie einst Gespräche wie Bäume gepflanzt«. Der Vergleich von Gesprächen und Bäumen zeigt zunächst, dass es in diesem Text um eine Natur geht, über die gesprochen, gedichtet und reflektiert wird. Diese Determinierung als reflektierte Natur wird durch den Dialog mit Brechts »An die Nachgeborenen«210 – »Was sind das für Zeiten, wo / Ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist […]«211 – nochmals verstärkt. In Brechts Versen wird die Möglichkeit einer Lyrik bezweifelt, die das Leiden und die Katastrophen der historischen Zeit ignoriert, wenn sie die Natur thematisiert. Es ist die Verbindung der politisch-historischen mit der poetologischen Ebene, die auch Huchel wichtig ist, aber er verschiebt den Akzent. Denn die Gespräche, die »wie Bäume gepflanzt« werden, entwickeln sich im weiteren Verlauf des Textes zu einem Bild für die der Natur vergleichbare Kraft des Gedichts, anscheinend unwandelbare und unfruchtbare Zustände durch kontinuierliches Wachsen zu verändern: »Ein Ölbaum spaltet das mürbe Gemäuer / Und ist noch Stimme im heißen Staub.« Genuine Eigenschaften der Natur – Fruchtbarkeit, langsames Wachstum, kontinuierliche Veränderung – werden also verknüpft mit denen des Gesprächs, das durch die Eröffnung des Textes – »das weiße Feuer / Der Verse«212 – und das Brecht-Zitat wiederum als eine mögliche Chiffre für Lyrik erkennbar ist. Insofern kann man ebenso eine poetologische wie eine, in den Naturvergleichen angelegte, politisch-historische Ebene des Textes ausmachen. Diese letzte, in der die mögliche Wirkung der Poesie in Analogie zur Natur dargestellt wird, bindet das Gedicht dann schließlich an den biographisch-historischen Kontext zurück. Dieser ist allgemein bestimmt von Huchels Situation in der DDR Anfang der 60er Jahre und konkret durch die Publikation des Textes in der letzten, 1962 von Huchel herausgegebenen Nummer von Sinn und Form.213 Sichtbar wird dieser biographische Aspekt durch den Bezug auf Huchels Sohn, das »Sinn-Zentrum des Gedichts«.214 Vor dem Hintergrund der erzwungenen Aufgabe der Herausgeberschaft von Sinn und Form »[appelliert] [d]er namenlos bleibende Sprecher« an den Sohn, »der Erfahrung zu gedenken, die einst Theophrast gemacht hat: dass

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211 212 213 214

Bertolt Brecht, »An die Nachgeborenen«, in: Ders., Die Gedichte, Frankfurt am Main 2000, S. 267–269. Ebd., S. 267. Vgl. dazu Lamping, Wir leben in einer politischen Welt, S. 54. Sinn und Form 14 (1962), S. 868. Lamping, Wir leben in einer politischen Welt, S. 54.

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das Werk von Philosophen, von Intellektuellen und Künstlern von Politikern zerstört wird.«215 Allein der Versuch, die verschiedenen Lektüreebenen des Textes zu benennen, wirft ein Licht auf die komplexen Mechanismen der Produktion von Bedeutung in Huchels Lyrik von Chausseen Chausseen – und liefert damit eine Antwort auf die Frage, die in »Das Zeichen« gestellt wird: Wie kann eine Lyrik aussehen, die sich nicht mehr auf ein wenigstens noch in Ansätzen stabiles Naturkonzept stützen kann? Wie kann ›Natur‹ überhaupt noch als Nullpunkt einer Lyrik herhalten, wenn Naturzeichen, die jenseits historischer Umbrüche und jenseits der Katastrophen angesiedelt sind, brüchig werden? Huchels Antwort ist eine Steigerung der Komplexität der Bildsprache, aber auch der rhythmischen und klanglichen Differenziertheit seiner Texte. Die Kombination verschiedener Bildbereiche – Poetologie, Natur, klassische Bezüge, Politik und Geschichte, persönliche Biographie – wird erzeugt durch die gezielte Überlagerung einzelner Metaphern, deren Ergebnis eine kontrollierte Vieldeutigkeit ist. Die Kombination der Bildbereiche führt im Gesamttext zur Bedeutungserweiterung aller Bilder und Textfelder. Chiffriert im Sinne einer vorher bestehenden Denotation, die in das Bedeutungssystem der Texte integriert werden muss, ist dabei zunächst nur der im Titel genannte Theophrast-Bezug. Tatsächlich ist es für das Verständnis des Textes wichtig, dass Theophrast nicht nur Philosoph, sondern auch Botaniker war, der in seinen Schriften die Pflege der Bäume beschrieb und seinen Garten, der auf Befehl des Königs Demetrios zerstört wurde, seinen Schülern vermachte, damit sie dort weiterhin Gespräche führen konnten. Die Widmung »Meinem Sohn« bezieht sich damit nicht nur auf den Autor, sondern allgemein auf einen Sprecher, der im Bewusstsein des herannahenden eigenen Todes eine Art Vermächtnis hinterlassen will. Durch den Bezug auf Theophrast wird der Garten als ein Ort des natürlichen Wachstums und des freien Gedankenaustauschs thematisiert, dessen Zerstörung auch eine Zerstörung der Möglichkeit eines solchen freien Raums ist. Zugleich sind die behutsame Pflege und das Wachsen der Bäume poetologisch, als Metaphern für Funktion und Wirkung von Gedichten zu lesen. Der changierend polyvalente Charakter des Gedichts ist also bereits paratextuell in der Sprechersituation vorbereitet. Im ersten der drei vierzeiligen Abschnitte216 von »Der Garten des Theophrast« wird der Rahmen für die Sprechersituation gesetzt. Zentrum der 215 216

Ebd. Zur Begründung der Dreiteilung vgl. Lermen/Loewen, Lyrik aus der DDR, S. 144f.

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Aussage ist die Aufforderung, zu gedenken – derer, die »Gespräche wie Bäume« pflanzten und also den freien Gedankenaustausch pflegten, zugleich aber auch Gedichte im Bewusstsein der natürlichen Wachstumsrhythmen von Gedanken schufen. Die ersten beiden Verse umschreiben die Zeit, in der gedacht werden soll – im Verhältnis zur Gegenwart des Sprechers eine Zukunft, die vom Tod geprägt ist (worauf die Urnen anspielen), in der aber zugleich die Verse nach wie vor eine belebende Wirkung haben und mittags die Dunkelheit des Todes beleuchten, durchdringen und überwinden. Die zweite vierzeilige Einheit nimmt das Todesmotiv auf, bezieht es auf den Garten und verbindet es mit dem Sprecher, dessen Ende – »mein Atem wird schwerer« – nahe zu sein scheint. Der Aufruf »[b]ewahre die Stunde« ist eine Ermahnung, die Gegenwart, in der Theophrast die Natur seines Gartens pflegte und förderte, nicht zu vergessen und im Gedicht zu konzentrieren. Theophrasts Pflege des Gartens ist dabei immer auch die Kultivierung des Gesprächs und damit auch der Dichtung, deren Wirkung sich ebenso langsam wie der Garten entfaltet. Schließlich resümiert die dritte vierzeilige Einheit zunächst die Eigenschaften der Natur – besonders des Ölbaums – und des Gartens, Veränderung zu erzeugen, den abgeschlossenen Raum des »mürben Gemäuer[s]« zu öffnen und die Unfruchtbarkeit des »heißen Staub[s]« stimmlich mit Leben zu erfüllen. Wieder schließt sich die Konnotationskette an, in der die sorgfältige Pflege natürlichen Wachstums mit dem freien Gespräch gleichgesetzt wird und von dort aus auch die Funktion des Gedichts selbst evoziert. Dem Potential der Natur stehen die letzten beiden Verse entgegen, die auf die Zerstörung des Gartens zurückblicken und das ›Licht‹, also die Transparenz und Klärung, die durch den Garten erzeugt wurde, mit der Zerstörung des »schutzlosen Laub[s]« beenden. Die Produktion bildlicher Vieldeutigkeit ist Huchels wichtigste Antwort auf die Herausforderung, die durch Krieg und Katastrophe und dann durch die Erfahrungen in der DDR an seine Version der Naturlyrik gestellt wurde. Die in »Der Garten des Theophrast« erreichten ästhetischen Möglichkeiten, unter Beibehaltung einer Reflexion über die Natur verschiedene Bedeutungsebenen zu kombinieren, können als Huchels Variante einer Fortsetzung der Moderne in Nachkriegszeiten gesehen werden. In der Komplexität der ineinander gelagerten Bild- und Anspielungsfelder schafft Huchel zugleich eine Möglichkeit politischer Lyrik in Gestalt der poetologischen Reflexion. Liest man das Gedicht im Kontext der letzten Nummer von Sinn und Form, dann ist es eine Stellungnahme über die Zerstörung eines wichtigen Instruments der Kulturpolitik – und damit auch ein Beispiel für die Entwicklung einer kritischen Lyrik in der DDR, die aber nichtsdestoweniger

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spätestens Anfang der 60er Jahre als Teil der DDR-Lyrik gesehen werden kann. Huchels Lyrik ist also zunächst von der Kontinuität der um 1930 erarbeiteten ästhetischen Paradigmen bestimmt, dann aber von einem partiellen Bruch. Die Versuche der Historisierung und Politisierung in den unmittelbaren Nachkriegsjahren sind nicht, wie die programmatischen ReaktionsÄsthetiken von ›Kahlschlag‹ und ›Trümmerlyrik‹, als Neuansätze, sondern als Modifikationen seiner bisherigen Lyrikvorstellung verständlich – an die Stelle der sinnlich-ganzheitlichen Naturwelt tritt nun vernehmlich eine politisch-historische Dimension. Erst in den 50er Jahren findet eine Transformation der Huchel’schen Lyrik zu jener Vorstellung von moderner Gebrochenheit statt, der er sich in seinen Texten seit dem Anfang der 30er Jahre widersetzt hat. Dabei arbeitet er mit demselben motivischen Repertoire weiter, das nun immer stärker chiffriert und polysemantisch umgestaltet wird. Insofern ist Huchel ein weiteres Beispiel für die Ambivalenzen und Paradoxien, die mit einer Modernisierung der Lyrik aus den ästhetischen Koordinaten der naturmagischen Schule verbunden sind. Das Programm einer konservativen Gegenmoderne, einer Lyrik, die im Rekurs auf traditionelle Motive und Formen versuchte, die Krisenphänomene der avantgardistischen Moderne aufzuheben, ohne sie zu ignorieren, war in Huchels Fall – im Vergleich zu Lehmann, Eich oder Krolow – allerdings von einer erhöhten Aufmerksamkeit für die sinnliche Präsenz der Naturphänomene begleitet. Und ebenso führt der Umweg der Aktualisierung der Lyrik über politische Kontexte nach 1953 bei Huchel in stärkerem Ausmaß als bei Eich oder Krolow, deren Modernisierungsstrategien in der stetigen Transformation des Ausgangsmaterials bestehen, zu einer Variante der lyrischen Moderne, die durch Brüche gekennzeichnet ist. Insofern ist die Verortung Huchels in der Tradition der Naturlyrik zwar korrekt, zugleich aber ist Huchel derjenige unter den bereits seit den 30er Jahren publizierenden Lyrikern, der sich nach 1945 auf der Skala der Problematisierungen und Transformationen am weitesten in Richtung eines Bruchs mit der Naturlyrik bewegt. Im Feld der Modernisierungsstrategien steht Huchels Lyrik der 50er Jahre zwischen den Varianten der formalen und diskursiven Modifikation der Naturlyrik durch Krolow und Eich. Seine Suche nach sprachlichen Präsenzerlebnissen verweist auf die Figurationen einer Überwindung der sprachkritischen Nachkriegsmoderne, wie sie bei Ingeborg Bachmann und Paul Celan zu beobachten sind; der politische Aspekt seiner Lyrik erinnert an Peter Rühmkorfs und Hans Magnus Enzensbergers Lyrik der späten 50er und frühen 60er Jahre.

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2.

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Karl Krolow: Revision der Naturlyrik im Zeichen des Surrealismus

Als »›Bewisperer‹, Schule Wilhelm Lehmann«1 bezeichnete Gottfried Benn 1953 Karl Krolow in einem Brief. Das klingt provokant, ging aber schon damals am Ziel vorbei. Denn unter den Lyrikern, deren Anfänge im Umkreis der Naturlyrik Loerkes und Lehmanns liegen, gibt es keinen, bei dem die kontinuierliche Auseinandersetzung mit den stilistisch-rhetorischen und formalen Aspekten, vor allem aber mit typischen Sujets moderner Lyrik greifbarer wäre als bei Karl Krolow. Einige der Autoren, die Benn ausdrücklich als ›modern‹ kodifiziert hatte, sind für Krolows Rezeption der lyrischen Moderne zentral. Sie begann bereits vor 1945. Krolows produktive Verarbeitung der französischen und spanischen Moderne, besonders des Surrealismus, macht ihn zu einem Pionier unter den deutschen Lyrikern, bei denen eine breite und institutionell fundierte Rezeption der außerdeutschen Entwicklungen der vergangenen Jahrzehnte erst in den späten 50er Jahren begann. Neben der intensiven Rezeption der naturmagischen Lyrik in den 30er und 40er Jahren entdeckte Krolow bereits während des Krieges Autoren wie Valéry oder Michaux, zu denen er nach eigener Auskunft als Romanist Zugang hatte – weil sie »in einer Universitätsstadt als Sachbücher zugelassen«2 waren. In der auch von ihm selbst immer wieder betonten Kontinuität der eigenen Entwicklung zwischen Naturlyrik und Surrealismus ist Krolow ein wichtiger Anreger für die formale und thematische Öffnung der Lyrik der Nachkriegsmoderne. Seine kontinuierliche Auseinandersetzung mit der modernen Lyrik und ihren Poetiken schlägt sich nieder in einer intensiven Übersetzungstätigkeit. Vor allem französische Lyriker machte Krolow erstmals einem deutschen Publikum zugänglich. Oft, wenn auch nicht ausschließlich, markieren die Übersetzungen den Ausgangspunkt bestimmter Rezeptionslinien, die sich auch in Krolows eigener Lyrik bemerkbar machen. Zudem ist Krolow als Literaturvermittler und Kritiker im literarischen Leben der Bundesrepublik äußerst präsent. In den Frankfurter Poetik-Vorlesungen tritt er als Interpret der deutschen Nachkriegslyrik auf und setzt durch seine Kommentare zugleich erste Markierungen für deren literarhistorische und litera1

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Gottfried Benn, Briefe an F.W. Oelze 1950–1956, Nachwort von Harald Steinhagen. Wiesbaden, München 1980, Brief v. 4. III. 1953, S. 163f.: »Krolow ein ›Bewisperer‹, Schule Wilhelm Lehmann, hat oft böse gegen mich geschrieben u. immer darauf hingewiesen, daß er selber viel bedeutungsvoller sei.« Karl Krolow, »›Man kann sich im Grunde wenig vornehmen, fast nichts …‹. Ein Gespräch mit Karl Krolow«, in: Ders., Wenn die Schwermut Fortschritte macht. Gedichte, Prosa, Essays, Kurt Drawert (Hrsg.), 2. Aufl. Leipzig 1993, S. 5–34, hier S. 6.

Karl Krolow: Revision der Naturlyrik im Zeichen des Surrealismus

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turwissenschaftliche Behandlung. Die Vorlesungen, die im Wintersemester 1960/61 gehalten wurden, sind nach Bachmanns noch stark poetologisch orientierten Frankfurter Vorlesungen einer der ersten Versuche, die Entwicklungen der Lyrik der Nachkriegszeit auch literarhistorisch zu klassifizieren. Krolow skizziert ein frühes Resümee der Nachkriegsmoderne, das in großen Linien und vielen Details für lange Zeit wirkmächtig bleibt. Der ein gutes Jahrzehnt später erschienene Lyrik-Teil in Dieter Lattmanns Bundesrepublik-Band von Kindlers Literaturgeschichte der Gegenwart3 bildet den Höhepunkt dieser von Krolow maßgeblich beförderten literaturwissenschaftlichen Kodifizierung der Nachkriegslyrik. Krolows produktive Fortschreibung der Moderne-Traditionen ist außerordentlich variationsreich. Zeitgenossen galt er als ein wandlungsfähiger Autor, der über eine Vielfalt lyrischer Möglichkeiten verfügte, wobei diese Stimmenvielfalt oft auch als Symptom einer gewissen artistischen Unverbindlichkeit gesehen wurde. Dass er selbst bei aller Sympathie für die Kontingenz stilistischer und ästhetischer Entwicklungen seine Lyrik als durchaus kohärent sah und sie im Kontext der Nachkriegslyrik problemlos verorten konnte, geht aus den Poetikvorlesungen hervor. Hier versucht Krolow eine literarhistorische Fixierung der Entwicklung der Lyrik bis 1960, ohne dabei die Kontinuitäten seit 1930 auszublenden. Eine Konfrontation dieser Vorlesungen mit Krolows poetologischen Äußerungen aus den 50er Jahren verdeutlicht, dass trotz des Bewusstseins, eine bestimmte Traditionslinie fortzusetzen und zu erneuern und andere Autoren produktiv wahrzunehmen, die Suche nach Spielräumen individueller und ästhetischer Unabhängigkeit im Zentrum seiner Ästhetik steht. Die intensive Rezeption französischer und spanischer Surrealisten war für Krolow ein Mittel, diese Poetik mit immer neuen stilistischen und metrisch-rhythmischen Impulsen anzureichern und zu beleben. Die Analyse repräsentativer Gedichte aus der Zeit bis 1960 zeigt die exemplarische Rolle Krolows als eines wichtigen Repräsentanten der Lyrik der Nachkriegsmoderne. Hier werden die Modalitäten und Variationen seiner Fortschreibung der Moderne unter den Bedingungen der Restaurationsjahre sichtbar. Krolow weicht der poetologischen Diskursivierung und thematischen Lyrisierung der Sprachkrise, wie sie bei Eich und Huchel zu beobachten ist, weitgehend aus. Aber trotz aller existentialistischen Topik ist auch Krolows Lyrik von der Tendenz geprägt, Referenzen auf eine außersprachliche ›Wirklichkeit‹ für obsolet zu erklären. Nach eini3

Karl Krolow: »Die Lyrik in der Bundesrepublik seit 1945«, in: Dieter Lattmann (Hrsg.), Die Literatur der Bundesrepublik Deutschland. Kindlers Literaturgeschichte der Gegenwart, München, Zürich 1973, S. 345–533.

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gen gegenteiligen Versuchen in den ersten Nachkriegsjahren entwickelt er bereits vor 1950 eine surrealistisch-ästhetizistisch akzentuierte Variationsästhetik, die bis Ende der 50er Jahre Grundlage seiner lyrischen Produktion bleibt. 2.1. Retrospektive Selbstvermessung: Aspekte zeitgenössischer Lyrik In den 1961 publizierten Poetikvorlesungen Aspekte zeitgenössischer Lyrik entwirft Krolow eine Interpretation der Entwicklungen und Leitgedanken der deutschen Lyrik nach dem Krieg. Der Grenzen seines Unternehmens ist er sich bewusst: Für einen Autor und Zeitgenossen kann die abstrahierenddistanzierte Betrachtung der Lyrikgeschichte nur ein Versuch bleiben. »Ich werde vor allem als ›Praktiker‹ reden«, aber der »Praktiker, der Zeitgenosse, der mit dem Zeitgenossen in Auseinandersetzung steht, sollte gleichwohl in der Lage sein, von seiner Lage, von seinem Standort absehen zu können, ohne beides deshalb zu leugnen, wenn er über die Poesie seiner Tage […] redet«.4 Die Vorlesungen sind in einem Bereich vor der Literaturgeschichte angesiedelt, allerdings mit der Absicht, Koordinaten zu setzen. Krolow spricht als Akteur im literarischen Betrieb, der für sich in Anspruch nimmt, die Entwicklungen der Lyrik nach 1945 zu charakterisieren. Damit liefert er einen Ansatz für spätere literarhistorische Fixierungen, die er dann Anfang der 70er Jahre nicht zuletzt selbst im Lyrik-Teil des Bandes Die Literatur der Bundesrepublik Deutschland von Kindlers Literaturgeschichte der Gegenwart geradezu institutionalisiert.5 Trotz des Titels der Vorlesungsreihe ist der Aspekt der poetologischen Selbstbeschreibung und der literarhistorischen Selbstvermessung des Autors Krolow in den Vorlesungen also bedeutsam. Die deutschsprachige Lyrik vor und nach 1945 wird im Bewusstsein der eigenen literarischen und ästhetischen Evolution beschrieben. Wenn es einen Leitgedanken gibt, der den Gegenstand der Vorlesungsreihe bestimmt, dann diese Idee der Entwicklung und Bewegung. An der puren Perpetuierung von Traditionen ist Krolow nicht interessiert, auf die »rein traditionsgebundenen Kräfte« möchte er gar »nicht näher eingehen«.6 Dafür spielt produktives Traditionsverhalten eine umso größere Rolle. Ansätze für neue Sprechweisen, diese Überzeugung liegt den Vorlesungen implizit zugrunde, können überhaupt nur in der Aus-

4 5 6

Karl Krolow, Aspekte zeitgenössischer Lyrik, Gütersloh 1961, S. 8. Krolow, »Die Lyrik in der Bundesrepublik seit 1945«. Krolow, Aspekte zeitgenössischer Lyrik, S. 12.

Karl Krolow: Revision der Naturlyrik im Zeichen des Surrealismus

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einandersetzung mit der lyrischen Tradition entwickelt werden,7 und diese Auseinandersetzung hat nach Krolow in der deutschen Literatur der letzten Jahrzehnte nur sehr begrenzt stattgefunden. In den Vorlesungen werden bestimmte Autoren und ästhetische Entwicklungen vor dem literarischen und ästhetischen Horizont des Autors Krolow erörtert, der einerseits von der Notwendigkeit einer Entwicklung der deutschen Lyrik zur Moderne hin überzeugt ist, diese andererseits aber als ein Projekt sieht, das aus den Traditionen der deutschen und nichtdeutschen Moderne erarbeitet werden muss. Damit ist die Vorlesung zweierlei: zum einen Dokument der Partizipation eines Autors am Prozess der Literaturgeschichtsschreibung, in der die Fortführung der Moderne als Hauptmotiv der deutschen Nachkriegsliteratur fixiert wird; zum anderen impliziter Ausdruck poetologischer Selbstreflexion im Zeichen literarhistorischer Objektivierung – eine Art historisierte und objektivierte Version der Poetik Krolows. Die sechs Vorlesungen folgen einer genrebestimmten und thematischen Gliederung. Die Themen (und Titel) der einzelnen Abschnitte sind »Möglichkeiten und Grenzen der neuen deutschen Naturlyrik«, »Die Beschaffenheit des modernen Liebesgedichts«, »Das politische als das öffentliche Gedicht«, »Das Gedicht als Spiel« und schließlich »Verstummen, Schweigen und Leere im zeitgenössischen deutschen Gedicht«. Besonders deutlich wird Krolows Einschätzung der Nachkriegslyrik in der ersten Vorlesung, in der die »Möglichkeiten zeitgenössischer Lyrik« behandelt werden. Die Darstellung literarhistorischer Kontexte und ästhetisch-poetologischer Problembereiche umreißt auch die Voraussetzungen seiner eigenen Lyrik. Detailanalysen, besonders was die Funktion der Naturlyrik angeht, finden sich dann in den folgenden Kapiteln. In Krolows Darstellung der Nachkriegslyrik stehen vier Aspekte im Vordergrund: Die Reflexion über ›1945‹ und die Folgen für die deutsche Lyrik; die Charakterisierung wichtiger Tendenzen der deutschen Lyrik zwischen nationalen Traditionen und der Rezeption internationaler Lyrik; die Entsubjektivierung als thematisch-motivisches Grundproblem moderner Lyrik; und schließlich die Autonomie des Wortes, die erst eine wirklich strukturelle Veränderung der Lyrik bewirken kann. In Krolows Reflexion über das Datum 1945 wird die unmittelbare Bedeutung des Kriegsendes und der ersten Nachkriegsjahre für die Lyrikentwick7

Zum Traditionsverhalten bei Krolow vgl. Rolf Paulus/Gerhard Kolter, Der Lyriker Karl Krolow. Biographie. Werkentwicklung. Gedichtinterpretation. Bibliographie, 2. Aufl. Bonn 1984, S. 50f.

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lung relativiert. Zwar betont er, dass die »›Stunde Null‹ des Jahres 1945 […] auch für das Gedicht bei uns eine beispiellose Gelegenheit [war], sich neu zu etablieren«.8 Aber diese Neuausrichtung der Lyrik werde erst längerfristig sichtbar. Die verschiedenen Ansätze der Nachkriegsjahre – »Not- und Trümmerlyrik, Abbild unseres in jeder Hinsicht schäbigen Lebens«, das »sentimentgeladene Gedicht«9 – sieht er nur als Versuchsballons, als Experimente, deren Defizit die übergroße Bedeutung der mimetischen Dimension von Lyrik gewesen sei. »Die Szenerie war damals mächtiger als jede Qualitätsvorstellung.«10 In der Benommenheit der unmittelbaren Nachkriegsjahre konnte es nach Krolow nicht um Entwürfe neuer ästhetischer Konzepte gehen, sondern höchstens um »die Revision einer Entwicklung, um die Prüfung dessen […], was künftig literarisch noch mitteilbar geblieben war«.11 Ganz entsprechend endeten die verschiedenen Versuche dieser Jahre nach Krolow erst mit der Währungsreform 1948. »Eine deutsche Lyrik, über die sich reden lässt, haben wir erst seit etwa zehn Jahren wieder.«12 Die Bedeutung der unmittelbaren Nachkriegsjahre für die Entwicklung der modernen deutschen Lyrik setzt Krolow sehr niedrig an. Die Jahre der Experimente und Postulate nach 1945 sind in seiner Darstellung eine Phase des Dazwischen, in der es wegen der mangelnden ästhetischen Distanz der Lyrik zur Wirklichkeit kaum zu innovativen Entwicklungen kommen konnte. Ästhetische Eigenständigkeit, ja literarische Qualität und zu große Realitätsnähe scheinen in Krolows Lyrikvorstellung einander auszuschließen. »Die Szenerie war damals mächtiger als jede Qualitätsvorstellung.«13 Die zweite wichtige Frage in Krolows Vorlesung betrifft das Traditionsverhalten in der Lyrik nach 1945. Auf der Suche nach Anknüpfungspunkten habe gleichzeitig eine Orientierung »an der eigenen Poesie und an der des Auslandes«14 stattgefunden. Damit fixiert Krolow ein literarhistorisches Deutungsmuster für die Evolution der Nachkriegslyrik, das bis heute bestimmend ist. Die Orientierung an deutschen Vorbildern sieht Krolow im Naturgedicht. Als eine spezifisch deutsche Traditionslinie der Lyrik – »[e]s lebt und verbraucht sich mit gewissen Wirkstoffen, die nur bei uns zur Poesie gehört haben und auch heute noch zu gehören scheinen […]«15 – habe 8 9 10 11 12 13 14 15

Krolow, Aspekte zeitgenössischer Lyrik, S. 11. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd., S. 12. Ebd., S. 11. Ebd. Ebd., S. 13.

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es auch nach dem Krieg wieder im Vordergrund gestanden, wobei sich »[z]u den älteren Vertretern dieser Dichtung […] nach und nach jüngere Talente«16 gesellten. Hier sieht Krolow zu Recht auch seine eigene Position in der Nachkriegslyrik. Ungleich bedeutsamer als die fortgeführte naturlyrische Tradition ist für Krolow aber die internationale Orientierung. »Das größte Problem war indessen für das Gedicht der Nachkriegszeit in Deutschland, wie es sich aus der Isolation, aus der Kenntnislosigkeit und Zusammenhanglosigkeit gegenüber dem Ausland zu befreien habe.«17 Für Krolow ist es das wichtigste Charakteristikum für das »neuere deutsche Gedicht – auch für das Gedicht des Expressionismus vor 40 bis 50 Jahren«,18 dass es »seit je unter der Inzucht gelitten«19 habe. Es sei »während eines derart langen Zeitraums fast unmöglich, Verbindungen mit der Lyrik anderer Literaturen nachzuweisen. Kamen sie zustande, so waren es ephemere Verbindungen.«20 Auch nach dem Zweiten Weltkrieg habe die Rezeption der internationalen Lyrik nur zögernd zugenommen, und zudem sei sie, wie man am Beispiel des Surrealismus beobachten könne, beherrscht gewesen von Zögern, Missverständnissen und überstürzten Amalgamierungen. Nach Krolow hatte man sich Autoren wie Eluard, Breton, Lorca oder Michaux zu distanzlos angenähert und sich an ihnen regelrecht »den Magen verdorben«.21 In seiner Perspektive hat die Assimilation der internationalen Moderne also gerade in Bezug auf die deutsche Nachkriegsliteratur nicht vor 1950 begonnen. Und auch dann sei sie verstellt gewesen von anderen dominanten Einflüssen, so der »großartig faszinable[n] Zivilisationslyrik Benns«22 und den »Echo-Wirkungen von Expressionismus und von Dada«.23 Krolows Diagnose der Nachkriegslyrik bleibt beherrscht von einer perspektivischen Erweiterung der eigenen Situation. Die spezifisch deutsche Tradition der Naturlyrik überschneidet sich mit internationalen Einflüssen und wird durch ihre Berührung mit der surrealistischen Lyrik sukzessive modernisiert. Krolows Position als Literaturvermittler ist mit dafür verantwortlich, dass das Konzept der Internationalisierung zu einem Paradigma für die ästhetische Beschreibung der

16 17 18 19 20 21 22 23

Ebd., S. 12. Ebd., S. 13. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd., S. 14. Ebd. Ebd., S. 15.

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Nachkriegsmoderne wurde. Das geschah zu einer Zeit, als das Bestreben der Autoren eher darauf ausgerichtet war, im Sprechen über Lyrik sich den diskursiven Topoi der Moderne anzunähern und diese Konzepte partiell in Gedichten zu thematisieren. Der dritte wichtige Aspekt in Krolows Vorlesung ist der Versuch, einen gemeinsamen Grundzug der Gegenwartslyrik und, darüber hinaus, der modernen Lyrik generell herauszuarbeiten. Er entdeckt ihn in der Überwindung lyrischer Subjektivität im modernen Gedicht. Sein Indiz für diese Kategorie ist das Misstrauen des modernen Dichters gegen die eigene Individualität. Dieses Misstrauen sei zugleich Ursache für die Isolierung des Dichters. Der Verfasser von Gedichten aber ist jemand, der mißtrauisch ist. Er ist mißtrauisch sich selber gegenüber, das heißt seiner Individualität gegenüber, und nicht nur der seinen! Damit fängt manches an, setzt sich manches in Bewegung. Und die Gedichte in unserer Zeit haben dieses Mißtrauen zu spüren bekommen, die einen wie die anderen, die naturlyrischen wie die konkreten.24

›Misstrauen‹ umschreibt zunächst den historischen Standpunkt des modernen Lyrikers und insbesondere des Lyrikers der Nachkriegsjahre, der als einzelner am Ende langer lyrikgeschichtlicher Traditionen steht. Nach Krolow ist »[d]ie Geschichte der neueren Poesie«25 die Geschichte eines »unaufhörlichen Umgangs des einzelnen mit sich selber«.26 Folge dieses Prozesses sei die vollständige Semantisierung der Außenwelt als Ausdruck des Ich; alle Gegenstände, alle Phänomene seien durchtränkt worden mit der Individualität des Schreibenden. Diese als einzigartig und besonders angenommene, jede lyrische Äußerung determinierende Subjektivität habe eine Konzentration der »imaginativen Fähigkeit und Fertigkeit«27 geradezu gefordert. Verfeinerung und Ausdifferenzierung der ästhetischen Mittel seien von der Romantik bis zur Moderne die einzigen Möglichkeiten gewesen, diesen Zwang zur Individualisierung und Subjektivierung der Außenwelt ästhetisch zu bewältigen und hätten endlich zu einer letzten Phase der Paralysierung geführt, in der der einzige ästhetische Ausweg die Abwendung vom Ich gewesen sei. Diese – immerhin hier gesteht Krolow eine vage Verbindung zur historischen Realität zu – sei zudem durch die »allgemeinen Erschütterungen des Zeitalters«28 mit verursacht worden. Die Lyrik der Gegenwart sei 24 25 26 27 28

Ebd., S. 17. Ebd., S. 18. Ebd. Ebd., S. 19. Ebd.

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ein einziger […] Beitrag, diese zartfühligen Verhältnisse hinter sich zu bringen: die Person, die dichtet, hinter sich zu bringen oder doch ihre Sensibilität anders »anzusetzen« und das Land zwischen Scheitel und Fußsohle – oft mit dem Mut der Verzweiflung, unter großen Anstrengungen, unter mancherlei Krämpfen – zurückzudrängen, auf andere Landnahmen auszugehen!29

Die melodramatische Entdecker-Metaphorik verdeutlicht, dass die Überwindung des Paradigmas der lyrischen Subjektivität in der Nachkriegszeit durchaus widersprüchlich ist und in bestimmten lyrischen Sujets – beispielsweise im Liebesgedicht – als besonders schwer realisierbar gilt. Nach Krolow gibt es eine Reihe von Texten, in denen sich die Schwierigkeit mitteilt, die Präsenz des Menschen im Gedicht zu reduzieren – aber dennoch bleibe das »große Ereignis […], das sich in diesem modernen Gedicht […] abspielt, […] die Reduzierung des Menschenbildes«.30 Und diese spielt sich nach Krolow vor allem im ›neuen Naturgedicht‹ ab. Krolow interpretiert die neue Naturlyrik als »Gegenbewegung gegen den sterbenden Spätexpressionismus der zwanziger Jahre des Jahrhunderts«,31 in dem der Mensch nochmals im Mittelpunkt der poetischen Mitteilung gestanden habe. Die Naturlyrik sieht er in einer Konstellation vorbereitender Kontinuität zur modernen Lyrik. In naturmagischen Texten sei ein Raumgefühl propagiert worden, »in dem sich der Mensch – freilich nicht von heute auf morgen, aber doch mit einer gewissen auffallenden Konsequenz – zu verlieren begann«.32 In der Lyrik Lehmanns und Langgässers sei der Mensch als Individuum immer mehr reduziert worden und habe sich immer mehr in »›Natur‹, ›Geschöpf‹« aufgelöst, »dem die Persönlichkeit abgenommen war, Kreatur unter Kreaturen, mit dem Reagieren, dem stummen Vegetieren der Kreatur«.33 Die Naturlyrik ist nach Krolow geradezu von einer Umkehrung der Relationen geprägt: Wenn in der subjektivistischen Gefühlslyrik die Umgebung zum Ausdruck des Inneren eines Ich wurde und sie von der »idyllische[n], betuliche[n], freundlich-sentimentale[n] Spiegelung der Natur im einzelnen und in den Regungen des einzelnen«34 beherrscht gewesen sei, dann wird dieses Ich nunmehr zum ›Naturwesen Mensch‹ degradiert. Dessen Reaktionen sind »von der Szenerie vorgeschrieben« und »ohne sie nicht mehr denkbar«.35 Sie bedeuten »den ›Abbau‹ des einzelnen, der sich 29 30 31 32 33 34 35

Ebd. Ebd., S. 20. Ebd., S. 21. Ebd. Ebd. Ebd., S. 22. Ebd., S. 21.

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in seiner Individualität empfindet, von ihr zehrt und keinen ›Bezug‹ braucht, auf den er angewiesen ist, der ihn gar erst ›ermöglicht‹.«36 Doch selbst diese bewusst vorangetriebene thematische Entsubjektivierung kann nach Krolow erst ihre volle Bedeutung gewinnen, wenn (der vierte Aspekt in Krolows Bild der Nachkriegslyrik) das einzelne Wort in seiner semantischen Autonomie wiedergewonnen wird. Erst mit der künstlerischen, der strukturellen Veränderung der Lyrik, mit der neuen Hinwendung zum einzelnen Wort, dem man eine bis dahin nicht gekannte Chance gab, dem Wort als ›konkreter Materie‹, vollzog sich die allgemeine Wandlung, in die – wie nebenbei – auch der Mensch natürlich einbezogen war.37

Dem einzelnen Wort sollte nach Krolows pointierter Formulierung »wieder zum Worte« verholfen werden, »indem man ihm seine Bedeutung, seine Bedeutungsgeschichte, wenn möglich, abnehmen wollte«.38 Nach Krolow geschieht das über die Einbeziehung des Spiels in die Lyrik. Darin liegt in seinen Augen auch der Beitrag des Surrealismus zur Modernisierung des deutschen Gedichts. Die surrealistische Aufhebung der »Individualität in einen Spiralnebel von Bildern«, die Entdeckung einer »Methodik der Bilderfindung, an der der einzelne Poet bestenfalls ›beteiligt‹ sein konnte«,39 habe erst die Mittel zur Verfügung gestellt, mit denen man die Autonomie des Worts wieder gewinnen konnte. Krolow stellt sich eine Lyrik vor, deren Logik allein oder in erster Linie von den semantischen Möglichkeiten bestimmt ist, die sich aus den einzelnen Worten ergeben. Das Spielerische – also nicht strukturell kalkulierte oder durch Semantik vorgegebene Verknüpfungsstrategien innerhalb des Textes – ist der Bereich, in dem Konventionen durchbrochen werden können, in dem die Autonomie des Wortes sich erst entfalten kann. Schon in dieser Betonung einer Unabhängigkeit der Sprache von den semantischen Konventionen, die sich in ihr historisch sedimentiert haben, deutet sich Krolows Konzeption von der ästhetischen Unabhängigkeit moderner Lyrik an, die dann in den poetologischen Essays ausformuliert wird. Was gewinnt man durch die Lektüre von Krolows heute historisch gewordenen Einschätzungen der Nachkriegslyrik? Vor allem bieten sie eine Momentaufnahme im Prozess der abstrahierenden Selbstbeschreibung eines Lyrikers der Nachkriegsmoderne, die nicht mehr nur poetologische Selbstcharakteristik und noch nicht ganz literarhistorische Objektivierung ist. 36 37 38 39

Ebd., S. 21f. Ebd., S. 23. Ebd., S. 25. Ebd., S. 24.

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Krolow betrachtet die Lyrikgeschichte von den 40er bis in die frühen 60er Jahre mit dem Blick des beteiligten Akteurs, der für die kritischen und literaturwissenschaftlichen Versuche der Beschreibung seiner Texte offen ist. Die Vorlesungsreihe Aspekte zeitgenössischer Lyrik markiert eine Distanzierung von den existentialistisch getönten Versuchen der Lyrikbeschreibung, die in den späten 40er und frühen 50er Jahren unternommen wurden, etwa von Hans Egon Holthusen. Sie nähern sich ihrem Gegenstand nicht mehr ausschließlich mit der Perspektive der modernen Autoren, die seit den 20er Jahren darin bestand, Lyrik als (wie auch immer geartete) Variation einer geistesgeschichtlichen Krisendiagnostik zu lesen. Diese vor allem von Benn repräsentierte und durch seine Wirkung in der Nachkriegsliteratur vielfach potenzierte Dimension der Lyrikbetrachtung ist zwar auch bei Krolow noch präsent – auch die Misstrauens-Kategorie ist eine Version dieser Erschütterungsdiagnostik des ›modernen‹ Ich –, aber Krolow leistet einen Beitrag zur versachlichenden Konkretisierung der geistesgeschichtlichen Symptomatologie und entwirft so Beschreibungskategorien für textuelle Phänomene. In der Retrospektive der Poetikvorlesungen versucht er, die Traditionslinien und Strukturen der Lyrik der Nachkriegszeit aufzuarbeiten. Man könnte darin eine erste Rückwirkung von Friedrichs Beschreibungsansatz einer Struktur der modernen Lyrik auf die Selbstdarstellung der Autoren sehen. Aber Krolow gelingt auch eine Relativierung anderer programmatischästhetischer Topoi der 40er und 50er Jahre. Die Versuche, das Datum ›1945‹ zu einem wie auch immer gearteten ästhetischen Neuanfang umzudeuten – besonders stark in Höllerers Transit-Vorwort –, entideologisiert er durch die Feststellung, die unmittelbaren Nachkriegsjahre seien eine Zeit der Neuorientierung und Neuvermessung der ästhetischen Möglichkeiten gewesen. Im selben Atemzug liefert Krolow implizit Ansätze einer Phasenbildung der Nachkriegslyrik: Den Orientierungsjahren bis 1948 lässt er einen Abschnitt der problematischen Rezeption nationaler und internationaler ModerneTraditionen folgen, die erst ab Mitte der 50er Jahre von unreflektierter Imitation in produktive Rezeption umschlagen. Vor allem aber konstatiert Krolow die herausragende Bedeutung der naturlyrischen Tradition. Sie erscheint in seiner Deutung als ein flexibles ästhetisches Modell, das bereits bei seiner Entstehung wesentliche Charakteristika der lyrischen Moderne assimiliert hatte und als eine Art konservativer Gegenentwurf dazu auch in den Nachkriegsjahren wichtigster Ausgangspunkt für ihre Weiterentwicklung in Deutschland werden konnte. Das gilt sowohl für ihre Funktion als Anschlusspunkt für die Themen- und Motivkomplexe der Moderne als auch für Möglichkeiten der Assimilation internationaler Einflüsse.

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Mit seinem Plädoyer für die Unabhängigkeit und Eigenständigkeit des poetischen Wortes schließlich legt Krolow die Grundlage einer Poetik, in der die Basis der Lyrik im sprachlichen Material liegt, in der der semantische Eigenwert und die kognitive Widerständigkeit der Sprache privilegiert sind und die historischen und kulturellen Kontexte, auf die das Gedicht reagiert, in den Hintergrund rücken. Wie man sich diese Poetik der sprachlichen Offenheit und der freien Assoziativität vorzustellen hat, umschreibt Krolow in den zentralen poetologischen Schriften der 50er Jahre. 2.2. Artistik nach der Katastrophe: Krolows Poetik der frühen Nachkriegsjahre All diese Aspekte grundieren auch Krolows poetologische Schriften. Der entscheidende Unterschied ist, dass es hier nicht um individuell getönte, rückblickende literarhistorische Skizzen geht, sondern um die Ausformulierung der Konturen einer wichtigen Poetik der Nachkriegsmoderne. Krolow ist einer der Lyriker seiner Generation, die diesen Prozess der Modernisierung mit einem gewissen literarhistorischen Bewusstsein reflektieren. Allerdings sind seine poetologischen Schriften deshalb noch keineswegs begriffliche Fixierungen dieses Reflexionsprozesses – viel eher überwiegen Umschreibungen und Versuche, begrifflichen Festlegungen auszuweichen. Umgekehrt betrachtet scheint gerade in diesem Widerstreben gegen allzu strikte Fixierungen ihre wichtigste Qualität zu liegen. Krolow formuliert eine Poetik der Moderne, interpretiert sie aber als einen ästhetischen Möglichkeitsraum, der offen ist für Variationen und Wandlungen – und vor allem für die Forderungen der unmittelbaren Wahrnehmung an das Gedicht. Poetologische Texte der Autoren sind als Grundlage für eine begriffliche oder gar wissenschaftliche Deskription der literarischen Texte nur bedingt geeignet. Es handelt sich eher um Proklamationen und Programme, bestenfalls um selbstkritische retrospektive Selbstcharakterisierungen. Auch Krolows poetologische Schriften geben nur bedingt verlässliche Auskünfte über die Entwicklung seiner Lyrik und verraten mehr über die Selbststilisierungsstrategien des Autors als über dessen Position in der Geschichte der modernen deutschen Lyrik. Das wird gerade im Vergleich mit Krolows eigenen literarhistorischen Texten deutlich. Zugleich bedeutet das aber nicht, dass diese semiliterarischen Texte nicht nach wie vor für eine literarhistorische Lektüre produktiv gemacht werden müssten. Sie sind nicht nur bis zu einem gewissen Grad repräsentativ für zeitgenössische Diskussionen um die Aneignung der Moderne. Krolow liefert auch das Manifest einer Widerständigkeit und Eigengesetzlichkeit der

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Lyrik, die nicht weniger gegen bestimmte ästhetische Vorgaben als gegen die Forderung gerichtet ist, Lyrik müsse sich in einer bestimmten Weise an der historischen Wirklichkeit orientieren. Krolows poetologische Schriften verdeutlichen, dass die Position der Lyrik zwischen Artistik und Wirklichkeitsbezug in den 50er Jahren neu austariert wird. Bei der Frage, wo die Lyrik zwischen historisch-kulturellen Kontexten und ästhetischer Autonomie anzusiedeln sei, neigt die Stellungnahme Krolows ganz entschieden auf die Seite der ästhetischen Autonomie und geradezu einer Widerständigkeit der Lyrik gegen das historisch-kulturelle Umfeld. Gleichwohl lehnt er eine Lyrik ab, die nur noch auf der Autonomie des Wortmaterials basiert und jegliche Referenz ausschließt. Die Modernisierung in Krolows poetologischen Schriften bewegt sich zwischen ästhetischer Autonomie und Wirklichkeitsbezug, wobei er selbst den Pol der ästhetischen Autonomie derart privilegiert, dass zeitgenössische Interpreten in dieser proklamierten (und im Schreiben keineswegs mit gleicher Stringenz vollzogenen) Wirklichkeitsverweigerung den Ausgangspunkt für integrative Darstellungen des Gesamtwerks sehen.40 Auf die an sich selbst gestellte Frage, was er »unter dem Abenteuer des Lyrikers« verstehe, antwortete Karl Krolow 1964: »Etwas zu tun, was einer Chimäre gleichkommt. Etwas zu betreiben, was sich dauernd zu widerlegen scheint. Was widersetzlich ist.«41 Die Selbstbeschreibung ist eine unter vielen, in denen Krolow die Unberechenbarkeit und Unkalkulierbarkeit, die kreative Offenheit der Lyrik betont. Vehementer als die meisten seiner Generationsgenossen plädiert Krolow für zweckfreie Gedichte, die allein »[d]urch ihr Dasein überzeugen, nicht durch ihre Stoffe«,42 und spricht sich gegen Verse aus, die »unter ihrer eigenen Bedeutung seufzen[ ]«.43 Seine artistische und oft spielerische Konzeption eines zweckfreien Gedichts, das gerade dadurch ›wirkt‹, dass es keinerlei konkrete Wirkungsabsicht hat, schließt Vorstellungen von einer Instrumentalisierbarkeit der Lyrik weitgehend aus. Der Idee, ein Gedicht könne innerhalb eines bestimmten Kontexts ›nutzbar‹ gemacht werden, widersetzt sich Krolow vehement, und die Tatsache, dass er diese Positionen 1969 mit derselben Nachdrücklichkeit wiederholt, mit der 40

41

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Neil H. Donahue, Karl Krolow and the Poetics of Amnesia in Postwar Germany, Rochester, NY 2002. Karl Krolow, »›Sicherheit in der Unsicherheit‹ – ein Selbst-Interview (1964)«, in: Ders., Ein Gedicht entsteht. Selbstdeutungen, Interpretationen, Aufsätze, Frankfurt am Main 1973, S. 7–11, hier S. 7. Der Text erschien erstmals als: »Sicherheit in der Unsicherheit«, in: Die Welt der Literatur 18 (2. 9. 1965), S. 431. Ebd., S. 8. Ebd.

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er sie bereits 1956 vertreten hatte und 198844 wiederholte, zeigt eindrücklich, dass es hier tatsächlich um einen zentralen Aspekt seines Literaturverständnisses geht. Ein Gedicht sei »nicht in der Lage, zu trösten oder zu reizen. […] Es will einen Tiefsinn loswerden, für den es nichts kann. […] es will da sein. Doch gerade dies ist vielleicht das Schwerste, Mißverständlichste.«45 Krolows Vorstellung vom Gedicht ist von der Widerständigkeit gegen die Anforderungen einer bestimmten, zweckgebundenen Wirklichkeit bestimmt. Weder ästhetische noch soziale oder historische Kontexte können als Fluchtpunkte eines lyrischen Textes instrumentalisiert werden. Das Zentrum der Unabhängigkeit des Gedichts findet sich, diese Position kennt man bereits aus den Vorlesungen, in der Autonomie des einzelnen Wortes: Die Kraft, die Widerstandskraft eines Gedichts hängt von den Worten ab, aus denen es besteht. Aus dem Umgang der Worte miteinander innerhalb des Gedichts, einer kurzen, intensiven, glaubwürdigen Verbindung. Wenn sie gelingt, kann sie für alles stehen. Für jeden beliebigen Gegenstand, jeden nur denkbaren Stoff.46

Krolow legt großen Wert auf die Differenz zwischen dem Zeichenmaterial der Worte und ihrem Bezug zur Wirklichkeit. Natürlich weiß er, dass sich Sprache nicht von ihrem pragmatischen Aspekt lösen kann. Aber er möchte diesen durch Konventionen fixierten Bedeutungsspielraum so weit als nur möglich minimieren, das sprachliche Material von seinen Denotationen entfernen und für Konnotationen öffnen. Die von ihm im Gedicht bevorzugten Gegenstände, so Krolow, seien ohne die Drastik ihrer Gegenständlichkeit, ohne das Gewicht der Materialität. Es sind in Veränderung befindliche Stoffe, […] Übergänge vom einen zum anderen. Und also bewegliche, sich entmaterialisierende Mitteilungen. Von ihrer Stofflichkeit erleichterte, über ihr schwebende, balancierende Themata.47

Was Krolow immer wieder formuliert, ist die weitgehende Unabhängigkeit des Gedichts und des Autors von den Determinanten des historischen oder kulturellen Umfelds. Dem Gefühl einer in richtungs- und absichtsloser Freiheit balancierenden Offenheit auf Seiten des Dichters entspricht die positive Funktionslosigkeit des Gedichts. Krolows Lyrik soll keine Mitteilung oder gar Reflexion über einen problematischen Wirklichkeitsaspekt sein, sondern sie umschreibt eine spezifische Art, die Dinge wahrzunehmen. Krolow ist kein Ästhetizist, der für eine vollständige Trennung des Textes von der Wirklichkeit eintritt. Es geht ihm eher darum, bestimmte Freiheiten für den Text 44 45 46 47

Vgl. Krolow, »›Man kann sich im Grunde wenig vornehmen, fast nichts …‹«. Krolow, »›Sicherheit in der Unsicherheit‹«, S. 8. Ebd. Ebd., S. 11.

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geltend zu machen, die angesichts der ästhetischen Konventionen des Naturgedichts oder der Versuche radikaler Modernisierung, etwa in der konkreten Lyrik, verloren gehen könnten. Seine Betonung der Unabhängigkeit der Sprache zielt auf Nuancierungen und Zwischenräume der sprachlichen Umschreibung von Wirklichkeit, damit aber durchaus auf die Wirklichkeit bzw. auf das Konstrukt von Wirklichkeit, das aus dem Text erschließbar ist – nicht auf eine hermetische Eigenwertigkeit von Sprache. Zugleich ist sein Gedicht in keiner Weise ein Kommentar zur Realität oder gar eine wie immer geartete Auseinandersetzung mit bestimmten historischen oder sozialen Problemen. Krolow formuliert für seine Variation der Nachkriegslyrik eine Poetik der Autonomie des dichterischen Wortes und des Gedichts. Ziele einer solchen Lyrik sind die Auflösung, zumindest die relativierende Vervielfältigung von Referenz und die spielerische Ausgestaltung sprachlicher Assoziationsräume; ihre Mittel sucht Krolow in Traditionen der Avantgarde, die in seine Poetik integriert werden. Sprachartistik, Offenheit, dezidierte Vermeidung von semantischer Eindeutigkeit – mit solchen Begriffen lässt sich Krolows Lyrikkonzept charakterisieren. Eine unmittelbare Auseinandersetzung mit der historischen Nachkriegswirklichkeit liegt da fern, obgleich diese einen basalen Ansatzpunkt für Krolows Lyrik bildet. Krolows Probleme liegen anderswo, sind aber dennoch eine Antwort auf die Diskussionen der Nachkriegsjahre. Sein wichtigstes Ziel ist zweifelsohne die Distanzierung vom subjektiven und in seinen Augen zu selbstbezüglichen Sprechen – ein Projekt, das lyrikgeschichtlich seine eigene Logik hat. Auf der Skala einer Lyrik, die sich potentiell zwischen dem Paradigma der ästhetischen Autonomie und der Positionierung in einer problematischen historischen Wirklichkeit verortet, ist Krolows Version der modernen Lyrik dezidiert artistisch. Gleichwohl beansprucht auch er mit seiner allein auf die autonomen Erkenntnisprozesse sprachlicher Kombinatorik setzenden Konzeption des Gedichts, einen Beitrag zur Erweiterung und Präzisierung der Wahrnehmungsfähigkeit der historisch-sozialen Realität zu leisten. Wie diese Poetik der Wahrnehmungssteigerung – auch sie eine Variante modernistischer Konzepte einer notwendig veränderten Vorstellung von der sprachlichen Abbildung einer komplexeren und komplizierteren Wirklichkeit – aussieht und was ihre Voraussetzungen sind, präzisiert Krolow andernorts. Am wichtigsten für dieses Projekt ist das in Intellektuelle Heiterkeit (der Aufsatz aus dem Jahr 195548 ist nicht identisch mit der Rede zur Verleihung 48

Karl Krolow, »Intellektuelle Heiterkeit (1955)«, in: Theorie der modernen Lyrik. Dokumente zur Poetik, 2 Bde., Walter Höllerer (Hrsg.), neu Norbert Miller/Harald Hartung (Hrsg.), München, Wien 2003, S. 673–675.

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des Georg-Büchner-Preises, die später unter demselben Titel publiziert wurde49) konstatierte Konzept der Offenheit.50 Mit der immer wieder zitierten Forderung, ein Gedicht müsse zunächst »die Fähigkeit besitzen, sich preisgeben zu können, ›offen‹ […] sein für alle möglichen Widerfahrungen«,51 formuliert Krolow einen Weg zwischen textueller Autonomie und Referentialisierbarkeit. Die Tendenz zur Hermetik lehnt Krolow entschieden ab und sieht darin in erster Linie ein Zeichen des Unvermögens des Autors, Wahrnehmungen und Stimuli aufzunehmen und sprachlich umzusetzen. Das deutliche Auseinandertreten des »autonomisierte[n] in ungemeine Freiheit gesetzte[n] Poem[s], de[s] radikal unabhängigen Text[s]« und des »Schatten[s] einer Autorschaft«52 kritisiert er ein paar Jahre später als deutliches Krisenzeichen des Gedichts der Gegenwart. Seine Diagnose ist, dass sich »der Bedeutungsschwund, der Sinnverfall im Gedicht-Experiment«53 der Gegenwart entschieden beschleunigt habe und dass man dieser »Sinn-Abnutzung, der die verbale Abnutzung längst folgte«,54 entschieden entgegentreten müsse. Denn die »Vorstellung, die mit verbaler Abstraktion im Gedicht verbunden ist, hat noch mit der Vorstellung vom Vorhandensein eines – wenn auch noch so verdünnten – Sinngehalts zu tun«.55 Und auch wenn die Lyrik Celans noch sichtbare Sinnspuren zeige, weise das »celanisierte Gedicht […] alle Zersetzungserscheinungen auf, die über den […] Abstraktionsprozeß hinausgehen und ihn schließlich nicht nur widerlegen, sondern in jenem ›schweigenden‹ Gedicht enden, aus dem das Sinn- und Bedeutungsleben vollends gewichen ist.«56 Mit der Metapher vom ›offenen‹ Gedicht soll also diesem »mit dem in jedem Fall begrenzten, eigenen Wortmaterial allein gelassenen Gedicht«57 begegnet werden. Alle weiteren Ausführungen in Intellektuelle Heiterkeit zielen darauf, dieses Konzept zu konkretisieren – ohne es allerdings begrifflich zu 49

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Karl Krolow, »Intellektuelle Heiterkeit. Rede zur Verleihung des Georg-BüchnerPreises (1956)«, in: Ders., Ein Gedicht entsteht, S. 195–203. Vgl. dazu auch Rolf Paulus, Lyrik und Poetik Karl Krolows 1940–1970. Produktionsästhetische, poetologische und interpretatorische Hauptaspekte seines »offenen Gedichts«. Mit einer bibliographischen Dokumentation der Veröffentlichungen Karl Krolows (Lyrik, Prosa, Aufsätze, Rezensionen, Übersetzungen), Bonn 1980, S. 12–14. Krolow, »Intellektuelle Heiterkeit (1955)«, S. 673. Krolow, »Die wiedergewonnene Wahrnehmung im Gedicht (1963)«, in: Ders., Ein Gedicht entsteht, S. 168–194, hier S. 168. Ebd., S. 169. Ebd. Ebd. Ebd., S. 170. Ebd.

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stark zu profilieren. Das Gedicht solle »porös […] sein, luft- und lichtdurchlässig«,58 dabei zugleich »in der Lage sein, unaufhörlich an die Außenwelt abzugeben und von ihr aufzunehmen«.59 Wie immer diese Zirkulation zwischen Gedicht und Außenwelt aussehen mag: Krolow propagiert einen Gedichttext, der seine Impulse aus der historischen, sozialen, aus der AlltagsWirklichkeit erhält, dessen Semantik nicht in der Autonomie sprachlicher Zeichen relativiert wird. Zugleich plädiert er immer auch für die Artifizialität des Textes, die er sich offenbar als eine Intensivierung metaphorischer Dichte und Offenheit vorstellt – immer aber so, dass die Metapher sich noch auf ein ›Thema‹, einen ›Stoff‹ bezieht und somit den Informationswert des Gedichts potenziert. Die Vorstellung, »daß die letzte Metapher des einen Gedichts Anlaß zur ersten Metapher eines andern würde«,60 beschreibt diese Positionierung des Krolow’schen Gedichts zwischen Artifizialität und Wirklichkeitsbezug recht gut: Denn schon die Verbindung zwischen den Gedichten eröffnet neue Beziehungen und erhöht die Assoziationsbreite – wogegen das in sich ruhende, perfekte Kunstgebilde in Krolows Vorstellung »zu ausschließlich mit sich allein beschäftigt«61 ist. Die Metapher ist zudem die zentrale Vermittlungsfigur, die fortwährend Wahrnehmung in Sprache übersetzt und für die Rückübersetzung in Wahrnehmungen im Text konzentriert. »Sie ist Fleisch und Sensorium des Gedichts zugleich.«62 Auch wenn Krolow sich dagegen verwahrt, »die ganze Metaphernsprache der Lyrik […] lediglich reiztherapeutisch zu behandeln«,63 so liegt in dieser Formulierung doch eine recht präzise Vorstellung von ihrem Funktionieren. Denn die Metapher ist für Krolow immer ›lebendig‹, immer ein Mittel der gesteigerten Wahrnehmung, sei es auf Seiten des Autors, sei es auf Seiten des Lesers. Damit erklärt sich auch Krolows ausführliche Beschreibung der Funktion der Metapher, die in seinen Augen »das Präziseste sein [muss], das man sich denken kann, etwas, das ›sitzt‹ und genau zutrifft«.64 Für Krolow sind Metaphern der Kern des Gedichts. Sie müssen mit äußerster Ökonomie gesetzt werden, weil sie für »seinen ›inneren Haushalt‹, für die Gewichtsverteilung, für die Balance«65 zuständig sind, zugleich aber bei Fehlanwendung das Ge58 59 60 61 62 63 64 65

Krolow, »Intellektuelle Heiterkeit (1955)«, S. 673. Ebd., S. 673f. Ebd., S. 674. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd., S. 675.

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dicht »unter Umständen zu einem Monstrum«66 machen oder ›Anämie‹ oder Bilder-Armut erzeugen können. Krolow projektiert ein Gedicht, das man sich als eine dynamische Verkettung gleichmäßig aufeinander abgestimmter und auseinander hervorgehender Metaphern vorzustellen hat, die die horizontale und vertikale Semantik des Textes erweitern und beschleunigen. Die Metapher selbst ist eine Vermittlungsfigur zwischen Sprache und Wirklichkeit, kein Mittel der sprachlichen Distanzierung des Textes. Ein weiteres Element dieser Poetik ist das artistische Spiel. Jeder Text, der sich zur Konzeption verfestigt, wird für Krolow problematisch. »Freiheit und Überlegenheit«, das »spielerische Element«, die »Freude […] am Auffinden zutreffender Formeln und Zeichen«67 – all das sind in Krolows ästhetisierender Lyrikkonzeption notwendige Qualitäten, die zur Offenheit des Gedichts beitragen. Sein Vorschlag, der Lyriker solle sich »von Zeit zu Zeit als ein Mann fühlen, der Singvögel unter seinem Hut hält und sie dann im rechten Augenblick in einen eingebildeten Äther entweichen läßt, als ein heiterer Zauberer, dem eine ganze Welt der Imagination zur Verfügung steht«,68 betont diesen spielerischen Aspekt beim Verfassen von Gedichten. Die Offenheit eines Textes für die Wirklichkeit wird für Krolow durch Strategien ästhetischer Autonomie erreicht, die aber nur solange autonom bleiben, wie sie auch ein gewissen Maß an ›eleganter‹ Unverbindlichkeit beinhalten. Das Programm des Krolow’schen Gedichts ist eine Gratwanderung zwischen spielerisch-zweckfreiem Gebrauch der sprachlichen Mittel und einer Sprache, die gerade dadurch ihre Reaktionsfähigkeit gegenüber der Wirklichkeit bewahrt. Diese Flexibilität äußert sich auch produktionsästhetisch. Immer wieder unterstreicht Krolow die Kontingenz, die seinem Schreiben bis zu einem gewissen Grad eignet – das »Glück der wenigen Minuten, die ein Gedicht braucht, um Gedicht zu werden«,69 und seine mangelnde »Geduld für Varianten«:70 Entweder gelinge ein Gedicht oder nicht. In den poetologischen Aufsätzen versucht Krolow, die Position seines Gedichts zwischen artistischer Ausdifferenzierung und Wirklichkeitsbezug zu bestimmen. Während die Ausführungen über die Funktion der Metapher als Konzentrations- und Verteilungszentrum des Gedichts dessen textuelle Dimension beschreiben, wird in anderen Schriften und Interviews (historisch am zeitnächsten in der Rede zur Verleihung des Georg-Büchner-Preises71) 66 67 68 69 70 71

Ebd. Ebd., S. 675. Ebd. Krolow, Wenn die Schwermut Fortschritte macht, S. 20f. Ebd., S. 21. Vgl. Paulus, Lyrik und Poetik Karl Krolows, S. 14–16.

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angedeutet, mit welchen Schwierigkeiten diese immer wieder beschriebene ästhetische Zwischen- und Vermittlungsstellung der Lyrik am Scharnier zwischen sprachlicher Autonomie und Wirklichkeit angesichts der historischen Situation nach 1945 definiert wurde. Denn auch wenn Krolow in späteren Jahren immer wieder betonte, dass er »durch das berüchtigte Jahr 1945« »jedenfalls keine Unterbrechung« für seine Arbeit sehe72 und dass seine persönliche Entwicklung in den 40er und 50er Jahren zwischen Naturlyrik und Surrealismus weitgehend kontinuierlich verlaufen sei, lassen sich aus der Büchner-Preis-Rede doch deutlich die Konturen einer impliziten Auseinandersetzung mit der Nachkriegssituation ablesen. Leonce und Lena sei für ihn, so Krolow, als Text erst in der unmittelbaren Nachkriegszeit wichtig geworden – in dem Moment, in dem er sich »von jenem Cauchemar zu lösen versuchte, der als schwerer Schatten über den poetischen Äußerungsversuchen der ersten Nachkriegsjahre lag«.73 Die Jahre der Diktatur und des Krieges, so betont Krolow immer wieder, hätten keinen grundlegenden ästhetischen Wandel mit sich gebracht, denn seine persönliche Orientierung zwischen Naturlyrik und Surrealismus sei offenkundig gewesen. Dennoch habe diese Zeit eine Art von individueller und psychischer Erfahrung hinterlassen, die eine grundsätzliche ästhetische Neujustierung zu fordern scheint. Der Schatten der Kriegsjahre solle überwunden werden: […] ein Schatten, in dem sich ein für allemal alle triste Erfahrung mit der deutschen Szene, alle an Leben und Existenz gehende Widerfahrung gesammelt, verdichtet zu haben schien. Ich wollte mich aus der Umklammerung der Erinnerung befreien, die ich an die Zeit zwischen meinem zwanzigsten und dreißigsten Lebensjahre hatte, damals kurz nach 1945.74

Leonce und Lena (ob Krolow hier dem Stück nachträglich eine Bedeutung zuschreibt oder tatsächlich ein biographisches Erlebnis dokumentiert, ist zweitrangig) wird vor allem in einer Hinsicht bedeutsam. Es bietet eine Möglichkeit der ästhetischen Bewältigung der Erinnerung an, die sprachlich distanziert ist und den Eigenwert des Wortes in den Vordergrund stellt – ein ambivalentes Modell der Vergangenheitsverwischung unter Beibehaltung historischer Referenz. In der Büchner-Preis-Rede begründet Krolow seine Poetik der spielerischen Eleganz aus der Konfrontation der Nachkriegserfahrung mit der Ästhetik von Leonce und Lena. 72 73

74

Vgl. ebd., S. 7. Krolow, »Intellektuelle Heiterkeit. Rede zur Verleihung des Georg-Büchner-Preises (1956)«, S. 196f. Ebd., S. 197.

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Denn hier findet Krolow genau jene Kombination aus Verarbeitung einer hoch problematischen Wirklichkeit und ästhetischer Autonomie des Wortes, die für die Jahre nach dem Krieg charakteristisch ist. Hier hatte sich Bitterkeit im Wort erleichtert, und das Wort hatte zu schweben begonnen, hatte etwas von der Schwerkraft abgegeben, die seine Bedeutung ihm zugemutet hatte, seit es ins Leben getreten war. Das Wort hatte sich gelockert. Es hatte Grazie. Es verband sich mit Luft und bewegte sich in diesem Element mit Selbstverständlichkeit und Anmut wie die Liebenden Chagalls. Und dennoch […] stand im Hintergrund die Muse der Einsamkeit, der Schwermut, der dichterischen Rebellion, der poetischen Aktion und wartete. […] In diesem Spiel um den Prinzen Leonce und die Prinzessin Lena war nichts vergessen worden, war […] noch einmal alles da: Trauer, Resignation, Ingrimm und bittere, ironische Einsicht.75

Leonce und Lena reflektiert in Krolows Lesart die Problematik der Nachkriegssituation, die eine ungleich stärkere Auseinandersetzung mit den Katastrophen der vergangenen Jahre fordert – und bietet zugleich eine Antwort auf das Bedürfnis nach einer Re-Ästhetisierung des Wortes im Gedicht. Nach Krolow ist in den unmittelbaren Nachkriegsjahren die Vorstellungskraft »von der Realität überwältigt[ ]«76 gewesen und entsprechend habe »auch die Lyrik die Realien mehr, als das lange Zeit erwünscht und praktiziert war, in ihre Sprache« integriert, sie habe sich »dem Verhängnis gestellt und […] gesehen, daß der Schrecken […] greifbare Gestalt annehmen konnte […]«.77 Andererseits – und hier macht sich wieder Krolows höchsteigener Beitrag zu den Poetiken der Nachkriegsjahre bemerkbar – sei es auch in dieser Situation wichtig, die Widerständigkeit der Lyrik zu behaupten, ihre Fähigkeit, Erfahrungen ästhetisch zu gestalten: Das Gedicht mußte […] wieder darangehen, zaubern zu lernen, musste […] alte, alterslose Fähigkeiten und Fertigkeiten entwickeln, die verlorengegangen schienen. Es mußte nach der Atemlosigkeit wieder zu Atem kommen. Die Imagination war wieder ins Spiel zu bringen. In Leonce und Lena konnte man sie studieren.78

Das Büchner’sche Stück bietet in einer analogen Konstellation jene grundsätzlichen Qualitäten, die unter den Bedingungen der Nachkriegsjahre für Krolows Ausformulierung einer Poetik der modernen Lyrik entscheidend wurden. So kann der Verfasser moderner Gedichte in der Nachkriegszeit nach Krolow bei Büchner »die Verwandlung durch die leicht gewordene Poesie«79 lernen, den Ausgleich zwischen kapriolenhafter Artistik und »Gra75 76 77 78 79

Ebd. Ebd., S. 198. Ebd. Ebd., S. 198f. Ebd., S. 199.

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zie des Intellekts« sowie das »Pathos der Distanz und die Kühle«.80 Daraus entstehe das »hochpoetische und damit hoch verbindliche Klima […] des Gedichtes nach der Schwächung durch die Realität«.81 Die solcherart erzeugte ironische Distanz des Autors gegenüber seinem Text sei ein notwendiges Medium der Selbstkritik, ein Mittel, um das Abgleiten in übertriebene stilistische Artifizialität zu verhindern und »eine Poesie der Schwebung, der Balance«82 herzustellen, deren Grundcharakter das »geistige[ ] Vergnügen[ ] an einer Einsicht [ist], der man alles Schmerzhafte nahm, da man sich ihr wie leichthin, wie von ungefähr zu nähern vermochte«.83 Krolow charakterisiert mit Büchner affirmativ eine Spielart der modernen Lyrik der Nachkriegszeit, bei der die Beherrschung der ästhetischen Mittel mehr wiegt als die Anforderungen eines wie auch immer gearteten Sujets. Für Krolow liegt der wesentliche Anspruch an die Lyrik in der Rückgewinnung einer ästhetischen Autonomie und der Eigenmächtigkeit über das Sprachmaterial – das gilt umso mehr unter den verschärften Bedingungen der Nachkriegszeit, die vom Bewusstsein des Kriegs und der zivilisatorischen Katastrophe geprägt ist. Krolow umschreibt diese Programmatik, deren andere Seite eine weitgehende Abstrahierung historischer Faktizität ist, mit dem Begriff ›Zauber‹, »Zauber in seinen verschiedenen Nuancierungen, seiner Indirektheit, seinem Ungenügen ebenso an bloßer Schönheit und dem Leerlauf dieser Schönheit wie an der Verzweiflungs- und Verhängnis-Dichtung«.84 Diese Art von ästhetischer Befreiung zählt in Krolows Ästhetik mehr als jede Bewältigung der »›Belastung‹ durch den Gegenstand […], selbst wenn man in der Eile und im Eifer zuviel Ballast abwirft und plötzlich eine Reihe von Stufen zu hoch auf der luftigen Leiter sitzt«.85 Krolows Programm für die Lyrik der späten 40er und der 50er Jahre ist also eine Rehabilitation ihres Kunstcharakters, der im Zweifelsfall gegen das historisch-kulturelle Umfeld behauptet werden muss, denn das Spiel, die artistische Freiheit der Sprache, ihre Unabhängigkeit – all das sind Werte, die vor der Behandlung von ›realen‹ Problemen stehen. Parallel distanziert Krolow sich auch von der Vorstellung einer avantgardistischen Moderne, die in der Gegenwart zu wiederholen sei. Denn seine Lyrik erliege nicht dem Missverständnis, »die Pionierzeit […] der zwanziger Jahre« als Zentrum der Entwicklung der modernen Lyrik zu sehen: Der Ge80 81 82 83 84 85

Ebd. Ebd. Ebd., S. 200. Ebd., S. 200f. Ebd., S. 201. Ebd.

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fahr, dass die Probleme der Avantgarde mit »den anderen Aufgaben verwechselt [werden], die den Künsten in einem Stadium verzweifelten InFrage-Gestelltseins und verzweifelter Bedeutungslosigkeit gestellt sind«, möchte er begegnen mit dem »Mut zum Zauber, zum Spiel, zur intellektuellen Heiterkeit, zum Charme«.86 Die Modernisierung der Lyrik besteht für Krolow nicht im nahtlosen Fortführen der Avantgarde-Traditionen, sondern in einer Rehabilitierung ästhetischer Freiheit und spielerischer Unberechenbarkeit. Erst eine solche Lyrik kann in seinen Augen ästhetisch auch den Bedingungen der Katastrophe gerecht werden. Krolow formuliert weniger eine Poetik des Vergessens als eine – in mancherlei Hinsicht problematische – Konzeption artistischer Lyrik. In welchen Phasen sich diese Konzeption in seinem Schreiben seit Mitte der 40er bis in die späten 50er Jahre konkretisiert, ist Gegenstand des folgenden Kapitels. 2.3. Variationspoetik: Krolows Lyrik der 40er und 50er Jahre Die Lyrik Karl Krolows ist höchst variabel – was nicht nur für die 40er und 50er Jahre gilt, sondern für sein gesamtes Werk.87 Er selbst war sich dieser Tendenz zur Variation durchaus bewusst. Rückblickend sprach er von »poetische[n] Verhaltungsschwankungen«, denen »etwas zum Teil Rigoroses und geradezu Durchstreichendes«88 zu eigen sei. »Aber zugleich und innerhalb dieser Schwankungen fand ich neue Phasen, nämlich aus der Metaphorik in den Lakonismus, oder aus der Surrealität in die Alltäglichkeit […].«89 Damit ist bereits die markanteste Zäsur in Krolows Lyrik angedeutet, und zugleich werden die ästhetischen Konfigurationen umschrieben, von denen seine Lyrik vor und nach dieser Zäsur bestimmt war. Die ersten beiden Jahrzehnte seines lyrischen Schaffens waren von der sich kontinuierlich verstärkenden Tendenz zu einem immer komplexeren metaphorischen Sprechen beherrscht, das sich aus einer Überkreuzung naturlyrischer Schreibkonventionen mit surrealistischen Mitteln ergab; seit dem Ende der 50er Jahre hingegen – sichtbar spätestens im Gedichtband Fremde Körper (1959) – sind erste Zeichen der Abwendung von der Metapher als zentralem Stilmittel zu erkennen. In den 60er Jahren setzt sich diese Tendenz fort, gegen Ende des Jahrzehnts ist dann ein Bruch zum alltäglich-lakonischen Sprechen zu beobachten. Anfang der 80er 86 87

88 89

Ebd., S. 202. Vgl. Hanna Klessinger, Bekenntnis zur Lyrik. Hans Egon Holthusen, Karl Krolow, Heinz Piontek und die Literaturpolitik der Zeitschrift »Merkur« in den Jahren 1947 bis 1957, Göttingen 2011, S. 78. Krolow, »›Man kann sich im Grunde wenig vornehmen, fast nichts …‹«, S. 19. Ebd.

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Jahre wiederum wird diese Ästhetik der Einfachheit in einer Wendung zur Arbeit an der lyrischen Tradition nochmals modifiziert.90 Krolow liefert in den 40er und 50er Jahren entscheidende Impulse für die produktive Aufnahme von Traditionen der lyrischen Moderne. In Lampings Bestimmung der ›modernen deutschen Lyrik‹ läge Krolows Lyrik der 40er Jahre am Ende der zweiten Phase, die von der Kontinuität seit den 20er Jahren über das Jahr 1945 hinaus gekennzeichnet ist; die Lyrik ab Anfang der 50er Jahre gehörte dann zur dritten Phase moderner deutscher Lyrik.91 Diese dritte Phase sei »weniger durch kühne Innovationen als durch behutsame, zum Teil skrupulöse Modifikationen und Synthesen gekennzeichnet«92 und insgesamt deutlich von dem Bemühen geprägt, nach einer Zeit staatlich geforderter und staatlich geförderter anti-moderner Literatur wieder Anschluß an die Moderne zu finden, und zwar sowohl an die moderne deutsche Lyrik der ersten und zweiten Phase wie an die moderne Lyrik außerhalb Deutschlands.93

Krolow kann in diesem Zusammenhang als derjenige Autor gelten, der eine Modernisierung naturlyrischer Schreibverfahren am prägnantesten betreibt. Die Überblendung surrealistischer Stilfiguren, vor allem der Metapherntechnik, mit der Tradition der deutschen Naturlyrik erzeugt in Lampings Sinn »Abweichungen von literarischen Quasi-Normen zumindest entweder auf der Ebene der Versform oder auf der Ebene der Rede«.94 Ästhetisch bewegt sich Krolow dabei zunächst im Rahmen der Möglichkeiten des »magische[n] Realismus der Naturlyrik insbesondere Loerkes und Lehmanns«.95 Mit dem Beginn der 50er Jahre (in Krolows Fall sogar schon seit dem Ende der 40er Jahre) ist dann auch er ein Vertreter der nachkriegsmodernen Phase, die »Anfang der 50er Jahre als Fortsetzung und behutsame Modifikation der modernen Lyrik im allgemeinen und im besonderen der modernen deutschen Lyrik der ersten und zweiten Phase«96 beginnt. 90

91

92 93 94

95 96

Vgl. für diese kurze Skizze der Werkphasen die Monographien von Paulus/Kolter, Karl Krolow, S. 17–55 und Horst S. Daemmrich, Messer und Himmelsleiter. Eine Einführung in das Werk Karl Krolows, Heidelberg 1980, S. 11–29 und S. 34–50. Dieter Lamping, Das lyrische Gedicht. Definitionen zu Theorie und Geschichte der Gattung, 3. Aufl. Göttingen 2000, S. 230f. Krolow wird bei Lamping nicht erwähnt. Ebd., S. 231. Ebd. Ebd., S. 138. Lampings Bestimmung des Begriffs ›moderne deutsche Lyrik‹ wird auf der Basis seiner Definition des lyrischen Gedichts als »Einzelrede in Versen« vorgeschlagen, wobei Einzelrede ›monologische Rede‹, ›absolute Rede‹ und ›strukturell einfach Rede‹ umfasst (ebd., S. 63). Ebd., S. 141. Ebd.

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Bei der genaueren Bestimmung der Entwicklung von Krolows Lyrik von den 40er bis zum Ende der 50er Jahre müssen verschiedene Faktoren berücksichtigt werden. Für die Anfänge von Krolows Lyrik ist zunächst nach der Kontinuität wichtig: Welche Tendenzen und ästhetischen Qualitäten aus der Lyrik der frühen 40er Jahre sind es, auf denen nach 1945 aufgebaut wird? Krolows Transformationen der Naturlyrik, die in den unmittelbaren Nachkriegsjahren beginnen und in den 50er Jahren schließlich zu einem Modernismus eigener Prägung führen, sind wesentlich von der Rezeption surrealistischer Schreibweisen beeinflusst, besonders von der Weiterentwicklung metaphorischen Sprechens. Auch deshalb ist seine Lyrik auch eines der markantesten Beispiele für die Rezeption der internationalen Moderne in der deutschen Literatur nach 1945.97 Ein weiteres Problem ist die Frage nach der historischen Referenz in Krolows Lyrik. Auch wenn Rolf Paulus und Gerhard Kolter in ihrer 1983 erschienenen Einführung zu Krolow einige Texte als ›Zeitgedichte‹ analysieren, in denen die historische Situation nach 1945 reflektiert wird, tendieren sie dazu, die Gedichte der 50er Jahre in formalistisch-stilgenetischer Hinsicht als »völlig eigenständige[ ] Lyrik«98 zu klassifizieren und die Frage nach Beziehungen zur Geschichte den ästhetischen Entwicklungen vollkommen unterzuordnen. Neil H. Donahues Studie liefert eine stärker zeitgeschichtliche Akzentuierung. Seine Grundthese ist, dass Krolows Lyrik auf einer »poetics of amnesia«99 basiere, auf einem durch die persönlichen Erfahrungen unter dem Nationalsozialismus verursachten Bedürfnis, in seinem Schreiben historische Referenz zu umgehen oder durch Verallgemeinerungen zu verwischen. Klessinger spricht mit Bezug auf die für Krolow typischen »Strategien der verdeckten Bezugnahme« auf »zeitgeschichtliche Bezüge, die […] in zeittypischer Weise aus jedem konkreten Zeitbezug«100 gelöst sind, von »[ä]sthetischer Vagheit als Programm«:101 Krolows surrealistisch modernisierte Naturpoesie »entfremdet, fiktionalisiert und entaktualisiert die Bezüge zur jüngsten Geschichte, offenbar, um sie als subjektives und kollektives Trauma überhaupt vermittelbar zu machen.«102 Bei Donahue wurde diese Lesart mit Hilfe vieler bislang unberücksichtigter Dokumente 97

98 99 100 101 102

Vgl. aktuell Klessinger, Bekenntnis zur Lyrik, S. 83–88 und Artur Rümmler, Die Entwicklung der Metaphorik in der Lyrik Karl Krolows (1942–1962). Die Beziehung zu deutschen, französischen und spanischen Lyrikern, Frankfurt am Main 1972. Paulus/Kolter, Karl Krolow, S. 35. Donahue, Karl Krolow and the Poetics of Amnesia, S. 9. Klessinger, Bekenntnis zur Lyrik, S. 92. Ebd., S. 96. Ebd., S. 92.

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als Erklärungsmuster entwickelt, auf dessen Grundlage Krolows lyrisches und poetologisches Gesamtwerk neu gelesen wird. Ganz gleich, wie weit man der gut belegten und argumentativ abgesicherten Leitthese folgt: Donahues präzise Lektüren vieler einzelner Texte lassen die (im Ansatz schon früh von Peter Rühmkorf aufgeworfene103) Überlegung, Krolows virtuoser Ästhetizismus sei eine charakteristische Seite der affirmativ-restauratorischen Moderne der 50er Jahre, nicht nur durchaus plausibel erscheinen, sondern liefern darüber hinaus in jeder Hinsicht produktive und lesenswerte Interpretationen eines Autors, der in den letzten Jahrzehnten verhältnismäßig selten zum Gegenstand wissenschaftlicher Betrachtung wurde.104 Ein Blick auf Krolows Tätigkeit als Übersetzer, also als Vermittler der ›internationalen‹, in seinem Fall vor allem der französisch-spanischen Moderne, wird die Umrisse dieses fluktuierenden, sich aber stets in Formationen einer Anpassungs- und Aktualisierungspoetik bewegenden Krolow’schen Modernismus verdeutlichen.105 Die werkgenetische Einteilung von Krolows Lyrik, die Rudolf Paulus und Gerhard Kolter in ihrer Krolow-Monographie 1983/84 vorschlugen, ist verhältnismäßig kleinteilig. Die Lyrik bis zum Anfang der 60er Jahre wird im Wesentlichen in Anlehnung an Arthur Rümmlers Untersuchung zur Entwicklung der Metaphorik in Karl Krolows Lyrik beschrieben.106 Rümmler wiederum deckt mit seiner Arbeit zwei wichtige Bereiche ab. Zum einen untersucht er entlang bestimmter thematischer Gruppen – Naturbilder, Mensch, Sprache, Zeit – die Entwicklung der Metapher als zentrales Stilmittel der Krolow’schen Lyrik in deren erstem wichtigen Entwicklungsabschnitt, zum anderen demonstriert er an vielen Beispielen Figurationen der Rezeption der ›internationalen‹ Moderne bei Krolow, der ja vor allem als Übersetzer tatsächlich ein aktiver Vermittler dieser nicht-deutschen Moderne war. Paulus und Kolter führen in ihrer Einführung Rümmlers formanalytischen Ansatz fort und konzentrieren sich auf einige Leitfragen wie die Veränderung der Naturbildlichkeit, Möglichkeiten, Naturthematik und Nachkriegssituation in Beziehung zu setzen, aber auch auf die zunehmende Ambivalenz der Naturbilder oder auf die Bedrohung literarischer Spielräume durch staatliche Ge103

104

105 106

Donahue weist selbst auf Rühmkorfs Polemik in dessen Lyrik-Kolumne in der Zeitschrift Studenten-Kurier hin. Vgl. ebd., S. 12. Jüngere Beispiele: Klessinger, Bekenntnis zur Lyrik, S. 72–104 und Klaus-Michael Bogdal, »Der Augen-Blick des Wortes. Zur Poetologie der verspäteten Moderne in Deutschland«, in: Dieter Heimböckel/Uwe Werlein (Hrsg.), Der Bildhunger der Literatur. Festschrift für Gunter E. Grimm, Würzburg 2005, S. 283–291. Vgl. Klessinger, Bekenntnis zur Lyrik, S. 82f. Rümmler, Die Entwicklung der Metaphorik.

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walt. Die Darstellung von Krolows Lyrik der 40er und 50er Jahre als einer Bewegung von der Naturlyrik zu einer Poetik der Abstraktion ist dabei nach wie vor schlüssig.107 Paulus und Kolter sehen Krolows Lyrik vom Beginn der 40er Jahre an als Entwicklungsprozess hin zu einer »völlig eigenständigen Lyrik«,108 worunter man vor allem Krolows langsame und zunächst nur transformatorische, letztlich aber entschiedene Loslösung von der naturlyrischen Tradition verstehen darf. Auf diesem Weg werden wichtige Einflüsse verarbeitet und weitergeführt und immer wieder »zahlreiche neue Tendenzen ausprobiert«.109 Die Lyrik der 40er Jahre gliedern sie im Anschluss an Rümmler in drei Phasen, die sich ausschließlich an der Verwendung und Entwicklung der Metapher orientieren. Die erste Phase sei beherrscht von der »traditionelle[n] und einfache[n] Naturmetapher« in den Jahren 1942 bis 1945. Identifiziert werden Gedichte, in denen Naturphänomene, die anfangs noch positiv gesehen werden, nach und nach abgewertet werden.110 Was Paulus und Kolter dabei nur andeuten, ist die bereits in Krolows erster Sammlung feststellbare subtile Unterwanderung des naturlyrischen Bildrepertoires, auf die vor allem Donahue hinweist. Von seinem ersten Lyrikband Hochgelobtes gutes Leben an, der 1943 erschien, bleibt Krolow auf den ersten Blick ganz im Rahmen der naturlyrischen Bildlichkeit. Folgt man seinen späteren Kommentaren in der Lyrikvorlesung, dann habe diese Konzentration vor allem das Ziel, die Lyrik zu entsubjektivieren, also die Instrumentalisierung von Natur als Ausdrucksmedium für emotionale Zustände eines lyrischen Subjekts durch eine versachlichende Konzentration auf eben diese Naturphänomene auszuhebeln. Ein Beispiel dafür ist das Gedicht Der Wald. Mag sein: der Sturm befuhr ihn orgellaut und groß Und zog mit Fahnen Staub und stumpfen Blitz Und ließ die schwarzen Donner auf ihn los Und jagte Regen aus dem Wolkenschlitz. Mag sein: der Wintermond zerbarst ihm Baum um Baum Und Vogelschwärme fielen wie ein Stein Und tot ans Herz ihm aus dem leeren Raum. Im Eisgestrüpp zerstob das Tiergebein.

107 108 109 110

Vgl. auch Klessinger, Bekenntnis zur Lyrik, bes. S. 78f., S. 82f. Paulus/Kolter, Karl Krolow, S. 35. Ebd. Ebd., S. 23f.

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Mag sein: die fackelgelbe Sonne brannte aus, Schwang ihm zu Häupten, feurignaher Bolz, Und knisterte im trocknen Blätterhaus, Verdarb den Eichbaum, spliß sein hartes Holz. Mag sein: es warb um ihn der tausendfache Tod, Warf Frost und Feuer in sein offnes Haar. – Vom Zorn des Donn’rers wolkenwild umdroht, Bestand er atemlos sein Wälderjahr.111

Man kann dieses Gedicht ganz im Sinne der naturlyrischen Poetik lesen: Entsubjektivierung ist Strategie, zentral auch die Konzentration auf eine natürliche, äußere, objektive Wirklichkeit – bzw. auf Begriffe, die auf eine solche referieren. Projiziert wird eine übergeordnete, existentielle und vielleicht sogar als anthropologisch auffassbare Größe. Das gesamte Gedicht ist durch das einleitende »Mag sein« im Gestus eines Widerstandes gehalten, der Probleme gleichmütig hinnimmt. Thematisiert wird die Fähigkeit des Waldes, die zerstörerischen Naturkräfte zu überleben. So beschreibt die erste Strophe den Widerstand des Waldes im Sturm, die zweite das Bestehen des Waldes im Winter, der nicht nur das pflanzliche Leben der Bäume zerstört, sondern auch die Tiere tötet. In der dritten Strophe geht es um die Zerstörungen durch den Sommer, in der vierten schließlich um die Bedrohung durch den »tausendfachen Tod«, eine Liste der Bedrohungen, denen der Wald im Jahreslauf ausgesetzt ist. Alle überlebt er, und so besteht er »atemlos sein Wälderjahr«. Donahue betont die allegorischen Qualitäten des Textes. Es gibt eine übergeordnete Bildinstanz, die eingesetzten Bilder bewegen sich allesamt in einem einzigen semantischen Feld, weshalb die Parallelisierung des Waldes, der den Stürmen der Zeit widersteht, zumindest diese Möglichkeit eröffne. Donahue argumentiert im Sinne des biographisch-historischen Narrativs, das seiner Deutung ja zugrunde liegt, und kommt zum Schluss, dass der Wald in der allegorischen Dynamik des Textes ein Symbol für den individuellen Widerstand in der nationalsozialistischen Diktatur werde: The personified forest is now a symbol of intractable but outwardly passive resistance to aggressive historical forces, against which the individual is breathless with suffocation by the striking force of the storm, breathless from the effort of

111

Karl Krolow, »Hochgelobtes gutes Leben (1943)«, in: Ders., Auf Erden. Frühe Gedichte. Mit einem Nachwort von Karl Krolow. Frankfurt am Main 1989, S. 7–14, hier S. 9 (erstmals als Hochgelobtes gutes Leben. Gedichte von Hermann und Gaupp und Karl Krolow in der Reihe Das Gedicht. Blätter für die Dichtung, 9. Jhg., 4. Folge, Januar 1943, Verlag Heinrich Ellermann, Hamburg).

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standing ground, as if running in place, and poetically breathless, without voice, unable to publish without the awareness and possible censure, or worse, of Party officials.112

So gesehen ist das Gedicht ein Beispiel für die Erweiterung des Repertoires der Naturlyrik in den 30er und 40er Jahren. Weiterhin werden die Rhythmen der Natur als autonome Wahrnehmungswelten evoziert, darüber hinaus aber wird das allegorische Potential der Naturbilder aktiviert. Die Naturlyrik wird zu einem Instrument der entkonkretisierend-abstrahierenden Reflexion der Situation des Einzelnen im Deutschland der Diktatur. Bezogen auf Krolow, der in den Jahren zwischen 1940 und 1945 zielstrebig seine schriftstellerische Karriere vorantrieb, bedeute das: »Thus, the poet’s early years of learning his craft, his traditional Wanderjahre have become his Wälderjahr, a training in cryptically allegorical nature poetry.«113 Donahues nicht weniger detaillierte Lektüren anderer früherer Gedichte zielen jedoch nicht darauf ab, Krolow eine Art raffinierten Eskapismus zu unterstellen. Vielmehr erlaubt die Technik des zum ›Durchhaltegedicht‹ allegorisierten Naturgedichts auch die Reflexion über die Probleme, die der Rückzug des Dichters mit sich bringt; über die Paradoxie der »active passivity or passive resistance«, die gleichzeitig »remains […] a refusal to bear witness to the adversities and crimes of the period«.114 Insofern muss das Resümee Rümmlers – Krolow benutze in seiner Lyrik bis 1945 »vorwiegend einfache Bilder, die den Stoff der Realsphäre wiedergeben«, wobei die Metaphern nur eine »geringe Originalität und mittlere, konventionelle Bildspanne«115 hätten – revidiert werden. Die frühen Naturgedichte sind durchaus als eine Vorstufe der komplexen Metaphernstrukturen in der späteren Lyrik Krolows zu sehen.116

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Donahue, Karl Krolow and the Poetics of Amnesia, S. 43. Ebd. Ebd., S. 45. Rümmler, Die Entwicklung der Metaphorik, S. 233. Natürlich verdeutlicht Donahue an anderen Texten aus Hochgelobtes gutes Leben auch, wie Krolow die Schwierigkeit dieses Rückzugs in die Natur reflektiert (»Traum von einem Wald«) oder in Phantasien von der Flucht des Subjekts in die Natur (»Waldmusik«) bzw. des transzendierenden, jegliche Subjektivität aufhebenden Prinzips der Natur (»Nußernte«) neu diskutiert. Auch »So nah am Tode«, das letzte Gedicht der Sammlung, inszeniert nach Donahue die Ambivalenz einer Flucht in die subjektlose und ahistorische Natur; das Ich des Textes ist vom Bewusstsein der problematischen Flucht in die Natur affiziert (»O Überfluß, du färbst / Die Seele dunkler mir und machtest satt.« Krolow, Hochgelobtes gutes Leben, S. 14).

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Ergebnis dieser ersten, bei der Rezeption Krolows in der Nachkriegszeit weitgehend verdeckten Phase seiner Lyrik der frühen 40er Jahre:117 Krolows Texte sind – ob nun epigonal, imitatorisch oder bereits in ästhetischer Suversion – im Rahmen der Poetik und des Bildrepertoires der Naturlyrik angesiedelt und bewegen sich im Gleichschritt mit Autoren der naturlyrischen Schule – etwa mit Lehmann, Loerke, Langgässer. Aber innerhalb dieses augenscheinlichen geschlossenen Bild- und Sujet-Repertoires bereitet sich eine Lyrik vor, die durch Allegorisierung eine zweite, wesentlich durch die historisch-politische Situation bestimmte Bedeutungsebene eröffnet: Sie konzentriert sich auf die Reflexion eines Ich, das sich zurückzieht in den Bereich der Naturbetrachtung und zugleich diese geschlossene Bildwelt öffnet, um Besorgnisse über das eigene Unvermögen zu artikulieren. Was Krolow hier bezogen auf ein ganzes textuelles System unternimmt – die Infragestellung und Öffnung einsträngiger Bedeutungssysteme –, ist ein erster Schritt in die Richtung, die er nach dem Krieg am einzelnen Text und am einzelnen Wort einschlägt: Die Erweiterung der Ausdrucksmöglichkeiten der Metapher und damit verbunden zunehmende Abstraktionsstrategien. Die Arbeit an der Metapher als Abstraktionsverfahren ist Krolows Weg, die Tradition der naturlyrisch geprägten Poetiken mit den Schreibverfahren der modernen Lyrik zu verknüpfen – andere Autoren, wie Eich oder Bachmann, konzentrieren sich in ihren Versionen der Nachkriegsmoderne stärker auf kulturkritisch imprägnierte Problembereiche wie Sprachskepsis oder Wirklichkeitskrise. Krolows Interpreten sind sich einig in der Diagnose, dass Krolow sich auf dem »Weg zur eigenen Ausdrucksform«118 befinde und dass dieser Weg zu einem »Modernism in a New Key«119 über eine Phase ausgeprägter Experimente mit der Metapher führt. Paulus und Kolter sprechen im Anschluss an die erste Phase von der Entwicklung über die »aggressive ›expressionistische‹ Naturmetapher« zwischen 1945 und 1947 zur »surrealistisch[ ] mehrdeutige[n] bzw. absolute[n] Metapher«, die in seinen Gedichten von 1947 bis 1951 zu beobachten sei.120 Klessinger geht neben der intensiven Rezeption besonders Federico García Lorcas und Jorge Guilléns zudem auf die »Rezeption des ›narrative poem‹ um 1950« ein, die eine gewisse Alternative zu den Techniken der ›Abstraktion‹ und ›Entsubstantialisierung‹ 117

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Vgl. Gerhard Kolter, Die Rezeption westdeutscher Nachkriegslyrik am Beispiel Karl Krolows. Zu Theorie und Praxis literarischer Kommunikation, Bonn 1977. Der Wiederabdruck der frühen Gedichte erfolgte erst 1989 in Auf Erden. Horst S. Daemmrich, Messer und Himmelsleiter. Eine Einführung in das Werk Karl Krolows, Heidelberg 1980, S. 11. Donahue, Karl Krolow and the Poetics of Amnesia, S. 101. Paulus/Kolter, Karl Krolow, S. 23.

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darstellte.121 Jedenfalls sind ab 1952 Varianten einer gegenüber surrealistischen Poetiken stärker unabhängigen Lyrik zu beobachten. Donahue betont historische und biographische Kontexte: Wie kann ein Autor, der die Naturlyrik als einen Rückzugsraum benutze, der es ihm erlaubte, eine Auseinandersetzung mit der bedrückenden Realität von Diktatur und Krieg wenigstens in Andeutungen zu führen, seine eigene Position in diesem Idiom reflektieren, erläutern und sukzessiv eine Veränderung ebendieses Idioms herbeiführen? Die Entwicklung dieser immer weniger epigonalen Poetik Krolows wird von seinen deutschsprachigen Interpreten bevorzugt mit den vom Autor selbst eingeführten Termini umschrieben: Die in der Poetik zentralen Ziele von ›Offenheit‹ und ›Leichtigkeit‹ würden mit »verschiedenartigen Mitteln wie Abstraktion, Entsubstantialisierung, spielerischer Imagination und kühner Metaphorik erreicht«.122 Allerdings verwende Krolow neben den »traditionellen Mitteln der Naturlyrik« jetzt auch die »mathematisierende Abstraktion, die ebenfalls geheime Gesetzmäßigkeit und geistige Klarheit kühl suggeriert«.123 Auch die Bedrohungen werden thematisiert, die im privaten, aber auch im öffentlich-politischen Bereich für den Zustand der ›intellektuellen Heiterkeit‹, also des Komplexes der ästhetischen Unabhängigkeit bestehen. Am wichtigsten scheint dabei die existentielle Bedrohung der individuellen Freiheit und der »subjektive[n] Freiheitsräume«,124 die im Zentrum von Krolows Ästhetik der 50er Jahre steht – ganz gleich, ob man sie nun affirmativ liest oder als Ausdruck einer Flucht zumindest vor der politischen Vergangenheit. Ausführlichst ausgearbeitet wird dieser Ansatz bei Rümmler, alle anderen Darstellungen scheinen sich weitgehend an seiner Phasenbildung zu orientieren; Klessinger kommt das Verdienst zu, die Texte des ersten Nachkriegsjahrzehnts im ideologisch maßgeblichen Kontext der Literaturpolitik des Merkur zu untersuchen.125 Rümmler legt Wert darauf, dass nach der Phase der Texte bis 1945 »die Realsphäre als Grundlage der Imagination«126 langsam abgebaut und aufgehoben wird. Die Verknüpfung der Metaphern nach dem Assoziationsprinzip führe zu einer Subvertierung der syntaktischen Zusammenhänge im Gedicht: »Die assoziierende Imagination bestimmt

121 122 123 124 125 126

Klessinger, Bekenntnis zur Lyrik, S. 83–91, Zitate S. 88, S. 87. Paulus/Kolter, Karl Krolow, S. 35. Ebd., S. 36. Ebd., S. 39. Klessinger, Bekenntnis zur Lyrik, S. 19–29. Rümmler, Die Entwicklung der Metaphorik, S. 234.

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die – nun sekundäre – syntaktische Realisation«,127 was in den Texten zu langen Metaphernreihungen führe. Der einmal errungenen Unabhängigkeit des sprachlichen Materials von der Wirklichkeit folge dann ab 1947 die »Realisierung der Motive nicht mehr allein in aggressiv-expressiven, sondern, formal virtuos, auch in surrealistischen Metaphern.«128 Einen weiteren Evolutionsschritt sieht Rümmler in der »paralogische[n] Reihung surrealistischer Metaphern«129 zwischen 1949 und 1951, die dann schließlich ab 1952 in die langsame Loslösung von formalen Bindungen mündet, zunächst im langzeiligen und im Erzählgedicht,130 dann ab 1955 in kürzeren, blockartigen Gedichten, in denen es Krolow schließlich nach Rümmler gelingt, »die deutsche Naturlyrik und den Surrealismus zur spezifischen Verschmelzung zu bringen«.131 Krolows intensive Auseinandersetzung mit dem Surrealismus ist ein Indiz für die Konfigurationen der Nachkriegsmoderne. Orientierung wird bei bereits weitgehend abgeschlossenen ästhetischen Entwicklungen der literarischen Moderne gesucht, die verspätet in die Poetiken der Nachkriegszeit integriert werden. Solchen Poetiken ist der Versuch gemeinsam, die Unabhängigkeit und Autonomie der poetischen Sprache zu erhalten oder angesichts des Missbrauchs durch die politischen Machthaber neu zu begründen.132 Im Kontext der Nachkriegsmoderne der 50er Jahre bedeutet das eine Assimilation des Autonomie-Postulats der ›modernen Lyrik‹ im Zeichen der Enthistorisierung – oder zumindest abstrahierenden Entkonkretisierung historischer Referenz. Gleichwohl wäre es problematisch, die eine oder andere Seite dieser Problemlage zum Schlüssel für die Darstellung der lyrischen Nachkriegsmoderne zu erheben. Sowohl das Bedürfnis, sich ästhetisch auf den – angenommenen und in vielen Diskussionen approximierten – ›neuesten‹ Stand zu bringen, wie auch die Ausblendung der Geschichte sind jeweils ernstzunehmende Motivationen für die Entwicklung individueller Ästhetiken und literarischer Programme. Im Fall Krolows äußert sich das in einer Dialektik: Der Ansatz, lyrische Spielräume ästhetischer Autonomie im produktiven Bezug auf Elemente surrealistischer Ästhetiken zu erweitern, ist deutlich erkennbar, aber zugleich lässt sich die fortwährende Tendenz zur Ästhetisierung als eine Strategie lesen, gegen die diskursive Dominanz historisch-faktischer Ereigniszusammenhänge eine Position zu beziehen. In diesem Sinn kann man gerade die Lyrik bis zum Anfang der 60er Jahre als eine 127 128 129 130 131 132

Ebd. Ebd. Ebd., S. 235. Hierzu nochmals Klessinger, Bekenntnis zur Lyrik, S. 88–91. Rümmler, Die Entwicklung der Metaphorik, S. 236. Vgl. dazu auch Bogdal, »Der Augen-Blick des Wortes«, S. 283f.

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Bewegung begreifen, die sich zwischen den Polen historischer Referenz und ästhetischer Modernisierung bewegt. Rümmler plädiert dafür, »Krolows Entwicklung von 1942/43 bis 1958 als eine ständige Dialektik von Abbau der herkömmlichen formalen Bindungen einerseits und Freilegung der Möglichkeiten der Imagination andererseits [zu] betrachten«.133 Diese im Wesentlichen auf die Dimension des Textes begrenzte Analyseperspektive lässt sich vorsichtig erweitern: Gerade die zusätzliche Motivation, die politisch-historische Kontamination der Sprache und der Lyrik zu umgehen, führt in den 50er Jahren zu ästhetischen Vermeidungsstrategien, die sich gegen die Kontinuität der literarischen Tradition richten und deshalb im formalen, aber auch im ideologischen Repertoire der lyrischen Avantgarde ihre Ausdrucksmöglichkeiten suchen. Seit Krolows naturlyrischen Anfängen, in denen eine Sinneinheit der Texte noch durchaus gegeben ist – und bei Bedarf der allegorischen Erweiterung offensteht –, betreibt Krolow durchaus programmatisch die Autonomisierung der lyrischen Sprache über die Erweiterung metaphorischer Ausdrucksmöglichkeiten. Zu beobachten ist in Krolows Lyrik also eine Tendenz zur Auflösung syntaktischer Sinneinheiten durch die Privilegierung des aufgrund von Metaphorisierung vieldeutig gemachten einzelnen Wortes. Krolows Konzeption der Unabhängigkeit lyrischer Sprache, die in den poetologischen Schriften als ›intellektuelle Heiterkeit‹ beschrieben wird, äußert sich vor allem in dieser Betonung der Vieldeutigkeit der Metapher. Aber die Autonomisierung ist eben nicht nur ein ästhetischer Prozess, sondern andererseits fundiert in der kontinuierlichen Auseinandersetzung mit der unmittelbaren historischen und politischen Vergangenheit – oder genauer: Im Versuch eines Einzelnen, den politischen Kontaminationen und Anpassungen durch die Diktatur eine Konzeption artistischer Unabhängigkeit entgegenzusetzen, die immer neu mit den eigenen sprachlichen Möglichkeiten abgeglichen wird. Dies ist der Fokus von Donahues Darstellung der sukzessiven Evolution von Krolows Lyrik, bei dem sie als Versuche gesehen werden, eine ästhetische Unabhängigkeit von spezifisch historischen Referenzen in immer wieder neuen Konfigurationen zu realisieren. Anfänglich steht Krolow dafür nur das motivische und formale Repertoire der Naturlyrik zur Verfügung. Auf die Phase der allegorisch erweiterten Reflexion der traditionellen Naturlyrik folgt nach Donahue »a new start« in den späten 40er Jahren,134 der die Bände Gedichte (1948), Heimsuchung (1948) und Auf Erden (1949) umfasst. Legt man den Gesichtspunkt der formalen 133 134

Rümmler, Die Entwicklung der Metaphorik, S. 237. Vgl. Donahue, Karl Krolow and the Poetics of Amnesia, S. 72–100, bes. S. 72.

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Fortentwicklung an, dann unterscheidet sich das, was Donahue in diesen Bänden beobachtet, nicht wesentlich von dem, was Rümmler und in seinem Gefolge Paulus und Kolter beschreiben: Krolow löst sich langsam von den Poetiken der Naturlyrik und erprobt neue Verfahren der Bildlichkeit. Dieser formale Prozess ist jedoch begründet oder zumindest begleitet von einer fortwährenden Reflexion der Spielräume naturlyrischen Schreibens angesichts der Erfahrung von Diktatur und Krieg. Die Differenz von Krolows Schreiben zu anderen Fällen von ›Trümmerlyrik‹ liegt in der von vornherein elaborierteren Reflexion ästhetischer Möglichkeiten. In der explizit auf Simplizität und sprachliche Kargheit setzenden Ästhetik der Trümmerlyrik ist die poetologische Selbstreflexion eine implizite Folge der radikalen Absage an alle traditionellen Kunstmittel.135 Krolow hingegen denkt weiter innerhalb des zur Verfügung stehenden thematischen und formalen Repertoires über dessen Gültigkeit, Anwendbarkeit, aber auch über dessen Grenzen nach. Sicherlich deutet die dezidierte Kargheit im Titel des zweiten Lyrikbands – Gedichte – bereits dieses Bedürfnis nach ästhetischer Selbstrevision an. Donahue zeigt minutiös, wie die kritische Auseinandersetzung mit dem Idiom der Naturlyrik hier ihren Anfang nimmt. Immer wieder werden, nun aber nicht mehr in der allegorisch-verschlüsselnden Manier der Gedichte in Hochgelobtes gutes Leben, die Möglichkeiten naturlyrischen Sprechens nach der Erfahrung der politischen Zwangssituation reflektiert, vorerst jedoch eben noch immer innerhalb dieses Idioms.136 Donahues Sicht läuft darauf hinaus, dass sich in praktisch allen Texten der Sammlung eine Infragestellung bestimmter Parameter des naturlyrischen Tons bemerkbar macht. Einmal, in »Kurzes Unwetter«, geschieht das, indem die allegorisierte Natur durch eine von unmittelbaren Bedeutungen befreite ›beobachtete Natur‹ ersetzt wird; ein andermal, in »Fische«,137 indem in der Reflexion über die statuarisch-passive Seinsnähe der Fische – »[t]raumerstarrt in blinden Tiefen«138 – die Gefahr des observierenden Rückzugs eines in den Hintergrund der profundalen See-Konstellation projizierten Beobachter-Ich angedeutet wird. Dieser trotz aller Seinsqualität der Seetiefe reflexive Rückzug wird durch die Gewalt der jäh einbrechenden Jäger in der letzten Strophe radikal zerstört.

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136 137 138

Vgl. Gerhard Kaiser, »Günter Eich: Inventur. Poetologie am Nullpunkt«, in: Olaf Hildebrand (Hrsg.), Poetologische Lyrik von Klopstock bis Grünbein. Gedichte und Interpretationen, Köln, Weimar, Wien 2003, S. 268–285. Vgl. Donahue, Karl Krolow and the Poetics of Amnesia, S. 72–83. In: Krolow, Auf Erden. Frühe Gedichte, S. 29f. Ebd., S. 29.

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Vor allem thematisch führt diese Selbstkritik über die Möglichkeiten des Naturdichters in Zeiten der Diktatur zu einigen Folgerungen. So wird in »Oktoberlied«139 ganz explizit in Zweifel gezogen, dass die Natur für das lyrische Subjekt tatsächlich ein angemessener Erkenntnisraum sein kann. Die früheren Beschäftigungen des Ich werden angezweifelt: Hab ich meine Zeit vertan Als der Sommer Falter sandte, Auf der Gartenmauer brannte, Knisterte im trocknen Span?140

Die Strategie, nach einem »geheimen Sinn / im Geleucht der Hundstagsrose«141 zu forschen, also durch die Beobachtung und Deutung der Natur eine Art Auflösung der existentiellen Rätsel zu unternehmen, wird eindeutig verworfen. Das Ich beschränkt sich nun auf die pure Beobachtung der Natur-Dinge, auf den Rückzug in ein neutrales Existieren in der Natur – das dann nach Donahue konsequenterweise die Folge hat, »the uncertainties of life and certainty of death«142 unter Aufgabe jeglicher Transzendierungsfunktion der Natur anerkennen zu müssen: Nirgend ist für mich zu bleiben. Soll ich Holz zum Feuer legen? Unermüdlich geht der Regen, Trommelt an die blinden Scheiben. Laß den Garten ich verwildern, Krähenvögel in ihm hausen? Mögen sie die Hecken zausen! Keiner kann die Schwermut mildern. Keiner kann den Tod verlocken, Wie ich mich vor ihm auch flüchte. Greif ich fröstelnd falbe Früchte, Fühl ich ihn im Nacken hocken.143

Diese Umwertung der Natur, die nun nicht mehr eine Art metaphysischer Erkenntnisraum ist, sondern ein Ort irdisch-diesseitiger Vergänglichkeitserfahrung, wird in den beiden letzten Texten des Bandes Gedichte weiter reflektiert. In »Der Dichter spricht«144 wird die Konzentration auf die Natur vorsichtig mit den historischen Bedingungen der Nachkriegsjahre konfrontiert. 139 140 141 142 143 144

Ebd., S. 39f. Ebd., S. 39. Ebd. Donahue, Karl Krolow and the Poetics of Amnesia, S. 78. Krolow, Auf Erden. Frühe Gedichte, S. 39f. Ebd., S. 58.

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Der Text wird eröffnet mit dem Versuch, mit den herkömmlichen Mitteln der Naturbetrachtung auch die historische Katastrophe sprachlich zu erfassen: Wunderliches Leben, das ich sage Unaufhörlich am Verstehn vorbei! Wuchs es nicht wie Stille hinterm Schrei, Dessen Schall ich noch im Ohre trage?145

Die Fokussierung auf die Natur hat hier nicht zu einem tieferen Verständnis geführt, sondern eine Distanz zur historischen Wirklichkeit erzeugt, die auch in den Nachkriegsjahren noch als Schall hinter der Stille der Natur die Aufmerksamkeit des Ich okkupiert. Die Verschiebung der rhetorischen Strategien in diesem Gedicht geschieht subkutan, im Modus der poetologischen Affirmation der naturlyrischen Bildlichkeit. Indem das Ich die verschiedenen Bereiche der Natur thematisiert, die allesamt eine Dimension hinter der sichtbaren Wirklichkeit eröffneten, werden auch die Grenzen dieser sichtbaren Realität deutlich. Die Bilder sind ambivalent, sie bestätigen und problematisieren zugleich die hilfreiche Wirkung der Natursphäre. In den nächsten drei Strophen wird diese Konfiguration wiederholt, am deutlichsten vielleicht in der dritten Strophe: Jedes Blühn ist tief in mir verständigt, Und ich spür den Wink im Ziegelreste. Noch die Alge, die im Stein gepresste, Ist voll Dasein und bleibt unbeendigt.146

Nach wie vor wird Natur auf eine empathische Weise vom Ich verstanden, zugleich aber ist das ›Dasein‹, das hinter ihr steht, nicht vollständig erfassbar. Die Distanz zu den Naturdingen ist angesichts der historischen Katastrophe größer geworden – allerdings bietet die Natur noch immer Erlösung: Luft, die trauert! Und ich muß sie trinken, Bis die Augen sich mit Schwärze sammeln. Hell im Gras erlöst mich Grillenstammeln, Und ich kann in sanfte Dämmrung sinken.147

Die »Luft, die trauert«, erscheint hier als ein die gesamte Natur umgebendes und determinierendes Element. Sie ist noch gezeichnet von der historischen Katastrophe, und auch wenn »Grillenstammeln« schließlich das Ich von der Schwärze dieser Erfahrung erlöst, ist die Natur doch fragwürdiger geworden. 145 146 147

Ebd. Ebd. Ebd.

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Ohne bereits eine ästhetische Alternative entwickelt zu haben, ist diese implizite Diskussion naturlyrischen Sprechens noch einmal im letzten Text der Sammlung konzentriert, wobei »Lobgesang«148 die Rhetorik der Subvertierung in der Affirmation noch ein Stück weiter treibt. Das Gedicht ist in sechs Strophen organisiert, die jeweils sechs vorwiegend daktylische Langverse umfassen. Die Strophen heben jeweils mit einer Aufforderung zum Lob bestimmter Naturphänomene an: »Lobe die Mücke […]«; »Lobe den springenden Fisch […]«; »Lobe die Blase […]«; »Lob das geschnittene Kraut […]«; »Staubigen Wermutstock lobe […]«. Diese exhortativen Aufforderungen, bestimmte Naturphänomene dichterisch zu besingen, sind Bestätigungen eines affirmativen Naturverständnisses. Das Ich inszeniert die Natur als einen Raum der existentiellen Sicherheit und nach wie vor denkbarer Einheits- und Transzendenzerfahrungen. Allerdings findet im vierten Sextett eine Akzentverschiebung statt. Von der sprachlichen Evokation der Natursphäre verschiebt sich der Fokus des Texts nun zur Thematisierung der Manipulation der psychischen und rationalen Wahrnehmung des Subjekts – wobei der rhetorische Lob-Gestus beibehalten und somit die Bewertung dieser Wahrnehmungsveränderungen durch die Natur ambivalent bleibt: Traumnetz der Nächte lob, das man uns übergeworfen, Das uns im Schlafe mit jeglichem Wesen verstrickt, Quälenden Alp, der uns aufsitzt, mit Schrammen und Schorfen, Algenumwunden, und dumpfe Verhängnisse schickt.149

Liest man die Verse problematisierend, dann wird die Reflexion über das Schreiben des Naturlyrikers in der Zeit des Nationalsozialismus darin wieder verstärkt. Die Konzentration auf die Natur ist geradezu eine Folge der gewaltsam eingeschränkten Wahrnehmung der Außenwelt, deren negative Grundlage nun im Vordergrund steht. Das Ich des Gedichts bestimmt die Bedingungen einer lyrischen Erkenntnis der Natur – wiederum, ohne dabei die Bildwelt der Naturlyrik zu verlassen, allerdings in einer deutlichen Annäherung an ihre Grenzen: Das ›übergeworfene‹ »Traumnetz der Nächte«, der Schlaf, der »[q]uälende Alp« oder die »Schrammen und Schorfen« lassen das Naturvokabular des übrigen Textes hinter sich. Was dabei diagnostiziert wird, ist die Reduktion der Wirklichkeitswahrnehmung durch einen außerhalb der Natur liegenden Kontext, den man als politisch-historisch identifizieren kann. Er wird allerdings seinerseits rückübersetzt in eine vage Bildkette, die den Assoziationsbereich des Unbewussten umschreibt und am

148 149

Ebd., S. 59f. Ebd., S. 59.

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Ende doch wieder bei einem Naturbild landet (»algenumwunden«). Der Fortgang des Gedichts dementiert dann diese Infragestellung: Bereits am Ende der vierten Strophe kehrt das Ich zurück zum »von Labkraut und Ampfer betäubten«150 Lob der Sterne und des Äthers, die fünfte Strophe befasst sich mit dem Preis der körperlichen, weiblichen Schönheit, die sechste mit der Vergänglichkeit. Dabei soll der Tod ebenso als Teil des Preises alles Diesseitig-Irdischen akzeptiert werden wie die anderen Bereiche (»Denke den irdischen Tod und lob ihn, lobe ihn immer […]«151). Fragwürdig ist deshalb, ob man tatsächlich mit Donahue von einem ironischen Grundgestus des gesamten Textes sprechen kann. Er plädiert dafür, dass das gesamte Gedicht, vor und nach der Passage in der vierten Strophe, in der die Bedingungen der Naturlyrik in Frage gestellt werden, »continues to list objects of ironic praise in such a way that the critical insight here is not elaborated but curtailed«.152 Dem zweiten Teil der Behauptung kann man durchaus zustimmen. Die potentielle Analyse der Bedingungen naturlyrischen Schreibens unter einer Diktatur, die den Dichter zum Rückzug aus dem historisch-politischen Raum zwingt, findet nicht statt. Indizien für eine Ironisierung innerhalb der solcherart problematisierten Rhetorik des Lobgesangs lassen sich hingegen nicht finden. Donahue meint, »[t]he poem rejects, through bitter irony, the nature idiom during the Reich.«153 Viel eher aber scheint hier ein letzter Versuch unternommen zu werden, die bereits erkannte unwillentliche Instrumentalisierung und erzwungene Distanzierung von der historischen Realität mit der Ästhetik der Naturlyrik in einen Text zu integrieren. In der Logik des »Lobgesangs« liegt weniger die bittere Ironisierung einer bereits als antiquiert erkannten Poetik als der Versuch, selbst die Determinierung der Naturwahrnehmung durch die Außenwelt – das Traumnetz der Nächte – in die Gesamtschau einer letztlich eben doch von überhistorischen Naturkräften beherrschten Wirklichkeit zu integrieren und selbst diesen »[q]uälenden Alp«, seine Verstrickungen, »Schrammen und Schorfen« und »[a]lgenumwundene« Isolation als einen Teil des wesenhaften Kreislaufs aus Tod und Leben zu interpretieren. Freilich: Die Diagnose verrät, wie schon die anderen Stellen aus Gedichten dieser zweiten Sammlung, dass der Autor Krolow diesen ästhetische Spagat offenbar zunehmend als schwierig empfand und dass er nach Möglichkeiten der Erweiterung seiner ästhetischen Spielräume suchte. 150 151 152 153

Ebd. Ebd., S. 60. Vgl. Donahue, Karl Krolow and the Poetics of Amnesia, S. 83. Ebd.

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Diese Suche wird in den darauf folgenden Bänden Heimsuchung und Auf Erden fortgesetzt, mit nun gänzlich verschiedenen thematischen Akzentuierungen. Vor allem in Heimsuchung – der Titel arbeitet mit einem für die unmittelbaren Nachkriegsjahre nicht untypischen Verfahren der religiös konnotierten Verschattung der historischen Katastrophe – wird tatsächlich die Frage diskutiert, wie ein Schreiben in den moralischen und materiellen Zerstörungen der Nachkriegsjahre aussehen könne. Die von Krolow immer wieder betonte Kontinuität zumindest der eigenen Entwicklung verweist zugleich darauf, dass seine Lyrik dieser Herausforderung mit im Wesentlichen identischen sprachlichen und ästhetischen Grundelementen zu begegnen versuchte. Es ging nicht um Erfindung oder Entwicklung von etwas gänzlich Neuem, sondern um die entsprechende Anpassung dessen, worüber er bereits verfügte. Im ersten Teil der Sammlung, ›Die zweite Zeit‹, werden deshalb die Topoi der tröstenden Wirkung des Naturkreislaufs aufgegeben und die sprachlichen Möglichkeiten in den Dienst einer, wie Donahue meint, an neorealistische Ästhetiken gemahnenden Beschreibung konkreter äußerer Realitätsbilder gestellt.154 Andererseits ist auch Paulus und Kolter zuzustimmen, die gerade im exemplarischen Eröffnungsgedicht »Gegenwart« eine Ineinanderblendung der »Kontraste der vordergründigen Häßlichkeit und Bedrohlichkeit von Natur und der ewig neuen Kraft des Mythos«155 sehen. Das Nebeneinander von zerstörter Realität – »Der Mauerputz blättert / in rötlichen Schuppen« –, organisch grundierter Vergänglichkeitsmetaphorik – »Es atmet der Schimmel / mit offenen Poren« – und mythisierender Interpretation – »Sieh, Ceres belebt sich / und schwebt durch die Stube!«156 – lässt am ehesten auf eine experimentelle Engführung der verschiedenen sprachlichen Bewältigungsmodelle schließen. Ohne die entschiedene Präferenz von Realismus, Naturmagie oder Mythos liefert der Text eine Reflexion über alle drei Ansätze. In weiteren Gedichten wird dieser Eindruck des explorierenden Erschließens der vorhandenen Möglichkeiten verstärkt. Gedichte, in denen die vom menschlichen Einfluss tangierte, veränderte und zerstörte Natur thematisiert wird (z. B. »Verfallene Laube« oder »Neumond«), alternieren mit in Ansätzen erkennbaren lyrischen Selbstporträts, die das Ziel verfolgen, die Grundbedingungen des Schreibens in der lyrischen Erkundung des schreibenden Subjekts zu reflektieren. Krolows Weg zu einer Lyrik, in der bewusst 154 155 156

Donahue, Karl Krolow and the Poetics of Amnesia, S. 84. Paulus/Kolter, Karl Krolow, S. 28. Krolow, Auf Erden. Frühe Gedichte, S. 69.

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ein Weg zwischen historischem Bewusstsein und ästhetischer Autonomie gesucht wird, ist nun erkennbar. Das Postulat der ästhetischen Freiheit und Unabhängigkeit der Lyrik wird nicht aufgegeben, sondern als Grundqualität verteidigt. Einer der ersten Schritte in diese Richtung ist die Diskussion einer Lyrik, die sich zwischen naturlyrischer Wirklichkeitsreflexion und existentialistischer Betroffenheitspose bewegt. Exemplarisch geschieht das im oft interpretierten157 poetologischen Text »Ode 1950«. Vor allem in der ersten Strophe spricht sich Krolow fast programmatisch gegen die naturlyrische Ästhetik aus: Ode 1950 Nicht mehr das traurige Stichwort: – Bequeme Parabel Ist die Rede vom Nichts wie vom herbstlichen Laub, das zersetzt Sich zu brüchigem Rost. Die unbarmherzige Vokabel schreckt nicht mehr als der Fisch des Tobias zuletzt, Wenn sie verbraucht ist im Munde, die als gespenstische Mode Wie ein Feuer im Heu war und noch einmal Geist wird als Ode.

Als Alternative gegen die Abnutzung der Naturchiffren als Ausdrucksmittel für existentielle und historische Probleme wird hier – ganz im Horizont von Krolows Poetik ästhetischer Autonomie – eine möglichst artistische, von gegenständlichen Bezugszwängen befreite, spielerische Lyrik propagiert: Aber was bleibt zu tun Vor der trägen Gewalt Des Daseins als auszuruhn, listig und mannigfalt: Flüchten mit leichten Schuhn In die Fabelgestalt Oder auf äschernen Flüssen Langsam treiben, von Küssen Umarmenden Windes benommen Der aus der Höhe gekommen.

In den weiteren Abschnitten wird diese neue Ästhetik in ihren Gefahren erläutert: Formel der Früchte: wer nennt sie? Auf tönenden Tischen Der Tage gebreitet, in silbernen Schalen der Nacht! Sinnlich und nah und zu greifen. Ich suche mit Worten inzwischen Die Flüchtigen aufzuhalten: mit einer Algebra, zart erdacht aus atmenden Silben, einem Bündel Gedanken, die baden Im steigenden Halbmond wie das Geflecht der Plejaden.

157

Vgl. Paulus, Lyrik und Poetik Karl Krolows, S. 33–39.

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Transformationen Aber mit diesen Namen aus Zauber Ist nichts erwiesen: Der gurrende Tauber, Die süßen Geräusche – Erhört wie bewusstlos – Vergehen. Ich täusche Sie vor als ein Sinn bloß In Worten, in Zeichen, Die keinen erreichen.

Also wieder ein Abgrund? – Kein Abgrund: Versuchung schon eher Und ein zärtlicher Hinterhalt, dem man erliegt, Poetische Falle, gestellt, wenn im Mittag der Mäher Oder im Abend aus Schilf es melodisch sich biegt, Das Bewußtsein, die Fähigkeit, zuversichtlich und heiter Gewähren zu lassen, den Geist aus den Geistern zu ziehn Und die Zeit zu erkennen, die vorbeijagt – phantastischer Reiter Durchs Gewölk der Geschichte, in dem die Verhängnisse fliehn. Ich lasse die summenden Drähte, das klingende Gitter Der Worte zurück auf dem Grunde des Seins. Er ist leuchtend und bitter.158

Wenn im dritten Abschnitt noch die Deskription der sprachlichen und ästhetischen Strategien im Mittelpunkt steht, die es erlauben, die Flüchtigkeit und Hinfälligkeit ästhetischer Wahrnehmungen zu fixieren, wird im vierten diese Ästhetik bereits wieder kritisiert: Sie löse sich in ihrer Konzentration auf das Artifizielle, auf die – und sei es noch so kunstvoll und ›richtig‹ gesetzten – Zeichen von jeder Referenz und erreiche auch keinen Leser mehr, verfehle also auch als Text die Erzeugung ästhetischer Wahrnehmungen. Diese Gefahr jedoch, so das Resümee im fünften Abschnitt, müsse angenommen werden, sie wird als das Risiko der sprachlichen Gestaltung von Wirklichkeit behandelt. Dem Autor bleibe nur der Weg, möglichst aufmerksam die Gegenstände seiner möglichen Gedichte – Augenblicke, Situationen, aber auch gegenwärtige und historische Probleme – zu erkennen und sorgfältig in Worte zu übersetzen, die dann ihrerseits eine Tiefendimension entfalten können – oder auch nicht. Krolow führt in »Ode 1950« die Diskussion über eine Poetik, die sich zwischen ästhetischer Autonomie und historischer Wirklichkeit bewegt und auch Gefahr laufen kann, von einem der beiden Pole zu sehr beherrscht und deformiert zu werden. Tatsächlich ist eine mögliche Konsequenz dieser Ästhetik die Auflösung der logischen Struktur des Textes durch den Gebrauch immer komplexerer und damit auch vag-abstrakterer Metaphern. Deutlich 158

Karl Krolow, Gesammelte Gedichte, Bd. 1, S. 51f.

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zum Ausdruck kommt das in »Verlassene Küste«. Hier lässt sich beobachten, wie die Autonomisierung der Metaphern die Grenzen des Gedichtzusammenhangs nahezu auflöst und wie Krolow die Grenze zur hermetischen Lyrik streift. Verlassene Küste (1948) Wenn man es recht besieht, so ist überall Schiffbruch Petronius Segelschiffe und Gelächter, Das wie Gold im Barte steht, Sind vergangen wie ein schlechter Atem, der vom Munde weht, Wie ein Schatten auf der Mauer, Der den Kalk zu Staub zerfrißt. Unauflöslich bleibt die Trauer, Die aus Schwarzem Honig ist, Duftend in das Licht gehangen, Feucht wie frischer Vogelkot Und den heißen Ziegelwangen Auferlegt als leichter Tod. Kartenschlagende Matrosen Sind in ihrem Fleisch allein. Tabak rieselt durch die losen Augenlider in sie ein. Ihre Messer, die sie warfen Nach dem blauen Vorhang Nacht, Wurden schartig in dem scharfen Wind der Ewigkeit, der wacht.159

Man kann den Text natürlich auf traditionelle Weise lesen und aus der immerhin noch syntaktisch gegliederten Abfolge der Bilder verschiedene SinnEinheiten extrahieren. »Verlassene Küste«, so ließe sich dann sagen, umschreibt das Thema der Vergänglichkeit und verbindet es mit Bildern aus dem Assoziationshorizont der Seefahrt, die stellenweise in eine Art romantisierende Südsee- und Piratensphäre überzugehen scheinen.160 Zugleich hält sich der Text nicht an diese Bildgruppen, sondern verknüpft sie in Vergleichen und Metaphern wiederum mit anderen Themen. Die erste Strophe behandelt das Motiv der Abfahrt aus dem Hafen: Der zentrale Vergleich – 159 160

Karl Krolow, Gesammelte Gedichte, Frankfurt am Main 1965, S. 26f. Anschaulich beschrieben bei Donahue, Karl Krolow and the Poetics of Amnesia, S. 116.

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»Gelächter / Das wie Gold im Barte steht« – ist die Vignette der Abschiedssituation. Der folgende Bildkomplex (V. 3–6) kommentiert die Vergänglichkeit des Abschieds in den Bildern des verwehenden schlechten Atems und der im Schatten verfallenen Mauer – entfernt sich aber zugleich von der Bildwelt der Seefahrt in komplexe, sich aus Widersprüchen strukturierende Metaphern. Der »Schatten auf der Mauer, / Der den Kalk zu Staub zerfrißt«, kombiniert zwei Bilder des Vergehens, arbeitet aber bereits mit der im Ansatz paradoxen Semantik: Gerade der im ersten Bild wegen seiner Immaterialität kurzlebige und nicht fixierbare Schatten ist es, der den Kalk der Mauer zerstört, der also von einem Bild zum andern den Aggregatszustand wechselt und gewissermaßen vom Opfer zum Akteur des Vergehens wird. Diese Technik der Bedeutungsumkehrung durch Aktivierung einer Widerspruchsstruktur wird wiederholt und potenziert in der Metapher der »Trauer, / die aus Schwarzem Honig ist […]«: Hier wird gezielt Ambivalenz ausgespielt. Der goldene, süße Honig wird als schwarz – dunkel, verbrannt, seiner lebensspendenden Eigenschaften beraubt – spezifiziert; gleichzeitig bleibt eine Spannung bestehen zwischen dem ›Honig‹ und dem ›Dunkel‹, die sich noch verstärkt, wenn man das Bild systematisch analysiert.161 Letztlich ist die Metapher nicht mehr einsinnig auflösbar, sondern eine Kombination semantischer Widersprüche. Das poetologische Programm des Gedichtes konzentriert sich in dieser Leitmetapher: Eindeutig zu lesende Bildkomplexe werden durch die Integration von Antithesen für die jeweils gegenteilige Bedeutung offen gehalten. In der zweiten Hälfte des Textes wird dieses Prinzip vollends beherrschend. Syntaktisch ist die gesamte vierte Strophe eine Erläuterung der widersprüchlichen Qualitäten des ›Schwarzen Honigs‹, die semantische Eigenlogik der Bilder überlagert nun endgültig ihre mögliche Verknüpfung entlang einer Sinnperspektive. Die beherrschende Thematik der Vergänglichkeit wird immer wieder durch Bilder des Neuen, nicht Vorhergesehenen konterkariert, zugleich aber damit in die Kompositionslogik des Textes integriert. Keines der Bilder ist in der Textdynamik stabil, sie tragen ihre Auflösung, zumindest eine widersprüchliche Interpretation, bereits in sich. Auch der thematische Wechsel zu den »kartenschlagende[n] Matrosen« in der vierten Strophe verändert diese Logik nicht. Wenn man den »durch die losen / Augenlider« in die Matrosen ›ein[rieselnden]‹ Tabak bei aller surrealistischen Prägung noch als Fortsetzung der Vergänglichkeitsthematik unter Seemannsvorzeichen sehen kann – wobei nun die Seeleute und ihre »monumen161

Vgl. die Betonung der sinnlichen Reize sowie der existenzphilosophischen Motive bei Klessinger, Bekenntnis zur Lyrik, S. 81f.

Karl Krolow: Revision der Naturlyrik im Zeichen des Surrealismus

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tal self-centeredness in the pure present«162 im Mittelpunkt stehen –, dann kehrt der Text in der letzten Strophe umso deutlicher zur Poetik der Bedeutungspotenzierung durch gezielte Ambivalenz zurück. Ob man nun die »[n]ach dem blauen Vorhang Nacht« geworfenen Messer als Versuch verstehen will, eine Sphäre des Undurchdringlich-Schwerverständlichen gewaltsam zu konturieren oder, wie Paulus und Kolter, als Beispiel für eine ›verschärfte‹ und dann doch gescheiterte Kommunikationssituation:163 Das Bild charakterisiert indirekt die Wahrnehmung der Sterblichkeit auf Seiten der Seeleute und bleibt gerade deshalb offen – eine weitere Umschreibung der Ambivalenz des metaphorisierten Seemanns-Daseins. Damit wird auch der Assoziationsraum für die existentialistische Coda des Textes geöffnet: Alle Bildreihen laufen zu auf den »scharfen / Wind der Ewigkeit, der wacht« und gehen darin auf – ein Konzentrat der Metaphernfolge, die die Widersprüchlichkeit und Vergänglichkeit der Existenz umspielt. Man kann die thematisch-sujethaften Schwerpunkte der einzelnen Strophen also annäherungsweise bestimmen und ihren Ablauf nachvollziehen, muss aber angesichts der Ambivalenzstrategien immer auch festhalten, dass die metaphorische Dynamik des Textes eine paradigmatische Eigenlogik besitzt, die das Hintereinander der einzelnen Bilder aushebelt. Das gezielte Verschwimmen, Überblenden und Auflösen von Bedeutungen durch die Technik der Aufeinanderfolge widersprüchlicher Bilder wird in »Verlassene Küste« zur Kompositionslogik des Textes erhoben. Man soll und kann natürlich trotzdem Einzelbedeutungen bestimmen, aber sie bleiben vorläufig und ambivalent. Die Rezeptionssteuerung funktioniert, indem ein Kohärenzbedürfnis der Leser durch bestimmte Signalstrategien aufgerufen, aber eben auch subvertiert wird. Diese gleitende Metaphorik ist in der Evolution von Krolows Lyrik von einer existentialistisch getönten Naturlyrik zur ›modernen‹ Lyrik ein entscheidender Schritt. Die Ablehnung der subjektivistischen Selbsterkundung wird nun nicht mehr nur thematisiert, sondern auch poetologisch vollzogen. Mit »Verlassene Küste« (und mit anderen Texten in Die Zeichen der Welt) hat Krolow den Schritt zu einer Lyrik vollzogen, in der die Metapher eine eigene, freie Variabilität entwickelt und damit eine ästhetische Strategie der lyrischen Moderne in die deutsche Lyrik integriert. Zugleich erreicht Krolow in Die Zeichen der Welt eine Grenze in der Verwendung dieser komplexen, 162 163

Ebd. Die dazugehörige Folgerung der existentialistischen Parallel-Lektüre: »[…] der Mensch bleibt auf sich selbst und die Sinngebung seiner geistigen Existenz verwiesen.« Vgl. Paulus/Kolter, Karl Krolow, S. 33.

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Widerspruchstrukturen in die einzelnen Bilder verlagernden Metapherntechnik. Allerdings scheinen mit dieser Poetik für Krolow auch die Spielräume erschöpft, die die Metapher als ein zentrales Mittel der ästhetischen Erweiterung naturlyrischer Poetiken bietet. Ohne die stilistischen Register aufzugeben, die sich aus der Weiterentwicklung der Metapher bis hin zu den antithetischen Strukturen in »Verlassene Küste« ergeben, beschäftigt er sich in den nächsten Jahren mit anderen Möglichkeiten stilistischer Veränderung. Verfolgen kann man diese Entwicklung in den Bänden Wind und Zeit (1954), Tage und Nächte (1956) und Fremde Körper (1959). Eine wesentliche Errungenschaft dieser Phase in Krolows Poetik besteht darin, dass die Autonomie der Bilder, die in Zeichen der Welt zunächst diskutiert und dann (wie in »Verlassene Küste«) auch vollzogen wird, nun grundsätzlich zu einer Autonomie des sprachlichen und rhythmisch-metrischen Materials führt. Nach und nach erarbeitet sich Krolow den freien Vers und parallel dazu eine größere Variabilität beim Einsatz der sprachlichen Mittel, die sich vor allem in der lakonischen Schreibweise seiner Texte äußert. Es ist nicht mehr ganz einfach, diese Gedichtbände Krolows noch als einzelne Phasen einer halbwegs nachvollziehbaren Entwicklung zu verstehen. Die von Rümmler unternommene, deskriptiv aufschlussreiche Fortsetzung der ›Übersicht‹ zu Krolows Entwicklung wirkt für die zweite Hälfte der 50er Jahre eher wie ein Versuch, disparate Teile immer vielfältigerer und variablerer Schreibvarianten genetisch umzuinterpretieren, und erscheint dementsprechend sperrig. Auf eine Phase der »surrealistisch[ ] erschwerende[n] […] Metapher […] der Jahre 1952 bis 1954« folge die Poetik des »nur schwer oder nicht aufzulösende[n] surrealistische[n] Vorgang[s] und [der] surrealistische[n] personificatio continuata der Jahre 1955 bis 1958«, schließlich »die betont intellektuelle Metapher mit der Tendenz zum Unmetaphorischen […] in den Jahren von 1959 bis 1962«.164 Freilich gesteht auch Rümmler ein, dass »[d]iese Einteilung […] selbstverständlich nur metaphorische Dominanten« angebe und »[i]n Wirklichkeit […] sich die einzelnen Phasen [überlappen]«,165 eine Erkenntnis, die analog für die Rezeption der französischen und spanischen Lyriker gilt, bei denen sich Krolow mit den Impulsen für seine thematischen, sprachlichen und stilistischen Erneuerungen versieht. Es ist deshalb schon aus systematischen Gründen sinnvoll, für Krolows Lyrik der 50er Jahre von verschiedenen, jedoch grundsätzlich verwandten, Formationen modernistischer Poetiken auszugehen. Krolow versucht die 164 165

Rümmler, Die Entwicklung der Metaphorik, S. 106. Ebd.

Karl Krolow: Revision der Naturlyrik im Zeichen des Surrealismus

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beim Gebrauch dichter und schwer entschlüsselbarer Metaphernketten erreichten Spielräume für Abstraktionserfahrungen weiterzuführen, indem er sie mit Techniken der Verknappung und Reduzierung überkreuzt. Zentral bleibt dabei immer die Konzeption einer Lyrik, die ästhetisch bis zu einem gewissen Grad unabhängig vom jeweiligen Thema ist. Donahue analysiert die Varietäten dieser Krolow’schen Moderne detailliert. Im Horizont dieser Untersuchung genügt es, an drei Texten aus den genannten Gedichtbänden die stilistischen und thematischen Formationen dieser modernistischen Autonomie-Ästhetik zu erläutern. Aus Wind und Zeit wird dafür »Worte« herangezogen; aus Tage und Nächte »Blätterlicht«; und schließlich aus Fremde Körper »Robinson I«. »Worte« liefert ein erstes Beispiel für die Richtung, in die sich Krolows Poetik nach der Verdichtung und Akkumulation komplexer Metaphernketten bewegt. Worte Einfalt erfundener Worte, die man hinter Türen spricht, Aus Fenstern und gegen die Mauern, Gekalkt mit geduldigem Licht. Wirklichkeit von Vokabeln, Von zwei Silben oder von drein: Aus den Rätseln des Himmels geschnitten, Aus einer Ader im Stein. Entzifferung fremder Gesichter Mit Blitzen unter der Haut, Mit Bärten, in denen der Wind steht, Durch einen geflüsterten Laut. Aber die Namen bleiben Im Ohre nur ein Gesumm Wie von Zikaden und Bienen, Kehren ins Schweigen um. Vokale – geringe Insekten, Unsichtbar über die Luft, Fallen als Asche nieder, Bleiben als Quittenduft.166

Das Gedicht benutzt noch die regelmäßige Versstruktur der vierzeiligen, daktylisch geprägten Strophe mit einem Reimpaar zwischen dem zweiten und vierten Vers. Gegenüber »Verlassene Küste« ist der Grundton des Tex166

Krolow, Gesammelte Gedichte, S. 75.

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tes aber verschoben: Die Metaphern, in denen über die Kapazität der ›Worte‹ bei der sprachlichen Erschließung von Wirklichkeit reflektiert wird, sind nicht mehr nach dem Prinzip der logischen Widersprüche gehäuft und in der Abfolge gegeneinander verschoben, sondern gehören zu einem semantischen Feld – der gesamte Text ist eher charakterisiert durch eine Rücknahme der Metapherndichte und durch eine Tendenz zur Verknappung, worauf vor allem Otto Knörrich in seiner Geschichte der deutschen Lyrik hinweist.167 Die wichtigste Verschiebung im Text findet allerdings auf thematischer Ebene statt. Mit »Worte« integriert Krolow ein weiteres im Kontext der Nachkriegsjahre aktualisiertes Sujet der Moderne in seine Lyrik: die Differenz zwischen Sprache und Wirklichkeit. Sowohl die naturlyrischen als auch die stärker surrealistisch geprägten Texte behandelten die geheimnisvolle und schwer zugängliche Wirklichkeit noch mit dem Anspruch, dass diese Wirklichkeit sprachlich fassbar sei. Selbst die verrätselnde Diktion von »Verlassene Küste« ist noch von der Vorstellung geprägt, die existentiellen, das Dasein prägenden Ambivalenzen benennen zu können. Die für die Poetiken der Moderne grundlegende Diagnostik der Sprachkrise, der Widerspruch zwischen Sprache und Ding, Zeichen und Wirklichkeit, rückt erst jetzt in den Vordergrund. Alle fünf Strophen reflektieren über die Sprache und ihre Konfrontation mit der Wirklichkeit. Angezeigt ist das jeweils in den ersten Verszeilen: Die Formeln »Einfalt erfundener Worte« und »Wirklichkeit von Vokabeln« umschreiben das Problem der Defizienz von Sprache bei der Erklärung von Realität – was dann entsprechend auch in den ersten beiden Strophen exponiert wird. Diese sind in ihrem Charakter deskriptiv: Die Worte und Vokabeln werden mit verschiedenen Metaphern als annäherungsweise, aber nicht als grundsätzlich unzureichend charakterisiert: Sie sind »[g]ekalkt mit geduldigem Licht […]« oder auch »[a]us den Rätseln des Himmels geschnitten […]« – stellen also nur Bruchteile der Natur dar, auf die sie sich beziehen, aber nicht in einer prinzipiell defizitären Form. Auch die dritte Strophe bestätigt die immerhin mögliche »Entzifferung fremder Gesichter« und fügt eine Reihe von Bildern hinzu, die Möglichkeiten der sprachlichen Erkundung dieser Gesichter »[d]urch einen geflüsterten Laut« vorführen. Erst in der vierten und fünften Strophe – den Einsatz bildet das adversative »Aber« – werden die Kapazitäten der Sprache angezweifelt und zurückgenommen: Denn »die Namen bleiben / Im Ohre nur ein Gesumm« und die »Vokale« »[f]allen als Asche nieder«. Die sprachlichen ›Zeichen der Welt‹ verkehren

167

Otto Knörrich, Die deutsche Lyrik der Gegenwart. 1945–1970, Stuttgart 1970, S. 219.

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sich wieder ins Schweigen oder verbrennen als »geringe Insekten« zu Asche und bleiben, wenn überhaupt, nur als entmaterialisierter »Quittenduft« zurück. Die zentrale Verschiebung in »Worte« erstreckt sich also auf die Identifizierung der Sprachproblematik als neues thematisches Zentrum. Nicht mehr die Natur, sondern die Möglichkeiten der Sprache, Natur zu beschreiben, stehen nun im Mittelpunkt. Damit integriert Krolow die Sprachproblematik in die Naturlyrik, ohne das Bildinventar der Naturlyrik dabei aufzugeben – ein Weg, der an die poetischen Strategien Eichs und Huchels anschließt. Die Transformation der Naturlyrik in Spielarten der Moderne wird damit zugleich um den Aspekt einer radikalen, auf die Möglichkeiten von Dichtung und Sprache generell bezogenen poetologischen Selbstreflexion erweitert, die übrigens nicht unbedingt nur den einen Schluss zulässt, man müsse den Text nun als poetisches Artefakt sehen,168 das keine Verbindung zur Natur mehr habe. Die Unvereinbarkeit von Sprache und Wirklichkeit ist vielmehr nur eine Lesart; alternativ kann man das Gedicht als einen Text lesen, der die eigenen Grenzen in der sprachlichen Umschreibung der Natur aufzeigt und thematisiert, gleichwohl aber das sprachliche Material noch als Teil eben dieser Natur auffasst – so sind die Vokabeln »[a]us den Rätseln des Himmels geschnitten / Aus einer Ader im Stein«, die Namen »Gesumm« und die Vokale aus »Quittenduft«. Weiterhin könnte man argumentieren, dass Krolow in »Worte« eher Aspekte einer poetologischen Diskussion aufgreift, die unter Beteiligung anderer ehemaliger Naturlyriker seit Anfang der 50er Jahre geführt wird. Insgesamt jedenfalls synchronisiert »Worte« das Thema der modernen Sprachskepsis mit Elementen der Naturlyrik. Ein weiteres Beispiel in dieser Entwicklung ist »Blätterlicht«, das erste Gedicht aus Tage und Nächte. In ihm ist Krolows in der Rede zur Verleihung des Büchner-Preises dargelegte Poetik der Autonomie des lyrischen Textes verwirklicht. Die Diagnose der Differenz zwischen Sprache und Wirklichkeit wird positiv gewendet zur Grundlage einer ästhetizistischen Poetik: Die Naturbeobachtungen bleiben an der Oberfläche der Objekte, modellieren sie zur Figur zwischen Licht und Schatten; die Aussicht auf ein Land, in dem diese Kontrasteffekte zwischen Laub und durchscheinendem Licht nicht existieren und eine vergleichbare sprachliche Mimesis der die Wirklichkeit modellierenden Lichteffekte nicht möglich ist, wird als gefährlich dargestellt: als Verbrennen im Staub.

168

Vgl. Donahue, Karl Krolow and the Poetics of Amnesia, S. 118.

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Blätterlicht Blätterlicht, Amalgam, Silber in grüner Luft! Zärtliche Ferne kam Zu Dir und blieb als Duft. Modelliert zur Figur: Schatten, der leicht sich dehnt Und mit genauer Spur Sich aus dem Laube sehnt Hin in ein Land, drin heiß – Heiteres Element – Wange des Windes weiß Über dem Staub verbrennt.169

Im Band Fremde Körper (1959) fügt Krolow diesen Erkundungen der Moderne einen weiteren Aspekt hinzu, nämlich die Verknüpfung des Sprachthemas mit dem Problem lyrischer Subjektivität. Auch die Subjektivität, allerdings eher im Modus der Negation, ist ein Thema moderner Lyrik, und auch hier bewegt sich Krolow im Einklang mit der Rezeption der internationalen Moderne. Als Beispiel für diese Problematisierung der Subjektivität (in der sich bereits die Lyrik der 60er Jahre ankündigt) wird hier »Robinson I« betrachtet. In der eigenwilligen Variation des Robinson-Themas subvertiert Krolow die Vorstellung von der Selbstdarstellung des Subjekts in der Lyrik. Das Robinson-Ich des Gedichts versucht, die Wirklichkeit als Ausdruck seiner individuellen Nöte und Probleme zu berühren, scheitert aber. Die Ästhetik der Spiegelung von Seelenzuständen des Subjekts in der umgebenden Natur wird durch radikale Vergegenständlichung kommentiert und konterkariert: Robinson versucht das Paradox, die Schiffe – Teil der Wirklichkeit – mit der Hand zu berühren, und wird eben durch das Scheitern dieses Aktes auf die Worte und ihren evidenten ›Ungehorsam‹ zurückgeworfen. Robinson I Immer wieder strecke ich meine Hand Nach einem Schiff aus. Mit der bloßen Faust versuche ich, Nach seinem Segel zu greifen. Anfangs fing ich Verschiedene Fahrzeuge, die sich Am Horizont zeigten. 169

Krolow, Gesammelte Gedichte, S. 125.

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Ich fange Forellen so. Doch der Monsun sah mir Auf die Finger Und ließ sie entweichen, Oder Ruder und Kompaß Brachen. Man muß Mit Schiffen zart umgehen. Darum rief ich ihnen Namen nach. Sie lauteten immer Wie meiner. Jetzt lebe ich nur noch In Gesellschaft mit dem Ungehorsam Einiger Worte.170

Der Text liefert eine Reflexion über das Versagen und über die Auflösung lyrischer Subjektivität. Wenn es dem Sprecher anfangs noch möglich war, die Schiffe am Horizont mit bloßen Händen zu ›fangen‹, also Objekte der Wirklichkeit dem eigenen, subjektiven Wahrnehmungskreis einzuverleiben, dann kommt diese Fähigkeit ihm nach und nach abhanden, weil er mit den Schiffen nicht ›zart‹ genug umgeht – sie nicht mit ausreichender Sensibilität wahrnimmt. Der Versuch, die Schiffe nur noch sprachlich zu assimilieren, scheitert jedoch gleichfalls, weil der Sprecher mittlerweile die gesamte Realität als Teil seiner selbst betrachtet oder zumindest sprachlich – indem er den Schiffen »Namen nach[ruft]«, die »immer / Wie meiner« lauten – sich einzuverleiben sucht. Erst durch diesen Versuch, das Außen sprachlich immer mehr dem subjektiven Inneren anzugleichen, wird der Sprecher vollends zum Robinson. Die wenigen Worte, die sich noch dem Versuch der Angleichung von Innen und Außen widersetzen, bezeichnet er als ›Ungehorsam‹. »Robinson I« illustriert die sprachliche Isolation des Subjekts, das die Differenz zwischen sich selbst und der Wirklichkeit nicht anerkennt, sondern aufheben will. Der Text rechnet mit der Konzentration auf das Subjekt ab und thematisiert eine Wirklichkeit, in der sich die Dinge nicht mehr den Gefühlen und Stimmungen des Einzelnen unterordnen. An »Robinson« kann man exemplarisch beobachten, wie auch die Entsubjektivierung als weiteres zentrales Paradigma der Krolow’schen Lyrik der 50er Jahre an einen Endpunkt gelangt. In der Reduktion des Bildinventars auf Paradoxe (Schiffe mit den Händen ›fangen‹) kommt auch die thematische Annäherung an die Moderne an einen Endpunkt: Die bereits in der Autonomie und Rätselhaftigkeit der Natur in den Gedichten der 40er Jahre vorhandene Distanz der Wirklichkeit zum Subjekt wird nun, in Verbindung mit der Pro170

Krolow, Gesammelte Gedichte, S. 209.

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blematik sprachlicher Darstellbarkeit, als eines der beherrschenden Themen der Moderne integriert. Nach der Erweiterung der Möglichkeiten metaphorischen Sprechens und der darauf folgenden (und daraus hervorgehenden) Reduktion der stilistischen und der metrischen Mittel adaptiert Krolow damit nun auch motivisch-thematisch das Repertoire der internationalen Moderne. Allerdings sind Krolows individuelle Variationen dieser internationalen Moderne nicht vorstellbar ohne den parallel verlaufenden Rezeptionsprozess französischer und spanischer Lyriker. 2.4. Internationale Moderne: Krolows Rezeption französischer und spanischer Surrealisten Die phasen- und variantenreiche Evolution von Krolows Lyrik ist nicht denkbar ohne die intensive Rezeption der internationalen, vor allem der westeuropäischen Moderne. Die Auseinandersetzung mit der französischen und spanischen Lyrik versorgt ihn mit den ästhetischen Impulsen, die es ihm erlauben, die Poetiken der Naturlyrik nach und nach zu modifizieren, zu erweitern und schließlich in seine individuellen Varianten moderner Lyrik zu transformieren. Der unmittelbare Nachweis einer ›internationalen‹ Dimension der deutschen Nachkriegslyrik ist kompliziert, weil sich wesentliche Aspekte der Rezeption als Erkundung von Diskussionen und Diskurspraktiken abspielen. Gleichwohl kann auf die Kategorie schwer verzichtet werden, wenn die Evolutionen der deutschsprachigen Lyrik seit 1945 beschrieben werden sollen. Es ist ein Ziel dieser Arbeit, gerade auch die indirekte Rezeption einer ›internationalen Moderne‹ sichtbar zu machen. In vielen Fällen hat man es dabei mit einer mehr oder weniger komplexen, aus direkten und anfangs häufiger aus vermittelten Lektüren konstruierten Vorstellung von ›Moderne‹ und ›Internationalität‹ zu tun, wobei für verschiedene Autoren jeweils andere Qualitäten dieses kollektiv produzierten ModerneBildes in den Vordergrund rücken. Deshalb ist es oftmals schwierig, diese ›produktive Rezeption‹ im Einzelnen darzustellen und nachzuweisen. Es ging den Autoren häufig zunächst darum, die eigenen ästhetischen Mittel zu erweitern und sich zu öffnen für das, was man unter ›modern‹ verstand. Vor allem am Beispiel Eichs kann dieser Vorgang dargestellt werden. Krolow ist in dieser Hinsicht eine Ausnahme, besonders unter den Lyrikern, die bereits vor Kriegsende zu schreiben begonnen hatten und deren Varianten einer ›lyrischen Moderne‹ in den 50er Jahren liegen. Denn er kam als Romanist bereits früh in Berührung mit Autoren der westeuropäischen Moderne, die den meisten deutschen Lyrikern vor Kriegsende nicht zugänglich waren. Insofern kann man an Krolows Texten wie nur an wenigen un-

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mittelbare Rezeptionsvorgänge aufzeigen – die Assimilation von Motiven, Themen sowie von metrisch-rhythmischen Qualitäten. In dieser Hinsicht gilt: Krolows Tätigkeit als Übersetzer liefert für die Evolution seiner Lyrik in den 40er und 50er Jahren wichtige Hinweise. Die Bände mit Übersetzungen französischer und spanischer Lyrik, die er seit dem Ende der 40er Jahre veröffentlichte, insbesondere Die Barke Phantasie171 und Spanische Gedichte des XX. Jahrhunderts,172 liefern viele Ausgangspunkte für eine vergleichende Lektüre seiner eigenen Lyrik mit den Texten wichtiger Autoren wie Verlaine, Lorca oder Guillén. Andererseits gilt auch für Krolows Lyrik, dass sie bei weitem nicht ausschließlich erklärbar ist durch eine werkgenetische Herauspräparierung bestimmter Einzelheiten. Der Prozess einer langsamen Assimilation moderner Poetiken wird mindestens ebenso deutlich, wenn man die Entwicklung seiner Texte bis ca. 1960 exemplarisch verfolgt. Diese Rezeptionsdimension hat zwei Varianten. Zunächst wird eine Zusammenfassung der textgenetisch-vergleichenden Lektüre Krolow’scher Texte und französischer und spanischer Lyrik unternommen, die auf den Ergebnissen von Rümmlers Studie basiert. Sodann wird, mit Hilfe eines Krolow’schen Selbstkommentars, ein Resümee der Bedeutung der ›internationalen‹ Lyrik für Krolow gezogen. Die textgenetisch differenzierte Untersuchung von Krolows produktiver Rezeption der französischen und spanischen Surrealisten, die vor allem Artur Rümmler in seiner Studie zur Entwicklung der Metaphorik in der Lyrik Karl Krolows (1942–1962)173 geleistet hat, zeigt viele spezifische Einzelheiten der Rezeption internationaler Lyrik. Rümmler untersucht Bezüge zu französischen und spanischen Lyrikern und arbeitet heraus, dass die Evolution Krolows vom naturmagischen Gedicht zu einem der ersten deutschen Lyriker, der die westeuropäische Moderne konsequent und nachvollziehbar verarbeitet und in produktiver Berührung mit der deutschen Tradition abgleicht, zuallererst von der variativen Veränderung der Metapher bestimmt ist. Rümmlers materialreiche Untersuchung basiert auf der Grundbeobachtung, dass Krolows Weg zur Moderne über die »Entwicklung der metaphorischen Technik«174 führt; diese verläuft in den Stadien, die in den vorhergehenden Kapiteln skizziert wurden. Bei genauer Untersuchung und unter Berücksichtigung von Krolows Beziehungen zu anderen Lyrikern, die oft, aber nicht aus171

172

173 174

Die Barke Phantasie. Zeitgenössische französische Lyrik, übertragen von Karl Krolow, Düsseldorf, Köln 1957. Spanische Gedichte des XX. Jahrhunderts, ausgewählt und übertragen von Karl Krolow, Frankfurt am Main 1962. Rümmler, Die Entwicklung der Metaphorik. Ebd., S. 105.

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schließlich durch seine Übersetzungen determiniert sind, lassen sich Autoren ausmachen, deren Texte für ihn stilistische und formale Anregerqualität besaßen und aus denen thematische Details integriert wurden. Auch Rümmler vermerkt die Determination des frühen Krolow durch die Naturlyrik, besonders durch Lehmann.175 Von den (bis auf die Ausnahme Heyms) nicht deutschsprachigen Autoren, denen seine Lyrik wesentliche Impulse verdankt, hebt er, nach ausgiebiger Erkundung des Materials, besonders Rimbaud, Lorca und Guillén hervor.176 Rimbaud ist, nach einer Vorbereitung durch Gryphius und Heym, ab 1946 für Krolows Weg vom Expressionismus zum Surrealismus verantwortlich. Vor allem an den »Vaterland«-Gedichten aus »Widerfahrung« zeigt Rümmler, wie bei Krolow im »Ausstrahlungsbereich der Lyrik Rimbauds«177 die »einzelne Metapher […] aggressiver und irrealer, die Metaphorik im Makrokontext […] dichter und komplexer«178 wird. Den nächsten entscheidenden Schritt in der Rezeption internationaler Lyrik kennzeichnet Lorca. Nach Verlaine, Mallarmé und Valéry, die sich stellenweise bereits bis 1946 bemerkbar machen, begegnet er ab 1946 der Lyrik Apollinaires, Eluards und eben Lorcas.179 Vor allem in den 1948 entstandenen Texten war es dessen »Metaphern- und Evokationskunst, die Krolow zu Entlehnungen bewog«, die ihm »nützlich und förderlich bei der Herausbildung seiner eigenen Metapherntechnik« waren, mit der er wiederum »sein – dem Spanier ähnliches – Naturverhältnis zu formulieren suchte«.180 Neben dieser »spezifische[n] Bemühung um die – meist visuelle – Metapher« ist beiden Lyrikern »ein magisches und mythisches Naturverhältnis«181 gemeinsam, das um das Konzept der Metamorphose kreist. Nur bei Reim- und Strophenformen, die Krolow im Gegensatz zu Lorca vorerst noch beibehält, sind die Lorca-Lektüren um 1948 nicht im selben Ausmaß prägend. »Verlassene Küste« liest Rümmler ganz im Zeichen Lorcas: Für ihn ist hier die Assimilation der stilistischen und thematischen Elemente der Lorca’schen Lyrik am dichtesten und am deutlichsten zu beobachten.182 Auch auf der Ebene der konkreten Rezeption bestätigt sich also die zentrale Position von »Verlassene Küste« im Zusammenhang von Krolows Gedichten. 175 176 177 178 179 180 181 182

Vgl. ebd., S. 111–127. Ebd., S. 110. Vgl. Klessinger, Bekenntnis zur Lyrik, S. 83–88. Rümmler, Die Entwicklung der Metaphorik, S. 135. Ebd., S. 137. Ebd., S. 143. Ebd., S. 151. Ebd., S. 153. Ebd., S. 156–159.

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Auch die folgende Phase von Krolows Lyrik – von Rümmler als die »Metaphernfluten der langzeiligen metaphysischen Gedichte«183 bezeichnet, ist wesentlich von der Rezeption Lorcas bestimmt. Zugleich wird deutlich, dass keineswegs alle Lyriker, die Krolow übersetzt hat, entscheidend zur Evolution seiner Lyrik beigetragen haben. Supervielle, Eluard, Apollinaire und Reverdy sind eher für einzelne Aspekte oder Themen verantwortlich. Es ist ein Verdienst der minutiösen Textarbeit Rümmlers, dass beispielsweise Eluards Beitrag genau eingegrenzt werden kann: Die Entlehnungen von Eluard dürften nicht dazu führen, »die Wirkung Eluards auf Krolow zu überschätzen«. Er sei, sehr konkret, nur für die »Koppelung von Abstraktum und Konkretum in der Form der Genitivmetapher verantwortlich, die für Krolows Texte von 1949 charakteristisch ist«.184 Von Reverdy hingegen lernt Krolow die sprachliche Rezeption des Kubismus, deren Ergebnis eine »architektonisch gebaute, kristallartige Collage aus Sprachstücken«185 ist. Die Befreiung von Metrum, Reim und Strophenform, die in den langzeiligen Gedichten des Jahres 1952 vollzogen wird, ist wiederum hauptsächlich von Lorca initiiert.186 Ein weiterer wesentlicher Evolutionsschritt erfolgt erst durch die Begegnung mit der Lyrik Guilléns. Vor allem das Lichtthema und die damit verbundene Poetik einer exakten und konturierten Beschreibung der Naturdinge verdankt Krolow Guillén – ein Beispiel wäre das Gedicht »Drei Orangen, zwei Zitronen«.187 Grundsätzlich gilt Guilléns bevorzugtes Interesse der ›Wesenheit‹ des Naturdings, nicht dessen sinnlicher Erscheinung (wie in der deutschen Naturlyrik), entsprechend kann man auch bei Krolow eine Verschiebung in der Behandlung der Naturdinge beobachten. An »Orte der Geometrie«188 kann man beobachten, wie Lehmanns »irdische Daseinslust«, sein »Jubel der Sinne« […] modifiziert, als Daseinsjubel wieder in Krolows Gedicht [erscheinen], das Guilléns abstraktem Lobgesang auf das Seiende verpflichtet ist und die Brücke schlägt zwischen ›Naturlyrikern‹ und ›Metaphysikern‹.189

Rümmler fasst die Bedeutung Guilléns für Krolow folgendermaßen zusammen: 183 184 185 186 187 188 189

Ebd., S. 160. Vgl. Klessinger, Bekenntnis zur Lyrik, S. 88–91. Rümmler, Die Entwicklung der Metaphorik, S. 167. Ebd., S. 181. Ebd., S. 182ff. Krolow, Gesammelte Gedichte, S. 107 Ebd., S. 110. Rümmler, Die Entwicklung der Metaphorik, S. 191.

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Die Wirkung Guilléns auf Krolow ist die tiefste und umfassendste seit Krolows Begegnung mit Lorca. Guillén förderte Krolows Himmel-Metaphorik, half dem poeta magus-mathematicus, die seit 1949/50 vorhandenen intellektuellen Züge seiner Lyrik zu verstärken und die Reduktion des Weltstoffs voranzutreiben.190

Demgegenüber ist die Bedeutung Albertis und Supervielles wieder sehr spezifisch; Alberti ist beispielsweise für die Wiedereinführung des Engel-Motivs ab 1950 und die Verstärkung nautischer Elemente ab 1952 verantwortlich. Beide Autoren ergänzen im Übrigen die Rezeption Guillén’scher Elemente.191 Die Tendenzen zur Verknappung und Lakonisierung der lyrischen Sprache sowie zur Reduzierung der formalen Mittel führt Rümmler gleichfalls auf die genannten Autoren, vor allem auf Lorca zurück. Thematisch parallel zu diesen Prozessen verläuft die »Desillusionierung und Entindividualisierung«.192 Die Kombination aus »[l]akonische[r] Sprachbehandlung und Entindividualisierung«193 habe Krolow bei Guillevic vorgefunden, den er 1954 auch übersetzte. Die Entstehung des »ungereimten, unstrophischen Kurzgedichts mit einer Länge von 15 bis 22 Zeilen, das einen Vorgang oder einen Zustand erzählt und dessen Sprache ungebunden und prosanah ist«,194 findet Entsprechungen vor allem in Lorcas Canciones,195 in einzelnen Motiven und deren Behandlung aber wiederum auch bei Supervielle und Reverdy. Weitere Impulse, die schließlich erst spät in Krolows Lyrik sichtbar werden, gehen auf Jean Follain zurück, so das Stilmittel, einen »triviale[n] Augenblick aus dem Alltagsleben […] auf sachlich-leidenschaftslose und unbeteiligte Weise und ohne Metaphern in Großaufnahme«196 festzuhalten; formal übersetzt wird dieser Ansatz, wie am Beispiel des Gedichts »L’heure du repas« gezeigt werden kann, in der »Aneinanderreihung von Sinnabschnitten, die jeweils eine Zeile ausmachen«.197 Für die Entwicklung des lakonischen Gedichts ist am Ende Follain entscheidender als Guillevic: Unter seiner Wirkung »bekommen in den Gedichten Krolows ab 1955 die kleinen Augenblicke des Alltags (Essen, Trinken, Spazierengehen, Heimkehr) motivische Priorität«,198 was zu einem ähnlichen Ton bis zu identischen Formulierungen 190 191 192 193 194 195 196 197 198

Ebd., S. 192. Vgl. ebd., S. 193–195. Ebd., S. 200. Ebd., S. 201. Ebd., S. 202. Ebd., S. 204–206. Ebd., S. 219. Ebd., S. 218. Ebd., S. 220.

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führe. An »Robinson I« fixiert Rümmler den Stand der Modifikationen, die gegen Ende der 50er Jahre erreicht wurden. Zum Abschluss der chronologisch-werkgenetischen Untersuchung von Krolows Rezeption der französischen und spanischen Lyriker kommt Rümmler zu dem Ergebnis, dass die produktive Verarbeitung 1957/58 im Wesentlichen abgeschlossen ist. Gelesen hatte Krolow die für ihn wichtigen Lyriker ohnehin schon alle bis 1950 und bis 1955 dann auch fast alle übersetzt.199 Die zentralen Veränderungen von Krolows Lyrik, die im vorhergehenden Abschnitt exemplarisch an einer Reihe von Texten dargestellt wurden, sind also in vielen Einzelmotiven, noch markanter aber in der Evolution der ästhetischen Paradigmen, ein Resultat der kontinuierlichen Rezeption bestimmter Strömungen der westeuropäischen Moderne. An den Beispielen lässt sich abschätzen, wie deutlich die Evolution von Krolows Lyrik an eine bestimmte selektive Auswertung und Weiterentwicklung – man kann auch sagen: produktive Lektüre – der französischen Surrealisten gebunden ist. Krolows Rezeption der französischen und spanischen Lyrik ist ein, wenn auch selektiver, Prozess der Erkundung der Stilgeschichte der Moderne. Am Ende dieses langen Aneignungsprozesses hat sich der Lyriker Krolow stilistische Verfahrensweisen und Sujets der lyrischen Moderne erarbeitet. Krolow selbst ließ nie einen Zweifel daran, dass wesentliche ästhetische Vorstellungen, die er in den Nachkriegsjahren entwickelte, aus der Auseinandersetzung mit französischen und spanischen Autoren hervorgingen – wies aber gleichzeitig Erklärungsansätze zurück, die Konzepte eines unmittelbaren literarischen ›Einflusses‹ in den Vordergrund rücken. Literarische Vorbilder fungieren in seiner Selbstwahrnehmung nicht als Richtungsgeber, sondern eher als »Voraussetzungen zum Umsatz in die eigene Sprechlage, Artikulierungsmöglichkeit«;200 der Autor ist keinesfalls ein willenlos auf andere Stimmen reagierendes Medium, sondern verarbeitet in kritisch-produktiver Selektion ästhetische Alternativen. Es muß ein kritisches Verhältnis gewahrt bleiben, das eher auf Echowirkungen, auf indirekte, unter Umständen noch spät nachwirkende und wiederauftauchende Beziehungen aus ist, als auf etwas, was nicht mehr als Einflußnahme, als Auseinandersetzung, als kritisch, aufmerksam zugelassene Influenz, sondern als Überwältigung einzusehen ist.201

199

200 201

Die nach 1956 fortgesetzte Übertragung von Reverdy, Follain, Alberti und Guillén habe werkgeschichtlich keine Bedeutung mehr. Krolow, Ein Gedicht entsteht, S. 108. Ebd., S. 108f.

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Recht deutlich plädiert Krolow also für eine Distanz in der Rezeption anderer Autoren, um gewissen »Überforderungen« vorzubeugen, für die »es in der deutschen Nachkriegslyrik nicht selten drastische Beispiele gegeben« habe. In jedem Fall kann man festhalten, dass er die vorschnelle und kritiklose Imitation besonders internationaler Vorbilder in den 40er und 50er Jahren offenbar für eine sehr realistische Gefahr hält (deren Spezifika er allerdings nicht weiter ausführt).202 Als Rezept gegen die unkritische Kontamination mit »literarische[n] Influenzen«203 empfiehlt er einen kühle[n] Blick für das Viele, was heute verfügbar ist, für das breite Kraftfeld, in dem man sich schreibend aufhält, aufmerksame Kühle, bei der auch Bewunderung ist und der Enthusiasmus, den Vorbildliches auslöst, sich mit dem Sinn für Entfernung verbindet, auf die man nicht nur im literarischen Verkehr angewiesen bleiben sollte.204

Neben dem Beharren auf eigenständiger produktiver Rezeption ist an diesen Aussagen (die aus dem Jahr 1968 stammen) vor allem die Ablehnung einer zu weit getriebenen Kompetenz intertextueller Erklärungsmodelle auffällig. Krolow setzt auf kreative Individualität, die zwar Impulse von außen braucht, sie im Wesentlichen aber in einem offenen Raum aus ästhetischen Möglichkeiten und Prägungen verarbeitet. In seinem eigenen Fall spricht Krolow von einem ›Kraftfeld‹ mit seinen vergleichsweise anonymeren, allgemeineren Wirkungen, mit ineinander übergehenden Wirkungen, Wirkungs-Überschneidungen, Wirkungs- und Einfluß»Versetzungen«, die dann in einem Gedicht überraschende Kombinationen eingehen können.205

Auch wenn gelegentlich »dieser und jener genannt werden konnte und genannt werden wird«, gebe es nach und neben Lehmann und Loerke für ihn eigentlich keinen Fall, in dem die »vorbildhaften Beziehungen […] an einem Schriftsteller-Modell zu identifizieren und zu nominieren« seien.206 Solche Zurückhaltung mag gerade bei Krolow erstaunlich klingen, aber im Grunde betont er damit nur einmal mehr die Transformationsqualität seiner Lyrik. Es ging ihm nie um radikale Neuansätze und Aufgabe von Traditionen, in denen er sich entwickelt hatte – in seinem Fall die deutsche Naturlyrik –, sondern um die Assimilation anderer Spielarten der Moderne, um die kreative Verschränkung und Überblendung ästhetischer Möglichkeiten. Die in202 203 204 205 206

Ebd., S. 109. Ebd. Ebd. Ebd., S. 105. Ebd.

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ternationale Dimension der Literatur hat für Krolow die Funktion, nationale Traditionslinien zu korrigieren und durch die Assimilation anderer ästhetischer Entwürfe zu bereichern. Daneben ist Internationalität für ihn Kennzeichen einer deutlich veränderten Struktur der Gegenwartsliteratur, die sich auszeichnet durch den »raschen Umsatz[ ], [die] ungemeine[ ] ›Verfügbarkeit‹ von Literatur, die [die] Vorstellung von nationalen Nuancen hinter sich lässt«.207 Auch in Krolows individueller Rezeptionsgeschichte der westlichen Moderne lässt sich die für die deutsche Literatur der 50er Jahre spezifische Relativität des Internationalitätskonzepts beobachten. Die Konzentration deutscher Autoren auf zunächst wenige Paradigmen eines national determinierten ästhetischen Felds geht ab den späten 40er Jahren in eine langsam zunehmende Rezeption westeuropäischer Autoren über und erreicht mit dem Beginn der 60er Jahre ein Niveau, das von da an gleich bleibend hoch und von einer weitgehenden institutionellen Verfügbarkeit der internationalen Autoren geprägt ist.208 Für die Übergangsphase der 40er und 50er liegen die Verhältnisse noch anders. Den eher ›nationalen‹ Traditionslinien, die sich in der Regel auch in einer begrenzten Zahl von Autoren konkret ›personalisieren‹ lassen, steht anfänglich die relative Diffusität einer schwer überschaubaren Vielstimmigkeit von noch nicht bekannten (und entsprechend noch kaum oder gar nicht für eine Vermittlung erschlossenen) internationalen Gruppierungen und Autoren gegenüber, die erst nach und nach übersetzt und entsprechend zeitverzögert durch Einführungen, Nachworte, Essays und Kommentare erschlossen werden. Übersetzungen sind nur der erste Schritt für die Kartographierung dieses noch unübersichtlichen Geländes der ›internationalen‹ Lyrik – allein schon die summarische Bezeichnung verrät einen gewissen Orientierungsbedarf –, und entsprechend scheint die Rezeption zunächst unübersichtlicher zu sein und sich eher auf formal auffällige und an der Faktur der Texte sichtbar nachvollziehbare Phänomene zu konzentrieren. In Krolows Fall stehen sehr konkreten, von ihm selbst auf Loerke und Lehmann zurückgeführten ›nationalen‹ Stilmerkmalen – der Behandlung von Raum und Zeit, die er ›Aperspektivismus‹ nennt, und der »spröde[n] Äußerungsweise« Lehmanns209 – nicht mehr oder nur punktuell auf bestimmte Autoren zurückführbare ›internationale‹ Einflüsse gegenüber. 207 208

209

Ebd., S. 104. Vgl. Dieter Lamping, »Gibt es eine Weltsprache der modernen Poesie? Über W.C. Williams’ deutsche Rezeption«, in: Ders., Literatur und Theorie. Poetologische Probleme der Moderne, Göttingen 1996, S. 69–85. Vgl. Krolow, Ein Gedicht entsteht, S. 105f.

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Seine eigene Diagnose der Unübersichtlichkeit des zumindest im Ansatz bereits international geöffneten literarischen Systems ist auch durch eine spätestens vom Beginn der 30er Jahre an sichtbare (durch die kulturpolitische Isolation des Nationalsozialismus massiv potenzierte, aber nicht initiierte) Tendenz der Beschränkung auf nationale Traditionen determiniert. In den frühen 40er Jahren bewegt sich Krolow, trotz aller im Rückblick betonter internationaler Lektüren, in erster Linie in diesem Traditionsraum – und so hat er sich auch immer selbst verstanden. Die frühen Gedichtbände – Hochgelobtes gutes Leben und Gedichte, überwiegend auch Heimsuchung und Auf Erden – zeigen eine eindeutige Dominanz der naturlyrischen Sprechweise; erst gegen Ende der 40er Jahre macht sich die ›Internationalisierung‹ dann breit bemerkbar. Die weitgehende Verfügbarkeit eines »rapiden Angebots von Strömungen, Versuchen« bedeutet für Krolow dann zuallererst »ein ›Angebot‹ ganz neuer Möglichkeiten der Stoffbehandlung, unter Umständen desselben Stoffes«.210 In diesem ›Echoraum‹211 einer Vielfalt literarischer Strömungen, bei denen die Bedeutung nationaler Strömungen deutlich abnimmt, beschreibt er seine Erfahrungen mit dem Surrealismus – selbstbewusst exemplarisch für die deutsche Nachkriegsliteratur – als Prozess einer verspäteten Rezeption. Ich lernte bei der Beschäftigung mit den Franzosen und den Spaniern etwas kennen, das inzwischen schon wieder Geschichte geworden war. Ich holte nach, wie andere nachholten, schnell, manchmal hastig, aber ungeheuer intensiv: den Surrealismus in seinen Ausprägungen und Verwandlungen.212

Die relative Geschichtlichkeit der Rezeption ist ein Strukturmerkmal dieser Integration internationaler Strömungen. Gerade die Tatsache, dass der Surrealismus bereits Ende der 40er Jahre einen stark historischen Charakter aufweist, erleichtert die Integration bestimmter Strukturmerkmale und ästhetischer Verfahrensweisen in die deutsche Literatur. Diese westeuropäische Literaturphase war, als ihre Wirkungen mich erreichten, längst ins Altern gekommen. Das Land, in dem sie von der Lyrik am wirkungsvollsten praktiziert worden war, Frankreich, hatte sich vom Surrealismus […] abgewendet. Aber solcher Alterungsprozeß kam mir insofern zugute, als er mir bereits das zuführte, was die surrealistische Wort- und Bildbehandlung zu verarbeiten verstanden hatte.213

210 211 212 213

Ebd. Vgl. ebd., S. 108f. Ebd., S. 104. Ebd.

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Gerade die verspätete Wahrnehmung, so zumindest Krolows Selbstinterpretation, ist grundlegend für die Rezeption der westeuropäischen literarischen Moderne in der deutschen Literatur. Aufgrund dieser Selektion durch Historizität werden in der dazugehörigen Selbstanalyse literarischer Einflüsse bestimmte Aspekte bevorzugt angeführt, andere hingegen bleiben ausgespart. Der wichtigste Anteil des Surrealismus an Krolows Lyrik ist in seinen Augen die Metaphorik – und es spricht für Krolows literarhistorisch geschulten Blick, dass diese Einschätzung, wenn auch mit Modifikationen, bis heute im Wesentlichen nicht korrigiert wurde. Die »vom Surrealismus geübte Metaphorik« habe ihm zu »einer Lösung vom Stoffzwang des Naturgedichts« verholfen oder ihn »doch in ein anderes und neues Verhältnis zum Stoff« gebracht.214 Damit beschreibt Krolow den für seine Lyrik entscheidenden ästhetischen Paradigmenwechsel; alle weiteren Transformationen waren Folgen dieser veränderten Behandlung der Metaphorik. Die naturlyrischen Poetiken der frühen 40er Jahre, die von ziselierter Naturbildlichkeit und einer gewissen Tendenz zur politisch deutbaren Allegorik beherrscht sind, werden in der zweiten Hälfte des Jahrzehnts zunehmend durch eingelagerte elaborierte Metaphern erweitert und schließlich grundsätzlich variiert. Im vorigen Abschnitt wurde diese Entwicklung anhand einer vergleichenden Interpretation früher Naturgedichte mit »Verlassene Küste« und »Ode 1950« dargestellt. Die Metaphern gewinnen eine eigene Autonomie; in der Logik der Texte tendieren die assoziativ eröffneten Bedeutungsspielräume dazu, die syntaktische Logik zu dominieren und zu subvertieren. Auch Krolow kommentiert die Wendung zu einer elaborierteren und in der Tendenz abstraktionsaffinen Metaphorik als Ausgangspunkt seiner weiteren Entwicklung. Wenn er in seinen frühen Naturgedichten eine Gefahr der »Knechtschaft des Stoffes«215 ausmacht, der er in der Privilegierung der Metaphern ein Pendant entgegensetzte, dann erkannte er zugleich auch eine Gefahr der »Knechtschaft durch das Bild«,216 die durch die »Künstlichkeit«217 der surrealistischen Metaphern entstehen konnte – eine Gefahr, die man deutlich an der Grenze der Autonomisierung der Metaphern erkennen kann, die in »Verlassene Küste« erreicht ist. Gerade aus diesem Bewusstsein der ästhetischen Problematik einer zu weit assimilierten Poetik der »meta-

214 215 216 217

Ebd., S. 104. Ebd. Ebd. Ebd., S. 105.

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phorischen Illuminierung des Surrealismus«218 leitet Krolow die Grundlinien seiner modernen Poetik der 50er Jahre ab: Die immer wieder angeführten Konzepte der ›Leichtigkeit‹, der sprachlichen Transparenz, der ›Durchsichtigkeit‹ von Lyrik sind Ergebnisse dieser Suche nach einem Weg zwischen naturlyrischer Gegenstandsbetonung und surrealistischer Bild-Autonomie. So hatte ich fortan eine Balance zwischen Stoff und Bild zu versuchen. Ich vermute, daß sich in meinen Gedichten durch solchen Versuch eine Art SchwebeVorgang einstellte. Gleichzeitig ereignete sich Schritt um Schritt die Zurückdrängung der Gegenständlichkeit, Gegenständliches wurde von mir – zunächst unbewußt – als Ballast, als Belastung empfunden. Aber ich muß hinzufügen, daß nicht nur der Gedicht-»Gegenstand«, sondern auch das poetische Bild zurückgedrängt wurde.219

Das Anliegen, zwischen einer Lyrik, die ihrem sprachlichen Material noch eine gewisse mimetische Verbindlichkeit zugesteht, und der Aufhebung dieser Wirklichkeitsreferenz angesichts der Metaphern-Autonomie surrealistischer Lyrik zu vermitteln, prägt Krolows Schreiben seit Ende der 40er Jahre. Während er allerdings anfänglich noch mit langen Gedichtformen und komplexen Aussagen experimentiert, setzt sich ab Mitte der 50er Jahre ein weiteres Stilmerkmal durch, das durch die Rezeption der internationalen Lyrik bedingt ist. Krolow selbst nennt es die »lakonischere Sprachbehandlung«.220 Obgleich er in diesem Zusammenhang die Namen von Follain und Guillevic nennt, legt er auch hier Wert darauf, dass die Erarbeitung jener »trockene[n], lakonische[n] Tonlage, in der ich mich nach und nach zurechtfand«,221 eher eine Konsequenz der Gesamtentwicklung seiner Lyrik darstellt. Sie sei weder eine Folge der naturlyrischen noch der surrealistischen Prägung, wohl aber eine Folge des Vermittlungsversuchs zwischen den beiden Poetiken. Nicht anders charakterisiert er das Verschwinden des Reims. Gerade diese in den lyriktheoretischen Diskussionen der 50er Jahre zentrale Qualität moderner Lyrik – auch das freilich eine Folge der starken Fixierung auf die Reimtradition in der deutschsprachigen Lyrik – ist für Krolow »nichts anderes als eine äußere Folge innerer Veränderungen«,222 »eine Folge der genannten Reduktionsvorgänge im Stofflichen und im Metaphorischen«.223 Bei den 218 219 220 221 222 223

Ebd., S. 104. Ebd., S. 105. Ebd., S. 106. Ebd. Krolow, Ein Gedicht entsteht, S. 106. Ebd., S. 107.

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»Stoff-Verflüchtigungen« und der »Bild-Verdünnung«,224 die ab Ende der 50er Jahre zu beobachten sind, macht er dann wieder die »nautische Liquidität des frühen Rafael Alberti«225 geltend. Wie auch immer man Krolows Entwicklung liest, ob in seiner Selbstanalyse oder text- und werkgenetisch vergleichend: Die Evolution von der Naturlyrik zu einer komplexen Metaphorik, die dann im Lauf der 50er Jahre zunehmend einer freirhythmisch dominierten Lakonik weicht, ist ohne die ›internationale‹ Dimension, ohne die intensive Rezeption französischer und spanischer Lyriker nicht vorstellbar. Diese allerdings fand ebenso in Details wie übergreifend in einer Art Echoraum der Tradition statt, in dem Krolow in intensiver Auseinandersetzung mit einzelnen Texten immer neue Spielarten seiner eigenen Lyrik erkundet. 2.5. Selektive Modernisierung zwischen Surrealismus und Existentialismus Sowohl in seiner Poetik als auch in der Lyrik liefert Krolow einen der wichtigsten Beiträge zur Integration der lyrischen Moderne in die deutsche Literatur. Dabei steht Krolows Weg zur modernen Lyrik eher im Zeichen der Kontinuität als der Kontinuitätsbrüche. Sein Ausgangspunkt ist eine Naturlyrik, in der die Natur bereits zu einer vom Subjekt losgelösten, unabhängigen Dimension geworden ist, die allerdings durch Allegorisierungsvorgänge wieder an die Dimension der menschlich-geschichtlichen Welt zurückgebunden werden kann. In den Folgejahren wird dieses Repertoire erweitert und modifiziert durch Techniken der Metaphorisierung, die Krolow aus produktiven Lektüren französischer und spanischer Surrealisten entwickelt. Man kann diese Amplifikation metaphorischer Möglichkeiten werkgenetisch in verschiedenen Stadien beobachten, ebenso in stilistischen oder thematischen Varianten, die in unterschiedlichen Häufigkeitsgraden auftreten. Zentral ist vor allem die Ausdehnung des Bedeutungsspielraums der Metapher durch Abstraktionsstrategien. Während die naturlyrische Metapher noch relativ einsinnig auf einen der menschlich-subjektiven Welt übergeordneten, in der Regel existentiell bedeutsameren Bereich ausgerichtet ist, sind die Bilder etwa in »Verlassene Küste« polysemantisch und bezugsoffen. Dadurch vervielfältigen sich die Deutungsmöglichkeiten, weil die Metaphern strukturell die thematisch horizontale Struktur der Texte aushebeln. Für die Semantik der Texte entscheidend wird die Qualität der Metaphern als eigenständige 224 225

Ebd. Ebd.

252

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Textbausteine, die sich in einem leitmotivisch strukturierten, zugleich durch bewusst gesetzte Ambivalenzen und Kontradiktionen geöffneten Feld bewegt. Allerdings ist mit dieser Technik der bewussten Herstellung von Polyvalenzen für Krolow auch eine Grenze in der Erweiterung der metaphorischen Möglichkeiten erreicht. In den Jahren danach versucht er mit Mitteln der Reduktion die bisher erreichten Möglichkeiten metaphorischen Sprechens zu variieren. Die Verabschiedung vom Reim und von regelmäßigen Rhythmen ist ein Teil dieser nun auch stilistisch-technischen Annäherung an die Tradition der Moderne. Thematisch tendieren Krolows Texte immer mehr dazu, die Bedeutung des Subjekts und damit auch die Bedeutung der Lyrik als Genre der subjektiven Selbstverständigung zu problematisieren und zurückzunehmen. Diese Tendenz ist schon in den naturlyrischen Texten bemerkbar, denn die Natur ist bereits in den Gedichten der 40er Jahre eher ein Raum schwer verständlicher und durchdringbarer Chiffren als ein Medium subjektiver Spiegelung. Umso stärker ist die Abkoppelung der Wirklichkeit dann in den 50er Jahren zu beobachten. Die Entwicklung endet mit der Reduktion des Subjekts auf einen Teil der Wirklichkeit, der auch durch seine eigenen Interventionen die umgebenden Gegenstände nicht mehr subjektiv umdeterminieren kann: eine Reduktion auf freie Verse, in denen die Bilder zu Chiffren für eine Wirklichkeit werden, die mit der Sprache kaum mehr in Einklang zu bringen ist. Die Verknüpfung der Sprachkrise mit der Subjektivität ist ein letzter Schritt auf Krolows Weg zur modernen Lyrik. Krolow steht für die Aufnahme und Fortführung von Traditionen moderner Lyrik, die sich sehr bewusst an der französische Moderne und ihrer surrealistischen Tradition orientieren. Ganz entsprechend erfolgte auch 1962 seine Charakterisierung durch Hugo Friedrich, der bei Krolow vieles von dem erkannte, was er ein paar Jahre zuvor in der Struktur der modernen Lyrik226 herausgearbeitet hatte. Das »Nachwort« zu Krolows Ausgewählten Gedichten kommt einer Kodifizierung Krolows als moderner Lyriker gleich: Die lyrische Dichtung Krolows […] fesselt nicht allein darum, weil sie Poesie ist, sondern weil durch sie hindurch, in sehr persönlicher Modulation, auch die allgemeine, an Freiheiten und Fremdheiten, an Versuchen und Funden so reiche Sprache der modernen Lyrik jener Art hörbar ist, die mit Rimbaud begonnen, bei den deutschen Expressionisten und den französischen Surrealisten sich fortgesetzt und nach dem zweiten Weltkrieg überall sich verfeinert, da und dort auch wohl beruhigt, ja klassifiziert hat. Vieles, vielleicht das meiste in den Versen Krolows wirkt 226

Hugo Friedrich, Die Struktur der modernen Lyrik. Von der Mitte des neunzehnten bis zur Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts, Jürgen von Stackelberg (Nachwort), erw. Neuausg., Reinbek bei Hamburg 1985 [11956].

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vorwiegend durch seine Technik. In dieser sind Wort, Bild und Metrum zugleich Mittel wie Symptome eines Sehens, das die entfremdende Verwandlung des Vertrauten vornimmt, ähnlich dem Sehen eines von seinen Gegenständen weit distanzierten Malers.227

Friedrichs Charakterisierung war für die wissenschaftliche Beschäftigung mit Krolow lange prägend. Erst in den letzten Jahren wurde Friedrichs relativ einsinnige Integration Krolows in die Tradition einer ästhetisierenden, westlich-französischen Moderne hinterfragt und differenziert.228 Problematisch an Friedrichs trotz aller negativer Qualitäten emphatisch-affirmativem Verständnis von moderner Lyrik ist der Versuch, das ›Moderne‹ an Krolow in scharfem Kontrast zu traditionalistischen Lyrikkonzepten zu bestimmen. Mit solchen Zuschreibungen betont er wichtige Elemente der Lyrik Krolows – und lässt andere aus. Die Einordnung Krolows in die Tradition der französischen Moderne und des Expressionismus übergeht die starke Verwurzelung seines Werks in der Naturlyrik und damit die Transformationsarbeit, die Krolow in den 40er und frühen 50er Jahren leistete. Die Betonung der ›Technik‹ und des ›entfremdenden‹ Sehens privilegiert die formal sichtbaren Strategien moderner Lyrik und rückt in den Hintergrund, dass diskursiv-thematische Kontinuitäten, vor allem in der Entgegenständlichung, auch in traditionelleren Formen der Lyrik gefunden werden können – und dass Krolow möglicherweise Abstraktions- und Vagheitsstrategien in erster Linie als relativ beliebig einsetzbare Textverfahren ausprobierte. Es sind in Krolows Fall das Zusammenwirken von Tradition und dezidiert experimenteller und diskursiv orientierter Auseinandersetzung mit modernen Schreibverfahren sowie die Überkreuzung einer in der Naturlyrik bereits angelegten Technik der Fokussierung auf die Objektwelt mit verschiedenen surrealistischen Ansätzen, die seinen Beitrag zur modernen Lyrik ausmachen. Friedrichs Sichtweise ist symptomatisch für die Diskussionen um die Moderne, die die 40er und 50er Jahre beherrschten. In der Programmatik seines dialektischen Moderne-Verständnisses lief die Einschätzung der Lyrik auf eine Betonung des Neuen zu. Elemente der Tradition, die langsam transformiert wurden, gerieten in den Hintergrund. Diese verschiedenen formalen Traditionslinien wurden allerdings in der Forschung, vor allem in den 70er 227

228

Hugo Friedrich, »Nachwort«, in: Karl Krolow, Ausgewählte Gedichte, Frankfurt am Main 1962, S. 49–59. Die auch heute noch mit Bezug auf einzelne Texte vertreten wird; vgl. Kurt Binnenberg, »Karl Krolow: Drei Orangen, zwei Zitronen. Ästhetische Autonomie in der modernen Naturlyrik«, in: Heinz-Peter Niewert (Hrsg.), Von Goethe zu Krolow. Analysen und Interpretationen zu deutscher Literatur. Frankfurt am Main 2008, S. 173–186.

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und 80er Jahren, gründlich herausgearbeitet. Paulus und Kolter, Daemmrich und Rümmler haben gezeigt, dass die Modernisierung bei Krolow anfänglich mindestens ebenso sehr von der Naturlyrik inspiriert ist wie von der französischen Moderne. Erst in jüngster Zeit gibt es Stimmen, die Krolows Modernisierungsprogramm mit dem kulturellen Kontext der 50er Jahre in Verbindung bringen, in dem eine die unmittelbare Vergangenheit überspielende Restauration mit immer stärkeren Modernisierungstendenzen konkurriert.229 Den Versuch, die Konzentration auf die formalen Traditionen moderner Lyrik um die Untersuchung der historischen Dimension der Nachkriegsjahre zu erweitern, unternahm erst Donahue. Er liest Krolows gesamte Lyrik und Poetik, besonders aber die der 40er und 50er Jahre, unter dem Vorzeichen der ›poetics of amnesia‹. Krolow gehe es in erster Linie darum, die Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit zu umgehen und in möglichst ästhetisierenden Konstruktionen zu überbrücken. Die ästhetizistische Erkundung modernistischer Autonomie-Programme ist für Donahue ein Beweis für einen »ahistorical aestheticism«, der »elides the question of a poetry between the two poles that incorporate historical reflection«.230 Damit ergänzt er die von Friedrich geprägte und von Krolow selbst nach Kräften geförderte formal-evolutive Sicht auf eine vermeintlich nur ›ästhetisch‹ erklärbare Lyrik um die bislang fehlende Verortung Krolows in den Diskussionen und im kulturellen Klima der 50er Jahre. Aber auch damit ist nur ein Teil der Krolow’schen Lyrik charakterisiert. Auch wenn sich Krolow selten direkt auf die Zeitgeschichte bezieht, bleibt doch fragwürdig, ob seine Gedichte durchgängig im Zeichen einer ahistorischen Redevermeidungsstrategie charakterisiert werden können. Es gibt Gegenbeispiele, etwa die Deutschland-Gedichte, die man unabhängig von ihrer Wirksamkeit als Versuche einer Auseinandersetzung mit der historischen Situation gelten lassen muss. So erscheint gerade in Donahues eigenen sorgfältigen Detailanalysen die Reduktion auf die Leitthese hin und wieder problematisch. Dennoch: Im Gegensatz zu anderen deutschsprachigen Varianten der lyrischen Modernisierung steht die ästhetische Entwicklung Krolows sicherlich in einem Verhältnis der Konsonanz zum kulturellen Gesamtklima. Seine Version der ästhetischen Modernisierung, die zunächst verschiedene Variationen metaphorischen Sprechens erkundet, um dann in einem Zusammenwirken von lakonisierender Reduktion den Akzent der Texte von einem naturlyrisch getönten Existentialismus auf die Probleme der Differenz von Sprache und 229 230

Vgl. Bogdal, »Der Augen-Blick des Wortes«. Donahue, Karl Krolow and the Poetics of Amnesia, S. 131.

Ingeborg Bachmann: Sprache als Erfahrung

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Wirklichkeit zu verlagern, bewegt sich im Rahmen der auf formale und ästhetische Kriterien konzentrierten Versuche der Assimilation einer westlicheuropäischen Moderne. Als literarischer Teildiskurs ist Krolows Lyrik exemplarisch für die selektive Rezeption der Moderne in der Bundesrepublik der 50er Jahre. Hermann Korte sieht in Krolows Versen den »Beleg dafür«, »dass das Naturgedicht nicht gegen das vermeintlich ›politische‹ Gedicht auszuspielen« sei; Krolows Lyrik habe »gerade dort ihre Funktion, wo sie einer saturierten Restauration einen Gestus des Unbehagens, der Unzufriedenheit«231 entgegensetze. So gesehen kann die kontinuierliche Ausbildung einer ästhetizistisch imprägnierten Moderne nicht nur lyrikgeschichtlich kohärent als wichtige Station im Prozess der nachgeholten Moderne gesehen werden, sondern ist mindestens ebenso sehr auch im kulturellen Klima der 50er Jahre mit seinen widersprüchlichen und langsamen Modernisierungsprozessen zu verorten. Krolows Ästhetik einer explizit und programmatisch an der Oberfläche der Phänomene sich bewegenden Lyrik ist ein möglicher literarischer Reflex jenes kollektiven Gesamtklimas einer restaurativen Moderne, in dem neben den problematischen Kontinuitätsphänomenen die schleichende Unterwanderung der Restauration durch die langsame Integration moderner Elemente in das kulturelle Gesamtklima nicht entscheidend ist.232

3.

Ingeborg Bachmann: Sprache als Erfahrung

Ingeborg Bachmanns Version einer Lyrik der Nachkriegszeit ist geprägt vom Anliegen, auch unter den Bedingungen der ästhetischen Modernisierung den Bezug zur ›Wirklichkeit‹ aufrechtzuerhalten, auch wenn diese als subjektiv, höchst vermittelt und sprachlich kaum mehr fassbar betrachtet wird. Gerade deshalb sind Bachmanns literarische Texte und poetologische Selbsterkundungen von einer kontinuierlichen Thematisierung historischer und biographisch fundierter Erfahrungen geprägt. Damit markiert ihre Lyrik eine Veränderung gegenüber den Ansätzen von Eich, Huchel und Krolow. Bei ihnen sind zwar immer wieder Annäherungen an den thematischen Komplex von Krieg und Nachkriegszeit zu beobachten. Sie bleiben jedoch vorsichtig und tastend. Vorrangig ist in dieser Lyrik die Struktur der Über231

232

Hermann Korte, Deutschsprachige Lyrik seit 1945, 2. Aufl. Stuttgart, Weimar 2004, S. 44. Korte spricht von einem »Beispiel[ ] für die eigentümliche Ambivalenz literarischer Revolution«. Ebd., S. 45.

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führung historischer Erfahrung in den Diskussionszusammenhang der Moderne als kultureller Krisen- und Verfallszustand wirksam. Krieg, Diktatur und Holocaust werden vorerst nicht thematisch ausformuliert, sondern mit den Topoi moderner Sprachskepsis umschrieben. Das Inventar naturlyrischer Zeichensprache wird dabei kritisch durchleuchtet, aber noch nicht durch andere Sprechweisen ersetzt. Vielmehr erweitern Eich, Huchel und Krolow Schritt für Schritt die Möglichkeiten chiffrierten Sprechens und führen sie damit an eine Grenze, an der die Notwendigkeit einer Ablösung vom sprachkritischen Paradigma immer drängender wird. Ingeborg Bachmanns Lyrik nimmt in diesem Prozess der Transformation eine wichtige Übergangsstelle ein. Bei Bachmann rückt das Bewusstsein der Nachkriegssituation mit ihrem Gegeneinander aus restaurativen Tendenzen, chiffrierter Umschreibung der unmittelbaren Vorgeschichte und kultureller Modernisierung in den Mittelpunkt des Selbstverständnisses als Schriftstellerin. Ihre Vorstellung einer sprachlichen Umsetzung von Wirklichkeit ist nicht denkbar, ohne dabei auch den politisch-historischen und kulturellen Kontext dieser Erfahrungen im Blick zu behalten. In ihrer Lyrik spielt dabei weniger die Thematisierung von historischen Ereignissen eine Rolle als das grundlegende Bewusstsein einer geschichtlich imprägnierten Gegenwart, die von Nachkriegsrestauration und Verdrängung der Vergangenheit, aber auch vom einsetzenden kalten Krieg geprägt ist. Die Verschränkung von ästhetischer Modernisierung und dem Bezug zur subjektiven historischen Erfahrungswirklichkeit ist in Bachmanns Lyrik von Anfang an grundlegend, auch wenn sie in ihren poetologischen Überlegungen erst nach 1957 deutlich hervortritt.1 Insofern ist Hermann Kortes Einschätzung nur bedingt zuzustimmen. Er sieht Bachmann in der Tradition hermetischer Lyrik, denn auch bei ihr sei der »Widerstand gegen eine gefügig gemachte Sprache«2 zu beobachten – wobei eben dieser Widerstand im Sinne von Adornos Rede über Lyrik und Gesellschaft3 den »Einspruchscharakter gegen eine instrumentalisierte Sprache«4 und damit den »Protest gegen 1

2

3

4

Vgl. Joachim Eberhardt, »Sprachphilosophie und poetologische Sprachreflexion«, in: Monika Albrecht/Dirk Göttsche (Hrsg.), Bachmann-Handbuch: Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart, Weimar 2002, S. 214–216, bes. S. 214. Hermann Korte, Deutschsprachige Lyrik seit 1945, 2. Aufl. Stuttgart, Weimar 2004, S. 58. Theodor W. Adorno, »Rede über Lyrik und Gesellschaft (1957)«, in: Ders., Gesammelte Schriften, Bd. 2, Noten zur Literatur, Rolf Tiedemann (Hrsg.), Frankfurt am Main 1974, S. 48–68. Korte, Deutschsprachige Lyrik seit 1945, S. 58.

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einen gesellschaftlichen Zustand«5 hervorhebe. Gerade dieser Wirklichkeitsbezug aber relativiert die Zuordnung zur hermetischen Lyrik. Für Korte dagegen hat Bachmanns Lyrik zwei Seiten: Sprachskepsis und existentialistische Grundierung. Die Sprachskepsis sieht er begründet in der intensiven Rezeption Wittgensteins, bei der existentialistischen Grundierung verweist Korte auf die Bedeutung Heideggers. Tatsächlich hatte Bachmanns Dissertation aus dem Jahr 1949 Die kritische Aufnahme der Existentialphilosophie Martin Heideggers zum Thema. Aus Sicht der jungen Ingeborg Bachmann, die sich gerade in ihrer Autorschaft erfindet, liefert Heidegger die Negativfolie, vor der die Gegenstandsbereiche von Philosophie und Dichtung scharf geschieden werden können. Allerdings ist diese Diskussion für Bachmann geradezu die Grundsteinlegung einer Lyrik, die sie sehr bald von Sprachskepsis und Hermetik wegführt. Bachmann argumentiert am Ende der Dissertation aus der sprachanalytischen Perspektive Wittgensteins und reklamiert den Gegenstand von Heideggers Philosophie für die Dichtung. Jeden Versuch, »die unaussprechbaren, unfixierbaren Unmittelbarkeiten des emotional-aktualen Bereichs des Menschen rational zu erfassen«,6 weist sie als »gefährliche Halbrationalisierung«7 zurück. Die sprachanalytische Polemik gegen Heidegger dient ihr dazu, eine Sphäre anthropologisch-existentieller Grunderlebnisse zu identifizieren. Diese wird keineswegs prinzipiell verworfen, sondern durchaus anerkannt. »Die Grunderlebnisse, um die es in der Existentialphilosophie geht, sind tatsächlich irgendwie im Menschen lebendig, und drängen nach Aussage. Sie sind aber nicht rationalisierbar, und Versuche hierzu werden immer zum Scheitern verurteilt sein.«8 Nur einer Philosophie, die den Anspruch erhebt, Aussagen über existentielle Grunderlebnisse zu machen, spricht Bachmann in ihrer akademischen Qualifikationsschrift die Berechtigung ab: Philosophische Erkenntnis über diese Grunderlebnisse sei nicht möglich, denn sie seien allenfalls als Darstellungsgegenstand der Kunst denkbar: »Dem Bedürfnis nach Ausdruck dieses anderen Wirklichkeitsbereiches, der sich der Fixierung durch eine systematisierende Existentialphilosophie entzieht, kommt jedoch die Kunst mit ihren vielfältigen Möglichkeiten in ungleich höherem Mass entgegen.«9 Peter Beiken weist darauf hin, dass 5 6

7 8 9

Adorno, »Rede über Lyrik und Gesellschaft«, S. 52. Ingeborg Bachmann, Die kritische Aufnahme der Existentialphilosophie Martin Heideggers (Dissertation Wien 1949), Robert Pichl (Hrsg.), München, Zürich 1985, S. 128f. Ebd., S. 129. Ebd. Ebd., S. 130.

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Bachmann mit ihrer Polemik lediglich die »Existentialien […], die Heidegger zum Hauptgegenstand seines Philosophierens gemacht hatte« – also »Sorge, Angst, Geworfenheit, Ungewißheit, das Nichts« – zum Gegenstand der Kunst erkläre.10 Sigrid Weigel sieht hinter der Polemik sogar eine »Faszination« für einige von Heideggers Konzepten, die man auch »als magische Bindung an die Worte ›Angst‹ und ›Nichts‹ lesen kann«.11 In der Konfrontation von Sprachanalytik und existentialistischer Philosophie deuten sich die Konturen von Bachmanns Poetik an. Sie beruht auf der Erschütterung und Betroffenheit, die in einem »Grenzerlebnis im Schock des Erkennens«12 hervorgerufen werden. Bachmanns Vorstellung von der Dichtung ist jenseits der Möglichkeiten einer rationalistisch geprägten Sprache angesiedelt. Ziel ihrer Beschreibung eines ästhetischen Erlebnisses unter Verwendung Heidegger’schen Vokabulars ist es lediglich, die Unangemessenheit der Existentialphilosophie für diese Fragen zu erläutern, freilich um sie eben damit als Zuständigkeitsbereich der Dichtung zu reklamieren. Wer dem »nichtenden Nichts« begegnen will, wird erschütternd aus Goyas Bild »Kronos verschlingt seine Kinder« die Gewalt des Grauens und der mythischen Vernichtung erfahren und als sprachliches Zeugnis äußerster Darstellungsmöglichkeit des »Unsagbaren« Baudelaires Sonett »Le gouffre« empfinden können, in dem sich die Auseinandersetzung des modernen Menschen mit der »Angst« und dem »Nichts« verrät.13

Trotz mancher Akzentverschiebung hielt Bachmann an der Grundthese der Dissertation fest. 1963 erklärte sie in einem Interview, sie sei »[m]it dem, was in der Arbeit steht, […] noch immer ganz zufrieden«,14 und bereits 1953 referierte sie im Radio-Essay über Wittgenstein ausführlich eine vergleichbare metaphysikkritische Position, in der die Vorteile der Kunst gegenüber der Metaphysik bei der Behandlung der »gefühlsmäßigen und willensmäßigen Einstellungen zur Umwelt, zum Kosmos, zu den Mitmenschen, zu den Lebensaufgaben«15 betont wird: 10 11

12 13 14

15

Peter Beiken, Ingeborg Bachmann, München 1988, S. 55. Sigrid Weigel, Ingeborg Bachmann. Hinterlassenschaften unter Wahrung des Briefgeheimnisses, München 2003 [11999], S. 92. Ebd. Bachmann, Kritische Aufnahme der Existentialphilosophie, S. 130. Ingeborg Bachmann, Wir müssen wahre Sätze finden. Gespräche und Interviews, Christine Koschel, Inge von Weidenbaum (Hrsg.), München 1983, S. 42. Ingeborg Bachmann, »Sagbares und Unsagbares – Die Philosophie Ludwig Wittgensteins«, in: Dies., Werke. 4 Bde., Christine Koschel, Inge von Weidenbaum, Clemens Münster (Hrsg.), Bd. 4: Essays, Reden, Vermischte Schriften, Anhang, München, Zürich 1993 [11978], S. 103–127, hier S. 111f. (Im Folgenden zitiert als

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Das Lebensgefühl aber kann auch auf dem Weg künstlerischer Gestaltung seinen Ausdruck finden. Insofern ist die Metaphysik dem Kunstwerk verwandt. Nur kommt bei ihr das Lebensgefühl in einem Gefüge von Sätzen zum Ausdruck, die scheinbar in logischen Zusammenhängen, logischen Ableitungsverhältnissen zueinander stehen; und so wird ein theoretischer Gehalt vorgetäuscht. Ein Kunstwerk argumentiert nicht. Die Metaphysik jedoch argumentiert und besteht darauf, Erkenntnisse zu vermitteln. Was aber Erkenntnis geben kann, wird immer nur ein naturwissenschaftlicher Satz sein, auch wenn er als metaphysisch verkleideter auftritt.16

Die Rechtfertigung der Kunst aus der sprachanalytischen Polemik gegen die Existentialphilosophie ist das Fundament, auf dem Bachmanns Poetik formuliert wird. Allerdings erschöpft sich die Rolle philosophischen Denkens bei der Entwicklung dieser Poetik nicht im Gegeneinander von Heidegger als Vertreter der Metaphysik und Wittgenstein als Repräsentanten einer Philosophie, die mit dem Anspruch auftritt, logisch-analytische Wissenschaft zu sein – und damit implizit die Rolle der Dichtung als jener Instanz festschreibt, die für alle jenseits dieser Wissenschaft liegenden Fragen zuständig ist. Vor allem Sigrid Weigel hat darauf hingewiesen, dass bei der Evolution von Bachmanns Poetik auch ein erheblicher Einschlag Kritischer Theorie und vor allem die intensive Rezeption von Walter Benjamins Sprachphilosophie nicht zu vernachlässigen sind.17 Zunächst ist die Wahrnehmung der Kritischen Theorie seit der frühen Nachkriegszeit ein wichtiger Seitenaspekt bei der Entwicklung von Bachmanns Poetik. Am Beispiel der 1949 entstandenen Erzählung Das Lächeln der Sphinx18 zeigt Sigrid Weigel, wie Bachmann im Anschluss an die in der Dialektik der Aufklärung entwickelte Mythos-Analyse »literarische Zivilisationskritik, eine Aufklärung über die Aufklärung also« entwickelt, »in der, vier Jahre nach Kriegsende, mit der […] Vernichtungsszene der Bezug auf den Nationalsozialismus gegenüber der 1944 abgeschlossenen philosophischen Vorlage durchaus konkretisiert ist«.19 Weigel weist darauf hin, dass gerade dieser Text die »Tendenz zu universellen Todesmetaphern und Bildern des Schreckens sowie eine problematische Metaphorisierung der Rede über die

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19

Werke 4, Seitenzahl; analog wird nach Erstnennung für die anderen Bände der Werkausgabe verfahren). Ebd., S. 112. Weigel, Bachmann, S. 74–133. Vgl. auch Marion Schmaus, »Kritische Theorie und Soziologie«, in: Bachmann-Handbuch, S. 216–218. Ingeborg Bachmann, »Das Lächeln der Sphinx«, in: Dies., Werke, 4 Bde., Christine Koschel, Inge von Weidenbaum, Clemens Münster (Hrsg.), Bd. 2: Erzählungen, München, Zürich 1993 [11978], S. 19–22. Weigel, Bachmann, S. 79.

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Nazi-Vergangenheit« etabliere, »die für die Thematisierung der Massenvernichtung in der Literatur nach Auschwitz symptomatisch werden sollte«20 und die auch die zentrale Funktion des Denkbilds in Bachmanns Prosa vorwegnehme. Für Bachmanns Schreiben wichtig ist dabei vor allem die Konzeption einer Literatur, die erst in der assimilierenden Auseinandersetzung mit der Philosophie erzeugt wird – oder, wie Weigel formuliert: »[Ü]ber die Durchquerung und Überschreitung eines philosophischen Paradigmas« wird »ein literarischer Ort begründet«.21 Gerade deshalb stelle Das Lächeln der Sphinx keinen Einzelfall oder »einfach die literarische Umschrift eines zufälligen Leseprozesses dar«, sondern »den sichtbaren Anfang einer Affinität im Denken«,22 die in Bachmanns Schreiben vor allem im Bezug zum Werk Walter Benjamins sichtbar werde. In Benjamins »Arbeit an Denkfiguren und Denkbildern, die sich um die Rettung der aus der logischen Struktur der Begriffe ausgeschlossenen Momente bemüht und in eine explizite Gegenstellung zum Systemanspruch der Schulphilosophie tritt«, so Weigel, »lernte Bachmann eine Praxis des Philosophierens kennen, die den ›Einbruchstellen des Sich-Zeigenden‹ verpflichtet ist.«23 Der dialektische Sprachbegriff Benjamins sei somit der Konvergenzpunkt mit Bachmanns Wittgenstein-Bild, das sich freilich nach ihrem Heraustreten aus der akademischen Sphäre merklich verschoben habe. Bachmann sah Wittgenstein spätestens im Jahr 1953, also zur Zeit des ersten Wittgenstein-Essays, nicht mehr als »Gewährsmann des ›Wiener Kreises‹«24 und eines logischen Empirismus. Sie liest ihn als Philosoph, der die Grenzen der Sprache auslotet. Nach Bachmann zeigt sich das Unsagbare als »Unmöglichkeit, die logische Form selbst darzustellen«, im Satz: »Was sich zeigt, kann nicht gesagt werden; es ist das Mystische.«25 Die Attraktivität Wittgensteins liegt für Bachmann um 1953 nicht mehr in der Kritik einer Philosophie, die in metaphysisch-mystischer Ausrichtung den Bereich des Logischen zu überschreiten versucht, sondern immer stärker gerade darin, dass er gewissermaßen »das Unsagbare als Voraussetzung und Möglichkeitsbedingung des Sagbaren«26 markiert. An diesem Punkt berühre sich Wittgenstein mit Benjamin, wenn auch beide aus verschiedenen Richtungen kämen. Benja20 21 22 23 24 25

26

Ebd. Ebd., S. 80. Ebd., S. 81. Ebd., S. 100. Ebd., S. 95. Ingeborg Bachmann, »Ludwig Wittgenstein. Zu einem Kapitel der jüngsten Philosophiegeschichte«, in: Dies., Werke 4, S. 12–23, hier S. 20. Weigel, Bachmann, S. 96.

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mins Geschichts-Sprachphilosophie »einer vorgeschichtlichen, magischen Unmittelbarkeit der paradiesischen Sprache, die mit der Zäsur ihres Zeichenwerdens […] verlorengeht«, treffe sich mit Wittgensteins Analyse der logischen Struktur der Sprache als Zeichensystem. Beide, so Weigel, »bewegen sich […] aus entgegengesetzten Richtungen auf jenen Grenzmoment zu, da in der sprachlichen Repräsentation etwas Abwesendes bzw. Nichtrepräsentierbares kenntlich wird, die Sprache als Zeichensystem also durchbrochen oder überschritten wird.«27 Das Bild von der Sprache als Stadt, das Bachmann gegen Ende des Radio-Essays28 von Wittgenstein übernimmt, perspektivisch umkehrt und weiterführt, bezeichnet für Weigel »den Übergang von Wittgenstein zu Benjamin«: [V]on der Stellung im Heute ausgehend, befindet sich das Subjekt der Sprache in einem Labyrinth, in dem ihm die Geschichte in Gestalt einer Verhexung erscheint. Das Alte kann nicht vom Neuen, das Vergangene nicht vom Gewesenen, das Winkelige nicht vom Geraden geschieden werden. Damit zielt ihre Lektüre auf eben jene gedächtnistheoretische Reformulierung der Sprache, in der wie bei Benjamin Sprachgedächtnis und die Sprache des Gedächtnisses – im Bild der Stadt – zusammenfallen.29

Die Betonung der Sprache in Bachmanns Poetik hat also einen komplexen philosophischen Vorlauf. Bachmanns zunächst rhetorisch gegen Heideggers Ontologie gerichtetes Wittgenstein-Verständnis erfährt um 1953 eine Umorientierung, die zur Konzeption einer über die reine Repräsentation von Bedeutung hinausgehenden Sprache entwickelt wird. Die Auseinandersetzung mit Benjamin führt zu einer Poetik der Erinnerungsbilder, die Weigel im Essay Was ich in Rom sah und hörte nachweist. Hier wird »Rom einer im Sinne Benjamins archäologischen Betrachtung unterzogen«,30 mit dem Ziel, die sprachlich bereits verfestigten, unauthentisch gewordenen PostkartenStadtbilder »mit einer Wahrnehmung« aufzuladen, »die sich in eine Unmittelbarkeit zu den materialisierten und eingeschriebenen Dauerspuren der Vergangenheit setzt«.31 Bachmann entwickelt in ihren ästhetischen Überlegungen früh ein Konzept, in dem der Anspruch erhoben wird, über die literarische Sprache zu einer gewissen präsentischen Unmittelbarkeit der Wahrnehmungen vorzustoßen, die ihrer Auffassung nach unter den geschichtlichen Bedingungen

27 28 29 30 31

Ebd., S. 101. Bachmann, »Sagbares und Unsagbares«, in: Dies., Werke 4, S. 124. Weigel, Bachmann, S. 103. Schmaus, »Kritische Theorie und Soziologie«, S. 216–218, hier S. 217. Ebd., S. 107.

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der Gegenwart nicht mehr zugänglich ist und durch Konventionen der Alltagssprache verdeckt oder verfremdet wurde. Für eine Charakterisierung ihrer Lyrik als Variante der Nachkriegsmoderne ist das nicht unerheblich. Hinter dem Anspruch auf eine durch Sprache erreichbare Authentizität ist auch der Versuch sichtbar, die Poetiken der Vorläufer zu korrigieren, die sich gleichfalls in der sprachkritischen Tradition der Moderne ansiedeln, diese aber affirmativ in ihren Texten thematisieren und inszenieren. Bachmann hingegen zielt darauf ab, der ›Wirklichkeit‹ der Nachkriegsjahre, verstanden als eine Gemengelage aus idiosynkratisch-individuellem Empfinden und historischer Erfahrung, gerecht zu werden – und ihr so ›näher‹ zu kommen als die Autoren, die die Spielräume naturlyrischer Zeichenwelten ausloten, um die Denkfiguren der sprachkritischen Moderne darin zu wiederholen. Auch wenn Bachmanns Sprache, wie an der Lyrik aus den ersten beiden Bänden zu zeigen sein wird, nicht frei ist von einer strukturell analogen Verwendung mythologisch oder existentialistisch entkonkretisierter Bilder, ist es auffällig, dass der Weg zu einer neuen Poetik bei ihr, wie bei Celan, über eine Betonung des Referenzcharakters des lyrischen Sprechens führt. Die sprachkritischen Zweifel Eichs oder die surrealistische Sprachästhetik Krolows sind ihr nicht fremd, aber sie möchte sie überwinden. Bachmanns Anliegen ist es, eine als problematisch erkannte historische und persönliche Wirklichkeit mit einer angemessen komplexen, ›neuen‹ Sprache zu fassen. Anders gesagt: Die bei Eich und Krolow inszenierte zunehmende Distanz und Unvermittelbarkeit zwischen sprachlichem Zeichen und möglicher Bedeutung wird bei Bachmann radikalisiert. Die ›neue‹ dichterische Sprache, die im Bewusstsein, aber diesseits einer sprachkritisch-logizistischen philosophischen Reflexion angesiedelt ist, erhebt den Anspruch, eine autonome, von Konventionen und Gewohnheiten unabhängige Wirklichkeit erzeugen. Sie öffnet den Blick auf die verlorene, weder durch Alltagssprache oder philosophische Reflexion noch durch naturlyrische Transzendierungsstrategien eingrenzbare Wirklichkeit, gerade weil sie diese mit Hilfe der ›alten‹ Sprachen konstruierten Welten hinter sich lässt. Deshalb legt Bachmann auch immer wieder Wert auf die »strikte Abtrennung des gewöhnlichen vom literarischen Sprechen«.32 Das Gedicht kann seinem Ziel, auf eine bestimmte Wirklichkeit zu reagieren, sie »zu verbessern, […] neu zu sehen, zu denken, […] zu korrigieren, […] zu erfinden und zu entwerfen«,33 nur dann nachkommen, wenn die Sprache sich dieser Wirklichkeit immer wieder neu anpasst und nicht durch den konventionellen 32 33

Eberhardt, »Sprachphilosophie und poetologische Sprachreflexion«, S. 214. Bachmann, Gespräche und Interviews, S. 63.

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Alltagssprachgebrauch kontaminiert ist. Diese »neue[ ] Sprache«, die »der Wirklichkeit immer dort begegnet, wo ein moralischer, erkenntnishafter Ruck geschieht«,34 und die sich deshalb von der Gebrauchssprache unterscheiden muss, ist eben deshalb auch ethisch-moralisch begründet. Die Autoren müssen »die je neuen Erfahrungen« in eine »ihnen je angemessene Sprache« übersetzen, die »darum stets und von jedem selbst neu erschrieben werden muß«.35 Seit den späten 50er Jahren ist in Bachmanns Begründungen, warum sie es aufgegeben habe, Lyrik zu schreiben, immer wieder dieses ethische Motiv zu bemerken. Sie verweigert sich einer Gewöhnung an Techniken und sprachliche Verfahrensweisen aus dem Gefühl eines plötzlichen Misstrauens »gegen jede Metapher, jeden Klang, jeden Zwang, Worte zusammenrücken zu lassen, gegen dieses absolute glückliche Auftretenlassen von Worten und Bildern«.36 Die Gefahr, das, was man schreibt, immer stärker zu akzeptieren und nicht mehr mit der eigenen Erfahrung der Wirklichkeit abgleichen zu können, führt zu dem Bedürfnis, das Gedichtschreiben zu ›ersticken‹, »damit man noch einmal überprüfen kann, was daran ist, was es sein sollte«.37 Bachmann wendet das sprachkritische Motiv auf das eigene Schreiben an, um es damit zu überwinden: Sie verweigert sich dem Gedichtschreiben, »wenn da nichts ist außer verfügbaren selbstentwickelten Techniken und eben der Luft«.38 Ein Gedicht muss den Anspruch haben, auf die Erfahrung der Wirklichkeit authentisch zu reagieren. Insofern ist es nachvollziehbar, dass Bachmann den Bereich des Politisch-Historischen als essentiellen Bestandteil dieser Wirklichkeit sieht. Ein Schreiben, das ›die Fragen der Zeit‹ ausklammert, ist reduktiv, denn es ist überhaupt erst der Schriftsteller, der diese Fragen vermöge seiner spezifischen Annäherung an die Wirklichkeit entdeckt. Denn was sind die Fragen der Zeit. Ich glaube, es wird mit dieser Formulierung einer der vertracktesten Komplexe zu einfach benannt. Die Fragen der Zeit meint zwar jeder zu kennen, aber es ist wirklich die Frage, ob nicht zu jeder Zeit bedeutende Schriftsteller hinter die Kulissen dieser Fragen gesehen haben und sich also erst ans Entdecken der wirklichen Fragen machen. Man muß sich diesen Fragen also nicht nur stellen, sondern diese Fragen immer wieder neu entdecken, das ist weitaus mühevoller. Dann kann man sich ihnen stellen.39

34

35 36 37 38 39

Ingeborg Bachmann, »Frankfurter Vorlesungen: Probleme zeitgenössischer Dichtung«, in: Dies., Werke 4, S. 181–271, hier S. 192. Eberhardt, »Sprachphilosophie und poetologische Sprachreflexion«, S. 215. Bachmann, Gespräche und Interviews, S. 25. Ebd. Ebd., S. 61. Ebd., S. 61f.

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Diese Äußerung aus einem 1965 gegebenen Interview ist nicht dahingehend zu verstehen, dass der Schriftsteller zu allen möglichen »Problemen immerzu Stellung zu nehmen« habe.40 Sie zielt darauf ab, dass auch politische und gesellschaftliche Fragen Teile der ›wirklichen Fragen‹ darstellen, die erst vermöge der Spracharbeit des Schriftstellers entdeckt werden können. Auch von dieser Seite ist die unauflösbare Verschränkung von Annäherung an die ideologischen Grundlagen der Lyrik der Moderne und Wirklichkeitsreferenz in Bachmanns Werk sichtbar. In den folgenden Ausführungen soll dargestellt werden, wie die Doppelmotivation aus sprachkritischem Ansatz und Realitätsbezug sich in denjenigen Texten Bachmanns entfaltet, die vor allem in den 50er Jahren als ihr Beitrag zu einer deutschsprachigen Lyrik der Nachkriegszeit gesehen werden können. Am Ende stehen die beiden Gedichtbände, die Bachmanns Ruf als Lyrikerin begründeten, Die gestundete Zeit (1953) und Anrufung des großen Bären (1956). Zuvor wird, vor allem anhand der Vorlesungen, die Bachmann im Wintersemester 1959/60 an der Universität Frankfurt hielt, ihr poetologisches Selbstverständnis untersucht. Die Frankfurter Vorlesungen sind werkgeschichtlich bereits nach jener Phase angesiedelt, die von der Lyrik dominiert war; für Bachmann haben sie auch die Funktion, den Übergang zur Prosa – 1961 erscheint der erste Erzählungsband Das dreißigste Jahr – zu markieren.41 Was die Lyrik angeht, haben die Vorlesungen also einen resümierend-retrospektiven Charakter. Grundlagen des eigenen, aber auch des zeitgenössischen lyrischen Schreibens in den 50er Jahren werden rekapituliert, analysiert und poetologisch grundiert. Bachmann versucht, die eigene Lyrik als Teil der Nachkriegsmoderne zu verstehen und zugleich deren Probleme zu formulieren – und zudem mit einem Verweis auf Paul Celans 1959 erschienenen Band Sprachgitter die Grenzen der Entwicklungen der lyrischen Nachkriegsmoderne anzudeuten, die in den 50er Jahren zu beobachten sind. 3.1. Frankfurter Vorlesungen: Von der Wahrnehmungsästhetik zur Sprachutopie Die Frankfurter Vorlesungen, veröffentlicht unter dem Titel Probleme zeitgenössischer Dichtung, sind im Ensemble von Bachmanns poetologischen Schriften der geschlossenste und avancierteste Versuch, die Grundlagen und Probleme ihres Schreibens diskursiv zu erläutern und zugleich auch performativ 40 41

Ebd., S. 66. Vgl. Bettina Bannasch, »Literaturkritische Essays und Frankfurter Vorlesungen«, in: Bachmann-Handbuch, S. 191–203, hier S. 199.

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vorzuführen. Sich der Erwartungshaltung für einen akademischen Vortrag zu verweigern und eine zugleich suggestive und fragend-offene Art des Sprechens über Literatur zu entwerfen, darin besteht die Charakteristik dieser performativen Poetik der Vorlesungen, wie vor allem Irmela von der Lühe42 und Ortrud Gutjahr43 gezeigt haben. Sie beginnt bei der Art der Selbstpräsentation: Gerade aus den von Rollenklischees geprägten und bis zur Diskriminierung44 verfälschten publizistischen Beschreibungen der Vorlesungen lässt sich Bachmanns unprätentiöse, rhetorische Effekte bewusst vermeidende Vortragsart rekonstruieren, die Aufmerksamkeit und ›Mitdenken‹45 durch einen leisen und ›suchenden‹ Ton zu provozieren versuchte. Nicht weniger wichtig ist dieser antirhetorische und antiakademische Gestus aber für die Konstitution des geschriebenen Textes. Bereits im Titel der ersten Vorlesung, ›Fragen und Scheinfragen‹, wird das angedeutet. Auf die öffentliche, in Tagespresse und Feuilleton eben anhand von ›Scheinfragen‹ geführte Diskussion will Bachmann ebenso wenig eingehen wie auf die »weniger lärmigen, weniger attraktiven Fragen, wie sie in der Literaturwissenschaft gestellt werden«.46 Diese ist für sie gekennzeichnet durch rubrizierende Stichworte, »unter denen etwas zu finden ist – und wie es zu finden ist«.47 Zu kurz komme hinter den Klassifizierungen allerdings die individuelle Erfahrung: Nur das Stichwort fehlt für den, der im Augenblick selbst vorzutragen hat und alle die Werke, die Zeiten, hinter sich liegen fühlt, auch die jüngstgeschaffenen, und er fürchtet, mangels Gelehrsamkeit, sich auf einige wenige Erfahrungen mit der Sprache und den Gebilden, die mit dem Stempel Literatur versehen worden sind, zurückziehen zu müssen. Und doch ist ja die Erfahrung die einzige Lehrmeisterin.48

Der Grund für diese Betonung der ›Erfahrung‹ liegt in Bachmanns Überzeugung, dass die Fragen, die für den Schriftsteller wirklich von Bedeutung seien, außerhalb der innerliterarisch oder gar literaturwissenschaftlich fixier42

43

44 45 46 47 48

Irmela von der Lühe, »›Ich ohne Gewähr‹: Ingeborg Bachmanns Frankfurter Vorlesungen zur Poetik«, in: Christine Koschel/Inge von Weidenbaum (Hrsg.), Kein objektives Urteil – nur ein lebendiges. Texte zum Werk von Ingeborg Bachmann, München 1989, S. 569–599. Ortrud Gutjahr, »Rhetorik und Literatur. Ingeborg Bachmanns Poetik-Entwurf«, in: Dirk Göttsche/Hubert Ohl (Hrsg.), Ingeborg Bachmann – Neue Beiträge zu ihrem Werk. Internationales Symposion Münster 1991, Würzburg 1993, S. 299–314. Ausführlich untersucht bei von der Lühe, »›Ich ohne Gewähr‹«, S. 590–595. Bachmann, »Frankfurter Vorlesungen«, S. 183. Ebd. Ebd., S. 184. Ebd.

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ten Terminologien liegen. Was Bachmann als Ausgangspunkt des Schreibens identifiziert, ist ein präliterarischer Bereich, der vor der Ebene von Versprachlichung und Textualisierung angesiedelt ist: Für den Schriftsteller gibt es nämlich vor allem Fragen, die scheinbar außerhalb der literarischen liegen, scheinbar, weil ihre glatten Übersetzungen in der Sprache für die literarischen Probleme, mit denen man uns bekannt macht, sie uns als sekundär empfinden lassen; manchmal bemerken wir sie nicht einmal. Es sind zerstörerische, furchtbare Fragen in ihrer Einfachheit, und wo sie nicht aufgekommen sind, ist auch nichts aufgekommen in einem Werk.49

Es geht Bachmann um Probleme, die nicht nur jenseits der begrifflichen Beschreibbarkeit, sondern auch jenseits der Kompetenz der Literaturwissenschaft liegen. Das gilt umso mehr, wenn man Bachmanns Ausführungen im methodengeschichtlichen Kontext der werkimmanenten Interpretation und eines in den 1950er und 60er Jahren auch in der Germanistik zusehends verbreiteten Anti-Intentionalismus liest. Die Vorlesungen sind dann als polemische Selbstpositionierung der Autorin gegen eine Literaturwissenschaft aufzufassen, die sozial- und mentalitätsgeschichtliche Bedingungslagen bewusst ausblendet. Bachmann negiert also gleich zu Beginn der Vorlesung die akademische Erwartungshaltung der Zuhörer, sie könne von einem ›Lehrstuhl‹ aus etwas ›lehren‹. Als Alternative stellt sie ein prozessuales Denken individuell-existentialistischer Prägung in den Raum – ein Denken, das nicht im Gestus der Gewissheit auftritt, sondern seinen unsicheren, tastenden, auf ein Scheitern gefassten Charakter programmatisch gleich zu Beginn der Vorlesung eingesteht: […] ich [meine], Mut fassend […], daß sich von diesem Lehrstuhl aus zwar nichts lehren, vielleicht aber etwas erwecken läßt – ein Mitdenken von der Verzweiflung und der Hoffnung, mit der einige wenige – oder sind es schon viele? – mit sich selber und der neuen Literatur ins Gericht gehen.50

Solche »Worte und Begriffe, ihre Semantik und ihr Kontext, […] lassen […] erkennen«, so von der Lühes Resümee, »daß Ingeborg Bachmann als Außenseiterin antritt, daß sie dies ohne alle Larmoyanz und ohne den Gestus baldiger Integrationsbereitschaft tut«.51 Beurteilt man die Texte der Vorlesungen freilich nach den dort versammelten Sachinformationen, dann ergibt sich auf den ersten Blick ein Widerspruch zu diesem individualistischen und gegen die vermeintliche 49 50 51

Ebd. Ebd., S. 183. von der Lühe, »›Ich ohne Gewähr‹«, S. 574.

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Entfremdung von Literaturbetrieb und Literaturwissenschaft gerichteten Ausgangsprogramm. Denn was Bachmann an historischen Informationen über zeitgenössische Literatur und literarisch-kulturelle Diskussionen mitteilt, unterscheidet sich keineswegs so gravierend vom akademischen Kanon. In der ersten Vorlesung liefert sie eine eingehende Auseinandersetzung mit der Darstellung der Sprachkrise in Hofmannsthals Brief des Lord Chandos und zitiert Rilkes Malte Laurids Brigge, Benns Rönne und schließlich die Romane der klassischen Moderne von Joyce, Proust, Kafka und Musil. In der zweiten Vorlesung, ›Über Gedichte‹, erläutert Bachmann an Texten von Günter Eich, Marie-Luise Kaschnitz, Nelly Sachs, Hans Magnus Enzensberger und schließlich von Paul Celan ihre Gedanken zur zeitgenössischen deutschsprachigen und zur modernen Lyrik. Bestenfalls hier könnte man zugestehen, dass Bachmanns Ausführungen ebenso sehr eine Beteiligung an der Konstituierung des Kanons darstellen wie eine Bestätigung bereits existierender Festschreibungen. In der dritten Vorlesung, die sich mit dem Problem des ›schreibenden Ich‹ beschäftigt, wählt sie ihre Beispiele wiederum unter den Autoren der zeitgenössischen und der klassischen Moderne, von denen die meisten auch in den Diskussionen der späten 50er Jahre bereits mit der Ich-Problematik und ihren mannigfachen literarischen Behandlungen identifiziert wurden:52 Nach Henry Miller und Louis Ferdinand Céline werden Gide, Tolstoi, Dostojewskij, Svevo, Proust, Hans Henny Jahnn und Samuel Beckett behandelt, um das Problem der Ich-Auflösung in der modernen Literatur zu zeigen.53 Und auch in der vierten Vorlesung, in der die »Schwächung der Namen« in der Literatur des 20. Jahrhunderts nachgewiesen wird, bewegt sich Bachmann entlang der fast toposhaften Grundprobleme, die in den Debatten der 50er Jahre identifiziert und seither immer wieder beschrieben wurden. Auf dieser Ebene sind die Vorlesungen ein Text, in dem Bachmann sich selbst, und zwar ebenso als Lyrikerin wie in der Prosa, in die Nachkriegsmoderne einreiht. Die Vorlesungen sind Bachmanns Versuch, sich selbst als Akteurin im Feld zeitgenössischer literarhistorischer Entwicklungen und Probleme zu definieren. Das geschieht allerdings unter dem Vorzeichen jener individualistischexistentiellen Wendung, die Bachmann gleich in der ersten Vorlesung einführt. Die Folge ist, dass sie sich – auch wenn das beim ersten Blick auf ihre Beispieltexte und Grundgedanken so aussehen mag – eben nicht in ein feststehendes Netz von literatur- und kulturhistorischen Koordinaten integriert, 52

53

Dass Bachmann nicht über gängiges literaturwissenschaftliches Wissen hinausgeht, betont auch von der Lühe verschiedentlich; vgl. ebd., S. 576, S. 585. Bachmann, »Frankfurter Vorlesungen«, S. 230.

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sondern umgekehrt die Autoren und Texte, auf die sie sich beruft, im Sinne der produktiven Revision für ihre induktiv-empirische Art der Literaturbetrachtung reklamiert. Das Ergebnis ist nicht eine ›Einordnung‹ Bachmanns in die kanonische Abfolge moderner Autoren und ihrer Probleme, sondern eine Neubestimmung oder doch zumindest eine neu akzentuierte Lektüre der Literaturgeschichte der Moderne, in der Bachmann damit implizit auch ihre eigene Position als schreibende Teilhaberin neu bestimmen kann. Wie das aussieht, kann man in der ersten Vorlesung am Beispiel Hofmannsthal beobachten. Bachmann deutet den Brief des Lord Chandos zwar im Horizont der Sprachkrise, aber eben zugleich auch im weiteren Kontext einer grundsätzlicheren Problematik: der ›Rechtfertigung der Existenz‹ des Schriftstellers. Diese existentielle Infragestellung des eigenen Schreibens ist Ausgangspunkt von Bachmanns Überlegungen: Warum Schreiben? Wozu? Und wozu, seit kein Auftrag mehr da ist von oben und überhaupt kein Auftrag mehr kommt, keiner mehr täuscht. Woraufhin schreiben, für wen sich ausdrücken und was ausdrücken vor den Menschen, in dieser Welt. Er [der Schriftsteller; F.L.], der selbst erkenntnissüchtiger, deutungssüchtiger und sinnsüchtiger ist als die anderen, kann er mit irgend einer Deutung, einer Sinngebung, auch nur mit einer Beschreibung, und erschiene sie ihm auch noch so genau, bestehen? Ist seine Bewertung durch Sprache, und er bewertet immer, mit jeder Benennung bewertet er die Dinge und die Menschen, nicht völlig gleichgültig, oder irreführend, oder verwerflich? Und ist der Auftrag, wenn er ihn sich selbst zu geben traut (und er kann ihn sich heute nur selbst geben), nicht beliebig, befangen, bleibt er nicht, wie sehr er sich auch bemühen mag, der Wahrheit immer etwas schuldig?54

Die Passage zeigt, wie Bachmann das logisch-begriffliche Argumentieren eines akademischen Vortrags durch die Alternative einer grundsätzlichen und schonungslosen Selbstanalyse ersetzt, in deren Zentrum die Frage nach dem Antrieb und Sinn des eigenen Schreibens steht. Diese Selbstbefragung umfasst alle Aspekte des schriftstellerischen Tuns in einer Gegenwart, in der die Motivation, Wirklichkeit sprachlich zu deuten oder auch nur zu beschreiben, in jeder Hinsicht auf den Einzelnen zurückgeworfen ist. Die Zweifel am Schreiben, an den Möglichkeiten der Literatur, sind aus Bachmanns Sicht nicht primär begründet in kulturgeschichtlichen Entwicklungen, die dann auch den Einzelnen determinieren, sondern »[i]n den Dichtern selbst, in ihrem Schmerz über ihre Unzulänglichkeit, in ihren Schuldgefühlen«.55 Die Individualität des Autors wird betont gegenüber den historischen Kontexten. Dessen Selbstzweifel konzentrieren sich immer wieder in der Frage, ob 54 55

Ebd., S. 186f. Ebd., S. 187.

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die sprachliche Annäherung an die Wirklichkeit nicht in jeder Hinsicht problematisch und falsch ist. Für Bachmann sind Selbstzweifel in jeder Schriftsteller-Existenz beherrschend, auch wenn sie mit Tolstoi, Gogol, Kleist, Grillparzer und Mörike vorerst aus gutem Grund nur Autoren des 19. Jahrhunderts als Fürsprecher heranzieht. Denn im 20. Jahrhundert werden individuelle und radikale Selbstzweifel der Schriftsteller durch die Unsicherheit über die Wirklichkeit potenziert, auf die sie sich sprachlich beziehen. Es gibt auch vor der Wende zum 20. Jahrhundert Autoren, die ihrem eigenen Schreiben mit »Widerrufe[n], […] Selbstmorde[n], […] Verstummen, […] Wahnsinn, Schweigen über Schweigen« begegnen;56 aber in deren Fall sind diese Widerrufe der eigenen Arbeit noch individuell bedingt und begründet in einer Unsicherheit, die vom Subjekt selbst ausgeht. In unserem Jahrhundert scheinen mir diese Stürze ins Schweigen, die Motive dafür und für die Wiederkehr aus dem Schweigen darum von großer Wichtigkeit für das Verständnis der sprachlichen Leistungen, die ihm vorangehen oder folgen, weil sich die Lage noch verschärft hat. Der Fragwürdigkeit der dichterischen Existenz steht nun zum ersten Mal eine Unsicherheit der gesamten Verhältnisse gegenüber. Die Realitäten von Raum und Zeit sind aufgelöst, die Wirklichkeit harrt ständig einer neuen Definition, weil die Wissenschaft sie gänzlich verformelt hat. Das Vertrauensverhältnis zwischen Ich und Sprache und Ding ist schwer erschüttert.

Bachmann liefert damit nichts weniger als ihre Deutung der literarischen Moderne. Der Kern dieser Deutung ist die Diagnose wechselseitiger Unsicherheit. Es sind nicht nur die Probleme einer zusehends unsicheren, flüchtigen und selbst in ihren grundsätzlichen Konstanten sprachlich ungreifbar gewordenen Wirklichkeit, sondern es ist das Aufeinandertreffen dieser Probleme mit den Selbstzweifeln und der permanenten Selbst-Infragestellung der Schriftsteller, das diesen neuen Zustand charakterisiert. ›Erschüttert‹ ist also das ›Vertrauensverhältnis‹ insofern, als ein ohnehin schon zutiefst verunsichertes und zweiflerisches Ich nun auch im Verhältnis der Sprache zu den Dingen keinen Halt mehr findet. Entsprechend deutet Bachmann Hofmannsthals Chandos-Brief als »[d]as erste Dokument, in dem Selbstbezweiflung, Sprachverzweiflung und die Verzweiflung über die fremde Übermacht der Dinge, die nicht mehr zu fassen sind, in einem Thema angeschlagen sind«.57 Entscheidende Folge dieser Einführung des problematischen Autor-Ichs in die Interpretation der Mo56 57

Ebd., S. 188. Ebd., S. 188.

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derne ist eine Umakzentuierung. Die diagnostischen Erklärungen der Moderne zielen darauf ab, bestimmte Probleme – Verunsicherung über den Status der Wirklichkeit, Sprachkrise – als ›Ursachen‹ für nahezu unweigerlich eintretende ›Reaktionen‹ der Schriftsteller zu betrachten. Rilkes Malte Laurids Brigge, Benns Rönne-Erzählungen oder eben Hofmannsthals Brief des Lord Chandos wären so gesehen besonders gelungene und deshalb möglicherweise exemplarische Ausformulierungen eines kollektiven Bewusstseinszustands, den die Autoren als Teile eines kulturellen Kontexts unweigerlich diagnostisch erfassen und abbilden müssen. Bachmann verwahrt sich gegen eine solche einseitige Repräsentanzfunktion der Schriftsteller und reklamiert den Erfahrungswert der literarisch behandelten Probleme. Die genannten Beispiele sind für sie deshalb nicht »Korrespondenzen in der Literatur«, sondern »einzelne revolutionäre Stöße«.58 Sie betont das Vermögen des AutorIchs mit seiner spezifischen Fähigkeit, Probleme zu erkennen und sprachlich zu repräsentieren, gegenüber der deduktiven Sicht auf die Literatur. Die Autoren seien die Akteure des literarischen und kulturellen Lebens; aber erst vor dem Hintergrund ihrer eigenen individuellen Problematik könnten sie die Probleme der Wirklichkeit erfassen, mit der sie täglich konfrontiert sind. Es heißt immer, die Dinge lägen in der Luft. Ich glaube nicht, daß sie einfach in der Luft liegen, daß jeder sie greifen und in Besitz nehmen kann. Denn eine neue Erfahrung wird gemacht und nicht aus der Luft geholt. Aus der Luft oder bei den anderen holen sie sich nur diejenigen, die selber keine Erfahrung gemacht haben. Und ich glaube, […] daß, wo kein Verdacht und somit keine wirkliche Problematik in dem Produzierenden selbst vorliegt, keine neue Dichtung entsteht.59

Die Rückbindung der Literatur an individuelle Erfahrung ist entscheidend für Bachmanns Poetik. Der Chandos-Brief wird gemeinhin als literarisches Symptom der Sprachkrise der Jahrhundertwende behandelt; Bachmann deutet ihn als Ergebnis einer spezifischen Erfahrung des Autors Hofmannsthal – dessen »unerwartete Abwendung […] von den reinen zaubrischen Gedichten seiner frühen Jahre«60 konsequenterweise als Folge dieser Erfahrung erwähnt wird. An den Beginn ihrer poetologischen Selbsterkundung stellt Bachmann die Neulektüre eines der Grundtexte der literarischen Moderne, allerdings in ihrem Verständnis einer Poetik, an deren Grund die je individuelle Art und Weise des Autors steht, Erfahrungen sprachlich zu verarbeiten. Sie beharrt darauf, dass jede Dichtung eine komplexe Reaktion auf Probleme ist, die nur durch die jeweils einzigartige Person des Produzierenden 58 59 60

Ebd., S. 190. Ebd. Ebd., S. 188.

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erkannt und von daher auch dargestellt werden können. Bachmann verweist auch hier auf einen vorliterarischen Bereich, der ihrer Auffassung nach notwendige Bedingung der Literatur ist. Er ist charakterisiert nicht durch konkrete Probleme, die sich im Lauf der Zeit ändern können – »[r]eligiöse und metaphysische Konflikte sind abgelöst worden durch soziale, mitmenschliche und politische«61 –, sondern durch die Sprachlichkeit der Literatur: Der Konflikt mit der Sprache«62 ist das Problem, auf das am Ende die Literatur zuläuft. Dabei revidiert Bachmann die spezifische Leistung der Nachkriegsmoderne im Verhältnis zur literarischen Moderne seit der Jahrhundertwende. Auch hier weist sie begriffliche Fixierungen zurück, die dann kausal gesetzt werden für die Entstehung bestimmter literarischer Texte. Denn die wirklich großen Leistungen dieser letzten fünfzig Jahre, die eine neue Literatur sichtbar gemacht haben, sind nicht entstanden, weil Stile durchexperimentiert werden wollten, weil man sich bald so, bald so auszudrücken versuchte, weil man modern sein wollte, sondern immer dort, wo vor jeder Erkenntnis ein neues Denken wie ein Sprengstoff den Anstoß gab – wo, vor jeder formulierbaren Moral, ein moralischer Trieb groß genug war, eine neue sittliche Möglichkeit zu begreifen und zu entwerfen.63

Ein bestimmter Text entsteht nicht, weil Programme oder Thesen experimentell erfasst werden müssen, sondern weil, so Bachmann, eine bestimmte Erfahrung individuell sprachlich verarbeitet wird – eine Erfahrung, die zugleich ein ›moralischer Trieb‹ ist und also nicht nur sprachlich oder ästhetisch, sondern auch ethisch begründet ist. Die Annahme, den gegenwärtigen Autoren bleibe nichts anders übrig, »als die Entdeckungen von Joyce und Proust und Kafka und Musil« zu übernehmen, sei verfehlt.64 Das Risiko der Nachkriegsliteratur, epigonenhaft zu werden, bestehe nur »bei der blinden Übernahme dieser seinerzeitigen Wirklichkeitsbestimmungen, dieser gestern neu gewesenen Denkformen«.65 Wenn man das tue, könne es in der Tat nur »zu einem Abklatsch und einer schwächeren Wiederholung der großen Werke kommen«.66 Genau das ist aber nach Bachmann nicht der Weg der Nachkriegsmoderne. Anstatt an diesem Punkt Beispiele oder wenigstens Namen zu nennen (was erst in der zweiten Vorlesung geschieht), zieht es Bachmann aber wie61 62 63 64 65 66

Ebd., S. 190f. Ebd., S. 191. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd.

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derum vor, zunächst die Bedingungen und ästhetischen Möglichkeiten dieser neuen Literatur anzudeuten. Auch sie ist an die Sprache gebunden. »Mit einer neuen Sprache wird der Wirklichkeit immer dort begegnet, wo ein moralischer, erkenntnishafter Ruck geschieht, und nicht, wo man versucht, die Sprache an sich neu zu machen«.67 Alle Versuche, die Sprache unabhängig von einer vorgängigen neuen Wahrnehmung zu aktualisieren, müssen ins Leere laufen, denn nur wenn die Sprache tatsächlich in einer neuen Wirklichkeitswahrnehmung begründet ist, wenn sie »eine neue Gangart« hat und »ein neuer Geist sie bewohnt«,68 besteht eine Chance, dass der Schriftsteller sie aus der Alltagssprache destillieren kann. Auch in diesem Zusammenhang betont Bachmann die enge Verbindung, die zwischen der Moral und der Sprache besteht: Eine neue Art, die Wirklichkeit zu sehen, die Grundbedingung für die Entwicklung einer neuen Sprache, bei der es dem Schriftsteller gelingt, »im Rahmen der ihm gezogenen Grenzen ihre Zeichen [zu; F.L.] fixieren und […] wieder lebendig zu machen«,69 ist ein moralischer Antrieb »vor aller Moral«, »eine[ ] Stoßkraft für ein Denken, das zuerst noch nicht um Richtung besorgt ist, ein[ ] Denken, das Erkenntnis will und mit der Sprache und durch Sprache hindurch etwas erreichen will«.70 Eine authentische Wahrnehmung der Wirklichkeit ist nach Bachmann an die historische Wirklichkeit gebunden, und jede authentische, die kollektiven Vorurteile unterlaufende Wahrnehmung dieser Wirklichkeit hat notwendig moralischen Charakter. Auch eine moderne Literatur der Nachkriegszeit kann nur existieren, wenn sie in diesem Sinn Ergebnis einer individuellen Auseinandersetzung mit der ›Realität‹71 ist, Ergebnis einer genuinen Art, die Wirklichkeit zu sehen. Erst dann ergibt sich eine ›Richtung‹, eine Kohärenz in der Weltsicht, die Bachmann als »durchgehende Manifestation einer Problemkonstante, eine unverwechselbare Wortwelt, Gestaltenwelt und Konfliktwelt« bezeichnet.72 Erst wenn ein Autor seine individuelle Sicht auf die Wirklichkeit verfolgt, entstehen auch neue Möglichkeiten der Literatur. Darin liegt auch Bachmanns Begründung für die Fortsetzung der modernen Literatur in den 50er Jahren. Die Annahme, »alles für geleistet zu halten, weil vor 50 und 40 Jahren ein paar große Geister aufgetreten sind«,73 ist in 67 68 69 70 71 72 73

Ebd., S. 192. Ebd. Ebd. Ebd., S. 192f. Vgl. ebd., S. 193. Ebd. Ebd., S. 195.

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ihren Augen abwegig, weil sie den individuellen Anteil an der Entstehung von Literatur verkennt. Bachmann erklärt die historische Bedingtheit des Dichters zum grundlegenden Ausgangspunkt seiner Suche nach einer Sprache und damit nach neuen literarischen Möglichkeiten. Daß Dichten außerhalb der geschichtlichen Situation stattfindet, wird heute wohl niemand mehr glauben – daß es auch nur einen Dichter gibt, dessen Ausgangsposition nicht von den Zeitgegebenheiten bestimmt wäre. Gelingen kann ihm, im glücklichsten Fall, zweierlei: zu repräsentieren, seine Zeit zu repräsentieren, und etwas zu präsentieren, für das die Zeit noch nicht gekommen ist.74

Auch wenn Bachmann in der Folge die Wichtigkeit von intellektuellen Vermittlerfiguren anerkennt, die bestimmte Tendenzen einer Zeit bündeln und für Autoren »Zündungen von fern«75 liefern, bleibt die Funktion der Erfahrung des einzelnen Autors in ihrer Poetik herausragend. Erst die Verkettung dieser individuellen Erfahrung mit der Suche nach einer Sprache, die diese neue individuelle Sicht auf die Wirklichkeit ermöglicht, kann schließlich auch zu einer Lyrik führen, die nicht nur eine Lyrik nach Krieg und Holocaust ist, sondern die auch auf die Gewöhnung an ästhetische Provokationen zu reagieren vermag. Poesie wie Brot? Dieses Brot müßte zwischen den Zähnen knirschen und den Hunger wiedererwecken, ehe es ihn stillt. Und diese Poesie wird scharf von Erkenntnis und bitter von Sehnsucht sein müssen, um an den Schlaf der Menschen rühren zu können. Wir schlafen ja, sind Schläfer, aus Furcht, uns und unsere Welt wahrnehmen zu müssen.76

Die moderne Lyrik, die Bachmann für die Nachkriegszeit projektiert, muss also neben all den anderen präliterarischen Qualitäten auf besondere Weise zur Wahrnehmung herausfordern. Nur wenn die Erkenntnis des Autors auch spürbar ist für die Leser, kann diese Lyrik die ästhetische Gewöhnung überwinden, die bei den Lesern eingetreten ist. Und nur so können die Wahrnehmungen des Autors auch den Leser zu eigenen Wahrnehmungen zwingen. Bachmanns Projekt einer modernen Lyrik basiert auf der Vorstellung, dass die Zeit- und Wirklichkeitserfahrung des Autors auf eine solche Weise in Sprache übersetzt wird, dass sie schließlich wieder für Leser rekonfigurierbar und wahrnehmbar wird, die sich ihrerseits vor der Wahrnehmung der Welt verschließen. Der gerne zitierte Begriff ›Problemkonstante‹ beschreibt diese Wechselbeziehung von individueller Erfahrung und kollektiver Wahrnehmung. Sie steht am Ausgangspunkt eines Schreibens, das nicht 74 75 76

Ebd., S. 196. Ebd. Ebd., S. 197f.

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nur die bereits sprachlich fixierten Konflikte und Probleme der Moderne wiederholt, sondern auf ihrer Grundlage eine immer neue Verbindung mit den Problemen der Gegenwart versucht. Die Lyrik, die daraus hervorgehen sollte, umschreibt Bachmann zunächst nur mit der Formel »scharf von Erkenntnis und bitter von Sehnsucht«;77 wie sie aussehen kann, erläutert sie in der zweiten Vorlesung. Mit Blick auf die Prosa benennt Bachmann später die in der Moderne nochmals spezifisch zugespitzte Wechselwirkung zwischen Autor-Ich und Geschichte – verstanden als kollektiv-intersubjektive Dimension historischer und gesellschaftlicher Ereignisse – mit der Formel »Geschichte im Ich«; in den vorhergehenden Jahrhunderten hingegen habe sich das Ich »in der Geschichte« bewegt.78 In der Prosa führt diese Verschiebung zu »grundlegenden Zweifeln an einem zusammenhängenden, mit sich selbst identischen Ich«.79 Für die Lyrik könnte man aus dieser Konstellation im Sinne der in der ersten Vorlesung entfalteten ›Erfahrungspoetik‹ von einer stärkeren Durchdringung individueller und geschichtlich kollektiver Dimensionen sprechen. In diese Richtung argumentiert Bachmann am Ende der ersten Vorlesung, wenn sie die Existenz des gegenwärtigen Menschen als ein Konglomerat aus autonomen sozialen und privaten Segmenten erläutert: »Unsere Existenz liegt heute im Schnittpunkt so vieler unverbundener Realitäten, die von den widersprüchlichsten Werten besetzt sind.«80 Den Zustand der Trennung dieser Bereiche zu akzeptieren und damit auch die Kunst herauszulösen aus den Kontexten des Alltagslebens, »käme […] der Bankrotterklärung gleich«.81 Stattdessen kommt es Bachmann darauf an, die Verbindlichkeit der Literatur für alle Lebensbereiche zu zeigen. Dass diese Verbindlichkeit erst recht für die Lyrik gilt, bildet den Ausgangspunkt der zweiten Vorlesung. Bevor Bachmann ihre Vorstellung von einer Lyrik erläutert, in der das Ich durch die Erfahrungen der Geschichte gegangen ist und von dort aus seine eigene sprachliche Antwort entwickelt, wiederholt sie ihre Abgrenzung gegenüber der akademischen Diktion und beschreibt ihre Ausführungen als ›Streifzug‹. »[Ü]ber die zeitgenössische Lyrik Rede und Antwort zu stehen«, hält sie wegen der besonders im Fall der Lyrik begrenzten Kenntnis für schwierig; das beziehe sich besonders auf die 77 78

79 80 81

Ebd., S. 197. Ebd., S. 230: »Die erste Veränderung, die das Ich erfahren hat, ist, daß es sich nicht mehr in der Geschichte aufhält, sondern daß sich neuerdings die Geschichte im Ich aufhält.« Bannasch, »Literaturkritische Essays und Frankfurter Vorlesungen«, S. 198. Bachmann, »Frankfurter Vorlesungen«, S. 198. Ebd., S. 199.

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nicht-deutschsprachige Lyrik. In Übersetzungen würden die Lyriker in der Regel erst mit großer Verspätung sichtbar – Bachmann zählt die Namen auf, die um 1960 langsam ins Deutsche übertragen werden, womit sie unterstreicht, dass eine breite Rezeption der internationalen Moderne in Deutschland tatsächlich erst gegen Ende der 50er Jahre beginnt. Ein Hauptgrund für die schwierige Wahrnehmbarkeit zeitgenössischer Lyriker in anderen Sprachen liege aber wiederum in der eigentümlichen Sprachlichkeit der Gedichte. »Wo sie neue Fassungskraft haben, ist die so inwendig in der jeweiligen Sprache und manifestiert sich nicht auch im Auswendigen, wie in Romanen, in Theaterstücken.«82 Mit dem Begriff des ›Auswendigen‹ versucht Bachmann, ihre poetologischen Vorstellungen für die Lyrik zu spezifizieren. Wenn man das ›inwendige Fassungsvermögen‹ tatsächlich als einen Ansatz sieht, »das schwierige Verhältnis von Wirklichkeit und Literatur genauer zu beschreiben«,83 dann kann man in dem Begriff zwei Akzentuierungen entdecken: Die Betonung des subjektiv-individuellen, eben ›inwendigen‹ Charakters der Lyrik wird durch die ausdrückliche Anführung des Gegenbegriffs – ›auswendig‹ – an die äußere Wirklichkeit zurückgebunden. Die Lyrik, so deutet Bachmann in dieser gattungspoetischen Skizze an, ist nicht weniger von der Wirklichkeit kontaminiert als Prosa oder Dramen, aber die Art der Aktualisierung des Wirklichkeitsgehaltes ist introvertierter und idiosynkratischer: Die Fermente der Realität, die das Ich ›erfahren‹ hat, sind stärker verschmolzen mit der jeweiligen individuellen Sprechweise, dem individuellen Versuch, eine eigene Sprache zu entwickeln. Genau dieses Problem stellt Bachmann auch bei der Analyse von Günter Eichs »Betrachtet die Fingerspitzen« in den Vordergrund. Das Gedicht ist für sie ein Beispiel für den »Stellungswechsel des Produzierenden selbst«,84 der gegenüber früheren Poetiken stattgefunden hat. Das Ich tritt nicht mehr als Prophet oder Magier auf, sondern spricht von einem Ort der Einsamkeit, der dennoch »zudiktiert [ist] von einer Gesellschaft« und »inmitten der Gesellschaft« liegt.85 Bachmann liest das Gedicht als Beispiel für eine textuelle Topographie, in der die Verschiebung der Position des Künstlers in eine isolierte Position angedeutet ist, die gleichwohl die Bewegungen der Gesellschaft registriert und aufnimmt. Im unmittelbaren Anschluss folgt eine Distanzierung von ästhetizistischen Poetiken. Bei aller Berechtigung des George-Kreises als Protestbewe82 83 84 85

Ebd., S. 200f. Bannasch, »Literaturkritische Essays und Frankfurter Vorlesungen«, S. 198. Bachmann, »Frankfurter Vorlesungen«, S. 203. Ebd.

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gung gegen den Naturalismus, bei aller Berechtigung der »noch immer nachwirkenden sprachlichen Entdeckungen und Wirklichkeitsentdeckungen«86 der ästhetischen Revolten der ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts – sie erwähnt den Futurismus, aber auch Benn und Pound – ist der Ästhetizismus für Bachmann durch den Kontakt mit dem Faschismus »aufs schlimmste desavouiert«.87 Negativ gewendet wird hier wiederum die für Bachmann so enge Verknüpfung von Sprache und Ethik deutlich. Wie eine solche lyrische Sprache nach 1945, die sich »vom Leiden herschreiben und die Lesenden verstören« muss,88 aussehen kann, erläutert Bachmann an Texten von Marie Luise Kaschnitz, Nelly Sachs und Hans Magnus Enzensberger. Vor allem in ihrem Kommentar zu Nelly Sachs’ »Von den Schaukelstühlen« konkretisiert sich die Überzeugung, dass die gegenwärtige Lyrik »eine Bewegung aus Leiderfahrung« sein müsse, die sich von »Sprachrausch« und »konservative[m] Wortbiedermeier« absetzt und stattdessen ein »neues Rechtsverhältnis zwischen der Sprache und dem Menschen herzustellen« versucht.89 Auch an Enzensbergers »verteidigung der wölfe gegen die lämmer« erkennt Bachmann zumindest einen ›erkenntnishaften Ruck‹. Ihre Forderung an eine Literatur der Nachkriegszeit ist, dass ihre »Leidensgenese […] nun auch als eine ethische Forderung formuliert« wird.90 Am wichtigsten an der Lyrikvorlesung ist aber ihre Einschätzung Paul Celans. Gustav René Hockes Studien zum Manierismus als transhistorischer Stilbewegung sind dabei vor allem ein Mittel, sich Celans radikaler Neukonstitution der lyrischen Sprache als Weg zur Wirklichkeitskonstitution anzunähern. Bachmann schätzt Hockes Anregungsqualität: Sie ist der Meinung, dass man mit der Kategorie des Manierismus immerhin das Phänomen der dunklen Metapher in der Lyrik der 50er Jahre historisch kontextualisieren könne. Zugleich warnt sie davor, über der Suche nach manieristischen Stilund Form-Phänomenen die eigentlichen, wahrheits- und wirklichkeitskonzentrierten Qualitäten der Literatur zu vergessen. In Celans frühen Gedichten, deren »sehr leuchtende[ ] dunkle[ ] Worte[ ]«91 auch als manieristische Metaphern gesehen werden könnten, sich aber darin nicht erschöpfen – Bachmann spielt explizit auf die ›schwarze Milch‹ aus der »Todesfuge« an –, sieht sie Eigenschaften, die zunächst im Rückgriff auf Eich erläutert werden: »Die Gedichte, so verschiedenartig, sind nicht genießbar, aber erkenntnis86 87 88 89 90 91

Ebd., S. 204. Ebd. Bannasch, »Literaturkritische Essays und Frankfurter Vorlesungen«, S. 197. Bachmann, »Frankfurter Vorlesungen«, S. 208. Bannasch, »Literaturkritische Essays und Frankfurter Vorlesungen«, S. 198. Bachmann, »Frankfurter Vorlesungen«, S. 215.

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haltig, als müßten sie in einer Zeit äußerster Sprachnot aus äußerster Kontaktlosigkeit etwas leisten, um die Not abzutragen. Aus dieser Leistung beziehen sie eine neue Würde«.92 Vom Autor aus gesehen ist für Bachmann die Nachkriegszeit also von ›Kontaktlosigkeit‹ und Isolation bestimmt; der komplexer gewordene Anspruch, sich zur Wirklichkeit ins Verhältnis zu setzen, führt zu einem Zustand der ›äußersten Sprachnot‹, was darauf hinweist, dass die Möglichkeiten, angesichts der geschichtlichen Situation sprachlich zu reagieren, limitiert sind und nach neuen Ansätzen verlangen. Celans Gedichte aus Mohn und Gedächtnis (1952) und Von Schwelle zu Schwelle (1955) sind für Bachmann solche Ansätze, wobei sie sicherlich auch die Analogien zu ihren eigenen beiden Gedichtbänden im Auge hat. Allerdings beschränkt sich Bachmann in der Vorlesung nicht auf die erste Phase von Celans Lyrik, sondern geht auch den Schritt zum unlängst erschienenen Band Sprachgitter (1959). Hier sieht Bachmann eine radikale Wende in der Ästhetik der Nachkriegslyrik, eine Absage an die in den 50er Jahren vorherrschende Ästhetik der »leuchtenden dunklen Worte[ ]«: Die Metaphern sind völlig verschwunden, die Worte haben jede Verkleidung, Verhüllung abgelegt, kein Wort fliegt mehr einem anderen zu, berauscht ein anderes. Nach einer schmerzlichen Wendung, einer äußerst harten Überprüfung der Bezüge von Wort und Welt, kommt es zu neuen Definitionen. Die Gedichte […] sind unbequem, abtastend, verläßlich, so verläßlich im Benennen, daß es heißen muß, bis hierher und nicht weiter.93

Die reduktive Wende in Celans Lyrik, die nochmalige »Überprüfung der Bezüge« von Sprache und Wirklichkeit, erscheint im kompositorischen Verlauf von Bachmanns Vorlesung als Höhepunkt und letzte Konsequenz der Nachkriegsmoderne der 50er Jahre. Die Versuche, mit Sprache suggestiv zu wirken, sind aufgegeben zugunsten einer Verknappung, deren einziges Ziel die möglichst genaue Benennung bestimmter Phänomene ist. Gerade in der sprachlichen Konzentration könne der Anspruch, zwischen Sprache und Wirklichkeit eine Referenz zu schaffen, wieder hergestellt werden. Celans Poetik der Konzentration wird für Bachmann repräsentativ für Zustand und Möglichkeiten der modernen Lyrik um 1960. Die sprachlichen Beschränkungen eröffnen neue Möglichkeiten einer lyrischen Sprache. Aber plötzlich, wegen der strengen Einschränkungen, ist es wieder möglich, etwas zu sagen, sehr direkt, unverschlüsselt. Es ist dem möglich, der von sich sagt, daß er wirklichkeitswund und wirklichkeitssuchend mit seinem Dasein zur Sprache geht.94 92 93 94

Ebd. Ebd., S. 216. Ebd., S. 216.

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Die Formulierung, die den Schluss von Celans Bremer Rede zitiert,95 ist auch ein Hinweis auf Bachmanns Vorstellungen einer »metaphernlosen Dichtung als Gelände, womit das Gedicht, aus dem alle Metaphern verschwunden sind, selbst als (sprachliche) Topographie betrachtet wird«.96 Bachmann entwickelte die entsprechende Poetik in Anrufung des großen Bären. Das Beispiel Celan steht nicht zufällig am Ende der Lyrikvorlesung; Sprachgitter repräsentiert für Bachmann einen Endpunkt im Prozess, eine Poetik der modernen Lyrik unter den Bedingungen der Shoa und der Nachkriegzeit zu formulieren. Obgleich die Frankfurter Vorlesungen in der Forschung oftmals nur »für die Klärung einzelner Fragestellungen herangezogen«97 werden, stellen sie einen in sich zusammenhängenden und komponierten Text dar. Bachmann macht nicht Aussagen über Literatur, sie versucht Perspektiven zu entwickeln, die ihr – erklärtermaßen anti-wissenschaftliches – Verständnis von Literatur verdeutlichen können. Die »poetische Qualität«98 der Vorlesungen wird dabei nicht nur an ihrer Rhetorik sichtbar, sondern auch daran, dass ihr Schluss- und Höhepunkt diesen poetischen Charakter nicht mehr nur implizit aus der Betrachtung anderer Autoren oder literarischer Phänomene entwickelt, sondern explizit ausformuliert. Am Ende der fünften Vorlesung charakterisiert Bachmann den utopischen Charakter der Literatur. In ihrem Begriff von Utopie,99 der im Anschluss an Musils Essayismus entwickelt wird und in dem »poetische und poetologische Rede […] miteinander verknüpft« sind,100 zielt Bachmann auf den prozessualen Charakter literarischer Sprache ab. Die literarische Suche nach dem »Utopia der Sprache«101 ist ein fortwährender Versuch, der »schlechte[n] Sprache« des Lebens eine ›richtige‹ Alternative gegenüberzustellen: […] diese Literatur also, wie eng sie sich auch an die Zeit und ihre schlechte Sprache halten mag, ist zu rühmen wegen ihres verzweiflungsvollen Unterwegsseins

95

96 97 98 99

100 101

Paul Celan, »Ansprache anläßlich der Entgegennahme des Literaturpreises der freien Hansestadt Bremen«, in: Ders., Gesammelte Werke in sieben Bänden. Gedichte III. Prosa. Reden, S. 185f., hier S. 186: »Es sind die Bemühungen dessen, der […] mit seinem Dasein zur Sprache geht, wirklichkeitswund und Wirklichkeit suchend.« Weigel, Bachmann, S. 249. Bannasch, »Literaturkritische Essays und Frankfurter Vorlesungen«, S. 199. Ebd. Ausführlich erläutert bei Kurt Bartsch, Ingeborg Bachmann, Stuttgart 1988, S. 24–34. Bannasch, »Literaturkritische Essays und Frankfurter Vorlesungen«, S. 199. Bachmann, »Frankfurter Vorlesungen«, S. 268.

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zu dieser Sprache und nur darum ein Ruhm und eine Hoffnung der Menschen. Ihre vulgärsten und preziösesten Sprachen haben noch teil an einem Sprachtraum; jede Vokabel, jede Syntax, jede Periode, Interpunktion, Metapher und jedes Symbol erfüllt etwas von unserem nie ganz zu verwirklichenden Ausdruckstraum.102

Für Bachmanns Denken und Schreiben ist die Vorstellung der Utopie, wie Kurt Bartsch gezeigt hat, absolut zentral: »Dieses utopische Richtungnehmen ist für Bachmann eine, ja die entscheidende Funktion von Literatur.«103 Die über den gesamten Vorlesungszyklus angepeilte Vorstellung einer literarischen Sprache, die gegen die Alltagssprache entwickelt werden muss, findet hier ihre deutlichste Ausformulierung. Bachmanns Utopiebegriff geht dabei weit über eine Gattungsbezeichnung hinaus und ist »in der Auffassung der Wirklichkeitsverbundenheit bzw. der Prozeßhaftigkeit des Utopischen« neben Musil auch Bloch nahe.104 Bachmanns Utopie-Konzept ist nicht konkret zielgerichtet, sondern als permanenter Versuch der Verwirklichung einer ›anderen‹, über den Alltag hinausgehenden Sprache zu sehen. Das erlaubt es ihr auch, die in ihren Augen vorherrschende Vergangenheitsbezogenheit der Literatur zu überwinden. Anstatt die Möglichkeiten und Spielräume der Literatur als etwas der Vergangenheit Zugehöriges zu betrachten – »als gäbe es die Literatur nur als übermächtige Vergangenheit, ausgespielt gegen die Gegenwart, die im vornhinein zum Verlieren verurteilt ist«105 –, führt es zu einer Literaturvorstellung, die nicht mehr an Konzepte wie ›Kultur‹ oder ›Nation‹ gebunden ist; der »Weg des Gedichts bzw. sein Unterwegsssein« wird wie bei Celan »höher bewerte[t] als sein Ans-ZielKommen, als seine Vollendung«:106 Schreiben ist eine Utopie »als Richtung, die einschlagbar bleiben wird, wenn […] die Dichtung […] aus dem Hier-und-Jetzt-Exil zurückwirken muß in den ungeistigen Raum unserer traurigen Länder.«107 Arturo Larcati charakterisiert in seiner facettenreichen Studie zu Ingeborg Bachmanns Poetik den Utopiebegriff mit dem Konzept der »deterritorialisierte[n] Sprache«.108 Er betont damit Bachmanns Vorstellung vom Widerstandscharakter poetischer Sprache: Der Schwierigkeit, »im Österreich und Deutschland der Nachkriegszeit in einer Sprache zu leben, die identisch mit 102 103 104 105 106 107 108

Ebd. Bartsch, Ingeborg Bachmann, S. 29. Ebd. Bachmann, »Frankfurter Vorlesungen«, S. 269. Arturo Larcati, Ingeborg Bachmanns Poetik, Darmstadt 2006, S. 230. Bachmann, »Frankfurter Vorlesungen«, S. 270. Larcati, Bachmanns Poetik, S. 236.

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der ›Gaunersprache‹ ist, eine Kindersprache zu besitzen, die durch die Erziehungsmethoden des NS-Regimes systematisch abgerichtet wurde«,109 begegne Bachmann mit einer Konzeption des »sprachlichen Unterwegsseins«.110 Der Dichter »[verfügt] über eine Sprache […], die sich permanent im Geschäft der Unterscheidungen und Differenzierungen befindet und keine Stabilität hat, weil ihre Signifikationsprozesse nicht mehr an feste Institutionen gebunden sind«.111 Es ist ein inhärentes Merkmal ihrer Utopiesuche, dass sie ein bestimmtes Ziel ablehnen muss: Denn »jedes feststehende Ziel der (stilistischen) Innovation so wie der Sprachutopie [würde] ein vorgängiges Wissen voraussetzen […], das wiederum mit einer Form von territorialisiertem Sprechen bzw. von Ideologie gleichzusetzen wäre«.112 Gerade deshalb gilt für die Utopiesuche das, »was […] auch für die Bewegung der ästhetischen Innovation ausschlaggebend ist: dass sie nämlich ein Tasten im Dunkeln sein muss, dass sie kein ideologischer, zielgerichteter Prozess sein kann, ohne gleichzeitig fragwürdig zu sein.«113 Bachmanns Schreiben ist demnach als Verlauf zu verstehen, der als Suche nach einer jenseits konventionalisierter Sprachformen liegenden Wirklichkeit vorgeführt wird. Schreiben ist ein Suchprozess, in dem eine kontinuierliche Annäherung an die Utopie stattfindet. Gerade dieser utopische Such-Charakter in Bachmanns Poetologie ist wiederum an den geschichtlichen Kontext gebunden. Indem sie die Literatur aus dem unmittelbaren gesellschaftlichen und historischen Kontext herauslöst und damit eine Instrumentalisierung für bestimmte gesellschaftliche oder kulturelle Konzepte oder Ideen verweigert, möchte Bachmann einen unmittelbaren Zusammenhang zur Gegenwart herstellen: Literatur wirkt in die Gegenwart hinein, weil sie die gebrauchssprachlich determinierte Alltagswirklichkeit durchbricht. So gesehen verändert ein Schriftsteller die Wirklichkeit – wie Bachmann 1972 erläutert –, indem er die Aktualitäten seiner Zeit ›hinwegschreibt‹ und ›korrumpiert‹ und damit die Phrasen ›vernichtet‹.114 Die Autoren arbeiten »mit der schlechten Sprache, die wir vorfinden«, sind dabei aber ausgerichtet »auf diese eine Sprache hin, die noch nie regiert hat, die aber unsere Ahnung regiert und die wir nachahmen«.115 Die Literatur 109 110 111 112 113 114

115

Ebd. Ebd., S. 238. Ebd., S. 234. Ebd., S. 239. Ebd. Ingeborg Bachmann, »[Rede zur Verleihung des Anton-Wildgans-Preises]«, in: Dies., Werke 4, S. 294–297, hier S. 297. Bachmann, »Frankfurter Vorlesungen«, S. 270.

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wird zur Utopie einer »erahnten Sprache, die wir nicht ganz in unseren Besitz bringen können«, die aber immer wieder sichtbar wird »als Fragment in der Dichtung, konkretisiert in einer Zeile oder Szene«.116 3.2

Bachmanns Lyrik: Von der Widerstandspoetik zum ›Sprachland‹

In den Vorlesungen wird der Anspruch auf einen als Sprachutopie sichtbaren Realitätsbezug retrospektiv geäußert, in Bachmanns Lyrik der 50er Jahre bilden sich entsprechende Schreibweisen sukzessive heraus. Diese Entwicklung wird von den frühen Gedichten, vor allem von den Bänden Die gestundete Zeit (1953) und Die Anrufung des Großen Bären (1956) markiert. Unterschiede zwischen den beiden Bänden wurden bereits in der zeitgenössischen Rezeption betont. Trotz der erhöhten Aufmerksamkeit der Forschung für Bachmanns Prosawerk beginnt in den 1980er Jahren auch eine literaturwissenschaftliche Betrachtung, die die Rolle der Lyrik im Rahmen ihres Gesamtwerks neu bestimmt.117 Es herrscht Einigkeit darüber, dass in den beiden Bänden verschiedene Poetiken entwickelt werden, wobei Themen und Schreibweisen in der Anrufung des Großen Bären auf den Texten der Gestundeten Zeit aufbauen. Unübersehbar nimmt in den seit 1948 entstandenen frühen Gedichten und in der Gestundeten Zeit die geschichtliche Zeit als Grundlage der Erfahrungen des Ich eine zentrale Stellung ein. Die Art dieser Thematisierung ist höchst variantenreich und ihre Verknüpfung mit anderen thematischen Dimensionen erzeugt eine semantische Offenheit, die bis zu einem an der Textoberfläche unentschiedenen Changieren der Bedeutungsbereiche reicht.118 Ebenso wenig umstritten ist es, dass in der Anrufung des Großen Bären ein Ich aufscheint, das auf der Suche nach einem Ort ist, von dem aus es eine Erkundung der Welt durch Sprache gestalten kann, und dass dieser Ort in einer freilich realitäts- und erfahrungsgesättigten Sprache selbst zu finden ist.119 Hans Höller hat den Vorschlag gemacht, Bachmanns eigene, als grundsätzliche Charakterisierung der modernen Literatur eingeführte Un-

116 117

118 119

Ebd., S. 271. Vgl. Maria Behre, »Frühe Gedichte«; Hans Höller, »Die gestundete Zeit«; Marion Schmaus, »Anrufung des Großen Bären und Gedichte aus dem Umfeld«, in: Bachmann-Handbuch, S. 53–78. Vgl. ausführlich auch Primus-Heinz Kucher/Luigi Reitani: »Zur Lyrik Ingeborg Bachmanns: Annäherungen«, in: Dies. (Hrsg.), »In die Mulde meiner Stummheit leg ein Wort …«. Interpretationen zur Lyrik Ingeborg Bachmanns, Wien, Köln, Weimar 2000, S. 7–33, hier S. 7f. Vgl. ebd., bes. S. 58, 62f. Vgl. ebd., bes. S. 70, 76f.

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terscheidung auf ihre Lyrik anzuwenden.120 Demnach sei »[d]ie erste Veränderung, die das Ich erfahren hat […], daß es sich nicht mehr in der Geschichte aufhält, sondern daß sich neuerdings die Geschichte im Ich aufhält«.121 Diese Feststellung ist bis heute als Charakterisierung der Entwicklung zwischen den beiden Gedichtbänden geeignet. Zentrum von Bachmanns Lyrik ist eine Bildsprache, in der sich verschiedene Dimensionen überlagern, die ihrerseits so offen gehalten sind, dass sie auch untereinander bis zu einem gewissen Grad frei referentialisierbar sind. Zugleich ist der Sprechgestus der Texte von einer Rhetorik der Dringlichkeit und der Intensität beherrscht, die einen Zwang zur Referentialisierung erzeugt. So polyvalent Begriffe und Bilder angelegt sind, so sehr scheinen durch die Aussagestruktur der Texte eindeutig eingrenzbare, oftmals schmerzliche oder traumatische Erfahrungen angepeilt zu werden. Das Gegeneinander dieses performativ erzeugten Anspruchs auf konkrete Referenz und einer polyvalent-offenen, vielleicht auch bewusst vag gehaltenen Semantik ist ein erstes Kennzeichen Bachmann’scher Lyrik. Beispiele dafür lassen sich vor allem in Bachmanns Gedichten der frühen 50er Jahre finden, nicht zuletzt in Die gestundete Zeit. Die Überblendung von rhetorischem Konkretheitsanspruch und semantischer Offenheit ist bereits in der Titelmetapher konzentriert, die auf dem Changieren zwischen konkretem Bezug – Schulden und ihre Stundung – und existentiell-grundsätzlicher Offenheit einer denkbar vagen ›Zeit‹ basiert. Im berühmten suggestiven Anfangsrefrain des Titelgedichts122 kann man dann die Dynamisierung der im Sprechgestus angelegten Ambivalenz verfolgen. Es kommen härtere Tage. Die auf Widerruf gestundete Zeit wird sichtbar am Horizont.

Die bedrohliche Prophezeiung einer offenbar unmittelbar bevorstehenden Zukunft – »Es kommen härtere Tage« – wird in den nächsten beiden Versen zugleich intensiviert und verwischt durch die Kombination vieldeutiger Formulierungen: »Die auf Widerruf gestundete Zeit / wird sichtbar am Horizont.« Die in sich ambivalent-vieldeutige ›gestundete Zeit‹ wird am ›Horizont‹ eines wiederum ebenso eindeutig induzierten – die ›Marschhöfe‹ – wie 120

121 122

Hans Höller, Ingeborg Bachmann, das Werk. Von den frühesten Gedichten bis zum »Todesarten«-Zyklus, Frankfurt am Main 1987, S. 46. Bachmann, »Frankfurter Vorlesungen«, S. 230. Ingeborg Bachmann, »Die gestundete Zeit«, in: Dies., Werke, 4 Bde., Christine Koschel, Inge von Weidenbaum, Clemens Münster (Hrsg.), Bd. 1: Gedichte, Hörspiele, Libretti, Übersetzungen, München, Zürich 1993 [11978], S. 37.

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metaphorisch unbestimmten Strand- und Uferraums ›sichtbar‹. Das Gegeneinander aus konkreter Bedrohung einer lokal fokussierten, aber zugleich denkbar unbestimmten Situation prägt so den argumentativen Verlauf im gesamten ersten Abschnitt des Gedichts. Bald mußt du den Schuh schnüren und die Hunde zurückjagen in die Marschhöfe. Denn die Eingeweide der Fische sind kalt geworden im Wind. Ärmlich brennt das Licht der Lupinen. Dein Blick spurt im Nebel: die auf Widerruf gestundete Zeit wird sichtbar am Horizont.

In den Aufforderungen an das Du, den gegenwärtigen Zustand zu beenden und sich auf den Umbruch vorzubereiten – »Bald mußt Du den Schuh schnüren / und die Hunde zurückjagen« – wird die Sprechsituation variiert und erweitert: Jede Präzisierung zieht neue, meist zunächst räumlich grundierte Unbestimmtheiten nach sich. Zum ›Horizont‹, der die Grenze des textuell aufgespannten Raums markiert, und den Marschhöfen, den beiden einzigen benannten Koordinaten im ersten Abschnitt des Textes, kommen zeichenhafte Indizien aus dem Lebensraum: »die Eingeweide der Fische« und das »ärmlich brenn[ende] Licht der Lupinen« lassen auf Fischer und eine Art Landwirtschaft schließen – wobei genau diese Konkretisierungen durch die mythologischen Konnotationen des naturalistischen Bildes der zum Trocknen aufgehängten Fisch-Eingeweide von neuem ambivalent gemacht werden. Dass der Blick des angesprochenen Du »im Nebel spurt«, also in einem ohnehin von Unbestimmtheit gekennzeichneten Raum nun auch semantisch als desorientiert erscheint, zeigt, dass die in den performativen Markierungen des Textes angelegte Überlagerung von Konkretheitsgestus und Entkonkretisierung auch für die semantische Struktur entscheidend ist. Am deutlichsten wird diese für Rhetorik und Poetik der Bachmann’schen Lyrik charakteristische Konfiguration in der typisch mehrdeutigen Sprechsituation des Textes: Das Sprecher-Ich wendet sich an ein ›Du‹, das im Text mehrfach deutlich angesprochen wird. Die charakteristische Weise, in der dieses ›Du‹ adressiert wird, ist die Warnung; es ist das Sprecher-Ich, das den Umbruch durch die Ankunft der »härteren Tage« ankündigt und zugleich die sehr konkreten Hinweise gibt, wie das Du sich in dieser Situation der Bedrohung zu verhalten habe. Zugleich scheint die Sprecher-Instanz über die Fähigkeit zu verfügen, die physische und psychische Distanz zum ›Du‹ weitgehend zu überbrücken, jedenfalls sich ihm so weit anzunähern, dass es Beobachtungen wie »Dein Blick spurt im Nebel« oder »Drüben versinkt dir

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die Geliebte im Sand« formulieren kann. Die intensive Beobachtung und Beschreibung des Verhaltens des ›Du‹ durch das Sprecher-Ich lässt Raum für verschiedene Erklärungsansätze. Sprecher und ›Du‹ könnten, vergleichbar den reflektierten Selbstgesprächen des Benn’schen Ich in den Statischen Gedichten, identisch sein. Warnungen und Handlungsanweisungen wären dann sprachliche Rationalisierungen des nur zeichenhaft artikulierbaren Bewusstseins des nahenden Endes nach einer Phase der Ruhe oder der vorläufig aufgeschobenen Auseinandersetzung mit der ›Zeit‹. Zugleich bleibt im Gestus der Warnungen die emotional getönte ›Stimmung‹ formulierbar, die das Ende der Zwischen- oder Ruhephase ankündigt. Die Trennung in SprecherIch und angesprochenes Du deutet so die Gleichzeitigkeit von rationaler und emotionaler Wahrnehmung der Umbruchsituation an. Es gibt aber auch Textstellen, die eine Trennung von Sprecher-Instanz und angesprochenem Du vermuten lassen; der Sprecher oder die Sprecherin hätte dann einen Status der Allwissenheit, was die im Text aufgespannte räumliche und zeitliche Welt, aber auch, was das Du angeht. Dieser Status der Allwissenheit, der eine identifikatorische Einheit zwischen Sprecher-Instanz und Du ebenso erlaubt wie eine Distanzierung, wird im zweiten Abschnitt sichtbar. Der Wechsel der Anrede – das Du wird, als es um Verlust und Tod der Geliebten geht, als ›er‹ apostrophiert – ist in jedem Fall eine Distanzbewegung: Drüben versinkt dir die Geliebte im Sand, er steigt um ihr wehendes Haar, er fällt ihr ins Wort, er befiehlt ihr zu schweigen, er findet sie sterblich und willig dem Abschied nach jeder Umarmung.

Gleich ob man von einer Einheit oder Differenz zwischen Sprecher-Ich und Du ausgeht: In beiden Fällen ist der Verlust der Geliebten eine traumatische Erfahrung und führt zu einer vorübergehenden Distanzierung der SprecherInstanz von dem angesprochenen Du. Der zweite Abschnitt des Textes liefert einen Blick auf das persönliche Leben des Du, das seine Geliebte verliert. Offenbar gehört es zu den Kennzeichen der ›härteren Tage‹, dass auch die Geliebte, das persönlich-individuelle Leben, das vielleicht nur im Strandund Küstenraum möglich war, zerstört wird. Der erzwungene Abschied hat nun zur Folge, dass das bislang empathisch gewarnte ›Du‹ zum männlichen ›Er‹ wird – zu einem ›Er‹, das sich von der Geliebten abwendet, die hinter ihm im Sand versinkt, also offenbar auf der Flucht nicht folgen kann. Das ›Er‹ opfert sein privates Schicksal, die Liebe, angesichts der unausweichlich

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wieder herankommenden Zeit. Das männliche ›Du‹ ergibt sich als ›Er‹ den Konsequenzen einer zeittypischen Entfremdung, die ein Reflex auf den »zeitlichen – geschichtlichen – Vorgang des Finster- und Kaltwerdens«123 ist, den Bachmann im Bildinventar des Naturvorgangs124 als geschichtliche Signatur der Nachkriegszeit gestaltet. Die Distanzierung der Sprecher-Instanz lässt die Diagnose des Aufbruchs ambivalent erscheinen. Die nicht mehr vorhandene Identifikation des synkretistischen Sprecher-Ichs mit dem ›Du‹ macht die Willigkeit, mit der die Geliebte sich dem Schicksal ergibt, fragwürdig – sie existiert nur in der Perspektive des ›Er‹: »[E]r findet sie sterblich«, nimmt also ihre Sterblichkeit wie eine naturgegebene Notwendigkeit in Kauf, ohne den vielleicht möglichen Versuch zu unternehmen, sie zu retten. Stattdessen unterdrückt er ihre Worte – »er fällt ihr ins Wort / er befiehlt ihr zu schweigen« –, wodurch die angeblich ›gefundene‹ Willigkeit, den Tod zu akzeptieren, nur noch prekärer wird. Der Abschied entlarvt die Bereitschaft des »Du«, angesichts der Bedrohung selbst die zentrale emotionale Bindung zu opfern. Die Rückkehr zur stärker identifikatorischen ›Du‹-Anrede im dritten Abschnitt ist auch vom Nachklang dieser Ambivalenz geprägt. Sieh dich nicht um. Schnür deinen Schuh. Jag die Hunde zurück. Wirf die Fische ins Meer. Lösch die Lupinen! Es kommen härtere Tage.

Angesichts der Bedrohung durch die katastrophische ›neue‹ Zeit und der bewusst in Kauf genommenen, ja alternativlos umgesetzten Zerstörung des persönlich-individuellen Lebens – sichtbar in der Aufgabe der Geliebten – wird die Tragweite der nunmehr in lakonischer Härte vorgebrachten Aufforderungen deutlich. Die Warnungen haben sich in Befehle verwandelt, vor deren Dringlichkeit der Verlust des schemenhaft angedeuteten individuellen Lebens – Liebe, Heim, Sicherheit, Kultivierung des Landes, vielleicht sogar eine Art religiöse Dimension, wenn man die mythologische Schicht des Bildes der Fische mitdenkt125 – bedeutungslos wird. Das Sprecher-Ich kehrt zu123 124 125

Höller, Ingeborg Bachmann, das Werk, S. 23. Ebd., S. 22. So Christian Schärf, der vermutet, es handle sich nicht um »reale[ ] Fische, sondern symbolische Fische, christliche Fische vielleicht, tote Zeugen eines Glaubens, der abgekühlt und wertlos geworden ist […]«; vgl. Christian Schärf, »Die gestundete Zeit«, in: Interpretationen. Werke von Ingeborg Bachmann, Mathias Mayer (Hrsg.), Stuttgart 2002, S. 28–42, hier S. 34.

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rück zu seiner ›Du‹-Anrede, wobei nun die Distanz wieder zusehends aufgehoben wird, was schließlich sogar eine Identifizierung von Ich und Du möglich macht. Vor diesem Hintergrund ist auch innerhalb der vieldeutigen Redeordnungen des Gedichts eine Öffnung zu einer möglichen Leserperspektive denkbar. Insofern kann Höller von einer in der Gestundeten Zeit »noch […] unbefragte[n] ›Ich-Union‹« sprechen, »die das sprechende Ich und den angesprochenen Leser genauso umfaßt wie lyrisches Ich, DichterIch und gesellschaftlich-moralisches Über-Ich«.126 Für Höller ist dieser Synkretismus der textinternen und textexternen Kommunikationsinstanzen Voraussetzung einer Lesart der Bachmann’schen Lyrik, die »von der Geschichte ausgeht«.127 Im Gegensatz zum bis weit in die 1970er Jahre vorherrschenden Verständnis, das vom »Vorurteil zeitlos schöner Sprachform, von Weltentrücktheit und Geschichtsenthobenheit«128 gekennzeichnet war, arbeitet Höller »die geschichtliche Gestalt der Bilder und sprachlichen Gesten«129 heraus, die Bachmanns Lyrik ausmachen. Wenn man den geschichtlichen Charakter als basale Dimension von Bachmanns Lyrik sieht, dann lassen sich mit Blick vor allem auf die frühen Gedichte und auf Die gestundete Zeit wenigstens zwei darüber gelagerte Bild- und Sprachdimensionen identifizieren: Einmal eine existentielle Grundsituation der Bedrohtheit, die in den Zeitstrukturen der Texte zum Ausdruck kommt; zum anderen eine Dimension, die oftmals die Gestalt mythologischer Metaphorik annimmt und damit die existentielle Grundsituation intensiviert oder auch verwischt. Die Überblendung der beiden Bilddimensionen ist konstitutiv für Bachmanns Lyrik; entscheidend ist dabei die Unmöglichkeit, eine der beiden Ebenen als Referenzrahmen festzulegen. Die in den Text eingelagerte Ambivalenz, die vor allem in den räumlichen und zeitlichen Markierungen der beiden Bilddimensionen sichtbar wird, führt zu jener Struktur der »Ortlosigkeit bzw. Unbestimmtheit der Verortung als kollektives Zeitschicksal«,130 die Sigrid Weigel bereits an den frühen Gedichten der Wiener Zeit aufgezeigt hat. Die »spezifische Metaphorik« von Bachmanns Texten ist auch für die ›Erfolgsdichtung‹131 der Gestundeten Zeit verantwortlich. Verfolgt werden kann das vor allem in der gezielten Aufhebung zeitlicher und räumlicher Sicherheiten in »Menschenlos«:132 126 127 128 129 130 131 132

Höller, Ingeborg Bachmann, das Werk, S. 44. Ebd., S. 13. Ebd. Ebd. Weigel, Bachmann, S. 240. Ebd., S. 237. Ingeborg Bachmann, »Menschenlos«, in: Dies., Werke 1, S. 19.

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Verwunschnes Wolkenschloß, in dem wir treiben … Wer weiß, ob wir nicht schon durch viele Himmel so ziehen mit verglasten Augen? Wir, in die Zeit verbannt und aus dem Raum gestoßen, wir, Flieger durch die Nacht und Bodenlose.

Die Zweifel an der kognitiven Verbindlichkeit der Wahrnehmungen der Wirklichkeit, die einem »[v]erwunschne[n] Wolkenschloß« gleicht, gipfeln in dem Schluss, dass das kollektive Sprecher-›Wir‹ zugleich »aus dem Raum gestoßen« und »in die Zeit verbannt« ist. Der Verlust der räumlichen Sicherheit und damit der Orientierungsmöglichkeiten im Raum ist gekoppelt an die Vorstellung der Verbannung in die Zeit – nach Weigel also der »Verbannung aus der Gemeinschaft der Menschen als historischer Subjekte, die für ihren Ort in der Zeit selbst verantwortlich wären«.133 Der Zwang, sich in der Zeit, in einer bestimmten, historisch determinierten Zeit zu bewegen, ist dafür verantwortlich, dass eine autonome Situierung im Raum, eine Positionierung, von der aus das Leben selbstverantwortlich gestaltet werden kann, unmöglich geworden ist. Stattdessen bleibt die Vermutung einer generationenübergreifenden, die Handlungs- und Entscheidungsfähigkeit des Individuums übersteigenden Schuld: Wer weiß, ob wir nicht schon um Gott geflogen, weil wir pfeilschnell schäumten, ohne ihn zu sehen und unsre Samen weiterschleuderten, um in noch dunkleren Geschlechtern fortzuleben, jetzt schuldhaft treiben? Wer weiß, ob wir nicht schon lange sterben?

Aus dieser »Genealogie eines immerwährenden, sich fortzeugenden Schuldzusammenhangs«, so Weigel, »[begründet] sich eine Stellung außerhalb der Menschheit und der Sprache, außerhalb des Symbolischen oder eines sozialen Raums«.134 In »Beweis zu nichts«135 sieht Weigel diesen spezifisch zeitgebundenen, durch die Geschichte geradezu erzwungenen Raum einmal mehr umschrieben, der von der Eliminierung aller räumlichen Sicherheiten geprägt ist: Weißt du, Mutter, wenn die Breiten und Längen den Ort nicht nennen, daß deine Kinder aus dem dunklen Winkel der Welt dir winken? 133 134 135

Weigel, Bachmann, S. 238. Ebd. Ingeborg Bachmann, »Beweis zu nichts«, in: Dies., Werke 1, S. 25.

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Bachmann schafft in den frühen Gedichten die Koordinaten für ihre Thematisierung der historischen Situation der Nachkriegszeit. Die Auflösung topographischer Fixierungen steht dabei in engem Zusammenhang mit der Diagnose einer historischen Zeit, die von Schuld und Katastrophen geprägt ist. Freilich gerät in diesem »Leben im ›dunklen Winkel‹ und außerhalb der Geographie«, wie Weigel anmerkt, »auch die Thematisierung von Vernichtung nicht zufällig völlig unspezifisch«:136 […] Vom Lot abwärts geführt; nicht in Richtung des Himmels, fördern wir Dinge zutage, in denen Vernichtung wohnt […]

Sowohl die Fähigkeit zur Thematisierung der Geschichte als auch die Entwicklung einer Metaphorik, die »den Bezug auf die jüngsten geschichtlichen Erfahrungen« nicht ausspart, »sondern diese in eine überhistorische, von Zeichen des Katastrophischen und der Vernichtung entstellte Bildlandschaft« aufhebt,137 entwickelt Bachmann somit bereits in den frühen Gedichten. Die ambivalente Gleichzeitigkeit der existentiellen und der mythologischen Dimension wird mit diesen Bildlandschaften der topographischen Unbestimmtheit und des Abschieds gekoppelt und so in die Diagnose einer Zeitstimmung überführt, die in der »grammatische[n] Gestik des ›noch‹ und ›schon‹«, in den »Bildfelder[n] der gestundeten Zeit oder der in die Zukunft sich verlängernden Katastrophe«138 konkretisiert wird. Weigel resümiert diesen Stil der frühen Gedichte Bachmanns, der dann in der Gestundeten Zeit weitergeführt wird, folgendermaßen: Die Gedichte Bachmanns weichen der historischen Erfahrung des Jüngstvergangenen nicht aus, das macht ihren vielbesprochenen direkten und harten Klang aus, sie schreiben die Leid- und Zerstörungsbilder zugleich aber in einen Ewigkeitszusammenhang ein. Auf diese Weise bringen sie eine kollektive Nachkriegsmentalität zum Ausdruck […].139

Bachmanns frühe Lyrik ist gekennzeichnet von der Simultaneität einer intensiven rhetorisch-performativen und einer metaphorisch vieldeutigen semantischen Gestaltung des Geschichtsbezugs. Dass dieser geschichtliche und politische Bezug lange übersehen wurde, ist in der neueren Bachmann-Forschung immer wieder Anlass zur Überraschung. »Die so offensichtliche politische Dimension von Bachmanns erstem Gedichtband wurde die längste Zeit weder von der Zeitungskritik noch von der literaturwissenschaftlichen 136 137 138 139

Weigel, Bachmann, S. 239. Ebd., S. 237. Hans Höller, »Die gestundete Zeit«, in: Bachmann-Handbuch, S. 57–67, hier S. 62. Weigel, Bachmann, S. 237.

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Forschung wahrgenommen […].«140 Die existentialistisch-überzeitlich getönten Deutungen der Zeitgenossen sind, so inadäquat sie heute scheinen mögen, aus dem Horizont der späten 40er und der 50er Jahre nachvollziehbar. Bachmanns metaphorische Diskursivierung der historisch-politischen Wirklichkeit bewegt sich im Debattenrahmen der Moderne als überhistorischer Krisen- und Verfallszustand, in dem der ›unbehauste Mensch‹ jede existentielle Orientierung verloren hat. Lässt man die semantische Ebene ihrer Texte dominieren, dann liegt eine solche existentielle Lektüre nahe. Auch hier ist die Stimme des Kritikers und Literaturwissenschaftlers Holthusen repräsentativ: »Unter den Leitmotiven, die das bisher vorliegende lyrische Werk beherrschen, ist die Frage nach der Aussprechbarkeit der Welt und des In-der-Welt-Seins vielleicht das dringendste, jedenfalls das grundlegende.«141 Eine solche Betonung der ahistorisch-existentialistischen Momente ist nur möglich, wenn man die performative Dimension, die diese Texte beanspruchen, unterprivilegiert. Denn genau darin, in der Betonung des Sprech- und Redegestus, heben sich Bachmanns Texte ab von denen der Zeitgenossen. Weder die immer ›hermetischeren‹ Erkundungen einer zusehends undurchdringlichen Zeichenwelt bei den Nachkommen der Naturlyriker noch der postulierte ästhetische Zauber virtuoser Metaphernspiele sind für sie ein Weg. Auch das Modell von Benns kulturkritischer Reflexionslyrik der Statischen Gedichte taugt für Bachmann nicht. Am nächsten stehen ihrem Anspruch, die Semantik der Gedichte auf die Basis ebenso dringlicher wie eindeutiger Redegesten zu stellen, noch die Brecht’schen Vorstellungen vom Gebrauchswert der Lyrik. Insofern ist es kein Zufall, dass sie ihre ›grammatische Gestik‹ nach der Rhetorik in Brechts Lesebuch für Städtebewohner modelliert. Gemeinsam ist beiden Texten die Entfremdungserfahrung, wobei freilich, wie Hans Höller herausgearbeitet hat, »die Gedichte Ingeborg Bachmanns in Die gestundete Zeit stärker unmittelbar zeitgeschichtlich bestimmt«142 sind: Denn »[a]nders als der Ausdruck allgemeiner Entfremdung in der kapitalistischen Welt ist ihr unverwechselbarer Ausdrucksbereich von einem konkreten, unwiederbringlichen geschichtlichen Moment geformt«.143 Bachmann reintegriert den zentralen, performativ gedachten Aspekt der Brecht’schen Poetik in den bislang von semantisch-diskursiv aus-

140 141

142 143

Höller, »Die gestundete Zeit«, S. 57. Hans Egon Holthusen, »Kämpfender Sprachgeist. Die Lyrik Ingeborg Bachmanns«, in: Ders., Das Schöne und das Wahre. Neue Studien zur modernen Literatur, München 1958, S. 246–276. Höller, Ingeborg Bachmann, das Werk, S. 23. Ebd.

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gerichteten Poetiken dominierten Kontext der Nachkriegsmoderne. Allerdings ist es eben die Konzentration und Fixierung der Zeitgenossen auf die Ebenen von Sinn und Bedeutung, die Bachmanns eigentümliche Semantisierung des Performativen in den Hintergrund treten lässt. Die Wahrnehmung der geschichtlichen Dimension also wird in Gedichten wie »Die gestundete Zeit« oder »Ausfahrt« über den Weg von Performanz und Sprechgestus sichtbar. Das bedeutet freilich nicht, dass Bachmann ihre Poetik der Historisierung nicht in anderen Texten auch explizit thematisieren würde. Das geschieht etwa in »Früher Mittag«.144 Hier werden unter kontrafaktischer Verwendung der Bildsprache des Volkslieds die Spuren von Krieg und Holocaust erkundet. Schon im ersten Abschnitt erscheint die romantisch getönte Topographie mit Linde und Brunnen subvertiert von den Überbleibseln der noch nicht lange zurückliegenden Zerstörung: Still grünt die Linde im eröffneten Sommer, weit aus den Städten gerückt, flirrt der mattglänzende Tagmond. Schon ist Mittag, schon regt sich im Brunnen der Strahl, schon hebt sich unter den Scherben des Märchenvogels geschundener Flügel, und die vom Steinwurf entstellte Hand sinkt ins erwachende Korn.

Die Zerstörung wird mit Bildern aus der deutschen Liedtradition vorgeführt und dann im nächsten Abschnitt erweitert um eine Metaphorik der Dunkelheit und des Todes; »Deutschlands Erde« kontaminiert auch den Himmel, die Dimension des Widerstandes und der Sprache; die Fähigkeit zu menschlichem Fühlen ist buchstäblich zu Bruch gegangen: Wo Deutschlands Himmel die Erde schwärzt, sucht sein enthaupteter Engel ein Grab für den Haß und reicht dir die Schüssel des Herzens.

Freilich wird neben der expliziten Benennung der geschichtlichen Katastrophe auch die Möglichkeit eines Weges angedeutet, der in der Zeit danach beschritten werden kann. Der »enthauptete Engel« eröffnet dem Einzelnen einen Handlungsspielraum, in dem Hass, Zerstörung und vor allem dem Vergessen »[s]ieben Jahre später« die Sprache entgegengesetzt werden kann – eine Sprache, die immer nur punktuell aufscheint vor dem ›Unsäglichen‹ des »apokalyptischen Unheils«.145 144 145

Ingeborg Bachmann, »Früher Mittag«, in: Dies., Werke 1, S. 44f. Höller, Ingeborg Bachmann, das Werk, S. 25.

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Wo Deutschlands Erde den Himmel schwärzt, sucht die Wolke nach Worten und füllt den Krater mit Schweigen, eh sie der Sommer im schütteren vernimmt. Das Unsägliche geht, leise gesagt, übers Land: schon ist Mittag.

Die Vorstellung, dass Worte dem ›Unsäglichen‹ gerecht werden können, ergibt sich in »Früher Mittag« eher aus der argumentativen Struktur des Gedichts. Anders als in »Die gestundete Zeit« beruht der Text nicht auf einer Kombination aus performativer Dringlichkeit und existentiell-mythischer Metaphorik. Hier geht es darum, anhand der Kontamination der romantisch-lyrischen Tradition und damit im Medium der Sprache die Möglichkeiten einer ethischen Dimension zu eröffnen, in der die moralisch-emotionalen Zerstörungen des Nationalsozialismus thematisiert werden. Natürlich lässt diese historische Wirklichkeit »keine ungebrochene Naturmetaphorik mehr zu wie […] in dem paradigmatisch für romantische Lyriktradition herbeizitierten Lindenbaum«,146 sondern verlangt nach einer ›neuen‹ Sprache. Bachmanns Version dieser neuen Sprache, in der sich gestische Dringlichkeit mit einer offen-vieldeutigen Bildsprache verbindet, sind die Gedichte aus der Gestundeten Zeit. In der zeitlich genau konkretisierten Sprechersituation in »Früher Mittag« – sieben Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg, 1952, wird auch der Nachkriegsaspekt in Bachmanns geschichtlich grundierter Lyrik sichtbar. Sieben Jahre später fällt es dir wieder ein, am Brunnen vor dem Tore, blick nicht zu tief hinein, die Augen gehen dir über. Sieben Jahre später, in einem Totenhaus, trinken die Henker von gestern den goldenen Becher aus. Die Augen täten dir sinken.

Es geht nicht nur um die Geschichte, um Krieg und Holocaust, sondern auch um die restaurative Gegenwart, in der die unmittelbare Vergangenheit ebenso präsent wie verdrängt ist. Anstatt dieses ›Totenhaus‹ wahrzunehmen, bewegen sich die »Henker von gestern« weiterhin in der kontaminierten Logik einer märchenhaft-romantisch konnotierten Gedicht-Sprache aus Vorkriegszeiten. In der Leitformel »schon ist Mittag« deutet sich die prekäre Be146

Bartsch, Ingeborg Bachmann, S. 54.

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drohtheit der Gegenwart an. In »Alle Tage«147 wird sie als kontinuierliche Bedrohung einer nur der militärischen Logik gehorchenden Zeit gestaltet, die nach einer kurzen, ›gestundeten‹ Zwischenzeit in der Gegenwart des Kalten Krieges erneut beherrschend geworden ist. Hier wird mit dem »armselige[n] Stern / der Hoffnung« auch der für Bachmann so wichtige Aspekt einer »heroische[n] Politik des Widerstands« eingeführt, dessen Haltung »an den französischen Existentialismus als die Philosophie der résistance denken läßt«.148 Allerdings ist Bachmanns Gestik des Widerspruchs ein Versuch, sprachlich den Ort einer neuen, »in einem weiten Sinn auch politischen Ethik«149 zu besetzen. Bachmann formuliert den Widerstand gegen eine schleichende Perpetuierung der militärischen Logik. Der Krieg wird nicht mehr erklärt, sondern fortgesetzt. Das Unerhörte ist alltäglich geworden. Der Held bleibt den Kämpfen fern. Der Schwache ist in die Feuerzonen gerückt. Die Uniform des Tages ist die Geduld, die Auszeichnung der armselige Stern der Hoffnung über dem Herzen. Er wird verliehen, wenn nichts mehr geschieht, wenn das Trommelfeuer verstummt, wenn der Feind unsichtbar geworden ist und der Schatten ewiger Rüstung den Himmel bedeckt. Er wird verliehen für die Flucht von den Fahnen, für die Tapferkeit vor dem Freund, für den Verrat unwürdiger Geheimnisse und die Nichtachtung jeglichen Befehls.

Die Logik dieses Widerstands ist eine sprachlich konstituierte Anti-Logik: Militärisch sinnloses und arationales Verhalten wird, ganz im Stil der traumhaften Umdeutungen der nationalsozialistischen Sprachwirklichkeit, die Ilse Aichingers Roman Die größere Hoffnung beherrschen, im ersten Abschnitt konstruiert.150 Diese sprachlich errungene Ethik ist Grundlage des weite147 148 149

150

Ingeborg Bachmann, »Alle Tage«, in: Dies., Werke 1, S. 46. Höller, »Die gestundete Zeit«, S. 61. Dieter Lamping, »Wir leben in einer politischen Welt«. Lyrik und Politik seit 1945, Göttingen 2008, S. 36. Zu den Aichinger-Bezügen vgl. Höller, »Die gestundete Zeit«, S. 60f.

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ren Gedankengangs, in dem die »heroische Position des einsamen Widerstands«151 ausformuliert wird. Bachmanns Lyrik hat hier die charakteristische Verschränkung einer Suche nach dem nur sprachlich erreichbaren, utopischen Ort und dem ethischen Anspruch erreicht, die in den Frankfurter Vorlesungen poetologisch hergeleitet wurde. Diese Verschränkung von Sprache und Ethik wird in Bachmanns zweitem Gedichtband, der Anrufung des großen Bären, mit der oft beschriebenen Verschiebung ins Subjektive fortgeführt. Bachmanns Interesse verlagert sich nun von der primären Thematisierung der Geschichte auf die Suche nach dem individuellen, sprachlich zu erkundenden Ort, von dem aus ein – nun auch autobiographisches Ich – sich artikulieren kann.152 Die Neukonstituierung des Bildraums der Texte ist fassbarer, als es die metaphorischen Landschaften der Gestundeten Zeit waren. Die zyklische Struktur des in vier Teile gegliederten Bandes ist programmatisch in den vier Gedichten des ersten Teils exponiert. Sie führt über die Kindheitslandschaften in »Das Spiel ist aus« und den Aufbruch aus der Heimat in »Von einem Land, einem Fluß und den Seen« zur Erkenntnis der Bedrohung durch Ideologien in der »Anrufung des großen Bären« und der Reflexion über die Widerstandskraft der dichterischen Sprache in »Mein Vogel«.153 Auf diesem Weg des Widerstands erkundet das Ich in einem Prozess der »Landnahme« die neuen Topographien des »erstgeborene[n] Land[es]« Italien, darunter auch Neapel, das in den »Lieder[n] auf der Flucht«, dem letzten Teil des Bandes, im Mittelpunkt steht. Die metaphorische Dimension der konkreten Räume hat einen anderen Stellenwert als in der Gestundeten Zeit: »War die poetische Landschaft der früheren Gedichte zunächst aus Orten gebildet, die keine Realreferenz beanspruchen, so sind jene Orte nunmehr durch die Sprache selbst – als der Ort metaphorischer Behausung – abgelöst.«154 Vollzogen wird diese Versprachlichung einer zunächst räumlichen Realreferenz über die Integration sprach-, literatur- und kulturgeschichtlicher Erinnerung in die Texte; was so entsteht, sind textuell konstituierte Sprachräume. Eben deshalb geht bei dieser Suche des Ich nach einem poetisch-sprachlichen Raum die geschichtliche Grundierung nicht verloren. Vielmehr wird Geschichtlichkeit nun auch sprachlich reflektiert.

151 152

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154

Ebd., S. 61. Vgl. Marion Schmaus, »Anrufung des Großen Bären und Gedichte aus dem Umfeld«, in: Bachmann-Handbuch, S. 68–71. Vgl. ebd., S. 69 und Bartsch, Ingeborg Bachmann, S. 62. Zu »Mein Vogel« vgl. ausführlich Höller, Ingeborg Bachmann, das Werk, S. 44–50. Weigel, Bachmann, S. 242.

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Dass die Suche nach Sprachräumen weiterhin vor dem Hintergrund der Bedrohung des Einzelnen durch die Geschichte erfolgt, ist im Titelgedicht »Anrufung des großen Bären«155 erkennbar. Die annähernd gleichzeitige Sendung des Radio-Essays über Simone Weil,156 in dem Weils Adaptation des platonischen Begriffs des ›Großen Tiers‹ für »alles, was Macht ausübt und Macht ausgeübt hat«,157 und damit für politische und ideologische Totalitarismen ausführlich erläutert wird, ist Grundlage der gängigen Lesart des Textes als Reflexion über die »Bedrohung durch Ideologien, die allesamt zu totalitärer Vereinnnahmung, Verfügbarkeit und Minderwertung des Menschen neigen«.158 Im ersten Abschnitt werden das Misstrauen und die Wachsamkeit eines kollektiven menschlichen ›Wir‹ gegen die zeitweise erschöpft wirkende Macht des Bären thematisiert: Großer Bär, komm herab, zottige Nacht; Wolkenpelztier mit den alten Augen, Sternenaugen, durch das Dickicht brechen schimmernd deine Pfoten mit den Krallen, Sternenkrallen, wachsam halten wir die Herden, doch gebannt von dir, und mißtrauen deinen müden Flanken und den scharfen halbentblößten Zähnen, alter Bär.

Das Bild des ›großen Bären‹ ist vieldeutig; es wurde in mythologischer und theologischer Ausrichtung erschlossen,159 eröffnet aber auch unübersehbare Zeitbezüge zur politischen Situation der 50er Jahre. Tatsächlich beachten neuere Lesarten diesen Hintergrund, betonen jedoch die »umfassender[e] und weitreichender[e] [Resonanz]«160 des Bildes. Verraten die »alten Augen / Sternenaugen« eine Faszination, dann weisen die »scharfen / halbentblößten

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Ingeborg Bachmann, »Anrufung des großen Bären«, in: Dies., Werke 1, S. 95f. Ingeborg Bachmann, »Das Unglück und die Gottesliebe – Der Weg Simone Weils«, in: Dies., Werke 4, S. 128–155; vgl. auch S. 378. Ebd., S. 149. Bartsch, Ingeborg Bachmann, S. 66. Zur Forschungslage vgl. Schmaus, »Anrufung des Großen Bären«, S. 71 sowie Höller, Ingeborg Bachmann, das Werk, S. 58f. Vgl. Maria Teresa Mandalari, »Ein Dialog mit der Macht: Ingeborg Bachmanns Anrufung des großen Bären«, in: Primus-Heinz Kucher/Luigi Reitani (Hrsg.), »In die Mulde meiner Stummheit leg ein Wort …«. Interpretationen zur Lyrik Ingeborg Bachmanns, Wien, Köln, Weimar 2000, S. 164–171, hier S. 169.

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Zähne« auf die Gefahr hin, die von ihm ausgehen kann. Die Wachsamkeit des ›Wir‹ wird bestätigt von der Stimme des Bären im zweiten Abschnitt: Ein Zapfen: eure Welt. Ihr: die Schuppen dran. Ich reib sie, roll sie Von den Tannen im Anfang Zu den Tannen am Ende, schnaub sie an, prüf sie im Maul und pack zu mit den Tatzen.

Die Menschen sind für den Bären unbedeutend wie die Schuppen an einem Tannenzapfen; er spricht »als außerweltliche Macht, der der Mensch nichts gilt, als zynisches Jenseits von Gut und Böse«.161 Angesichts der Macht von Glaubensgebäuden oder Ideologien ist die Welt wehrlos. Durch die Variation des Bibelworts zu Beginn des dritten Abschnitts wird eine geschichtliche Dimension eröffnet, die das Gedicht als eine Kontrafaktur der Heilsgeschichte im Lichte zerstörerischer Ideologien lesbar macht: Fürchtet euch oder fürchtet euch nicht! Zahlt in den Klingelbeutel und gebt dem blinden Mann ein gutes Wort, daß er den Bären an der Leine hält. Und würzt die Lämmer gut.

Zugleich findet eine Transformation des Sprechers statt: Das kollektive Wir des ersten Abschnitts weicht nun einem individualisierten Sprecher, der die Transformation des mythisch bedrohlichen Bären in einen Tanzbären skeptisch kommentiert. So ist die Aufforderung, in den Klingelbeutel zu zahlen, ein zynischer Kommentar über die angebliche Verwandlung des Bären, denn der »blinde[ ] Mann« – Parodie auf den diesseitigen Verwalter eines den Menschen schützenden und bewahrenden Gottesbildes – wird nicht fähig sein, den scheinbar harmlosen Bären »an der Leine« zu halten und die »Lämmer« vor ihm zu schützen. Die nicht kontrollierbare Entfesselbarkeit der zerstörerischen Seite von Ideologien ist auch durch die »säkulare Domestizierung«162 nicht aufzuhalten. ’s könnt sein, daß dieser Bär sich losreißt, nicht mehr droht und alle Zapfen jagt, die von den Tannen gefallen sind, den großen, geflügelten, die aus dem Paradiese stürzten.

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Höller, Ingeborg Bachmann, das Werk, S. 61. Ebd.

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Das Bild der Zerstörung verweist auf das mögliche rasche Ende der Friedenszeit, in der die Zerstörungsmacht des Bären nur scheinbar suspendiert ist. Bachmann selbst hat das Gedicht als »eine lyrische Variante von Nietzsches ›Gott ist tot‹« bezeichnet.163 Die Geschichte, nun in Form einer immerfort bedrohlichen Geschichtsphilosophie der Gewalt, die von verführerischen, scheinbar transzendenten und angeblich domestizierten »Wolkenpelztier[en]« ausgeht, ist weiterhin Motivation für die Suche des Ich nach den Räumen, in denen die Dichtung den Gefahren einer nur vermeintlich überwundenen, ideologisch motivierten Gewalt begegnen kann. Freilich wird der zeitgeschichtliche Horizont, der in der Gestundeten Zeit im Vordergrund steht, überformt von Bildern einer »unabweisbare[n] Nacht- und Schreckseite der Welt«, wie Hans Höller formuliert; er sieht »hier eine Zone von Tod und Untergang, die von der geschichtlichen Erklärung nicht mehr erreicht werden kann, weil ihr die Gedichte keinen menschlichen Sinn zu verleihen bereit sind«.164 In den geschichtlichen und zugleich die Geschichte sprachlich überbietenden Landschaften aus der Anrufung des großen Bären spielt deshalb die individuelle Wahrnehmung des dichterisch-autobiographischen Ich eine entscheidende Rolle. Es sind subjektiv erweiterte Topographien – »Sprachland«165 war Bachmanns Bezeichnung dafür. Schon im Eingangsgedicht »Das Spiel ist aus«166 wird der »Einbruch der Geschichte in die kindlichen Wunschländer«167 thematisiert. Die Phantasien von Abenteuer und Märchenwelten sind bereits in der ersten Strophe bedroht. So ist die Vorstellung, mit dem Floß »den Himmel hinunter« zu fahren, nur im alogischen, keinem Naturgesetz unterworfenen Spiel möglich; und ebendiese Vorstellung aus einer Kindheitswirklichkeit wird unterminiert, indem die Wirklichkeit des Erwachsenwerdens mit den Zwängen der Naturgesetze überkreuzt wird. Mein lieber Bruder, wann bauen wir uns ein Floß und fahren den Himmel hinunter? Mein lieber Bruder, bald ist die Fracht zu groß und wir gehen unter.

Wenn die Fracht zu groß ist, die Kinder sich zu sehr dem Erwachsensein angenähert haben und zu schwer sind, sind die jede Realität übersteigenden und beherrschenden Illusionen der Kindheit nicht mehr aufrechtzuerhalten; 163 164 165 166 167

Bachmann, Gespräche und Interviews, S. 33. Höller, Ingeborg Bachmann, das Werk, S. 63. Bachmann, Gespräche und Interviews, S. 33. Ingeborg Bachmann, »Das Spiel ist aus«, in: Dies., Werke 1, S. 82f. Schmaus, »Anrufung des Großen Bären«, S. 74f.

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das Spiel ist dann nicht mehr möglich. In »Das Spiel ist aus« werden diese Kindheitswelten und ihre Brüchigkeit thematisiert. Die dritte Strophe, die mit Wildwest- und Karl-May-Versatzstücken arbeitet, führt ein Beispiel für die Einheit der Kindheitswelt vor: Mein lieber Bruder, dann will ich an den Pfahl gebunden sein und schreien. Doch du reitest schon aus dem Totental und wir fliehen zu zweien.

In der fünften Strophe hingegen wird das Schlaraffenland-Märchen bereits wieder als scheinhaft und nicht real markiert: Laß dich von listigen Raben, von klebriger Spinnenhand und der Feder im Strauch nicht betrügen; iß und trink auch nicht im Schlaraffenland, es schäumt Schein in den Pfannen und Krügen.

In den letzten beiden Strophen schließlich wird das eingangs angedeutete Ende der Kinderzeit vorgeführt. Sie sind lesbar als Inszenierung des geschlechtlichen Erwachsenwerdens, das vor allem mit der Erotisierung der Anrede – »Liebster« –, aber auch im Vers »dein Herzblatt sinkt auf mein Siegel« angedeutet ist. Es ist eine schöne Zeit, wenn der Dattelkern keimt! Jeder, der fällt, hat Flügel. Roter Fingerhut ist’s, der den Armen das Leichentuch säumt, und dein Herzblatt sinkt auf mein Siegel. Wir müssen schlafen gehen, Liebster, das Spiel ist aus. Auf Zehenspitzen. Die weißen Hemden bauschen. Vater und Mutter sagen, es geistert im Haus, wenn wir den Atem tauschen.

Dass dieser elegisch inszenierte Verlust der Kindheit im Prozess des Erwachsenwerdens mit der Entdeckung der geschlechtlichen Identität verknüpft ist, ist kein Zufall. Vielmehr ist die im ersten Gedicht des Bandes sprachlich vorgeführte Differenz der Geschlechterrollen vor dem Hintergrund der kindlichen Spiele eine programmatische Geste. Die Suche des Ich nach Räumen, in denen seine sprachliche Identität realisiert werden kann, zieht auch den »bewußten Umgang[ ] mit männlichen und weiblichen Rollen«168 nach sich. Wenn in »Das Spiel ist aus« der Verlust der Kindheitslandschaften und der damit verbundenen kindlichen, außerhalb der zeitlichen und geschichtlichen 168

Höller, Ingeborg Bachmann, das Werk, S. 43.

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Welt stehenden Identität im Mittelpunkt steht, dann wird in »Landnahme«169 explizit der Wille des Ich zum Ausdruck gebracht, in Analogie zu diesen Kindheitswelten eine Landschaft mit den eigenen »Klängen / ganz zu erfüllen« und sich so sprachlich anzueignen. »Landnahme« ist ein Beispiel für die poetologische Programmatik der sprachlichen Topographien, die Bachmann in Anrufung des großen Bären entwickelt. Ins Weideland kam ich, als es schon Nacht war, in den Wiesen die Narben witternd und den Wind, eh er sich regte. Die Liebe graste nicht mehr, die Glocken waren verhallt und die Büschel verhärmt. Ein Horn stak im Land vom Leittier verrannt, ins Dunkel gerammt. Aus der Erde zog ich’s, zum Himmel hob ich’s mit ganzer Kraft. Um dieses Land mit Klängen ganz zu erfüllen, stieß ich ins Horn, willens im kommenden Wind unter den wehenden Halmen jeder Herkunft zu leben!

In »Landnahme« wird, wie Marion Schmaus formulierte, die »Geschichtlichkeit des Natürlichen […]«170 gezeigt. Im ersten Abschnitt evoziert ein Ich seine Ankunft in einem idyllischen ›Weideland‹, allerdings wird die idyllische Szenerie »als das Zuende-Gegangene erinnert, als Nicht-Mehr«.171 Verantwortlich für den Verlust der Idylle ist das Fehlen der Liebe, die »nicht mehr [graste]«.172 Das Ich nimmt den verlorenen Naturzustand wahr – es ›wittert‹ »in den Wiesen die Narben« – und erkennt die Zerstörung; die Vorstellung einer ›arkadischen‹ Hirten-Idylle ist nicht mehr rekonstruierbar; das Land ist, wie Hans Höller mit Bezug auf »Reklame«173 dargelegt hat, von der 169 170 171

172 173

Ingeborg Bachmann, »Das Spiel ist aus«, S. 98. Schmaus, »Anrufung des Großen Bäreni«, S. 75. Hans Höller, »Geschichtsbewusstsein und moderne Lyrik. Zu einigen Gedichten von Ingeborg Bachmann«, in: Literatur und Kritik 115/1971, S. 291–308, hier S. 305. Vgl. Bartsch, Ingeborg Bachmann, S. 68. Ingeborg Bachmann, »Reklame«, in: Dies., Werke 1, S. 114.

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›Totenstille‹ zivilisatorisch »entfremdete[r] Verhältnisse« beherrscht.174 Allerdings ist der Mensch nun »dem Lebenszusammenhang der Natur einverleibt«175 und verfügt nicht nur über die Fähigkeit, eine zukünftige Wiederbelebung zu erahnen – »den Wind, eh er sich regte« –, sondern kann auch den Natur-Raum als Teil des menschlichen Lebens wiederbeleben. Denn Mensch und Natur befinden sich in einer Wechselbeziehung, nicht im Zustand der Getrenntheit: »Naturalisiert werden das menschliche Ich und die menschlichste Lebensäußerung zwischen Menschen, die Liebe. Und humanisiert wird die Natur, das, was gemeinhin als das vom Menschen Getrennte, ihm Entgegengesetzte gilt.«176 Das ›Horn‹ im zweiten Abschnitt ist ein Indiz für die Möglichkeit, sich den Raum sprachlich anzuverwandeln und mit dem Himmel zu verbinden. Allerdings ist dazu die »ganze[ ] Kraft« des menschlichen Ich erforderlich. Nur dann ist die Erzeugung einer neuen Wirklichkeit im vierten Abschnitt möglich. Das Land wird nicht in den ursprünglichen Zustand idyllischer Naturnähe zurückversetzt, sondern es geht darum, den Raum mit »Klängen / ganz zu erfüllen«, die vom Ich erzeugt werden. Ein menschliches Ich als Teil der Natur soll unter Aufwendung seiner »ganzen Kraft« »aus dem Boden der vorgegebenen Wirklichkeit heraus[ ]arbeiten, was an Möglichkeiten in ihm angelegt ist […]. Es geht nicht […] um den Menschen in seiner geschichtlichen Selbstverwirklichung.«177 Der Akt der Wiederbelebung und aktiven Anverwandlung einer ehemals idyllisch-außergeschichtlichen Landschaft in die eigene Wirklichkeitswahrnehmung erzeugt auch das Vermögen, sich in zukünftigen geschichtlichen Entwicklungen – »im kommenden Wind« –, wie auch immer sie aussehen, behaupten zu können. So wird in »Landnahme« die Aneignung eines Naturraumes durch subjektive, menschlich-sprachliche Intervention thematisiert und damit das Programm für die sprachliche Aneignung der südlichen Topographien formuliert.178 Die Figuration einer Neuschaffung des Landes durch dichterische Sprache findet sich folgerichtig ausgestaltet in den Italien-Gedichten aus der Anrufung des großen Bären. In »Das erstgeborene Land«,179 darauf hat Ariane Huml hingewiesen, geht es nicht so sehr »um die Wiedergeburt des Dichters

174 175 176 177 178

179

Höller, »Geschichtsbewusstsein und moderne Lyrik«, S. 304 sowie 293–296. Ebd., S. 305. Ebd. Ebd., S. 306. Vgl. auch Ulrich Thiem, Die Bildsprache der Lyrik Ingeborg Bachmanns, Univ. Diss., Köln 1972, bes. S. 216 und S. 80–82. Bachmann, »Reklame«, S. 119f.

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durch das Land Italien«,180 wie das in der literarischen Italien-Tradition meist der Fall ist. Der Prozess der Wiedergeburt ist, in Analogie zur Wiederbelebung durch ›Klänge‹ in »Landnahme«, ein aktiver Produktionsprozess: In mein erstgeborenes Land, in den Süden zog ich und fand, nackt und verarmt und bis zum Gürtel im Meer, Stadt und Kastell.

Das Ich erzeugt »nackt und verarmt / […] / Stadt und Kastell«: »[D]ie Dichterin ›gebiert‹ […] kraft ihres Blickes in der Bewegung mit dem Süden erst das Land und dann in einem zweiten Schritt darüber hinaus sich selbst neu.«181 Erst die sprachliche Präsentation des Landes führt dazu, dass das Ich »zum Schauen erwacht«, also Wege zu einer ganzheitlichen, nicht mehr zivilisatorisch entfremdeten Wahrnehmung der Realität findet. In Bezug auf einzelne, konkrete Orte und Landschaften nun lässt sich dieser Prozess der sprachlichen Neuschaffung als Struktur der Überkreuzung von geschichtlicher Realität und literarischer Utopie beschreiben – mit den Worten von Marion Schmaus: »[I]m Durchgang durch die Referenzen auf geschichtliche Realität [wird] den Orten zugleich ein utopisches Gedächtnis der Literatur mitgegeben […].«182 Die Landschaften fungieren nicht als Bildspender in einem Text, der auf anderes verweist, sondern sind sprachliche Räume, die allerdings in einem mehrfach vermittelten Bezug zu den realen Räumen stehen. Darauf wollte Bachmann hinweisen, als sie in einem Entwurf erläuterte, das Gedicht »In Apulien« sei etwas ganz anderes als die apulische Realität: Natürlich war ich in Apulien; aber ›In Apulien‹ ist etwas anderes, löst das Land auf in Landschaft, und führt sie zurück auf das Land, das gemeint ist. Es gibt wunderschöne Namen für die Ursprungsländer, die versunkenen und die erträumten, Atlantis und Orplid. »Apulien« ist ein wunderschöner Name – ich glaube nicht, daß sich jemand entschließen könnte, Le Puglie zu sagen, das italienische Wort trifft es nicht, es ist geographisch.183

Luigi Reitani hat die Mechanismen der poetischen Rückführung auf dieses ›eigentliche‹, jenseits jeder reflexiv vermittelten Erfahrung liegende,

180

181 182 183

Ariane Huml, Silben im Oleander, Wort im Akaziengrün. Zum literarischen Italienbild Ingeborg Bachmanns, Göttingen 1999, S. 185. Ebd. Schmaus, »Anrufung des Großen Bären«, S. 75. Ingeborg Bachmann, »[Zur Entstehung des Titels ›In Apulien‹] Entwurf«, in: Dies., Werke 4, S. 305f., hier S. 305.

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sprachlich konstituierte ›Apulien‹ detailliert untersucht.184 Der Abgleich mit deutschsprachigen, aber auch mit italienischen Topoi der Literarisierung Apuliens ergibt dabei durchaus Berührungspunkte. So sei »das Apulienbild, das sich insgesamt aus dem Gedicht ergibt, dem Paradigma des Primitivismus und der Ursprünglichkeit des Landes verpflichtet«, dennoch könne man »[d]ie im Gedicht verwendete Technik […] kaum als beschreibende auf[ ]fassen. Wenige Pinselstriche fügen sich vielmehr zu einer Skizze, die in symbolischen und essentiellen Zügen stilisiert wird.«185 Diese Stilisierung geht in zwei Schritten vor sich. Zunächst wird in der ersten und zweiten Strophe der Zustand der Landschaft und ihrer Bewohner skizziert. In der dritten Strophe wechselt der Modus des Textes in den Konjunktiv; in den folgenden drei Strophen wird die Annäherung an einen Wunsch- oder Möglichkeitszustand versucht. Die Rückkehr in den Indikativ in der letzten Strophe bezeichnet weniger die Rückkehr zur Wirklichkeit der ersten beiden Strophen, sondern eine Ankunft in der Utopie. Unter den Olivenbäumen schüttet Licht die Samen aus, Mohn erscheint und flackert wieder, fängt das Öl und brennt es nieder, und das Licht geht nie mehr aus. Trommeln in den Höhlenstädten trommeln ohne Unterlaß, weißes Brot und schwarze Lippen, Kinder in den Futterkrippen will der Fliegenschwarm zum Fraß. Käm die Helle von den Feldern in den Troglodytentag, könnt der Mohn aus Lampen rauchen, Schmerz im Schlaf ihn ganz verbrauchen, bis er nicht mehr brennen mag. Esel stünden auf und trügen Wasserschläuche übers Land, Schnüre stickten alle Hände, Glas und Perlen für die Wände – Tür im klingenden Gewand. Die Madonnen stillten Kinder und der Büffel ging’ vorbei, Rauch im Horn, zur grünen Tränke, endlich reichten die Geschenke: Lammblut, Fisch und Schlangenei.

184

185

Luigi Reitani, »Der Tarantelbiß. Zum Gedicht In Apulien«, in: Kucher/Reitani (Hrsg.), Interpretationen zur Lyrik Ingeborg Bachmanns, S. 172–183. Ebd., S. 175.

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Endlich malmen Steine Früchte, und die Krüge sind gebrannt. Öl rinnt offnen Augs herunter, und der Mohn geht trunken unter, von Taranteln überrannt.186

Die ausdifferenzierte rhythmisch-strophische Gliederung ist typisch für Bachmanns Vorgehen in Anrufung des großen Bären. Im Gegensatz zu den freien Versen und punktuell variablen Rhythmen in Die gestundete Zeit sind die Gedichte in der Anrufung von einer »fortschreitende[n] Entfaltung der Reim-, Vers- und Strophenbindung des Sprachmaterials« geprägt.187 In der Strophen-Struktur von »In Apulien« kann man das zunächst an der weitgehenden Abstimmung von »Strophenmaß und syntaktische[r] Artikulierung«188 feststellen, sodann auch am (von Reitani im Detail analysierten) metrischen und rhythmischen Gerüst der Vierzeiler im Blockreim mit trochäischen Vierhebern.189 Wichtig für die Frage nach Bachmanns sprachlicher Transformation topographisch-geographischer Fermente ist, dass die Semantik des Textes deutlich durch die vor allem rhythmischen Möglichkeiten unterstützt wird. So ist die Szenerie der ersten Strophe beherrscht von der Präsenz des Lichtes, das in nicht auflösbarer Ambivalenz mit dem Mohn verknüpft erscheint, der »aus dem Licht [erwächst] und […] auch Quelle des Lichts«190 ist, damit zugleich aber einen Prozess der Zerstörung initiiert, weil er das Öl ›niederbrennt‹. Durch den regelmäßig fließenden trochäischen Rhythmus wird der »metaphorische Wert der Landschaft«191 unterstrichen, zugleich aber der Zusammenhang zwischen Schönheit und Zerstörung betont; beide sind trotz gezielt ambivalenter Bildoberfläche Teile desselben rhythmischen Gesamtzusammenhangs. Dass außer zu Mörike und Platen auch eine Parallelität zu Krolows »Verlassene Küste« besteht, mag darauf hinweisen, dass Bachmann hier auch eine poetologische Fortentwicklung der sich im freien Spiel aufhebenden surrealistischen Metaphernsprache Krolows anstrebt.192 186 187 188 189 190 191 192

Ingeborg Bachmann, »In Apulien«, in: Dies., Werke 1, S. 130. Schmaus, »Anrufung des Großen Bären«, S. 73. Reitani, »Tarantelbiß«, S. 177. Vgl. ebd. Ebd., S. 178. Ebd. Diese Entsprechung ist v. a. zwischen dem ersten Vers von »In Apulien« und den ersten beiden Versen von »Verlassene Küste« erkennbar: Die Silbenanzahl ist identisch – 15 Silben, wobei die Zäsur in Bachmanns erstem Vers an der Stelle der Grenze zwischen den beiden Versen bei Krolow steht –, ebenso die Abfolge betonter und unbetonter Silben in der zweiten Vershälfte von »In Apulien« und im zweiten Vers von »Verlassene Küste«.

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Auch die zweite Strophe, die sich den Bewohnern der Landschaft zuwendet und die »Härte der existentiellen Bedingungen« behandelt, von denen ihr Leben geprägt ist, erreicht ihre Wirkung über die Integration des trochäischen Rhythmus, der die auch semantisch als Wiederholung erkennbare Bedrohlichkeit des Trommelns im fünften Vers unterstützt; und ebenso wird der Rhythmus in den folgenden Strophen eingesetzt zur Intensivierung der utopischen Vision. Die Gedankenfolge des Gedichts beruht wesentlich auf der gezielten Ambivalenz des Mohns, der das leitende Bild im Gesamttext ist. Im Mohn sind Eigenschaften verknüpft, die Schlaf und Vergessen oder auch Betäubung beinhalten, und solche, die farbliche Schönheit, Licht und landschaftliche Frische implizieren. Beide Komplexe weisen sowohl Bezüge zur apulischen Realität als auch zur literarischen Tradition auf,193 und beide werden in Bachmanns Gedicht in durchaus nicht logisch auflösbarer Ordnung aktiviert und mit einer kontextuell erzeugten Semantik angereichert. Es erscheint, wie Reitani resümiert, unmöglich, das Bild des Mohns eingleisig aufzulösen [ ] und es mit einem konkreten Referenten in Verbindung zu bringen. Der absolute und suggestive Wert der Metapher hängt gerade von ihrer Unbestimmtheit ab. Der Mohn läßt an Droge denken, an Vergessen, an den Schlaf, aber auch an eine auffällige Schönheit, die vielleicht unfruchtbar ist und auf Kosten der Erde erblüht.194

Die Ambivalenz des Mohns – als Teil der Landschaft, die in der Literarisierung belebt, und als Teil der literarischen Tradition, die durch die Zusammenführung mit den Landschaftsdetails reaktiviert und erweitert wird – ist konstitutiv für Bachmanns Poetik der sprachlichen Utopisierung von Topographien. Es ist diese Unbestimmtheit, die eine Analogie in der poetologisch begründeten Suche nach der ›neuen‹ Sprache findet. Die Logik der konditionalen Konstruktion der dritten Strophe beruht inhaltlich auf dem Eindringen des vom Mohn verbreiteten Lichts in die Dunkelheit des ›Troglodytentags‹ der beiden Anfangsverse; in den beiden Folgeversen wird der brennende Mohn vom Schmerz im Schlaf verbraucht, also seiner lichtbringenden Wirkung beraubt. Die Ambivalenz des Mohns besteht hier offenbar darin, dass er sich selbst samt der negativen Seite seiner Eigenschaften auflöst, sobald er Licht und damit Verbesserung in die Landschaft bringt. In den beiden folgenden Strophen werden andere Aspekte dieser utopischen Verbesserung gezeigt, jeweils unter Aktivierung regionaler Topoi. Als Folge des Lichts erscheint in der vierten Strophe die Überwindung der Trockenheit, 193 194

Ausführlich dargestellt bei Reitani, »Tarantelbiß«, S. 178–180. Ebd., S. 179.

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die zugleich Schönheit mit sich bringt; und in der fünften Strophe werden die Madonnen zu Ammen und nehmen damit eine nährende und lebensspendende Funktion an, die im Bild der Geschenke – Gaben der Erde –, die nun endlich ausreichen, nochmals unterstrichen wird. Die indikativische Sprechweise in der letzten Strophe ist ein konkretes Beispiel für Bachmanns textuelle Inszenierung utopischen Sprechens. Gerade durch die konditionale Annäherung an eine Utopie, in der die literarische Topologie des Mohns mit den landschaftlichen Qualitäten Apuliens überkreuzt erscheint, ist es nun möglich, das Gelingen der Utopie zu versprachlichen. Nur das einleitende »endlich« zeigt dabei an, dass wir uns, wie Reitani formuliert, »noch im Warteraum der Utopie«195 befinden, die diesmal freilich ihrer Verwirklichung nahe ist – im Bild der Oliven, die gepresst werden und Öl bringen, aber noch viel mehr in der endgültigen Überwältigung des Mohns durch die Taranteln. Reitani zeigt, wie der in Apulien verbreitete rituelle Tanz der bildlich von der Tarantel gebissenen Kranken als Befreiung vom Leiden und vom Schmerz im Zusammenhang des Gedichts sich mit Bachmanns Poetik vermischt: Die Musik als »dionysische und rituelle Kunst […] [wird] zum Paradigma der ästhetischen Tätigkeit« und verweist auf die Notwendigkeit, dass sich auch »die Literatur […] in Rhythmus und Musik auflösen [muß]«.196 Der Raum ›Apulien‹ im Gedicht wird erzeugt durch die Überlagerung ethnographischer Motive mit Bachmanns Vorstellung einer Sprache, die »die verheerte Welt«197 der Gegenwart (wie es in »Mein Vogel« heißt) nicht nur kommentiert, sondern auch aktiv verändert. Bachmanns Poetik der Anrufung des großen Bären, die auf einem Gegenentwurf zur Wirklichkeit im Gedicht basiert, findet ihre Realisierung in der lyrischen Transformation einer italienischen Landschaft, die freilich in erster Linie über die zeichenhafte Verwendung bestimmter regionaler und kultureller Besonderheiten eingeführt wird. 3.3. Diesseits der Sprachkrise: Moderne Lyrik auf der Suche nach der verlorenen ›Wirklichkeit‹ Liest man Ingeborg Bachmanns Gedichte der 1950er Jahre, wie hier geschehen, von den Frankfurter Vorlesungen aus,198 dann darf man deren werkgeschichtlichen Ort nicht außer Acht lassen. Bachmanns poetologische Selbst195 196 197 198

Ebd., S. 181. Ebd., S. 182. Ingeborg Bachmann, »Mein Vogel«, in: Dies., Werke 1, S. 96f. Vgl. Jürgen Egyptien, Einführung in die deutschsprachige Literatur seit 1945, Darmstadt 2006, S. 91f.

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deutung findet statt, nachdem ihre zwei für die Nachkriegsmoderne wichtigsten Lyrikbände publiziert sind und nachdem sie zumindest primär aufgehört hat, Gedichte zu schreiben – in der Öffentlichkeit betont sie sogar, sie schreibe überhaupt keine Lyrik mehr.199 In Bezug auf die Lyrik handelt es sich bei den Vorlesungen also um eine nachträglich entworfene Poetik. Gerade dieser Resümeecharakter der Frankfurter Vorlesungen hat nicht nur für das Werk Bachmanns, sondern noch viel mehr für die Lyrik der Nachkriegsmoderne insgesamt Gültigkeit. Bachmann markiert, zusammen mit Celan, eine Kritik und Überwindung derjenigen Poetiken der Jahre nach 1945, in denen die Annäherung an die ›Moderne‹ vor allem als Diskursivierung und Lyrisierung der Sprachkritik vollzogen wird. Ohne die basale Denkfigur der sprachkritischen Tradition vollständig aufzugeben, versucht Bachmann, diese Poetiken aus dem Bereich der frühen Nachkriegsmoderne zu überwinden. Die Schreibweisen Eichs, Huchels und, mit anderen Akzenten, Krolows basierten auf dieser Fortsetzung der hermetisch-sprachkritischen Tradition moderner Lyrik. »Die Rede von der Sprachkrise« war, wie Christa Bürger bemerkt hat, um 1950 in literarischen Diskussionen und Debatten die privilegierte Form der Bearbeitung der »permanente[n] Krise der bürgerlichen Kultur« geworden.200 Freilich verkennt Bürgers Warnung, »diese Traditionsbestimmung nicht über[zu]bewerten«,201 den Anspruch von Bachmanns Poetik. Sie bezieht sich in den Frankfurter Vorlesungen gezielt auf Hofmannsthal, um über die Historisierung der Sprachskepsis im ChandosBrief zu demonstrieren, dass eine Erneuerung dieser Suche nach einer Sprache, die den Bezug zu den Dingen wiederherstellt, im Zeichen der Nachkriegszeit nötig sei. Für Bachmann bedeutete das vor allem eine Überwindung der Kluft zwischen Sprache und Wirklichkeit. Sie steht, ähnlich wie Paul Celan, für eine Lyrik, die sich als »authentische[ ] Reflexion und Gestaltung der großen, die Lyrik stets bereichernden und herausfordernden Themen auf der Folie der Verbrechens- und Leidensgeschichte«202 des Jahrhunderts versteht. Bachmanns Integration der geschichtlichen Wirklichkeit in die Lyrik bewegt sich in zwei Stufen. Zunächst thematisiert sie die Nachkriegszeit, die geprägt ist von einer Situation des traumatisierten Schweigens über die 199 200

201 202

Vgl. z. B. Bachmann, Gespräche und Interviews, S. 25, S. 28, S. 31–33, S. 46, S. 61. Christa Bürger, »Ich und Wir. Ingeborg Bachmanns Austritt aus der ästhetischen Moderne«, in: Heinz Ludwig Arnold (Hrsg.), Ingeborg Bachmann, München 1984, S. 7–27, hier S. 19. Ebd. Kucher/Reitani, »Zur Lyrik Ingeborg Bachmanns: Annäherungen«, S. 10.

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jüngste Vergangenheit, indem sie das Inventar der Naturlyrik, radikaler und deutlicher als bislang geschehen, historisiert – ein Verfahren, das am deutlichsten von Rita Svandrlik beschrieben wurde: In Bildern des Fremden, des Ungewohnten – meist aus einem elementaren, aber beschädigten Naturbereich stammend, aus einer als erstarrt, menschenlos, unfruchtbar, winterlich beschriebenen Landschaft; Bilder, in denen das natürliche Geschehen für das historische steht – wird ein Gegenbild zu selbstgerechten Gesellschaft des beginnenden Wirtschaftswunders geschaffen. Zugleich sind diese Bilder des Erstarrens, des ausgehenden Lichtes, der zunehmenden Kälte und des Abschieds Metaphern eines allgemeinen Bewußtseins, das diese Zeit als Endzeit erlebt.203

Diese Poetik beschreibt im Wesentlichen die Texte in Band Die gestundete Zeit und ist schon dort von einer immer wieder sichtbaren Rhetorik des Widerstands erfüllt. Im zweiten Schritt der Evolution, in Texten aus der Anrufung des großen Bären und der Zeit danach, wird diese in Ansätzen engagierte Lyrik dann zur Suche nach einer neuen Sprache. Auch dieser Ansatz nimmt seinen Ausgangspunkt im Bildinventar der Naturlyrik, erneuert und revidiert es aber auf wesentlich radikalere Weise. Gerade die immer autonomere und aus Sicht der Naturlyriker wirklichkeitsfernere Sprache wird bei Bachmann zum Weg, auf dem im Gedicht eine bislang außerhalb der sprachlichen Wahrnehmung stehende, von Bachmann als ›utopisch‹ gekennzeichnete Wirklichkeit evoziert werden kann. Die prominente Stellung, die Bachmann der neuen Poetik von Celans Sprachgitter kompositorisch am Ende der zweiten Vorlesung zugesteht, macht das einmal mehr deutlich.204 Auch wenn man davon absieht, dass in Bachmanns Beziehung zu Celan emotionale und literarische Dimension aufs engste verschränkt sind und beider Schreiben vor allem Ende der 50er Jahre dialogisch aufeinander bezogen ist,205 hat die Nennung Celans lyrikgeschichtlich und poetologisch symptomatischen Charakter. Sprachgitter ist für Bachmann letztes und deutlichstes Zeichen im Erneuerungsprozess der deutschsprachigen Lyrik der 50er Jahre. Deren Entwicklung im Schnittpunkt 203

204

205

Rita Svandrlik, »Ästhetisierung und Ästhetikkritik in der Lyrik Ingeborg Bachmanns«, in: Heinz Ludwig Arnold (Hrsg.), Ingeborg Bachmann, München 1984, S. 28–49, hier S. 29. Vgl. Holger Gehle, »Poetologien nach Auschwitz. Bachmanns und Celans Sprechen über Dichtung zwischen 1958 und 1961«, in: Bernhard Böschenstein/Sigrid Weigel (Hrsg.), Ingeborg Bachmann und Paul Celan. Poetische Korrespondenzen. Vierzehn Beiträge, Frankfurt am Main 1997, S. 116–130, bes. S. 120f. Vgl. dazu: Ingeborg Bachmann/Paul Celan, Herzzeit. Der Briefwechsel, Bertrand Badiou, Hans Höller, Andrea Stoll, Barbara Wiedemann (Hrsg.), Frankfurt am Main 2008.

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literarischer, kultureller und historischer Tendenzen – der Fortschreibung und Nachfolge naturlyrischer Poetiken, der Symptomatik von Sprachkrise und Ich als Ausdruck einer ›modernen‹ Kulturskepsis, der beginnenden selektiven Rezeption verschiedener ›internationaler‹ Varianten modernen Lyrik – wird von Bachmann aktualisiert. Im restaurativen Klima der Nachkriegszeit entstehen diverse Varianten der indirekten Thematisierung von Krieg und Holocaust und der damit verbundenen Traumata, die in Figurationen des Umschreibens konvergieren, die revidierend Lyrik auf einen Bereich des ›Existentiellen‹ oder ›Ontologischen‹ fokussieren. Die produktiven Spielräume dieser Verfahren sind um 1960 weitgehend erschöpft; in Bachmanns und Celans Lyrik der 50er Jahre lässt sich ihre schrittweise Auflösung beobachten. Deshalb macht Bachmann diesen Wandel vor allem an Celans neuer Poetik fest, vergisst aber auch nicht, mit Enzensbergers verteidigung der wölfe einen Text zu behandeln, der beispielhaft für die Entstehung einer politischen Lyrik und somit für Schreibweisen steht, die den ästhetischen Horizont der unmittelbaren Nachkriegszeit endgültig verlassen. An den Frankfurter Vorlesungen lässt sich ablesen, dass das kollektive Programm der diskursiven Aneignung der Moderne, das bis zur Mitte der 50er Jahre bestimmend war, um 1960 an seine Grenzen kommt und in eine neue Phase eintritt – die Phase einer bewusst reflektierten und institutionalisierten Rezeption der Tradition der modernen Lyrik oder, wenn man so will, einer ›Weltsprache‹ der modernen Poesie. Bachmanns Lyrik bezeichnet bereits lange vor Enzensbergers poetologischer Bilanz (die im übernächsten Kapitel diskutiert wird) den Anfang vom Ende der Nachkriegsmoderne als Weg zur ästhetischen und ideologischen Neuvermessung. Das poetologische und lyrische Sprechen über kulturelle und ästhetische Krisenphänomene, die auf indirekte und vermittelte Weise mit der Geschichte zusammenhängen, wird nun langsam abgelöst von veränderten Konzepten und Schreibweisen. In Bachmanns Lyrik ist dieser Prozess während der gesamten 50er Jahre zu beobachten. Wenn in Die gestundete Zeit noch eine Konzeption lyrischer Sprache als Widerstand gegen die historische Wirklichkeit im Mittelpunkt steht, dann sucht Bachmann in Anrufung des großen Bären nach Möglichkeiten eines Sprechens, das zugleich den Ort des dichterischen Ich eingrenzt und sich vor der Wirklichkeit nicht zurückzieht. Der Weg dahin führt über die Verknüpfung von Topographie und Poetik. Auch diesen Prozess der Selbstfindung thematisiert Bachmann in der ersten Vorlesung. Die poetologische Selbstreflexion, so Bachmann, trete zeitlich verschoben zum literarischen Schreiben ein: Der Schriftsteller lerne die eigene ›Problemkonstante‹ erst dann kennen, wenn er seine am Schnittpunkt von Sprache und Wirklichkeit entstandene Gedankenwelt in verschiedenen

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Varianten erkundet hat. Erst dann »enthüllt sich ihm seine Aufgabe«,206 und »je deutlicher sie ihm wird, desto mehr werden seine Werke begleitet von einer geheimen oder ausgesprochenen theoretischen Umsorge«.207 Insofern sind die Vorlesungen begrifflich-poetologische Formulierungen von Bachmanns in den Italien-Texten der Anrufung des großen Bären protokollierter Suche nach einem utopischen Sprachraum. Unvermeidlich werden dabei auch die Grenzen von Bachmanns Poetik sichtbar. Die Suche nach einem lyrischen Wirklichkeitsbezug trifft bei Bachmann auf eine weiterhin in der Tradition der naturlyrischen Chiffrensprache stehende Sprache. Anders als Eich oder Huchel versieht sie diese Zeichensprache mit dem meist performativ konstatierten Anspruch, eine historische Wirklichkeit zu kommentieren und ihr widerständig zu begegnen. Bachmann stellt sich damit gegen die Poetiken der diskursiven Nachkriegsmoderne, ohne sie sprachlich überwinden zu können. Wo Celans Poetik des Meridian mit äußerster lexikalischer Präzision auf die Grenzlinie zwischen Sprache und Erfahrung zielt, beansprucht Bachmann über die semantische Überschneidung literarischer Tradition mit lebensweltlich-topographischer Authentizität eine Positionierung des dichterischen Ich in der Geschichte. In dieser Öffnung und Erweiterung einer naturlyrisch grundierten Bildsprache besteht ihr Beitrag zur Nachkriegsmoderne in der deutschsprachigen Lyrik; und die Frage, wie weit man in ihren Texten diesen Anspruch erfüllt sieht, bestimmt die Einschätzung, ob man sie eher in der Tradition der hermetischnaturlyrischen Vorläufergeneration sieht oder, wie hier geschehen, im Spannungsfeld einer Lyrik, die auf der Basis einer Ästhetik der Aktualisierung moderner Traditionen Varianten des lyrischen Wirklichkeitsbezugs auslotet.

4.

Paul Celan: Sprachwirklichkeit nach der Shoa

Wenn man einen antirealistischen Zug, sprachliche ›Verdichtung‹ und ›Skelettierung‹1 als Kennzeichen moderner Lyrik versteht, dann repräsentieren Paul Celans Gedichte zweifellos auf die Spitze getriebene Varianten einer solchen unter den Bedingungen der Nachkriegsjahre aktualisierten und revidierten Poetik der modernen Lyrik. Antirealismus bedeutet bei Celan allerdings nicht, dass die Lyrik von der historischen oder biographischen Wirklichkeit losgelöst wäre. Ganz im Gegenteil ist der konkrete Bezug auf 206 207 1

Bachmann, »Frankfurter Vorlesungen«, S. 193. Ebd. Die Formulierung stammt von Michael Krüger; vgl. Michael Krüger, Vorworte, Zwischenbemerkungen, Nachrufe. Ein (lückenhaftes) ABC, München, Wien 2003, S. 65.

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Menschen und Ereignisse Zentrum und Ausgangspunkt der Celan’schen Poetik; ihre anderen – sprachlichen, metrisch-rhythmischen – Qualitäten sind darin angelegt. Aber Celans ›Wirklichkeit‹ ist eben niemals ›realistisch‹ identifizierbar, sondern soll in jedem Gedicht neu erkundet, neu umschrieben, annäherungsweise neu bestimmt werden. ›Mimetische‹ Lektüren seiner Texte, auch derjenigen, bei denen sich dieses Vorgehen in Einzelaspekten anzubieten scheint, sind deshalb problematisch und tendieren in der Regel zur Vereinfachung der komplexen und vieldeutigen Texturen.2 Celans Realitätssuche geschieht im Modus der äußersten sprachlichen Zuspitzung und Reduktion und unter weitgehender Loslösung von konventionellen lyrischen Sprechweisen. Am Ende ist eine ›Wirklichkeit‹ am Horizont der Texte erkennbar, aber nicht sichtbar; die Gedichte sind auf sie ausgerichtet, projizieren ihre strukturellen Markierungen, ohne sie aber zu benennen oder zu beschreiben. Es ist kein Zufall, dass in Celans Lyrik immer wieder Richtungs- und Raumbestimmungen erste Anhaltspunkte für die Lektüre sind. Die Sprecher-Instanz muss sich, und das gilt in jedem Text Celans von neuem, mit den Objekten der Wirklichkeit sprachlich ins Verhältnis setzen. Das geschieht nach den beiden ersten Gedichtsammlungen zunehmend in der Konzentration auf basale Strukturen, die erst durch eine erneute Nennung und Verknüpfung im Gedichttext wieder einen Zusammenhang gewinnen, der eine rudimentäre Annäherung an eine sprachlich neu konstituierte Wirklichkeit vorbereiten kann. Celans Poetik, wie sie sich seit Mitte der 50er Jahre entwickelt, besteht im Versuch, durch äußerste sprachliche Reduktion einen Punkt zu erreichen, an dem Sprache die Wirklichkeit berührt und an dem ihre aufs äußerste reduzierte sprachliche Aussage nach der radikalen Loslösung von der Realität wieder eine Referenz in ihr hat.3 Dieser Grundwiderspruch von Celans Lyrik – Wirklichkeitssuche bei zugleich radikaler Problematisierung der sprachlichen Annäherung an die gesuchte Wirklichkeit – wurde oft erläutert und erklärt, zuerst von Celan selbst mit der berühmten Formulierung im Meridian, das Gedicht bleibe »seiner Daten eingedenk«,4 halte aber auch auf etwas anderes zu. Die Referenz ist 2

3

4

Vgl. Jean Bollacks Kritik an Versuchen, »Todesfuge« mimetisch zu lesen; Jean Bollack, Dichtung wider Dichtung. Paul Celan und die Literatur, Werner Wögerbauer (Hrsg.), Göttingen 2006, S. 38–44, bes. S. 38f. Früh beschrieben wurde das damit verbundene Verständnis von Metapher bei Gerhard Neumann, »Die ›absolute Metapher‹. Ein Abgrenzungsversuch am Beispiel Stephané Mallarmés und Paul Celans«, in: Poetica 3/1970, S. 188–225. Paul Celan, »Der Meridian. Rede anlässlich der Verleihung des Georg-BüchnerPreises. Darmstadt, am 22. Oktober 1960«, in: Ders., Gesammelte Werke in sieben Bänden. Gedichte III. Prosa. Reden, S. 187–202, hier S. 196.

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eindeutig – und zugleich textuell und sprachlich hochgradig vermittelt. Darauf bezieht sich auch Dieter Lampings Formulierung vom ›zweideutigen Realitätsbezug‹ in Celans Lyrik.5 Gerade in den späten Gedichten gehe »[d]ieser Anti-Realismus […] so weit, daß der wohl noch immer intendierte Realitätsbezug – ohne gezielte Hinweise durch den Autor – kaum noch zu entschlüsseln« sei.6 Dem privaten und zeitgeschichtlichen Bezug von Celans Lyrik, die sich im Thema des Holocaust verbinden, steht formal der Abbau aller Elemente einer Lyrik gegenüber, in der ein Subjekt über seine Gefühle und Wahrnehmungen reflektiert. Anstelle einer auch noch so reduzierten ›erlebenden‹, Wahrnehmungen sprachlich konzentrierenden und in ihrer Sinnhaftigkeit in Frage stellenden Ich-Instanz (wie sie in den Transformationen der Naturlyrik bei Eich, Huchel oder Krolow noch zu beobachten ist) wird in Celans Lyrik der 50er Jahre die Sprecher-Instanz immer weniger fixiert; in der Lyrik der 60er Jahre ist sie dann kaum mehr verortet und nur durch die Suche nach den verlorenen räumlichen und zeitlichen Strukturen einer fundamental erschütterten Orientierung in ihrer Position bestimmbar. Celans Poetik transformiert sich also in den 50er Jahren, nach der Veröffentlichung des ersten (oder, zählt man den 1948 erschienenen und von Celan wieder zurückgezogenen Band Der Sand aus den Urnen mit, des zweiten) Gedichtbands Mohn und Gedächtnis im Jahr 1952. In »Engführung«, dem letzten Abschnitt des 1959 erschienenen Bandes Sprachgitter, ist sie dann voll entfaltet. Peter Szondi hat gezeigt, wie gleich der Anfang des Textes von den räumlichen, damit aber auch sprachlichen Orientierungsansätzen der Sprecher-Instanz beherrscht ist; sie bestimmt die Text-Landschaft, indem sie die wenigen topographischen Zeichen benennt und die eigene Erkundungsbewegung daran ausrichtet:7 Verbracht ins Gelände mit der untrüglichen Spur: Gras, auseinandergeschrieben. Die Steine, weiß, mit dem Schatten der Halme: Lies nicht mehr – schau! Schau nicht mehr – geh!8 5

6 7

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Dieter Lamping, Das lyrische Gedicht. Definitionen zu Theorie und Geschichte der Gattung, 3. Aufl. Göttingen 2000, S. 240f. Ebd., S. 241. Vgl. Peter Szondi, »Durch die Enge geführt. Versuch über die Verständlichkeit des modernen Gedichts«, in: Ders., Celan-Studien, Frankfurt am Main 1972, S. 47–111, hier bes. S. 47–52. Paul Celan, »Engführung«, in: Ders., Gesammelte Werke in sieben Bänden. Gedichte I, S. 197–204, hier S. 197.

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Die sprachliche Konstitution eines anfangs gänzlich unbestimmten sprachlichen Raumes bildet eine erste Schicht des Textes.9 Zunächst werden die Merkmale des »Gelände[s] / mit der untrüglichen Spur«, das »auseinandergeschrieben[e]« Gras, die »weiß[en]« Steine, auf denen die »Schatten der Halme« sichtbar sind, zu Orientierungsmarken, die dann ihrerseits als Zeichen gelesen werden können, die den Raum und die Suchbewegung des Ich darin zusätzlich charakterisieren. »Engführung« stellt einen vorläufigen Endpunkt der Entwicklung von Celans Lyrik in den 50er Jahren dar. Die Tendenz zur verknappenden Konzentration, zum ausgeprägt elliptischen Sprechen, beginnt allerdings bereits 1955 in Von Schwelle zu Schwelle und ist insgesamt charakteristisch für die Entwicklung seiner Lyrik in den 50er Jahren. So kündigt sich in »Bretonischer Strand«10 (in Von Schwelle zu Schwelle) bereits die Reduktion auf räumliche und zeitliche Markierungen an, die dann in Sprachgitter fortgeführt wird, wo sie die für Celans Lyrik der 60er Jahre charakteristische radikale Zuspitzung erreicht. Celan ist in der Konzentration auf die Autonomie der Sprache weiter gegangen als die Autoren, die sich in langsamen Transformationen vom naturund erlebnislyrischen Erbe entfernten. Er geht am weitesten in der Reduktion der Beziehung des Ich zur Wirklichkeit, an der Eich oder Huchel noch in unverstandenen Zeichen und Chiffren festhalten oder sie anzweifeln. Er geht auch am weitesten in der Verselbständigung der textinternen Sprachdynamik, die in Krolows Poetik immer wieder anklingt. Und doch scheinen Celans Texte wirklichkeitsnäher, ja wirklichkeitsgeladener als die der Autoren, die Krieg und Nationalsozialismus in Deutschland durchlebt hatten und nach 1945 Möglichkeiten der Fortschreibung der deutschen Lyrik suchten. Denn der Grund seiner Lyrik, das privat-biographische und zugleich historische Ereignis, das am Ausgangspunkt dieser Lyrik steht, ist die Ermordung seiner Eltern in einem deutschen Arbeitslager, ist die Ermordung der europäischen Juden durch die Deutschen, ist die Shoa. Dieses Ereignis, das sein gesamtes Denken erschüttert und bestimmt, bildet den Fluchtpunkt seiner Lyrik – es ist die Ursache seiner immer wieder erneuerten Suche nach der Wirklichkeit durch die Sprache des Gedichts. Mit den Worten Albrecht Schönes: Was ihnen angetan worden ist und was in diesen Jahren durch die Deutschen über das ganze Judentum kam, steht hinter allem und bestimmt in Wahrheit alles, was er 9

10

Vgl. Jürgen Lehmann, »Gehen in der ›untrüglichen Spur‹. Zu Paul Celans Engführung«, in: Hans-Michael Speier (Hrsg.), Interpretationen. Gedichte von Paul Celan, Stuttgart 2002, S. 63–82, bes. S. 74–76. Paul Celan, »Bretonischer Strand«, in: Ders., Gesammelte Werke, S. 99.

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geschrieben hat – auch wo das inhaltlich sehr viel verborgener bleibt als in seinem bekanntesten Gedicht, der 1944/45 entstandenen »Todesfuge«.11

Erst auf dieser Basis und unter dieser Voraussetzung kann eine formal orientierte Bestimmung der Qualitäten von Celans Lyrik versucht werden. Vor allem in den 50er Jahren standen in Deutschland allerdings zunächst einmal solche formal orientierten Einordnungen im Mittelpunkt der Rezeption. Celan wurde, mit den historisch verfügbaren begrifflichen Mitteln, gerne unter dem Vorzeichen der formalen Assimilation der französischen Tradition der modernen Lyrik gelesen; die Rezepte, mit denen man ihn zu klassifizieren versuchte, waren Symbolismus, Surrealismus sowie Benns an Mallarmé orientiertes ›absolutes Gedicht‹. Bei diesen ersten Annäherungen wurden durchaus wichtige Beobachtungen gemacht. Gravierender sind dennoch die Missverständnisse und Ausblendungen dieser frühen Rezeptionsphase. Beides wird deutlich am Beispiel von Holthusens frühen Celan-Lektüren. Holthusen sah Celan als den Autor einer »durch sich selbst inspirierte[n], aus rein vokabulären Relationen und Konfigurationen entwickelte[n] Dichtersprache«12 und blendete dabei die existentielle Grunddisposition seiner Lyrik weitgehend aus. Es war gerade dieser Grundansatz, der, wie Wolfgang Emmerich zusammenfasst, letztlich dazu führte, dass man die »Todesfuge« »als ästhetische ›Bewältigung‹ und ›Überwindung‹ der Greuel von Auschwitz« lesen konnte, »mit der man sich, auch als Deutscher aus der Tätergeneration, identifizieren konnte, was am Ende sogar noch einen Genuß dieses Gedichts möglich machte.«13 Holthusen trennte, wie John Felstiner meint, die phantastischen Bilder und die Wortmusik von Mohn und Gedächtnis »von ihrem Fundament in Exil, Verlust und Massenvernichtung«.14 Aber die Rezeptionslinie, die in Celan vorwiegend den Dichter der immer wieder und in allen Stadien aufs kunstvollste inszenierten Sprachkrise sah, ihn also exklusiv für die Aneignung der nach wie vor als krisenhaft und defizitär empfundenen französisch-romanischen Traditionslinie der poésie pure vereinnahmte, ist auch in weniger problematischen Beispielen charakteristisch für die 50er und 60er Jahre. Krolow sieht in seinen Poetik-Vorlesungen so zentrale Texte wie »Sprich auch du« und sogar »Engführung« ausschließlich als Beispiele für »Verstummen, Schweigen und Leere im zeitgenössi11

12

13 14

Albrecht Schöne, Dichtung als verborgene Theologie. Versuch einer Exegese von Paul Celans ›Einem, der vor der Tür stand‹, Göttingen 2000, S. 13. Hans Egon Holthusen, »Fünf junge Lyriker«, in: Ders., Ja und Nein. Neue kritische Versuche, München 1954, S. 124–165, hier S. 156. Wolfgang Emmerich, Paul Celan, 4. Aufl. Reinbek bei Hamburg 2004, S. 94. John Felstiner, Paul Celan. Eine Biographie, München 2000, S. 114f.

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schen deutschen Gedicht«.15 Selbst Rühmkorf im Lyrischen Weltbild der Nachkriegsdeutschen liest Celan leicht verzerrt im Kontext des Widerstands gegen die wachsende Wohlstandsmentalität der 50er Jahre – charakteristisch für ihn sei die »Trauer über die Unfähigkeit zur Aneignung der Welt«.16 Seit den 60er Jahren nahm man Celans im Meridian Schritt für Schritt explizierte Absage an eine Lyrik wahr, die »Mallarmé konsequent zu Ende denk[t]«.17 Entsprechend wurden Möglichkeiten entwickelt, seine individuelle Lyrik-Sprache und ihre poetischen Verfahrensweisen so genau zu beschreiben, dass die unauflösbare Verbindung von Totengedenken, Katastrophe der eigenen Lebensgeschichte und dem immer wieder ansetzenden Versuch, in der Sprache des Gedichts eine Annäherung an dieses traumatisch-verstörende Erlebte zu erzeugen, genauer beschrieben werden konnten.18 Richtungsweisend waren dabei Peter Szondis Celan-Studien und Peter Horst Neumanns als Einführung gesammelte Aufsätze Zur Lyrik Paul Celans; in den 70er Jahren kamen dann noch Untersuchungen wie die von Winfried Menninghaus hinzu. Erst seitdem kann man von einer Rezeption Celans sprechen, die seinen Anliegen und Ansätzen gerecht wird. Szondis Aufsatz über die »Engführung« stellt eine der ersten nicht reduktiven exemplarischen Demonstrationen der Voraussetzungen und Möglichkeiten der Lesbarkeit Celans dar. Gleich in den ersten Sätzen der Studie wird »die Schwierigkeit des Verständnisses, zugleich aber auch die Möglichkeit, zu erkennen, daß die traditionellen Mittel der Lektüre versagen«, erläutert.19 Damit öffnet Szondi den Horizont für eine Wahrnehmung der Celan’schen Lyrik, bei der es nicht darum geht, sich für eine der verschiedenen Bedeutungen zu entscheiden, sondern zu begreifen, daß sie nicht geschieden sind, sondern eins. Die Mehrdeutigkeit, Mittel der Erkenntnis geworden, macht die Einheit dessen sichtbar, was verschieden nur schien. Sie dient der Präzision.20

Auch Peter Horst Neumanns Einführung liefert solche Ansätze für präzise Lesarten Celans. Vor allem die Studie »›Wortaufschüttung‹ und Wortzerfall« ist ein wichtiger Schritt zum Verständnis von Celans »individuelle[m] poeti15

16

17 18

19 20

Vgl. Karl Krolow, Aspekte zeitgenössischer Lyrik, Berlin 1961, S. 147–155, hier S. 147. Peter Rühmkorf, »Das lyrische Weltbild der Nachkriegsdeutschen (1962)«, in: Ders., Schachtelhalme. Schriften zur Poetik und Literatur. Werke 3, Hartmut Steinecke (Hrsg.), Reinbek bei Hamburg 2001, S. 7–42, hier S. 29. Celan, »Der Meridian«, S. 193. Für eine Bestandsaufnahme der Celan-Rezeption um 1970 vgl.: Dietlind Meinecke (Hrsg.), Über Paul Celan, Frankfurt am Main 1970. Szondi, »Durch die Enge geführt«, S. 47. Ebd., S. 111.

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sche[n] Idiom«.21 Aufgeschlüsselt werden hier Celans Techniken der »Wortbildung durch Zersplitterung, Zersplitterung aber auch der soeben erst erfundenen Worte, dazu die zahlreichen Substantivierungen von Adjektiven, Pronomina oder Adverbien« – als Strategien, durch die »Veränderungen überkommener Worte […] auf die im Gedicht vermessene Grenze menschlichen Sprechens« zu reagieren.22 Ausgehend von einer dezidierten Revision von Szondis Ansatz versucht Winfried Menninghaus in seiner 1980 erschienenen Untersuchung Paul Celan. Magie der Form,23 Celans ›Sprechen‹, das »als ganzes von einer Intention auf die Sprache bestimmt« ist, »als Intention auf den ›Namen‹« zu beschreiben.24 Celans Anliegen, die Überwindung der Trennung zwischen Sprache und ›Wirklichkeit‹ oder, linguistischer ausgedrückt, die Suche nach »irgendeine[r] Form der Motivation, der Verbindung von signifiant und signifié«,25 wird als gleichermaßen zentral für alle Ebenen seiner Poetik und seiner Lyrik untersucht. Das von ihm angestrebte »Sprechen« des »Gedichts« – so formuliert Celan in offenkundiger Anspielung auf Saussures Unterscheidung von langue und parole – sei grundsätzlich verschieden von dem allgemeinen, arbiträr-differentiellen System der »Sprache schlechthin«. Es solle vielmehr eine »Individuation« des »Sprechens« realisieren, die »vermutlich auch nicht erst vom Wort her ›Entsprechung‹« sei, also eine innere Beziehung zwischen der materiellen Form der signification und ihrer geistigen Bedeutung herstelle und damit auch das für gewöhnlich als abwesend (»draußen«) gedachte signifié nicht signifikativ=unmittelbar in die materielle »Gegenwart und Präsenz« des Gedichts einwebe […].26

Menninghaus zeigt, dass die »Konfiguration von Reflexivität und Vollzug in Celans Sprechen«27 quer durch die verschiedenen Betrachtungsebenen seines Werkes bestimmend ist: von der Poetologie und Metapoesie über die Metaphorik bis zur Sprachform seiner Gedichte.28 Menninghaus bezeichnet die in Celans Poetologie sichtbare Letztausrichtung seiner Suche nach einer Sprache der Lyrik »als intensive Kristallisation einer Sprachintention […], in deren Innern Celans Auseinandersetzung mit der Geschichte (Geschichtser-

21

22 23 24 25 26 27 28

Peter Horst Neumann, Zur Lyrik Paul Celans. Eine Einführung, 2. Aufl. Göttingen 1990 [11968], S. 7–27, hier S. 8. Ebd., S. 27. Winfried Menninghaus, Paul Celan. Magie der Form, Frankfurt am Main 1980. Ebd., S. 13. Ebd., S. 24. Ebd. Ebd., S. 18. Vgl. ebd.

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fahrung) stattfindet«.29 Das Wort ›Name‹ ist dabei das Zentrum, in dem die Gleichzeitigkeit von Sprache und Außersprachlichem – Wirklichkeitsreferenz, individueller und kollektiver Geschichtserfahrung – zu beobachten ist. Im nächsten Schritt zeigt Menninghaus, dass diese intentionale Ausrichtung der Lyrik auf den Namen auch organisierendes Prinzip von Celans Sprachidiom ist: Sie bestimmt »das semantische Spiel auch zahlreicher nicht-metapoetischer Motive […] und [figuriert] als das mehr oder weniger verborgene Zentrum einer systematischen Topologie von Celans Kosmos metaphorikos«.30 Die individuellen und idiosynkratischen Wortbildungen Celans verfolgen also allesamt das Ziel, die sprachliche Präsenz der zu suchenden und im Gedicht projektierten Wirklichkeit zu erzeugen. Im dritten Teil der Untersuchung führt Menninghaus den Nachweis, »daß und wie Celans Gedichte in der inneren Form ihres Sprechens selbst eben das realisieren, was im reflexiven Zentrum der poetologischen und metapoetischen Wendungen steht.«31 Menninghaus liefert damit einen Zugang zu Celans Poetik, der ihren Anspruch ernst nimmt, Sprache und ›Wirklichkeit‹ nicht als immer stärker getrennte, sondern als einander anzunähernde Größen aufzufassen. Zugleich schafft er aber auch, unter Einbeziehung strukturalistischer Überlegungen, die Grundlage für die Analyse der Funktionsweise von Celans Texten. Von dieser Prämisse geht auch der folgende Versuch aus, Celans Lyrik und Poetik als einen individuellen, eigenwilligen und vor allem seit Mitte der 50er Jahre als Alternative zu den Transformationspoetiken der ehemaligen Naturlyriker entworfenen Beitrag zur lyrischen Nachkriegsmoderne zu lesen. Die zentrale und weithin akzeptierte Diagnose, die am Ausgangspunkt der verschiedensten Poetiken nach 1945 steht – die der untilgbaren krisenhaften Trennung zwischen Sprache und Realität – wird bei Celan nicht akzeptiert und produktiv variiert, sondern bewusst konterkariert. Seine Lyrik versucht das Gedicht auf »Gegenwart und Präsenz«32 auszurichten – und nicht auf das freie Fließen einer von jeglicher Referenz befreiten Sprache. Ausformuliert hat Celan diese Überlegungen um 1960 vor allem im Meridian und in der Ansprache anlässlich der Entgegennahme des Literaturpreises der freien Hansestadt Bremen. In beiden Reden sind Probleme fixiert, die Celan während der Niederschrift von Sprachgitter (erschienen 1959) beschäftigten. Der Band lässt sich als Neuentwurf von Celans Poetik nach der ersten Phase seiner Ly29 30 31 32

Ebd. Ebd. Ebd. Celan, »Der Meridian«, S. 198.

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rik verstehen, deren zentrale Texte in den Bänden Mohn und Gedächtnis (1952) und Von Schwelle zu Schwelle (1955) enthalten sind. Um die Evolution seiner Poetik zu verdeutlichen, werden zunächst exemplarisch Texte aus diesen beiden Sammlungen auf ihre zentralen poetologischen Aussagen hin befragt. Die Neuausrichtung von Celans Entwurf einer modernen deutschen Lyrik nach 1945 – der dezidiert gegen die oftmals favorisierte Mallarmé-Tradition gerichtet ist – wird dann anhand der beiden Reden untersucht, von dort aus exkursorisch mit Celans Poetik der Übersetzung verknüpft und schließlich in einem letzten Schritt auf Sprachgitter bezogen. 4.1. Die »Todesfuge« und ihre Alternativen: Von Mohn und Gedächtnis bis Von Schwelle zu Schwelle Mohn und Gedächtnis enthält die Gedichte aus der Zeit von 1944 bis 1952. Die Texte umfassen damit zugleich Celans Lebensstationen nach seiner Rückkehr aus dem Arbeitslager: den letzten Aufenthalt in Czernowitz 1944/45, Bukarest zwischen 1945 und 1947, Wien bis 1948 und schließlich seit dem Juli 1948 Paris.33 Von Bedeutung ist dieser biographische Hintergrund vor allem aus einem Grund: Die Lyrik, die Paul Celan seit 1944 verfasste, ist von der traumatischen Erfahrung des Mordes an seinen Eltern durch die Deutschen geprägt; zugleich nimmt diese individuelle Konfrontation mit dem Holocaust in der sprachlich-lyrischen Reflexion für Celan auch den Charakter des kollektiven historischen Ereignisses an. Dieses Ereignis trennt die vorher unter dem Namen Paul Antschel in der Bukowina entstandene Lyrik von der, die wir heute mit dem Namen Paul Celan verbinden; es bildet ihren Ausgangspunkt und ihre biographische ebenso wie gedanklich-konzeptionelle Grundlage. In Mohn und Gedächtnis enthalten sind auch zahlreiche Texte aus Celans erster, 1948 erschienener und kurz nach der Veröffentlichung aus dem Handel zurückgezogenen Sammlung Der Sand aus den Urnen (1948).34 Neben der »Todesfuge«, die sowohl in Der Sand aus den Urnen als auch in Mohn und Gedächtnis einen eigenen Zyklus bildet, wurde auch der Titel » Der Sand aus den Urnen« für den ersten Zyklus der Texte in Mohn und Gedächtnis übernommen.35 33

34

35

Paul Celan, Die Gedichte. Kommentierte Gesamtausgabe, Barbara Wiedemann (Hrsg.), Frankfurt am Main 2003, S. 592; vgl. auch Kommentar zu Der Sand aus den Urnen, S. 581. Vgl. ebd., S. 582. Vollständig in Paul Celan, Gesammelte Werke in sieben Bänden. Gedichte III. Prosa. Reden, S. 7–64. Vgl. grundlegend Markus May/Peter Goßens/Jürgen Lehmann (Hrsg.), CelanHandbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart, Weimar 2008, S. 39–62.

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Der Band umfasst also die Entwicklung von Celans Lyrik von der zweiten Hälfte der 40er bis hinein in die frühen 50er Jahre. Die Berührungen mit verschiedenen Traditionen, die man in den Texten entdecken kann – die literarische Tradition der Zwischenkriegslyrik in der Bukowina, die Rezeption des rumänischen Surrealismus in Bukarest und schließlich des französischen in Paris – tritt hinter dem Ereignis der Ermordung von Celans Eltern zurück.36 Erst von daher datiert die Problematik in Celans Selbstverständnis als jüdischer Dichter deutscher Sprache – und das heißt: Von daher beginnt seine Suche nach der Möglichkeit, ein Gedicht zu schreiben in der Sprache der Mörder, die zugleich die Sprache der Mutter, die Sprache seiner kulturell-literarischen Sozialisation im Czernowitz der 20er und 30er Jahre und damit die Sprache seiner Lyrik ist. Die existentiell-biographische und historische ist auch hier zugleich eine poetologische Dimension. Die Aporie dieser Konstellation – die Sprache der Mörder als Sprache der Dichtung – akzentuiert von da an die verschiedenen Phasen von Celans Entwicklung als Lyriker. In seinem Selbstverständnis als Dichter deutscher Sprache musste Celan daran interessiert sein, auch und vor allem in Deutschland wahrgenommen zu werden. Dagegen stand seine Identität als Überlebender und Jude, die zugleich Grundmotiv seines Schreibens war. Sie ließ nicht nur den Gebrauch der deutschen Sprache zu einem zentralen, immer wieder ästhetisch zu bewältigenden Problem werden – konnte die von den Mördern korrumpierte Sprache überhaupt poetisches Instrument für einen Überlebenden sein, der in seinem Sprechen immer wieder die Opfer thematisierte? –, sondern machte auch den Kontakt mit Deutschland kompliziert. Die weitgehende Tabuisierung der Zeit des Nationalsozialismus und des Holocaust, vor allem in den 50er Jahren gesellschaftlicher Konsens in der Bundesrepublik,37 war für Celan ebenso problematisch wie seine Aufnahme im deutschen Literaturbetrieb.38 Zudem war, wie Dieter Lamping gezeigt hat, der ›jüdische Diskurs‹ in der Nachkriegsliteratur der 50er und 60er Jahre grundsätzlich marginalisiert.39 »Jüdische Erfahrung« als eine der Grundlagen von Celans Dichtung sei »kein zentrales Thema der deutschen Literatur nach 1945« gewesen.40 36

37

38 39

40

Vgl. dazu Barbara Wiedemann-Wolf, Antschel Paul – Paul Celan. Studien zum Frühwerk, Tübingen 1985, S. 25–153. Vgl. zusammenfassend Axel Schildt, Ankunft im Westen. Ein Essay zur Erfolgsgeschichte der Bundesrepublik, Frankfurt am Main 1999, S. 106–148. Vgl. Celan-Handbuch, S. 23. Dieter Lamping, Von Kafka bis Celan. Jüdischer Diskurs in der deutschen Literatur des 20. Jahrhunderts, Göttingen 1998, bes. S. 129–151. Ebd., S. 141. Vgl. auch Celan-Handbuch, S. 244f.

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Selbst in der Nachkriegsliteratur im engeren Sinn, also der noch in den späten 40er und frühen 50er Jahren entstandenen Literatur über den 2. Weltkrieg und seine Folgen, steht sie nicht im Vordergrund. Nur in vergleichsweise wenigen Werken kommt sie überhaupt zur Sprache. Die westdeutsche Literatur der 40er und 50er Jahre ist zwar – ähnlich wie die ostdeutsche – wesentlich Kriegs- und Nachkriegsliteratur, kaum aber Holocaust-Literatur.41

Wichtigstes Beispiel für diese problematische Außenseiterrolle, die Celans Selbstverständnis prägte, sind die Berichte von seiner Teilnahme am Niendorfer Treffen der Gruppe 47 im Mai 1952; sie lassen erahnen, wie schwierig es für Celan gewesen sein muss, mit dem cliquenhaft-kameradschaftlich geprägten Ton der Gruppensitzungen zurechtzukommen.42 Als Celan die »Todesfuge« vorlas, wurde er ausgelacht und die als ›pathetisch‹ empfundene Vortragsart mit Goebbels verglichen.43 Allem ›Neorealismus‹, allen Forderungen nach einer neuen Sprache und aller Opposition gegen Nationalsozialismus und Restauration der 50er Jahre zum Trotz kann man darin nun einen auch an den Autoren der Gruppe 47 zu beobachtenden ›latenten Antisemitismus‹ und eine entsprechende Strategie des Schweigens über den Massenmord an den Juden sehen44 – oder mit Klaus Briegleb radikaler ein kollektiv-unbewusstes Gruppenverhalten annehmen, wobei Celan »die Gruppe in einer Weise provoziert« habe, »die das Schweigen über ihn als eine den meisten Schweigern unbewußt willkommene Reaktion erklärt, die das Band zwischen ihnen stärkt«.45 Unverkennbar bleibt jedenfalls, dass Celans Berührung mit der Gruppe 47 repräsentativ ist für die Art, wie im Deutschland der frühen 50er Jahre mit der unmittelbaren Vergangenheit umgegangen wurde – und dass Celan sich nach der Berührung mit »diese[n] Fußballer[n]«,46 wie er die Gruppenangehörigen gegenüber Hermann Lenz lakonisch charakte-

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45 46

Lamping, Von Kafka bis Celan. Jüdischer Diskurs, S. 141f. Vgl. Klaus Briegleb, »Ingeborg Bachmann, Paul Celan. Ihr (Nicht-)Ort in der Gruppe 47 (1952–1964/65). Eine Skizze«, in: Bernhard Böschenstein/Sigrid Weigel (Hrsg.), Ingeborg Bachmann und Paul Celan. Poetische Korrespondenzen, vierzehn Beiträge, Frankfurt am Main 1997, S. 29–81, bes. S. 31–33. Vgl. auch Klaus Briegleb, Mißachtung und Tabu. Eine Streitschrift zur Frage: »Wie antisemitisch war die Gruppe 47?«, Berlin, Wien 2003, S. 183–194 sowie Celan-Handbuch, S. 19f. Vgl. Hans Werner Richter, Briefe, Sabine Cofalla (Hrsg.), München, Wien 1997, S. 128. Vgl. auch Hermann Lenz, »Erinnerungen an Paul Celan«, in: Werner Hamacher/Winfried Menninghaus (Hrsg.), Paul Celan, Frankfurt am Main 1988, S. 315–318, hier S. 316. Vgl. Heinz Ludwig Arnold, Die Gruppe 47, Reinbek bei Hamburg 2004, S. 74–78, bes. S. 76. Briegleb, »Ingeborg Bachmann, Paul Celan«, S. 31. Hermann Lenz, »Erinnerungen an Paul Celan«, S. 316.

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risierte, in seiner Wahrnehmung als Außenseiter des deutschen Literaturbetriebs bestätigt fühlen musste. Die erste deutliche Formulierung von Celans poetologischer und zugleich biographisch-existentieller Problematik ist, das wurde oft betont, die »Todesfuge«. Als »eines der letzten Bukowiner Gedichte« sei sie, so Barbara Wiedemann, »ein Werk des Abschlusses und Übergangs«; zugleich fange »[m]it ihr, wenn man so will, Celans Werk an« – im Gegensatz zum noch unter dem Namen Paul Antschel geschriebenen Frühwerk. »Am Ende einer ersten Schaffensperiode faßt hier der Dichter seine Erfahrungen zusammen, seine literarischen und seine sehr einschneidenden biographischen.«47 Dabei ging es Celan allerdings in der »Todesfuge« »niemals um mimetische Wiedergabe seines Gegenstands«,48 wie nicht nur Theo Buck grundsätzlich ausführt;49 »[v]ielmehr wird die erfahrene und erlebte Wirklichkeit erinnernd gedeutet […]«.50 Und weiter: »Was Text, Bilder und deren Anordnung nach dem Willen des Autors zu leisten haben, ist die dem Vergessen und der Gleichgültigkeit entgegenwirkende Kraft des Erinnerns.«51 Vor allem Celans Biograph John Felstiner betont, dass gerade die ästhetischen Überformungen im Text zur »Unmittelbarkeit der ›Todesfuge‹« beitragen, dass gerade die Leitmetapher ›schwarze Milch‹ wegen ihrer Kühnheit geeignet ist, Tatsachen zu vermitteln – ob das nun die zerstörende Kontamination der Nahrung und damit der Lebensfähigkeit in den Lagern ist oder noch konkreter ein Hinweis auf die ›schwarze Brühe‹, die man den Lagerinsassen vorsetzte.52 Celan versucht in der Tat – so eine eigene Bemerkung – »das Ungeheuerliche der Vergasung zur Sprache zu bringen«,53 aber dieses ›Zur-Sprache-Bringen‹ bedeutet keine Schilderung, sondern den Versuch, »die Beziehung zum historischen Geschehen in ästhetische[ ] Kategorien«54 zu übersetzen. »Todesfuge« ist Celans erster entscheidender Ansatz, ein Gedicht zu entwerfen, in dem die persönliche Erfahrung des Holocaust eine sprachliche Annäherung erfährt; es ist der erste Text Celans, in dem er 47

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Wiedemann-Wolf, Antschel Paul – Paul Celan, S. 89. Vgl. zur Entstehung auch Celan-Handbuch, S. 47–49. Theo Buck, »›Todesfuge‹«, in: Interpretationen. Gedichte von Paul Celan, HansMichael Speier (Hrsg.), S. 9–27, hier S. 16. Vgl. auch Neumann, Zur Lyrik Paul Celans, S. 93–99, bes. S. 99; Bollack, Dichtung wider Dichtung, S. 27–54; Emmerich, Paul Celan, S. 49–56. Buck, »›Todesfuge‹«, S. 16. Ebd., S. 17. Felstiner, Paul Celan, S. 53–69, Zitate S. 58 und S. 61f. Zitiert nach Paul Celan, Die Gedichte. Kommentierte Gesamtausgabe, S. 608. Bollack, Dichtung wider Dichtung, S. 27.

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eine Möglichkeit seiner modernen deutschen Lyrik nach Auschwitz formuliert. Schwarze Milch der Frühe wir trinken sie abends wir trinken sie mittags und morgens wir trinken sie nachts wir trinken und trinken wir schaufeln ein Grab in den Lüften da liegt man nicht eng Ein Mann wohnt im Haus der spielt mit den Schlangen der schreibt der schreibt wenn es dunkelt nach Deutschland dein goldenes Haar Margarete er schreibt es und tritt vor das Haus und es blitzen die Sterne er pfeift seine Rüden herbei er pfeift seine Juden hervor läßt schaufeln ein Grab in der Erde er befiehlt uns spielt auf nun zum Tanz Schwarze Milch der Frühe wir trinken dich nachts wir trinken dich morgens und mittags wir trinken dich abends wir trinken und trinken Ein Mann wohnt im Haus der spielt mit den Schlangen der schreibt der schreibt wenn es dunkelt nach Deutschland dein goldenes Haar Margarete Dein aschenes Haar Sulamith wir schaufeln ein Grab in den Lüften da liegt man nicht eng Er ruft stecht tiefer ins Erdreich ihr einen ihr andern singet und spielt er greift nach dem Eisen im Gurt er schwingts seine Augen sind blau stecht tiefer die Spaten ihr einen ihr andern spielt weiter zum Tanz auf Schwarze Milch der Frühe wir trinken dich nachts wir trinken dich mittags und morgens wir trinken dich abends wir trinken und trinken ein Mann wohnt im Haus dein goldenes Haar Margarete dein aschenes Haar Sulamith er spielt mit den Schlangen Er ruft spielt süßer den Tod der Tod ist ein Meister aus Deutschland er ruft streicht dunkler die Geigen dann steigt ihr als Rauch in die Luft dann habt ihr ein Grab in den Wolken da liegt man nicht eng Schwarze Milch der Frühe wir trinken dich nachts wir trinken dich mittags der Tod ist ein Meister aus Deutschland wir trinken dich abends und morgens wir trinken und trinken der Tod ist ein Meister aus Deutschland sein Auge ist blau er trifft dich mit bleierner Kugel er trifft dich genau ein Mann wohnt im Haus dein goldenes Haar Margarete er hetzt seine Rüden auf uns er schenkt uns ein Grab in der Luft er spielt mit den Schlangen und träumet der Tod ist ein Meister aus Deutschland dein goldenes Haar Margarete dein aschenes Haar Sulamith55 55

Paul Celan, »Todesfuge«, in: Ders., Gesammelte Werke in sieben Bänden. Gedichte I, S. 41f.

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Realisiert ist »Todesfuge« in der Form des zwar grundsätzlich freirhythmischen, in der Tendenz aber daktylischen Langverses, den Celan nach seinen reimfreien und an der lyrischen Tradition geschulten, in der Bukowina entstandenen Texten vorwiegend in der Bukarester Zeit entwickelte.56 Vor allem die Anfangs- und Leitmetapher »Schwarze Milch der Frühe«, die die vier Hauptteile des Gedichts eröffnet, wird vom daktylischen Grundrhythmus durch Trochäen abgesetzt; zudem werden die Langzeilen immer wieder durch kürzere Verse unterbrochen. Dieser variable und gleichwohl eindrücklich regelmäßige, damit auch unverwechselbar intensive Grundrhythmus ist das metrische Gerüst, in das Celan das Sprechen der Opfer einbindet. Der Text hat sechs Abschnitte, die sich allerdings durch die Wiederholung der Leitmetapher in vier deutlich markierte Teile gliedern. Die Metaphern und Motive durchziehen in einer präzise kalkulierten Wiederholungs- und Konfrontationsstruktur den Text. Dennoch kann man an der Oberfläche des Textes eine Grunddynamik ausmachen – immer mit der Einschränkung, dass die leitmotivisch und kontrapunktisch eingesetzten Formeln sich einer temporalen Strukturierung im engeren Sinn entziehen. Die Implikationen der einzelnen Bilder und Motive sind für die Kompositionslogik von zentraler Bedeutung; dennoch lohnt zunächst eine Skizze des Oberflächenverlaufs. Der gesamte Text ist aus einer Sprecherperspektive der Opfer eine Erinnerung an die Haft im Lager und an den Tod. Im ersten Abschnitt (V. 1–9) wird nach drei Leitversen, in denen die Stimmen der Opfer erstmals hörbar sind, der Mörder vorgestellt, der zunächst nach Deutschland schreibt, an Margarete denkt und dann, durch das Spiel mit den Schlangen initiiert, aus dem Haus tritt und die Juden zwingt, zum Tanz aufzuspielen und »ein Grab in der Erde« zu schaufeln. Im zweiten Abschnitt (V. 10–18) ist in den drei Eingangsversen eine größere Vertrautheit der Opfer mit der Milch bemerkbar; sie wird nun mit »wir trinken dich« angesprochen. Dem »goldene[n] Haar Margarete[s]« wird hier erstmals das »aschene[ ] Haar Sulamith[s]« gegenübergestellt, gleichzeitig verwandelt sich das »Grab in der Erde« in »ein Grab in den Lüften«. In den letzten drei Versen wird der Mann zum grausamen Sklaventreiber, der einen Teil der Häftlinge weiterhin zwingt, zur Arbeit der anderen Musik zu machen. Im dritten Abschnitt (V. 19–26) verdeutlicht sich in der Rede des Mannes die Verbindung zwischen dem Schaufeln, der Musik und dem »Grab in den Wolken«; vor allem aber wird verdeutlicht, dass der Tod, ebenso wie die Musik, mit Deutschland und seinen ›Meistern‹ zu tun hat. Diese Verbindung wird im vierten Abschnitt (V. 27–36) schließlich auf 56

Wiedemann-Wolf, Antschel Paul – Paul Celan, S. 172–181. Vgl. auch Celan-Handbuch, S. 40–47.

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die Spitze getrieben: Der Meister aus Deutschland, der Mann im Haus, bringt den Opfern den Tod, also ihr Grab in den Lüften, und verliert sich dabei in ›Träumen‹. Margarate und Sulamith, die beiden zeichenhaft für Deutsches und Jüdisches gesetzten Namen, stehen am Ende nebeneinander oder genauer: sie stehen sich unvermittelt gegenüber. Im Zentrum des Textes findet sich eine Analogisierung, die derjenigen zwischen der Entwicklung der modernen Musik und der Evolution des nationalsozialistischen Deutschlands in Thomas Manns Doktor Faustus in Ansätzen vergleichbar ist. Diese Entsprechung zwischen der Meisterschaft in der Kunst und der Meisterschaft im Tod, im Tod-Bringen, wird im Verlauf des Textes als eine notwendige, vielleicht ursächliche Verknüpfung hergeleitet. Sie kulminiert in Vers 24: »Er ruft spielt süßer den Tod der Tod ist ein Meister aus Deutschland«. Hier wird die Analogie, die im Text vorher bereits vielfach angedeutet und vorbereitet ist, erstmals ausformuliert. Die kulturelle Tradition der deutschen Musik hat eine besondere Affinität zum Tod – Felstiner erwähnt mit Schuberts Der Tod und das Mädchen, Wagners Tristan und Isolde mit dem abschließenden ›Liebestod‹, Brahms Deutschem Requiem und Mahlers Kindertotenliedern57 vier ›Meister‹. Diese Tradition wird mit dem Befehl zum Spielen parataktisch mit der Meisterschaft im Töten gleichgesetzt. Der Text präsentiert so die der deutschen Kultur und Kunst inhärente Möglichkeit, ins In- und Antihumane, in Grausamkeit, Barbarei und Mord umzuschlagen. Die Gefahr und zugleich der Vorgang des Umschlagens wird bildlich gemacht im Mann, »der […] mit den Schlangen [spielt]«. Die Schlangen, darauf wollte Celan im erklärenden Brief an Walter Jens hinweisen, sind dabei ›archetypisch‹:58 Das gedankenlos-hochmütige Spiel mit dem Bedrohlichen, Todbringenden, Mörderischen, kann und muss umschlagen in die Herrschaft dieses, wie Jean Bollack formuliert, chthonisch-archetypischen Bereichs. Die anschließende Evokation der Zöpfe der Gretchens in der Formulierung »dein goldenes Haar Margarete« ist nach dem Schlangenspiel bereits eine Stufe der mythisch grundierten Verwandlung: »Die Gretchens haben Zöpfe, geflochtene, und die Knoten und Zöpfe verwandeln sich […] in Schlangen, von denen es in der Unterwelt wimmelt […].«59 All das wird von den Opfern ausgesprochen. Ihre Stimmen, die Stimmen der getöteten Juden, bilden die Sprecher-Ebene im Text; jeder Abschnitt wird durch die beschwörende Wiederholung der Leitmetapher eingeleitet: 57 58

59

Felstiner, Paul Celan, S. 61. Brief an Walter Jens vom 19. 5. 1961, hier zitiert nach Celan, Die Gedichte. Kommentierte Gesamtausgabe, S. 608. Bollack, Dichtung wider Dichtung, S. 32.

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»Schwarze Milch der Frühe […]«. Den Stimmen der Opfer entgegen steht die Stimme des Mörders. Wenn sie erklingt und er damit für kurze Zeit den Chor der Opfer unterbricht, wird deren Intensität eher betont, denn er erscheint als Binnenzitat in ihrer Rede. So wird in der »Todesfuge« den stummen Opfern eine Stimme verliehen; das textuelle Geschehen wird aus ihrer Perspektive gesehen; es ist die Sicht der Toten, die bereits eingegangen sind in das »Grab in den Lüften«. Durch diese Perspektivierung wird dem Themenbereich deutsche Kultur und deutsche Mörder die jüdische Tradition gegenübergestellt. Emblematisch sichtbar ist das in der leitmotivischen Konfrontation der deutschen, auf Faust und die Tradition deutscher Dichtung verweisenden Margarete und der jüdischen, auf das Hohe Lied verweisenden Sulamith: »dein goldenes Haar Margarete« und »dein aschenes Haar Sulamith« sind die dazugehörigen Leitformeln. Der jüdische Bereich ist auch erkennbar in Anspielungen auf jüdische Traditionsbestände – die Tradition der Klagelieder in den Psalmen, besonders in Psalm 137. Dieter Lamping sieht den im Namen Sulamith aufgerufenen Bezug auf das Hohe Lied als zentral für die Komposition der »Todesfuge«.60 In seiner Deutung geht es nicht nur darum, jüdische Traditionsbestände in den Text zu integrieren und den Verweisen auf die ins inhumane umschlagende deutsche Kultur gegenüberzustellen; für Lamping ist das »›Hohelied‹ nicht nur eine Quelle der ›Todesfuge‹; es ist ihre Vorlage«.61 Die »Todesfuge« hat demzufolge den Charakter der Kontrafaktur: Die biblischen Motive – »[f]ast alle Motive des modernen Gedichts sind im biblischen Text vorgeformt«62 – »werden in den Motivkomplex des massenhaften Todes hineingenommen«.63 Damit verbunden sei sowohl eine »Verwandlung der Redestruktur« als auch ein »Gattungs-Wechsel vom Liebeslied zur Totenklage«.64 Auch im Namen Sulamith sei bereits »mehr angesprochen als nur eine ideale Geliebte«:65 In einer allegorischen Auslegung, die in der jüdischen Literatur Tradition hat, steht Sulamith »für das jüdische Volk«;66 in der »Todesfuge« stehe damit »[d]er Tod Sulamiths […] für den Untergang Israels«.67 Damit trete auch der ›liturgische‹ Charakter des Textes hervor, der »weder ein Gebet noch ein Psalm, sondern eine Totenklage als Kontrafaktur eines Liebeslieds, 60 61 62 63 64 65 66 67

Lamping, Von Kafka bis Celan. Jüdischer Diskurs, S. 105–109. Ebd., S. 106. Ebd. Ebd. Ebd., S. 107. Ebd. Ebd., S. 108 Ebd., S. 109.

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genauer als weltliche Kontrafaktur eines geistlichen Liedes« sei.68 Das erlaubt, die »Todesfuge« als eine Möglichkeit ›moderner Lyrik‹ im Rahmen der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur zu sehen, die zugleich in der Kontinuität der deutsch-jüdischen Literatur steht: »[S]eine Dichtung unterscheidet sich von der jüdischen Lyrik des Exils nicht weniger als von jener der Weimarer Republik«, und die »Todesfuge« ist als eine Fortsetzung des »›jüdischen Avantgardismus‹ unter veränderten historischen und literarhistorischen Bedingungen« zu sehen.69 Das Grundproblem von Celans Schreiben als Lyriker, das Grundproblem seiner Poetik, findet sich in diesem Hinweis auf die jüdische Traditionslinie konzentriert: Wie ist es für einen Autor, der sich sprachlich und, zu einem guten Teil, kulturell aus der deutschen Tradition herleitet, möglich, in der Sprache der Mörder ein Gedicht über diese und ihre Opfer zu schreiben? Seine Antwort in der »Todesfuge« ist eine Poetik der Opposition,70 bei der, wenn man Lamping folgt, die Traditionsbestände deutscher Kultur in den Rahmen jüdisch bestimmter Sprechformen und Gattungskontrafakturen integriert werden. Diese oppositionelle Struktur beherrscht den Text thematisch, aber auch formal. Die Gegenüberstellung der jüdischen Sprecher und des deutschen Mörders steht synekdochisch für die Konfrontation jüdischer und deutscher Kulturtradition. Wichtigstes Mittel der Einbindung dieser überaus verweiskräftigen Leitformeln in den Text ist die parataktische Bauform der Langverse, die immer wieder das Nebeneinander der verschiedenen Themen ermöglicht. Demonstrieren lässt sich die Dominanz der Oppositionsstruktur am Beispiel der Leitmetapher und der jeweils in den ersten beiden Verszeilen eines Gedichtteils aufgespannten Zeitstruktur. Die Herkunft der oxymorontischen Leitmetapher »schwarze Milch der Frühe« wurde oft diskutiert,71 ist allerdings zweitrangig für die Art der Verwendung, die Celan von ihr hier im konkreten und im poetologischen Sinn macht. Im Grundwiderspruch der ›schwarzen Milch‹ – das Dunkel des Todes kontaminiert die lebensspendende Milch – spiegelt sich das Anliegen des Textes, die Stimmen der toten Opfer hörbar zu machen, ihnen eine sprachliche Gestalt zu geben, ohne dabei ihr Leiden zu verharmlosen. So gesehen könnte die ›schwarze Milch der Frühe‹ die Position der Sprecher bezeichnen: In der Logik des Textes sind sie angesiedelt in einem Bereich, den man mit 68 69 70 71

Ebd. Ebd., S. 111. Vgl. dazu v. a. Buck, »›Todesfuge‹«, S. 16f. Vgl. Wiedemann-Wolf: Antschel Paul – Paul Celan, S. 77–79; Bollack, Dichtung wider Dichtung, S. 50–54; Felstiner, Paul Celan, S. 62; Emmerich, Paul Celan, S. 51–53.

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Theo Buck als »die anders schwer oder gar nicht zu bestimmende Grenzzone der Zeit des Übergangs vom Leben zum Tod, aber auch umgekehrt vom Tod zu neuem Leben«72 umschreiben könnte. Aus diesem Bereich sprechen die Stimmen zu uns und vergegenwärtigen das Todes-Geschehen. In der ›schwarzen Milch der Frühe‹ wird also die Grundaporie des Textes – wie können die Stimmen der Toten hörbar gemacht werden – zugleich konstatiert und im Augenblick des Sprechens überwunden. Anders gesagt: Die jeweilige Wiederholung der Leitmetapher ist die Voraussetzung für die Möglichkeit, die Präsenz der Stimmen zu schaffen, die aus der Perspektive des »Grab[s] in den Lüften« die sprachliche Möglichkeit evozieren können, über den Tod zu sprechen. In ähnlicher Weise bezeichnen die Zeitangaben des ›Trinkens‹, das wechselnde Gegeneinander von ›abends‹, ›mittags‹, ›morgens‹ und ›nachts‹, in die alle anderen Motiv- und Themenkreise eingespannt sind,73 ein gestörtes Gegeneinander. Möglicherweise kann man darin, wie Felstiner vermutet, eine Aufnahme der Schöpfungsgeschichte aus dem Buch Genesis sehen, in der Tag und Nacht geschieden und damit geordnet werden.74 In der »Todesfuge« ist das Trinken der »schwarze[n] Milch der Frühe« an alle Tageszeiten gebunden und damit einer durchbrochenen Ordnung unterworfen. Erst im vierten Abschnitt wird dieser Zustand, wenn man Jean Bollack folgt, insofern in einer neuen Ordnung ›aufgelöst‹, als sich nun »die Nacht und der Mittag vereinigt [haben]«.75 Die Poetik der Opposition ist Celans erste Antwort auf die Probleme einer deutschen Lyrik nach 1945 – und damit nach ›Auschwitz‹. Theo Buck verweist auf diese »lyrische Strategie« der »kontrapunktische[n] Kombinatorik«, die in einem »konsequent umgesetzte[n] parataktische[n] Darstellungssystem« resultiert, als dem Zentrum der lyrischen Wortpartitur, das die »Todesfuge« darstelle.76 Vom Leitgedanken der Analogisierung zwischen deutscher Kulturtradition und der Fähigkeit zum Mord her lassen sich auch die anderen Bereiche des Textes erschließen. Das, was Wolfgang Emmerich die ›Literaturbesessenheit‹ der »Todesfuge« genannt hat, die im Text durchgängig zu beobachtende Zitat- und Anspielungsstruktur, ist Celans Mittel, die deutsche Kultur in ihrer nunmehr unauflöslichen Verbindung mit dem Holocaust zu reflek72 73 74 75 76

Buck, »›Todesfuge‹«, S. 21. Bollack, Dichtung wider Dichtung, S. 29. Felstiner, Paul Celan, S. 63. Bollack, Dichtung wider Dichtung, S. 29. Vgl. Buck, »›Todesfuge‹«, S. 16.

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tieren und sie immer wieder den Opfern bzw. der Kultur der Opfer gegenüberzustellen. Ein Punkt, an dem sich diese Oppositionsstruktur konzentriert, ist natürlich der Titel »Todesfuge«. Bekanntlich wurde der Text in der rumänischen Übersetzung 1947 erstmals unter dem Titel »Tangoul mortii« (›Todestango‹) publiziert.77 Gerade weil der Bezug zu den Todeslagern, in denen die Gefangenen gezwungen wurden, während der Zwangsarbeit oder gar während der Hinrichtungen ›aufzuspielen‹, damit zu unmittelbar mimetisch war für Celans Ziel, den Toten eine Stimme zu verleihen, wurde dieser Titel in der deutschen Erstveröffentlichung durch »Todesfuge« ersetzt. Das bedeutet allerdings nun in keiner Weise, dass damit das Geschehen ästhetisiert werden sollte. Vielmehr entsteht dadurch eine Mehrdeutigkeit, die sich zwischen der unmittelbaren Bedeutung – die Fuge des Todes, eine Fuge über den Tod – und der durch die Kunst der Fuge erzeugten kulturellen Konnotation bewegt: Die formal aufs äußerste kalkulierte Kunst Bachs wird hier als Teil der Tradition markiert, die in den Lagern in Vernichtung umschlägt. Ob Celan nun ursprünglich nach den musikalischen Prinzipien einer Fuge komponiert hat (was er selbst verneinte, wohl um weiteren harmonisierenden Interpretationen vorzubeugen78) oder nicht – unverkennbar nimmt der Text die gestalterischen Möglichkeiten der kontrapunktischen Kompositionstechnik auf: »Im sukzessiven Durchgang vermittelt die gegenstimmige Setzweise der Hörerschaft, wie das Thema im wahrsten Sinne des Wortes ›durch die Stimmen geführt‹ wird.«79 Wenn Celan »das musikalische Kompositionsprinzip in eine poetische Partitur aus mehrstimmigen Wort-Klang-Bildfolgen«80 überführt, geht es nicht darum, dass hier eine bestimmte Technik »mit Erfolg gemeistert« wird,81 sondern eher um einen Weg, ein Emblem der entwerteten deutschen Kunst-Tradition dennoch für das lyrische Sprechen nach der Katastrophe zu vereinnahmen. Die formale Adaptation ist zugleich vernichtender Kommentar über die Korruption der deutschen Kunst und der Versuch, diese Tradition so zu wenden, dass sie für das Sprechen der Opfer doch noch produktiv gemacht werden kann. Celans erste Version einer Poetik nach Auschwitz ist also ganz wesentlich an den Versuch gebunden, die ästhetische Tradition, der er sprachlich und kulturell selbst entstammt, für sein Schreiben fruchtbar zu machen – und da77

78 79 80 81

Celan, Die Gedichte. Kommentierte Gesamtausgabe, S. 607. Vgl. auch Celan-Handbuch, S. 45–47. Vgl. Brief an Herbert Greiner-Mai, zitiert nach ebd., S. 608. Buck, »›Todesfuge‹«, S. 16. Ebd., S. 16f. So der Ansatz Holthusens; vgl. Holthusen, »Fünf junge Lyriker«, S. 164.

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bei zugleich diese Tradition mit dem Zentrum seiner biographischen Erfahrung zu konfrontieren, der Ermordung der Juden und der Erinnerung an sie. Die Rezeption der »Todesfuge« im Deutschland der 50er Jahre ließ Celan sehr bald an der Gültigkeit dieser Poetik zweifeln. Von den kruden Reaktionen bei der Gruppe 47 bis hin zu den Versuchen, im Gebrauch der Fugentechnik eine Art der »ästhetische[n] ›Bewältigung‹ und ›Überwindung‹ der Greuel von Auschwitz« zu sehen, »mit der man sich, auch als Deutscher aus der Tätergeneration, identifizieren konnte, was am Ende sogar noch einen Genuß dieses Gedichts möglich machte«:82 Die Celan’sche Poetik war offenbar ästhetisch und moralisch für die deutschen 50er Jahre ungeeignet; die Kombination aus moralischer Ernsthaftigkeit und einer rhythmischen, ja musikalischen Intensität, die ästhetisch überzeugte, war für viele nur schwer in Einklang zu bringen. Das Vorzeichen, unter dem diese Ästhetik stand, die wesentliche Voraussetzung der Wiederaufnahme kultureller Versatzstücke als synekdochische Markierungen für eine im Hintergrund des Textes sichtbare Katastrophen- und Transformationsgeschichte, wurde übersehen; mit Blick auf die Diskussion um Manns Doktor Faustus in den späten 40er Jahren darf man annehmen, dass das Gedicht, wenn sie erkannt worden wäre, Gegenstand einer ähnlichen Kontroverse geworden wäre.83 Das zitathafte Aufrufen von Teilen der deutschen musikalischen und literarischen Tradition hat bei Celan seine Funktion, weil alle Versatzstücke reformuliert werden als Teile einer von der Ermordung der Juden her verständlichen Verkehrung der Meisterschaft in der Kunst in eine Meisterschaft im Morden. Von daher kann man die »Todesfuge« als einen Versuch sehen, die sprachlich-kulturelle Tradition Deutschlands trotz des Mordes für die Versprachlichung des Mordes nicht aufzugeben. Das offenkundige Unverständnis der Interpreten für dieses Umschlagen der ›Kunst‹ ins Inhumane, das Celan später im Meridian ausführlich thematisierte, brachte ihn dazu, diesen ersten Versuch, eine lyrische Form für die Stimmen der Opfer zu entwickeln, im Laufe der 50er Jahre zu verwerfen. Das Resultat war die Entwicklung der Poetik, die dann Ende der 50er Jahre in Sprachgitter und im Meridian ihre ersten Zeugnisse findet. Wenn auch die »Todesfuge« das herausragendste Beispiel der ersten Phase von Celans Poetik ist, findet doch im gesamten Band Mohn und Gedächtnis eine Reflexion über das Problem einer lyrischen Sprache nach Auschwitz statt. Dabei wird an der frühen Rezeption von Celan noch einmal emble82 83

Emmerich, Paul Celan, S. 94. Vgl. Thomas Mann, Doktor Faustus. Das Leben des deutschen Tonsetzers Adrian Leverkühn, erzählt von einem Freunde, Ruprecht Wimmer (Hrsg.), Frankfurt am Main 2007, S. 131–136.

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matisch ein Leitmotiv der hier versammelten Autorenstudien klar: Die 50er Jahre waren nicht nur die Epoche, in der verschiedene Lyriker versuchten, im Spannungsfeld zwischen den Traditionen der Moderne und der Nachkriegssituation neue Möglichkeiten moderner Lyrik zu entwickeln, sie waren zugleich das Jahrzehnt, in dem Kritik und Literaturwissenschaft Schritt für Schritt die Beschreibungskategorien entwickelten, mit denen sie diese weitgehend neuartigen, ungewohnten und anfänglich nur durch punktuelle Lektüreerfahrungen gestützten Spielarten der Moderne erfassen konnten. So wichtig dabei die Konzepte waren, die in Auseinandersetzung mit verschiedenen Moderne-Konzeptionen entwickelt wurden, so unzureichend waren sie auf der anderen Seite, um die individuellen Variationen von Moderne zu bestimmen, die sich zwischen Benn und Brecht, Krolow, Eich und Huchel, Enzensberger und Rühmkorf, Bachmann oder Celan entwickelten. Denn hier entstanden Poetiken, die die problemgeschichtlichen und formalen Traditionen der modernen Lyrik von Anfang an auf verschiedenste Art und Weise mit der – individuell höchst verschieden empfundenen und vor allem interpretierten – Situation nach dem Krieg zu verknüpfen suchten. Celan war Teil dieses Prozesses, und da seine Vorstellung von Lyrik sich allein aufgrund seiner Biographie radikal von den Ansätzen der Naturlyriker unterschied, die die Zeit des Krieges in Deutschland verbracht hatten, fühlte er sich sehr bald als Opfer nicht nur der in den 50er Jahren noch fernen Aufarbeitung der Vergangenheit unter dem Nationalsozialismus, sondern noch viel mehr der – in dieser mentalitätsgeschichtlichen Gemengelage begründeten – noch nicht ausdifferenzierten, auf einige wenige Hauptlinien und Denkfiguren fixierten Rezeption moderner Lyrik. Insofern wird es verständlich, dass die ersten Stadien der Rezeption Celans von Versuchen geprägt waren, ihn mit dem in den 50er Jahren verfügbaren Repertoire an kritischen Topoi zu erfassen. Sicherlich war es dabei naheliegend, den Bezug zu den Poetiken des Surrealismus zu suchen, mit dessen rumänischer Variante Celan ja tatsächlich spätestens 1945 in Bukarest in Berührung gekommen war.84 Holthusens Beschreibung von Celans Lyrik ist für diese Annäherung exemplarisch und wurde, zu Recht, entsprechend oft widerlegt. Der »Außenseiter und Fremdling« Celan greift nach Holthusen »[e]ine durch sich selbst inspirierte, aus rein vokabulären Relationen und Konfigurationen entwickelte Dichtersprache« auf, die »den Franzosen seit Jahrzehnten geläufig« sei, sich aber »[i]n Deutschland […] nie so recht durchsetzen« habe können.85 Das Gedicht »Ein Knirschen von eisernen Schuhn 84 85

Vgl. Emmerich, Paul Celan, S. 63f. Holthusen, »Fünf junge Lyriker«, S. 124–165, hier S. 156.

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ist im Kirschbaum …« aus Mohn und Gedächtnis wird für Holthusen zum Präzedenzfall einer solchen nur auf Sprache und Sprachspiele konzentrierten Lyrik. Ein Knirschen von eisernen Schuhn ist im Kirschbaum. Aus Helmen schäumt dir der Sommer. Der schwärzliche Kuckuck malt mit demantenem Sporn sein Bild an die Tore des Himmels. Barhaupt ragt aus dem Blattwerk der Reiter. Im Schild trägt er dämmernd dein Lächeln, genagelt ans stählerne Schweißtuch des Feindes. Es ward ihm verheißen der Garten der Träumer, und Speere hält er bereit, daß die Rose sich ranke … Unbeschuht aber kommt durch die Luft, der am meisten dir gleichet: eiserne Schuhe geschnallt an die schmächtigen Hände, verschläft er die Schlacht und den Sommer. Die Kirsche blutet für ihn.86

Holthusen kommentiert diesen Text so: »Man begreift, dass hier die Sprache sich nicht eigentlich an einem gegenüberliegenden Objekt, sondern an sich selbst entzündet.«87 Nachdem er in der zweiten Strophe die Beschwörung des »heraldische[n] Brustbild[s] einer bewaffneten Traumgestalt« ausmacht, »für deren poetische Existenz sich keinerlei Gründe anführen lassen außer einer suggestiven Konstellation von metallisch klirrenden, gleichsam ritterlichen Vokalen«,88 resümiert er: »Die Substanz des Gedichts nährt sich wesentlich aus innersprachlichen Zusammenhängen, Anklängen, Assoziationen.«89 Otto Pöggeler versucht in einer Interlinearlektüre Holthusens »Festlegung der Celanschen Lyrik auf Ästhetizismus und Surrealismus« zu widerlegen.90 Er führt dabei den Nachweis, dass die komplexe und schwer zugängliche Bildlichkeit des Textes – Barbara Wiedemann zeigt, dass das wesentliche Bilddetail des Helms aus Cervantes’ Don-Quijote-Roman stammt, dann freilich im Text vielfach weiterentwickelt wird91 – durchaus entschlüsselbar und, wenigstens bis zu einem gewissen Grad, auch auf der bloßen Textebene, referentialisierbar ist. So voreilig also Holthusens Einordnung des Gedichts als eines nur noch klanglich ›sinnvollen‹ Gebildes ist, so deutlich wird zugleich,

86

87 88 89 90 91

Paul Celan: »Ein Knirschen von eisernen Schuhn …«, in: Ders., Gesammelte Werke in sieben Bänden. Erster Band. Gedichte I, S. 24. Holthusen, »Fünf junge Lyriker«, S. 155. Ebd. Ebd., S. 156. Otto Pöggeler, Spur des Worts. Zur Lyrik Paul Celans, Freiburg, München 1986, S. 67. Wiedemann-Wolf, Antschel Paul – Paul Celan, S. 202–204.

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dass Celans Anspruch, mit den Texten in Mohn und Gedächtnis die Wirklichkeit eines Überlebenden des Holocaust sprachlich zu fassen, abseits der »Todesfuge« für einen Leser ohne kontextuelles Vorwissen schwierig ist. Mit Blick auf den ersten Abschnitt kann man »Ein Knirschen« als einen Text erkennen, in dem etwas Gewaltsames in den Bereich der Natur eindringt. Das »Knirschen von eisernen Schuhn«, die »Helme[ ]« und schließlich der »schwärzliche Kuckuck«, der in einem Akt der Gewalt »sein Bild an die Tore des Himmels [malt]« – diese mit Härte und Gewalt verknüpften Bilder stehen dem Kirschbaum und dem ›schäumenden Sommer‹ entgegen. Bereits im Horizont dieser ersten drei Verse ist mit den »Toren des Himmels« ein Ort erkennbar, der den irdischen Kämpfen fern ist. Die Konfrontation wird im zweiten Abschnitt entfaltet. Es ist nun klar, dass der Reiter in die Sommerwelt eingedrungen ist – er »ragt aus dem Blattwerk«, und in seinem Schild spiegelt sich das missbrauchte Lächeln des Ich (das sich selbst als wahrnehmendes ›Du‹ personalisiert). In den nächsten beiden Versen wird der Ritter selbst ambivalent; wenn ihm »der Garten der Träumer«, also so etwas wie ein Raum des Friedens nach dem Kampf, verheißen ist, dann ist sein gewaltsames Eindringen in die blühende Sommerwelt womöglich nur ein Mittel, Kampf und Schlacht hinter sich zu lassen. Immerhin ist er bereit, seine Speere für die sich empor rankenden Rosen umzufunktionieren. Also ist auch der Ritter auf einen nicht-irdischen Bereich, vielleicht auf das Jenseits bezogen. Im dritten Abschnitt scheint das Ich von einem »[u]nbeschuht […] durch die Luft« Kommenden erlöst zu werden. Diese im Gestus des Retters aus dem Himmel eingeführte, engelsähnliche Gestalt steht offenbar sowohl dem gewaltsamen Eindringen des behelmten Reiters in den Sommer als auch dem Sommer selbst eher indifferent gegenüber, aber da er dem Du-Ich »am meisten […] gleichet«, scheint ihm die Rolle eines Erlösers zuzukommen. Zumindest ist er die Instanz, die die im Text entfalteten Gegensätze überwindet und über den Zugang zu den »Tore[n] des Himmels« ebenso verfügt wie zum »Garten der Träumer«, also zu einem jenseits von Leben und Konfrontation – Sommer und Kampf – angesiedelten Zustand des Verschlafens der Ereignisse von Sommer und Schlacht, der es offenbar sogar lohnt, dass »[d]ie Kirsche […] für ihn [blutet]«. So weit kann man, unter Vorbehalten, die bildliche Dynamik des Textes nachvollziehen. Celan hat, wie Barbara Wiedemann nachweist, die in diesem Text zu beobachtende »verstärkte Nutzung der assoziativen Potenzen eines literarisch gewonnenen Bildes« im Umfeld der Bukarester Surrealisten entwickelt.92 »Ein Knirschen« zeigt, dass auch diese Technik bei Celan nicht in 92

Vgl. ebd., S. 203.

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willkürliche Sprachexperimente geführt hat. Freilich ist der in »Todesfuge« so sichtbare Bezug zur biographisch-historischen Wirklichkeit hier, wenn überhaupt noch vorhanden, höchst vermittelt. Pöggeler umgeht dieses Problem, indem er am Ende seiner Lektüre selbst in ein Sprechen verfällt, das abstrakt-philosophische Begrifflichkeiten an Stelle der im Text inszenierten Ambivalenzen setzt: Der Dichter bindet seine Sprache streng an das, was ist. So baut er – in einer geradezu konstruierenden Weise – eine »Mythologie« von »Wesen« auf, die es durchaus »gibt«. […] Dem Autor des Gedichts geht es um »Wirklichkeit«; wenn er auf lautliche Beziehungen und Assonanzen zurückgreift, dann nur, um die Wirklichkeit adäquat darzustellen.93

Einen konkreteren, im Vorgehen gleichwohl höchst subtilen Versuch der Rückbindung an die Wirklichkeit unternimmt Marlies Janz in ihrer Studie Vom Engagement absoluter Poesie. Das Ziel dieser Untersuchung ist es, das Spezifische von Celans Gedichten darin zu sehen, »daß sie die traditionelle Dichotomie von absoluter und engagierter Dichtung aufzuheben versuchen«.94 Sie bezieht das Adjektiv ›dämmernd‹ im ersten Abschnitt sowohl auf das Ich des Textes als auch auf den kriegerischen Reiter: Beide befinden sich im Zustand des Dämmerns und der Erwartung, in den jenseits der Zeit liegenden ›Garten der Träume‹ eingehen zu können.95 Am Ende wird der Schläfer von der blutenden Kirsche erlöst und kann »[i]m Schlaf allein, in völliger Abkehr von jeder, auch beglückender Tätigkeit, […] sein Glück« finden.96 Während der Reiter ironisiert werde, sei bei dem Schläfer »Partei ergriffen für einen Zustand völliger Gewaltlosigkeit«, womit »schon im Frühwerk mit der Kritik von Gewalt der Grund gelegt« sei für die »spätere ästhetische Konzeption«, »Kunst zu verstehen als Ausdruck von Gewaltlosigkeit«.97 Auch dieser Ansatz, aus einer Interpretation des Textes heraus eine ästhetisch-politische Position zu entwickeln, kann nicht verleugnen, dass hier eine außerhalb der Bildwelt des Textes angesiedelte, wenn auch seiner Grunddynamik verwandte Position als ›Wirklichkeit‹ mit ihm verknüpft wird. Zu allem Überfluss weist Barbara Wiedemann in einer Fußnote darauf hin, dass das bereits »in ›Umsonst‹ thematisierte Schreiben nach dem Durchgang 93 94

95 96 97

Pöggeler, Spur des Worts, S. 70. Marlies Janz, Vom Engagement absoluter Poesie. Zur Lyrik und Ästhetik Paul Celans, Frankfurt am Main 1976, S. 7. Ebd., S. 60. Ebd., S. 61. Alle Zitate ebd., S. 62.

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durch ›Stille‹ bzw. ›Vergessen‹ […] eine theoretische Position der Bukarester Surrealisten« darstelle, die auch am Schluss von »Ein Knirschen« wieder wirksam werde: »[D]em direkten Erleben (von ›Schlacht‹ und ›Sommer‹) wird der Schlaf vorgezogen, während dem sich ein vegetativer, also nicht bewußter Reifungsvorgang vollzieht.«98 Das würde darauf hinweisen, dass die Versuche, den Text zu referentialisieren, letztlich doch der Offenheit einer ästhetisch-poetologischen Position eine womöglich nicht intendierte Eindeutigkeit unterlegen. Oelmann strebt dementsprechend eine poetologische Deutung an. Der Schluss wird als ein Hinweis gelesen, dass es Aufgabe der Dichtung sei, »die Erfahrung der Vereinbarkeit von Gegensätzlichem, von Sommer und Krieg, von Rausch und Schmerz, von Idylle und Hölle […] zu gestalten«, denn nur dann könne »Gedächtnis […] entstehen, wenn die Erfahrung ins Vergessen des Schlafes absinken kann, wenn ihr Zeit zu Verwandlung und Wachstum gelassen wird«.99 Es ist eine Grundeigenschaft der Lyrik Celans neben der »Todesfuge«, dass die dort bereits erreichten Möglichkeiten des Sprechens – die rhythmisiert intensive Gegeneinanderführung komplex-offener, historische Erfahrung hoch vermittelt reflektierender Metaphern – über den Holocaust nicht weiterverfolgt, sondern parallel andere Wege eingeschlagen werden. Häufig sind dabei Gedichte, in denen eine komplexe Bildsprache und Metaphorik vorherrscht. Von den Metaphern in der »Todesfuge«, die alle kontextuell zumindest so weit markiert sind, dass ihr Bezug auf die Ermordung der sprechenden Juden unverkennbar ist (wodurch gelegentlich ein allzu mimetisches Verständnis provoziert wird), unterscheiden sich diese Texte vor allem durch ihre Deutungsoffenheit. Ein Gedicht wie »Espenbaum«,100 oft als Beispiel für eine Lyrik über den Tod der Mutter zitiert, bleibt eher die Ausnahme. Celan erarbeitet sich in Mohn und Gedächtnis nicht nur eine, sondern genau besehen alternative Poetiken für seine moderne Lyrik. Neben dem eindeutigen und gerade durch seine ästhetische Vermittlung intensiveren lyrischen Sprechen in »Todesfuge« eröffnet er sich andere, bild- und metaphernreiche, sicher auch schwierigere und widerständigere Möglichkeiten lyrischen Sprechens. Es ist deshalb nicht ohne Berechtigung, wenn das Gedicht »Zähle die Mandeln«, mit dem Mohn und Gedächtnis abgeschlossen wird, neben der »Todesfuge« einer der häufiger zitierten Texte aus dem Band ist. Hier erscheint 98 99

100

Wiedemann-Wolf, Antschel Paul – Paul Celan, S. 203, Anm. 84. Vgl. Ute Maria Oelmann, Deutsche poetologische Lyrik nach 1945. Ingeborg Bachmann, Günter Eich, Paul Celan, Stuttgart 1980, S. 265f., Zitate S. 265. Paul Celan, »Espenbaum«, in: Ders., Gesammelte Werke. Gedichte I, S. 19.

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Celans ›andere‹ frühe Poetik in Konzentration. Sie ist schwerer zugänglich, widerständiger – und hat damit genau die Eigenschaften, die Celan nach den ersten Erfahrungen mit der Rezeption der »Todesfuge« als Ausgangspunkt für andere Ansätze des Schreibens nützlich waren; und tatsächlich wurde der Text erst im April 1952 auch als chronologisch letzter Text von Mohn und Gedächtnis und, wie Felstiner anmerkt, als »Summe dieser Schaffensperiode«101 verfasst. Zähle die Mandeln, zähle, was bitter war und dich wachhielt, zähl mich dazu: Ich suchte dein Aug, als du’s aufschlugst und niemand dich ansah, ich spann jenen heimlichen Faden, an dem der Tau, den du dachtest, hinunterglitt zu den Krügen, die ein Spruch, der zu niemandes Herz fand, behütet. Dort erst tratest du ganz in den Namen, der dein ist, schrittest du sicheren Fußes zu dir, schwangen die Hämmer frei im Glockenstuhl deines Schweigens, stieß das Erlauschte zu dir, legte das Tote den Arm auch um dich, und ihr ginget selbdritt durch den Abend. Mache mich bitter. Zähle mich zu den Mandeln.102

Stärker als das surrealistisch geprägte »Ein Knirschen« erlaubt dieser Text eine Lesart unabhängig von biographischen Kontexten und privatsprachlichen Voraussetzungen. Die Mandeln sind im ersten Vers aus dem Text heraus als Mengenmaß eingeführt, und indem sie im zweiten mit der Aussage »was bitter war und dich wachhielt« parallelisiert werden, kann man sie als eine Chiffre für – schwierige und schmerzhafte, aber auch wesentliche – Erfahrungen betrachten. Das Gedicht zeigt im ersten Abschnitt an, dass es um ein Resümee von Lebenserfahrungen geht, über die, deshalb der Doppelpunkt, nun nachgedacht werden soll. Zugleich wird auch in diesem Gedicht ein Du angesprochen. Im Gegensatz zu dem mit dem Sprecher-Ich zumindest teilidentischen Du in »Ein Knirschen« ist die Konstellation in »Zähle die Mandeln« aber tatsächlich auf eine Begegnung ausgerichtet. Das Ich bittet das Du, das eigene Leben zu resümieren, zugleich bittet es darum, zu den ›bitteren‹ und ›wachhaltenden‹ Seiten dieses Lebens gezählt zu wer101 102

Felstiner, Paul Celan, S. 96. Paul Celan, »Zähle die Mandeln«, in: Ders., Gesammelte Werke. Gedichte I, S. 78.

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den. »Das Gedicht im Ganzen spricht von einer Begegnung; gleich an seinem Anfang aber steht die Forderung, Revision zu machen […].«103 In den beiden folgenden Abschnitten wird diese Begegnung zwischen Ich und Du in der Retrospektive vergegenwärtigt. Sie war entscheidend und prägend für beide – nicht zuletzt ist sie es, die das Ich bereits in Vers 3 dazu verleitet, sich unter die ›bitteren‹ Erfahrungen des Du zu ›zählen‹ –; in der Vergangenheit des Textes verhalf sie vor allem dem Du zu einer Art Selbstfindung, denn das Ich nahm Kontakt mit dem Du auf, als niemand sonst es wahrnahm oder wahrnehmen wollte: »Ich suchte dein Aug, als Du’s aufschlugst und niemand dich ansah«. Im Bild des »heimlichen Faden[s]«, den das Ich »spann«, wird die Berührung zwischen Ich und Du verdeutlicht: Denn über den Faden konnte der Tau – die Essenz, das konzentrierte Ergebnis – der Gedanken des Du »zu den Krügen« gelangen, die der Ort sind, an dem sich diese Gedanken entfalten können. Das Ich hat also für das Du eine Doppelfunktion: Zuerst entbindet es dessen Gedanken und gibt ihnen Gestalt, dann geleitet es sie zu einem Ort, an dem sie ihre Wirkung zeigen können. Dieser Ort – die Krüge – ist gekennzeichnet dadurch, dass ihn ein »Spruch [behütet], der zu niemandes Herz fand«. Der Spruch ist, das bemerkt Joachim Seng, eine Erscheinungsform von Sprache und vielleicht sogar von Lyrik104 – insofern er, bislang allerdings vergeblich, danach sucht, den Kontakt mit einem ›Herz‹, also mit einem – so charakterisiert Celan später in der Bremer Rede die Richtung oder den Kommunikationsanspruch des Gedichts – »ansprechbare[n] Du« oder allgemeiner einer »ansprechbare[n] Wirklichkeit« aufzunehmen.105 Die Krüge werden behütet von einem Ich, das bislang noch keinen Ansprechpartner gefunden hat und gleichsam darauf wartet, in einer Begegnung aktiviert zu werden. Genau das geschieht nun im dritten Abschnitt. Das Du tritt erst in jenem Bereich der Krüge »ganz in den Namen, der dein ist«, findet also erst hier zu der über eine reine Benennung hinausgehenden Identität, die in seinem Namen angezeigt ist. Es handelt sich um eine ganzheitliche Art von Selbstfindung; das Du entdeckt in der Begegnung mit dem Ich seine Persönlichkeit, seinen Charakter und den wahren ›Sinn‹ seines Namens. Was dargestellt wird, sind die Qualitäten und Stufen dieser Selbstfindung: Sie erlaubt es dem

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Pöggeler, Spur des Worts, S. 72. Vgl. Joachim Seng, Auf den Kreis-Wegen der Dichtung. Zyklische Komposition bei Paul Celan am Beispiel der Gedichtbände bis »Sprachgitter«, Heidelberg 1998, S. 139. Paul Celan, »Ansprache anläßlich der Entgegennahme des Literaturpreises der freien Hansestadt Bremen«, in: Ders., Gesammelte Werke in sieben Bänden. Gedichte III. Prosa. Reden, S. 185f., hier S. 186.

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Du, »sicheren Fußes zu dir« zu schreiten – also die eigene Identität ohne Zögern und Probleme anzunehmen. In diesem Zustand befreit sich das Du auch aus dem Zustand der Sprachlosigkeit, der Unfähigkeit, Probleme der eigenen Persönlichkeit sprachlich zu artikulieren, die vorher anscheinend beherrschend war; stattdessen wird sein ›Schweigen‹ nun ersetzt durch ein ›Sprechen‹, das dem strahlenden und verkündenden Läuten von Glocken gleicht. Aber auch das Verständnis dessen, was das Du vorher ›erlauscht‹ – aber nicht verstanden und verinnerlicht – hatte, wird ihm nun bewusst, und selbst das Tote, Vergangene, vom Vergessen Bedrohte ist an diesem Ort präsent und lebendig. Beide, das nunmehr bewusste ›Erlauschte‹ und das ›Tote‹, verbinden sich in der neu gewonnenen Präsenz mit dem Ich und sie gehen »selbdritt durch den Abend«. Das religions- und kunstgeschichtlich konnotierte ›selbdritt‹106 verweist auf eine Art der vollkommenen Präsenz, in der Vergangenheit und Gegenwart, Wissen und Erfahrung der eigenen Biographie und die Akzeptanz des Todes verschmelzen. Nicht zuletzt sind die Krüge auch Urnen, sodass der gesamte Bereich der Selbstfindung auch als ein Ort des Todes gelesen werden kann, an dem das Du in der Begegnung mit dem Ich zu sich selbst und zu einer Stimme findet.107 Die Wiederholung der Anfangsverse im Schlussabschnitt erscheint somit in der Perspektive einer gelungenen Begegnung in der Vergangenheit. Die Aufforderung »[m]ache mich bitter« ist damit in ihrer Wertigkeit verändert. Es geht jetzt nicht mehr nur um das Annehmen der negativen Erfahrungen des Lebens, sondern darüber hinaus um die Erkenntnis, dass die negativen Erfahrungen wesentliche Teile der Begegnung zwischen Ich und Du sind, die letztlich beide zur Selbsterkenntnis und Selbstannahme geführt hat. Der Text hat eine Eigenlogik, deren Dynamik man bis einem gewissen Grad skizzieren kann, ohne sich der Informationen über spezifisch Celan’sche Kontexte zu bedienen. Die Metaphern sind nicht weniger komplex als in »Ein Knirschen«, aber ihre Verknüpfungslogik ist weniger durch klangliche und semantische Assoziationen gesteuert als in der surrealistischen Lyrik. Auf der anderen Seite entzieht sich die Bildsprache einer reduktiven Deutung, die nur Teilaspekte der jeweiligen Semantik in Betracht zieht – wie das bei den nicht weniger komplexen Bildern in der »Todesfuge« durch formelhafte Verwendung und durch erkennbare Bezüge zum Holocaust möglich war. Man kann die Bilder durchaus, wie Felstiner das tut, in einer biographischen Lesart auflösen: Für ihn spricht in »Zähle die Mandeln« »[d]er Dichter […] zu seiner Mutter« und der dreifache Imperativ »zähle« lasse 106 107

Seng, Auf den Kreis-Wegen der Dichtung, S. 139f. Vgl. Neumann, Zur Lyrik Paul Celans, S. 29f.

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»auch den ›Zählappell‹ in den Nazilagern anklingen«.108 Der Unterschied zur »Todesfuge« besteht aber darin, dass die Verständlichkeit – und damit auch die Möglichkeit zu Missverständnissen – eine intensivere Konzentration auf den Text verlangt, der zugleich in seiner temporalen Struktur – Gegenwart, Vergangenheit – und auch in den Andeutungen zur Raumordnung die Koordinaten liefert, in denen man die Bilder zumindest relational verorten kann. Celan unternimmt mit »Zähle die Mandeln« aus seiner Sicht einen Versuch, seine Lyrik gegen Fehldeutungen abzusichern, ohne dabei sein existentielles Anliegen aufzugeben. Er hat damit den Weg zu einer Poetik eingeschlagen, die sich von derjenigen, die in der »Todesfuge« entwickelt wurde, immer eindeutiger absetzt. Es ist der Beginn des Prozesses, den Wolfgang Emmerich als »Celans Weg vom ›schönen Gedicht‹ zur ›graueren‹ Sprache« beschrieben hat.109 Die Gedichte, die 1955 im Band Von Schwelle zu Schwelle versammelt wurden, bilden in dieser Perspektive einen Übergang und sind damit eher als Fortsetzung der Poetik zu sehen, die bereits in den späten Texten von Mohn und Gedächtnis zu beobachten ist.110 Von den drei Zyklen des Bandes, der seiner Frau Gisèle gewidmet ist, ist der erste, ›Sieben Rosen später‹, derjenige, der am meisten an der Gegenwart orientiert ist. Auch wenn in »Mit Äxten spielend«111 die sieben Jahre beschworen werden, die seit dem Tod der Eltern vergangen sind, überwiegt in den meisten Gedichten dieses Zyklus das Thema der Liebe; wie »Strähne« oder »Gemeinsam« gehen sie aus von Erfahrungen der Gemeinsamkeit oder der Betrachtung des geliebten Gegenüber. Die beiden folgenden Zyklen, ›Mit wechselndem Schlüssel‹ und ›Inselhin‹, haben dann wieder stärker poetologische Themen. Hier macht sich bemerkbar, dass Celans Nachdenken über die Möglichkeiten seiner Lyrik nun zusehends von der Rezeption der »Todesfuge« in Deutschland und von seinem Verhältnis zur Bundesrepublik bestimmt ist. Vor allem die Vorstellung, dass die lyrische Intensität seines Gedichts in Deutschland als ein Weg gesehen werden konnte, die Verantwortung für den Holocaust ästhetisch nivellieren zu können, brachte Celan immer stärker dazu, seine Vorstellungen 108

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Felstiner, Paul Celan, S. 97. Auch Seng betont, dass Celan in »selbdritt« »stumm und doch ›sprachnah‹ an seine ermordete Mutter erinnert«; vgl. Seng, Auf den Kreis-Wegen der Dichtung, S. 140. Wolfgang Emmerich, »Paul Celans Weg vom ›schönen Gedicht‹ zur ›graueren‹ Sprache. Die windschiefe Rezeption der Todesfuge und ihre Folgen«, in: Hans Henning Hahn/Jens Stüben (Hrsg.), Jüdische Autoren Ostmitteleuropas im 20. Jahrhundert, Frankfurt am Main, New York 2000, S. 359–383. Vgl. Celan-Handbuch, S. 63–72. Paul Celan, »Mit Äxten spielend«, in: Ders., Gesammelte Werke. Gedichte I, S. 89.

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von der ›Schönheit‹ des Gedichts in Zweifel zu ziehen.112 Zudem war sein Verhältnis zur Bundesrepublik zeitlebens skeptisch und ablehnend: Eine echte Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus sah er nicht, stattdessen personelle und ideologische Kontinuitäten.113 Die seit 1953 von Claire Goll erhobenen und Anfang der 60er Jahre vehement einsetzenden Plagiatsvorwürfe, die ihn trotz ihrer Unsinnigkeit mit den Jahren psychisch zusehends belasteten,114 waren aus Celans Sicht Bestätigung eines gezielt gegen ihn gerichteten bundesdeutschen Neonazismus.115 Die Affäre bildet den Hintergrund für die kontinuierliche Veränderung von Celans Poetik. So ist »Sprich auch du« eine Antwort auf diese Vorwürfe und eines der deutlichsten Symptome der poetologischen Grundlagenrevision, die bereits am Ende von Mohn und Gedächtnis eingesetzt hatte. Sprich auch du, sprich als letzter, sag deinen Spruch. Sprich – Doch scheide das Nein nicht vom Ja. Gib deinem Spruch auch den Sinn: gib ihm den Schatten. Gib ihm Schatten genug, gib ihm so viel, als du um dich verteilt weißt zwischen Mittnacht und Mittag und Mittnacht. Blicke umher: sieh, wie’s lebendig wird rings – Beim Tode! Lebendig! Wahr spricht, wer Schatten spricht.

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Vgl. Emmerich, »Paul Celans Weg vom ›schönen Gedicht‹ zur ›graueren‹ Sprache«, S. 361–368. Vgl. Theo Buck, »Angstlandschaft Deutschland. Zu einem Nachkriegssyndrom und seiner Vorgeschichte im Gedicht ›Du liegst im großen Gelausche‹«, in: Ders., Muttersprache, Mördersprache. Celan-Studien I, Aachen 1993, S. 159–185, hier S. 162–164. Vgl. Emmerich, »Paul Celans Weg vom ›schönen Gedicht‹ zur ›graueren‹ Sprache«, S. 368–370 und Ders., Paul Celan, S. 113–116. Ausführlich dokumentiert und aufgearbeitet wurde die Affäre von Barbara Wiedemann in Paul Celan, die Goll-Affäre. Dokumente zu einer ›Infamie‹. Zusammengestellt, herausgegeben und kommentiert von Barbara Wiedemann, Frankfurt am Main 2000; vgl. auch Dies., »Die GollAffäre«, in: Celan-Handbuch, S. 20–23. Buck, »Angstlandschaft Deutschland«, S. 164.

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Nun aber schrumpft der Ort, wo du stehst: Wohin jetzt, Schattenentblößter, wohin? Steige. Taste empor. Dünner wirst du, unkenntlicher, feiner! Feiner: ein Faden, an dem er herabwill, der Stern: um unten zu schwimmen, unten, wo er sich schimmern sieht: in der Dünung wandernder Worte.116

Unmittelbarer Anlass des Gedichts war die Erstveröffentlichung von Holthusens bereits mehrfach zitierter kurzer Rezension zu Mohn und Gedächtnis im Merkur.117 Der Text bekräftigt Celans Selbstverständnis als einer der letzten jüdischen Dichter in Europa,118 der trotz der Gefahr des Missbrauchs seiner Texte sich selbst dazu ermahnt, seinen »Spruch«, also die Wahrheit seiner persönlichen Erfahrung der Geschichte, zum Gegenstand seiner Lyrik zu machen. Ein wichtiges Element dieses Programms ist es, »das Nein nicht vom Ja« zu scheiden, also nicht angesichts des Positiven, vielleicht hier noch angesichts des ästhetisch Schönen, das Negative zu vergessen. Nur in der gleichzeitigen Wahrnehmung und Abbildung beider Elemente kann die Lyrik einen »Sinn« haben; und dieser wiederum kann nur klar hervortreten, wenn er umgeben ist von »Schatten«. Der Schatten ist nicht nur ein weiteres Bild für das Negative, das betont werden muss, um das Positive umso schärfer beleuchtet zu erkennen. Der Schatten verweist auf die Dunkelheit, die ihn, den Sprecher, in seiner Biographie umgibt, auf die Todeserfahrung, die nun seine Wahrnehmung so stark beherrscht, dass der Tageslauf nicht mehr vom Morgen zum Abend reicht, sondern sich zwischen »Mittnacht und Mittag und Mittnacht« erstreckt, also von der tiefsten Dunkelheit über das Licht zurück in die Dunkelheit. Der letzte Abschnitt bekräftigt diese Poetik des Schreibens über den Tod. Die Feststellung, dass es gerade beim Anrufen des Schattens »lebendig wird rings«, kann darauf hinweisen, dass die fortwährende Erinnerung an den Tod in sich lebendig ist, aber auch, dass in seinem »Spruch« die Toten eine Form von Lebendigkeit erlangen. In jedem Fall ist die Wahrheit seines lyrischen Sprechens an die »Schatten« gebunden. Celans Lyrik soll weiterhin das Ziel verfolgen, im Sprechen über den Tod die Toten wieder sprachlich prä-

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Paul Celan, »Mit Äxten spielend«, in: Ders., Gesammelte Werke. Gedichte I, S. 135. Vgl. Holthusen, »Fünf junge Lyriker«, S. 154–165; sowie Merkur 74/1954, 4, S. 378–390, bes. S. 395–390, dort unter dem Titel »Fünf junge Lyriker II«. Vgl. Felstiner, Paul Celan, S. 116.

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sent werden zu lassen,119 »sie selbst in der Sprache anwesend sein zu lassen«.120 »›Sprich auch Du‹ stellt einen Prozeß dar, in dem sich jene Rede über die Toten verwandelt in eine andere, in der sie selbst zur Sprache kommen sollen.«121 Von »Sprich auch du« führt ein direkter Weg zu Celans Poetik der ›graueren‹ Sprache, die von nun an ebenso in theoretischen Äußerungen wie in der Lyrik entfaltet wird. 4.2. Die Poetik der ›graueren‹ Sprache Die Poetik, die Celan seit Mitte der 50er Jahre entwickelt, ist einer der wichtigsten Beiträge zur Auseinandersetzung mit der Moderne in der deutschsprachigen Nachkriegslyrik. Von Anfang an sucht er in seinen Reflexionen über Lyrik neue Wege für die poetologische Behandlung seines biographisch-historisch von einer besonderen Intensität getönten Grundthemas: Dem gestörten Verhältnis zwischen Sprache und Wirklichkeit unter den Bedingungen der Nachkriegszeit. Allerdings stellt er sich nicht in die Kontinuität surrealistischer und sprachkritischer Poetiken, bei denen die Nachkriegsmoderne vor allem in Richtung einer ästhetischen Distanzierung von der Wirklichkeit entwickelt wird, sondern versucht, unter Einbeziehung der Argumente dieser Poetiken, eine Lyrik zu entwerfen, deren Ziel eine bestimmte Art von Realitätsbezug ist: die, wie Jürgen Lehmann es genannt hat, »Konstituierung von Wirklichkeit im Suchen von Wirklichkeit«.122 Dahingehend sind bereits die Formulierungen zu verstehen, die sich in der »Antwort auf eine Umfrage der Librairie Flinker« aus dem Jahr 1958 finden.123 Im Vergleich zur französischen Lyrik sei die deutsche umgeben von »Fragwürdigstem« und habe »Düsterstes im Gedächtnis«.124 Holocaust und 119

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Vgl. Seng, Auf den Kreis-Wegen der Dichtung, S. 164 und Beda Allemann, »Nachwort«, in: Paul Celan, Ausgewählte Gedichte, Beda Allemann (Nachwort), Frankfurt am Main 1968, S. 151–163, hier S. 158; sowie Emmerich, Paul Celan, S. 96f. Fred Lönker, »Paul Celans Poetik der Schattenrede«, in: Olaf Hildebrand (Hrsg.), Poetologische Lyrik von Klopstock bis Grünbein. Gedichte und Interpretationen, Köln, Weimar, Wien 2003, S. 287–293, hier S. 293. Ebd., S. 287. Jürgen Lehmann, »Einleitung: ›Wege, auf denen die Sprache stimmhaft wird‹. Zu Paul Celans Gedichtband Sprachgitter. Eine Einführung«, in: Jürgen Lehmann (Hrsg.), Kommentar zu Paul Celans »Sprachgitter«, Jens Finckh/Markus May/Sussanna Brogi (Mitarbeit), Heidelberg 1997, S. 15–65, hier S. 34. Vgl. Celan-Handbuch, S. 158f. Paul Celan, »Antwort auf eine Umfrage der Librairie Flinker, Paris« [1958], in: Ders., Gesammelte Werke in sieben Bänden. Gedichte III. Prosa. Reden, S. 167f., hier S. 167.

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Krieg sind in Celans Sicht Gravitationsfelder, die die deutsche Lyrik zu bestimmten Entwicklungen zwingen. Ihr Verhältnis zur lyrischen Tradition könne nicht affirmativ sein, auch wenn das vielleicht kollektiv erwartet würde; stattdessen sei »[i]hre Sprache nüchterner, faktischer geworden, sie misstraut dem ›Schönen‹, sie versucht, wahr zu sein«.125 Die Sprache der deutschen Lyrik, so Celan in dieser Diagnose, sei in jeder Hinsicht distanziert von den ästhetischen Grundlagen, die ihre Tradition bestimmt hätten und die er mit den Begriffen ›Musikalität‹ und ›Wohlklang‹ umschreibt. Von diesen Konzepten, die unauflöslich mit einer bestimmten Vorstellung von sprachlicher und lyrischer ›Schönheit‹ verbunden sind,126 hätte sich die Sprache der deutschen Lyrik entfernt und sei stattdessen ›grauer‹, zugleich aber auch präziser geworden. An diesem Punkt seiner Antwort geht die Diagnose grundsätzlicher Probleme der deutschen Lyrik der Nachkriegsjahre über in eine Beschreibung dessen, was Celan in seiner eigenen Lyrik anstrebt: Dieser Sprache geht es, bei aller unabdingbaren Vielstelligkeit des Ausdrucks, um Präzision. Sie verklärt nicht, ›poetisiert‹ nicht, sie nennt und setzt, sie versucht, den Bereich des Gegebenen und des Möglichen auszumessen.127

In der Sprache der deutschen Lyrik nach 1945 muss nach Celan eine Präzision im Mittelpunkt stehen, die es erlaube, die Bereiche des Wirklichen und des Möglichen sprachlich neu zu bestimmen und unter den Bedingungen der Katastrophe neu zu umschreiben. Nun erst wird die Rolle des Ich in der Lyrik neu definiert, denn auch Celan gesteht zu, dass bei dieser Neuvermessung von Grund auf »immer nur ein unter dem besonderen Neigungswinkel seiner Existenz sprechendes Ich, dem es um Kontur und Orientierung geht«,128 am Werk sei – also ein Ich, dem ebendiese Kontur und Orientierung innerhalb der sprachlichen Spielräume der Tradition verloren gegangen sei und das nun nur durch eine grundlegende Neuvermessung die Koordinaten neu bestimmen könne. Celans Diagnose der deutschen Lyrik aus dem Jahr 1958 steht am Ende der Modernisierungs- und Transformationsbewegung der 50er Jahre. Die Poetik findet ihre erste lyrische Ausformulierung in Sprachgitter, ein Band, der deshalb »als ein wichtiger Markstein und Wendepunkt sowohl in Celans künstlerischer Entwicklung als auch in derjenigen der deutschsprachigen 125 126

127 128

Ebd. Vgl. Emmerich, »Paul Celans Weg vom ›schönen Gedicht‹ zur ›graueren‹ Sprache«, S. 359. Celan, »Antwort auf eine Umfrage der Librairie Flinker, Paris« [1958], S. 167. Ebd., S. 168.

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Lyrik nach 1945« erscheint.129 Bei aller individuellen Differenz zu anderen deutschsprachigen Lyrikern bewegt sich Celan also in einer gewissen Synchronität mit zeitgenössischen literarischen Entwicklungen: Auch er erprobt und erarbeitet in der zweiten Hälfte der 50er Jahre neue Möglichkeiten und Spielräume moderner Lyrik, die dann in den Gedichtbänden der 60er Jahre – Die Niemandsrose (1963), Atemwende (1967), Fadensonnen (1968) und Lichtzwang (1970) – weiter entwickelt werden. Formuliert ist diese Poetik in der Ansprache anlässlich der Entgegennahme des Literaturpreises der freien Hansestadt Bremen (1958) und im Meridian. Die »Antwort auf eine Umfrage« zeigt allerdings auch, dass Celan eindeutiger und radikaler als andere Autoren die Notwendigkeit sieht, sich von traditionsgebundenen Schreibweisen loszulösen. Er betrachtet eine Neubestimmung der Wirklichkeit als seine zentrale Aufgabe. An der »Antwort auf eine Umfrage« wird auch noch anderes deutlich: Bei aller unüberwindlichen und wachsenden Distanz zum Deutschland der Nachkriegsjahre versteht Celan sich weiterhin als Lyriker deutscher Sprache. Er sieht die Entwicklung seiner Lyrik im Kontext und als Teil der deutschsprachigen Lyrik. Die Umfrage zielte auf »gegenwärtige Arbeiten und Vorhaben«,130 und in Celans Antwort ist zunächst und vor allem von der Situation der deutschen Lyrik die Rede. Eigene Projekte werden nicht genannt; nur über den Kontext einer an einzelne Künstler und Intellektuelle gerichteten Umfrage kann man erschließen, dass Celan die allgemein gehaltene Antwort als Rahmen, Eingrenzung oder Voraussetzung dessen sieht, was er explizit über den besonderen Fall seiner eigenen Lyrik nicht sagen will oder kann. Erst am Ende des Textes gesteht er zu, dass all die grundsätzlichen Aussagen über Lyrik und Sprache zu verstehen sind als Äußerungen eines »unter dem besonderen Neigungswinkel seiner Existenz sprechende[n] Ich, dem es um Kontur und Orientierung geht«. Wenn Celan also über seine »gegenwärtigen Arbeiten und Pläne[ ]«131 spricht, dann ist ihm das offenbar nur indirekt möglich, in Aussagen über die vorherrschenden Entwicklungen in der deutschen Lyrik, als deren problematischen und gleichwohl repräsentativen Teil er sich sieht. Diese Figuration des indirekten, sprachlich aber umso präziseren Sprechens über die eigene Lyrik und deren Bedingungen wiederholt sich auch in den anderen poetologischen Texten. Dem Grundproblem seiner Poetik – der Frage, wie ein jüdischer Lyriker deutscher Sprache nach der persönlichbiographischen und historischen Katastrophe des Holocaust noch weiter 129 130 131

Lehmann, »Einleitung«, S. 65. Vgl. Celan-Handbuch, S. 75. Celan, »Antwort auf eine Umfrage der Librairie Flinker, Paris« [1958], S. 167. Ebd.

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deutschsprachige Lyrik verfassen könne – nähert Celan sich in immer neuen Formulierungen und Figurationen und versucht, es unter verschiedensten Perspektiven und in sprachlich immer genaueren Formationen einzugrenzen. Es mit den zur Verfügung stehenden historischen Begriffen zu benennen, würde – so Celans implizite Überzeugung – der Aufgabe, den Opfern ›Stimmen‹ zu verleihen, nicht gerecht. Die Furcht, dass seine Texte in Deutschland als Möglichkeiten verstanden werden könnten, die Zivilisationskatastrophe des Holocaust zu ›verstehen‹ oder gar zu ›bewältigen‹, bestimmt seine wachsende Distanz zur »Todesfuge« in den 50er Jahren und damit auch die Entwicklung seiner Poetik, in der die Schwierigkeit der Suche nach dem Wort, das eine bestimmte Wirklichkeit umschreiben und ›gewinnen‹ kann, eine immer entscheidendere Rolle spielt und entsprechend immer deutlicher in den Gedichttext integriert wird. Die Vorstellung, der KunstCharakter eines Gedichts könne die im Text angepeilte und gesuchte Wirklichkeit überdecken und damit relativieren, war für Celan Anlass, seine Poetik immer weiter zu hinterfragen und zu modifizieren. In dem kurzen Umfragetext deuten sich die beiden Fragestellungen an, die den diskursiven Horizont der Nachkriegsmoderne in Deutschland bestimmen und die Celan in eine völlig neuartige Optik rückt: ›Sprache‹ und ›Wirklichkeit‹. Beide sind sowohl in der Tradition der Moderne als auch im spezifischen Horizont des kulturellen Lebens in Deutschland seit 1945 an bestimmte Denkfiguren gebunden. Die ›Wirklichkeit‹ wird, zunächst in eher vagen, mit der Zeit zusehends konkreten Verknüpfungen mit der historischen Situation, als ›krisenhaft‹ empfunden. Wenn zunächst eine Nähe zu kulturkritischen Topoi – ›Verlust der Mitte‹, ›unbehauster Mensch‹ – vorherrscht, dann wird spätestens seit der Mitte der 50er Jahre immer stärker versucht, die metaphysisch und existentialistisch getönte Krise der Erkennbarkeit, damit aber auch der sprachlichen Darstellbarkeit der ›Wirklichkeit‹, historisch zu konkretisieren und mit der Nachkriegssituation zu verknüpfen. Programmatisch versucht das Walter Höllerer in seinem Entwurf einer Poetik der Moderne im ›Vorwort‹ zur Anthologie Transit.132 Auf der anderen Seite steht die sprachkritische Tradition der Moderne. Sie ist in letzter Konsequenz ein Reflex auf die Wirklichkeitskrise – je diffuser die ›Wirklichkeit‹, desto problematischer ist es, ihr sprachlich zu begegnen –, hat aber in ihrer langen Diskussionsgeschichte133 eine gewisse Selbständigkeit erlangt: 132

133

Walter Höllerer, Transit. Lyrikbuch der Jahrhundertmitte, Frankfurt am Main 1956, S. IX–XVII, bes. S. X. Helmuth Kiesel, Geschichte der literarischen Moderne. Sprache, Ästhetik, Dichtung im zwanzigsten Jahrhundert, München 2004, S. 177–231.

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›Sprachkrise‹ verweist um 1950 auf die Unmöglichkeit, die sprachlich angemessene Formulierung für eine zeitgenössisch-moderne Wirklichkeit zu finden – wobei gerade die Vagheit der Umschreibung besonders in den späten 40er und frühen 50er Jahren den deutschen Autoren erlaubt, Nationalsozialismus und Holocaust weitgehend unreflektiert in diese allgemeine und ahistorisch gedachte poetologische Diagnose einzuschließen. Die Absage an diese Tradition beginnt bereits mit Bachmanns geschichtlich grundierter Lyrik in Die gestundete Zeit und wird dann noch radikaler in Anrufung des großen Bären fortgesetzt. Für Celan ist eine Trennung der Sprache von den Gegenständen von Anfang an gänzlich undenkbar. Sprache steht bei ihm immer im engsten Bezug zur persönlichen, biographischen und kollektiven historischen Wirklichkeit. In der sogenannten Bremer Rede beschreibt Celan diese grundsätzliche Abhängigkeit der Sprache von der individuellen und kollektiven Geschichte als ein ›Hindurchgehen‹.134 Der Verweis auf die Bukowina als die Landschaft seiner Herkunft nimmt nicht umsonst knapp die erste Hälfte der Rede ein, und auch am Ende kehrt der Text zu den Erfahrungen eines Ich zurück, das »auf das unheimlichste im Freien, mit seinem Dasein zur Sprache geht, wirklichkeitswund und Wirklichkeit suchend«.135 Angesichts der historischen Katastrophen, der individuellen Verluste und Umwege, bleibt die Sprache – und hier meint Celan: die deutsche Sprache – die einzige Konstante, die nicht verloren gegangen sei. Sie, die Sprache, blieb unverloren, ja, trotz allem. Aber sie mußte nun hindurchgehen durch ihre eigenen Antwortlosigkeiten, hindurchgehen durch furchtbares Verstummen, hindurchgehen durch die tausend Finsternisse todbringender Rede.136

Celans historische und biographische Erfahrungen reichen aus, um die Grenzen sprachlicher Ausdrucksmöglichkeiten weit zu überschreiten. Deshalb erscheint der Prozess, den die Sprache – die in Celans Darstellung der Akteur ist, hinter den der Autor zurücktritt – durchgemacht hat, zunächst einmal ohne Lösung: Die Sprache kann nicht reagieren, ist konfrontiert mit den »eigenen Antwortlosigkeiten« und schließlich mit dem Verstummen. Die Ursache dieser krisenhaften Unmöglichkeit, sprachlich adäquat zu reagieren, sind die »tausend Finsternisse todbringender Rede« – eine deutliche Chiffre für den Nationalsozialismus und die Verwandlung der deutschen in eine 134 135

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Vgl. Celan-Handbuch, S. 160–164. Celan, »Ansprache anläßlich der Entgegennahme des Literaturpreises der freien Hansestadt Bremen«, S. 185f., hier S. 186. Ebd., S. 185f.

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»todbringende[ ]« Sprache. Celan diagnostiziert hier die Zerstörungen, die durch Holocaust und Krieg auch der Sprache zugefügt wurden, aber im Unterschied zu den deutschen Autoren der Gruppe 47, die in den unmittelbaren Nachkriegsjahren auf den nationalsozialistischen Sprachmissbrauch mit Neorealismus und Kahlschlag-Poetik reagierten, umgeht er die Gefahr der Ausklammerung der Geschichte, indem er sie zu einem konstitutiven Bestandteil der Sprache danach macht. Wenn sie auch keine Worte habe für das historische Geschehen, dann habe sie es doch assimiliert, und allein deshalb könne sie es nicht ignorieren: »Sie ging hindurch und gab keine Worte her für das, was geschah; aber sie ging durch dieses Geschehen. Ging hindurch und durfte wieder zutage treten, ›angereichert‹ von all dem.«137 Celan legt Wert darauf, dass er selbst sich dieser geschichtlichen Kontamination oder Bereicherung seiner Sprache bewusst ist; zugleich lehnt er die Folgerung ab, dass diese Erfahrungen die Sprache von der Wirklichkeit entfernt haben könnten. Er habe, »in jenen Jahren und in den Jahren nachher«, in ebendieser Sprache »Gedichte zu schreiben versucht: um zu sprechen, um mich zu orientieren, um zu erkunden, wo ich mich befand und wohin es mit mir wollte, um mir Wirklichkeit zu entwerfen.«138 Celan nimmt in der Bremer Rede Bezug auf konkurrierende zeitgenössische Poetiken,139 insbesondere auf Gottfried Benns Probleme der Lyrik140 und Günter Eichs »Der Schriftsteller vor der Realität«.141 Damit bezieht er Stellung gegen Benns ›monologische Lyrik‹; ebenso aber überschreitet er die Grenzen der sprachkritischen Poetik der Revisionisten unter den Naturlyrikern, die paradigmatisch von Eich formuliert wurde, in mindestens drei Punkten. Erstens relativiert Celan Eichs Konzentration auf die Welt als Sprache: Wo Eich sagt, Schriftsteller zu sein bedeute »die Entscheidung, die Welt als Sprache zu sehen«,142 um diese Vorstellung dann im selben Atemzug zu kompensieren mit dem Konzept einer »eigentliche[n] Sprache […], in der

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Ebd., S. 186. Ebd. Vgl. Celan-Handbuch, S. 163. Gottfried Benn, »Probleme der Lyrik«, in: Ders., Essays und Reden. In der Fassung der Erstdrucke, Frankfurt am Main 1997, S. 505–535. Zum Verhältnis der konkurrierenden Poetiken Benns und Celans vgl. Agis Sideras, Paul Celan und Gottfried Benn. Zwei Poetologien nach 1945, Würzburg 2005. Günter Eich, »Der Schriftsteller vor der Realität (1956)«, in: Ders., Vermischte Schriften, Bd. IV, Gesammelte Werke in vier Bänden, revidierte Ausgabe, Axel Vieregg (Hrsg.), S. 613f. Celan, »Ansprache anläßlich der Entgegennahme des Literaturpreises der freien Hansestadt Bremen«, S. 186.

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das Wort und das Ding zusammenfallen«,143 da bleibt für Celan die Sprache, trotz und gerade wegen ihrer zentralen Stellung, ein Medium der Annäherung und der konstruktiven Projektion von Wirklichkeit. Zum zweiten wird Eichs Position historisch fundiert: Eichs räumlich und geradezu flächig angelegte Metapher von den Gedichten »als trigonometrische Punkte oder als Bojen, die in einer unbekannten Fläche den Kurs markieren«,144 klammert, ob nun intentional oder nicht, Zeit und vor allem Geschichte aus. Celan hingegen unterstreicht den Zeitlichkeitscharakter des Gedichts genau an jener Stelle seiner Rede, an der er strukturell Eich am nächsten kommt: »Denn das Gedicht ist nicht zeitlos. Gewiß, es erhebt einen Unendlichkeitsanspruch, es sucht, durch die Zeit hindurchzugreifen – durch sie hindurch, nicht über sie hinweg.«145 Celans Schreiben soll nicht als Versuch gesehen werden, sich in einer schematischen unendlichen Fläche zu orientieren, sondern es ist eine konkrete Bewegung, mit dem eindeutigen (und individuellen) Ziel, angesichts der Leiden in der geschichtlichen Welt »Richtung zu gewinnen«.146 Eich entwirft eine enthistorisierend-lebensphilosphische Poetik, in der die Nachkriegssituation Projektionsfläche für geistes- und mentalitätsgeschichtliche Entfremdungserscheinungen eines grundsätzlich modernen Zustands ist. Celans Gedicht hingegen ist biographisch-historisch fundiert; es ist »Ereignis, Bewegung, Unterwegssein«147 und damit Destillat einer Sprache, die durch die größte historische Katastrophe der Gegenwart gegangen ist und dennoch weiter versucht, im Bewusstsein dieser spezifischen historischen Erfahrung »Wirklichkeit zu entwerfen«.148 Drittens betont Celan den dialogischen Aspekt seines Gedichts, während für Eich die Suche nach einer sprachlich zu erkundenden Wirklichkeit in erster Linie Sache des Autor-Ichs ist. Celan hingegen ist der Meinung, dass die angepeilte Wirklichkeit, auf die das Gedicht zugeschrieben ist, mit einem Anderen, einem Anzusprechenden, vielleicht einem Du zusammenhängt. Sein Gedicht ist eine Bewegung, die nicht nur im Umschreiben oder Benennen einer Wirklichkeit endet, sondern in der Konstitution dieser Wirklichkeit, die aus dem Zusammentreffen des Textes mit einem Leser entsteht – mit einem Leser, der die spezifische Richtung des Autors aufnimmt und der insofern die im Text projektierte und gesuchte Wirklichkeit präsent macht.

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Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd.

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Die berühmte Formulierung vom Gedicht als ›Flaschenpost‹, die auf ›Herzland‹ zuhält, ist ein Versuch, diese Präsent-Werdung im gelungenen Rezeptionsvorgang zu umschreiben. Das Gedicht kann, da es ja eine Erscheinungsform der Sprache und damit seinem Wesen nach dialogisch ist, eine Flaschenpost sein, aufgegeben in dem – gewiß nicht immer hoffnungsstarken – Glauben, sie könnte irgendwo und irgendwann an Land gespült werden, an Herzland vielleicht. Gedichte sind auch in dieser Weise unterwegs: sie halten auf etwas zu. / Worauf ? Auf etwas Offenstehendes, Besetzbares, auf ein ansprechbares Du vielleicht, auf eine ansprechbare Wirklichkeit. / Um solche Wirklichkeiten geht es, so denke ich, dem Gedicht.149

Die Bremer Rede ist in ihrer Präzision eine erschöpfende Darstellung von Celans neuer Poetik. Im Meridian versucht Celan eine weitläufigere und voraussetzungsreichere Herleitung seiner neuen poetologischen Grundlagen. Der Meridian ist Celans ausführlichster poetologischer Text – oder besser: sein ausführlichster Versuch, die Schwierigkeiten und Voraussetzungen dieser Poetik annäherungsweise zu umschreiben. Entsprechend hat der Meridian einen suchenden, tentatorischen Charakter; Aussagen sind nicht fixiert, sondern werden approximativ umkreist. Deutlich wird das an den vielen Unterbrechungen des eigentlichen Gedankengangs durch rhetorische Fragen, selbstreflexive Parenthesen und erklärende Ansprachen an die Zuhörer. In diesen rhetorischen Unterstreichungen geht es nicht nur darum, die Aufmerksamkeit der Zuhörer für den in der Rede dargelegten Gedankengang zu erhöhen.150 »Erlauben Sie mir, an dieser Stelle unvermittelt – aber hat sich hier nicht jäh etwas aufgetan? – erlauben Sie mir, hier ein Wort von Pascal zu zitieren […]«:151 Solche und andere gestischen Parenthesen, in denen zumindest für die Zuhörer- oder Leserschaft der erst im Rückblick, von einem späteren Punkt des Textes (und auch dort in der Regel erst nach mehrfacher Lektüre) nachvollziehbare Verstehensprozess vorweggenommen wird, sind zudem integraler Bestandteil von Celans Poetik. Er überträgt eine der Grundlagen seiner Lyrik – die Suche nach der Sprache als immerwährender Prozess, der in der permanenten Annäherung an eine Wirklichkeit besteht, die immer neu gesucht werden muss – auf das poetologische Sprechen über Lyrik und expliziert damit, in der diskursiven und ausführlicheren Form der Rede, die Prinzipien seines lyrischen Schreibens. Die Versuche, dieses Zentrum seiner Poetik annäherungsweise zu umschreiben, gruppieren sich um vier thematische Schwerpunkte, und die An149 150 151

Ebd. Eine Zusammenstellung findet sich bei Felstiner, Paul Celan, S. 220. Celan, »Der Meridian«, S. 195.

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näherungen finden jeweils vor dem Horizont und im Dialog mit Büchner statt.152 Zum ersten wird im Meridian eine bestimmte Vorstellung von ›Kunst‹ erläutert. Das geschieht zunächst, indem anhand verschiedener BüchnerZitate das Wesen der Kunst umschrieben wird. Der Kunst haftet demnach ein oberflächlich-rhetorischer, jahrmarktshaft-sensationalistischer und vor allem mechanistisch-automatenhafter Charakter an.153 Kunst ist der Bereich, der das Verfahren, den technischen Aspekt von Texten, das Artifizielle umschreibt – das, was man als Fertigkeit erlernen, worüber man ›reden‹ kann. Damit ist die Kunst, das wird unter Berufung auf Lenz gezeigt, aber auch vom Bereich des Humanen, des »Natürliche[n] und Kreatürliche[n]«154 losgelöst. Denn der Versuch, das Natürlich-Kreatürliche vermittels der Kunst zu erfassen, muss es in letzter Konsequenz seiner Natürlichkeit berauben. Lenz’ Aussage, man müsse ein ›Medusenhaupt‹ sein, um eine bestimmte Szenerie aus der Wirklichkeit in Stein verwandeln und somit abbilden zu können, ist Celans Chiffre für diese Art von Kunst. Das ist ein Hinaustreten aus dem Menschlichen, ein Sichhinausbegeben in einen dem Menschlichen zugewandten und unheimlichen Bereich – denselben, in dem die Affengestalt, die Automaten und damit … ach, auch die Kunst zuhause zu sein scheinen.155

Die Konzentration auf die Kunst ist gefährlich: Sie kann in Bereiche führen, die nicht mehr kontrollierbar sind, ins Unmenschliche, Grausame, in eine gegenüber der Kreatürlichkeit des Einzelnen »unheimliche […] Fremde«.156 Diese Vorstellung von der Kunst ist der Idee der ›Meisterschaft‹ analog, die in der »Todesfuge« im Bild des Manns, der »mit den Schlangen [spielt]«,157 thematisiert wurde: Gerade die ›meisterliche‹ Beherrschung der Kunst läuft Gefahr, ins Inhumane umzuschlagen. Auch im Brief, den Celan im Mai 1960 als Beitrag für Hans Benders Poetik-Anthologie Mein Gedicht ist mein Messer verfasste, zielt er in erster Linie darauf ab, sich abzusetzen von einer Kunst des bloßen ›Machens‹, »die über die Mache allmählich zur Machenschaft wird«.158 Damit ist allerdings auch gesagt, dass die Kunst nicht prinzipiell

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Ausführlich vgl. Celan-Handbuch, S. 167–175. Celan, »Der Meridian«, S. 187f. Ebd., S. 191. Ebd., S. 192. Ebd., S. 200. Celan, »Todesfuge«, S. 41. Paul Celan, »Ein Brief«, in: Mein Gedicht ist mein Messer. Lyriker zu ihren Gedichten, Hans Bender (Hrsg.), München 1961, S. 86f.; auch in Paul Celan, Gesammelte

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diesem Bereich angehört: »Die Kunst ist insofern ›unheimlich fremd‹, als sie in dem Bereich des Unheimlichen und Fremden ihr Wesen hat; nicht ist umgekehrt alles unheimliche Fremde Kunst.«159 Zugleich ist die Vorstellung von der Kunst als bloßes Verfahren, das die Dimension des Menschlichen ausblendet und sich auf das künstlerische Material der Sprache konzentriert, mit der zeitgenössischen Debatte um die poésie pure verknüpft: Die Vorstellung »von der Kunst als von einem Vorgegebenen und unbedingt Vorauszusetzenden«, die Vorstellung, man müsse »Mallarmé konsequent zu Ende denken«,160 erscheint als verfehlt, wenn man ihr Büchners »radikale InFrage-Stellung der Kunst«161 entgegensetzt. Der zweite Schwerpunkt im Meridian ist eine Erläuterung der ›Dichtung‹ bzw. des Gedichts. Was auf den ersten Blick wie eine schlichte Opposition zwischen Kunst und Dichtung als Oberfläche und Inhalt aussieht, wird bei näherem Hinsehen zu einer komplexen Beziehung gegenseitiger Abhängigkeit, bei der Celans Vorstellung von der Bewegung und Assimilation des Fremden und Gegensätzlichen eine wichtige Rolle spielt.162 Kunst ist für Celan die Voraussetzung für Dichtung, sie ist ein Teil der Bewegung, die zurückgelegt werden muss, um bei der Dichtung anzukommen. Wiederum aus der Lenz-Lektüre entwickelt Celan den Gedanken der Ich-Ferne, den die Kunst fordert: »Kunst schafft Ich-Ferne. Kunst fordert hier in einer bestimmten Richtung eine bestimmte Distanz, einen bestimmten Weg.«163 Die Dichtung, »die doch den Weg der Kunst zu gehen hat«, landet dabei aber nicht gleichfalls bei »Medusenhaupt und Automat«,164 also bei den Chiffren der Entmenschlichung, sondern geht darüber hinaus. Wie die Kunst beruht sie auf der Voraussetzung der Selbstentfremdung und kommt in Berührung mit »jenem Unheimlichen und Fremden«, das man als Distanz des Gestalters zu seinem Material erklären könnte. Anders als der Kunst gelingt es ihr aber, sich von dieser Selbstentfremdung und Selbstentäußerung wieder zu befreien, sich ›freizusetzen‹.165

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Werke in sieben Bänden. Gedichte III. Prosa. Reden, S. 177f. – Vgl. Celan-Handbuch, S. 159. Gerhard Buhr, »Von der radikalen In-Frage-Stellung der Kunst in Celans Rede ›Der Meridian‹«, in: Celan-Jahrbuch 2/1988, S. 169–208, hier S. 181. Celan, »Der Meridian«, S. 193. Ebd., S. 192f. Vgl. zu diesem Fragenkomplex Buhr, »Von der radikalen In-Frage-Stellung der Kunst«. Celan, »Der Meridian«, S. 193. Ebd. Ebd.

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Dieser »Ort[ ] der Dichtung, […] der Freisetzung, […] des Schritts«166 steht im Zentrum von Celans Poetik. Es wäre der Moment, in dem die Lektüre eines Gedichts in Präsenz, in die Berührung mit Realität umschlägt, in dem ein Dialog zwischen Leser und Text beginnt, an dem die Sprache des Textes mit einer bestimmten Wirklichkeitsreferenz verknüpft wird. Es handelt sich also um einen nur projektierten, nur in der diskursiven Umschreibung fassbaren punktuellen Vorgang. Entsprechend versucht Celan in der Rede von Anfang an immer wieder, diesen Augenblick des Umschlagens der Kunst in Dichtung einzugrenzen, in dem die Dichtung erfassbar wird, in dem »Sprache als Gestalt und Richtung und Atem« wahrnehmbar wird.167 Das erste und berühmteste Beispiel für diese Emergenz von Dichtung ist Luciles ›Gegenwort‹ aus Dantons Tod; das im Kontext der Hinrichtungsszene und des Stückes ausgesprochene »Es lebe der König« sei ein »Akt der Freiheit«, in der sich die »für die Gegenwart des Menschlichen zeugende[ ] Majestät des Absurden« manifestiere.168 Diese Freiheit, dieser Widerstand gegen gesellschaftliche und politische Zwänge, auch wenn sie diktatorisch und tödlich sind, hat für Celan mit dem Charakter der Dichtung zu tun. Noch deutlicher wird die Freisetzung der Dichtung angesichts der Bedrohung, die von der Dunkelheit der Kunst ausgeht, in der Formulierung ›auf dem Kopf gehen‹ aus Büchners Lenz. Denn hier werde »ein furchtbares Verstummen« inszeniert, »es verschlägt ihm – und auch uns – den Atem und das Wort«.169 Aus der Formulierung entwickelt sich dann das mehrfach angekündigte Konzept der ›Atemwende‹, der Begriff, in dem sich die Entstehung der Dichtung aus der Kunst konzentriert: Dichtung: das kann eine Atemwende bedeuten. Wer weiß, vielleicht legt die Dichtung den Weg – auch den Weg der Kunst – um einer solchen Atemwende willen zurück? Vielleicht gelingt es ihr, da das Fremde, also der Abgrund und das Medusenhaupt, der Abgrund und die Automaten, ja in einer Richtung zu liegen scheint, – vielleicht gelingt es ihr hier, zwischen Fremd und Fremd zu unterscheiden, vielleicht schrumpft gerade hier das Medusenhaupt, vielleicht versagen gerade hier die Automaten – für diesen einmaligen kurzen Augenblick? Vielleicht wird hier, mit dem Ich – mit dem hier und solcherart freigesetzten befremdeten Ich, – vielleicht wird hier noch ein Anderes frei?

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Ebd., S. 194. Ebd. Ebd., S. 189. Vgl. Buhr, »Von der radikalen In-Frage-Stellung der Kunst«, S. 192–201. Celan, »Der Meridian«, S. 195.

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Vielleicht ist das Gedicht von da her es selbst … und kann nun, auf diese kunstlose, kunst-freie Weise, seine anderen Wege, also auch die Wege der Kunst gehen – wieder und wieder gehen? Vielleicht.170

Der dritte Schwerpunkt der Meridian-Rede deutet sich bereits in dieser Darstellung der Entstehung des Gedichts aus dem Charakter der Kunst an: Es ist das Konzept der ›Begegnung‹ – das »Geheimnis der Begegnung«,171 wie Celan sagt. Auch hier wird wieder klar, dass er jede Loslösung der Sprache von einer Wirklichkeitsreferenz strikt ablehnt. Vielmehr ist das Gedicht für ihn überhaupt nur vorstellbar als ein Kommunikationsprozess – oder zumindest als der auf verschiedenen Ebenen geführte Versuch, einen solchen zu erzeugen. Das Gedicht geht nicht nur immer wieder den Weg der Kunst, es versucht auch, allen Schwierigkeiten zum Trotz, die damit in der Gegenwart verbunden sind, den eigenen Bereich der Sprachlichkeit auf ein Anderes, auf eine außenstehende Realität, zugleich aber auf einen anderen Menschen zu beziehen.172 Die Lyrik, die Celan sich vorstellt, bewegt sich durchaus im Rahmen der Möglichkeiten, die durch die Sprache gegeben sind. Es handelt sich um eine »aktualisierte Sprache, freigesetzt unter dem Zeichen einer zwar radikalen, aber gleichzeitig auch der ihr von der Sprache gezogenen Grenzen, der ihr von der Sprache erschlossenen Möglichkeiten eingedenk bleibenden Individuation«.173 Das Gedicht versucht, anhand der sprachlichen Möglichkeiten und Spielräume, die dem Einzelnen in seiner individuellen Biographie gegeben sind, die Grenzen der reinen Sprachlichkeit zu überschreiten. Zugleich ist es geschrieben von einem, »der nicht vergißt, daß er unter dem Neigungswinkel seines Daseins, dem Neigungswinkel seiner Kreatürlichkeit spricht«.174 Der textuelle Charakter des Gedichts ist also an die Körperlichkeit, an die lebendige »Sprache des Einzelnen« gebunden – und deshalb ist es »seinem innersten Wesen nach Gegenwart und Präsenz«.175 Allerdings muss sich dieser Gegenwarts- und Präsenzcharakter des Gedichts erst realisieren, und das geschieht, indem die Isolation des reinen Textes überwunden wird und sich die Sprache verbindet mit dem Anderen, worunter Celan sowohl 170 171 172

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Ebd., S. 195f. Ebd., S. 198. Philippe Lacoue-Labarthe spricht in seiner Meridian-Lektüre von der »Dichtung als Unterbrechung der Kunst, das heißt, der Nachahmung (Mimesis)«. Vgl. Philippe Lacoue-Labarthe, »Katastrophe«, in: Werner Hamacher/Winfried Menninghaus (Hrsg.), Paul Celan, Frankfurt am Main 1988, S. 31–60, hier S. 55. Celan, »Der Meridian«, S. 197. Ebd., S. 197. Ebd., S. 198.

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eine Referenz in der Wirklichkeit versteht als auch einen Leser, der den Text rezipiert. Das Gedicht will zu einem Andern, es braucht dieses Andere, es braucht ein Gegenüber. Es sucht es auf, es spricht sich ihm zu. Jedes Ding, jeder Mensch ist dem Gedicht, das auf das Andere zuhält, eine Gestalt dieses Anderen. Die Aufmerksamkeit, die das Gedicht allem ihm Begegnenden zu widmen versucht, sein schärferer Sinn für das Detail, für Umriß, für Struktur, für Farbe, aber auch für die »Zuckungen« und die »Andeutungen«, das alles ist, glaube ich, keine Errungenschaft des mit den täglich perfekteren Apparaten wetteifernden (oder miteifernden) Auges, es ist vielmehr eine aller unserer Daten eingedenk bleibende Konzentration.176

Der Leser oder Hörer, der den Text in seiner Wahrnehmung immer wieder aktualisieren soll, ist also von entscheidender Wichtigkeit.177 »Das Gedicht wird […] zum Gedicht eines – immer noch – Wahrnehmenden, dem Erscheinenden Zugewandten, dieses Erscheinende Befragenden und Ansprechenden; es wird Gespräch – oft ist es verzweifeltes Gespräch.«178 Celan scheint sich der Schwierigkeit seiner Konzeption bewusst zu sein. Denn der Wirklichkeitscharakter des Gedichts, seine immanente Neigung zum Dialog, ist punktuell und vielleicht utopisch – es ist eine Zielvorstellung, die sich erst im Prozess der gelingenden Lektüre eines seinerseits gelungenen Gedichts realisieren kann: Erst im Raum dieses Gesprächs konstituiert sich das Angesprochene, versammelt es sich um das es ansprechende und nennende Ich. Aber in diese Gegenwart bringt das Angesprochene und durch Nennung gleichsam zum Du Gewordene auch sein Anderssein mit. Noch im Hier und Jetzt des Gedichts – das Gedicht selbst hat ja immer nur diese eine, einmalige, punktuelle Gegenwart –, noch in dieser Unmittelbarkeit und Nähe läßt es das ihm, dem Anderen, Eigenste mitsprechen: dessen Zeit.179

Damit ist auch der vierte Schwerpunkt der Poetik des Meridian genannt: Das Gedicht ist, bei all seiner Suche nach dem gelingenden Sprechakt, auch in seiner jeweiligen historischen Gegenwart verwurzelt. Die Formulierung, dass »jedem Gedicht sein ›20. Jänner‹ eingeschrieben bleibt«, verweist in ihrer Mehrdeutigkeit – der 20. Jänner aus der Lenz-Erzählung ist zugleich der Tag der Wannsee-Konferenz, der 20. Januar 1942, damit wiederum der Tag, 176 177

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Ebd. Zum prozessualen Aspekt dieser Vorstellung vgl. Georg Michael Schulz, Negativität in der Dichtung Paul Celans, Tübingen 1977, S. 181f. Celan, »Der Meridian«, S. 198. Ebd., S. 198f.

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der für Celan den Tod der Eltern bedeutete180 – auf den historischen und biographischen, kollektiven und individuellen Hintergrund jedes lyrischen Sprechens nach dem Holocaust. Wenn Celan vermutet, es sei »[v]ielleicht das Neue an den Gedichten, die heute geschrieben werden […], daß hier am deutlichsten versucht wird, solcher Daten eingedenk zu bleiben«,181 dann konstatiert er im Bezug, ja in der grundlegenden Abhängigkeit von der unmittelbaren geschichtlichen Vergangenheit die notwendige Basis einer Poetik der Nachkriegszeit. Der Horizont, vor dem seine komplexe Poetik gesehen werden muss, ist diese von Nationalsozialismus und Holocaust, vom »Akut des Heutigen«182 bedingte ›Gegenwart‹. »Wir leben unter finsteren Himmeln, und – es gibt wenig Menschen. Darum gibt es wohl auch so wenig Gedichte.«183 Diese Worte, in denen nochmals der Gang des Gedichts durch die Kunst zum Menschlich-Dialogischen resümiert wird, stehen am Ende von Celans Beitrag für Benders Poetik-Anthologie. Sie zeigen, dass Celan sich der Schwierigkeiten, seine Poetik unter den geschichtlichen Bedingungen seiner Gegenwart zu verwirklichen, mehr als bewusst war. Sie zeigen auch, dass dieser Poetik bei aller Komplexität und bei aller Konzentration auf Sprachlichkeit für Celan ein Zug des permanenten individuellen Widerstands gegen die Erfahrung historischer Grausamkeit und gegen die persönlichen Verluste eignet: »Die Hoffnungen, die ich noch habe, sind nicht groß; ich versuche, mir das mir Verbliebene zu erhalten.«184 4.3. Mallarmé-Diskurs und Mandelstam-Begegnung Ein entscheidender Akzent im Meridian ist die Ablehnung einer Poetik des l’art pour l’art – in Celans Worten: einer Poetik, die »von der Kunst als von einem Vorgegebenen und unbedingt Vorauszusetzenden ausgeh[t]«.185 Die Vorstellung von der wirklichkeitsfernen Sprachfixierung lyrischen Schreibens wird mit dem Namen Mallarmé identifiziert; die Frage, ob in der gegenwärtigen Lyrik »Mallarmé konsequent zu Ende«186 gedacht werden solle, verneint Celan auf allen Ebenen: Sowohl die explizite Gegenwärtigkeit des 180 181

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Vgl. Emmerich, Paul Celan, S. 8–11. Celan, »Der Meridian«, S. 196. Zu Funktionalität und Semantik der Datierung Jacques Derrida, Schibboleth. Für Paul Celan, Peter Engelmann (Hrsg.), Wolfgang Sebastian Baur (Übers.), 4. Aufl. Wien 2007 [11986]. Celan, »Der Meridian«, S. 190. Celan, »Ein Brief«, S. 87. Ebd. Ebd., S. 193. Ebd.

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Gedichts als auch sein im Konzept der Begegnung angezeigter dialogischer Charakter, die sowohl auf textueller als auch auf der Rezeptionsebene postulierte Ausrichtung auf eine Wirklichkeit sprechen gegen eine exklusive Fixierung auf die Sprachlichkeit lyrischer Texte. Freilich ist es auf der anderen Seite nicht zu übersehen, dass Celans Lyrik in Sprachgitter in ihrer auf einzelne Worte, auf Strukturen und räumliche Indikatoren beschränkten Sprachkonzentration bei aller immer wieder postulierten Wirklichkeitsreferenz von den ästhetischen Maximen des l’art pour l’art nicht unberührt geblieben ist. Celan selbst erläutert diese komplexe Wechselbeziehung zwischen der Konzentration auf Sprachlichkeit und dem Bestreben, die Isolation im sprachlichen Zeichen nicht zuzulassen, in der Doppelstruktur von Kunst und Dichtung. So sehr ›Dichtung‹ nach Celans Vorstellung der ›Kunst‹ entgegengesetzt ist, so sehr ist sie auch von ihr abhängig. Das Gedicht kann sich erst als »Gegenwart und Präsenz«187 realisieren, wenn es durch die Kunst hindurchgegangen ist, wenn es die wesentlichen Qualitäten der Kunst, ihren artifiziellen, nur aufs Sprachliche konzentrierten Charakter, assimiliert und zugleich überwunden hat. Dass diese für die Poetik des Meridian entscheidende Denkfigur in enger Verbindung mit Celans übersetzerischem Werk steht,188 wurde erst unlängst wieder von Florence Pennone189 und Ute Harbusch190 gezeigt. In beiden Untersuchungen bestätigt sich, dass Celans Übersetzungen »sowohl als eigenständige poetische Leistungen […] als auch als ein Teil seines dichterischen Werkes anerkannt werden«191 müssen. Gerade die Ausbildung von Celans Poetik der späten 50er Jahre weist »eine parallele Entwicklung in Celans Übersetzungsstil« auf.192 Die am Meridian gewonnene Diagnose bestätigt sich dabei: Man könne eben nicht die »Lebensabgewandtheit und Artifizialität« des Symbolismus parallel setzen mit dem Kunstbegriff des Meridian und daraus eine einseitige Dichotomie ableiten, in der der »literarische[ ] Symbolismus als Gegenpol zu den poetologischen Grundsätzen Celans […] etablier[t]« wird.193 Vielmehr geht es darum, auch in Celans Auseinanderset187 188 189

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Ebd., S. 198. Vgl. Celan-Handbuch, S. 189–192. Florence Pennone, Paul Celans Übersetzungspoetik. Entwicklungslinien in seinen Übertragungen französischer Lyrik, Tübingen 2007. Ute Harbusch, Gegenübersetzungen. Paul Celans Übertragungen französischer Symbolisten, Göttingen 2005. Vgl. zuvor Leonard Moore Olschner, Der feste Buchstab. Erläuterungen zu Paul Celans Gedichtübertragungen. Göttingen 1985, bes. S. 163–204. Pennone, Paul Celans Übersetzungspoetik, S. 2. Ebd., S. 3. Harbusch, Gegenübersetzungen, S. 10.

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zung mit den Symbolisten die wechselseitige Abhängigkeit von Kunst und Dichtung zu erkennen: Celans übersetzende Lektüre der französischen Symbolisten dient nicht der Denunziation von Kunst, sondern versucht vielmehr, das stets ambivalente Verhältnis von literarischer Tradition und Zeitgenossenschaft auszuloten und die wechselseitige Abhängigkeit von ›Kunst‹ und ›Dichtung‹ zu überprüfen. […] / Denn selbstverständlich geschieht die Auseinandersetzung mit der ›Kunst‹ – der Kunst der von ihm übertragenen Dichter – nicht aus einer festen, gesicherten Gegenposition heraus, die ›Dichtung‹ hieße. ›Kunst‹ und ›Dichtung‹ sind vielmehr wie zwei Pole gegenseitig aufeinander bezogen […]. […] Zwangsläufig und notwendig entspricht daher der »In-Frage-Stellung der Kunst« die »Befragung und Infragestellung« auch des »Dichterischen«.194

Harbusch zeigt, wie die Auseinandersetzungen mit einer Gruppe französischer Dichter in der zweiten Hälfte der 50er und Anfang der 60er Jahre, also während der Zeit, in der sich die Poetik des Meridian im parallel entstehenden Gedichtband Sprachgitter herausbildete, dazu beitragen, dass »schließlich wirklich eine ›Freisetzung‹ des eigenen Sprachstils«195 stattfindet. Celans Übersetzungen sind somit Teil der Grundlagenrevision, deren Resultat die Poetik des Meridian ist. Sie dienen der »Überprüfung seiner Stellung innerhalb der literarischen Tradition«, aber auch der nochmaligen kritischen Betrachtung der »Position innerhalb der eigenen Entwicklung, die von den klangvollen, metaphernreichen frühen Gedichten über die immer ›schroffere‹ Sprache von Sprachgitter bis hin zu den ersten Gedichten des neuen Bandes in Die Niemandsrose reicht […]«.196 Zu ähnlichen Ergebnissen kommt Pennone, wenn sie die zentrale Stellung der Übersetzung von Valérys Jeune Parque unterstreicht: Sie bilde in der »Reihe der Übertragungen französischer Lyrik […] einen ersten Höhepunkt«.197 Denn: In ihr findet Celans Poetik des Dialogs neben dem theoretischen Diskurs im Meridian und in der eigenen Lyrik in Sprachgitter eine dritte Ausdrucksform. Als Übersetzung macht dieser Text deutlich, dass das eigene Wort, die eigene Sprache und Dichtung nur in Auseinandersetzung mit und in Abgrenzung von fremden Werken und Autoren zu sich selber finden kann: als Antwort, als Replik (im Sinne Bachtins) und vielleicht sogar als Gegenwort.198

Freilich gesteht Pennone zu, dass auch andere Übertragungen aus den späten 50er Jahren »der Entfaltung der Sprachgitter-Poetik dienen und die Suche 194 195 196 197 198

Ebd., S. 16. Ebd., S. 14. Ebd., S. 15. Pennone, Paul Celans Übersetzungspoetik, S. 472. Ebd.

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des Dichters nach poetischer Orientierung und Identität voranbringen«.199 Hier werden zwei Fälle diskutiert, die die Abhängigkeit der Poetik aus dem zeitlichen Umfeld des Meridian von den Übersetzungen und den dazugehörigen Reflexionen exemplarisch beleuchten. In der Reihe der Übersetzungen französischer Lyriker des 19. und 20. Jahrhunderts, mit denen Celan sich in der zweiten Hälfte der 50er Jahre beschäftigte, nimmt Mallarmé auf den ersten Blick keine herausgehobene Stellung ein: Celan hat mit »Rondel« nur einen einzigen Text Mallarmés übersetzt. Vergleichbare Einschränkungen gelten allerdings auch für Baudelaire und Valéry, und auch von Rimbaud sind im Band der Werkausgabe mit Celans Übertragungen nur zwei Gedichte geführt. Für die lyrische Nachkriegsmoderne ist Mallarmé vor allem von diskursiver Bedeutung: Als paradigmatischer Lyriker der Moderne steht er seit Beginn der 50er Jahre im Zentrum der Diskussion um moderne Lyrik. In fast allen Äußerungen der Nachkriegsjahre, in denen moderne Lyrik beschrieben oder ansatzweise definiert wird, spielt Mallarmé eine zentrale Rolle. Harbusch rekonstruiert diese Diskussionen,200 die dazu führten, dass Celan am Ende der 50er Jahre als »fest verankert in der Tradition der modernen Lyrik« erschien,201 die aber in der zeitgenössischen deutschen Diskussion vor allem erlaubten, die historische Bedingtheit seiner Lyrik als ästhetisch irrelevant auszublenden.202 Vor diesem Hintergrund beginnt Celans übersetzerische Beschäftigung mit Dichtern der französischen, aber auch der russischen Moderne. »Es hat den Anschein, als überprüfe Celan nun selbst die Verbindung seines Dichtens zu dem der französischen Symbolisten, und es ist selbstverständlich, daß er sich dabei den gleichen poetologischen Fragen stellt wie schon seine französischen Vorläufer.«203 Harbusch beginnt ihre Auseinandersetzung mit Celans Übersetzungen mit einer Untersuchung der Celan-Forschung seit 1970. Hier gehe es »mit wechselnden Gewichtungen vor allem um das Verhältnis von historischer Erfahrung und Sprachproblematik«204. Angesichts der Wichtigkeit des Mal199 200 201 202

203 204

Ebd. Harbusch, Gegenübersetzungen, S. 10, S. 29–57. Ebd., S. 51. Harbusch skizziert als Beispiel die Kontroverse zwischen Szondi und Holthusen: Für Holthusen seien die Metaphern wie ›Weißhaar der Zeit‹, ›Mühlen des Todes‹, ›weißes Mehl der Verheißung‹ willkürlich und surrealistisch x-beliebig, Szondi verknüpfe sie mit den Protokollen im Auschwitz-Prozess; eine Verknüpfung, die Holthusen wiederum als ›absurd‹ und ›ungeheuerlich‹ empfinde, »gemessen zumindest an einem traditionellen Lyrikverständnis«. Vgl. ebd., S. 47–49, hier S. 49. Ebd., S. 51f. Ebd., S. 67.

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larmé-Paradigmas in der Celan-Forschung seien »Gegenüberstellung[en] der Mallarméschen und der Celanschen Poetik«205 überraschend selten. Die Bedeutung Mallarmés für Celan geht am deutlichsten aus Peter Szondis Aufsatz »Poetry of Constancy – Poetik der Beständigkeit« zu »Celans Übertragung von Shakespeares Sonett 105« hervor.206 Szondi zeigt, in Anlehnung an Benjamins Abhandlung Aufgabe des Übersetzers, dass es in Celans Shakespeare-Übertragung zwei ›Arten des Meinens‹ gebe: Neben derjenigen Shakespeares stünden die Ansätze Celans und Mallarmés. »Shakespeares Sonett spreche, wie das symbolistische Gedicht, über das Dichten, Celan vermeide dies und lasse die Sprache selbst sprechen.«207 Celan integriert also die für seine Poetik charakteristische ›Intention auf Sprache‹ (Szondi greift hier die Formulierung aus Benjamins Abhandlung Aufgabe des Übersetzers auf208) in die Übersetzung des Shakespeare’schen Textes. Insgesamt liefert der Aufsatz einen wichtigen Ansatz für die Einschätzung der Celan’schen MallarméÜbersetzungen: Nicht mehr läßt Celan den Dichter von seinem argument, seiner invention, seinem scope sprechen, sondern sein Vers ist so gefügt, wie es dieses Thema und diese Absicht verlangen. Celan läßt den Dichter nicht behaupten, sein Vers lasse Unterschiede aus, sondern er läßt ihn eine Sprache sprechen, in der Unterschiede ausgelassen sind. Aus der Konzeption, welche die Symbolisten von der Poesie hatten, die sich selbst zum Gegenstand wird, sich selbst als Symbol beschwört und beschreibt, hat Celan in der Nachfolge des späten Mallarmé wie als Zeitgenosse und aufmerksamer Beobachter der modernen Linguistik, Sprachphilosophie und Ästhetik die Konsequenz gezogen. In der Übertragung eines Gedichts, dessen Gegenstand jene Beständigkeit ist, die nach der Definition Jakobsons als von der Achse der Paradigmatik, der sie konstitutiv ist, auf die Achse der Syntagmatik projizierte in dieser die poetische Sequenz von der prosaischen unterscheidet, hat er – vielleicht ohne Jakobsons Theorem zu kennen – an die Stelle des traditionellen symbolistischen Gedichts, das von sich selber handelt, das sich selbst zum Gegenstand hat, ein Gedicht gesetzt, das von sich selbst nicht mehr handelt, sondern es ist. Ein Gedicht, das nicht mehr von sich selbst spricht, sondern dessen Sprache in dem geborgen ist, was es seinem Gegenstand, was es sich selber zuschreibt: in der Beständigkeit.209

205 206

207 208

209

Harbusch, Gegenübersetzungen, S. 68. Peter Szondi, »Poetry of Constancy – Poetik der Beständigkeit. Celans Übertragung von Shakespeares Sonett 105«, in: Ders., Celan-Studien, S. 13–45. Harbusch, Gegenübersetzungen, S. 76. Walter Benjamin, »Die Aufgabe des Übersetzers (Vorwort zu der deutschen Übertragung von Charles Baudelaire: Tableaux parisiens)«, in: Ders., Gesammelte Schriften, Bd. 4.1, Kleine Prosa, Baudelaire-Übertragungen, Rolf Tiedemann (Hrsg.), Frankfurt am Main 1972, S. 9–21, bes. S. 16 u. 18. Szondi, »Poetry of Constancy – Poetik der Beständigkeit«, S. 44f.

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Szondis Aufsatz ist für Celans Mallarmé-Verständnis ebenso bedeutsam wie für seine »postsymbolistische[ ] Poetik des Übersetzens«210 und von daher wieder für die Konstitution einer eigenen Poetik. Celans MallarméNachfolge erschöpft sich nicht in einer Ablehnung des angeblichen Mallarmé’schen Sprachparadigmas. Harbusch zeigt, dass Szondis Begriff von ›Beständigkeit‹ auf der für die Sprache konstitutiven »Diskrepanz zwischen signifiant und signifié« beruht, die eine »Vielzahl möglicher Äquivalenzen« erlaubt, »von denen keine das Gemeinte voll und ganz und ausschließlich trifft«.211 Auf dieses Paradoxon weist Szondi hin, wenn er sagt, die Polysemie sei »ebenso das Skandalon der Semiotik, wie sie die Grundtatsache der Poetik ist«,212 zugleich ist aber dieser »Verlust der adamitischen Sprache«213 auch ein zentraler Aspekt von Mallarmés Poetik – und damit wiederum ein Weg, Celans sprachreflexive Lyrik zu beschreiben, die gleichwohl unter »dem Neigungswinkel seiner Kreatürlichkeit«214 gesehen werden muss. Daher trifft nur die halbe Wahrheit, wer ihm unterstellt, er habe die Sprache ablösen wollen von der Wirklichkeit, ist doch seine Lyrik letztlich ein Versuch, die Geschiedenheit von Wörtern und Sachen zu überwinden zugunsten […] einer sekundären mimetischen Beziehung zur Idee. […] Die Poetik Celans wie Mallarmés ist zweifellos geprägt von einer tiefen Sprachskepsis. Dennoch unternehmen beide […] in ihrer Dichtung den Versuch, »die sprachlichen Zeichen zu motivieren«: Mallarmé, indem er die ›durch den Anprall ihrer Ungleichheit mobilisierten‹ Wörter sich so lange wechselseitig ineinander spiegeln läßt, bis sie ›den Mangel der Sprachen‹ auf einer höheren Ebene ausgeglichen haben; Celan, indem er der Sprache »etwas Personhaftes«, »das Natürliche und Kreatürliche« wiedergibt, das sie als bloßes Zeichensystem verloren hat. Nicht mehr nur Zeichen, sondern wirklich Gesten sollen die Wörter sein und nicht den an Drähten und Fäden geführten Automaten und Puppen gleichen, sondern Lucile mit ihrem »Schritt«.215

Celan zielte also darauf ab, die in den 50er Jahren paradigmatisch mit Mallarmé identifizierte Fixierung auf reine Sprachlichkeit in einer differenzierten Lektüre Mallarmés zu unterlaufen. Bis zu einem gewissen Grad ähnliche Figurationen der differenzierenden Rezeption eines in den 50er und 60er Jahren mit ›Hermetismus‹ und ›Wirklichkeitsferne‹ identifizierten Autors, die zugleich in der Übersetzung mit der eigenen Poetik synthetisiert wird, weist Peter Goßens an den 1968 entstandenen Ungaretti-Übersetzun210

211 212 213 214 215

Markus May, »Ein Klaffen, das mich sichtbar macht.« Untersuchungen zu Paul Celans Übersetzungen amerikanischer Lyrik, Heidelberg 2004, S. 33. Harbusch, Gegenübersetzungen, S. 79. Szondi, »Poetry of Constancy – Poetik der Beständigkeit«, S. 37. Harbusch, Gegenübersetzungen, S. 79. Celan, »Der Meridian«, S. 197. Harbusch, Gegenübersetzungen, S. 79f.

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gen nach;216 allerdings scheint die Auseinandersetzung mit Mallarmé und der modernen französischen Lyrik für Celans Poetik bedeutsamer.217 Die Wichtigkeit der französischen Lyrik für Celan bestätigt auch Thomas Klinkerts vergleichende Analyse von Rimbauds Le bateau ivre und Celans Flimmerbaum.218 Dass die Bedeutung Mallarmés für Celan als »Leitstern am Himmel der modernen Literatur […] kaum Gültigkeit besessen haben dürfte«,219 zeigt Harbusch schließlich an der Übertragung von Mallarmés »Rondel«, die andererseits in ihrer thematischen und strukturellen Ausrichtung dennoch »typisch [ist] für alle weiteren Übertragungen« französischer Autoren, vor allem Rimbauds und Valérys. Si tu veux nous nous aimerons Avec tes lèvres sans le dire Cette rose ne l’interromps Qu’à verser un silence pire

Willst du’s, solls die Liebe sein, Du, dein Mund, wir sagens nicht, Schenkst der Rose Schweigen ein, Bittrer, so du’s unterbrichst.

Jamais de chants ne lancent prompts Le scintillement du sourire Si tu veux nous nous aimerons Avec tes lèvres sans le dire

Lieder, willig, schicken kein Lächeln, sprühen uns kein Licht, Willst du’s, solls die Liebe sein, Du, dein Mund, wir sagens nicht.

Muet muet entre les ronds Sylphe dans la pourpre d’empire Un baiser flambant se déchire Jusqu’aux pointes des ailerons Si tu veux nous nous aimerons

Stumm-und-stumm, hier, zwischenein, Sylphe, purpurn, kaiserlich, Flammt ein Kuß, schon teilt er sich, Flügelspitzen flackern, fein, Willst du’s, solls die Liebe sein.220

»Rondel«, darauf weist Harbusch zunächst hin, berge trotz seines Charakters als Liebesgedicht »grundsätzliche Überlegungen Mallarmés über das Funktionieren von Sprache«221 und sei ein Text, in dem »Sprache […] nicht 216

217

218

219 220

221

Peter Goßens, Paul Celans Ungaretti-Übersetzung. Edition und Kommentar, Heidelberg 2000; zum Hermetik-Diskurs bes. S. 54–61. Goßens meint, Celans »Beschäftigung mit Ungaretti kann als eine die Einmaligkeit des ›Anderen‹ wahrnehmende Begegnung angesehen werden«; Celan sei die »strukturelle Offenheit der Ungarettischen Lyrik […] nicht entgangen« und insofern sei nach Goßens »seine Auseinandersetzung mit dem Spätwerk von Ungaretti […] auch der Versuch, sich den Möglichkeiten dieser Form offener ›Hermetik‹ zu stellen«. Ebd., S. 60. Thomas Klinkert, »Un noyé pensif dans la mer du poème. Paul Celan traduit / recontre Rimbaud«, in: Ders./Hermann H. Wetzel (Hrsg.), Traduction = Interprétation. Interprétation = Traduction. L’exemple Rimbaud, Paris 1998, S. 123–155. Harbusch, Gegenübersetzungen, S. 93. Paul Celan, »Übersetzung von Stéphane Mallarmé: ›Rondel‹«, in: Ders., Gesammelte Werke in sieben Bänden. Übertragungen I, Frankfurt am Main 2000, S. 816f. Harbusch, Gegenübersetzungen, S. 96.

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nur als Bedeutungsträger, sondern in ihrer Materialität selbst, oder, mit Szondi zu sprechen, auf metadiskursive Weise«222 thematisiert werde. Harbusch liest die drei Strophen als »ein Fortschreiten von trennender Sprache zum einigenden Kuß«, wobei im ersten Abschnitt »die grundsätzliche Sprachreflexion (rose, silence)« überwiege, im zweiten bereits »die Sprache zwischen den Geliebten (chants, sourire)« thematisiert werde und es im dritten zum Kuss komme.223 Am Beispiel der paronomastischen Reimbezüge zwischen der ersten und der dritten Strophe – »[w]ie ›interromps‹ materiell den Klang [rõ] und damit seinen inhaltlichen Gegensatz ›ronds‹ in sich birgt, so auch ›empire‹ den Gleichklang und Gegensatz [pir]/›pire‹«224 – interpretiert sie das Gedicht »als eine Wendung von Sprachskepsis zur Lebensbejahung«,225 wobei auch die dialogische Konstellation im Text zumindest ambivalent ist.226 Celans Übersetzung nun sei im Verhältnis zum französischen Text von Gegensatzpaaren beherrscht. Harbusch sieht dieses Gegeneinander bereits im sprachlichen Charakter der Übersetzung: »das Kunstvolle, GemeißeltStatuarische […] auf der einen Seite, das Kunstlose, Mündlich-Liedhafte auf der anderen«.227 Ebenso herrsche im deutschen Text eine »Spannung zwischen klanglicher Fülle und Einsilbigkeit, zwischen sprachlicher Vereinigung einerseits und sprachlicher Trennung andererseits«.228 Darin sieht Harbusch nun »eine Entsprechung zu dem in Mallarmés Ausgangstext festgestellten paradoxen Verhältnis von Sprache und Schweigen […], das sich als Bruch und Erfüllung realisiert.« Die zur Charakterisierung des Französischen – ›Bruch‹ und ›Erfüllung‹ – und des Deutschen – ›Trennung‹ und ›Vereinigung‹ – verwendeten Begriffe seien dabei »diskursive Umschreibungen dessen, das die Texte metadiskursiv realisieren«;229 eine Komplementarität von signifié und signifiant, die Harbusch in den Abweichungen der Übersetzung vom Wortlaut des Originals besonders deutlich realisiert sieht.230 Als Ergebnis des Vergleichs lässt sich festhalten, daß der Wendung des französischen Gedichts von Sprachskepsis zu Lebensbejahung auf Celans Seite Lebensskepsis und […] Bejahung der Sprache gegenüber222 223 224 225 226 227 228 229 230

Ebd., S. 97. Ebd., S. 96f. Ebd., S. 97. Ebd. Ebd., S. 97f. Ebd., S. 100. Ebd., S. 101. Ebd., S. 102. Vgl. ebd., S. 102–104.

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stehen, ein Setzen auf die Sprache als den Nicht-Ort, an dem das, was im Leben gefährdet ist, möglich werden, vielleicht sogar Bestand haben könnte.231

Daraus schließlich ist eine Ausweitung der bei Mallarmé ganz auf die im Text beschriebene Werbe-Situation beschränkten Sprachproblematik »ins Grundsätzliche« zu folgern, und somit realisiere »auch die Mallarmé-Übertragung ihren Gehalt nicht allein auf metadiskursive Weise, sie ist zugleich auch – und zwar vor allem in ihren metadiskursiven Elementen – metapoetisch, ist Poesie über Poesie«.232 Eben darin, in ihrem Charakter als »metapoetische Auseinandersetzungen« mit den im Meridian thematisierten Problemen »des Wirklichkeitsbezugs und des dichterischen Subjekts«,233 sei die Mallarmé-Übertragung typisch für andere Übertragungen französischer Lyrik. Naturgemäß beziehen in diesem poetologischen Diskurs die Übersetzungen weniger deutlich Position als Celans poetologische Schriften; aber sie »setzen sich […] aus nächster Nähe mit den Fragen auseinander, die durch Mallarmé und den Symbolismus aufgeworfen […] oder wieder aufgeworfen wurden«.234 Insofern verleiht Celan neben seiner wirklichkeitsbetonten Umdeutung der sprachreflexiven Poetiken der 50er Jahre auch der Vorstellung von der Öffnung der deutschen Literatur zur internationalen Moderne eine neue Qualität: Dem Übersetzer Celan geht es nicht nur um die Vermittlung versäumter, ignorierter, nicht rezipierter Literatur für ein deutsches Publikum, sondern um die Überprüfung der eigenen poetologischen Grundlagen an Autoren und Texten, die sich mit denselben Problemen beschäftigten. Die Übersetzungen sind in dieser Hinsicht als Sonderfall von Celans Schreiben zu sehen, als Versuche, in der Begegnung mit Autoren, die ähnlich gelagerte Problemkonstellationen in ihren Texten realisierten, die eigenen Grundlagen zu präzisieren. Auch wenn bei den französischen Lyrikern thematische Konstellationen eine wichtige Rolle spielen, stehen doch Fragen nach der Sprachlichkeit der Texte jeweils im Vordergrund. Der Autor, in dem Celan seit 1957 eigene, biographisch-persönliche Probleme ebenso wie eine in vielen Punkten ähnliche Auffassung von Dichtung wieder entdeckte, war Ossip Mandelstam.235 231 232 233 234 235

Ebd., S. 104. Ebd., S. 105. Ebd. Ebd., S. 105f. Vgl. allgemein Celan-Handbuch, S. 200–203; sowie: Olschner, Der feste Buchstab. Erläuterungen zu Paul Celans Gedichtübertragungen, S. 226–274 und Christine Ivanovi´c, Das Gedicht im Geheimnis der Begegnung. Dichtung und Poetik Celans im Kontext seiner russischen Lektüren, Tübingen 1996, S. 212–260 u. S. 321–361; sowie Victor Ter-

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Biographen und Kritiker sind sich darüber einig, dass Celans Begegnung mit Mandelstam nicht nur »im Zentrum seiner Auseinandersetzung mit russischer Literatur« steht, sondern auch für die Entwicklung der Poetik des Meridian von Bedeutung war: Denn erst hier wird das Erlebnis der Begegnung »als poetologisch relevante Kategorie und […] als Grundbegriff seiner Poetik […] festgeschrieben« und ausdifferenziert.236 Der Ausgangspunkt für Celans »unbedingte Zuneigung«, so Emmerich, »waren frappierende biographische Parallelen: Judentum, Verfolgung, Selbstmordversuch(e), Einsamkeiten, Plagiatsanschuldigungen, Verketzerung der Texte, Sympathien für einen Sozialismus ethisch-religiöser Prägung«.237 Was ihn dann freilich dazu brachte, 1958 und 1959 gut vierzig Gedichte Mandelstams zu übersetzen, die auch in einem eigenen Band publiziert wurden, war eine grundsätzlich ähnliche Dichtungsauffassung. Für Celan – so seine kurze Erläuterung im Vorwort zu den 1959 erschienenen Übersetzungen – war bei Mandelstam das Gedicht der Ort, wo das über die Sprache Wahrnehmbare und Erreichbare um jene Mitte versammelt wird, von der her es Gestalt und Wahrheit gewinnt: um das die Stunde, die eigene und die der Welt, den Herzschlag und den Äon befragende Dasein dieses Einzelnen. Damit ist gesagt, in welchem Maße das Mandelstammsche Gedicht eines Untergegangenen, uns Heutige angeht.238

Das Zentrum der im Meridian entwickelten Poetik, das Anliegen, das Gedicht trotz der Betonung seiner Sprachlichkeit und Sprachreflexivität in Beziehung zur historisch-biographischen Wirklichkeit zu setzen, klingt hier bereits an. Die Nähe zum Meridian wird allerdings so recht deutlich erst in der im März 1960 ausgestrahlten Radiosendung Die Dichtung Ossip Mandelstamms.239 Die Ähnlichkeiten der Formulierungen und Konzepte sind Ergeb-

236 237 238

239

ras/Karl S. Weimar, »Mandelstamm and Celan. Affinities and Echoes«, in: Germano-Slavica 4/1974, S. 11–27; Bernhard Böschenstein, »Celan und Mandelstamm. Beobachtungen zu ihrem Verhältnis«, in: Celan-Jahrbuch 2/1988, S. 155–168; Jürgen Lehmann, »Karnevaleske Dialogisierung. Anmerkungen zum Verhältnis Mandel’ˇstam – Celan«, in: Germanistik und Komparatistik. DFG-Symposion, Hendrik Birus (Hrsg.), Stuttgart, Weimar 1995, S. 541–555. Ivanovi´c, Das Gedicht im Geheimnis der Begegnung, S. 212. Emmerich, Paul Celan, S. 110; vgl. auch Felstiner, Paul Celan, S. 174–184. Paul Celan, »Einführender Text zur Mandelstamm-Übertragung«, in: Ders., Gesammelte Werke in sieben Bänden. Übertragungen II, Frankfurt am Main 2000, S. 623 (ursprünglich in: Ossip Mandelstam, Gedichte, Frankfurt am Main 1959, S. 65f.). Paul Celan, »Die Dichtung Ossip Mandelstamms« [Manuskript einer am 19. März 1960 ausgestrahlten Rundfunksendung], in: Ossip Mandelstam: Im Luftgrab. Ein Lesebuch, mit Beiträgen von Paul Celan, Pier Paolo Pasolini, Philippe Jaccottet, Joseph Brodsky, Ralph Dutli (Hrsg.), Zürich 1988, S. 69–81. Der Text wird hier zitiert nach: Ivanovi´c, Das Gedicht im Geheimnis der Begegnung, S. 325–329; Ivanovi´c

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nis von Celans mehrjähriger Beschäftigung mit Mandelstam. In ihrer ausführlichen Untersuchung des Textes resümiert Ivanovi´c, dass das »Gewicht dieses Vortrags […] unzweifelhaft nicht auf der Evokation der historischen Gestalt Mandel’ˇstams« liege, sondern auf Aussagen über das Gedicht, in denen Celan »weniger […] über das Spezifische am Gedicht Mandel’ˇstams«, sondern »über das Gedicht als solches« spreche.240 Celan thematisiert in dem Aufsatz also »die Möglichkeiten dichterischen Sprechens, wie sie ihm an den Texten Mandel’ˇstams spezifisch erkennbar wurden«.241 Ivanovi´c arbeitet drei Aspekte heraus, in denen Celans Beschäftigung mit Mandelstam die Poetik des Meridian sichtbar prägte: Das »Fremde und das Andere«, die »Dunkelheit aus selbstentworfener Ferne« sowie die »Ästhetik der Utopie«.242 Auch das so wichtige Konzept der Begegnung leitet sich von Mandelstam her. In seinem Aufsatz Vom Gegenüber243 erläutert Mandelstam die Vorstellung »eines Gegenübers der eigenen Rede, das selbst nicht aktiv, sondern zuhörend am Gespräch teilnimmt, das in der Rolle des Angesprochenen bleibt und insofern fast so etwas wie eine ›Alibifunktion‹ für das eigene Sprechen besitzt«.244 Darin besteht auch der Kern der dialogischen Vorstellung in Celans Poetik. Wenn ich mit irgend jemandem spreche, so kenne ich den nicht, mit dem ich spreche, und ich wünsche auch nicht, ich kann gar nicht wünschen, ihn zu kennen. Es gibt keine Lyrik ohne Dialog. Das einzige aber, was uns dazu treibt, das Gegenüber zu umarmen, ist der Wunsch, in Staunen zu geraten über die eigenen Worte, verzaubert zu sein von ihrer Neuartigkeit und Überraschungskraft.245

Für Celan war diese Konzeption Ausgangspunkt seines Entwurfs des Gedichts als Gespräch. Mandelstam beschreibt den Dialog als unabdingbare Voraussetzung der Lyrik: Die Annäherung an ein Gegenüber, das Sprechen zu ihm, ist eine Voraussetzung für die Fähigkeit des Lyrikers, über die ›Neuartigkeit‹ und ›Überraschungskraft‹ der eigenen Worte »in Stauen zu geraten«. Auch wenn diese Gesprächsfunktion bei Mandelstam noch stark auf das Ich des Dichters bezogen ist, hat sie auch hier bereits den Charakter

240 241 242 243

244 245

liefert auch einen Vergleich mit den in den Meridian modifiziert übernommenen Passagen. Ivanovi´c, Das Gedicht im Geheimnis der Begegnung, S. 343f. Ebd., S. 344. Ebd., S. 347, 353, 357 und insgesamt S. 347–361. Hier zitiert nach: Ossip Mandelstam, »Vom Gegenüber«, in: Werner Hamacher/Winfried Menninghaus (Hrsg.), Paul Celan, Frankfurt am Main 1988, S. 201–208. Ivanovi´c, Das Gedicht im Geheimnis der Begegnung, S. 350f. Mandelstam, »Vom Gegenüber«, S. 207.

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einer Öffnung zum Anderen, zu einer außerhalb liegenden Realität: ›Neuartigkeit‹ und ›Überraschungskraft‹ sind auch Kategorien, die sich auf die im lyrischen Sprechen evozierten Themen beziehen. Die Möglichkeit einer Relationierung des sprechenden Ich und der Außenwelt – die zunächst nur in Gestalt des angesprochenen Gegenübers sichtbar wird – ist bei Mandelstam angelegt. Im Radiovortrag über Mandelstam greift Celan diesen Gedanken erstmals auf: Diese Gedichte sind die Gedichte eines Wahrnehmenden und Aufmerksamen, dem Erscheinen Zugewandten, das Erscheinende Befragenden und Ansprechenden; sie sind Gespräch. Im Raum dieses Gesprächs konstituiert sich das Angesprochene, vergegenwärtigt es sich, versammelt es sich um das es ansprechende und nennende Ich. Aber in dieser Gegenwart bringt das Angesprochene und durch Nennung gleichsam zum Du Gewordene sein Anders- und Fremdsein mit. Noch im Hier und Jetzt des Gedichts, noch in dieser seiner Unmittelbarkeit und Nähe läßt es seine Ferne mitsprechen, bewahrt es das ihm Eigenste: seine Zeit.246

In dieser Beschreibung des Mandelstam’schen Gesprächskonzepts wird die zunächst statisch gedachte Konstellation zwischen dem Dichter-Ich und dem angesprochenen Du in Wechselwirkung gesetzt und damit dynamisiert. Der Gesprächscharakter des Gedichts beruht auf einem für alle Arten von Wahrnehmungen und Stimuli offenen, sich kontinuierlich bewegenden Ich, das dieses Ausgerichtetsein auf die Welt dann auch in sein lyrisches Sprechen integriert – eine Konstellation, die man bei Mandelstam auch anderswo, etwa im großen Essay Gespräch über Dante, wiederfinden kann.247 In Celans Mandelstam-Deutung, die einige Monate später passagenweise fast wörtlich in den Meridian-Text eingeht,248 wird diese Vorstellung des Gedichts dynamisiert: Wenn man in Mandelstams Konzept Ich und Welt noch als zwei frei bewegliche, aber zumindest in der wechselseitigen Beziehung eindeutig definierte Einheiten beschreiben könnte, dann wird bei Celan sowohl das angesprochene Gegenüber als auch das sprechende Ich durch das Gespräch verändert. Die zweiseitige Konstellation wird zur dialogischen Einheit. Dabei ist der im Meridian umschriebene, punktuelle und vielleicht utopische Ort erreicht, auf den hin das Gedicht ausgerichtet ist. In der Begegnung mit Mandelstam kehrt der Übersetzer Celan wieder zur eigenen Poetik zurück. Celans Übersetzungen, das wurde am Beispiel der Mallarmé-Übertragung deutlich, bewegen sich jenseits der zeitgenössischen 246 247

248

Paul Celan, »Die Dichtung Ossip Mandelstamms«, S. 326f. Ossip Mandelstam, »Gespräch über Dante«, in: Ders., Gespräch über Dante. Gesammelte Essays II. 1925–1935, Ralph Dutli (Hrsg. und Übers.), Frankfurt am Main 2004, S. 113–175, bes. S. 118, 127. Celan, »Der Meridian«, S. 198.

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Diskurse über ›moderne Lyrik‹. Celan tendiert dazu, Autoren zu übersetzen, in deren Texten er Probleme wiederfindet – vor allem der mögliche Wirklichkeitsbezug des sprachlich fixierten Gedichts und die Konstitution einer für das Gegenüber, das Außen offenen Sprecher-Instanz –, die ihn selbst beschäftigen. Gerade deswegen gewinnen seine Übersetzungen eine metadiskursive und metapoetische Dimension: Das Material des Originaltextes – so das Ergebnis einer Analyse, die Jean Bollack an einem Liebesgedicht Paul Eluards vornimmt249 – bleibt »fast vollkommen erhalten«, wird »neu angeordnet und neu durchdacht« und damit »zu einer zweiten Bedeutung gebracht und […] [verwandelt] sich zu einem poetischen (oder metapoetischen) Selbstporträt, zu einer Reflexion über das Thema der Begegnung eines Selbst mit seinem Alter ego«.250 In der Auseinandersetzung mit Mandelstam wird auch diese Präsenz des Übersetzers im Übersetzten durchschritten, um dann über die Zwischenstation der Radiosendung über Mandelstam wieder in Celans Formulierung einer Poetik einzufließen, die sich in seinem eigenen Werk in der Entstehung und Komposition von Sprachgitter niederschlägt. 4.4. »Stimmen«: Zur Poetik von Sprachgitter Die neue Poetik der ›graueren‹ Sprache entwickelte Celan während der Arbeit am Band Sprachgitter; dort findet sie ihre erste lyrische Ausformulierung; parallel und im Anschluss entstehen die poetologischen Selbsterläuterungen und die Übersetzungen. Deshalb soll hier zum Abschluss der Versuch unternommen werden, wichtige Eigenschaften dieser Poetik am Beispiel des Sprachgitter einleitenden Zyklus »Stimmen« aufzuzeigen. Der Band Sprachgitter ist das erste lyrische Resultat der Neuorientierung Celans in der zweiten Hälfte der 50er Jahre. Wesentliche Parameter seines Schreibens werden darin neu austariert. Der kulturelle, literarische und sprachliche Kontinuitätsbruch, der durch die Vernichtung der europäischen Juden erzeugt wurde, wird, wie Jürgen Lehmann in seinem Kommentar anmerkt, in der deutschen Literatur nach 1945 erstmals in Sprachgitter literarisch gestaltet.251 Das Konzept der ›graueren‹ Sprache, das in den poetologischen Äußerungen und Schriften um 1960 dargelegt wird, manifestiert sich in diesem Band. Die Grundfrage Celans bleibt dabei unverändert: Wie kann eine 249

250 251

Jean Bollack, »Celan als Übersetzer«, in: Ders., Dichtung wider Dichtung, S. 259–275, bes. S. 263–270. Ebd., S. 270. Lehmann, »Einleitung«, S. 15–65, hier S. 22. Vgl. auch Celan-Handbuch, S. 72–80.

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dichterische Sprache aussehen, die »die historische Last der Shoa sprachlich angemessen erinnernd zu artikulieren« in der Lage ist?252 Die dreifache Bilanzierung, die dem Band zugrunde liegt und vorausgeht, bezieht sich dabei auf Celans Grundthemen: Die »Belastungen, welche die deutsche Sprache während der NS-Herrschaft […] erfahren musste […]«; die kritische Auseinandersetzung mit den »bisherige[n] Versuchen, auch [den] eigene[n] […], das eigentlich nicht Sagbare doch zur Sprache zu bringen«; das Anliegen, »die zum Verstummen gebrachten ›Stimmen‹ der ermordeten jüdischen Brüder und Schwestern« in eine Sprache zu übersetzen, »die das Schweigen hörbar und sichtbar macht«.253 Celan führt diese zentralen motivischen Bereiche seiner Lyrik weiter und transformiert sie, wie das Karl Krolow in seiner Rezension ausdrückte, in eine »Sprachkunst, die nichts als Dasein aussagt, erlittenes, verlorenes und wieder entdecktes Dasein«.254 Betrachtet man die Poetik von Sprachgitter als Celans Version der Nachkriegsmoderne, dann ist einmal mehr die Sprachreflexion zentral. Celan versucht eine Revision der dichterischen Sprache, die sich auf allen Ebenen abspielt; Lexik, Syntax und Klang werden gleichermaßen reduziert und konzentriert. Im Zentrum steht der Anspruch, das Wort aus seiner Isolation als rein sprachliches Zeichen zu befreien und ihm eine Referenz zu geben – das heißt: ihm »seine Dinghaftigkeit, seine Existenz, sein Sein zurückzugeben«,255 ein Programm, das emblematisch in der Herkunft des Titel-Begriffs konzentriert ist, der sich auf das Sprechgitter bezieht, das den Beichtvater vom Beichtenden trennt, aber zugleich die Kommunikation ermöglicht.256 Sprachliche Strategien zur Realisierung dieses Programms sind Kontraktion bildlicher oder metaphorischer Ausdrücke, Neologismen, die Einführung der Leerstelle in der graphischen Gestaltung des Textes als beherrschendes Prinzip und eine nur mit knappsten Satzzeichen interpunktierte Rhetorik äußerster gestischer Reduktion.257 Ein weiterer Aspekt der neuen Poetik ist die Revision des sprachlichen Bildes. Die ›grauere‹ Sprache ist nicht nur durch die Erfahrungen der unmittelbaren Vergangenheit hindurchgegangen, sondern versucht auch, darauf mit einer neuen Konzeption des sprachlichen Bildes zu antworten.

252 253 254

255 256 257

Lehmann, »Einleitung«, S. 23. Ebd. Karl Krolow, »Das Wort als konkrete Materie« [1959], in: Dietlind Meinecke (Hrsg.), Über Paul Celan, Frankfurt am Main 1970, S. 55–57, hier S. 55. Lehmann, »Einleitung«, S. 26. Vgl. Barbara Wiedemann, Paul Celan und das Sprechgitter im Pfullinger Kloster, 2007. Ebd., S. 26–29.

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Ausgangspunkt und Grundlage dieses Bemühens um eine neue Sprachbildlichkeit ist das Verständnis von Sprachbild bzw. dichterischem Wort als Phänomen, als »Erscheinungsform« […] des bislang Verborgenen, Verdeckten. Deren Spezifik besteht darin, daß sie dem Dunklen abgewonnen wird […].258

Dabei werden Sprache und Bild nicht nur neu relationiert, sondern auch traditionelle Sprachbilder – Metapher und Vergleich – werden destruiert und in Frage gestellt, um »dem Wort seinen Eigenwert wiederzugeben, um es frei zu machen von festgelegten grammatischen Beziehungen, semantischen Fixierungen und automatisierten Relationierungen«.259 Ziel dieser Verfahren ist ein »neue[s] dichterische[s] Sprechen«, das »Konstituierung von Wirklichkeit im Suchen von Wirklichkeit [ist] – und zwar in umfassender und kritischer Auseinandersetzung mit der Celan betreffenden realen Geschichte und Gegenwart.«260 Als Beispiel für die neue Poetik wird hier der Text betrachtet, der den Band eröffnet, nämlich der Zyklus »Stimmen«,261 der aufgrund von schwankenden Angaben sowohl als ein Gedicht als auch als mehrgliedriger Zyklus gesehen werden kann. Nicht nur wegen seiner Entstehungsgeschichte,262 die im Wesentlichen parallel zur Genese von Sprachgitter verläuft, sind in »Stimmen« immer wieder Probleme und Themen gebündelt, die an bestimmten Punkten im Band wiederkehren und vertieft werden. Die zyklische Grundstruktur von »Stimmen« – die ›Stimmen‹, die mit einer Verletzung verbunden sind, kehren im letzten Gedichtabschnitt wieder, aufgelöst in einen Zustand ›nach den Stimmen‹ – gleicht der im Meridian dargelegten Bewegung, die das Gedicht auf dem Weg zu sich selbst durchläuft. Celan zitiert gegen Ende der Rede den zweiten Teil von »Stimmen« und kommentiert ihn folgendermaßen: »Ich hatte mich […] von einem ›20. Jänner‹, von meinem ›20. Jänner‹ hergeschrieben. / Ich bin … mir selbst begegnet.«263 Diese Aussage wiederholt den vorher ausführlich erläuterten Entstehungsgang des Gedichts, um ihn dann in konzentrierter Form zu erläutern: Geht man also, wenn man an Gedichte denkt, geht man mit Gedichten solche Wege? Sind diese Wege nur Um-Wege, Umwege von dir zu dir? Aber es sind ja zu258 259 260 261

262 263

Ebd., S. 30. Vgl. ebd., S. 32f., hier S. 33. Ebd., S. 34. Paul Celan, »Stimmen«, in: Ders., Gesammelte Werke. Gedichte I, S. 147–149. Vgl. Christine Ivanovi´c, »Kommentar zu ›Stimmen‹«, in: Lehmann (Hrsg.), Kommentar zu Paul Celans »Sprachgitter«, S. 73–108, hier S. 73f. Vgl. auch Christine Ivanovi´c, »Nesselschrift. Stimmen im Zentrum von Celans Werk«, in: Hans-Michael Speier (Hrsg.), Interpretationen. Gedichte von Paul Celan, S. 42–62, hier S. 44f. Ivanovi´c, »Kommentar zu ›Stimmen‹«, S. 73f. Celan, »Der Meridian«, S. 201.

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gleich auch, unter wie vielen anderen Wegen, Wege, auf denen die Sprache stimmhaft wird, es sind Begegnungen, Wege einer Stimme zu einem wahrnehmenden Du, kreatürliche Wege, Daseinsentwürfe vielleicht, ein Sichvorausschicken zu sich selbst, auf der Suche nach sich selbst … Eine Art Heimkehr.264

Damit das Gedicht in der Ausrichtung auf das Gegenüber hin den ›kreatürlichen‹ Charakter gewinnen kann, der es ausmacht und von der automatenhaften Kunst unterscheidet, muss seine Sprache ›stimmhaft‹ werden. Für Celan findet die Sprache erst als gesprochene Sprache zu jener Körperlichkeit und Menschlichkeit, die das Gedicht vom »Herumexperimentieren mit dem sogenannten Wortmaterial«265 unterscheidet; erst wenn es stimmhaft wird, kann im Text jene dialogische Struktur erzeugt werden, die in der Auseinandersetzung mit Mandelstam als zentrales Element von Celans Poetik entwickelt wurde. Was Lehmann als ästhetisches Programm für den gesamten Band Sprachgitter formuliert, das lässt sich in konzentrierter Form am Einleitungszyklus »Stimmen« ablesen: Celan »konzipiert […] in Sprachgitter die Dichtung als eine – wie es in der Bremer Rede heißt – ›Erscheinungsform der Sprache‹ […], die das Verstummen überwindet, die das Schweigen hörbar und sichtbar macht«.266 Nach Ivanovi´c lässt sich »Stimmen« als »poetische Begründung und Vertiefung« der parallel entstehenden poetologischen Texte lesen: Indem die »Aufgabe von Celans Dichtung […] hier wie dort als zugleich historisch wie durch die Gegenwart bedingter Anspruch auf das stimmhafte Offenhalten des Traumas [erscheint], dem das Gedicht […] zu entsprechen sucht«,267 definiert sich die Funktion von »Stimmen«: Das Eingangsgedicht sucht […] den zirkulären Übergang vom Angesprochenwerden zum Schreiben, vom Lesen zum Sprechen paradigmatisch zu gestalten als eine wechselseitige Berührung von Sichtbarem und Hörbarem, von Mensch und Geschichte, von Natur und Kunst.268

Im Folgenden soll nun Celans Verfahrensweise rekonstruiert werden, indem nach einer eingehenden Analyse des exemplarischen ersten Teils die Verlaufslogik des Gesamttexts von »Stimmen« skizziert wird. Eine Gesamtinterpretation muss sich an den Erkenntnissen messen, die Christine Ivanovi´c in ihrem ebenso ausführlichen wie detailreichen Kommentar versammelt. Sie liegen auch diesen Überlegungen zugrunde.269 264 265 266 267 268 269

Ebd. Celan, »Ein Brief«, S. 86. Lehmann, »Einleitung«, S. 23. Ivanovi´c, »Kommentar zu ›Stimmen‹«, S. 77. Ebd., S. 77f. Ivanovi´c, »Kommentar zu ›Stimmen‹«.

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Für die Struktur jedes einzelnen Teiles grundlegend ist das »Spannungsverhältnis zwischen einem sprachlich evozierten Bild und einem kommentierend darauf bezogenen Sprechakt«, das sich in einer »grundsätzliche[n] Zweiteilung der einzelnen Abschnitte« manifestiert.270 Auf der einen Seite wird im Text über diese ›Stimmen‹ gesprochen, es wird versucht, ihre Herkunft und ihren Ort, aber auch ihre Eigenschaften, ihren Charakter und ihre Wirkung zu thematisieren. Andererseits scheint der Text auch immer wieder diese Stimmen ›hörbar‹ zu machen, worauf die Doppelpunkte hinweisen, die (vom vierten, fünften und achten Teil abgesehen) anzeigen, dass die Stimmen nicht nur sprachlich evoziert werden, sondern auch selbst ›sprechen‹ und dabei die vom Anfang bis zum Ende des Textes präsente Sprecher-Instanz zu überlagern scheinen.271 Stimmen, ins Grün der Wasserfläche geritzt. Wenn der Eisvogel taucht, sirrt die Sekunde: Was zu dir stand an jedem der Ufer, es tritt gemäht in ein anderes Bild.272

Das Thema des Zyklus »Stimmen« und damit auch des Bandes Sprachgitter findet sich im ersten Teil von »Stimmen« konzentriert: Es handelt sich um eine Reflexion über die Möglichkeit, ›Stimmen‹, also diejenige Dimension, in der das sprachlich verfasste Gedicht körperlich wird, in einem Naturbild sichtbar zu machen und damit eben diesen Prozess des Hörbar-Werdens in die sprachliche Dimension des Gedichts zu übersetzen. Der erste Teil ist symmetrisch in zwei vierzeilige Abschnitte geteilt. Während in den ersten vier Versen das Naturbild entworfen wird, findet sich im zweiten Abschnitt eine Art Kommentar. Der erste Abschnitt ist seinerseits nochmals getrennt. Die ersten beiden Verse gleichen einer Überschrift – sie bezeichnen »Ort und Richtung der ›Stimmen‹« –, die beiden folgenden Verse sind auf das Bild des Eisvogels konzentriert. Bis zu einem gewissen Grad kann man von einer Emblem-Struktur aus Lemma, Bild und subscriptio sprechen, wobei allerdings bereits die Überschrift selbst bildhaft ist und auch im kommentarhaften zweiten Abschnitt bildhafte Elemente eine Rolle spielen.273 270 271 272 273

Ivanovi´c, »Nesselschrift«, S. 48. Vgl. ebd. Celan, »Stimmen«, S. 147. Vgl. ebd., S. 49f. und Ivanovi´c, »Kommentar zu ›Stimmen‹«, S. 79–87.

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Die erste Aussage – »Stimmen, ins Grün / der Wasserfläche geritzt« – impliziert zunächst den Versuch, die immateriellen, nur als Schall existierenden Stimmen in ein sprachlich evoziertes Naturbild zu übersetzen. Die Stimmen erscheinen in die Wasserfläche ›geritzt‹ und sind damit sichtbar. Allerdings verrät das Verb ›ritzen‹ einiges über die Schwierigkeiten, die mit dieser Materialisierung der Stimmen verbunden sind. Möglicherweise ist der Versuch, die Stimmen in der Materie sichtbar zu machen, auch mit Schmerzen verbunden.274 Zugleich ist das Wasser als materielles Medium, in das die Stimmen »geritzt« werden, flüchtig, ein Eindruck, der auch durch das Farbadjektiv ›grün‹ verstärkt wird, das »nur scheinbar eine organische Verankerung«275 der in der Wasserfläche für einen Augenblick sichtbar gemachten Stimmen andeutet. Der erste Ansatz, die Stimmen im Text bildlich zu fassen, deutet eine Möglichkeit, aber zugleich auch die Ambivalenz sprachlich konstituierter Konkretisierung von Stimmen an. Neben der Schwierigkeit des Fixierungsaktes selbst steht vor allem der Flüchtigkeitscharakter des sprachlichen Bilds im Mittelpunkt; der Versuch, die Stimmen organisch-materiell fassbar zu machen, verdeutlicht zugleich, dass dies immer nur in einem vergänglichen Bild geschehen kann. In den nächsten beiden Versen wird diese Problematik weitergeführt im Bild des Eisvogels. Die mediale Sukzession ist nun umgekehrt: Wurde bei den Stimmen die Transformation vom Akustischen zum Optischen thematisiert, so wird nun die Übersetzung eines optisch beobachteten Augenblicks ins Geräusch erläutert: »Wenn der Eisvogel taucht / sirrt die Sekunde«. Der Vorgang des Eintauchens ist punktuell, er kann deshalb nur im sekundenoder augenblickslangen Geräusch wahrgenommen werden. Von den vielfältigen mythologischen Konnotationen, die mit dem Eisvogel verknüpft sind,276 scheint vor allem die Funktion des Vogels als »Bote aus einer anderen Welt, dessen Flugbewegungen oder -formationen beispielsweise in der Antike zum Vorbild für die Entwicklung von Schrift bzw. Schriftzeichen genommen wurden«,277 die Problematik des Textes zu treffen. Wenn die Wasserfläche ein Grenzbereich ist, in dem Wahrnehmungen von einem Medium ins andere transponiert werden können, dann ist der Eisvogel in diesem ersten Bild der Akteur, der sich in beiden Bereiche gleichermaßen bewegen kann. Im ersten Abschnitt wird also in der Sprache des Gedichts darüber reflektiert, inwieweit Stimmen in einem Naturbild sprachlich ›sichtbar‹ ge274 275 276 277

Ivanovi´c, »Kommentar zu ›Stimmen‹«, S. 81f. Ivanovi´c, »Nesselschrift«, S. 50. Vgl. Ivanovi´c, »Kommentar zu ›Stimmen‹«, S. 82f. Ebd., S. 83.

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macht werden können – bzw. inwieweit ein Geschehen in Geräuschen ausgedrückt werden kann. Der Text reflektiert über die Möglichkeit, ›Sprache‹ in Bilder zu übersetzen, indem er diese Reflexion in zwei gegenläufigen Ansätzen verfolgt und dabei zugleich die Ambivalenzen und Probleme der Verbildlichung in der Versprachlichung andeutet. Die bislang implizite Reflexion über die Entstehung von sprachlichen Bildern wird im zweiten Teil des Gedichts selbst Gegenstand des Gedankengangs, textuell vollzogen, indem die Reflexion ihrerseits in ein Bild transponiert wird.278 Der Text evoziert erstmals eine Sprecher-Instanz, ein Ich, das zu einem Du spricht und sich in dieser Ansprache über den soeben gesehenen bzw. formulierten Vorgang verständigt. Was ›zu diesem Ich stand‹, sich in einem stabilen Verhältnis zum Ich befand, verwandelt sich im Augenblick der Beobachtung oder des Schreibens »in ein anderes Bild«. Dieser Vorgang der Transformation ereignet sich in einer »poetische[n] Wasserlandschaft«,279 die dadurch bestimmt ist, dass es zwei Ufer gibt. Die Landschaft ist ein Raum, der für den Zustand steht, in dem das Ich die Transformation des Beobachteten in ›andere Bilder‹ beobachtet; insofern hat sie einen allgemeinen Charakter und kann als der Schnittbereich zwischen ›Wirklichkeit‹ und ›Text‹ angesehen werden, in dem Bilder durch Verschiebung von einem Punkt an den anderen erzeugt werden.280 Die Bild-Transformationen können an jedem ›Ufer‹, an jedem bekannten Punkt dieses Raums geschehen – und offenbar auch mit den verschiedenen Phänomenen, die in diesem Raum anzutreffen sind. Sie beschreiben den für das Gedicht immer wieder zentralen Vorgang der Übersetzung von Sprache in ein Bild, der vor allem durch eine Qualität gekennzeichnet ist: Was transformiert wird, »tritt / gemäht in ein anderes Bild«. Das Adjektiv ›gemäht‹ weist zurück auf ›geritzt‹ und besagt, dass das ›andere Bild‹ nur erzeugt werden kann, wenn dabei die natürlichen Qualitäten des vorhergehenden Zustands bearbeitet, verletzt und vielleicht, wenn man die in »gemäht« anklingende Vorstellung vom Tod als Schnitter berücksichtigt, sogar tödlich verletzt werden.281 Im zweiten Teil des Gedichts wird der Charakter einer Reflexion über die Frage nach der Übersetzbarkeit von Bildern in Sprache, »der ebenso prinzipiellen wie problematischen Standhaftigkeit und Wandelbarkeit des Verhältnisses von Bild und Bedeutung in allen seinen Figurationen«,282 intensiviert und betont. Die 278 279 280 281 282

Ivanovi´c, »Nesselschrift«, S. 50. Ivanovi´c, »Kommentar zu ›Stimmen‹«, S. 85. Ebd., S. 86. Ebd., S. 87. Ivanovi´c, »Nesselschrift«, S. 51.

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Transformationsproblematik klingt auch in Hamachers etymologisch eigenwilliger Interpretation an: das Vertraute tritt gemäht in ein anderes Bild –; und zwar gemäht vom Schnitt der hier etymologisch verstandenen »Sekunde«, vom secare der Zeit. Die Zeit verwandelt die Stimmen in Wasserspiegelschrift und die vertrauten Bilder der gegenständlichen Welt in die abgewandten, verkehrten und verletzten des literarischen Textes, der ihnen keinen anderen Grund mehr bietet als den einer unda, in der sie versinken.283

Das Nachdenken über die Möglichkeiten der Erzeugung einer Präsenz der Stimmen im Text bestimmt den Fortgang des Gedichts. In den einzelnen Abschnitten wird dabei das Grundthema immer wieder neu eingekreist: Das Bedürfnis, ein der Wirklichkeit zugehörendes Phänomen – die immer wieder am Anfang der Abschnitte emphatisch genannten »Stimmen« – sprachlich zu erfassen, wird an den Artikulationsmöglichkeiten und Spielräumen der Sprache des Gedichts gemessen. Diese kann den Bezug zu dieser phänomenalen Welt nur in einer sekundären Vermittlung in Sprache vollziehen – wobei die Kreatürlichkeit und der Wirklichkeitscharakter der Stimmen ihrerseits verletzt, reduziert und vielleicht sogar aufgehoben werden. Die Stimmen sollen im Gedicht ›stimmhaft‹ werden, aber gerade ihre Übersetzung ins Gedicht erhöht die Gefahr, dass die körperlich-lebendigen Qualitäten verloren gehen, die die ›Stimmhaftigkeit‹ auszeichnen. Entsprechend werden verschiedenste Ansätze erprobt, Herkunft und Charakter der Stimmen zu erfassen und die Reibungsflächen und Verluste auszumessen, die sich bei dem Versuch ergeben, sie sprachlich zu fassen. Während besonders im zweiten und im dritten Abschnitt weitere Versuche unternommen werden, sich Herkunft und Qualität der Stimmen anzunähern, stehen im vierten und im fünften Abschnitt die schmerzlichen Konsequenzen im Mittelpunkt, die die Berührung mit den Stimmen für das Ich nach sich zieht. Im sechsten Abschnitt wird aufgrund der vorherigen Erfahrungen eine Möglichkeit der »Befreiung der Stimme zum Sprechen«284 angedeutet, während im siebten in einer Gegenbewegung wiederum die Distanz der Stimmen zu denjenigen, die sie hören sollen, thematisiert wird. Erst im letzten Abschnitt wird die Problematik aufgelöst oder wenigstens einem Ende entgegengeführt: Der reflektierende Gang durch die Möglichkeiten der Annä283

284

Werner Hamacher, »Die Sekunde der Inversion. Bewegungen einer Figur durch Celans Gedichte«, in: Ders./Winfried Menninghaus (Hrsg.), Paul Celan, Frankfurt am Main 1988, S. 81–126, hier S. 98. Vgl. dazu Ivanovi´c, »Kommentar zu ›Stimmen‹«, S. 84f. Ivanovi´c, »Nesselschrift«, S. 57.

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herung an die Stimmen führt zur Erkenntnis, dass diese nur noch als ein »Spätgeräusch« ins Gedicht transponierbar sind. Die Entdeckung des ›Spätgeräuschs‹ ist nach dem Durchmessen der ›Stimmen‹-Problematik im Gedicht kein Scheitern, sondern Ergebnis, in dem die Spannungen aufgelöst werden. Die ›Stimmen‹ als Gegenstand des Gedichts werden nach mehrfachen Versuchen, sie zu erfassen, aufgegeben; aber im Bild von einem organischen »Fruchtblatt« wird deutlich, dass zentrale Qualitäten erhalten bleiben. Diese Skizze der narrativen Verlaufskurve, die die acht Abschnitte von »Stimmen« verbindet, wird nun in einem kursorischen Gang durch die einzelnen Gedichtabschnitte vertieft. Stimmen vom Nesselweg her: Komm auf den Händen zu uns. Wer mit der Lampe allein ist, hat nur die Hand, draus zu lesen.285

Im zweiten Abschnitt – »Stimmen vom Nesselweg her«, jenem Text, in dem Celan, wie er im Meridian sagte, sich selbst begegnet sei286 – geht es nicht mehr um die Richtung der Stimmen und die sprachlich-bildlichen Möglichkeiten des Gedichts, diese zu fassen, sondern um ihre Herkunft: »vom Nesselweg her«. Mit dem Bezug auf das »Wort Nessel mit seiner deutlich schmerzgezeichneten Grundierung«287 ist klar, dass die Stimmen mit Schmerz verbunden sind, Schmerz verursachen.288 Wenn nun die Stimmen das Ich auffordern, »auf den Händen zu uns« zu kommen, dann verweist das zunächst auf eine Bewegung: Auch das Ich muss den Weg der Schmerzen gehen, um die Stimmen erfassen zu können, die zugleich aus dieser Gegend der Schmerzen ›her‹ tönen. Zum anderen wird nun die Situation des Ich konkretisiert, das auf der Suche nach den Stimmen ist. Es ist allein, hat nur die Lampe und »die Hand / draus zu lesen«. Die Begegnung mit den Stimmen impliziert also auch eine Auseinandersetzung mit dem eigenen Schicksal im Lesen der Handlinien.289 ›Nesselschrift‹ und Handlesen sind auch Chiffren für die schmerzhafte Vergangenheit des Sprechers, die sowohl die Stimmen als auch den Weg des Sprechers zu ihnen beherrscht.

285 286 287 288 289

Celan, »Stimmen«, S. 147. Celan, »Der Meridian«, S. 201. Ivanovi´c, »Kommentar zu ›Stimmen‹«, S. 88. Vgl. Seng, Auf den Kreis-Wegen der Dichtung, S. 182. Ivanovi´c, »Nesselschrift«, S. 52.

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Stimmen, nachtdurchwachsen, Stränge, an die du die Glocke hängst. Wölbe dich, Welt: Wenn die Totenmuschel heranschwimmt, will es hier läuten.290

Der dritte Gedichtabschnitt befasst sich mit der Qualität der Stimmen. Sie sind »nachtdurchwachsen«, was wiederum auf die Dunkelheit verweist, von der sie herkommen, und »Stränge, / an die du die Glocke hängst«. Wenn die Glocke ein Instrument der Klangerzeugung ist – gekoppelt mit einer Vorstellung von Sakralität, des Bekanntmachens einer Botschaft –, dann sind die Stimmen die Stränge, an denen diese Glocken hängen. Die Glocken können also ohne die Stimmen nicht hörbar werden, zugleich sind die Glocken grundsätzlich ein Element, über das »eine Form- oder Laut- oder Klangerzeugung ins Gedicht hinein[kommt]«.291 Das Läuten – ein anderes Bild für die Versprachlichung der Stimmen im Gedicht – kann nur beginnen, wenn das Ich eine Verbindung zu den Stimmen aufbaut. Die Versprachlichung ist zugleich gebunden an die »Totenmuschel«, die man als ein Gehäuse sehen kann, in dem die Toten sich annähern; das mögliche Läuten der Glocken ist also eine Art Stimmhaft-Machen der Toten.292 Seng sieht deshalb auch in diesem Text den Charakter einer »Sprachlandschaft […], in der der Leser voranschreiten muß, damit zwischen dem Anfangswort ›Stimmen‹ und dem Schlusswort ›läuten‹ etwas stimmhaft wird«.293 Stimmen, vor denen dein Herz ins Herz deiner Mutter zurückweicht. Stimmen vom Galgenbaum her, wo Spätholz und Frühholz die Ringe tauschen und tauschen.294

Der vierte Abschnitt von »Stimmen« konkretisiert die Herkunft der Stimmen – als Stimmen der Toten. Wenn sich der Text im ersten Abschnitt mit der Frage der Übersetzbarkeit der Stimmen in Bilder befasste und im zweiten und dritten Charakterisierungen lieferte, die die Stimmen mit Schmerz und Tod verbanden, dann sagt nun der vierte Abschnitt eindeutig aus, dass es um die Stimmen der Toten geht. Die Stimmen kommen »vom Galgenbaum

290 291 292 293 294

Celan, »Stimmen«, S. 147. Ivanovi´c, »Kommentar zu ›Stimmen‹«, S. 91. Vgl. ebd., S. 93 und Ivanovi´c, »Nesselschrift«, S. 53f. Seng, Auf den Kreis-Wegen der Dichtung, S. 184. Celan, »Stimmen«, S. 148.

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her«,295 wo das organische Wachstum der Natur – das fortwährende Tauschen der Ringe an den Bäumen – keine Rolle mehr spielt gegenüber dem Bewusstsein, dass auch die Mutter unter den Stimmen hörbar ist. Der ›Galgenbaum‹ verbindet »Lebendes, d. h. auch Wachsendes (›-baum‹), mit dem ›Abschneiden‹ des Atems, mit dem Tod (›Galgen-‹)«296 und ist damit, wie Ivanovi´c anmerkt, ein Beispiel für Celans Technik, ein »einzelne[s] Nomen als Schlüsselbegriff für umfangreiche historische Kontexte« fungieren zu lassen: »seine Nennung allein muß für die Bewußtwerdung des Unnennbaren, gleichwohl als bekannt Vorausgesetzten genügen«.297 Gerade deshalb weicht das Ich der Anforderung, den Stimmen gerecht zu werden, vorübergehend aus; »dein Herz / [weicht] ins Herz deiner Mutter zurück[ ]«, nähert sich also einem schützenden Bereich an, in dem es sich allerdings »dem Auftrag […], der über das Totengedenken (bzw. -geläut), über die vereinzelte, individuelle ›Seele‹ der Mutter weit hinausreicht«,298 nicht entziehen kann. Stimmen, kehlig, im Grus, darin auch Unendliches schaufelt, (herz-) schleimiges Rinnsal. Setz hier die Boote aus, Kind, die ich bemannte: Wenn mittschiffs die Bö sich ins Recht setzt, treten die Klammern zusammen.299

Auch im fünften Abschnitt werden die Stimmen umschrieben, diesmal als »kehlig« und nur »im Grus« zu finden – was so viel wie Schutt oder Abfall beim Kohleabbau bedeutet.300 Damit wird die organisch-körperliche Qualität der menschlichen Stimme – die im Kehlkopf erzeugt wird – wiederum in einen Kontext der Bedrohung gesetzt: »im Grus« sind die Stimmen kaum hörbar; die Formulierung »darin auch Unendliches schaufelt« deutet gleichfalls auf Bedrohungen und damit auf den Kontext des Holocaust hin. In dieser Zustandsbestimmung macht sich vage ein Hintergrund bemerkbar, der als Rinnsal offenbar für das Ich noch sichtbar ist. Das Adjektiv »(herz-) / schleimig[ ]« deutet wiederum auf die natürlich-kreatürliche Qualität der 295 296 297 298 299 300

Vgl. Seng, Auf den Kreis-Wegen der Dichtung, S. 185–187. Ivanovi´c, »Kommentar zu ›Stimmen‹«, S. 95. Ivanovi´c, »Nesselschrift«, S. 55. Ebd., S. 54. Celan, »Stimmen«, S. 148. Ivanovi´c, »Kommentar zu ›Stimmen‹«, S. 96.

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Stimmen.301 Ivanovi´c zeigt, dass im ›Schleim‹ auch ein Verweis »auf die zuvor genannte Muschel« enthalten ist; zumal die prototypische Schalenmuschel ihre beiden Hälften herzförmig schließen kann, wie dies die in einer eigenen Verszeile isolierte und zudem eingeklammerte Silbe »(herz)« symbolisch zum Ausdruck bringt; als orthographisches Zeichen evozieren die Klammern dabei auch noch einmal die zwei Schalen der Muschel. Der Gestus des Wortes und damit des Begriffs ›Herz‹ läßt sich durchaus als konkrete ›Umklammerung‹ auffassen.302

In den beiden nächsten, jeweils zwei Verse umfassenden Gedichtteilen wird in Umrissen eine Szenerie evoziert, in der im Zustand aufgewühlter See Boote ausgesetzt werden. Sowohl die Rettung als auch die Entscheidung, nun mit dem Wissen um die Stimmen sich auf den Weg zu machen zu dem Ort, können hier angesprochen sein. Janz bemerkte bereits in den 70er Jahren, dass man »darüber streiten« könne, »ob die symbolische Verwendung des Schriftzeichens einer Klammer ihrer ästhetischen Qualität nach mehr ist als ein kapriziöses Bilderrätsel.«303 Auch wenn man zugesteht, dass Celan in diesem graphischen Stilmittel »eine Möglichkeit gesehen [hat], im Gedicht der Erfahrung der Vernichtung von Leben und dem Leiden daran Ausdruck zu geben«,304 deutet sich hier paradigmatisch das Problem der zunehmenden Hermetisierung der Lyrik Celans seit dem Meridian an. Es mag noch möglich sein, die Verlaufslogik des »Stimmen«-Zyklus kommentierend zu erfassen; an Punkten wie diesem, aber auch in der zunehmenden Konzentration ganzer Sinnkomplexe in einzelnen Worten, deuten sich aber auch die Grenzen eines im weitesten Sinn hermeneutischen Textverständnisses an. Im Gedicht wird über die Möglichkeit einer Versprachlichung der – hier in der Annäherung an die ›Stimmen‹ konzentrierten – historisch-biographischen Erfahrungen reflektiert. Die Sprache, die dafür entwickelt wird, löst sich von der konventionellen Semantik, ebenso emanzipieren sich Syntax und Interpunktion so weit,305 dass man darin sogar eine Verwandtschaft zur Konkreten Poesie ausmachte.306 In jedem Fall bestimmt, was sich in Sprachgitter in der Suche nach einer Sprache der modernen Lyrik abseits der Wege der naturlyrischen Tradition andeutet, 301 302 303 304 305 306

Ebd., S. 97. Ebd. Janz, Vom Engagement absoluter Poesie. Zur Lyrik und Ästhetik Paul Celans, S. 65. Ebd. Vgl. Lamping, Das lyrische Gedicht, S. 240–245, bes. S. 244. Vgl. z. B. Monika Schmitz-Emans, Poesie als Dialog. Vergleichende Studien zu Paul Celan und seinem literarischen Umfeld, Heidelberg 1993.

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dann die Entwicklung von Celans später Lyrik, besonders die Gedichte seit Atemwende (1967), zusehends.307 Jakobsstimme: Die Tränen. Die Tränen im Bruderaug. Eine blieb hängen, wuchs. Wir wohnen darin. Atme, dass sie sich löse.308

Im sechsten Abschnitt wird mit der »Jakobsstimme« – Jakob als der Empfänger des Segens von Isaak »spricht mit seiner Stimme für das Volk Israel, das seinen Namen trägt«309 – und den »Tränen im Bruderaug«, die gleichfalls der biblischen Überlieferung entstammen, »eine Art Er-lösungsvorgang«310 angedeutet. Ein kollektives Wir spricht, das ›in der Träne‹ wohnt; was darauf hindeutet, dass die Vereinzelung überwunden werden kann, dass das Ich, das auf der Suche nach der Möglichkeit ist, die Stimmen zu versprachlichen, auch mit ihnen in Verbindung treten kann. Zugleich sind die Schlussverse – »Atme, daß / sie sich löse« – ein Hinweis darauf, dass nun, da das Ich in der Träne geborgen ist, auch eine Befreiung der Stimme möglich ist. Stimmen im Innern der Arche: Es sind nur die Münder geborgen. Ihr Sinkenden, hört auch uns.311

Allerdings wird diese Möglichkeit im siebten Abschnitt wieder zurückgenommen. Die »Stimmen im Innern der Arche« scheinen zunächst auf eine Situation der Rettung hinzudeuten, die dann jedoch dahingehend eingeschränkt wird, dass »nur die Münder / geborgen [sind]«. Darin ist metonymisch auch die »Sprache« zu sehen. Wenn nun das Gedicht die gerettete Sprache hörbar macht und also ›spricht‹, »dann vermag es das Sprechen der Stimmen in ihrem Untergang zu bewahren«.312 307

308 309 310 311 312

Vgl. Hermann Korte, Deutschsprachige Lyrik seit 1945, 2. Aufl. Stuttgart, Weimar 2004, S. 99–102. Celan, »Stimmen«, S. 148. Ivanovi´c, »Nesselschrift«, S. 56. Ebd., S. 57. Celan, »Stimmen«, S. 149. Ivanovi´c, »Kommentar zu ›Stimmen‹«, S. 103.

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Keine Stimme – ein Spätgeräusch, stundenfremd, deinen Gedanken geschenkt, hier, endlich herbeigewacht: ein Fruchtblatt, augengroß, tief geritzt; es harzt, will nicht vernarben.313

Im achten und letzten Abschnitt kommt der Gedankengang an sein Ziel. Es geht nun »um eine dezidiert andere Verlautbarung, die anstelle der ›Stimmen‹ vernehmbar wird«.314 Dieses »Spätgeräusch« darf »selbst nicht mehr Stimme genannt werden, wiewohl es zweifellos ›stimmhaft‹ ist«.315 Deshalb muss es von den Stimmen unterschieden werden. Das »Spätgeräusch« hat bestimmte Charakteristika, mit denen es die Stimmen ersetzt. So ist es »stundenfremd« und damit über die Zeit herausgehoben. Zugleich ist es »herbeigewacht«, also durch alle Stadien der Dunkelheit und Nacht errungen und damit den Gedanken des Ich »geschenkt«. Die abschließenden Bestimmungen – »ein / Fruchtblatt, augengroß, tief / geritzt; es / harzt, will nicht / vernarben« – umschreiben die organische und lebendige Qualität dieses Spätgeräuschs, das offen für alle Wahrnehmungen – »augengroß« – ist und doch zugleich »geritzt«. Die Verletzung ist so dauerhaft, dass sie im Harz sichtbar bleibt. Auf der anderen Seite zeigt die organische Metapher, dass dieser neue Zustand lebendig und nicht tot ist, dass also die Einsamkeit und Unerreichbarkeit der Toten überwunden ist. Das Gedicht schließt […] als ganzes nun mit einem Bild, das die organische Verletzung offen läßt, und zugleich darin den Grund einer Befruchtung und damit die Entstehung neuen Lebens erkennt, mithin auch die Option auf ein Sprechen des Gedichts, das eben dieser Verwundung erwachsen ist.316

4.5. Reine Sprachlichkeit und zweideutiger Realitätsbezug: Celans Lyrik als Variante der Nachkriegsmoderne »Stimmen« ist ein Beispiel für Celans Anliegen, am Ende der 50er Jahre die Tradition der sprachreflexiven und sprachkritischen Moderne zu überwinden und für eine Poetik des Sprechens über die Shoa produktiv zu machen. 313 314 315 316

Celan, »Stimmen«, S. 149. Ebd., S. 104. Ebd. Ivanovi´c, »Nesselschrift«, S. 60.

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Damit steht »Stimmen« exemplarisch für die Gedichte, die im Band Sprachgitter versammelt sind. Die deutschsprachige Literatur der 50er Jahre war weitgehend vom Verstummen über die Vergangenheit geprägt. Celans Antwort auf die Herausforderung, eine Sprache zu entwickeln, die die Poetiken des l’art pour l’art und der poésie pure assimiliert und zugleich transformiert in einem Gedicht, das radikale Sprachreflexion und einen zweideutigen Realitätsbezug317 verbindet, ist diese Poetik. Sie ist sein Beitrag zur deutschsprachigen Nachkriegsmoderne. Anders gesagt: Celans Poetik nimmt die Probleme und Grundfragen der Nachkriegsmoderne auf, spitzt sie aber bis zur Verwischung jeglicher Referentialität zu – mit dem Ziel, Realität anzuvisieren und zugleich sprachlich neu zu konstituieren. Was bei anderen Autoren als Krise der Wirklichkeit und ihrer sprachlichen Darstellbarkeit aufscheint, das hat bei Celan die Dimension biographischer Erfahrung. Er sucht eine Sprache für seine vom persönlichen und historischen Erlebnis der Shoa geprägte Realitätserfahrung. Damit gewinnen bei Celan die Grundfragen des Diskurses der Moderne – Sprach- und Wirklichkeitskrise, die Äußerungsformen des Ich – eine Intensität und Dringlichkeit, die bei anderen Autoren der deutschen Nachkriegsmoderne selten zu finden ist. Celan reflektiert in seiner Poetik nach der »Todesfuge« die sprachreflexive und sprachkritische Tradition der Moderne – mit dem Ziel, sie aus der Reflexion zurück zur unhintergehbaren historischen Erfahrung zu führen. Das führt zu einer Radikalität der in Metaphern und Chiffren gehäuften Sprachkonzentration, der Verknappung zu reiner Sprachlichkeit und des elliptischen Sprechens, die man ebenso als Höhe- und Endpunkt wie auch als paradoxe Potenzierung dieser Traditionslinie der Nachkriegsmoderne ansehen kann. Allen der hier behandelten Autoren ist eine Absage an traditionelle Sprechweisen gemeinsam, alle suchen den Weg zur Moderne – unter der in verschiedenen Mischverhältnissen sowohl eine formal modernisierte als auch eine Lyrik verstanden wird, die eine ästhetische Antwort auf die historischen Katastrophenerfahrungen zu geben vermag. Und alle Autoren bewegen sich dabei zwischen den Polen der poetologischen Erneuerung und der sprachlichen Annäherung an die Zivilisationskatastrophe von Weltkrieg und Holocaust. Celans Lyrik ist die radikalste Variation dieser Poetiken der Nachkriegsmoderne. Allerdings hat die vorschnelle Identifizierung Celans mit den Versuchen der deutschen Nachkriegsautoren, die Poetiken der Moderne in der deutschen Lyrik fortzusetzen oder neu zu assimilieren, berechtigten Wider317

Lamping, Das lyrische Gedicht, S. 240.

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spruch hervorgerufen. Otto Pöggeler kritisierte früh diese Versuche, »Celan in die neuen Zusammenhänge« einzureihen.318 Für Celan selbst waren diese ›Einreihungen‹ zwischen Missverständnis und Beleidigung angesiedelt, weil sie in ihrer Fixierung auf die in den zeitgenössischen Diskussionen – in denen Kritiker und Literaturwissenschaftler gerade erst dabei waren, in langen Diskussionen die Poetiken des modernen Gedichts zu ›erlernen‹ – bestimmte formale Eigenschaften in den Vordergrund stellten, die seiner Lyrik nicht gerecht wurden. Die existentiell-biographische Dimension, die traumatische Erfahrung des Holocaust, konnte dabei übersehen oder in enthistorisierend-unverbindliche Krisenrhetorik aufgelöst werden. Wenn man allerdings die Grenzen einer an bestimmte Richtungen oder Strömungen gebundenen Vorstellung von moderner Lyrik verlässt, wie sie in den Diskussionen der Nachkriegsjahre vorherrschend waren, und sich auf diejenigen Konstanten – Sprache, Wirklichkeit, Ich – konzentriert, zwischen denen sich ihre Poetiken entfalten, dann erscheint Celans Lyrik als radikaler und kompromissloser Teil dieser Nachkriegsmoderne. Jean Bollack formulierte mögliche Parameter für ein solches affirmatives Verständnis Celans als Teil der lyrischen Moderne: Celans Kunst ist eine Kunst der Moderne. Ihre Modernität besteht in diesem Übergang zu einer abstrakten Visualisierung, zu einer reinen Sprachlichkeit ohne unmittelbaren Bezug zur sichtbaren Welt. Die Analyse, in einem chemischen Sinn, gelingt dank der kompromißlosen Beschränkung auf die Realität der Sprache, sie dringt auf diese Weise bis zu den innersten Bausteinen der Signifikanten vor. Nichts durfte so bleiben, wie es war, alles mußte durch einen Schnitt – durch einen immer wieder erneuerten Schnitt – aus dem alten Zusammenhang herausgelöst werden.319

Diese Beschreibung fasst die Qualitäten von Celans poetischer Verfahrensweise zusammen: Im Zentrum steht, wie bei schon anderen Lyrikern, die äußerste Konzentration auf die Sprache. Sie gewinnt aber gegenüber den Poetiken, die eine wie auch immer gestörte Beziehung zwischen Sprache und Wirklichkeit behaupten, einen gänzlich eigenen Charakter. Denn Celan geht es nicht mehr, wie Eich oder Huchel, darum, einen festen Orientierungspunkt nach der Verlustdiagnose zu finden. »[A]bstrakte[ ] Visualisierung in »reine[r] Sprachlichkeit« bedeutet einen radikalen Versuch, über die Sprache zu etwas Neuem vorzustoßen. Ziel seiner »kompromißlosen Beschränkung auf die Realität der Sprache« ist es, einen neuen Bezug zu etwas Gegebenem, Wirklichem herzustellen, das im Gedicht gesucht, angepeilt und umrissen 318 319

Pöggeler, Spur des Worts, S. 74. Bollack, Dichtung wider Dichtung, S. 19.

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wird. Ergebnis der Analyse, der Herauslösung »aus dem alten Zusammenhang« ist die Projektion einer neuen Realität. Ob sich aus diesem Anspruch nun tatsächlich eine »difference essentielle« zwischen Celan und einem Lyriker wie Rimbaud und somit eine objektiv ›neue‹ Qualität moderner Lyrik nach der Shoa ableiten lasse, wurde immer wieder bezweifelt.320 Thomas Klinkert argumentiert, dass die Wirklichkeit, die am Horizont von Celans Texten sichtbar werde, zwar »différente et infiniment plus monstrueuse« sei als etwa diejenige Rimbauds – einer der Dialogpartner Celans bei der Ausarbeitung seiner Poetik. »Mais la manière dont les poèmes peuvent renvoyer à la réalité extratextuelle n’a pas changé fondamentalement«.321 Sofern man einen, letztlich an Hugo Friedrich orientierten, formalen Begriff moderner Lyrik als Kriterium ansetzt, spricht manches dafür, Celan zuzugestehen, dass er lediglich gewisse Verfahrensweisen dieser modernen Lyrik aktualisiert und seinen Bedürfnissen anpasst. Diese Untersuchung geht allerdings von der Beobachtung aus, dass die Wiedereinschreibung deutschsprachiger Lyrik in die Tradition der Moderne nach 1945 sich nicht in der Adaptation bestimmter Schreibtechniken erschöpft, sondern vorrangig ein poetologisches Phänomen ist: Autoren versuchen eine Annäherung an die Moderne unter den Bedingungen der Nachkriegszeit, indem sie Aspekte und Fermente des Moderne-Diskurses aufgreifen, diese in ihre poetologischen Überlegungen und von da aus auch selektiv in ihre Lyrik integrieren. Diese unauflösbare Verschränkung von diskursiven und formalen Kategorien ist bei Celan in besonderem Maß zu beobachten. Seine Poetik und sein Schreiben konstituieren sich aus dem mit herkömmlichen Kategorien nicht einlösbaren Anspruch, eine lyrische Sprache zu schaffen, die eine sprachlich nicht fassbare Dimension der Wirklichkeit präsent machen solle. Die Trennung zwischen Zeichen und Bezeichnetem soll dabei zumindest im Gedicht aufgehoben werden. Zweifel an der Einlösbarkeit dieses Anspruchs sind dabei nur zu berechtigt. Dennoch bleibt festzuhalten, dass das lyrische Sprechen, das daraus entsteht, geradezu auf der textuellen Präsenz dieses poetologischen Postulats beruht. Die Frage, ob Celans Lyrik tatsächlich eine eigene Wirklichkeit sprachlich konstituieren kann, liegt am Rand literaturwissenschaftlicher Kompetenz. Nicht so verhält es sich mit der Feststellung, dass seine Texte ab einem gewissen Zeitpunkt die Annäherung an eine solche außertextuelle Wirklichkeit anpeilen und poetologisch umschreiben und somit zumindest diskursiv im Text verankern. Auf diese Weise schafft Celan gerade in der Ver320

321

Thomas Klinkert, »Un noyé pensif dans la mer du poème. Paul Celan traduit / recontre Rimbaud«, S. 151. Ebd.

Rühmkorf und Enzensberger: Modernisierung und politische Lyrik

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schränkung historisch-diskursiver und formaler Aspekte seine eigene Version der Nachkriegsmoderne. Celan verstand sich »als einer der letzten aus der Reihe der jüdischen Dichter deutscher Zunge«,322 und die Spielarten von moderner Lyrik, die er aus seiner individuellen und historischen Situation heraus entwarf, sind aufs engste mit diesem Selbstverständnis verbunden. Das Anliegen, vermittels der Sprache im Gedicht den Bezug »zu einem Andern« herzustellen, das Gedicht »im Geheimnis der Begegnung«323 zu sehen, ist auch und unmittelbar aus der Situation eines Autors zu verstehen, der nach und trotz der Shoa den Versuch unternimmt, »das Jüdische und das Deutsche noch zusammen[zu]halten« und eine Gemeinsamkeit zu suchen, »die die eine Seite mit der anderen verbindet«.324 Es ist ein Versuch, auszumessen und immer wieder neu zu erproben, ob für die Annäherung an die Toten eine Sprache verfügbar ist, die zugleich die Sprache der Mörder war – und die, so die aus »Todesfuge« abgeleitete Insinuation, gerade in ihrem Kunstcharakter eine Affinität mit der Fähigkeit zum Morden hat oder gar mit ihr zusammenhängt. Auch deshalb ist Celans Verständnis als jüdischer Dichter zentral für seine radikal avantgardistische Transformation des Deutschen zu seiner Sprache der modernen Lyrik.

5.

Peter Rühmkorf und Hans Magnus Enzensberger: Modernisierung und politische Lyrik

Die Modernisierung der deutschen Lyrik nach 1945 bewegt sich entlang verschiedener Schwerpunkte thematischer, formaler und poetologischer Natur, zwischen denen ihre Möglichkeiten neu austariert werden. Neben der kontinuierlichen Auseinandersetzung mit der Formensprache der modernen Lyrik steht in den frühen 50er Jahren zunächst die Integration zentraler Konzepte und Denkfiguren aus dem Diskurs der Moderne im Vordergrund. So hält die Krisendiagnostik der Moderne als Wirklichkeitsund Wahrnehmungskrise, Krise des Subjekts und Sprachkrise Einzug in die Nachkriegslyrik. Das geschieht vor allem im Modus der Assimilation im Rahmen bereits bestehender formaler und stilistischer Möglichkeiten der Naturlyrik; aus diesem Grund bilden die Modifikationen dieser Traditionslinie bei Günter Eich, Peter Huchel und Karl Krolow Schwerpunkte die322 323 324

Pöggeler, Spur des Worts, S. 46. Celan, »Der Meridian«, S. 198. Pöggeler, Spur des Worts, S. 46.

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ser Untersuchung. Gleichwohl sind die Aktualisierungen und Revisionen der Naturlyrik nur die ersten Stadien im Prozess der Modernisierung als Transformation. Die Erneuerungswirkung der programmatischen Forderungen nach einer umfassenden Sprachrevision im Umfeld der Trümmerlyrik mag begrenzt gewesen sein. Aber im Hintergrund blieben diese Diskussionen präsent und lieferten Ansatzpunkte für weitere Entwicklungen. Bei Benn und Brecht finden sich einige Paradigmen der Entwicklung der Lyrik in den 50er Jahren; mit ihnen stehen den Nachkriegsautoren zwei repräsentative lyrische Œuvres der deutschen lyrischen Moderne der 20er Jahre zur Verfügung, die nach und nach auch entsprechend rezipiert werden. So entwickeln sich zunehmend Alternativen zu einer modernen Lyrik, die die ästhetischen Grenzen der Naturlyrik hinter sich lässt. Man kann diesen Prozess bei Krolow, Eich und Huchel in seinen Anfängen verfolgen. Übersprungen werden die Grenzen des poetologischen und motivischen Inventars der Naturlyrik allerdings erst bei Ingeborg Bachmann und Paul Celan. Spätestens in der frühen Lyrik Peter Rühmkorfs und Hans Magnus Enzensbergers kommt die determinierende Funktion der Naturlyrik dann an ihr Ende – sowohl in einer Revision der Themen als auch in der Erweiterung des formalen Repertoires. Die Dichotomie zwischen Modernisierung und Tradition ist für die deutschsprachige Lyrik der 50er Jahre konstitutiv. Ebenso charakteristisch ist es, dass diese Dichotomie auf verschiedenen Ebenen – formal, stilistisch, thematisch-motivisch, poetologisch – in unterschiedlichen Intensitätsgraden zu beobachten ist. Formal ist die deutsche Lyrik der 40er und 50er Jahre insgesamt eher von der Abwehr radikaler Neuerungen geprägt. Selbst ein Autor wie Benn, der sich im emphatischen Sinn als ›modern‹ versteht, inszeniert und auch entsprechend rezipiert wird, bevorzugt in seiner späten Lyrik seit den Statischen Gedichten vorwiegend traditionelle Vers- und Strophenformen; Modernität lässt sich eher an den Inhalten fixieren.1 Die Öffnung zur Moderne findet auch bei Eich, Huchel und Krolow zunächst auf thematischmotivischer Ebene statt. Die Fixierung der lyrischen Thematik auf Naturgegenstände und damit auf das semantische Inventar, das in der Tradition einer konservativen Moderne seit 1930 für die sprachliche Konzentration von Erfahrungen auch historisch-politischer Herkunft zur Verfügung steht, wird spätestens durch den Krieg problematisiert. Seitdem kann man verschiedene Ansätze der Erweiterung des Repertoires der Naturlyrik beobachten. Sie

1

Vgl. dazu Dirk von Petersdorff, »Benn in der Bundesrepublik. Zum späten Werk«, in: Friederike Reents (Hrsg.), Gottfried Benns Modernität, Göttingen 2007, S. 24–37.

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konzentrieren sich zunächst auf die Thematisierung des Kriegs, vor allem auf Zerstörung und Elend der unmittelbaren Nachkriegszeit; das Bewusstsein der durch den Nationalsozialismus verursachten zivilisatorischen Katastrophe hingegen steht selten im Mittelpunkt. Spätestens in Ingeborg Bachmanns erstem Gedichtband lässt sich dann auch die Integration zeitgenössischer Befindlichkeit beobachten. Ohne allzu konkrete Bezüge zur zeitgenössischen politisch-historischen Gegenwart aufzurufen, werden doch die mentalitätsgeschichtlichen Signaturen der Nachkriegsjahre, vor allem des kalten Krieges, in präzis-vieldeutigen Bildern gestaltet. Auf ähnliche Weise thematisiert Paul Celan in seiner Lyrik seit der »Todesfuge« den Holocaust und die immer stärker damit verbundene Frage nach der Möglichkeit, dem mit Sprache nicht Fassbaren dennoch im Gedicht »Stimmen« zu verleihen. Ein neues Stadium der Modernisierung kann bei Rühmkorf und Enzensberger beobachtet werden. Beide stehen für eine weitere Integration der politisch-historischen Gegenwart in die Nachkriegslyrik, und bei beiden ist dieser Vorgang mit einer Verschiebung der formalen und stilistischen Spielräume des Gedichts verbunden. Die Begriffe, mit denen dieser doppelte Modernisierungsschritt beschrieben wird, verraten Verschiedenes. In der Literaturwissenschaft ist die Rede von einem »Paradigmenwechsel der Lyrik«, der von »veränderte[n] Konstruktionen«, ja von einer ›Entdeckung der Wirklichkeit‹ gekennzeichnet sei,2 vor allem aber von ›politischer Lyrik‹.3 Dass die Auseinandersetzung mit den historischen und gesellschaftlichen Realitäten der Gegenwart nicht unbedingt mit dezidiert politischer Stellungnahme verbunden sein muss, kommt in der Formulierung vom »öffentliche[n] Gedicht«4 bei Rühmkorf und Enzensberger zum Ausdruck; man sprach zutreffend von der »Entstehung eines neuen, […] ›offenen‹ Gedichts im Zusammenhang mit jener Politisierung der Literatur, die dann in den sechziger Jahren ihren Höhepunkt erreichen sollte.«5 Allerdings wurde diese von den Lyrikern selbst mit gutem Grund offen gehaltene Bestimmung in literari2

3

4

5

Hermann Korte, Deutschsprachige Lyrik seit 1945, 2., völlig neu bearbeitete Aufl. Stuttgart, Weimar 2004, S. 106f. Vgl. Walter Hinderer, »Sprache und Methode: Bemerkungen zur politischen Lyrik der sechziger Jahre: Enzensberger, Grass, Fried«, in: Ders., Arbeit an der Gegenwart. Zur deutschen Literatur nach 1945, Würzburg 1994, S. 49–92, bes. S. 49–62. Vgl. auch Ingo R. Stoehr, German Literature of the Twentieth Century. From Aestheticism to Postmodernism, Rochester, NY 2001, S. 301. Wilfried Barner (Hrsg.), Geschichte der deutschen Literatur von 1945 bis zur Gegenwart, München 1994, S. 222. Otto Knörrich, »Bundesrepublik Deutschland« in: Walter Hinderer (Hrsg.), Geschichte der deutschen Lyrik. Vom Mittelalter bis zur Gegenwart, 2., erw. Aufl. Würzburg 2001, S. 551–575, hier S. 566f.

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schen und literaturwissenschaftlichen Diskussionen sehr bald auf einen thematischen Begriff von ›politischer Lyrik‹ eingeengt, der durch den »Bezug auf ein politisches Problem«6 charakterisiert war und die »Vielfalt der Verfahren und der Einstellungen«7 ausschloss, die bei der lyrischen Thematisierung politischer Gegenstände seit 1945 zu beobachten ist. Schon Jost Hermand meldete Ende der 70er Jahre Zweifel an der Wirksamkeit einer Lyrik an, die nur einen Bruchteil der Gesamtbevölkerung erreichte, und relativierte die in den späten 50er Jahren einsetzende Wendung zum ›politischen‹ und öffentlichen Gedicht mit Verweis auf den nach wie vor bestehenden Konsens über die Notwendigkeit eines poetischen Mehrwerts.8 Dieter Lamping erweiterte diese Einwände unlängst mit dem Hinweis, dass es »[p]olitische Lyrik […] in der deutschen Literatur nach 1945 nicht nur in den zehn Jahren zwischen etwa 1965 und 1975 gegeben« habe, »sondern ebenso davor und danach und selbst bei Autoren, die sonst nicht unbedingt als politisch gelten«.9 Das ist die Sichtweise, die auch hier vertreten wird. Denn tatsächlich ist die Öffnung zur gesellschaftlichen Wirklichkeit, die »allmählich immer stärker werdende Berücksichtigung bestimmter Wirklichkeitspartikelchen«10 ein wichtiger Teil des ästhetischen Diskurses der Modernisierung der Nachkriegslyrik. Schon in der Trümmerlyrik waren Versuche präformiert, Aspekte einer auch politisch zu verstehenden Lebenswirklichkeit in die Lyrik zu integrieren. Diese thematisch-motivische Seite einer ›politischen Lyrik‹ bleibt über die gesamten 50er Jahre wirksam. So ist in den poetologischen Diskussionen um eine neue Gewichtung des Verhältnisses von Sprache und Wirklichkeit, deren ganz unterschiedliche Ergebnisse bei Eich, Huchel, Krolow, Bachmann und Celan verfolgt wurden, immer auch ein politisches Ferment enthalten. Gerade Eich und Huchel verbringen das gesamte erste Nachkriegsjahrzehnt damit, nach Möglichkeiten zu fahnden, eine bedrohliche und vor Problemen auch politischer Natur drängende zeitgenössische Wirklichkeit so zu bearbeiten, dass sie in die Bildsprache der Naturlyrik integriert und mit in ihren Formeln und Topoi gefasst 6

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9 10

Dieter Lamping, »Bundesrepublik Deutschland / Von 1945 bis zur Wiedervereinigung«, in: Walter Hinderer (Hrsg.), Geschichte der politischen Lyrik in Deutschland, Würzburg 2007, S. 327–362, hier S. 329. Dieter Lamping, Wir leben in einer politischen Welt. Lyrik und Politik seit 1945, Göttingen 2008, S. 32. Vgl. Jost Hermand, »Bundesrepublik Deutschland« in: Walter Hinderer (Hrsg.), Geschichte der politischen Lyrik in Deutschland, Stuttgart 1978, S. 315–337, hier S. 324–329. Lamping, Wir leben in einer politischen Welt, S. 32. Ebd., S. 326.

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werden kann. Noch mehr sind Bachmanns Poetiken der Widerständigkeit und der Sprach-Utopie und Celans immer neue Versuche, sich der Wirklichkeit des Holocaust in der Sprache anzunähern, Varianten einer politischen Lyrik, die sich nicht nur im engen Korridor einer rein thematischen Definition bewegt, sondern der Entwicklung »bestimmte[r] Rede- oder Schreibweisen«11 dieselbe Wichtigkeit zugesteht. Auch bleibt gegenüber der historischen Einengung des Begriffs von politischer Lyrik auf die 60er Jahre festzuhalten, dass die Poetiken Eichs und Huchels, noch mehr aber die Bachmanns und sogar Celans, unverkennbar im kollektiven Denken der 50er Jahre verwurzelt und ideen- und sozialgeschichtlich gerade im Kontext der ›Modernisierung im Wiederaufbau‹ zu verorten sind.12 Das lange Festhalten an bereits verfügbaren und in diesem Sinn ›restaurativen‹ ästhetischen Paradigmen kann man als einen literarischen Reflex des in der kulturellen Diskussion der 50er Jahre noch intensiven modernekritischen Denkens sehen.13 Es bedeutet aber nicht, dass eine ›politische Lyrik‹ vor Rühmkorf oder Enzensberger nicht existiert hätte. Versteht man ›politische Lyrik‹ also nicht im eingeschränkten Sinn einer intentional politisch engagierten Poesie, dann wird gerade vor dem Hintergrund der 50er Jahre die Kontinuität eines thematischen, poetologischen und formalen Erneuerungsprozesses sichtbar, in dem Enzensberger und Rühmkorf wichtige Stadien darstellen. So sichtbar der öffentliche Charakter ihrer Lyrik gegenüber den Vorgängern sein mag: In den eindeutigen Bezugnahmen auf zeitgeschichtliche Befindlichkeiten und gesellschaftliche Probleme schließen die Texte Rühmkorfs und Enzensbergers in mancherlei Hinsicht an die Vorgänger an. Umgekehrt sind die Lyrik und die poetologischen Reflexionen Rühmkorfs und Enzensbergers entscheidende Schritte auf dem Weg zu einer affirmativen und produktiven Rezeption der lyrischen Moderne. Das gilt nicht nur für die nunmehr ohne Einschränkungen vollzogene Thematisierung der zeitgenössischen Wirklichkeit, sondern auch für die stilistisch-formale Reflexions- und Variationsbreite, über die beide Autoren verfügen. Während die formal sichtbare Modernisierung bei den Auto11

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Lamping, »Bundesrepublik Deutschland / Von 1945 bis zur Wiedervereinigung«, S. 329. Vgl. Axel Schildt/Arnold Sywottek (Hrsg.), Modernisierung im Wiederaufbau. Die westdeutsche Gesellschaft der 50er Jahre, Bonn 1998; Manfred Görtenmaker, Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Von der Gründung bis zur Gegenwart, München 1999, bes. S. 199–270, Axel Schildt/Detlef Siegfried, Deutsche Kulturgeschichte. Die Bundesrepublik von 1945 bis zur Gegenwart, München 2009, bes. S. 152–178. Vgl. Axel Schildt, Moderne Zeiten. Freizeit, Massenmedien und »Zeitgeist« in der Bundesrepublik der 50er Jahre, Hamburg 1995, bes. S. 324–350.

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ren der naturlyrischen Tradition in erster Linie an der langsamen Aufgabe regelmäßiger zugunsten unregelmäßiger Versformen und an der Tendenz zum zunehmenden Gebrauch komplexer Metaphern und Chiffren zu beobachten ist, verfügen Rühmkorf und Enzensberger von Anfang an über ein vielfältigeres Repertoire. Enzensberger bezieht die formalen Inspirationen für seine Texte aus den verschiedensten Spielarten moderner Lyrik – nicht nur aus der von den älteren Autoren favorisierten romanischen Tradition, sondern unmittelbar aus dem Fundus des bald von ihm selbst in einer Anthologie so getauften Museums der modernen Poesie.14 Rühmkorf führt seine Auseinandersetzung um die Öffnung der deutschen Lyrik zur Gegenwart in einem parodistisch-aktualisierenden Dialog mit der Tradition, der seinerseits nicht ohne die virtuose Beherrschung verschiedenster Formelemente denkbar wäre. Und beide begleiten ihre Lyrik nicht nur in sporadischen poetologischen Verlautbarungen, sondern kontinuierlich in flexiblen Formen einer essayistischen Selbstreflexion, die bereits für sich genommen neue Möglichkeiten des Genres erschließen und zudem die Öffnung zur zeitgenössischen Wirklichkeit verstärken und fundieren. Es ist also die Gleichzeitigkeit zum Teil virtuoser Formvariationen und der Integration zeitgenössischer Kontexte, die Enzensbergers und Rühmkorfs Bedeutung im Prozess der Modernisierung der deutschsprachigen Nachkriegslyrik ausmacht. Beide Aspekte vervollständigen die Auseinandersetzung der deutschen Lyrik mit der internationalen Moderne, die seit 1945 in verschieden intensiven Schüben einer langen Transformationsphase zu beobachten ist. Zugleich kündigt Enzensbergers Rezeption moderner Lyriker, besonders der amerikanischen Realisten, einen Übergang zur stärker institutionalisierten Auseinandersetzung mit der internationalen Moderne seit dem Beginn der 60er Jahre an. Liest man den Weg zur Moderne in der deutschen Lyrik als eine langsame Verschiebung grundlegender Signaturen der Lyrikvorstellung, dann stellen Rühmkorf und Enzensberger letzte Schritte in diesem Verschiebungsprozess dar. Besonders Enzensbergers Lyrik weist zudem auf die Diskussionen und Entwicklungen der 60er Jahre voraus. 5.1. Peter Rühmkorf: Parodistische Aktualisierung der lyrischen Tradition Peter Rühmkorf ist für die Entwicklung der deutschsprachigen Nachkriegslyrik doppelt bedeutsam: Als Lyriker, aber nicht weniger als Kommentator und Kritiker. Rühmkorfs Poetologie entsteht aus der kritischen Beobach14

Museum der modernen Poesie, Hans Magnus Enzensberger (Hrsg.), 2 Bde., Frankfurt am Main 1980 [11960].

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tung der Gegenwartslyrik und ihrer vorherrschenden ästhetischen Paradigmen. Seine Lyrik lebt von der Verbindung kritischer Erkenntnisse mit der lyrikgeschichtlichen Tradition. In beiden Bereichen, in Poetik und Lyrik, beruhen Rühmkorfs Positionen auf einer entscheidenden Grundannahme: Die Lyrik ist unmittelbar verknüpft mit historischen und gesellschaftlichen Entwicklungen der Gegenwart und insofern ›politisch‹.15 Poetiken, die versuchen, das Gedicht als autonom zu betrachten, betrachtet Rühmkorf als defizitär, wohl auch, weil er selbst in der Benn-Nachfolge solche Vorstellungen assimiliert hat. Die Position des Lyrikers Rühmkorf im Kontext der Modernisierung der deutschen Lyrik der 50er Jahre lässt sich am besten entlang seiner kritischen Schriften rekonstruieren. Wie eng benachbart Kritik und eigene Produktion sind, zeigt der Essay Anleitung zum Widerspruch, in dem die »Variation auf ›Abendlied‹ von Matthias Claudius« zugleich als Anlass und Ergebnis des essayistischen Gedankengangs gelesen werden kann. Rühmkorfs Einschätzungen der deutschen Nachkriegslyrik profilieren zugleich eigene ästhetische Entwürfe. Parallel werden dann einzelne Gedichte Rühmkorfs untersucht – als Beispiele für eine Lyrik, die sich über eine produktive Aktualisierung der Tradition in der Gegenwart verortet. An drei Texten lässt sich die Entstehung von Rühmkorfs Poetik verfolgen: Das lyrische Weltbild der Nachkriegsdeutschen, Anleitung zum Widerspruch und Einige Aussichten für Lyrik.16 Die ersten beiden Texte wurden in der vorliegenden Form erstmals im Jahr 1962 publiziert und liefern, in ähnlicher Weise wie Enzensbergers Nachwort zum Museum der modernen Poesie, ein Resümee der Entwicklungen der Lyrik seit den späten 40er Jahren. Zugleich werden Möglichkeiten einer neuen, den historischen Erfahrungen und Problemen der Gegenwart angemessenen Lyrik untersucht; und so bereitet Rühmkorf in den Essays auch seine eigene Poetik vor. Während in Das lyrische Weltbild der Nachkriegsdeutschen die kritische und polemische Analyse wichtiger Strömungen und Autoren der Nachkriegslyrik im Mittelpunkt steht und eigene Positionen meist nur implizit erschlossen werden können, liefert Anleitung zum Widerspruch einen in der Geschichte der deutschen Lyrik seit dem 18. Jahrhundert fundierten Entwurf des parodistischen Gedichts, in dem das

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Für eine gegenteilige, auf einen engen Begriff von ›politischer Lyrik‹ zurückzuführende Position vgl. Herbert Uerlings, »Politik und Lyrik bei Peter Rühmkorf«, in: Heinz Ludwig Arnold (Hrsg.), Peter Rühmkorf, München 1988 (Text und Kritik, 97), S. 15–27, hier S. 16–19. Peter Rühmkorf, Schachtelhalme. Schriften zur Poetik und Literatur. Werke 3, Hartmut Steinecke (Hrsg.), Reinbek bei Hamburg 2001, S. 7–101.

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Potential des historischen Textes mit den Anforderungen an eine gegenwartsnahe Lyrik überkreuzt werden kann. In Einige Aussichten für Lyrik, erstmals publiziert 1963 in der von Max Horkheimer herausgegebenen Festschrift zu Adornos 60. Geburtstag, bezieht Rühmkorf schließlich Stellung zu Adornos in der Rede über Lyrik und Gesellschaft präsentierten Thesen und legt damit ein Resümee seiner Vorstellungen vom Verhältnis der Lyrik zur gesellschaftlichen und politischen Wirklichkeit vor.17 Die Texte sind zusammengesetzt aus Kritiken und Kommentaren, die Rühmkorf seit 1951 in der von ihm und Werner Riegel gegründeten und herausgegebenen Zeitschrift Zwischen den Kriegen (so im Fall von Das lyrische Weltbild der Nachkriegsdeutschen) oder in konkret (im Fall von Einige Aussichten für Lyrik) publiziert hatte; Anleitung zum Widerspruch erschien erstmals als Nachwort des Gedichtbandes Kunststücke.18 Besonders in der Zeitschrift Zwischen den Kriegen, die den Untertitel »Blätter gegen die Zeit« trug, aber auch in konkret waren Rühmkorfs Texte auf Polemik gegen die restaurative bürgerliche Ästhetik ausgerichtet. Im Fall von Das lyrische Weltbild wurden die polemischen Anteile für die Buchpublikation reduziert, sodass der programmatische Charakter und ihre Funktion innerhalb von Rühmkorfs Poetik stärker hervortraten.19 Während die Beiträge in der Zeitschrift noch stärker den Charakter von Kommentaren trugen, die anlässlich bestimmter Einzeltexte und Äußerungen entstanden, kann man die Anfang der 60er Jahre daraus redigierten Aufsätze als Versuche sehen, nicht nur die Genese, sondern auch die Ziele der eigenen Lyrik zu bestimmen. Rühmkorfs Auffassung über die Position der Lyrik in der Gesellschaft findet sich am eindeutigsten formuliert im letzten der drei genannten Aufsätze, Einige Aussichten für Lyrik. Im Negativen wie im Positiven formuliert Rühmkorf hier die Ergebnisse seiner Überlegungen aus den 50er Jahren:20 Dichtung, ganz gleich, ob sie sich als wirklichkeitsfern und ästhetizistisch oder als politisch versteht, muss sich zur politisch-historischen Wirklichkeit ins Verhältnis setzen. Gerade die Vorstellung, Poesie könne »sich durch Abkehr vom Politischen unabhängig machen […] und Unmittelbarkeit erwer-

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Vgl. ebd., S. 361 (Anmerkungen) bzw. Max Horkheimer (Hrsg.), Zeugnisse. Theodor W. Adorno zum sechzigsten Geburtstag, Frankfurt am Main 1963, S. 317–330. Vgl. Rühmkorf, Schachtelhalme, S. 349f., S. 359f., S. 361. Peter Rühmkorf, »Das lyrische Weltbild der Nachkriegsdeutschen«, in: Ders., Schachtelhalme, S. 7–42, hier S. 349 (Anmerkungen). Für eine genetische Darstellung der Überlegungen seit Anfang der 50er Jahre vgl. Edith Ihekweazu, Peter Rühmkorf. Bibliographie. – Essay zur Poetik, Frankfurt am Main, Bern, New York 1984, S. 122–142.

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ben durch die Beschäftigung mit sich selbst«,21 sei ein Trugschluss. Eine Dichtung, die sich kategorisch und bewusst lossage »von allem, was Gesellschaft heißt, und ihre eigene gesellschaftliche Rolle zu reflektieren sich versagt«,22 laufe vielmehr Gefahr, politisch instrumentalisiert zu werden. Ganz gleich, ob die Ausrichtung eines Autors ästhetizistisch oder politisch sei: Die Position der eigenen Lyrik innerhalb der gesellschaftlichen Wirklichkeit nicht zu thematisieren, bedeute bereits, eine bestimmte Ordnung und damit auch das Verschweigen bestimmter Missstände zu akzeptieren. Rühmkorf hält daran fest, dass ein Gedicht autonom zu sein hat; aber autonom werden könne es eben nur, wenn es seine Abhängigkeit von den jeweiligen Kontexten bewusst akzeptiere. Seine Konturen lassen sich nicht in schöner Independenz gegen das Nichts abstecken, seine Spannungen sind nicht in der Sprache selbst begründet, seine Ausdrucksgesetze nicht aus einem überzeitlich-internationalen Formenkanon der Poesie abzuleiten, sein Individuationsauftrag hat zu gelten als Berufung auf Zeit.23

Dieser Bezug auf das gesellschaftliche Umfeld ist nach Rühmkorf auch für die moderne Lyrik notwendig; weshalb »alle Grundprinzipien und Ecktheoreme der Moderne noch einmal zum Maßnehmen anzutreten haben«.24 Poesie könne nicht unbeteiligt sein, sondern müsse sich positionieren, müsse ›Zweifel säen‹ und ›Widerspruch anzeigen‹25 gerade in einer Gesellschaft, in der »das Geschäft der Wahrheit schon von niemandem sonst mehr besorgt wird«.26 Rühmkorf hat die Tendenz, das politische Zeitgedicht zu favorisieren; allerdings räumt er gegen Ende des Aufsatzes auch ein, dass es andere Möglichkeiten der Lyrik geben könne. Aber selbst in diesem Fall bleibe eine »artistische Lösung […] nicht mehr denkbar«, die nicht in »Widerstreit mit Hoffnungen und Absichten« tritt, »die nicht primär dem Gedicht gelten, sondern den Zuständen in einem Lande, das wahrlich des Angstschweißes der Edlen wert ist«.27 Rühmkorf vertritt also eine Konzeption der modernen Lyrik, die sich reflektiert ins Verhältnis zur gesellschaftlichen Wirklichkeit setzt. Er beharrt,

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22 23 24 25 26 27

Peter Rühmkorf, »Einige Aussichten für Lyrik«, in: Ders., Schachtelhalme, S. 85–101, hier S. 91. Ebd. Ebd., S. 93. Ebd., S. 94. Vgl. ebd., S. 98. Ebd. Ebd., S. 101.

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wie Theodor Verweyen in seinem Kommentar zur Rühmkorf ’schen Poetik erläutert, auf einer Begründung der Wirkungsmöglichkeiten der Literatur »aus der fundamentalen Bedeutung der Sprache für die menschliche Welterfahrung«.28 Auch Herbert Uerlings zielt darauf ab, dass Rühmkorfs Lyrik zwar einerseits nur als »autonomes Kunstwerk[ ]«29 verständlich sei, andererseits aber fortwährend »dieser Autonomiestatus durchbrochen werden soll«.30 Der Bezug zur gesellschaftlich-historischen Dimension ist für Rühmkorf zentral, gleichwohl soll ihm der ästhetische Eigenwert des Textes nicht geopfert werden. In diesem Spannungsfeld zwischen ästhetischer Autonomie und Wirklichkeitsbezug bewegt sich seine Suche nach einer Poetik des Nachkriegsgedichts in den 50er Jahren. Entworfen wird diese Poetik in der Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen Lyrik – so in Das lyrische Weltbild der Nachkriegsdeutschen – und der literarischen Tradition seit Mitte des 18. Jahrhunderts – in Anleitung zum Widerspruch. Rühmkorfs Grundthese zur deutschen Nachkriegslyrik ist, dass diese ästhetisch, stilistisch und thematisch anfangs in einem weitgehend diskongruenten Verhältnis zur historischen Wirklichkeit stehe. Im Verlauf der 50er Jahre werde dann dieser Widerspruch in verschiedenen Ansätzen nach und nach modifiziert, bis Ende der 50er Jahre eine Generation jüngerer Autoren eine für »gesellschaftliche Wirklichkeiten«31 offene Lyrik entwickle. Gleich am Anfang von Das lyrische Weltbild der Nachkriegsdeutschen wird der Leitgedanke formuliert: Die im Rückblick verklärten »geliebten grauen Jahre« im »Elend der ersten Nachkriegszeit« erwiesen sich keineswegs als so ›golden‹, wenn man ihre Dichtkunst betrachte.32 Vielmehr erscheint, was uns ein rückgewandtes Harmonieverlangen als schönes Hand-in-Hand von Armut und Geistesschaffen, Kunst und Hunger, materieller Entbehrung und produktivem Schwung vor Augen ruft, als eine bloße Fiktion des späteren Wohlstandsüberdrusses. Zwar ist nicht zu leugnen, daß der Zeitraum zwischen 1945 und 1947 ein wirklich eigenes Fluidum besaß aus Überlebenslust und allgemeinem Veränderungsverlangen, bloß daß die edlen Vorsätze nicht schon zu Gedichten führten, die, gemessen an dem, was nach dem ersten Weltkrieg Lyrik hieß, einem Qualitätsvergleich stichhalten würden.33

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Theodor Verweyen, Eine Theorie der Parodie. Am Beispiel Peter Rühmkorfs, München 1973, S. 14. Herbert Uerlings, Die Gedichte Peter Rühmkorfs. Subjektivität und Wirklichkeitserfahrung in der Lyrik, Bonn 1984, S. 6. Ebd. Rühmkorf, »Das lyrische Weltbild der Nachkriegsdeutschen«, S. 41. Ebd., S. 7. Ebd.

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Anstatt aus »Umbruch und Erschütterung«, »Wandlung und Neubeginn« einen eigenen Stil zu entwickeln, habe die Lyrik der ersten Nachkriegsjahre nichts als Mittelmäßigkeit hervorgebracht.34 Zum Teil habe das einfach an der Kontinuität des literarischen Marktes gelegen, wobei »die ersten Veröffentlichungen aus den Lagerbeständen bereits bekannter […] Poeten bestritten wurden, die nun zur Einsicht gaben, was ihnen mit den überkommenen und kritiklos übernommenen Ausdrucksmitteln zu sagen verblieben war«.35 Die Tendenzen dieser Autoren seien »Trost, Zuspruch und Halt am ungetrübt Herkömmlichen«36 gewesen. Aber auch unter den jüngeren Autoren, den »jungen heimgekehrten Tiefverstörten, […] vom Krieg gezeichnet aber gerade noch entronnen«,37 sieht Rühmkorf kaum einen Lyriker mit der »Fähigkeit zur Artikulation«, kaum einen »Hauch von Aufbruch und Umbruch, ein Wagnis aus Stil, ein Neubeginn aus Sprache«.38 Erwähnt werden Hans Egon Holthusen als Beispiel für eine epigonale Dichtung, Wolfgang Borchert als ein Autor, der immerhin die Schwierigkeit artikulierte, die Kriegserfahrung in ein Gedicht zu übersetzen, und natürlich, als eine der wenigen Ausnahmen, Günter Eich, der sich in seiner Poesie »an einer Ortsbestimmung des Menschen versuchte«.39 Im Vordergrund von Rühmkorfs Analyse steht aber zunächst die Naturlyrik. Insgesamt ist seine Einschätzung kritisch; gerade bei der älteren Generation der Naturlyriker sieht er vor allem Vermeidungs- und Ausblendungsstrategien am Werk: Man habe sich »vor dem Lärm der Schlachten und Gorgonenblick der Geschichte an einen Ort verzogen, wo Verantwortung und Bewußtsein in gleichem Maße aufgehoben schienen und wo sich ›heute‹ auf ›Geläute‹ reimte«.40 Andererseits übersieht auch Rühmkorf nicht die indirekten Strategien, mit denen Naturlyrik Bezüge zur Wirklichkeit herstellte. Mißtrauisch absichernd gegenüber allem, was Gesellschaft, Zeitgeschichte oder Politik hieß, bekundete der Poet sein soziales Ohnemich durch seine Flucht ins Abseits. Gleichwohl konnte er sich hier auf eine tatsächlich vorhandene wie neu symbolisch empfundene Wirklichkeit berufen, da die Vegetation sich von allen Umwälzungen der Geschichte, von Göttermacherei und Götterstürzen demonstrativ unbeeinträchtigt zeigte […].41

34 35 36 37 38 39 40 41

Ebd. Ebd. Ebd., S. 8. Ebd., S. 9. Ebd. Ebd., S. 10. Ebd., S. 8. Ebd., S. 12.

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Die Naturlyrik verfügt also über Möglichkeiten, thematisch-motivisch die Gegenwart zu integrieren, allerdings diagnostiziert Rühmkorf nach einigen Ansätzen der »Vermählung von Natur- und Zeitpoesie«42 nach 1948 eine immer stärker eskapistische Tendenz. Er spricht von einer ausgeprägten Tendenz zum Rückzug in die »ästhetische Provinz«,43 in die »[k]leine heile Welt«.44 Den ersten wichtigen Impuls zur Modernisierung habe erst Gottfried Benn in die Nachkriegslyrik gebracht. Er fungiert einerseits als letzter überlebender Repräsentant der Generation expressionistischer Lyriker der 10er und 20er Jahre, der noch dazu eine repräsentative ›moderne‹ Poetik anzubieten hat, die auf die Diskussionen und Bedürfnisse der ersten Nachkriegsjahre zugeschnitten sei: Benn thematisiere Ausdruckskrise und Kulturpessimismus, sei letzter Fürsprecher des absoluten Gedichts und der lyrischen Moderne in der französischen Tradition. »Die Lehre, die er der jungen deutschen Literatur mit auf den Weg gab, hieß: ›Ästhetizismus, Isolationismus, Esoterismus‹ […].«45 Benns Ästhetizismus aber habe eine Abkehr von der Wirklichkeit bedeutet und damit die Benn-Rezeption geradezu fehlgeleitet. Nicht die moderne »Großstadt- und Bewusstseinspoesie«,46 sondern ein spannungsloser Ästhetizismus sei in den Nachkriegsjahren modellbildend geworden – ein Ästhetizismus, der die provokativen und zeitbezogenen Elemente Benns eliminiert habe. Viele von Benns Gedichten der 50er Jahre, die oft von einer erstaunlichen Epigonalität geprägt gewesen seien, in der gerade der überbordende Gebrauch romantischer Versatzstücke dem restaurativen Geist der Zeit entgegenkäme, hätten sich für eine solche Rezeption geeignet. Benns Hinweise auf einen radikalen Modernismus hätten ganz und gar nicht dazu geführt, dass die moderne Lyrik in den 50er Jahren ihre gegenüber Gegenwart und Gesellschaft eskapistische Position überwunden hätte. Seine Epigonen hätten sich an dessen Vorliebe für exquisite und ausgefallene Vokabeln orientiert, nicht an den kritisch-satirischen Texten. Entsprechend liest Rühmkorf Höllerers Transit-Anthologie als Symptom für eine wortreich beschworene »kopf-, geist-, harm-, sinn- und einfallslose Zeit- und Wirklichkeitsflucht«.47 Als Ursache für diese »Karenz- und Stillhaltezeit«48 zwischen 1948 und 1952 macht Rühmkorf die Verweigerung 42 43 44 45 46 47 48

Ebd., S. 13. Ebd. Ebd., S. 14. Ebd., S. 16. Ebd. Ebd., S. 20. Ebd., S. 22.

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einer »schöpferische[n] Revision des deutschen Expressionismus und eine Besinnung auf die eigenen modernen Traditionen«49 aus. Zugleich diagnostiziert er um 1952 bereits eine Erschöpfung der Naturlyrik und der BennEpigonalität, stattdessen erste Zeichen für die Produktivität einer »junge[n] deutsche[n] Poesie«,50 die die Vorteile der Revisionsperiode produktiv macht und sich mit dem »Legieren der besten Traditionen und der spannungsvollen Weiterführung gerade von konträren Anregungen« beschäftigt.51 Beispiele dafür sieht er bei Krolow, Eich, Weyrauch und eventuell bei Holthusen. Gleichwohl bezieht er gegen die naturlyrisch geprägten Anfänge dieser Autoren im »Lied der Naturlyriker«52 parodistisch Stellung, das vor allem in seiner früheren Fassung aus dem Jahr 1955 die transformative Fortschreibung naturlyrischer Poetiken im ersten Nachkriegsjahrzehnt und besondes im Umfeld der Gruppe 47 problematisiert. Kalmusduft kommt wild und würzig Kraut und Rüben = Gedicht, Wenn die Gruppe Siebenundvierzig Spargel sticht und Kränze flicht. Abendland hat eingeladen Suppengrün und Fieberklee, Auf die Quendelbarrikaden, Engagee, engagee. Wenn die Abendglocken läuten, Wenn die grüne Heide blüht, Lattich den Geworfenheiten, Pfefferminze fürs Gemüt. Weyrauch duftet süß und Bender, und es dämmern Laich und Eich – Sachte rutscht der Abendländer In den sanften Ententeich.53

Tatsächlich ist Rühmkorfs gesamte Argumentation im Lyrischen Weltbild der Nachkriegsdeutschen darauf ausgelegt, diese langsame Verschiebung weg von artifiziellen, gegenwartsfernen und antirealistischen Poetiken darzustellen. Zugleich geht es ihm darum, in der Analyse anderer Autoren seine eigene 49 50 51 52

53

Ebd. Ebd., S. 23. Ebd. Peter Rühmkorf, »Lied der Naturlyriker« [1957], in: Ders., Gedichte. Werke 1, Bernd Rauschenbach (Hrsg.), Reinbek bei Hamburg 2000, S. 152f. Peter Rühmkorf, »Kalmusduft kommt wild und würzig« [1955], in: Ders., Gedichte. Werke 1, S. 76. Vgl. Verweyen, Eine Theorie der Parodie, 59f.

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Position zu entwickeln. Die Verurteilung der Naturlyriker und der BennEpigonen als gegenwartsfern und artifiziell ist Teil der Kritik an den Entwicklungen der ersten Nachkriegsjahre. Und ebenso ist die Entdeckung »eine[r] bishin unbekannte[n] lyrische[n] Intensität« und eines »seltsam angespannte[n], oft verquere[n] Verhältnis[ses] zur Welt, zum Menschen, zur gesellschaftlichen Wirklichkeit«54 bei Walter Höllerer, Werner Riegel, Ingeborg Bachmann und Paul Celan das Zeichen für den Beginn neuer Strömungen in der Nachkriegslyrik. Die Nennung seines Freundes und Mitherausgebers Walter Riegel markiert dabei auch die Position, in der Rühmkorf sich selbst sieht. Die Qualitäten, die diese neue Haltung der Lyriker zur gesellschaftlichen Wirklichkeit auszeichnen, deuten zugleich die Möglichkeiten für Rühmkorfs eigene Lyrik an. Höllerer zeichnet sich durch einen »durch keine Manier verzerrten und durch Vorbilder gänzlich unbelasteten Eindrucksstil«55 aus: »Seine Verse kommen gewissermaßen direkt aus dem Anschauen, aus dem Hinhören, aus der sinnlichen Wahrnehmung.«56 Das Grundproblem der epigonalen Lyrik, die Konzentration auf ein bestimmtes Inventar an Bildern, ist in Rühmkorfs Darstellung bei Höllerer zum ersten Mal überwunden. Komplementär dazu ist die Öffnung zur Gegenwart bei Riegel, Bachmann und Celan zu verstehen. Was bei Riegel als Protest gegen die Rückkehr zur »niedere[n] Wohlstandsmentalität« und als »hochgemute[r] Zynismus« gegenüber »progressiven Veränderungsidealen« und »Regressionsparolen«57 erscheint, äußert sich bei Bachmann als »systematische Umwertung der großen, der geläufigen Worte«58 und bei Celan in der »Trauer über die Unfähigkeit zur Aneignung der Welt«.59 Was Rühmkorf hier in Bezug auf Celan formuliert, ist die Umwertung der Reflexion über die Sprachkrise – wie sie beispielsweise noch bei Eich zentral ist – in ein Nachdenken über die historische Bedingtheit der Sprachkrise: »Ein nicht bloß empfindliches, ein wohl wahrhaft ›wirklichkeitswundes‹ Subjekt versuchte die Erfahrung seiner gesellschaftlichen Unauflöslichkeit in Schreibvorgänge zu konkretisieren, die eigentlich Rückgänge, Rückläufe, Reduktionen waren.«60 Gerade an Rühmkorfs Einschätzung Celans werden seine eigenen Absichten deutlich. Denn obwohl er Celans Technik der »äußerste[n] Selbst54 55 56 57 58 59 60

Rühmkorf, »Das lyrische Weltbild der Nachkriegsdeutschen«, S. 24. Ebd. Ebd. Ebd., S. 26. Ebd., S. 28. Ebd., S. 29. Ebd.

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zurücknahme« und der sprachlichen Reduktion eingehend würdigt, kann er seine Skepsis gegenüber Gedichten, »in denen Zeit und Werden beinah aufgehoben scheinen«, nicht verbergen.61 Auch Celans Bildlichkeit haftet nach Rühmkorf etwas Epigonales an, was in seinen Augen dazu führe, dass trotz aller virtuos eingesetzten Reduktionstechniken seine Lyrik am Ende doch Gefahr laufe, jeden Bezug zur Wirklichkeit zu verlieren. Es ist in diesem Zusammenhang zweitrangig, dass Rühmkorf das Potential der Celan’schen Poetik verkennt, die ja gerade in der immer radikaleren Reduktion die Schwelle zwischen Wort und Wirklichkeit immer präziser zu punktualisieren versucht und insgesamt ebenso als ein Versuch gelesen werden kann, der Unzulänglichkeit der Sprache durch äußerste Zuspitzung zu begegnen. Wichtig ist, dass hier Rühmkorfs Vorstellung einer wirklichkeitsnahen Lyrik konkretisiert wird. Für ihn ist eine Lyrik, die sprachlich vielseitig und variabel zu sein hat, von großer Wichtigkeit. Der Gedanke der Reduktion als Versuch, eine möglichst intensive Sprache gegen die Wirklichkeit zu erschaffen, hat dagegen in Rühmkorfs Entwurf einer Nachkriegspoetik keinen Platz. Vor allem deshalb kann er Celan in die Nähe von Heißenbüttels und Gomringers konkreter Poesie rücken. Diese leidet für Rühmkorf darunter, dass das Übergewicht der Form alle Inhalte ausschließt; mit seinen Worten: »Hier wurde die Methode schon im voraus zum Thema, das Verfahren zum Inhalt erklärt […].«62 Auch wenn er die Fruchtbarkeit dieser Dichtung für eine Kritik »am überkommenen Beziehungsgeflecht der Sprache und seine Skepsis gegenüber den formalen Konventionen von Strophe, Reim und rhythmischer Gliederung«63 nicht bezweifelt, hält Rühmkorf doch daran fest, dass der poetischen Produktivität der Reduktion als poetischem Verfahren Grenzen gesetzt seien; die Reduktion erschöpfe sich früher oder später im Leerlauf und in einer bestenfalls noch theoretisch begründbaren Konzentration auf den bloßen Text, das bloße Wortmaterial. Rühmkorf sieht in der experimentellen Zuspitzung der Reduktion eine Sackgasse, die auch durch wissenschaftlich-theoretische Begründungen einer grundsätzlichen SinnVerweigerung der reduzierten Sprache nicht entkräftet werden. Trotz vieler Ansätze, die Rühmkorf durchaus nicht übersieht, ist also die Lyrik bis Mitte der 50er Jahre in seinen Augen nicht bereit für eine grundlegende Revision, in der tatsächlich Ausdrucksmöglichkeiten und Inhalte seinen Vorstellungen einer ebenso formal innovativen wie historisch interessanten Lyrik gerecht würden. Erst bei Grass und Enzensberger findet er die 61 62 63

Ebd. Ebd., S. 31. Ebd.

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Ansätze für diesen »einschneidenden Revisionsprozeß«.64 Beide seien wichtig wegen ihrer »Offenheit gegenüber Weltstoff und Wirklichkeit. Diese Lyrik spielte sich nicht mehr im luft- und menschenleeren Raume ab, sondern bezog sich auf, verhielt sich zu, brach sich an: Gegenwart und Gegenstand.«65 Hier also ist endlich die Wendung zur Wirklichkeit, die Rühmkorf vermisst hat, und natürlich markieren die Ausführungen zum neuen, unmittelbar in der zeitgenössischen Realität verhafteten Basisvokabular der beiden Autoren, das dann in eine entsprechende »neue Metaphorik« und damit in eine »neue dichterische Auslegung der Welt übersetzt wird«,66 wiederum auch seine eigene Position. Am wichtigsten in Rühmkorfs vergleichender Betrachtung von Grass und Enzensberger sind ironische Darstellungsverfahren. Ihre »generationstypische Wandlung in Lebensgefühl und Diktion« fasst er folgendermaßen zusammen: Abkehr von aller feierlichen Heraldik und kunstgewerblichen Emblemschnitzerei, Absage an tragische Entsagungsmuster und sauertöpfische Heroität, Ablösung des Klagegesanges durch die Groteske, Verstellung von Pathos durch Ironie. Die Interpretation der vorhandenen als einer verkehrten Welt führt hier bei einer wesent-willentlich antitragisch, antiheroisch eingestellten Generation zu einem ästhetischen System von interdependenten Brechungsverfahren und Verfremdungspraktiken, die sämtlich das Witzige mit dem Bösartigen, das Lustige und Verletzende, das Ironische und das Ernstgemeinte, das Komische und das Bittere im widersprüchlichen Verein zeigen.67

Rühmkorf bereitet in der Rechtfertigung ironischer Schreibstrategien auch seine eigen Poetik vor: Ironie könne »der Ausdruck eines neu geweckten, neu gespannten, neu belebten Verhältnisses zwischen Ich und Außen, Individuum und Gesellschaft, Kunst und Natur«68 sein. Zugleich könne Ironie produktionsästhetisch zu »eine[r] Methode zugleich der Anteilnahme und der Auseinandersetzung« werden, die es erst ermögliche, »daß das moderne Gedicht die Quarantäne durchbrechen und sich wieder der […] Wirklichkeit stellen konnte«.69 Insofern ist es nicht überraschend, dass Rühmkorf am Ende seiner an der Oberfläche historischen, im Kern aber poetologischen Untersuchung über die Spielräume und Möglichkeiten einer Lyrik, die sich gegenüber der gesellschaftlichen Wirklichkeit nicht zurückzieht, »ironische 64 65 66 67 68 69

Ebd., S. 36. Ebd., S. 37. Ebd., S. 39. Ebd., S. 40. Ebd. Ebd.

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Verhaltensweisen« für die einzig mögliche Strategie erklärt. Es bleibe »der ironischen Schreibart vorbehalten, die Mißverhältnisse von Individuum und Gesellschaft fortlaufend zu akzentuieren, ohne gleich gänzlich auf den Abbruch der Beziehungen hinzuwirken«.70 Von diesem Ergebnis führt ein direkter Weg zur Begründung von Rühmkorfs Poetik der Parodie in Anleitung zum Widerspruch.71 Auch hier entwickelt er seine Absichten aus einer kritischen Betrachtung anderer Autoren – diesmal allerdings nicht in Auseinandersetzung mit Autoren der Gegenwart, sondern mit der literarischen Tradition deutscher Lyrik. Die erste Hälfte des Aufsatzes ist historisch angelegt und befasst sich mit den Ausprägungen des Mond-Motivs in der deutschen Lyrik seit dem 18. Jahrhundert. Allerdings versucht Rühmkorf, ganz entsprechend seiner Grundüberzeugung, dass Lyrik in der Wirklichkeit verwurzelt sei, die lyrischen Stilisierungen des Mondes jeweils gesellschaftlich und politisch zu begründen. Dass seit dem Sturm und Drang das Mond-Motiv immer stärker topisiert und zu einem »Mittler der Empfindungen und Gefühle«72 werden konnte, ist nach Rühmkorf in der politischen Machtlosigkeit des deutschen Bürgertums und spezifischer in der gesellschaftlichen Randposition der deutschen Dichter begründet, die »wiederum ein trostloser Sonderfall des trostlos an den Rand verwiesenen und politisch ausjurierten Bürgertums«73 gewesen seien. Die »verwegenen Selbsterhöhungen und neuen Definitionen dichterischen Genies«74 seien als Kompensationen dieser ›Standesmisere‹ zu verstehen, wobei »der Begriff Gesellschaft durch Geselligkeit ersetzt[ ]«75 wurde und der Mond entsprechend »zu einer Art Relaisstation für freundschaftliches Zugeneigtsein und stille Sympathiekundgebung«76 wurde. Diese kompensatorische Funktionalisierung des Mondes als Topos, in dem Empfindungen und Gefühle und bald auch religiöse Inbrunst zum Ausdruck kommen, verfolgt Rühmkorf über Gedichte von Matthias Claudius und Gottfried August Bürger bis in die Romantik, in der nun »die eigentliche Mondphase der deutschen Lyrik […] erst gekommen« schien.77 Wieder be70 71

72 73 74 75 76 77

Ebd., S. 41. Peter Rühmkorf, »Anleitung zum Widerspruch«, in: Ders., Schachtelhalme, S. 43–82. Ebd., S. 46. Ebd., S. 44. Ebd., S. 45. Ebd. Ebd. Ebd., S. 48.

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dient sich Rühmkorf seines Ausgangsarguments, wonach die deutschen Intellektuellen sich aufgrund ihrer politischen Machtlosigkeit, die durch die restaurative Phase nach der Revolution noch einmal verstärkt wurde, »immer entschiedener von der übrigen Gesellschaft abzusondern«78 begannen. Die Aufwertung des Ich »zur höchsten aller möglichen Instanzen«79 führe zur romantischen Flucht in ein Zwischenreich des Vor- und Unbewussten, Kindheitlich-Präreflexiven, Vorgeschichtlich-Absoluten; der Mond werde in dieser Zufluchtssphäre der Nacht zum Symbol der Dichter selbst. Natürlich verfolgt Rühmkorf die Behandlung des Mondes in der Lyrik des 19. Jahrhunderts weiter – genannt werden unter anderem Heine und Morgenstern –, aber der dritte wichtige Abschnitt der Behandlung des Mondmotivs, auf den seine Kompensationsthese wieder angewendet werden kann, findet sich erst bei den Expressionisten. Rühmkorf versteht den Expressionismus als »Deformations- und Fratzenkunst«,80 die die »bürgerliche Welt und ihre Persönlichkeitsideale […] rigoros infrage gestellt«81 habe. Auch die Bilder und Symbole der Vergangenheit würden entsprechend in ihr Gegenteil verkehrt – »die Zufluchtstätte« der Nacht sei »plötzlich auch zum Höllenort geworden«,82 und entsprechend sei nun auch der Mondtopos negativ konnotiert. Die Frage, wie eine Lyrik nach dem Ende des »bürgerlichen Zeitalters«83 aussehen könne, die weiterhin den Mond thematisiert, führt über einige Beispiele politischer Propagandalyrik in der Folge der sowjetischen Mondlandung 1959 zu Rühmkorfs Entwurf einer Poetik des Gedichts, die sich auf die Parodie gründet. Auch hier ergänzen sich historische Analyse und die Forderungen nach Lyrik, die der historischen Situation der Gegenwart angemessen sei. Zentral sind drei Aspekte. Das Gedicht solle, erstens, nicht mehr Ausdruck eines Dichtersubjekts sein, sondern die Gegenstände der Welt erläutern, die als »Flexionen des Bewußtseins anzusprechen und zu begreifen«84 seien. Entsprechend gebe es, zweitens, keine stabilen ontologischen Gewissheiten mehr, die als ›zeitlose Mächte des Seins‹ in der Lyrik thematisiert werden könnten, sondern nur noch »Interpretationsformen, Auslegungen, Brechungen, Ansichten, Reflexe«.85 Zum dritten, und hier findet 78 79 80 81 82 83 84 85

Ebd., S. 49. Ebd. Ebd., S. 56. Ebd. Ebd. Ebd., S. 58. Ebd., S. 66. Ebd.

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man wieder den Nullpunkt von Rühmkorfs Poetik, müsse sich das Gedicht mit »gesellschaftlich begründeten Sach- und Bewußtseinsverhalten«86 befassen. All das ist nach Rühmkorf nur dann möglich, wenn das Gedicht »seine eigene Existenz auf der Kippe kalkuliert« und sich »zwischen systembedingten Unmöglichkeitsformen«87 bewegt – also offenbar, wenn es heterogene Aspekte in formaler Vielfalt verbinden kann. Als Beispiel für eine solche Parodie wird die »Variation auf ›Abendlied‹ von Matthias Claudius« angeführt, einer der Texte, den Rühmkorf 1962 im Band Kunststücke im Abschnitt ›Variationen‹ publizierte – zusammen mit anderen Parodien auf Texte von Hölderlin, Klopstock und Eichendorff.88 Rühmkorfs Theorie der Parodie konzentriert sich in einer zentralen Überzeugung: »Objekt und eigentlicher Streitgegenstand« der Parodie ist nicht mehr, wie im traditionellen Parodie-Begriff, »die Literaturvorlage […], sondern […] ein Zeitproblem, ein Gegenwartsbefund, Gesellschaftszustand. Wobei der Parodand […] als Vorwand zu betrachten wäre, als Filter, Medium und Transparentfolie, durch die der Autor mit seiner Welt in Vergleich tritt.«89 Die Parodie ist eine Strategie, durch die ein Bezug zur eigenen Gegenwart hergestellt wird. Der literarische Text, der parodiert wird, ist das Medium, durch das der Autor einen Zeitbezug herstellt. Insofern tritt der Ursprungstext an die Stelle des sprachlichen Materials – Vergleich, Bilder, Topoi –, das dem Autor zur Verfügung steht, der einen neuen Text verfasst. So regle dieser Autor »seine Kontakte zur Welt nicht mehr nur über das vergleichsweise freie Bezugssystem der Sprache […], sondern über schon vorgeprägte Fest- und Fertigmedien«.90 Rühmkorf begründet die intensive Verwendung der Parodie durch die historische Situation einer vermeintlichen Krise des Bürgertums. Erst nachdem der Fortbestand der Kultur fragwürdig geworden sei, werde anhand der Parodie literarischer Texte der Vergangenheit eine Kritik an der eigentlich auch schon überholten Gegenwart möglich. »Wobei die literarische Antiquität […] sich an Brechung und Entstellung gefallen lassen mußte, was an Kritik und Aggressionen der Zeit, der überfällig derangierten zugedacht war.«91 86 87 88

89 90 91

Ebd. Ebd. Peter Rühmkorf, »Kunststücke (1958–1961)«, in: Ders., Gedichte. Werke 1, Bernd Rauschenbach (Hrsg.), Reinbek bei Hamburg 2000, S. 167–241, hier S. 240f. Vgl. dazu auch Ihekweazu, Peter Rühmkorf. Bibliographie. – Essay zur Poetik, S. 135f. Rühmkorf, »Anleitung zum Widerspruch«, S. 69. Ebd., S. 70. Ebd., S. 71.

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In Rühmkorfs Gegenwartsdiagnose hat die »neue Gesellschaftsform […] als ökonomisches System und Persönlichkeitskonzeption«92 – der Kommunismus – bereits begonnen. Die Frage, wie man ihr in der Lyrik begegnen könne, beantwortet Rühmkorf mit einem Blick auf die Nachkriegslyrik, und wie schon in Das lyrische Weltbild der Nachkriegsdeutschen verwirft er die verschiedenen dort erprobten Alternativen – von der Naturlyrik über die BennNachfolge zur konkreten Poesie. Am Ende seiner Ausführungen bestimmt Rühmkorf die eigene ambivalente Position: Er sei einer, der »an dem Herbst [hängt], den er haßt«,93 der »zwischen zwei Zeitaltern vorläufige Position bezogen hat […] und […] dort, wo er sich fassen will, immer nur Übergang sagen kann, immer Vorüberzug.«94 Das Ziel seiner Parodie liege entsprechend darin, die Differenz, die sich zwischen dem Autor-Ich und seiner Gegenwart auftut, herauszuarbeiten. Es wolle »zu korrigieren versuchen, was nicht zur Deckung kommt, die Unstimmigkeiten verzeichnen, die Verzerrungen entstellen […], vielleicht, daß wir uns dann ein besseres Bild machen können von dem, was noch zu halten ist.«95 Die Parodie, die Rühmkorf anstrebt, ist also ein Versuch, das vorhandene Material der literarischen Tradition für eine Bestandsaufnahme zu aktivieren, in der immerhin festgestellt werden kann, welche literarischen Möglichkeiten der Auseinandersetzung mit der eigenen Gegenwart noch bestehen. Rühmkorfs Variante von moderner Lyrik präsentiert sich zu Beginn der 60er Jahre als eine Poetik der Parodie. Einem Autor, der vorläufig keine Möglichkeit einer Ästhetik sieht, in der die Widersprüche zwischen künstlerischer Autonomie und Wirklichkeitsbezug aufgelöst werden könnten,96 gelingt es nur im Medium der parodistischen Wiederaufnahme und Weiterverwertung literarischer Tradition, die Dimension der kollektiven, historischen Wirklichkeit in die Lyrik zu integrieren und zugleich ein Autor-Ich zu positionieren, das nach wie vor an der Vorstellung seiner Eigenständigkeit festhält. Rühmkorf findet seine Poetik im Spannungsfeld zwischen literarischer Tradition und Gegenwartsbezug. Wie dieses produktive Traditionsverhalten eines parodistischen Gegenwartsbezugs aussehen kann, versucht er in der »Variation auf ›Abendlied‹ von Matthias Claudius« zu demonstrieren. Es liegt im Wesen einer solchen vom Autor arrangierten Versuchs-

92 93 94 95 96

Ebd., S. 72. Ebd., S. 77. Ebd., S. 77f. Ebd., S. 78. Auf diesen bereits in der Poetik des sog. Finismus angelegten Widerspruch zielt Uerlings ab; vgl. Uerlings, Die Gedichte Peter Rühmkorfs, S. 43–49, bes. S. 44.

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anordnung, dass dabei die Aspekte seiner Poetik in den Vordergrund rücken, die bereits im begleitenden Essay vorbereitet wurden. In der Forschung wurde diese von Rühmkorf präparierte Lesart vor allem von Theodor Verweyen aufgegriffen.97 Das Verdienst von Verweyens Untersuchung war es, die gegenüber traditionellen Parodie-Definitionen neue Qualität des Rühmkorf ’schen Parodie-Begriffs zu bestimmen.98 Verweyen untersucht Rühmkorfs Theorie der Parodie und schlüsselt zudem die Kontexte der »Abendlied«-Variation aus dem Umfeld der ersten erfolgreichen russischen Mondmission im Jahr 1959 detailliert auf, die in Anleitung zum Widerspruch nur teilweise angedeutet wurden.99 Resultat ist nicht nur eine Lektüre von Rühmkorfs »Abendlied«-Text, die tatsächlich die mannigfachen zeitkritischen Bezüge erläutert, sondern auch eine differenzierte Systematisierung des komplexen Rühmkorf ’schen Parodie-Konzepts.100 Besonders auf die Bestimmung des Zeitpunkts der Rezeption des parodierten Sujets als wichtiger Funktionsgröße für die Integration der für Rühmkorf zentralen ›Wirklichkeit‹101 verwendet Verweyen große Aufmerksamkeit. Bestätigt wird am Ende, dass Rühmkorf tatsächlich eine Vertiefung und Intensivierung des herkömmlichen Parodie-Begriffs erreicht, die in der stilistischen Auseinandersetzung mit der literarischen Tradition diese als Spiegel und Kommentar einer zeitgenössischen Gegenwart fruchtbar macht. Wichtig für Rühmkorfs Parodie-Konzept ist vor allem, dass die Variation nicht als literarische Antwort, sondern als bereits kulturell vermittelte Reaktion auf die Mondlandung intendiert ist. Die fand Rühmkorf vor allem in dem in der Welt erschienenen Essay »Der Schuß auf den Mond. Was ist denn schon passiert?« von Hans Zehrer,102 der zusammen mit Claudius’ »Mond«-Gedicht abgedruckt wurde. Zehrers Argument, der in der Mondlandung sichtbare technische Fortschritt habe für die Mentalitätsgeschichte Westeuropas keine Folgen, da der wichtige nächste Entwicklungsschritt in die Innerlichkeit gehen müsse, in Richtung einer Wiederherstellung der durch die Modernisierung verlorenen »Einheit von Außen und Innen«,103 gipfelte in einer Spekulation über die Zukunft der ›Mondlyrik‹: »Vielleicht werden die Dichter der Zukunft nicht mehr so ergreifende Worte über den

97 98 99 100 101 102 103

Verweyen, Eine Theorie der Parodie. Vgl. ebd., S. 12f. Vgl. ebd., S. 27–49. Vgl. ebd., S. 64–78. Vgl. dazu ebd., S. 16f. Vgl. ebd., S. 37–40. Ebd., S. 40.

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Mond finden […]. Aber was tut’s? Wir haben Goethe und Matthias Claudius in unseren Bücherschränken, und sie reichen aus.«104 Rühmkorfs Gedicht formuliert eine Antwort auf diese kulturkonservative Position, zu der auch die sozialistischen Preisgedichte keine Alternative darstellen, die er in Anleitung zum Widerspruch gleichfalls ironisch vorführt.105 Somit ist Rühmkorfs Parodie nicht nur auf Claudius’ Text bezogen, sondern auf jenen Kontextualisierungsprozess, in dem das »Abendlied« in bestimmter Weise auf historische und kulturelle Phänomene der Gegenwart bezogen wird. Parodiert wird nicht Claudius, sondern eine bestimmte Art und Weise der historisierenden Rezeption, die Literatur benutzt, um einer Konfrontation mit der Gegenwart entgehen zu können. Parodie als intertextuelles Phänomen spielt sich also nicht nur zwischen zwei Texten ab, sondern zwischen diesen Texten und deren bereits textualisierter Position innerhalb eines kulturellen Diskurses. Auf diese Weise macht Rühmkorf die Parodie zum Genre einer modernen Lyrik, in der formales Experiment und Gegenwartsbezug verbunden werden können. Einige Charakteristika von Rühmkorfs Version einer modernen Nachkriegslyrik im Zeichen der Aktualisierung106 sollen hier am Beispiel der oft kommentierten und interpretierten »Variation auf ›Abendlied‹ von Matthias Claudius« skizziert werden: Der Mond ist aufgegangen. Ich, zwischen Hoff- und Hangen, rühr an den Himmel nicht. Was Jagen oder Yoga? Ich zieh die Tintentoga des Abends vor mein Angesicht. Die Sterne rücken dichter, nachtschaffenes Gelichter, wie’s in die Wette äfft – So will ich sing- und gleißen und Narr vor allen heißen, eh mir der Herr die Zunge refft.

104 105 106

Ebd., S. 38. Vgl. Rühmkorf, »Anleitung zum Widerspruch«, S. 60ff. Vgl. neben Verweyen, Eine Theorie der Parodie v. a. Volker Neuhaus, »›Vorgängerschaft und Vorsängerschaft im Geiste‹. Peter Rühmkorf und die Tradition«, in: Manfred Durzak/Hartmut Steinecke (Hrsg.), Zwischen Freund Hein und Freund Heine. Peter Rühmkorf. Studien zu seinem Werk, Reinbek bei Hamburg 1989, S. 66–87 und Peter Bekes/Michael Bielefeld, Peter Rühmkorf, München 1982, S. 77–89.

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Laßt mir den Mond dort stehen. Was lüstet es Antäen und regt das Flügelklein? Ich habe gute Weile, der Platz auf meinem Seile wird immer uneinnehmbar sein. Da wär ich und da stünd ich, barnäsig, flammenmündig auf Säkels Widerrist. Bis daß ich niederstürze in Gäas grüne Schürze wie mir der Arsch gewachsen ist. Herr, laß mich dein Reich scheuen! Wer salzt mir dort den Maien? Wer sämt die Freuden an? Wer rückt mein Luderbette an vorgewärmte Stätte, da ich in Frieden scheitern kann? Oh Himmel, unberufen, wenn Mond auf goldenem Hufe über die Erde springt – Was Hunde hochgetrieben? So legt euch denn, ihr Lieben und schürt, was euch ein Feuer dünkt. Wollt endlich, sonder Sträuben, still linkskant liegen bleiben, wo euch kein Scherz mehr trifft. Müde des oft Gesehnen, gönnt euch ein reines Gähnen und nehmt getrost vom Abendgift.107

Die wichtigste Strategie der diskursiv-thematischen Aktualisierung begegnet bereits im zweiten Vers: Das Kollektiv der Betenden, das im Hintergrund des Kirchenliedes als Sprecher-Instanz erscheint, wird nach dem direkten Zitat im ersten Vers ersetzt durch ein Ich, das man als zentrale Modernisierungsinstanz im Text sehen kann.108 Denn dieses Ich weist jeden Zugriff auf den Himmel – den »technisch-aggressive[n] ebenso […] wie de[n] irrationalmeditative[n]«109 – radikal zurück und propagiert in »Weltverachtung ohne Jenseitshoffnung«110 einen Rückzug auf das irdische Diesseits. Dazu gehört 107 108 109 110

Rühmkorf, »Kunststücke (1958–1961)«, hier S. 240f. Vgl. Neuhaus, »›Vorgängerschaft und Vorsängerschaft im Geiste‹«, S. 80. Ebd. Ebd.

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die Ablehnung des Mondes als Gegenstand der Dichtung in der zweiten und die Stilisierung als Artist auf dem Drahtseil in der dritten Strophe. Stattdessen plädiert das Ich in einer Figur der Säkularisierung für das lustvolle und begrenzte Leben im Diesseits, das in der fünften Strophe umschrieben wird. Das zweite Charakteristikum der Rühmkorf ’schen Parodie ist die Vielfalt der stilistischen Register, die in Modus der »Anspielung und Variation«111 zum Einsatz kommen. Nicht nur wird in Struktur und Vokabular immer wieder auf den Prätext zurückgegriffen; zugleich bedient sich Rühmkorf seinerseits aus dem historischen Inventar des Kirchenlieds seit dem 16. Jahrhundert112 und erweitert diese Reaktualisierung verdeckter Traditionen um zeitgenössische Sprachelemente und um stilistische Anleihen aus der Lyrikgeschichte seit dem 18. Jahrhundert, vor allem der modernen Lyrik. Der antiquarisch-musealen Historisierung der Lyrik, wie sie in Zehrers Welt-Artikel vertreten wird, stellt er einen produktiv-verlebendigenden Historismus als seine Version einer modernen Lyrik gegenüber.113 Der dritte Aspekt von Rühmkorfs Poetik betrifft seine Benn-Nachfolge, die sich gleichfalls als aktualisierende Revision beschreiben lässt. Am Text ist das motivisch in der Artisten-Metapher sichtbar, viel deutlicher aber stilistisch in der Kombination verschiedenster lexikalischer Schichten: das Kirchenlied-Vokabular steht neben ›Yoga‹, Gestalten aus der antiken Mythologie (Gäa, Antäus) neben dem ›Arsch‹. Es genügt allerdings nicht, darauf zu verweisen, dass Rühmkorf diese Montage-Techniken bei Benn erlernte und nun in seiner eigenen Parodie-Konzeption in veränderter Weise einsetzt. Die Rolle Benns bei der Entwicklung von Rühmkorfs Variante der modernen Lyrik ist so entscheidend, dass sie eine nähere Betrachtung verdient. Angesichts der begrifflich fixierten Ausführungen vor allem in Anleitung zum Widerspruch könnte der Eindruck entstehen, Rühmkorfs Poetik der Parodie sei relativ statisch und, einmal formuliert und praktiziert, keinen Veränderungen mehr unterworfen. Ganz im Gegenteil aber ist das, was er Anfang der 60er Jahre zusammenfasst, Ergebnis eines mehr als ein Jahrzehnt andauernden produktiven Prozesses, in dem dichterische Praxis und poetologische Reflexion sich gegenseitig vorantreiben. So wie die oben untersuch-

111

112 113

Vgl. dazu ausführlich Jürgen H. Petersen, »Anspielung und Variation. Zu den ästhetischen Prinzipien Peter Rühmkorfs«, in: Heinz Ludwig Arnold (Hrsg.), Peter Rühmkorf (Text und Kritik, 97), S. 28–35. Vgl. Neuhaus, »›Vorgängerschaft und Vorsängerschaft im Geiste‹«, S. 69f. Zu diesem Aspekt der Parodie vgl. auch Alexander von Bormann, »Peter Rühmkorfs Kritik des Traditionalismus«, in: Durzak/Steinecke (Hrsg.), Zwischen Freund Hein und Freund Heine, S. 88–118, hier S. 92–99.

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ten Essays Kondensate aus Rühmkorfs Zeitschriftenartikeln darstellen, sind auch die expliziten Parodien nur die sichtbarsten Resultate einer immer wieder erneuerten Suche nach ästhetischen Möglichkeiten, die bei Rühmkorf bereits in den späten 40er Jahren beginnt. Es ist kein Zufall, dass neben den Gedichtbänden und den Essays die Autobiographie Die Jahre die Ihr kennt einer der zentralen Texte in Rühmkorfs Œuvre ist,114 und es ist symptomatisch, dass eben diese zentralen Essays vollständig samt einer Reihe von Gedichten in diese Autobiographie aufgenommen wurden. Herbert Uerlings hat auf den engen Zusammenhang »von Biographie und Kunstverständnis« bei Peter Rühmkorf hingewiesen115 und vor allem die Entwicklung seiner Lyrik und Poetik in den 50er Jahren – von der BennNachfolge über die Benn-Kritik und andere parodistische Formationen bis hin zum neuen Parodie-Begriff – als eine Abfolge von Reaktionen untersucht, die ähnliche Probleme identifizieren und ästhetische Lösungen dafür suchen.116 Uerlings zeigt unter anderem, dass die (bereits oben angeführte) zentrale Antinomie zwischen künstlerischer Autonomie und einem ›sozialsittlichen‹ Wirklichkeitsbezug sich bereits früh in »Entsprechung zu Benns ›Artistenevangelium‹«117 ausfaltet, in den verschiedenen Phasen von Rühmkorfs künstlerischer Biographie in den 50er Jahren immer wieder neu stellt und entsprechend immer wieder neu problematisiert wird. Wenn man den sogenannten ›Finismus‹ als eine Ausformulierung der Ästhetik Rühmkorfs in den frühen 50er Jahren sieht, dann sind die dort angelegten »Ambivalenzen und Spannungen« und die Versuche, ihre »literarische Verarbeitung in ›Ausdruckskunst‹ […] oder ›Tendenzgedicht‹ in ein neues poetologisches Konzept einzubinden«,118 konstitutiv für seine poetologischen Überlegungen in den 50er Jahren. Die Tendenz zur politischen Lyrik ist im Fall Rühmkorfs immer wieder in der schon früh erkennbaren Protestund Antihaltung sichtbar; die Kontinuität von den frühen Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus und der mit Abneigung beobachteten Selbststilisierung der Deutschen zu Opfern des Regimes in den Nachkriegsjahren wird dann zum Auslöser einer immer stärker kultivierten Außenseiterhaltung.119 114

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Peter Rühmkorf, Die Jahre die Ihr kennt. Anfälle und Erinnerungen. Werke 2, Wolfgang Rasch (Hrsg.), Reinbek bei Hamburg 1999. Uerlings, Die Gedichte Peter Rühmkorfs, S. 36–43. Fast zur selben Zeit wurden bei Bekes/Bielefeld, Peter Rühmkorf, S. 20–31 ähnliche Einsichten formuliert. Uerlings, Die Gedichte Peter Rühmkorfs, S. 11. Ebd., S. 44. Ebd., S. 36ff. Vgl. auch von Bormann, »Peter Rühmkorfs Kritik des Traditionalismus«, S. 89ff.

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Zugleich bildet sich in Anlehnung an den Repräsentationsanspruch von Benns ›Phänotyp‹ eine Selbststilisierung des nur ästhetischen Werten verpflichteten Künstlers heraus, der gar nicht dazu verpflichtet ist, Widersprüche in seiner Lyrik zu vermitteln, weil allein deren künstlerische Gestaltung kollektive Bewusstseinslagen repräsentiere.120 Uerlings hält fest, »die zentrale Gemeinsamkeit zwischen den frühen Gedichten und poetologischen Theoremen Rühmkorfs und Benns Ästhetik« liege »[i]n der Restitution der Souveränität des Ich in der Lyrik durch den Gestus, in dem es seine Dissoziation beklagt«.121 Tatsächlich bestimmt Rühmkorfs Benn-Rezeption die Koordinaten seines Denkens nachhaltig: Auch wo er ihm nicht folgt, variiert er Benn’sche Denkfiguren. Insofern ist es sehr angebracht, wie Bekes und Bielefeld von einem »Einfluß wider Willen« zu sprechen.122 Uerlings zeigt, dass Rühmkorf im Verlauf seiner Entwicklung die von Benn assimilierten »theoretischen Positionen grundsätzlich beibehält, dennoch aber zu einer eigenständigen, sich kritisch von Benn und den eigenen frühen Haltungen abgrenzenden Poetik gelangt«.123 Das von Rühmkorf so bezeichnete »Gesetz der Ambivalenz« und die »Montage«124 sind solche Konstanten, die auch nach der kritischen Loslösung von Benn weiterhin gültig bleiben und in die Poetik der Parodie überführt werden. Gerade für die Entdeckung der Parodie als Mittel zur stilistischen Unabhängigkeit unter produktiver Weiterverwendung der lyrischen Tradition und der Gegenwartslyrik spielt Benn in seiner Funktion als bald kritisch konterkarierter Ausgangspunkt von Rühmkorfs Ästhetik also eine zentrale Rolle. Gezeigt werden kann das am »Lied der Benn-Epigonen«. Es bezeichnet Rühmkorfs Loslösung von Benn; dass sie im Modus der Parodie geschieht, verdeutlicht wiederum, wie eng im Werk Rühmkorfs Benn-Rezeption und Entwicklung und Ausgestaltung des parodistischen Schreibens zusammengehören.125

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Uerlings, Die Gedichte Peter Rühmkorfs, S. 11, S. 44f. Ebd., S. 46. Bekes/Bielefeld, Peter Rühmkorf, S. 20. Uerlings, Die Gedichte Peter Rühmkorfs, S. 50. Vgl. Bekes/Bielefeld, Peter Rühmkorf, S. 20; sowie Peter Rühmkorf, »Brief über Benn«, in: Peter Uwe Hohendahl (Hrsg.), Benn – Wirkung wider Willen. Dokumente zur Wirkungsgeschichte Benns, Frankfurt am Main 1971, S. 281. Ein vergleichbarer, aber für Rühmkorfs Poetik insgesamt weniger zentraler Prozess der parodistischen Loslösung findet im Fall der Naturlyriker statt; vgl. dazu von Bormann, »Peter Rühmkorfs Kritik des Traditionalismus«, S. 95f. und Uerlings, Die Gedichte Peter Rühmkorfs, S. 64–74.

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Lied der Benn-Epigonen Die schönsten Verse der Menschen – nun finden Sie schon einen Reim! – sind die Gottfried Bennschen: Hirn, lernäischer Leim – Selbst in der Sowjetzone Rosen, Rinde und Stamm. Gleite, Epigone, ins süße Benn-Engramm. Wenn es einst der Sänger mit dem Cro-Magnon trieb, heute ist er Verdränger mittels Lustprinzip. Wieder in Schattenreichen den Moiren unter den Rock; nicht mehr mit Rattenscheichen zum völkischen Doppelbock. Tränen und Flieder-Möven – Die Muschel zu, das Tor! Schwer aus dem Achtersteven spielt sich die Tiefe vor. Philosophia per anum, in die Reseden zum Schluß –: So gefällt dein Arcanum Restauratoribus.126

Natürlich markiert schon der Titel die Distanzierung von Benn, zugleich aber in der ironischen Auseinandersetzung mit Benn’schen Stilelementen und Themen auch wieder die Nähe – und ist somit eine der Grundlagen von Rühmkorfs parodistischem Schreiben.127 Bereits in der ersten Strophe ist die Stoßrichtung des Textes konzentriert. In Benns Lyrik werden, meist in der Kollokation von Nomina, naturwissenschaftliche Versatzstücke (Hirn, Engramm) mit geschichtsspekulativen Gedankensplittern (»lernäischer Leim«)128 montiert; eben dieses Verfahren wird in den ersten drei Versen als zu ästhetizistisch kritisiert. Wiederholt wird die Denkfigur in den letzten drei Versen. »Rosen, Rinde und Stamm«, so Uerlings, »zitieren in äußerster Verknappung Metaphern Benns für Rausch, Schönheit, Transzen-

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Peter Rühmkorf, »Irdisches Vergnügen in g (1954–1959)«, in: Ders., Gedichte. Werke 1, S. 93–162, hier S. 154. Vgl. ausführlich Uerlings, Die Gedichte Peter Rühmkorfs, S. 24–30; vgl. Bekes/Bielefeld, Peter Rühmkorf, S. 29f. Vgl. Uerlings, Die Gedichte Peter Rühmkorfs, S. 25.

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denz der Form und ›progressive Zerebration‹«,129 wogegen die Vorstellung, sich ins »süße Benn-Engramm« gleiten zu lassen, die zur Konvention erstarrte Rezeption Benns kritisiert. Die zweite Strophe thematisiert das Motiv der Verdrängung der politischen Realität, das bereits in der Erwähnung der Sowjet-Zone anklang. So wie der ›Sänger‹ Benn durch Rückzug auf evolutionsgeschichtliche Theorien die nationalsozialistische Diktatur verdrängte, so ermöglicht es in den frühen 50er Jahren die Orientierung an Benns Ästhetik, sich auf mythologische Chiffren (»Schattenreichen / der Moiren«) zu konzentrieren und dabei die Kontamination mit dem Nationalsozialismus zu verdecken. Die letzte Strophe wiederholt die Kritik an der Benn-Rezeption in der Bundesrepublik, die parallel in Das lyrische Weltbild der Nachkriegsdeutschen niedergelegt ist. Die kitschverdächtige Naturmetaphorik wird als Mittel zur Unterstützung des »Bennschen Vergänglichkeitspathos«130 entlarvt, die letzten Verse verweisen auf die Möglichkeit zum politischen Eskapismus, die sich in der Konzentration auf transhistorische Großtheorien ergibt. Die parodistische Entlarvung Benns und seiner epigonalen Rezeption als eine Variante, die politische und historische Gegenwart zu ignorieren, wird zugleich zum Ausgangspunkt für Rühmkorfs Poetik der Parodie als aktiver Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit. Rühmkorf lässt die unreflektierte Benn-Rezeption hinter sich, hält aber weiterhin an grundlegenden Benn’schen Verfahrensweisen fest – nur können sie jetzt auch gegen Benn gewendet werden. Die Kritik an Benns Rückzug in einen von allen unmittelbaren Berührungen mit der Gegenwart entrückten ästhetischen Raum führt zur Modifikation der Benn’schen Artistik. Die Distanziertheit des Artisten-Ich gegenüber konkreten Gegenwartsfragen wendet Rühmkorf zur Äquidistanz eines engagierten Beobachters, der in der produktiven Verschmelzung von literarischer Tradition und Gegenwartsfragen den Standpunkt des Lyrikers zwischen Poetik und gesellschaftlicher Wirklichkeit neu definiert. 5.2. Hans Magnus Enzensberger: Politische Lyrik im ›Museum der modernen Poesie‹ Wie Rühmkorfs Poetik der Parodie ist auch Hans Magnus Enzensbergers frühe Lyrik ein Beispiel dafür, dass die Möglichkeiten der selektiven Assimilation bestimmter formaler Fermente der literarischen Moderne in der zweiten Hälfte der 50er Jahre ihre Grenzen erreicht haben; und wie Rühmkorf 129 130

Ebd. Ebd., S. 28.

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versucht auch Enzensberger, die ästhetischen Spielräume der modernen Lyrik zu erweitern, indem er die politisch-gesellschaftliche Wirklichkeit in eine Poetik integriert, die zugleich die Vielfalt des modernen Formrepertoires bewusst ausspielt.131 Dennoch unterscheidet sich sein Weg zur modernen Lyrik in wichtigen Aspekten von dem Rühmkorfs. Die Integration der politisch-historischen Dimension verläuft anders. Noch radikaler als Rühmkorf vertritt Enzensberger eine Ästhetik, in der weder die vorsichtigen Transformationen der Naturlyriker noch eine emphatische Benn-Nachfolge Wege sind, die noch produktive Neuerungen versprechen. Aber auch in seinem Fall liefert die kritische Benn-Rezeption von Anfang an Impulse für die Erneuerung der eigenen Lyrik. Dabei beschränkt sich die Funktion Benns für Enzensberger auf formale Probleme. Sowohl Benns Artisten-Poetik als auch dessen Hang zu geschichtspessimistischen Großtheorien sind Enzensberger von Anfang an eher fremd. Entsprechend findet bei ihm auch keine polemisch-parodistische Distanzierung statt, die der von Rühmkorf vergleichbar wäre. Umso bedeutsamer ist von Anfang an die Konzentration auf strukturelle und kompositorische Mechanismen: Vor allem die Montagetechnik als ideale Voraussetzung für die metonymische Kombination verschiedenster sprachlich konstituierter Wirklichkeitssegmente, aber auch als Mittel der Verknüpfung verschiedenster Stilelemente, wäre hier zu nennen. Kombiniert mit ironischer Distanz, die aber noch nicht wie in Rühmkorfs Parodien gattungsspezifisch kodifiziert ist, wird die Montage dann auch in Form der Benn’schen Großstadtgedichte für Enzensberger wichtig: Produktiv umgesetzt findet sich vor allem in seinen ersten beiden Gedichtbänden verteidigung der wölfe (1957)132 und landessprache (1960),133 aber auch noch später in blindenschrift (1964),134 der ›lockere‹, weder geschichtsphilosophisch noch kunstreligiös kontaminierte Ton dieser Benn’schen Wirklichkeitsnotate, die auch für Benn selbst in seinen letzten Jahren neue Bedeutung gewinnen.135 Die Rezeption Brechts, vor allem dessen Vorstellung vom ›Gebrauchswert‹ des

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Eine Analyse der Segmente des Wirklichkeitsbegriffs, der Enzensbergers Lyrik zugrunde liegt, versuchte früh Bärbel Gutztat, Bewusstseinsinhalte kritischer Lyrik. Eine Analyse der ersten drei Gedichtbände von Hans Magnus Enzensberger, Wiesbaden 1977, bes. S. 11–90. Hans Magnus Enzensberger, verteidigung der wölfe, Frankfurt am Main 1957. Hans Magnus Enzensberger, landessprache, Frankfurt am Main 1960. Hans Magnus Enzensberger, blindenschrift, Frankfurt am Main 1964. Vgl. Wolfgang Emmerich, Gottfried Benn, Reinbek bei Hamburg 2006, S. 119– 127. Vgl. auch Dirk von Petersdorff, »Benn in der Bundesrepublik«.

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Gedichts, liefert dazu eine wichtige Ergänzung.136 Zudem aber werden diese ›undogmatischen‹ Anteile des Benn- und Brecht-Erbes, dem auf theoretischer Seite Adorno hinzuzufügen wäre, sehr bald um die Tradition der internationalen modernen Lyrik ergänzt. Denn viel eindeutiger als Rühmkorf erweitert Enzensberger die Tradition der deutschsprachigen Lyrik um eine internationale Dimension. Rühmkorf, so wird immer wieder angemerkt, sei neben seinem Hauptberuf als Autor und Lyriker auch Germanist;137 Enzensberger wäre demnach Komparatist. Die Auseinandersetzung mit Benn und Brecht ist für ihn Basis einer intensiven Rezeption wichtiger Vertreter der europäisch amerikanischen und sehr bald auch der internationalen Moderne. In diesem Dialog schärft Enzensberger eigene theoretische Positionen und entwickelt zugleich seine Schreibverfahren weiter. Auskunft darüber geben die weit gespannten Referenzen in den Essays, von denen die wichtigsten erstmals 1962 im Band Einzelheiten gesammelt vorlagen.138 Nicht nur durch diese Aufsätze wird Enzensberger um 1960 zum wichtigen Vermittler moderner Lyrik in Deutschland, der die Diskussionen und Leitgedanken des vergangenen Jahrzehnts zusammenfasst und revidiert. Auch durch zahlreiche eigene Übersetzungen – unter anderem von Pablo Neruda, César Vallejo, Franco Fortini und William Carlos Williams – trägt Enzensberger dazu bei, dass die Wahrnehmung der internationalen modernen Lyrik endgültig institutionalisiert wird. Emblematisches Resultat dieser Vermittlungstätigkeit ist schließlich das 1960 erschienene, schon mehrfach erwähnte Museum der modernen Poesie. Hiebel sieht in Enzensberger »neben Erich Fried de[n] wichtigste[n] Repräsentant[en] der in den 60er Jahren wieder aufkeimenden engagierten Lyrik«, erklärt ihn aber zugleich zu einem »mit allen Wassern der poésie pure gewaschene[n] Engagierte[n]«.139 Was mit Blick auf die politische Lyrik der

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Zur facettenreichen und ambivalenten Rezeption Benns und Brechts bei Enzensberger vgl. Martin Fritsche, Hans Magnus Enzensbergers produktionsorientierte Moral. Konstanten in der Ästhetik eines Widersachers der Gleichheit, Bern, Frankfurt am Main, New York 2000, S. 17–34. Astrid Keiner, »Peter Rühmkorf. Bibliographie zum 75. Geburtstag« (Rezension zu: Wolfgang Rasch: Bibliographie Peter Rühmkorf (1951–2004). Bd. 1: Primärliteratur; Bd. 2: Sekundärliteratur, Bielefeld 2004), in: IASLonline (06. 08. 2005), http://iasl.uni-muenchen.de/rezensio/liste/Keiner3895284769_1160.html (2. 10. 2011). Hans Magnus Enzensberger, Einzelheiten, Frankfurt am Main 1962. Hans H. Hiebel, Das Spektrum der modernen Poesie. Interpretationen deutschsprachiger Lyrik 1900 bis 2000 im internationalen Kontext der Moderne, Teil 2: 1945–2000. Würzburg 2005, S. 389.

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späten 60er Jahre noch als zu starke Verhaftung in den ästhetizistisch entpolitisierten Moderne-Konzepten der 50er Jahre à la Hugo Friedrich kritisiert werden konnte,140 wird heute als Enzensbergers entscheidende Qualität gesehen: die vor dem Horizont der 50er Jahre und auch im Vergleich zu Rühmkorf nochmals neuartige Verschränkung öffentlich-politischer Wirklichkeit mit einer Vielfalt stilistischer Qualitäten aus dem Forminventar der modernen Lyrik.141 Deshalb markiert sein Werk aus den Jahren um 1960 auch mehr als eine wichtige Station im Prozess der Modernisierung der deutschen Nachkriegslyrik: Es ist ein Endpunkt, je nach Sichtweise mindestens ein relativer Endpunkt dieses Prozesses. Die Rezeption der Moderne hört danach nicht auf, aber sie nimmt andere institutionelle und in der Folge auch literarische Formen an. Dieser Wandel wurde wiederum vom literarischen Vermittler Enzensberger wesentlich mitbefördert. In der zeitgenössischen Rezeption von Enzensbergers erstem Gedichtband verteidigung der wölfe aus dem Jahr 1957 zeichnen sich die beiden Seiten seiner Lyrik deutlich ab. Reinhold Grimm beschrieb die Ausfaltungen der artistischen Montagetechnik in Enzensbergers Lyrik – so die Kombination verschiedenster Sprachbereiche, den ausgiebigen Einsatz literarischer Reminiszenzen, neue Satz- und Wortkombinationen oder den Einsatz klanglichrhythmischer Effekte.142 Vor allem aber stellte er den Bezug zur von Benn angeregten und von Friedrich mit einem literaturwissenschaftlichen Fundament versehenen Tradition der modernen Lyrik her, allerdings nicht ohne darauf hinzuweisen, dass der virtuose Formenreichtum in Enzensbergers erstem Gedichtband auch ein Zeichen für die Erschöpfung der Tradition sei: Die moderne Lyrik hat eine lange Geschichte, deren Überlieferung sie bis in Einzelheiten verhaftet ist. […] den Begabtesten aus der jungen Generation gelingt es, diese Überlieferung aufzuarbeiten und geistig zu bewältigen, vielleicht rücken sie die Grenzen auch noch ein Stück weiter hinaus; aber im Grunde halten sie doch dort, wo einst schon Baudelaire, Rimbaud und Mallarmé hielten.143

Die Ursache für Enzensbergers augenscheinliche Modernität liege in der verspäteten Rezeption dieser Tradition in Deutschland: »Da freilich die moderne Lyrik niemals echt assimiliert wurde, ergibt sich die paradoxe Situa140 141

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Vgl. Hermand, »Bundesrepublik Deutschland«, S. 324. Zu Enzensbergers Poetik im Horizont der modernen Lyrik vgl. Fritsche, Hans Magnus Enzensbergers produktionsorientierte Moral, S. 41–45. Reinhold Grimm, »Montierte Lyrik« [1958], in: Germanisch-Romanische Monatsschrift 8/1958, S. 178–192; hier zitiert nach: Joachim Schickel (Hrsg.), Über Hans Magnus Enzensberger, Frankfurt am Main 1970, S. 19–39. Ebd., S. 37f.

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tion, daß einer umso avantgardistischer zu wirken vermag, je mehr er von dieser Tradition zehrt.«144 Den Akzent auf »das große politische Gedicht«145 hingegen legten – durchaus affirmativ – Alfred Andersch mit seiner missverständlichen Formulierung vom »zornige[n] junge[n] Mann […], der seine Worte nicht auf die Waageschale legt, es sei denn auf die der poetischen Qualität«146 und, kritisch-relativierend, Hans Egon Holthusen.147 Er sieht in Enzensberger einen »rabiate[n] Randalierer, ein[en] schäumende[n] Hassprediger«,148 der die Politiker »mit Schande [überhäuft], […] ihnen die Kleider herunter[reißt] und […] sie […] zum Teufel [schickt]«.149 Zugleich ist er bemüht, den 25-jährigen Autor wenigstens rhetorisch zu domestizieren, indem er die Protesthaltung seiner Jugend zuschreibt – »[d]as ist der junge Mensch, der Sturm läuft gegen die unbeweglichen Bollwerke der Macht«150 – und ihn vereinnahmt als etwas verspäteten »deutsche[n] Jüngling, der noch einmal und mit erheblichem Temperament die einst so dankbare Rolle des Bürgerschrecks übernommen hat«.151 Es kann nicht überraschen, dass Holthusen, der die artistischen Qualitäten der Lyrik in verteidigung der wölfe nicht übersieht, sie aber in den für ihn zentralen Begriffen einer modernen Sinn- und Orientierungskrise interpretiert,152 in Enzensberger am Ende einen »neue[n] Karl Moor […], eine seraphische Seele im Räuberkostüm«153 entdecken will. Mit der »nicht mehr zu überbietenden Schnodderschnauze« versuche sich hier »[e]in keusches, traumfähiges, nach Reinheit hungerndes Gefühl« »zur Wehr« zu setzen »gegen den Skandal einer (wie zu allen Zeiten) verderbten und in den Augen des Dichters unmöglichen Gesellschaft«.154 Unterm Strich wirke En144

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Ebd., S. 38. Zimmermann liest Grimms Besprechung ganz im Horizont einer zu unkritischen Benn-Rezeption; vgl. Arthur Zimmermann, Hans Magnus Enzensberger. Die Gedichte und ihre literaturkritische Rezeption, Bonn 1977, S. 88–92. Alfred Andersch, »1 (in Worten: ein) zorniger junger Mann« [1958], in: Frankfurter Hefte 2/1958, S. 143–145; hier zitiert nach: Joachim Schickel (Hrsg.), Über Hans Magnus Enzensberger, Frankfurt am Main 1970, S. 9–13, hier S. 13. Vgl. Zimmermann: Hans Magnus Enzensberger, S. 92ff. Andersch, »1 (in Worten: ein) zorniger junger Mann« [1958], S. 12f. Hans Egon Holthusen, »Die Zornigen, die Gesellschaft und das Glück« [1958], in: Ders., Kritisches Verstehen. Neue Aufsätze zur Literatur, München 1961, S. 138– 172. Vgl. Zimmermann, Hans Magnus Enzensberger, S. 100–105. Holthusen, »Die Zornigen, die Gesellschaft und das Glück« [1958], S. 150. Ebd., S. 151. Ebd., S. 150. Ebd. Vgl. ebd., S. 144–148. Ebd., S. 151. Ebd.

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zensberger als politischer Dichter »wie berauscht«, dagegen »auf eine kraftvolle Weise ernüchtert«, wo er »mit den kardinalen Urerlebnissen der menschlichen Seele zu tun« habe.155 Artistik und Politik, gesellschaftliches und ästhetisches Bewusstsein: auch wenn die Zeitgenossen die beiden Seiten von Enzensbergers Lyrik erkannten, überwog die Tendenz, sie zu trennen. Vor dem Horizont der späten 50er Jahre, in denen die artistisch-formale Seite der modernen Lyrik gerade erst als zentrales Merkmal beschrieben war und vorzugsweise als vage Reaktion auf eine allgemeine Kulturkrise interpretiert wurde, mag das verständlich sein. Tatsächlich stellt Enzensberger in seiner Lyrik nur die im Moderne-Diskurs der Benn-Nachfolge verlorengegangene, zumindest kaum mehr sichtbare Referenz der ›Sprache‹ zur ›Wirklichkeit‹ wieder her. Benn betrachtet die verschiedenen Wirklichkeitsbereiche ausschließlich als Segmente des sprachlichen Materials, aus dem Gedichte ›montiert‹ werden. Sprache wird bei ihm von ihrem Wirklichkeitsbezug getrennt und umreferentialisiert zum Material, aus dem der Autor – ein am Schnittpunkt von kulturellen Diskursen und historischen Prozessen angesiedelter ›Weiser‹ – sein ›lyrisches Ich‹ inszeniert.156 Textuell verfährt Enzensberger ähnlich, stellt aber das rhetorische und stilistische Inventar der modernen Lyrik wieder in den Dienst einer Aussage über die Wirklichkeit. Das sprachlich virtuos organisierende Ich im Text ist nicht länger nur Instanz im Gedicht, sondern kommentiert eine sich in mehr oder weniger konkreten Konturen hinter dem Text abzeichnende Realität; es positioniert sich zugleich in – und im Verhältnis zu – dieser Realität. Diese Positionierung hat nicht immer notwendig politischen Charakter. Von den drei Teilen des Bandes verteidigung der wölfe – ›freundliche Gedichte‹, ›traurige Gedichte‹, ›böse Gedichte‹ – enthält der dritte Teil die meisten der eindeutig politisch lesbaren Texte. Hier zum Beispiel finden sich die noch heute mit dem Band assoziierten Protestgedichte wie »geburtsanzeige«, »an einen mann in der trambahn«, »bildzeitung«, »ins lesebuch für die oberstufe« oder das Titelgedicht, »verteidigung der wölfe gegen die lämmer«. Sie alle behandeln die Ausgeliefertheit des Einzelnen in einer modernen, von wirtschaftlichen, politischen und medialen Institutionen beherrschten und entindividualisierten Welt. Allerdings gehen die Gedichte weit über die bloße Anklage hinaus. Wichtiger als die Entlarvung der Herrschaftsmechanismen ist die Kritik an der Widerstandslosigkeit und Passivität der Einzelnen, die es erlau155 156

Ebd. Vgl. Gottfried Benn, »Probleme der Lyrik«, in: Ders., Essays und Reden. In der Fassung der Erstdrucke, Frankfurt am Main 1997, S. 505–535, hier S. 524f.

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ben, dass die Mechanismen der Entindividualisierung Macht über sie gewinnen. So ist das immer wieder gern zitierte Gedicht »bildzeitung«157 eine in Form der Medienkritik vorgebrachte Anklage gegen diejenigen, die den Realitätsverzerrungen des Massenjournalismus Glauben schenken und ihre persönliche Lebenserwartung danach einrichten. Die märchenhaften Versprechungen der ersten drei Strophen – »du wirst reich sein«, »du wirst schön sein«, »du wirst stark sein« – werden in der vierten Strophe variierend konterkariert: Die weichgezeichneten Konturen der bundesrepublikanischen Wirtschaftswunderwelt werden um ihre sonst nicht formulierten Leerstellen ergänzt: auch du auch du auch du wirst langsam eingehn an lohnstreifen und lügen reich, stark erniedrigt durch musterungen und malzkaffee, schön besudelt mit strafzetteln, schweiß, atomarem dreck: deine lungen ein gelbes riff aus nikotin und verleumdung möge die erde dir leicht sein wie das leichentuch aus rotation und betrug das du dir täglich kaufst in das du dich täglich wickelst.158

Die Entlarvung der Darstellungsstrategien der Bildzeitung in den ersten drei Strophen ist nur eine Station auf dem Weg zur Anklage der Leser, die sich von den täglichen Lügen und Verleumdungen buchstäblich ›einwickeln‹ lassen und so jede Fähigkeit zum kritischen Widerstand verlieren. Die verfremdende Wiederholung der Zentralbegriffe – reich, stark, schön – erzeugt dabei den Gegeneffekt: Das Ich des Zeitungslesers, der in den ersten drei Strophen angelogen wird, hätte die Möglichkeit, die Lügen zu erkennen, zieht es aber vor, den betäubenden Illusionen und Verheißungen Glauben zu schenken. Die Montagetechnik wird hier zielgerichtet zur Aufdeckung verlogener gesellschaftlicher Strukturen benutzt, die sich in der Sprache abbilden und eben deshalb sprachlich dekonstruiert werden können. Auf dieser Basis funktionieren die verschiedenen Verfremdungstechniken. Vokabeln, die für 157 158

Enzensberger, verteidigung der wölfe, S. 80f. Ebd., S. 81.

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die Versprechungen der Bildzeitung stehen, werden zerrissen und neu kombiniert – »markenstecher uhrenkleber«, »manitypistin stenoküre«, »sozialvieh stimmenpartner«; Märchenmotive und -Zitate werden in den Text montiert – »ein ganzes heer beschmutzter prinzen«, »tischlein deck dich«; und schließlich wird, sowohl durch ironische kombinationen – »turandots mitgift unfehlbarer tipp« – als auch in einzelnen Formulierungen – »blitzlicht auf das henkerlächeln« – die Perspektive des kritischen Beobachter-Ich in die Verfremdungs- und Zitatketten einmontiert.159 Daneben gibt es Texte, in denen dieses kritische Ich nicht nur als ironisch entlarvende Instanz sichtbar ist, sondern sich in seinen Zu- und Abneigungen konturiert. In »an einen mann in der trambahn«160 werden die in »bildzeitung« nur implizit formulierten Anklagen gegen den passiven Leser konkretisiert und historisiert. Das Ich fomuliert sein Desinteresse an der augenscheinlich angepassten Durchschnittlichkeit des »manns in der trambahn«, um dann Schritt für Schritt hinter der Fassade der angepassten Anständigkeit Zeichen einer nationalsozialistischen Vergangenheit zu entdecken. Eine Alltagskulisse der bundesrepublikanischen Nachkriegsgesellschaft wird durchleuchtet auf ihre verschwiegene Geschichte. Das geschieht aber auch hier nur oberflächlich im Gestus der Entlarvung. Im Zentrum des Textes steht der Erkenntnisprozess des Ich, seine Auseinandersetzung mit der Personifikation einer traumatisierend gewalttätigen, nur vorläufig domestizierten Vergangenheit, die seine eigene artistoid-intellektuelle Existenz bedroht. Der Sprecher bewegt sich im ersten Abschnitt von der Betrachtung des Mannes mit seiner »aktentasche voll käse« zur Imagination seines Alltagslebens – »drehst dich / zu den nussbaumkommoden fort, zu sophia loren / gehst heim voller schweiß, voller alpen-| veilchen und windeln« und mündet im zweiten Abschnitt in einen antibürgerlichen Affekt des Sprechers, der ihm sein Unwissen über diejenigen Teile der Wirklichkeit vorhält, die er in seiner begrenzten Wirklichkeit nicht wahrnimmt: Natur, Kunst, Emotionen – all das sei »vergebens zubereitet für dich, die welt: / wildnis und filigran, was rein ist, alles / umsonst und der zorn die lust und die mühsal!«161 Auch der dritte Abschnitt, in dem der Sprecher zunächst das Bild des Mannes in weiteren Alltagssituationen beschreibt und dabei sein weiteres Leben – Alter, Krankheiten – imaginiert, setzt dieses Porträt des für das Sprecher-Ich verachtenswerten bundesdeutschen Jedermann fort. 159 160 161

Alle Zitate ebd., S. 80. Ebd., S. 77–79. Alle bisherigen Zitate ebd., S. 77.

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Bei der Erwähnung der »narben« schwenkt der Gedankengang des Ich allerdings um. Die mittelmäßige und ambitionslos angepasste Kleinbürgerexistenz gewinnt historische Konturen, die Physiognomie wird transparent auf die Vergangenheit von Nationalsozialismus und Krieg hin: […] und ich sehe narben, die du nicht siehst, ausschläge, sperma und blut, und ich sehe den mord in deinem aug, in der trambahn, mir gegenüber.162

An diesem Punkt wird sichtbar, wie sehr man das ›politische‹ Sprecher-Ich der Enzensberger’schen Gedichte reduziert, wenn man es in der Tradition allgemein jugendlich-romantischen Protests aufgehen lässt. In den folgenden drei Strophen zeichnen sich die Konturen eines Einzelnen ab, der unter seiner Gegenwart leidet, weil hinter der Präsenz der zum Verwechseln ähnlichen ›Männer in der Tram‹ die verdrängte und nicht thematisierte Vergangenheit steht. Dass das Ich im Zusammenhang mit dem Mann nur Mord und Tod vorausahnt, was im fünften Abschnitt thematisiert wird, ist weniger bemerkenswert als die bedrückende psychische Stimmung, die durch die Präsenz des Mannes beim verseschreibenden Sprecher erzeugt wird: du nistest dich ein in meinen versen, du schnürst durch meinen traum, und zwar stinkst du nach kohl und feigheit und geld, brackiger ehe, spülwasser, geilem gehorsam: aber ich sehe zuviel, wie soll ich dich jagen von meinem tisch? den feldstein muß ich teilen, das gras, über mir hängst du im schlafwagen, bewohnst meinen nüchternen tag, meine heitere woche.163

Das Thema des Textes verschiebt sich durch diesen vierten Abschnitt. Wo in den ersten zweieinhalb Abschnitten die Verachtung eines am Rand der Gesellschaft stehenden, vermeintlichen Künstler-Ich für bürgerliche Angepasstheit und der Welt gegenüber resistenten Durchschnitt im Mittelpunkt zu stehen schien, geht es nun tatsächlich um die Belastung, die das Zusammenleben mit potentiellen Mördern in der nationalsozialistischen Vergangenheit hervorruft. Diese Belastung geht bis an den Kern der Existenz des Dichter-Ich: Denn der Durchschnittsmann kontaminiert die Verse, ja das gesamte Leben des Ich, kann aber aus der gemeinsam bewohnten Wirklichkeit 162 163

Ebd., S. 77f. Ebd., S. 78.

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nicht vertrieben werden. Diese Wirklichkeit muss mit ihm geteilt werden, und also kann man auch der gedanklich-emotionalen Auseinandersetzung mit ihm nicht aus dem Weg gehen. Im Gegensatz zu einer Literatur, die anklagt, wird hier die Genese der Anklage thematisiert. Erst in zweiter Linie geht es um den moralisch unhaltbaren Zustand, der nur wieder zu neuen Untaten führt. Im Vordergrund steht der sensible Beobachter, der die Vergangenheit aus der Oberfläche der Gegenwart erschließen kann und daraus in einem Gemisch aus Tagtraum und pessimistischer Vorhersage weitere Morde ableitet. ich weiß zuviel. ich weiß: du wirst bald ermordet von einem mann der dir gleicht, aber eh der tod dich mit seiner jauche netzt, wirst du einen mann im aufzug töten, einen wie du in der trambahn blindlings, oder auch mich, der ich dich nicht mag, der ich weiß, der ich sehe deine hand schon fleckig, dort wo deine nase wurzelt, den mord.164

Der Wirklichkeitsstatus dieser Verse ist gegenüber dem realistischen Charakter der vorhergehenden Abschnitte verschoben. Die Feststellung des Sprechers – »ich weiß zuviel« – kann noch als Teil der Nachkriegswirklichkeit aufgefasst werden. Die Vorhersage des kommenden Mordes verlässt diese Ebene. Sie kann als Befürchtung verstanden werden, als ausgestaltetes Gedankenspiel. Im Modus des lyrischen Textes wird die Vergangenheit in die Gegenwart hinein verlängert. Die Identität des möglichen Mörders und des Manns in der Tram wird textuell ausgespielt: Seine Anpassung an die Gesellschaft der 50er Jahre wird durchbrochen von einer Rückkehr der alten Individualität des Verbrechers. Nur der für die Verwechselbarkeit und Mittelmäßigkeit des Mannes in der Tram sensible Sprecher-Beobachter kann die dünne Schicht erkennen, die die Vergangenheit des Mörders von der Gegenwart des Manns »mit dem Scheitel / aus fett und stroh« trennt. Der letzte Abschnitt des Gedichts inszeniert das Überhandnehmen der Vergangenheit über die Gegenwart in einer Phantasie des Mörders bei seinem ersten Mord – die dann schließlich umschlägt in die Gegenwart des Ich. und so denke ich vor dem schlaf an dich im hotelzimmer vor dem Kino, und ich sehe dich zum erstenmal das koppel schnallen und zum erstenmal zackig grüßen und sehe, wie du dann, wenig später, 164

Ebd.

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die maschinenpistole nimmst und mit dem kolben an meine tür schlägst, und deswegen, und weil ich dich nicht mag, und weil du mich überleben wirst kaum einen tag, gedenke ich deiner, stinkender bruder.165

Die imaginativ-sprachliche Fähigkeit, die nicht mehr sichtbaren Untaten des im Verlauf des Textes entlarvten Mannes in der Straßenbahn sichtbar zu machen, wird zur Angst, die bis zum Eingeständnis einer gewissen Nähe des Sprechers zu dem Mann reicht, von dem er sich so intensiv distanziert hat – eine implizite Folge der identifikatorischen Annäherung im Gedankengang des Gedichts. Imaginiert wird die Umkehrung der Anfangskonstellation: Der Außenseiter, der verächtlich auf die Personifikation des entindividualisierten Mittelmaßes herabblickt, ist dessen Gewalt nun ausgeliefert. Aus der Vorstellung von dessen erster Bewaffnung entwickeln sich das Bild der Verfolgung und die Szene des Mords am Sprecher-Ich, das gerade aus dieser Angst heraus des »stinkende[n] bruder[s]« gedenkt, der in der Vorstellung des Sprechers »kaum einen tag« überleben wird. Die Pointe des Textes – die Nähe des Sprechers zum Mörder – fasst nochmals die Denkfigur des Gesamttextes zusammen: Von der Außenperspektive auf den Mann in der Straßenbahn über die immer stärkere Durchdringung seiner Vergangenheit zur bedrohlichen Aufhebung und Umkehrung der Distanzsituation: Genau diese Möglichkeit, eine Beziehung herzustellen zwischen dem distanzierten Betrachter und dem Mann in der Straßenbahn, ist der Ausgangspunkt nicht nur des Textes, sondern auch die Motivation der Anklagen gegen die Verwerfungen und Ungerechtigkeiten der Restaurationsgesellschaft der 50er Jahre. Unlängst hat sich Enzensberger gegen die Rehabilitation der 50er Jahre gewandt.166 Sowohl für die lange übliche Verurteilung als »muffig, provinziell und borniert« wie auch für die mentalitätsgeschichtliche und politische Einschätzung als ›apathisch‹, »[v]erdruckst, autoritär, verlogen« gebe es gute Gründe, die im Verlauf des Artikels auch stichwortartig genannt werden – vom Krawattenzwang bis zur Belastung großer Teile der Politikerkaste in Bonn. Nur eine kleine Minderheit habe sich der gesellschaftlichen und kulturellen Restauration widersetzt. Diese ›Nonkonformisten‹, zu denen er selbst historisch zu zählen ist, beschreibt Enzensberger mit einer aus Milieukenntnis gespeisten Distanz: 165 166

Ebd., S. 79. Hans Magnus Enzensberger, »Die falschen Fünfziger. Eine westdeutsche Reminiszenz«, in: Neue Zürcher Zeitung 137/2007, 16./17. Juni, S. 28.

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Ihre oppositionellen Ansichten äusserten sie schrill und waren deshalb als »Nestbeschmutzer« verschrieen. Ihr bevorzugter Aufenthaltsort war der Jazzkeller, ihre Tracht der Rollkragenpullover, ihre Ideologie ein eigentümlich ahnungsloser, linker Idealismus. […] Die Folge war eine gewisse Neigung zur Selbstgerechtigkeit, die man der jüngeren Generation, die damals erwachsen wurde, schwerlich absprechen kann. Zum Beispiel war es üblich, auf den allmählich zunehmenden Wohlstand und auf den »satten Bürger« zu schimpfen, als wäre der Hunger eine wünschenswerte Erscheinung und als wären Kühlschränke und Autos eigens erfunden worden, um das »falsche Bewusstsein« der unwissenden Massen zu zementieren.167

Zweifelsohne ironisiert Enzensberger hier die auf einer gewissen Unwissenheit beruhende Protesthaltung der ›jüngeren Generation‹ – aber nicht, ohne sie im beengenden Klima der 50er Jahre auch für gerechtfertigt zu erklären. Am Ende des Artikels zu den »deutschen Fünfzigern« wird seine Abneigung vielleicht am deutlichsten: »Friede ihrer Asche! Mögen sie nie wiederkehren.« In diesem Satz, der einen Rückblick aus der Distanz von 50 Jahren beschließt, kommt Enzensberger der Haltung des Sprechers in »an einen mann in der trambahn« sehr nahe. Zugleich liefert das Gedicht im Psychogramm des Nonkonformisten, der die Vergangenheit nicht nur spürt, sondern auch fürchtet, die psychologische Kehrseite des damaligen Protests. In den ›bösen Gedichten‹ der verteidigung der wölfe werden verschiedene Aspekte der unehrlichen und problematischen Realität der 50er Jahre thematisiert, die nur zum Teil im Verschweigen der Vergangenheit von Krieg und Nationalsozialismus bedingt sind. Die bereits bei der Geburt einsetzende Überwachung und institutionelle Fixierung des Einzelnen – in »geburtsanzeige«168 – könnte man auch als allgemeines Kennzeichen einer modernen Gesellschaft beschreiben, Ähnliches gilt bis zu einem gewissen Grad für kapitalismus- oder militarismuskritische Texte wie »konjunktur«169 oder »aussicht auf amortisation«,170 und auch das Schluss- und Titelgedicht »verteidigung der wölfe gegen die lämmer«171 wiederholt in der Stilfigur der zynischen Anklage gegen die faule und widerstandslose Anpassung an die gewaltsame Welt der verlogenen ›Wölfe‹ die Kritik an der gesellschaftlichen Passivität der 50er Jahre. Zugleich wird jedoch gerade diese Kritik in anderen Texten durch Wortwahl und in Anspielungen wieder kurzgeschlossen mit der spezifisch deutschen Vergangenheit. Die Frage des Ich in »option auf ein grundstück« – »warum war, als ich zur welt kam, der wald schon ver167 168 169 170 171

Ebd. Enzensberger, verteidigung der wölfe, S. 65f. Ebd., S. 86f. Ebd., S. 88f. Ebd., S. 90f.

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teilt?«172 – erinnert in der Tendenz an »geburtsanzeige«: Ein künstlerisches Ich formuliert seine Wünsche nach einem Leben in Freiheit und phantasievoller Selbstverwirklichung, wird aber durch die Gegenrede einer Stimme des Establishments immer wieder daran erinnert, dass seine Welt schon eingeteilt und parzelliert ist. Überwiegt in den ersten Abschnitten der Eindruck, es handle sich um eine Kritik an Krieg und Kapital – »bete zu den kybernetischen göttern, erwirb / raketen, börsenblätter und brillen«173 –, dann scheint am Ende wieder die Identität des gewalttätigen Sprechers der Herrschenden mit den ehemaligen, jetzt sich selbst tarnenden Nationalsozialisten durch: »zu unterrichten ist vom sichern endsieg der metzger / und in der herstellung von kadavern die jugend.«174 Die Konturen der in Enzensbergers Texten skizzierten und projizierten Wirklichkeit sind ebenso vom restaurativen Kapitalismus wie vom latenten und verdrängten Nationalsozialismus beherrscht. In den beiden anderen Teilen des Bandes geht es um Gegenwelten zur historischen Wirklichkeit der 50er Jahre. Der Ton ist nicht von Anklagen geprägt, sondern von der »Sehnsucht nach dem einfachen und erfüllten Leben in den Idyllen« in den ›freundlichen‹ und der »Klage über die Sinn- und Ausweglosigkeit«175 in den ›traurigen Gedichten‹. Entsprechend treten neben den Montage- und Kombinationstechniken, wie sie im dritten Teil fast als Folge der Anklage verschiedener sozialer Realitäten vorherrschen, besonders im ersten Teil auch andere formale Elemente in den Vordergrund. Sichtbar ist das etwa in den refrainartigen Silben »ki wit« im ersten Text, dem »lock lied«.176 Entscheidende Eigenschaften des Dichters werden thematisiert und in metonymischen Entfremdungsketten ironisiert: Zunächst wird die Weisheit des Dichter-Ich zur »binse«, mit der sich das angesprochene Du »in den finger« schneiden soll, »um ein rotes ideogramm zu pinseln / auf meine schulter«; dann seine Schulter »ein schnelles schiff«, auf dessen Deck das Du »zu einer insel […] schaukeln« soll, die zunächst »aus glas«, dann »aus rauch« ist, also verschiedene Haltbarkeitszustände durchläuft und zusehends flüchtiger und vergänglicher wird, um sich dann wieder im »ki wit« aufzulösen. Im dritten strophenartigen Abschnitt kommt die Assoziationskette zu ihrem Abschluss: Die Stimme des Dichter-Ich wird zur wichtigsten Instanz der Verführung durch Sprache, vor der zugleich gewarnt wird, indem die

172 173 174 175

176

Ebd., S. 68. Ebd. Ebd. Frank Dietschreit/Barbara Heinze-Dietschreit, Hans Magnus Enzensberger, Stuttgart 1986, S. 15. Enzensberger, verteidigung der wölfe, S. 7.

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vorherigen Aggregatzustände des sprachlichen Transformationsgangs integriert werden. meine weisheit ist eine binse schneide dich in den finger damit um ein rotes ideogramm zu pinseln auf meine schulter ki wit ki wit meine schulter ist ein schnelles schiff leg dich auf das sonnige deck um zu einer insel zu schaukeln aus glas aus rauch ki wit meine stimme ist ein sanftes verlies laß dich nicht fangen meine binse ist ein seidener dolch hör nicht zu ki wit ki wit ki wit

Das Signal, das anzeigt, dass es bei all den Nebeneinanderstellungen um Chiffren für die spielerischen, von konventionellen Zuschreibungen befreienden und zugleich gefährlichen Wirkungen der Dichtung geht, liefert der Refrain in seiner assonantischen Nähe zum Vogelgezwitscher. Die formale Logik des Textes setzt diese Idee von der Dichtung um, indem verschiedene Attribute des Dichterischen über eine Reihe von zwischen verlockend und gefährlich changierenden Gleichsetzungen ineinander geblendet werden. Die Semantik wird, bis zu einem gewissen Grad, aufgehoben; das »ki wit« ist auch ein Signal dafür, dass diese Aufhebung auch über die Grenzen der Logik hinaus geführt werden kann. Die Techniken der modernen Lyrik, die Enzensberger in verteidigung der wölfe zur Anwendung bringt, hat er im ›Nachwort‹ zum Museum der modernen Poesie skizziert: Montage und Ambiguität; Brechung und Umfunktionierung des Reimes; Dissonanz und Absurdität; Dialektik von Wucherung und Reduktion; Verfremdung und Mathematisierung; Langverstechnik, unregelmäßige Rhythmen; Anspielung und Verdunkelung; Wechsel der Tonfälle; harte Fügung; Erfindung neuartiger metaphorischer Mechanismen; und Erprobung neuer syntaktischer Verfahren.177

All diese ›Techniken‹ kann man, wie bemerkt wurde,178 im ersten Gedichtband angewendet finden. Bemerkenswert ist an der (von Enzensberger als

177 178

Museum der modernen Poesie, S. 770. Dietschreit/Heinze-Dietschreit, Hans Magnus Enzensberger, S. 15.

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vorläufig und deskriptiv bezeichneten) Liste aber noch etwas anderes: die Zusammenführung formaler – metrisch-syntaktischer – und semantischer Kategorien. Neben dem gattungsübergreifenden ästhetischen Prinzip der Montage steht ›Ambiguität‹, also die gezielt eingesetzte Zweideutigkeit; neben der auch als Klangeffekt auffassbaren Größe der ›Dissonanz‹ findet sich die ›Absurdität‹ als weiterer grundlegender Bedeutungseffekt. Enzensberger realisiert das Konzept der Artistik auf verschiedenen Ebenen. Es geht nicht nur um die Integration formaler Möglichkeiten, nicht nur darum, Vers und Reim anders (und abweichend von der klassisch-romantischen Tradition) zu gestalten. Artistik scheint ein Freiraum spielerischer Auflösung der Konventionen einengender Wirklichkeitsstrukturen zu sein. Darin ist Enzensberger nicht so weit von Krolows Vorstellung von der porösen Offenheit des Gedichts »für alle möglichen Widerfahrungen«179 entfernt. Aber Enzensberger bleibt mit diesem Konzept nicht beim Text stehen, sondern sieht auch die textuell erzeugten Effekte ›intellektueller Heiterkeit‹ als Teil einer historischen und gesellschaftlichen Wirklichkeit, die er nicht ausspart, sondern in unterschiedlichen Graden in seine Lyrik integriert. Ambiguität und Absurdität sind zwei der semantischen Strategien, mit denen bereits in den ›freundlichen Gedichten‹ solcherart realistische Kontextualisierungen erreicht werden. Im Gegensatz zur Anklage- und Protesthaltung der späteren Teile überwiegt hier allerdings der Gestus des mutwillig spielerischen Verwischens kodifizierter Realitätsanteile. Im Gegensatz zu den ›böse[n] Gedichten‹ (und zu den beiden folgenden Gedichtbänden) fügt sich die ›Wirklichkeit‹ der Autonomie der dichterischen Stimme ohne jene Probleme und Widerstände, die in »option auf ein grundstück« sogar mit einer eigenen Stimme bedacht sind. Diese Evokation einer Artistik der intellektuellen und emotionalen Freiheit, in der die Stimme des Dichters sich in fast romantischer Attitüde180 über die Nachkriegswirklichkeit erhebt, sie aber zugleich beherrscht, überwiegt im ersten Teil von verteidigung der wölfe – etwa in Texten wie »schläferung«,181 »zikade«182 oder »april«:183

179

180 181 182 183

Karl Krolow, »Intellektuelle Heiterkeit (1955)«, in: Theorie der modernen Lyrik. Dokumente zur Poetik, 2 Bde., Walter Höllerer (Hrsg.), neu Norbert Miller/Harald Hartung (Hrsg.), München, Wien 2003, S. 673–675, hier S. 673. Vgl. Hiebel, Das Spektrum der modernen Poesie, Teil 2, S. 394f. Enzensberger, verteidigung der wölfe, S. 10. Ebd., S. 9. Ebd., S. 8.

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mein freundliches irrlicht, meine entfernte schalmei, mein junger schimmel zwischen mürrischen silos zwischen pulvermühlen und hauptquartieren in triest in cadiz unter hafenkränen in göteborg wo immer wir spielen ist ein wald von oliven ein reicher fischgrund eine bucht aus silbernem schlick eine lichtung voll moos ein hügel mit wilden kirschen kein preßlufthammer: eine sanfte verneigung kein panzerschiff: eine leichte gavotte und zart wie eine gefiederte frucht ist der april in unserem mund in der rue vavin am göta-älv unter hafenkränen in rotterdam wo immer wir spielen ist ein april mein freundliches irrlicht meine zarte schalmei schalmei april schalmei

Die Wirklichkeitselemente werden sprachlich domestiziert und im Klang der Schalmei in die realitätsverändernde – »wo immer wir spielen ist ein april« – Sphäre der Dichtung mit einbezogen. Sie ist durch die Signalworte ›schalmei‹, ›irrlicht‹ und ›april‹ gekennzeichnet, die mit den topographischen Assoziationen einer freien und unberührten Natur verbunden werden. Die Topoi einer zivilisatorisch noch nicht verunreinigten Natur und der freien, unberührten Kunst werden verbunden. Solche positiven Transformationen der sichtbaren Wirklichkeit durch die Kunst sind in den ›freundlichen gedichten‹ noch möglich; im zweiten Teil des Bandes erscheinen sie nur noch als elegische Verlusterfahrung – programmatisch wird das bereits in »fremder garten«,184 dem ersten Text der ›traurigen gedichte‹, formuliert. es ist heiß, das gift kocht in den tomaten, hinter den gärten rollen versäumte züge vorbei, das verbotene schiff heult hinter den türmen. angewurzelt unter den ulmen, wo soll ich euch hintun, füße? meine augen, an welches ufer euch setzen? um mein land, doch wo ist es, bin ich betrogen.

184

Ebd., S. 35.

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die signale verdorren, das schiff speit öl in den hafen und wendet. ruß, ein fettes rieselndes tuch deckt den garten. mittag, und keine grille.

Die Natur erscheint bereits als vergiftet und zerstört, »versäumte züge« deuten die verlorenen Möglichkeiten an, sich von den Fehlern der gegenwärtigen Realität zu befreien, und das Sprecher-Ich sieht sich bereits um sein Land »betrogen«. Die Szene endet in der Verdunkelung des Gartens durch den Ruß, nicht einmal das Singen der Grille ist noch hörbar. Erst im dritten Teil wird aus diesen Bildern des Verlusts einer Welt, in der Natürliches und Künstlerisches sich noch ergänzen, eine ins Politische transponierte Anklage gegen zivilisatorische Erstarrung und Einengung, die sich dann konkretisiert in der historischen Situation der Bundesrepublik in den 50er Jahren. verteidigung der wölfe ist damit nicht nur ein Beispiel dafür, wie (in einer Formulierung Rühmkorfs) »die freiwillige Selbstquarantäne unserer zeitgenössisch-zeitentzogenen Poesie«185 durchbrochen werden kann. Der Band führt auch die Genese der politisch-gesellschaftlichen Anklage aus dem Kontext artistischer Lyrik vor. Die ›idyllischen‹ und ›elegischen‹ Texte der ersten beiden Teile haben keinen realen Hintergrund mehr; was bleibt, ist die Möglichkeit der Anklage, in die hin und wieder Elemente der Trauer über den Verlust der Idylle gemischt werden. Insofern sind die Texte der beiden darauffolgenden Gedichtbände landessprache (1960) und blindenschrift (1964) in ihrer Ausrichtung eindeutiger. Sie sind Ergebnisse des in verteidigung der wölfe vorgeführten Reflexionsprozesses, der die Entwicklung von Enzensbergers Lyrik im Kontext der Transformationsbewegungen der 50er Jahre bestimmte. verteidigung der wölfe ist noch geprägt von der thematischen und formalen Verknüpfung von Artistik und realistischem Wirklichkeitsbezug; Fermente artistischer Denkfiguren sind in den politischen Anklagegedichten sichtbar, aber auch in den Texten, die eine mögliche, aber verlorene Gegenwelt projizieren. In landessprache und blindenschrift hingegen spielt nur noch die Klage über und die Anklage gegen eine verlogene, unmoralische und zerstörerische Gegenwart Deutschlands eine Rolle; die Gegenwelten werden, wenn überhaupt, in die Kritik an dieser Wirklichkeit integriert. Deshalb sind auch die explizit vorgenommenen Kennzeichnungen der Gedichte als ›Gebrauchstexte‹ Ergebnis, nicht Ausgangspunkt dieser Evolution von Enzensbergers Lyrik in den 50er Jahren. Sicherlich reiht er seine Texte in die Brecht’sche Tradition der Gebrauchslyrik ein und markiert da185

Peter Rühmkorf, »Enzensbergers problematische Gebrauchsgegenstände (1960)«, in: Joachim Schickel (Hrsg.), Über Hans Magnus Enzensberger, Frankfurt am Main 1970, S. 74–77, hier S. 74.

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mit von Anfang an Distanz zu all jenen Strömungen der modernen Lyrik, die auf ästhetizistisch-artistische Distanz der Wirklichkeit zur Sprache setzen. Trotzdem spielt sich innerhalb dieser Zuschreibungen ein Funktionswandel ab. Wenn es zunächst darum geht, Lyrik als Teil des öffentlichen Raums zu verstehen, kann darin auch politischer Protest enthalten sein; ab landessprache konzentriert sich Enzensbergers Lyrik dann ganz ausschließlich auf diese Anti- und Protestfunktion und präformiert damit einen anderen Begriff von politisch engagierter Lyrik. Schon der verteidigung der wölfe lag, auf einem losen Zettel, eine ›Gebrauchsanweisung‹ bei. Betont wurde im ersten Band allerdings noch vor allem der öffentliche, für alle zugängliche Charakter der Texte: Sie sollten als Mitteilungen im öffentlichen Raum verstanden werden – »als Inschriften, Plakate, Flugblätter, in eine Mauer geritzt, auf eine Mauer geklebt, vor einer Mauer verteilt«; sie sollten »vor den Augen vieler, und vor allem der Ungeduldigen, […] stehen und leben, […] wirken wie das Inserat in der Zeitung, das Plakat auf der Litfasssäule, die Schrift am Himmel«.186 Es ging also zunächst darum, die Gedichte als organischen Teil der Alltagswirklichkeit zu präsentieren, als einen Weg, sich in dieser Wirklichkeit zu bewegen – und nicht als ein Angebot, sich ihr zu entziehen, wie in den Transformationen der naturlyrischen Poetiken. Diese allgemeine Bestimmung trifft tatsächlich auf alle drei Teile des ersten Bandes zu. Der scharfe Protest gegen bestimmte Strukturen dieser Wirklichkeit entwickelt sich erst in der Abfolge der Texte, um dann in den ›bösen Gedichten‹ zu kulminieren. Die entsprechende ›gebrauchsanweisung‹ in landessprache ist um einiges länger und differenzierter. Sie zeigt, dass sich der Charakter der Texte nun auch in den Augen des Autors gewandelt hat. Unverändert ist die Vorstellung, die Gedichte seien »gebrauchsgegenstände, nicht geschenkartikel im engeren sinne«.187 In anderen Formulierungen wird die veränderte Rezeptionsvorstellung noch deutlicher. So werden »unerschrockene leser […] gebeten, die längeren unter ihnen [den Gedichten; F.L.] laut, und zwar so laut wie möglich, aber nicht brüllend, zu lesen«; auch wenn statuiert wird, die Texte seien nicht »zur erregung, vervielfältigung und ausbreitung von ärger […] bestimmt«, solle der Leser doch »erwägen, ob er ihnen beipflichten oder widersprechen möchte«; und überhaupt wird ausschließlich »politisch interessierte[n] leute[n]« eine vollständige Lektüre des Buches empfohlen – für alle anderen Leser genüge es, »kreuz und quer in dem buch zu blättern«.188 Dem 186 187 188

Enzensberger, verteidigung der wölfe, Beilagezettel ohne Seitennummerierung. Enzensberger, landessprache, Beilagezettel ohne Seitennummerierung. Alle Zitate ebd.

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politischen Interesse des Lesers wird damit zumindest in der Rezeptionsanweisung des Autors eindeutig der Primat vor den anderen möglichen Lesertypen zugestanden. Zudem liegt darin eine eindeutige Abkehr von jedem rein artistischen Verständnis der Gedichte: Der Autor will »seine Gedichte verstanden sehen […] als Produktionsmittel von Wahrheit und nicht als warenästhetisch aufbereitete Geschenkartikel«.189 Die Gedichte in landessprache und auch später in blindenschrift sind in Tendenz und Form einheitlicher. Man sieht das in landessprache bereits an den Überschriften einzelner Teile: ›gedichte für die gedichte nicht lesen‹ und ›oden an niemand‹ verweisen nicht nur auf eine Gesellschaft, in der Lyrik keine feste Position hat, sondern vor allem auf die Einzelnen, aus denen diese Gesellschaft besteht. Die Texte sind ›für‹ diese Menschen, damit aber auch ›über‹ sie; und eine der wichtigsten Aussagen, die man in der Optik der Gedichte in landessprache über diese Menschen machen kann, ist, dass sie ›niemand‹ sind, also gesichts- und eigenschaftslos, angepasst, verlogen und erstarrt in den Scheinkulissen eines von wirtschaftlichen und politischen Mächten organisierten und ›enteigentlichten‹ Daseins. Angedeutet werden nicht mehr (wie in verteidigung der wölfe) Zustände, die in verschiedenen Gedichttypen festgehalten werden, sondern verschiedene Aspekte des grundsätzlich höchst trostlosen Zustands der zeitgenössischen Bundesrepublik und, am Horizont, einer zeitgenössischen globalisierten Wirklichkeit. Die Bewohner werden als ›scheintote‹ in einer von Unbeweglichkeit und Lähmung durchsetzten Endzeit-Gesellschaft vorgestellt, die Atmosphäre ist geprägt »von gesellschaftlich bedingter Angst vor Gefahren und Bedrohungen, vor tödlichen und sogar apokalyptischen Katastrophen«;190 im Hintergrund vieler Gedichte stehen die Bedrohungen der ökologischen Zerstörung und eines dritten, atomaren Weltkriegs. Enzensbergers Öffnung zu europäischen und außereuropäischen Themen im Lauf der 60er Jahre deutet sich bereits an, grundsätzlich bleiben die Gedichte im Band aber auf Deutschland fixiert und konzentriert. Die drei Langgedichte – »landessprache«, »schaum«, »gewimmer und firmament« –, von denen die beiden genannten Teile eingerahmt sind, thematisieren Aspekte dieser deutschen Wirklichkeit, die den Autor Enzensberger seit 1957 (mit kürzeren Unterbrechungen) ins Ausland fliehen ließ.191 Die Art dieser Thematisierung ist weitläufig: Enzensberger wendet in den 189 190 191

Dietschreit/Heinze-Dietschreit, Hans Magnus Enzensberger, S. 23. Hiebel, Das Spektrum der modernen Poesie, Teil 2, S. 410. Jörg Lau, Hans Magnus Enzensberger. Ein öffentliches Leben, Berlin 1999, S. 67f., S. 99, S. 103–106. Vgl. auch Zimmermann, Hans Magnus Enzensberger, S. 109–120.

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Langgedichten eine Technik der Reihung verschiedenster Themen an. Diese »Poetik der Alphabetisierung der Welt« kann leicht »ins Beliebige« ausufern,192 erlaubt aber die Integration heterogenster Wirklichkeitsbereiche in den Gedichttext. So werden in »schaum«, wie Hiebel resümiert, entlang des Leitsymbols, in dessen süß-zuckrigem Rosa »der Schein des Angenehmen, der alle Phänomene bestimmt«,193 verdichtet ist, »die perversen Auswüchse einer von Macht und Borniertheit gekennzeichneten, ›verpfuschten‹ Zivilisation« abgebildet: Generäle, Militär, Waffen […], Klerus, Politiker, Kapitalisten, Herrschaftscliquen, Korruption, Betrug, Profitgier, Geldgeschäfte schlechthin, Gehirnwäsche, Manipulation, Medien, Massenveranstaltungen, Konsumterror, Völlerei, Luxus, Müll und Schmutz, Schein-Kultur, Kitsch, Tourismus, Mode und (angebliche) Kunst […], Kunst als Geldanlage […], Atomversuche […], technischer (und nicht geistiger, menschlicher) Fortschritt, Verwahranstalten für die Entgleisten […], alle diese Auswüchse der Zivilisation, speziell des deutschen Wirtschaftswunders, das die Jahre des Faschismus, Weltkriegs und Holocaust vergessen macht […].194

Das wichtigste Stilmittel bei der Kombination dieser Materialvielfalt – »schaum«195 umfasst einschließlich des Góngora-Mottos zwölf Seiten – ist das Zeugma oder, wie Hiebel konkretisiert, das semantische Zeugma »oder die Zeugma-ähnliche und dem Oxymoron verwandte Konstruktion, in der Unvergleichliches oder Heterogenes zusammengefügt werden«;196 nicht weniger grundlegend für die Mechanik der Texte in landessprache sind die fortwährende und ausführliche Verwendung des Zitats, die zuerst von Wunberg herausgearbeitet wurde,197 und die Anwendung der Metonymie als grundlegendem Strukturierungsmechanismus.198 Die Poetik des Textes wird in den ersten drei Abschnitten konstituiert; ab dem vierten Abschnitt wird das Ich zu den Schaumgeschöpfen hinab gezogen und von ihrer grundlegenden Verderbnis kontaminiert; hier beginnt dann auch die Thematisierung der bundesrepublikanischen Realität, die immer wieder an das Schaumsymbol zurückgebunden wird. 192 193 194 195 196 197

198

Hiebel, Das Spektrum der modernen Poesie, Teil 2, S. 415. Ebd., S. 414. Vgl. auch Lau, Enzensberger, S. 125–129. Hiebel, Das Spektrum der modernen Poesie, Teil 2, S. 414. Enzensberger, landessprache, S. 36–47. Hiebel, Das Spektrum der modernen Poesie, Teil 2, S. 408. Gotthard Wunberg, »Die Funktion des Zitats in den politischen Gedichten von H.M. Enzensberger«, in: Neue Sammlung 3/1964, S. 274–282. Vgl. Rainer Nägele, »Das Werden im Vergehen oder Das untergehende Vaterland: Zu Enzensbergers Poetik und poetischer Verfahrensweise« in: Reinhold Grimm (Hrsg.), Hans Magnus Enzensberger, Frankfurt am Main 1984, S. 204–231, hier S. 209–217 (›Das metonymische Begehren‹).

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ich bin geblendet geboren, schaum in den augen brüllend vor wehmut, ohne den himmel zu sehen, am schwarzen freitag, heute vor dreißig jahren. schaum vor dem mund des jahrhunderts! schaum in den kassenschränken! jaulender schaum in den gebärmüttern und den luxusbunkern! schaum in den rosa bidets! dagegen hilft kein himmlischer blitz! das blüht, das überzieht die erde an haupt und gliedern mit rasendem rotz! das reutet kein feuer, kein schwert! das endet nicht! dagegen gibt es ehrlich gesagt, keinen rat, kein beil, kein geheimnis. das ist zu süß! das steigt aus dem abgrund auf und schäumt! und schmunzelt! und schäumt! reicht mir die bruderhand, ihr verräter, übersät mit warzen, flaksplittern und brillanten, bewohner schmutziger nebensätze, reicht mir den adamsapfel zum judasbiß, das schäumende seifenherz und den kontoauszug, rosig von hämoglobin! zieht mich zu grund, tiefer zu euch, zu den anderen quallen, in den freiberuflichen schaum!199

Die Verknüpfungslogik ist offensichtlich: Im ersten Abschnitt konstituiert sich das Ich als zeitlebens vom ›schaum‹ geblendet und in seiner Freiheit beschränkt; schon bei seiner Geburt »am schwarzen freitag, heute vor dreißig jahren« zeichnete sich diese Kontamination seines Lebens ab. Im zweiten Abschnitt wird die Präsenz des ›schaums‹ in der Geschichte des Jahrhunderts, vor allem aber in verschiedensten Zusammenhängen angedeutet, die verdeutlichen, dass der ›schaum‹ tatsächlich das gesamte Dasein des Menschen durchdrungen hat: »kassenschränke«, »gebärmütter«, luxusbunker«, »rosa bidets«. Im dritten Abschnitt wird vertieft, dass es keine Fluchtmöglichkeit vor dem ›schaum‹ gibt, der stattdessen immer weiter »aus dem abgrund auf[steigt]« und dessen fortwährendes Schäumen nur seine Omnipräsenz unterstreicht. Im vierten Abschnitt dann stellt das Ich eine Verbindung her zwischen sich selbst und den »verrätern«, die sich gegen die Herrschaft des ›schaums‹ nicht mehr auflehnen. Die ersten Andeutungen – »übersät mit warzen, flaksplittern und brillanten, / bewohner schmutziger nebensätze« – charakterisieren sie als Teil jener »bundesrepublikanischen Verhältnisse«, die »wie von einem süßlichen Schaum überzogen« sind, in dem »alle Un-

199

Enzensberger, landessprache, S. 36.

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terschiede unter[gehen]«200 und in denen zugleich die Vergangenheit verschwiegen und die Gegenwart auf eine zerstörerische Weise entmenschlicht wird. Seine Abneigung gegen »diese[s] Land« bringt das Ich programmatisch ganz am Anfang des Bandes, in den ersten Versen des Titelgedichts »landessprache« unter: was habe ich hier verloren, in diesem land, dahin mich gebracht haben meine älteren durch arglosigkeit? eingeboren, doch ungetrost, abwesend bin ich hier, ansässig im gemütlichen elend, in der netten, zufriedenen grube. was habe ich hier? und was habe ich hier zu suchen, in dieser schlachtschüssel, diesem schlaraffenland, wo es aufwärts geht, aber nicht vorwärts, wo der überdruß ins bestickte hungertuch beißt, wo in den delikateßgeschäften die armut, kreidebleich, mit erstickter stimme aus dem schlagrahm röchelt und ruft: es geht aufwärts! […]201

Zentrale Themen des Textes klingen bereits an: Vor allem die Wohlstandsgesellschaft, in der die Vergangenheit von Krieg und Mord verdrängt wird; aber auch der Reichtum, der dazu instrumentalisiert wird, Unrecht – die Armut – zu verhüllen. Der Text wird, wie Hiebel darlegt,202 wesentlich durch Leitmotive und Wiederholungen zusammengehalten, die oft aus »Redewendungen, Sprichwörtern, Geflügelten Worten und Gedichtzeilen« bestehen.203 Zudem werden die integrierten alltags- und fachsprachlichen Elemente wiederum durch Zeugmata, oxymorontische Konstruktionen und Paradoxien sowie durch Wort- und Sinnspiele ›entstellt‹ (Enzensbergers eigener, in der Dissertation über Brentano erprobter und von Literaturwissenschaftlern seitdem gerne auf ihn selbst angewandter Begriff204) oder einfach verfremdet. 200 201 202 203 204

Lau, Enzensberger, S. 127. Enzensberger, landessprache, S. 7. Hiebel, Das Spektrum der modernen Poesie, Teil 2, S. 434–439. Ebd., S. 435. Hans Magnus Enzensberger, Brentanos Poetik, München 1961, S. 28. Zur Verknüpfung mit den Poetiken der Moderne vgl. Fritsche, Hans Magnus Enzensbergers produktionsorientierte Moral, S. 45–50.

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Nicht weniger als an den ersten Zeilen von »schaum« ist auch an »landessprache« der Brecht’sche Gestus auffällig. Enzensberger überblendet Anklänge an Brechts politische Exillyrik der Svendborger Gedichte mit dem frühen, antibürgerlichen Brecht der Hauspostille. Lyrikgeschichtlich gesehen lassen sich die ersten Verse von »landessprache« als eine Verschmelzung des anklagend-protestierenden Gestus der Ballade »Vom armen B.B.« mit dem besonnen-elegischen Ton von »An die Nachgeborenen« lesen. Ich, Bertolt Brecht, bin aus den schwarzen Wäldern. Meine Mutter trug mich in die Städte hinein Als ich in ihrem Leibe lag. Und die Kälte der Wälder Wird in mir bis zu meinem Absterben sein.205 * Ihr aber, wenn es soweit sein wird Daß der Mensch dem Menschen ein Helfer ist Gedenkt unsrer Mit Nachsicht.206

Während in der ersten Strophe von »Vom armen B.B.« in einer Mischung aus Trauer und Selbstbekräftigung die pränatale Entfremdung des artistischunabhängigen Bertolt-Brecht-Ich in der ›Asphaltstadt‹ skizziert wird, ist der letzte Abschnitt des dritten Teils von »An die Nachgeborenen« ein Appell an zukünftige Generationen, denen der Sprecher die Entstellungen und Verzerrungen seiner gejagten Generation zu erklären versucht. Von der unmittelbaren Intertextualität abgesehen – »dahin mich gebracht haben meine älteren« entspricht dem Vers »[m]eine Mutter trug mich in die Städte hinein«; »durch arglosigkeit« antwortet auf »[m]it Nachsicht« – entwickelt sich dabei ein poetologisches Programm für die Rhetorik von landessprache: Der anklagend-unabhängige Ton des frühen Brecht wird mit dem aufklärerischtrauernden der politischen Lyrik überkreuzt – oder, programmatisch gesprochen: Die beiden Sprechweisen müssen kombiniert werden, um eine Lyrik zu schaffen, die den Anspruch erfüllen kann, der Bundesrepublik um 1960 gerecht zu werden. Die Kritik an der gesellschaftlichen Wirklichkeit wird in landessprache also weitergeführt und verschärft; im selben Maß werden formale Mittel moderner politischer Lyrik im Gebrauch erweitert und den Langgedichten angepasst. Im Verhältnis zu den ›bösen Gedichten‹ in verteidigung der wölfe ist der Band thematisch und formal eher eine variative Ausgestaltung als ein Neu205

206

Bertolt Brecht, »Vom armen B.B.«, in: Die Gedichte, Frankfurt am Main 2000, S. 96f., hier S. 96. Bertolt Brecht, »An die Nachgeborenen«, in: Ebd., S. 267ff., hier S. 269.

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431

ansatz. Radikaler Protest und Anklage werden zu den vorherrschenden Sprechhaltungen. Vergleichbares gilt für Enzensbergers dritten Gedichtband blindenschrift. Die formale Erneuerung besteht hier vor allem in der verstärkten Einführung von im Ton an Brecht – nunmehr stärker an den Svendborger Gedichten207 – orientierten Kurzgedichten.208 Die kritische Ausrichtung gegenüber Deutschland, zusehends aber auch gegenüber grundsätzlichen Phänomenen der Ungerechtigkeit, Ausbeutung und Naturzerstörung ändert sich nicht. Wenn in blindenschrift Enzensbergers politisch-engagierter Version der lyrischen Moderne noch neue Aspekte hinzugefügt werden, dann sind es also vorwiegend stilistisch-rhetorische: Das Vokabular der Gedichte wird reduzierter, schlichter und sparsamer, und entsprechend verändert sich die Realisierung der kritischen Haltung. Nicht mehr die radikale Anklage steht nun im Vordergrund, sondern ein rational-aufklärerischer Ton; »der provokativzornige Impetus« weicht einem »ausgeglichene[n], ruhige[n], beinahe monologische[n] Ton«.209 »[D]ie einfachen Dinge, die konzentrierte Betrachtung und Schilderung von Sachverhalten« rücken in den Mittelpunkt der Gedichte.210 Es geht nach wie vor darum, Missstände kritisch aufzudecken. Sie werden aber nun nicht mehr radikal anklagend vorgeführt, sondern im Modus einer performativen Reflexion erkundet, deren Poetik sich nicht nur am autobiographisch-fiktionalen Ich von Brechts Exil-Gedichten aus den 30er Jahren inspiriert, sondern zuweilen auch intertextuell auf sie reagiert.211 Unverkennbar geschieht das in »weiterung«,212 einem Text, der zugleich die nun privilegierte Form der Kurzverse illustriert: wer soll da noch auftauchen aus der flut, wenn wir darin untergehen? noch ein paar fortschritte, und wir werden weitersehen. wer soll da unsrer gedenken mit nachsicht? das wird sich finden, wenn es erst soweit ist.

207 208

209 210 211 212

Vgl. Hiebel, Das Spektrum der modernen Poesie, Teil 2, S. 440. Vgl. für eine Gesamtwürdigung Zimmermann, Hans Magnus Enzensberger, S. 157–174. Dietschreit/Heinze-Dietschreit, Hans Magnus Enzensberger, S. 30. Ebd. Vgl. Hiebel, Das Spektrum der modernen Poesie, Teil 2, S. 440f. Enzensberger, blindenschrift, S. 50.

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und so fortan bis auf weiteres und ohne weiteres so weiter und so weiter nichts keine nachgeborenen keine nachsicht nichts weiter

Der Text reagiert wiederum auf Verse aus dem dritten Teil von Brechts »An die Nachgeborenen«; zusätzlich zum Schlussabschnitt wird nun auch der erste Vers – »Ihr, die ihr auftauchen werdet aus der Flut« – variativ weitergeführt. Der Appell an die Nachgeborenen ist verknüpft mit der Kritik am technisch-wissenschaftlichen Fortschritt, der schließlich auch in einen Atomkrieg führen kann – und also jegliches Gedenken der Nachgeborenen aufhebt. Das Gedicht denkt diese Konsequenz zu Ende, und das geschieht in einer Ästhetik der Verknappung und Zuspitzung, die sich um wenige Leitworte bewegt, vor allem um das Adjektiv ›weiter‹. Was auf diese Weise entsteht, ist ein »metapoetischer Kommentar zu Brechts ›An die Nachgeborenen‹«.213 Beispiel für eine noch radikalere Anwendung der Verknappungspoetik ist die zweistrophige »nänie auf den apfel«:214 hier lag der apfel hier stand der tisch das war das haus das war die stadt hier ruht das land dieser apfel dort ist die erde ein schönes gestirn auf dem es äpfel gab und esser von äpfeln

Auch dieses Gedicht beruht auf der Variation eines Vorgängertexts, der ebenso strukturell wie inhaltlich fixiert ist, auf Günter Eichs »Inventur« als zentralem Text der Poetik des ›Kahlschlag‹. Und wie auch in »weiterung« wird durch die Aufnahme der deiktischen Strukturen aus Eichs Gedicht im ersten Abschnitt – »Dies ist meine Mütze, / Dies ist mein Mantel, / Hier 213 214

Vgl. Dietschreit/Heinze-Dietschreit, Hans Magnus Enzensberger, S. 32. Enzensberger, blindenschrift, S. 48.

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mein Rasierzeug / Im Beutel aus Leinen«215 – die inhaltliche Grundlinie der Bestandsaufnahme nach der Katastrophe modifiziert und der Gegenwart angepasst: Die reihende Aufzählung der Dinge, die, vom Apfel ausgehend und bei der Stadt endend, vergangen sind, kulminiert in der Feststellung: »hier ruht das land«. Die Wahrnehmung des Lesers bewegt sich vom Kleinen zum Großen. Aber erst nach dem Perspektivenwechsel im zweiten Abschnitt wird deutlich, dass es sich um einen antizipierten Rückblick handelt, in dem der Apfel zunächst als Gegenstand und dann als Metapher für die aus dem Weltall betrachtete, zerstörte Erde fungiert. Freilich wird die reduzierte oder unterdrückte Emotionalität des Sprechers im Eich-Gedicht hier zur Haltung einer geradezu kosmischen Gleichgültigkeit; in den letzten drei Zeilen des Textes wird sowohl die Zerstörung der Natur als auch der Verlust der »esser von äpfeln«, der Menschen, emotionslos konstatiert. In der Anspielung auf Schillers »Nänie« wird die intertextuelle Dimension schließlich um das Gattungswissen – Nänie als Synonym für Elegie – und um die Anspielung auf den spezifischen Text erweitert, in dem das Sterben des Schönen und das Gedenken daran thematisiert werden.216 Die Poetik des Kurzgedichts besteht also einerseits in der Reduktion der Inhalte und ihrer rhetorischen Ausgestaltung, zum anderen in der Konzentration von Verfahren der Bedeutungserzeugung in diesen bis auf Wort- und Silbenebene verknappten Versen. Die Themen der Gedichte – die von gesellschafts- und kulturkritischen bis zu politischen Inhalten reichen – werden durch die veränderten formalen Möglichkeiten nicht in der Tendenz, wohl aber in der rhetorischen Form modifiziert. Der wütende, protestierende Ton der beiden ersten Gedichtbände wird ersetzt durch einen bedächtig reflektierenden. Die Verfestigung der Verhältnisse wird nicht mehr in großen rhetorischen Suaden angeklagt, sondern aus der Betrachtung unbedeutender Alltagsgegenstände und den Resten idyllischer Situationen abgeleitet, die allerdings vielfältig semantisiert sind und damit die Perspektive auf verschiedenste Kontexte hin öffnen. Überdies wird der Fokus des politischen Interesses langsam von der deutschen Nachkriegswirklichkeit auf europäische globale Probleme erweitert, worin sich auch die Verschiebung von Enzensbergers Interessen in den 60er Jahren ankündigt.217 215

216 217

In: Günter Eich, »Abgelegene Gehöfte (1948)«, in: Ders., Die Gedichte. Die Maulwürfe, Axel Vieregg (Hrsg.). Bd. I, Gesammelte Werke in vier Bänden, revidierte Ausgabe, Frankfurt am Main 1991, S. 36. Vgl. Hiebel, Das Spektrum der modernen Poesie, Teil 2, S. 447–451, bes. S. 449. Zu den Veränderungen bei der Verlagerung von Enzensbergers »Interesse nicht nur vom Poetischen mehr aufs Politische und von spezifisch deutschen Problemen auf solche globaler Natur […], allgemein von den Medien stärker auf die

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Enzensberger entwirft mit seinen ersten drei Gedichtbänden Möglichkeiten einer politisch-öffentlichen Lyrik in der zweiten Hälfte der 50er und zu Beginn der 60er Jahre. Zugleich integriert er in seine Texte vielfältige Formen und Formationen der Tradition der modernen Lyrik. In Enzensbergers Poetik sind beide Aspekte verknüpft: Die verstärkte Auseinandersetzung mit der gesellschaftlichen Realität verlangt eine Integration ›moderner‹ Darstellungstechniken.218 In der Tat kann man sich den unmittelbaren Wirklichkeitsbezug von Enzensbergers Texten – der wesentlich auf der Einbeziehung verschiedenster Sprachebenen beruht – nicht ohne die in mannigfachen Variationen verwendeten Montage- und Collage-Techniken vorstellen. Die Modernisierung in Enzensbergers Lyrik beruht nicht zuletzt auf der Versprachlichung bislang nicht in die Lyrik integrierter Bereiche der gesellschaftlichen Wirklichkeit der frühen Bundesrepublik.219 Bestimmte Formen moderner Lyrik sind in entscheidender Weise Mittel dieser Öffnung. Das Programm für diese sowohl inhaltlich-thematische als auch formale Öffnung bildet sich auch in Enzensbergers essayistischem Werk ab, dessen thematisches Spektrum Themen der Kulturpolitik ebenso einschließt wie literarische und poetologische Fragen. Im ersten Essay-Sammelband, Einzelheiten, werden diese Pole exemplarisch sichtbar. Im vierten Teil des Bandes (seit 1964 separat als Einzelheiten II publiziert) geht es um die Literatur; die Weltsprache der modernen Poesie und Die Aporien der Avantgarde werden dabei ebenso behandelt wie der Autor William Carlos Williams und die zentrale Frage von Poesie und Politik, die sich auch im Fall Pablo Neruda widerspiegelt. Der erste Teil von Einzelheiten hingegen (seit 1964 Einzelheiten I) beinhaltet medien- und kulturkritische Aufsätze, also ein Genre, das Ende der 50er Jahre in Deutschland noch relativ unbekannt war. Ihre Notwendigkeit wird programmatisch im ersten Beitrag mit dem Titel Bewußtseins-Industrie behandelt. Es geht, im Anschluss an Adornos These von der Kulturindustrie, um die Zunahme von Mechanismen kollektiv und über die Massenmedien nun auch industriell vermittelter Bewusstseinsinhalte, die gerade wegen ihrer

218

219

Macht« vgl. Reinhold Grimm, »Bildnis Hans Magnus Enzensberger. Struktur, Ideologie und Vorgeschichte eines Gesellschaftskritikers«, in: Ders. (Hrsg.), Hans Magnus Enzensberger, S. 139–188, hier S. 141. Ein kursorischer Überblick zu Enzensbergers Poetik findet sich bei Ingrid Eggers, Veränderungen des Literaturbegriffs im Werk von Hans Magnus Enzensberger, Bern, Frankfurt am Main 1981, S. 45–75. Dieser kultur-, ideen- und mentalitätsgeschichtliche Aspekt von Enzensbergers Schreiben wird aufgearbeitet in Dirk von Petersdorff (Hrsg.), Hans Magnus Enzensberger und die Ideengeschichte der Bundesrepublik. Mit einem Essay von Lars Gustafsson, Heidelberg 2010.

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Zweideutigkeit einer kritischen Analyse bedürfen.220 Vor diesem Horizont sind die Untersuchungen über Die Sprache des »Spiegel«221 und die Anatomie einer Wochenschau222 oder die Beschreibung der Nachrichtenpolitik der Frankfurter Allgemeinen als ›Eiertanz‹223 zu sehen. All diese Aufsätze erkunden die Funktionsweise von Medien, die für die individuelle und kollektive Wahrnehmung der Wirklichkeit determinierend sind. Es geht dabei vorrangig um die Untersuchung formaler Kriterien:224 Nicht die Inhalte der Wochenschau, sondern die Grundschemata, nach denen die Nachrichten in stories übersetzt werden, untersucht Enzensberger; nicht die Meldungen in der FAZ, sondern die Art der Reduktionen, die bei bestimmten Nachrichten zur Anwendung gelangen. Jörg Lau weist darauf hin, dass ein wichtiges Ergebnis dieser Medienanalysen (die durchaus den ungefähr zeitgleichen Unternehmungen von Roland Barthes oder Umberto Eco vergleichbar sind225) aus heutiger Sicht nicht so sehr die Entlarvung der manipulativen Energie der Massenmedien ist – ein mehr oder weniger vorhersehbares Ergebnis. Viel wichtiger sei es, dass die Analysen die praktisch lückenlose mediale Vermittlung der Wirklichkeit vorführen: »Sie führen vor Augen, daß wir in einer Gesellschaft leben, die sich darauf eingelassen hat, die Welt ganz und gar mittels der Medien zur Kenntnis zu nehmen.«226 So gesehen ist die kritische Medienanalyse ein Mittel zur Erkundung der verschiedenen Sprachstrukturen, in denen sich die Sektoren öffentlicher und politischer Wirklichkeit manifestieren. Vor allem aber ist eine solche Erkundung der sprachlichen Strukturen der Wirklichkeit geradezu Voraussetzung einer Poetik, die sich wesentlich über ihren Realitätsbezug definiert. In »Scherenschleifer und Poeten«,227 seinem Beitrag zu Hans Benders 1961 erschienener Anthologie poetologischer Texte 220

221 222

223

224 225

226 227

Enzensberger, »Bewusstseins-Industrie« [1962], in: Ders., Einzelheiten, S. 7–15, hier S. 14f. Enzensberger, Die Sprache des »Spiegel« [1957], in: Ders., Einzelheiten, S. 62–83. Enzensberger, Scherbenwelt. Die Anatomie einer Wochenschau [1957], in: Ders., Einzelheiten, S. 88–109. Vgl. Enzensberger, »Journalismus als Eiertanz. Beschreibung einer Allgemeinen Zeitung für Deutschland« [1962], in: Einzelheiten, S. 16–61. Lau, Enzensberger, S. 75f. Zu denken wäre an die in Roland Barthes, Mythologies, Paris 1957 sowie in Umberto Eco, Diario minimo, Milano 1963 und in Ders., Apocalittici e integrati, Milano 1964 versammelten Essays. Ebd., S. 74. Hans Magnus Enzensberger, »Scherenschleifer und Poeten«, in: Mein Gedicht ist mein Messer. Lyriker zu ihren Gedichten, Hans Bender (Hrsg.), München 1961, S. 144–148.

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Transformationen

Mein Gedicht ist mein Messer, wendet sich Enzensberger explizit gegen eine Lyrik, die in der Tradition der Benn’schen Ästhetik die Sprache zum einzigen ›Material‹ des Gedichts erklärt und darin – in der Tradition der sprachkritischen Moderne – die Schwierigkeiten einer Thematisierung der Wirklichkeit reflektiert. Stattdessen propagiert er den Gegenstand, »jawohl, de[n] vorsintflutliche[n], längst aus der Mode gekommene[n] Gegenstand«, als »unentbehrliches Material der Poesie«.228 Eine Beschränkung nur auf die sprachliche Seite entzieht nach Enzensberger dem Gedicht eine wesentliche Dimension. »Ich kann, wenn ich einen Vers mache, nicht reden, ohne von etwas zu reden. Und dieses Etwas, so gut wie die Sprache, die davon spricht, ist mein Material.«229 Als ›Gegenstand‹ definiert Enzensberger alles, was einem Ich begegnet – »Hiroshima, Budapest und Algier«, also Stichworte für zentrale politische Probleme um 1960, aber auch »den Verkehr auf der Straßenkreuzung oder die Jukebox in der nächsten Ecke«, also Elemente des Alltagslebens.230 Enzensberger plädiert dafür, die in den Poetiken der poésie pure nivellierte Bedeutung der Sprache als Medium der Wirklichkeitsannäherung wieder zu rehabilitieren. Die Beherrschung der verschiedenen Sprachstrukturen und Sprachschichten der Wirklichkeit ist dabei wichtig: Ohne sie kann es kein Gedicht geben, aber zugleich ist das Gedicht notwendig, um Probleme aufzuzeigen, die sich bei ausschließlichem Bezug auf die sprachlich verfasste Wirklichkeit der Medien nicht beschreiben ließen. Entsprechend sieht er die Aufgabe des Gedichts darin, Sachverhalte vorzuzeigen, die mit andern, bequemeren Mitteln nicht vorgezeigt werden können, zu deren Vorzeigung Bildschirme, Leitartikel, Industriemessen nicht genügen. Indem sie Sachverhalte vorzeigen, können Gedichte Sachverhalte ändern und neue hervorbringen. Gedichte sind also nicht Konsumgüter, sondern Produktionsmittel, mit deren Hilfe es dem Leser gelingen kann, Wahrheit zu produzieren.231

Die Sprache der Medien ist auf der einen Seite Voraussetzung – denn sie repräsentiert eine erste Stufe der Umsetzung von ›Sachverhalten‹ in Sprache –, zugleich aber auch Auslöser und Rechtfertigung des Gedichts. Erst in der Lyrik kann die Sprache, die in der Regel in der medialen Vermittlung ›lauwarm‹, also wenig aussagekräftig ist, wieder aktiviert werden; ein Prozess, den Enzensberger wiederum im Bild verschiedener sprachlicher Tempera228 229 230 231

Ebd., S. 144. Ebd., S. 144f. Ebd., S. 145. Ebd., S. 146f.

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turzustände – »von der äußersten Hitze bis zur extremsten Kälte«232 – fasst, die nur durch die formalen Manipulationen des Lyrikers hergestellt werden können. Zweck dieser kontrollierten Reaktionsprozesse, die zwischen der lyrischen Sprache und ihren Gegenständen stattfinden, ist wiederum die Benutzbarkeit des Gedichts, nicht die Herstellung vitrinenhafter Unnahbarkeit. Denn: Die Vorstellung, daß Gedichte besonders edle oder schonungsbedürftige Gegenstände seien, ist schädlich. Sie gehören nicht unter Glasstürze oder Vitrinen. Wenn sie veraltet oder verschlissen sind, kann man sie wegwerfen und durch neue ersetzen, wie Kleidungsstücke.233

Aufgegeben wird in Enzensbergers Poetik nicht nur die Vorstellung einer Sprache, die autonom und losgelöst ist von allen Aspekten der Wirklichkeit, sondern auch die damit einhergehende Sonderstellung der Poesie und des Dichters. Das Gedicht hat eine nur begrenzte Haltbarkeit, weil es keine absoluten Wahrheiten gibt, die es beinhalten könnte. Erreichbar ist mit Hilfe des Gedichtes allerdings Erkundung relativer und zeitlich gebundener Erkenntnisse. Die Suche nach metaphysischen Wahrheiten wird damit obsolet. Da Gedichte endlich, beschränkt, kontingent sind, können mit ihrer Hilfe nur endliche, beschränkte, kontingente Wahrheiten produziert werden. Die Poesie ist daher ein Prozeß der Verständigung des Menschen mit und über ihn selbst, der nie zur Ruhe kommen kann.234

Lyrik ist für Enzensberger nur ein Teil menschlicher Kommunikationsprozesse, in denen Sachverhalte möglichst präzise, immer aber jeweils annäherungsweise geklärt werden. Deshalb ist auch ein monologisches Gedicht nicht denkbar: Gedichte sind immer für jemanden geschrieben, denn »[e]s nützt nichts, einen Sachverhalt vorzuzeigen, wenn keiner zusieht«.235 In ähnlicher Weise wird die Funktion der ›Gedichteschreiber‹ präzisiert. »Sie unterscheiden sich von anderen Leuten nicht in höherem Maß als Messerschmiede oder Hutmacher. Sie müssen wichtige Sachverhalte kennen und imstande sein, sie vorzuzeigen. Besondere Weihen stehen ihnen dafür nicht zu.«236 Wenn man bei Krolow, Eich oder Huchel eine kontinuierliche Transformation traditioneller Vorstellungen von Lyrik beobachten kann, dann sieht man bei Enzensberger eine grundsätzliche Verschiebung ihrer Funktionen 232 233 234 235 236

Ebd., S. 145f. Ebd., S. 146. Ebd., S. 147. Ebd. Ebd.

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und Formen. Analoge, wenn auch strukturell verschiedene Neubestimmungen finden sich bei Bachmann und vor allem bei Celan. Gegenüber den restaurierten klassisch-romantischen Poetiken der ersten Nachkriegsjahre oder den Ansätzen einer konservativen Moderne aus dem Umkreis der Naturlyrik ist allen drei eines gemeinsam: Die grundlegend neue Austarierung des Verhältnisses zwischen einer zunächst vom Verschweigen und Nicht-Thematisieren von Krieg und Holocaust gekennzeichneten Nachkriegswirklichkeit und den Formsprachen moderner Lyrik. Enzensbergers Antwort ist eine Lyrik, die auf diese Wirklichkeit reagiert und sich von ihr prägen lässt, ihrerseits aber von Offenheit gegenüber der modernen Formsprache geprägt ist. Als Ergebnis dieser Neuvermessung wird die Vorstellung einer Autonomie der Lyrik ersetzt von einer Ästhetik, in der, wie Charlotte Ann Melin darlegt, »the temporal character of individual experience with representation of historical context« verknüpft ist.237 Enzensbergers Sympathie für die Technik der epiphanies oder glimpses, die er im Aufsatz über William Carlos Williams zum Ausdruck bringt,238 ist kein Zufall und kann produktiv auf seine eigenen Texte zurückgewendet werden. Freilich handelt es sich auch bei Enzensbergers Konzeption einer realistisch-öffentlichen modernen Lyrik um eine historische Position. Reinhold Grimm vertritt die Auffassung, Enzensbergers Ästhetik stehe in einer starken Kontinuität mit der ästhetischen Ideologie der 50er Jahre. Seine Vorstellung von lyrischer Subversivität weise deutliche Ähnlichkeiten mit Benns antipolitischem Ästhetizismus auf, dessen Einfluss »auch er sich […] nicht gänzlich entziehen« habe können.239 Auch wenn Grimm den grundsätzlichen Unterschied zugesteht, dass »bei Benn die Poesie zum schlechthin Apolitischen, bei Enzensberger hingegen zum schlechthin Politischen wird«,240 erkennt er hier vor allem eine beiden gemeinsame »gewaltsame Überbewertung der modernen Kunst«.241 Aber auch wenn man die Grundlagen von Enzensbergers Poetik der modernen Lyrik im Kontext der zeittypischen Diskussionen historisiert, gibt es bereits in seiner Konzeption der Poesie um 1960 genug Elemente, die die Betonung und stellenweise Überschätzung ästhetischer Subversivität wieder relativieren. Dieser Prozess geht Hand in Hand mit der Destruktion zentraler Größen traditioneller Subjek237

238

239 240 241

Charlotte Ann Melin, Poetic maneuvres. Hans Magnus Enzensberger and the lyric genre, Evanston, IL 2003, S. 5; vgl. insgesamt ebd., S. 3–12. Hans Magnus Enzensberger, »William Carlos Williams« [1961], in: Ders., Einzelheiten, S. 273–289, hier S. 281. Vgl. auch Melin, Poetic maneuvres, S. 10f. Grimm, »Bildnis Hans Magnus Enzensberger«, S. 168f. Ebd. Ebd.

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tivitäts- und Inspirations-Poetiken. Auch wenn Enzensberger sich dabei unvermeidlicherweise der Denkfiguren seiner Gegenwart bedient, kündigt sich in der Vorstellung vom Gedicht als Gebrauchstext in einer von medialer Vermittlung geprägten modernen Wirklichkeit doch eine deutliche Unterordnung aller ›absoluten‹ Funktionen der Poesie an. Alle weiteren Qualitäten in Enzensbergers Bestimmung der modernen Lyrik um 1960 hängen von dieser Vorstellung des Gedichts als eines genuinen, keinesfalls aber isolierten Teils gesellschaftlicher Kommunikationsprozesse ab. Gerade der oft beschworene politische Aspekt von Enzensbergers Lyrik erscheint in einem anderen Licht, wenn man diese Voraussetzungen im Auge behält. Ein Gedicht, das als Teil einer gesellschaftlichen Gesamtwirklichkeit verstanden wird, ist im weiteren Sinne immer politisch. Enzensberger hat dieses Verhältnis im Essay Poesie und Politik dargelegt,242 der eine Fortführung von Adornos Position in der Rede über Lyrik und Gesellschaft darstellt.243 Versuche man, den politischen Gehalt durch »Ableitung von außen […] aufzudecken«244 – Enzensberger sieht diese Variante exemplarisch in der »orthodoxen Literatursoziologie«245 verwirklicht –, dann verkenne man damit die Autonomie des lyrischen Textes. Ebenso verfehlt sei allerdings die Vorstellung »jener bürgerlichen Ästhetik […], die der Poesie jeden gesellschaftlichen Aspekt absprechen möchte«.246 Insofern sei es nachvollziehbar, dass »beide Seiten« die »Poesie, als das was sie an sich selber ist, und besonders moderne Poesie, stört«.247 Denn Poesie lasse sich eben weder auf »Innerlichkeit«, »höher[es] Streben« und »ewige Werte« reduzieren noch auf einen extern angekoppelten politischen Aspekt. »Der politische Aspekt der Poesie muß ihr selber immanent sein.«248 Stattdessen betont Enzensberger die Unabhängigkeit der Lyrik, ihren »anarchischen« Gehalt;249 das Gedicht – gezeigt wird das am Beispiel von Brechts »Der Radwechsel« – zeige seinen politischen Gehalt dadurch, »dass 242

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245 246 247 248 249

Hans Magnus Enzensberger, »Poesie und Politik« [1962], in: Ders., Einzelheiten, S. 334–353. Zu Enzensbergers Verhältnis zu Adorno vgl. Karla Lydia Schultz: »Ex negativo: Enzensberger mit und gegen Adorno«, in: Reinhold Grimm (Hrsg.), Hans Magnus Enzensberger, Frankfurt am Main 1984, S. 237–257. Enzensberger, »Poesie und Politik« [1962], S. 346. Für eine frühe Untersuchung von Enzensbergers Version einer politischen Lyrik vgl. Zimmermann, Hans Magnus Enzensberger, S. 37–45. Enzensberger, »Poesie und Politik«, S. 347. Ebd. Ebd. Ebd., S. 345f. Ebd., S. 351.

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Politik nicht über es verfügen kann«. Wie Adorno begründet auch Enzensberger diese »gesellschaftspolitisch motivierte[ ] Idee von autonomer Poesie«250 historisch. Am Beispiel des Herrscherlobs verfolgt er die schrittweise Trennung der Poesie von der Macht. Da seit der Romantik, spätestens seit Kleist,251 die Möglichkeiten des Herrscherlobs in der deutschen Lyrik erschöpft seien, verdeutliche Poesie in den vergangenen hundert Jahren immer stärker die Differenz zur Politik. Der politische Auftrag des Gedichts hat Enzensberger zufolge eine grundsätzliche Prägung: Es ist gekennzeichnet durch seine Widerständigkeit, durch die ästhetische Autonomie, die ein Destruktions- und Entlarvungspotential gegenüber der Herrschaft, aber auch gegenüber allen anderen Wirklichkeitsbereichen erlaubt. Aus eben dieser Position ergibt sich sein politischer Charakter: »Sein politischer Auftrag ist, sich jedem politischen Auftrag zu verweigern und für alle zu sprechen noch dort, wo es von keinem spricht, von einem Baum, von einem Stein, vom dem was nicht ist.«252 Poesie hat einen inhärent kritischen Charakter, ist subversiv und utopisch – eben weil sie sich keinem Programm unterordnet, sondern die Vielfalt der Realität beobachtet und verarbeitet. Die Rolle, die Enzensberger in seiner Poetik einer genuin politischen Lyrik den Poetiken der Moderne zugesteht, liegt in ihrer gegenüber traditionellen Poetiken größeren Unabhängigkeit und ästhetischen Offenheit. Die formale Vielfalt und der grundlegende Gestus des Traditionsbruchs verstärken die »produktive Unruhe des poetischen Prozesses«.253 Deutlich klingt das bereits in »Scherenschleifer und Poeten« an; ausführlich beschrieben wird Die Entstehung eines Gedichts im gleichnamigen Essay.254 Die Perspektive, die hier angelegt wird, ist strikt produktionsästhetisch und soll verdeutlichen, dass spätestens bei der Herstellung des Gedichts konkrete Aspekte der sprachlichen und rhythmischen Gestaltung in den Vordergrund treten. Das hat aber keine Reduktion auf einen Formalismus ohne Realitätsbezug zur Folge, sondern zeigt, dass eben die subversive Energie eines Textes nur durch die genau kalkulierte Arbeit an seiner ästhetischen Gestaltung zu erreichen ist. Bei dem Gedicht, dessen Entstehung in einzelnen ›Zustandsdrucken‹ nachbeschrieben wird, handelt es sich um »an alle fernsprechteilneh-

250

251 252 253 254

Fritsche, Hans Magnus Enzensbergers produktionsorientierte Moral, S. 51; vgl. ausführlich S. 50–55. Vgl. Enzensberger, »Poesie und Politik«, S. 339f. Ebd., S. 353. Ebd. Hans Magnus Enzensberger, Gedichte. Die Entstehung eines Gedichts, Werner Weber (Nachwort), Frankfurt am Main 1962, S. 55–79.

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mer«255 – also einen Text aus der Gruppe der zeitpolitischen hochkritischen Gedichte in landessprache. Auch in dem Entstehungsaufsatz konstatiert Enzensberger, dass es sich ganz offensichtlich um ein »politisches Gedicht« handle.256 Allerdings stellt er im Anschluss sofort die Frage, »ob ein Gedicht möglich ist, das politisch wäre und sonst nichts«.257 Die Antwort zeigt, welches Verständnis von ›politischer Lyrik‹ Enzensberger favorisiert. Das ausschließlich politische Gedicht gibt es für ihn nicht. Vermutlich ginge es an seiner propagandistischen Absicht zugrunde. Ich glaube […], daß die politische Poesie ihr Ziel verfehlt, wenn sie es direkt ansteuert. Die Politik muß gleichsam durch die Ritzen zwischen den Worten eindringen, hinter dem Rücken des Autors, von selbst. Der gegenwärtige Text legt diese Vermutung nahe. Er ergreift nicht Partei für diese oder jene Fraktion. Das Etwas, von dem er spricht, trieft über Partei- und Ländergrenzen, ebenso wie die radioaktiven Isotope in der Luft.258

Die formale Gestaltung des Textes trägt dazu dabei, diesen lyrischen Realitätseffekt zu erzeugen, aber aus Enzensbergers Sicht wäre es verfehlt, Form als bewusst eingesetztes Mittel zum Zweck der ausschließlichen Produktion eines politischen Gehalts zu sehen. Faktoren wie das Metier und die formale Ausarbeitung spielen in seiner Darstellung eine Nebenrolle, weil sie vorausgesetzt werden. Enzensbergers Autor beherrscht die Techniken und Formen der modernen Lyrik bereits virtuos, »ehe die erste Zeile auf das Papier kommt«.259 Rhythmus, Lexik, sprachliche und rhetorische Gestaltung verstärken in erster Linie den störenden, subversiven Charakter des Textes, anstatt die behandelten Themen mit einer bestimmten Tendenz zu versehen. Nicht eine Position wird zum Ausdruck gebracht, sondern die bedrohliche Ambivalenz einer Realität, die auch politisch bedingt ist. Was die moderne Lyrik angeht, ist Enzensbergers Position schon um 1960 relativistisch und in gewisser Hinsicht postmodern. Seine Vorstellung geht dahin, dass ein zeitgenössischer Lyriker die Poetiken der modernen Lyrik beherrschen muss, weil sie zu seinem Pflichtrepertoire gehören. Diese Auffassung ist die Grundlage seiner umfangreichen Tätigkeit als Vermittler und Übersetzer verschiedenster Traditionen und Autoren der modernen Lyrik.260 255 256 257 258 259 260

Enzensberger, landessprache, S. 26f. Enzensberger, Gedichte. Die Entstehung eines Gedichts, S. 72. Ebd. Ebd. Ebd., S. 73. Charlotte Ann Melin kontextualisiert Enzensbergers Rolle in den Diskussionen über die Funktion von Übersetzungen in den Nachkriegsjahrzehnten; vgl. Melin, Poetic maneuvres, S. 12–24.

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Transformationen

Im Vorwort zum Museum der modernen Poesie261 (das 1962 in Einzelheiten revidiert unter dem Titel »Weltsprache der modernen Poesie« erschien262 und seit der zweiten Auflage 1980 als Nachwort geführt wird263) erklärt Enzensberger die moderne Poesie im Moment ihrer Fixierung für erschöpft; was in der selbstkritischen ›Nachbemerkung‹ zur Neuauflage sogar noch unterstrichen wird mit der Feststellung, dass die Moderne nunmehr »rapide altert« und »[i]hre Weltsprache […] unterdessen in zahllose Dialekte zerfallen« sei.264 Was in diesem Zusammenhang dabei vor allem zählt, ist der diagnostische Wert der These von der ›Weltsprache‹. Der Begriff mag, vergleichbar dem der Weltliteratur, Unklarheiten und Mängel aufweisen, trotzdem kann man, wie Dieter Lamping angemerkt hat, bei einer Beschreibung der modernen Lyrik kaum darauf verzichten.265 Und seine historische Bedeutung für die Annäherung an die Moderne seit 1945 ist kaum zu überschätzen. Nach den eher vom Zufall diskursiver Gemeinplätze bestimmten und höchst selektiven Ansätzen einer Neuausrichtung der deutschsprachigen Lyrik an der internationalen Moderne prägt nun ein Autor der jüngeren Generation einen zur Synthese geeigneten Begriff – und konkretisiert ihn zugleich mit einer Fülle von Material. Wenn man sich zum Vergleich Benns idiosynkratische ›Nennungen‹ wichtiger Lyriker in Probleme der Lyrik aus dem Jahr 1951 vor Augen hält, dann wird klar, dass hier ein Koordinatennetz geschaffen wird, in dem nach mehr als einem Jahrzehnt unterschiedlichster Rezeptions- und Transformationsansätze eben all diese disparaten Versuche verortet werden können. Um 1960 beendet Hans Magnus Enzensberger in seinen diversen Funktionen im literarischen Leben, als Essayist und Übersetzer nicht weniger prominent denn als Lyriker, die Epoche der ›Anverwandlung‹ der klassischen Moderne266 und führt sie über in eine bereits vielfach vorbereitete – deutlich mit der Gründung der Zeitschrift Akzente 1957 – Phase der institutionalisierten Rezeption. Diese Institutionalisierung konstatiert Enzensberger selbst in der ›Nachbemerkung‹ zur Neuauflage des Museums der modernen Poesie 1979: 261 262 263 264 265

266

Museum der modernen Poesie. Enzensberger, Einzelheiten, S. 255–272. Museum der modernen Poesie, S. 765–784. Ebd., S. 786. Vgl. Dieter Lamping, »Gibt es eine Weltsprache der modernen Poesie? Über W.C. Williams’ deutsche Rezeption«, in: Ders., Literatur und Theorie. Poetologische Probleme der Moderne, Göttingen 1996, S. 69–85, hier S. 71. Um nochmals Krölls Formulierung aufzugreifen; vgl. Friedhelm Kröll, »Anverwandlung der ›klassischen Moderne‹«, in: Ludwig Fischer (Hrsg.), Literatur in der Bundesrepublik Deutschland bis 1967, München 1986, S. 244–262.

Rühmkorf und Enzensberger: Modernisierung und politische Lyrik

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Daß das Museum der modernen Poesie sich derart ähnlich geblieben ist, hat einen nahe liegenden, einfachen Grund: Im großen und ganzen war hier nicht viel »auf den neuesten Stand zu bringen«. Zwar steht dem Leser heute eine viel reichere Auswahl zur Verfügung als 1960, wo die deutsche Kultur noch einen ziemlich abgebrannten Eindruck machte; seither ist manches nachgeholt worden; zahlreiche Werkausgaben, Übersetzungen und Anthologien sind erschienen. Sie haben aber das Bild, das man hier entworfen findet, nicht umgestürzt, sondern komplettiert.267

Den Jahren vor 1960, die kulturell noch von der Katastrophe des Nationalsozialismus und des Krieges bestimmt waren, denen man aufgrund der Nähe zum »ideologischen Quark der westdeutschen Restauration«268 auch schwer habe entgehen können, wird die Zeit seit der Veröffentlichung des Museums gegenübergestellt; alles, was danach geschah, hat das dort erstmals entworfene System nur weitergeführt und ergänzt. Das Ende der Epoche der ›Anverwandlung‹ hat noch eine andere Folge. Der Begriff ›Anverwandlung‹ beschreibt einen unsystematischen, selektiven, teilweise sogar assoziativen Charakter der Beschäftigung mit Autoren der internationalen Moderne. Das gilt in den 50er Jahren nicht nur für die älteren der hier behandelten Autoren, sondern auch für jemanden wie Günter Grass, der neben Enzensberger und Rühmkorf als drittes Beispiel für die revidierte Wahrnehmung der Moderne Ende der 50er Jahre herhalten könnte.269 Mit Blick auf seine Lyrik der 50er Jahre hat er immer wieder auf die Heterogenität der für ihn relevanten literarischen Vorbilder hingewiesen: Er sei »gleichzeitig von Trakl und Apollinaire, von Ringelnatz und Rilke, von miserablen Lorca-Übersetzungen beeinflußt«270 gewesen. Die selektive ›Beeinflussung‹ wird nun seit etwa 1960 ersetzt durch einen zusehends analytischen, fast philologisch grundierten Zugriff. Der philologische Aspekt der Rezeption ist schon in Rühmkorfs differenziertem Parodie-Konzept erkennbar, das freilich im Vollzug noch hauptsächlich auf Autoren der deutschen Literatur angewandt wird. Der Paradigmenwechsel hat auch Auswirkungen auf die Art der produzierten Lyrik. Die selektive Wahrnehmung eröffnet zwar nicht mehr, wohl 267 268 269

270

Museum der modernen Poesie, S. 785. Ebd. Vgl. Fabian Lampart, »Come il narratore si fa poeta. Le liriche di Günter Grass«, in: Ex oriente picaro. L’opera di Guenter Grass, Maurizio Pirro (Hrsg.), Bari 2006, S. 3–26, bes. S. 23ff. Günter Grass, »Rückblick auf die Blechtrommel – oder Der Autor als fragwürdiger Zeuge. Ein Versuch in eigener Sache« [1973], in: Günter Grass, Essays und Reden 2, 1970–1979, Werkausgabe, Bd. 15, Volker Neuhaus, Daniela Hermes (Hrsg.), Göttingen 1997, S. 323–323, hier S. 326.

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Transformationen

aber andere produktive Spielräume als die stärker institutionalisierte, auf einer größeren Materialbasis beruhende Rezeption, die spätestens mit Enzensbergers Museum einsetzt. Die Präsenz der internationalen Moderne in Deutschland nach 1960 wird aufgrund der stärkeren Verfügbarkeit moderner Autoren eindeutiger: Die Konzentration auf – oft vermittelte – zentrale Denkfiguren der Moderne wird abgelöst durch eine undogmatischere und zugleich konzentrierter formale Rezeption. Die Möglichkeit, verschiedenste stilistische Varianten der Moderne durch die Zunahme von Übersetzungen und die dazugehörigen Publikationsorte schnell und verhältnismäßig unkorrumpiert wahrnehmen zu können, führt entsprechend zu einer stärker formal-stilistischen Rezeption. Die Versuche, die Lyriker der klassischen Moderne auf der ideologisch-gedanklichen Seite ihrer Ästhetiken einzuholen, sind erschöpft; ebenso treten die Strategien der Integration vermeintlich ›moderner‹ Denkfiguren in die Gedichttexte nun in den Hintergrund. All das wird substituiert durch immer elaboriertere Kombinationen und Montagen stilistischer Variationen, durch »zahllose Dialekte«,271 wie Enzensberger selbst konstatiert; was den Übergang in eine Art ›postmoderne‹ Phase anzeige.272 Es ist ein bemerkenswertes Charakteristikum von Enzensbergers eigener Position, dass er nicht nur ein Agent beim Abschluss der Anverwandlungs- und Assimiliationsphase der modernen Lyrik war, sondern zugleich auch einer der ersten Vertreter der neuen, wenn man so will: polystilistisch-postmodernen Phase; und, in seiner Funktion als Kurator des Museums der modernen Poesie, auch deren erster Kommentator.

271 272

Museum der modernen Poesie, S. 786. Vgl. Lamping, »Gibt es eine Weltsprache der modernen Poesie?«, S. 70.

Resümee und Ausblick

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Resümee und Ausblick

»In Search of the Lost Language«:1 Unter diesem Titel beschrieb Hans Magnus Enzensberger in einem Aufsatz für das englische Magazin Encounter 1963 die Lage der deutschen Lyrik nach dem Zweiten Weltkrieg. Die kulturelle Isolation der Jahre zwischen 1933 und 1945 habe, so Enzensberger, dazu geführt, dass innerhalb der deutschen Grenzen eine »German literature of more than parochial significance«2 nicht existieren konnte. Im Frühjahr 1945 sei die Zerstörung nicht nur materiell, sondern auch mental gewesen, und das Medium, in dem sich all diese Verwüstungen niedergeschlagen hätten, sei die Sprache. Jeder Lyriker, der nach 1945 Lyrik deutscher Sprache schreiben wollte, sei mit dieser Ausgangsfrage konfrontiert gewesen: »How to write poetry in a language thus distorted was a question every German poet has had to answer since 1945.«3 Und alle Wege zur Lösung des Dilemmas seien verstellt gewesen. Die Alltagssprache war von der nationalsozialsozialistischen Propaganda, noch mehr aber von der Erfahrung der zwölfjährigen Diktatur kontaminiert, und die Traditionslinien der modernen Lyrik seit 1910 seien unterbrochen gewesen: »What was tradition? Certainly not what Fascism had put forward as literature. In Germany the tradition of modern literature since 1910 had for fifteen years been burned, banned, and forgotten.«4 Vor diesem Hintergrund sieht Enzensberger die Entwicklung der deutschen Lyrik nach 1945 als einen Versuch, sich die Sprache der modernen Lyrik wieder zu erschreiben. Enzensbergers radikale Diagnose einer deutschen Lyrik, die nach 1945 keinerlei Anknüpfungspunkte mehr habe, steht am Beginn des Aufsatzes. Darin ist sie ein Spiegelbild der Diskussionen der späten 40er Jahre, in denen die Möglichkeiten des Neubeginns vom Bewusstsein einer vermeintlich allumfassenden kulturellen Krise und abendländischer Endzeitstimmung überlagert waren. Einige der Ideen und Konzepte aus dem Inventar der Krisendiskurse wurden in dieser Untersuchung rekonstruiert. Ihre Entsprechungen im literarischen Feld fanden sie in der Rede von der ›Stunde Null‹ und in Programmen, die, von der Paralyse der Zerstörung ausgehend, 1

2 3 4

Hans Magnus Enzensberger: »In Search of the Lost Language«, in: Encounter 21/1963, 3, S. 44–51. Ebd., S. 44. Ebd., S. 45. Ebd.

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eine ›neue‹ Literatur projektierten – also in den postulatorischen Ästhetiken der ›Trümmerlyrik‹ oder des ›Kahlschlags‹. Enzensberger liest Eichs »Inventur« als einen Ansatz, nach der Katastrophe wieder sprechen zu lernen: »The text sounds like a man learning to speak […]«; und eben dies sei »the position of German literature after the war: it had to learn its own language.«5 Interessanterweise wird im Fortgang des Essays schnell klar, dass es trotz der augenscheinlich allumfassenden Zerstörung im Jahr 1945 und der daraus entstehenden Trümmerästhetik auch ganz andere Anknüpfungspunkte für die Nachkriegslyrik gab. Enzensberger reflektiert in seinem Aufsatz Grundpositionen der Mentalitätsgeschichte der Nachkriegszeit. Die Rede vom Nullpunkt und vom absoluten Neuanfang in Ruinen erwies sich nach seiner Auffassung bald als Chimäre: »there was no escape from the past«.6 Nach dem kurzen Zwischenspiel der Trümmerästhetik hätte sich in dieser Situation auch die Lyrik auf die Traditionsbestände beziehen müssen, die zur Verfügung standen – und das sei nun einmal vor allem die Naturlyrik gewesen, »a German speciality from of old.«7 Auch wenn Enzensberger auf die romantischen Ursprünge der Naturlyrik hinweist und damit ihre Anschlussfähigkeit für das subjektivistische Paradigma der klassisch-romantischen Ästhetik markiert, ist für ihre modernen Fortschreibungen entscheidend: »Via the Symbolism of the turn of the century this nature poetry infected a branch-line of Expressionism; as it followed this path side of which was in flight from history and hostile to civilisation came increasingly to the fore.«8 Die Naturlyrik wird also, ganz im Gegensatz zu der Beschreibung der kulturellen Verwüstung um 1945 zu Beginn des Aufsatzes, als Anknüpfungspunkt für eine Erneuerung der deutschen Lyrik in Erwägung gezogen. In Enzensbergers Aufsatz deuten sich Probleme an, die für die Entstehung und Ausbildung einer Nachkriegsmoderne in der deutschen Lyrik beherrschend waren und die auch im Gang dieser Untersuchung als leitende Fragen immer wiederkehren. Zunächst hat man es nach 1945 mit einer literaturgeschichtlich relativ ungewöhnlichen Situation zu tun: Die historische Ausgangslage der Zerstörung und der Zivilisationskatastrophe des Jahres 1945 scheint so erschütternd und so unausweichlich, dass sie ein unmittelbares Bedürfnis danach erzeugt, individuell vertretbare Positionen dazu zu for5 6 7 8

Ebd. Ebd. Ebd. Ebd., S. 45f.

Resümee und Ausblick

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mulieren. Auf der Ebene des kulturellen Selbstverständnisses führt das zu intensiven Diskussionen.9 Allerdings sind literarische Antworten auf historisch-politische Ereignisse oftmals vermittelter, als das aus der Nahdistanz erkennbar ist. Deshalb mag es problematisch sein, in diesem Zusammenhang von ›Reaktionen‹ zu sprechen, da die jeweiligen Positionen und Positionierungen einzelner Autoren oft nur über vielstufige Vermittlungslinien aus einem öffentlichen Diskussionsraum in literarische Texte gleichsam diffundieren. Aber andererseits hatte das Datum ›1945‹ mit allen unmittelbaren Konsequenzen für die Zeitgenossen eine Massivität, angesichts derer die langsamen Mechanismen kultureller Verarbeitung scheinbar außer Kraft gesetzt waren. Scheinbar, denn was in Diskussionen und Debatten über die Krise des Abendlandes und der Kultur gesagt wurde, konnte, wenn man von Benns über lange Jahre eingeübtem kulturpessimistischen Slang absieht, wohl gar nicht unmittelbar in literarische und poetologische Konzepte und schließlich in Literatur transformiert werden. Auch die radikalsten Ansätze, den materiellen und kulturellen Zusammenbruch zu behandeln, die Ästhetiken der ›Trümmerlyrik‹ und des ›Kahlschlags‹, machten umgehend die Grenzen ihrer Möglichkeiten sichtbar. Der poetologische Kern der ›Trümmerlyrik‹ lag in der Reduktion auf eine für das Subjekt unmittelbar sichtbare Realität als ästhetische Alternative zu einer Lyrik, die Emotionen performativ gestaltete, betonte und deshalb auch für ideologische Konnotationen instrumentalisiert werden konnte. Lakonische Knappheit der Sprache und eine Absage an metrisch-rhythmische Elaboriertheit waren die Hauptkennzeichen dieses vergeblichen Versuchs, die Kontinuität zur zwischen 1933 und 1945 in Deutschland entstandenen Lyrik zu unterbrechen. Gerade die Thematisierung der Wahrnehmungsbedingungen des Subjekts aber verbindet die ›Trümmerlyrik‹ mit den Poetiken, von denen sie sich absetzen will. Auch in diesem Fall einer dezidierten ›Negation von Tradition‹10 wird also erkennbar, dass eine Erneuerung der deutschen Lyrik in Nachkriegszeiten ohne die Fortschreibung und Transformation bereits bestehender Ästhetiken nicht denkbar war. Dass auch die Lyrik auf die Katastrophe zu reagieren habe, formulierte am prominentesten Adorno im bekannten Diktum, »nach Auschwitz ein

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Vgl. dazu ausführlich Wolf Lepenies, Kultur und Politik. Deutsche Geschichten, München, Wien 2006, bes. S. 269–299. Vgl. Wilfried Barner, »Über das Negieren von Tradition. Zur Typologie literaturprogrammatischer Epochenwenden in Deutschland«, in: Reinhart Herzog/ Reinhart Koselleck (Hrsg.), Epochenschwelle und Epochenbewußtsein, München 1987, S. 3–51.

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Gedicht zu schreiben, ist barbarisch«.11 Die Diskussion um Adornos Aussage12 verdeutlicht aber wiederum, wie lange es dauerte, bis dieser Gedanke aus dem kulturellen Debattierraum sich in der lyrischen Praxis kondensierte. Adorno passte seine Aussage im Lauf der 60er Jahre dem gemächlicheren Entwicklungsgang der Nachkriegslyrik an, weil die in den späten 40er Jahren virulenten Forderungen nach einem radikalen Neuanfang bald den langsameren Bewegungen literarischer Evolution und Transformation wichen.13 Autorenkommentare zu Adornos ›Denkanregung‹ ließen ohnehin auf sich warten, nämlich fast bis zum Ende der 50er Jahre. Der erste, der deutlich Position bezog, war einmal mehr Hans Magnus Enzensberger – immerhin erst 1959;14 ihm folgten bald Alfred Andersch, Paul Celan, Peter Rühmkorf und viele andere.15 Soweit also die Lyriker als Agenten von Adornos Diktum betroffen waren, erreicht die Debatte ihren Höhepunkt erst in den 60er Jahren. Die Lyrik der 50er Jahre, das wird dabei einmal mehr deutlich, ist gekennzeichnet von Poetiken des Übergangs und von der langsamen Modifikation und Anpassung bestehender Ästhetiken an das, was man in langen Diskussionen als modernes Schreiben zu verstehen und zu definieren versucht. Enzensberger formuliert in seinem kurzen und notwendig pointierten Essay eine entscheidende Ambivalenz, die in diesen Poetiken der lyrischen Nachkriegsmoderne immer wieder als Kernproblem sichtbar wird: Alle Versuche, Erfahrungen der Zeitgeschichte, in welcher Form der Vermitteltheit auch immer, in lyrisches Sprechen zu übersetzen, stoßen an die poetologische Tradition der Naturlyrik. Diese hat ihrerseits eine dezidiert anthistorische Ausrichtung und möchte durch die sprachliche Annäherung an die Natur zu übergeschichtlichen, als ›seinsrelevant‹ und existentialistisch verstandenen Themen vorstoßen. Dass eine solche Kollision antagonistischer Prinzipien in einer ganzen Reihe von Fällen zu einer Lyrik führt, die man 11

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Theodor W. Adorno, »Kulturkritik und Gesellschaft«, in: Gesammelte Schriften, Bd. 10.1., Kulturkritik und Gesellschaft I. Prismen. Ohne Leitbild, Rolf Tiedemann (Hrsg.), Frankfurt am Main 1977, S. 11–30, hier S. 30. Vgl. Lyrik nach Auschwitz? Adorno und die Dichter, Petra Kiedaisch (Hrsg.), Stuttgart 1995. Vgl. ebd., S. 49–72. Im einzelnen handelt es sich um die Aufsätze »Jene zwanziger Jahre« (1962), »Engagement« (1962), »Meditationen zur Metaphysik« (1966), »Die Kunst und die Künste« (1966), »Ist die Kunst heiter« (1967), »Möglichkeit von Kunst heute« (1970, aus der Ästhetischen Theorie). Hans Magnus Enzensberger, »Steine der Freiheit«, in: Kiedaisch (Hrsg.), Lyrik nach Auschwitz, S. 73–76. Vgl. allesamt ebd., S. 76–85. Es handelt sich um Anderschs »Rede auf einem Empfang bei Arnoldo Mondadori«, Celans »Meridian« und Rühmkorfs »Einige Aussichten für Lyrik«.

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angesichts der Nachkriegssituation nur als eskapistisch bezeichnen kann, wurde seit Rühmkorfs bestechenden Formulierungen im Lyrischen Weltbild der Nachkriegsdeutschen oft genug kritisiert;16 und auch Enzensberger erspart seinen englischsprachigen Lesern nicht den beliebten Katalog skurril und absonderlich anmutender naturlyrischer Titel. Aber ihm entgeht auch nicht, dass trotz dieser Persistenz naturmagischer Produktion in den späten 40er Jahren die Entwicklung der deutschsprachigen Lyrik zur literarischen Moderne ohne die Transformationen, die auf der Basis der Naturlyrik stattfanden, nicht möglich gewesen wäre. Diese Transformationspoetiken, wie sie hier genannt wurden, sind von einer komplementären Gegenläufigkeit aus Modernisierung und Tradition gekennzeichnet. Das gilt, mit jeweils unterschiedlichen thematischen und formalen Varianten, für alle der hier behandelten Lyriker. Dabei verweist der Begriff Tradition in allen Fällen auf vergleichbare Fragen – nämlich auf die Auseinandersetzung mit bestehenden Poetiken, allgemeinen Vorstellungen über die Gattung Lyrik sowie auf Annahmen über die Gestaltung bestimmter lyrischer Genres und natürlich auf metrisch-rhythmische Aspekte lyrischen Sprechens. Unter Modernisierung dagegen versteht jeder Lyriker etwas anderes. Auffällig ist dabei, dass die oftmals vertretene Vorstellung einer Modernisierung als Annäherung an Schreib- und Sprechweisen der Lyrik der internationalen Moderne gegenüber der thematisch-motivischen Assimilation an bestimmte Moderne-Diskurse zweitrangig ist. Deshalb wird in dieser Untersuchung die These vertreten, dass der Prozess der ›Anverwandlung‹ der Moderne anders abläuft, als bisher angenommen.17 Es geht in den 50er Jahren nicht so sehr um eine Rezeption der internationalen Moderne als vielmehr darum, die verschiedenen Konzeptionen, die mit dem Moderne-Begriff verbunden sind oder die mit ihm verknüpft werden können, neu auszutarieren. Gerade für diejenigen Autoren, die 1945 bereits über die ästhetischen Traditionsbestände der Naturlyrik verfügen, ist Moderne zunächst ein fast ausschließlich negativ konnotiertes Begriffsbündel. Unmittelbare Folge davon ist es, dass das Bild- und Zeichenfeld Natur in vielen Texten der späten 40er Jahre zum historisch kontaminierten Raum wird. Die Zerstörungen des 16

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Peter Rühmkorf, »Das lyrische Weltbild der Nachkriegsdeutschen (1962)«, in: Ders., Schachtelhalme. Schriften zur Poetik und Literatur. Werke 3, Hartmut Steinecke (Hrsg.), Reinbek bei Hamburg 2001, S. 7–42. Auch hier sei nochmals an Krölls Aufsatz erinnert, in dem die Forschungspositionen der 70er und 80er Jahre zusammengefasst sind: »Anverwandlung der ›klassischen Moderne‹«, in: Ludwig Fischer (Hrsg.), Literatur in der Bundesrepublik Deutschland bis 1967, München 1986, S. 244–262.

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Kriegs verschaffen sich über die Natur Einlass in die Lyrik – Beispiele dafür finden sich bei Krolow oder Huchel, und Eich gestaltet in seinen Texten aus der Kriegsgefangenschaft vielleicht am eindeutigsten den Kontrast zwischen der vom Menschen verwüsteten und einer ehemals unberührten und außergeschichtlichen Natur. Viel wichtiger als diese thematische Integration einiger Aspekte oder Folgen der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs in die Ästhetik der Naturlyrik sind aber ihre Folgen seit etwa 1950. Denn nun geht es nicht mehr nur um materielle Zerstörung, sondern zunehmend um die Infragestellung der in den 30er Jahren noch als unproblematisch betrachteten ontologischen Erschließungsqualität der Natur. Günter Eich gestaltet die wachsenden Zweifel an den ehemals als entschlüsselbar geltenden Naturzeichen bis zu einem Punkt, an dem dieser Zugang offenbar weitgehend aufgegeben wird. Dass er für seine poetologisch-ideologischen Vorstellungen die mathematische Metapher vom trigonometrischen Punkt einsetzt, ist Anzeichen für einen Paradigmenwechsel, in dem antimoderne und traditionalistische Positionen langsam zugunsten eines avantgardistischen Denkens geräumt werden, das sich an technischen und naturwissenschaftlichen Denkfiguren inspiriert. Am ehesten hält Peter Huchel in den 50er Jahren daran fest, dass die Natur noch eine Verbindung zu archaischen und vorgeschichtlichen Konstanten ermögliche. Zugleich aber weicht er in seinen Texten zunehmend in eine Chiffrierungstechnik aus, die politische Aussagen ermöglicht, zugleich aber in einem gewissen Widerspruch zum Beharren auf der Aussagekraft der Naturzeichen steht. Karl Krolow schließlich entfernt sich von den naturlyrischen Ursprüngen am meisten, freilich indem er sie ersetzt durch einen sprachlichen Ästhetizismus surrealistischer Prägung: Gegen die diskursive und thematische Integration der Krisendiskurse setzt Krolow das freie Spiel metaphorischer Variationen, das sich wesentlich als textuelles Oberflächenphänomen manifestiert. Allen drei Autoren ist gemeinsam, dass die Aneignung eines lyrischen Sprechens der Moderne nicht nur auf der Basis der in die Krise geratenen Poetiken der Naturlyrik gestaltet wird, sondern geradezu produktive Fortschreibungen dieser Krise selbst darstellt. Beides ist nicht nur möglich, weil die Poetiken der Naturlyrik ihrerseits der Versuch waren, der avantgardistischen Moderne der 20er Jahre ein moderat-konservativeres Modell entgegenzusetzen, das gleichwohl die Neuigkeits- und Fortschrittsstruktur nicht vollständig aufgab. Gerade deshalb geht die Erkundung der modernen Lyrik bei Eich, Huchel und Krolow von der Thematisierung der Sprachkrise aus, deren Denkfiguren und Varianten sich ebenso in poetologischen Selbstkommentaren wie in Gedichten beobachten lassen. Das Sprechen über die Sprachkrise hat in den ersten Nachkriegsjahren die Funktion eines Transferdiskurses: Er

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erlaubt die Überführung kulturkritischer Krisentopoi in die literarische Ästhetik. Fragen nach Eigenschaften und Kennzeichen der Moderne werden stellvertretend in der Diskursivierung bestimmter Gemeinplätze des sprachkritischen Denkens diskutiert. Insofern ist es auch zwingend, dass Ingeborg Bachmanns und, in entscheidenden Aspekten, Paul Celans Überlegungen zu einer Lyrik, die sich aus dem Bewusstsein der historischen Katastrophe herschreibt, von Grundgedanken der sprachkritischen Diskussion ausgehen – freilich mit dem Impetus, der immer radikaleren krisenhaften Infragestellung lyrischen Sprechens mit Alternativen zu begegnen. Auch Bachmanns und Celans Poetiken liegen in erster Linie diskursiv-poetologische Konzeptionen der Sprachkrise zugrunde, die allerdings aufgrund der Radikalität in den Ansätzen beider Autoren zu ganz anderen Ergebnissen führen. Bachmanns Versuche, in der Lyrik eine von historischen und individuellen Erfahrungen gesättigte ›neue‹ Sprache zu schaffen, die schließlich in topographisch grundierten Utopien zu textuellen Konstrukten eigener sprachlicher Dimensionen führt, kann als Vorstufe zu Celans Anspruch gesehen werden, mit lyrischer Sprache eine radikale Evokation der Wirklichkeit zu erzeugen. Beide Versuche sind aber weiterhin als Aspekte einer Lyrik zu verstehen, die sich in erster Linie poetologisch konstituiert – auch wenn ihre Ziele darin liegen, bestimmte poetologisch festgeschriebene Gemeinplätze zu überwinden. Die Vorstellung von einer unmittelbar nach 1945 schwunghaft einsetzenden Internationalisierung der deutschsprachigen Lyrik, das wird aus diesen Beobachtungen deutlich, muss zumindest für die späten 40er und den größeren Teil der 50er Jahre revidiert werden. Ästhetische Modernisierung war zunächst nicht identisch mit Internationalisierung im Sinne der produktiven Rezeption eines frei verfügbaren Repertoires nicht-deutscher Lyriktraditionen. Darin unterscheidet sich die Lyrik möglicherweise von der erzählenden Prosa, wo die Öffnung zu Erzählmustern der nicht-deutschen klassischen Moderne zügiger vonstatten ging. Die Lyrik mit ihrem in der deutschsprachigen Kulturtradition spezifischen Repertoire an Vorstellungen von subjektiver Selbstaussprache, die durch die Dominanz der naturlyrischen Schule in den 30er und 40er Jahren, auch wenn das möglicherweise gar nicht in der Absicht ihrer Vertreter lag, bestärkt wurden, war das für die Öffnung in Bereiche des Metaphysisch-Existentiellen bevorzugte Genre. Die in den 30er und 40er Jahren entwickelten, aber erst nach 1945 wirksamen Lyrik-Konzepte Staigers oder Kaysers unterstreichen diese Diagnose und machen verständlich, warum vor jeder Internationalisierung – wie sie ja etwa bei Krolow durchaus intensiv stattfindet – viel wichtiger war, das Problem der Modernisierung diskursiv zu erkunden und zu verträglichen Formeln auszuhandeln. Die mit der

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Sprachkrise verbundenen Denkfiguren waren für diesen Zweck besonders brauchbar, da sie neben dem Anschluss an die kulturellen Krisendiskurse auch deren thematisch-ästhetische Gestaltung erlaubten. Parallel zu dieser modernistischen Transformation der poetologischen Grundlagen der Naturlyrik verläuft dann auch der Prozess der Veränderung der Lyrikkonzepte – ein weiteres Indiz für die Schwierigkeit, dominante traditionalistische durch modernistische Konzepte zu ersetzen. Auch Hugo Friedrichs Konzeption einer ›Struktur der modernen Lyrik‹, die sich seit 1956 durchsetzt und das Subjektivitätsparadigma endgültig ablöst – theoriegeschichtlich vielleicht ihr wichtigstes Verdienst –, leitet sich zu einem guten Teil aus den Krisendiskussionen der Nachkriegsjahre her. Nicht zuletzt ist das in Friedrichs formalisierten Strukturbegriffen erkennbar, die einen Teil der Krisensemantik weiterhin konnotativ mit sich tragen. Die Öffnung zur internationalen Lyrik wird also durch eine Vielzahl von mindestens ein Jahrzehnt andauernden Diskussionen vorbereitet; und parallel dazu entstehen auch innerhalb des Literaturbetriebs in Zeitschriften und Übersetzungen die institutionellen Möglichkeiten, die diese Internationalisierung unterstützen und intensivieren. Rühmkorf und Enzensberger stehen am Beginn dieser Institutionalisierung einer Rezeption der internationalen modernen Lyrik. Sie verläuft nicht mehr vorwiegend in diskursiven Begründungszusammenhängen, sondern orientiert sich praktisch an den nunmehr auch immer häufiger in Übersetzungen zugänglichen Texten moderner Lyriker. Bei Rühmkorf überwiegt dabei noch die parodistische Aktualisierung der deutschen Lyriktradition – deren andere Seite die polemische Betrachtung der Nachkriegslyrik ist. Enzensberger erfüllt seinen über Rühmkorfs polemische Parodien noch hinausgehenden selbstformulierten Anspruch, moderne Lyrik nach deren Ende zu schreiben, in zweierlei Varianten. Zum einen ediert und kommentiert er in zahlreichen Initiativen, von denen das Museum der modernen Poesie die prominenteste ist, die internationale Tradition der modernen Lyrik. Zum anderen behandelt Enzensberger in seiner eigenen Lyrik die bundesrepublikanische Gegenwart und ihre durch Restauration und Verdrängung der unmittelbaren Nachkriegsgeschichte erzeugten Deformationen in einer Vielzahl formaler und sprachlicher Varianten. Dadurch wird sowohl eine rhythmisch-metrische als auch die thematische Modernisierung der deutschsprachigen Lyrik im Anschluss an Adornos Vorstellungen aus Lyrik und Gesellschaft eingelöst. Enzensberger steht als Agent und als Kommentator einer von Stilvielfalt und produktiver Rezeption der internationalen Moderne geprägten Poetik am Beginn einer neuen Phase der deutschsprachigen Lyrik nach 1945. Die ideologisch-diskursive Nachkriegsmoderne, die sich über die Aufarbeitung der Krisendiskurse schrittweise Möglichkeiten schuf, Natio-

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nalsozialismus und Holocaust thematisch und in Einzelaspekten integrieren zu können, kommt nicht nur, aber auch mit Enzensberger an ihr Ende. Von nun an geht es nicht mehr um Annäherung, sondern um die Fortführung und Ausgestaltung der seit 1945 erschriebenen poetologischen Spielräume. Seit ungefähr 196018 steht nicht mehr die diskursive Erkundung bestimmter Moderne-Konzepte im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit, sondern die sehr konkrete Rezeption moderner Lyriker. Ein Beispiel dafür ist die von Enzensberger vorangetriebene Wahrnehmung William Carlos Williams’.19 Der Sonderweg einer deutschsprachigen Nachkriegsmoderne, der in der vorsichtigen Vermittlung bestimmter ideologisch besetzter ästhetischer Positionen mit den Vorstellungen einer Modernisierung bestand, kommt an sein Ende und weicht der Institutionalisierung, die vielleicht nicht sofort zu der von Enzensberger mehr oder weniger prophezeiten ›postmodernen‹ Beliebigkeit führt, aber doch zu einer Individualisierung und Aufsplitterung der in den 50er Jahren auf einen gemeinsamen Problemhorizont ausgerichteten Diskussionen um die Moderne. Somit hat die Institutionalisierung auch zur Folge, dass die Bindekraft des gemeinsamen Problems ›deutsche Lyrik nach 1945‹ nachlässt. Gut beobachten lässt sich das am Wandel der Funktion Walter Höllerers. War er in den 50er Jahren noch ein Avantgardist, der vor allem durch die im »Vorwort« zur Anthologie Transit vorgebrachten Thesen dem Bedürfnis nach einer diskursiven Fundierung der lyrischen Moderne gerecht wurde, so wird er um 1960 immer mehr zum institutionell sichtbaren Literaturvermittler. Höllerer hatte zwar von Anfang an eine akademische Laufbahn eingeschlagen – 1949 promovierte er an der Universität Erlangen –, aber spätestens mit der Veröffentlichung seines Gedichtbands Der andere Gast im Jahr 1952 setzte er auch ästhetische und programmatische Markierungen, in denen sich die Tendenz zeigte, die Segmentierungen des Literaturbetrieb nicht zu akzeptieren, sondern stattdessen die verschiedenen Teilbereiche von Literatur, Literaturkritik und Literaturwissenschaft zu verbinden.20 18

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In zwei aktuellen Sammelbänden wird die Relevanz des Jahres 1959 als eine Art ›Wendejahr‹ mit bedenkenswerten Argumenten vertreten; vgl. Günter Häntzschel/Sven Hanuschek/Ulrike Leuschner (Hrsg.), Das Jahr 1959 in der deutschsprachigen Literatur, München 2009; Matthias Lorenz/Maurizio Pirro (Hrsg.), Wendejahr 1959? Die literarische Inszenierung von Kontinuitäten und Brüchen in gesellschaftlichen und kulturellen Kontexten der 1950er Jahre, Bielefeld 2011. Vgl. Dieter Lamping, »Gibt es eine Weltsprache der modernen Poesie? Über W.C. Williams’ deutsche Rezeption«, in: Ders., Literatur und Theorie. Poetologische Probleme der Moderne, Göttingen 1996, S. 69–85. Vgl. Elefantenrunden. Walter Höllerer und die Erfindung des Literaturbetriebs, Ausstellungsbuch, Helmut Böttiger (Hrsg.), Lutz Dittrich (Mitarbeit), Berlin 2005 (Texte aus dem Literaturhaus Berlin, 15), S. 13.

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Resümee und Ausblick

Mit dem Gedichtband hatte Höllerer einen eigenen Beitrag zur Ästhetik der ›Kahlschlagliteratur‹ geliefert, indem er das Programm der Verknappung und Antirhetorik aus den unmittelbaren Nachkriegsjahren mit Ansätzen einer Poetik der Moderne verband. Es ist charakteristisch für Höllerers Karriere, dass eine der wichtigsten Folgen der Publikation des Gedichtbandes beim Hanser-Verlag zwei Jahre später die Gründung der Akzente war. Die positiven Reaktionen auf den Band, unter anderem auch von Günter Eich,21 führten also nicht zu einer Karriere als Lyriker, sondern dazu, dass Höllerer das Konzept, in seinen eigenen Worten: »die Utopie einer wirklich bejahbaren Z[eit]s[chrift] für Dichtung«22 entwickelte, in der sowohl »Originalbeiträge[ ], deutsche[ ]«, als auch »Aufsätze[ ] zur Dichtung (aber nur Dichtung, nichts anderem)« und »ein[ ] kritische[r] Teil« enthalten sein sollten.23 Damit war die Ausrichtung der Akzente skizziert.24 Für Höllerer aber bedeutete die Gründung der Zeitschrift noch mehr: Es trat damit sein »Bestreben in den Vordergrund, in der literarischen Szene offen als Akteur mitzumischen: als Zeitschriftenherausgeber, als Vermittler, als Essayist und Kritiker.«25 Die Akzente markieren also den Beginn einer in all ihrer Besonderheit für die deutsche Nachkriegsliteratur spezifischen und exemplarischen Karriere. Nach Der andere Gast wurde in Höllerers Produktion der essayistisch-literaturkritische und literaturwissenschaftliche Anteil immer stärker, und die Rolle, die er im literarischen Leben ausfüllte, konzentrierte sich immer mehr auf die des Literaturvermittlers. Sie ist kaum verständlich ohne das Programm der Akzente: Im bereits zitierten Brief an Britting, wo noch vage von ›Kräften‹ die Rede ist, »ältere[n] wie jüngere[n], die in einer im guten Sinne zugleich ›modernen‹ wie ›bewahrenden‹ Z[eit]s[chrift] erscheinen können«,26 ist es bereits vorgeformt: Es geht um die Integration der Moderne in die deutsche Lyrik. Die Akzente sollen »eine Mitte werden […] für konstruktive, nicht irgendwelchen konfessionellen oder politischen Formeln frönende Geister«.27 Helmut Böttiger resümiert dieses Suchbild aus dem Jahr 1953: »Höllerer will die Moderne, aber

21 22 23 24

25 26 27

Vgl. ebd., S. 18f. Walter Höllerer, »Brief an Georg Britting«, in: Elefantenrunden, S. 19–21, hier S. 19. Ebd. Vgl. zur Gründungsphase und zur Entwicklung der Programmatik der Akzente grundlegend: Susanne Krones, Akzente im Carl Hanser Verlag. Geschichte, Programm und Funktionswandel einer literarischen Zeitschrift 1954–2003, Göttingen 2009. Höllerer, »Brief an Georg Britting«, S. 21. Ebd., S. 19. Ebd.

Resümee und Ausblick

455

weiß noch nicht so recht, wie sie zu fassen ist.«28 Das Ziel, die Tradition der Moderne, sowohl der deutschsprachigen, aber noch vielmehr der internationalen, in die deutsche Literatur zu reintegrieren, bestimmt Höllerers Arbeit. Noch deutlicher wurde diese Intention im »Vorwort« zu Transit,29 das als eine wichtige Station im Prozess der Ausformulierung verschiedener poetologischer Projekte betrachtet wurde. Das Programm der Modernisierung trägt aber, wie man bereits an Enzensberger sehen konnte, zur eigenen Institutionalisierung – und damit indirekt zu seiner Aufhebung bei. Das in der ersten Nummer der Akzente aus dem Jahr 1961 dokumentierte Symposion Lyrik heute hat so gesehen eher dokumentarischen Charakter und versucht die, wie Höllerer selbst eingesteht, »verschiedene[n] Wege«30 der deutschen Lyrik nach 1945 in revueartiger Zusammenschau vorzuführen. Die Dringlichkeit der Frage nach der Modernisierung kann als Bindeglied für die Lyrik der späten 40er und der 50er Jahre gesehen werden – das wurde im Verlauf dieser Untersuchung gerade an jenen Lyrikern gezeigt, die nicht expliziten Avantgarde-Strömungen zuzurechnen sind. Auch ein weiterer Versuch Höllerers, eine den Erkundungen der 50er Jahre vergleichbare Diskussion ästhetischer Möglichkeiten der modernen Lyrik zu entfalten – die 1965 publizierten »Thesen zum langen Gedicht«31 – hatte trotz der Unterstützung durch das Forum der Akzente keine Auswirkungen, die mit den Grundsatzdiskussionen der 50er Jahre vergleichbar gewesen wären. Karl Krolow versuchte zwar, die Diskussion in einem Aufsatz zum »Problem des langen und kurzen Gedichts – heute«32 aufzunehmen. Aber gerade die gleich zu Beginn dieses Aufsatzes geäußerte Beobachtung der extrem »raschen Entwicklung, in der die zeitgenössische Lyrik steht«,33 verrät, dass auch eine institutionell mehrfach gestützte Diskussion nicht mehr den Charakter der ebenso offenen wie richtungsweisenden Orientierungsphase der späten 40er und der 50er Jahre hat. Es ist eine Diskussion innerhalb des gefestigten Literaturbetriebs, in der wichtige ästhetische Ansätze diskutiert und rezipiert werden, aber über die Frage, in welchen Rahmen von Moderne-Vorstellungen sie einzuordnen seien, besteht Konsens.34 Die ein28 29

30 31 32 33 34

Ebd., S. 22. Vgl. Walter Höllerer, Transit. Lyrikbuch der Jahrhundertmitte, mit Randnotizen von Walter Höllerer (Hrsg.), Frankfurt am Main 1956, S. IX–XVII, bes. S. X. Akzente 1/1961, S. 2. Akzente 2/1965, S. 128–130. Akzente 3/1966, S. 271–287. Ebd., S. 271. Vgl. ausführlich Gregory Divers, The image and influence of America in German poetry since 1945, Rochester, NY 2002, bes. S. 66–79.

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Resümee und Ausblick

zelnen Gattungen haben sich ihre je eigenen, den neuen Parametern der Nachkriegszeit angepassten Gesetzmäßigkeiten erschrieben, die jetzt innerhalb dieses Rahmens weiter diskutiert und modifiziert, aber nicht mehr grundsätzlich in Frage gestellt werden. Höllerers Anregungen erzeugen noch Impulse, verdeutlichen aber eher die Grenzen der Möglichkeiten, nochmals eine Art Leitdiskussion zu installieren, die, wie vielleicht von Höllerer selbst erhofft, eine weitere Phase der Rezeption der Moderne prägen konnte. Die Impulse für die Lyrikentwicklung der 60er und 70er Jahre kommen dann aus ganz anderen kulturellen und gesellschaftlichen Diskussionszusammenhängen; Höllerers Anregung hat den Charakter eines Einzelproblems. Die nach 1945 offene Frage der lyrischen Nachkriegsmoderne – die Frage nach einer Lyrik, die zugleich einen affirmativen Anschluss an die ästhetischen Möglichkeiten der lyrischen Moderne schaffen und den historischen und gesellschaftlichen Bedingungen der deutschen Nachkriegszeit gerecht zu werden versuchte – ist um 1960 fürs Erste beantwortet.

Primärtexte, Werkausgaben

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Wissenschaftliche Literatur

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Personen- und Werkregister

Adorno, Theodor W. 47, 57–60, M125, 133, 388, 410, 434, 440, 447f. – Ästhetische Theorie 448 n. 13 – Dialektik der Aufklärung 259 – »Die Kunst und die Künste« 448 n. 13 – »Engagement« 448 n. 13 – »Ist die Kunst heiter« 448 n. 13 – »Jene zwanziger Jahre« 448 n. 13 – »Meditationen zur Metaphysik« 448 n. 13 – »Möglichkeit von Kunst heute« 448 n. 13 – Rede über Lyrik und Gesellschaft 57–60, 256, 388, 439f., 452 Aichinger, Ilse – Die größere Hoffnung 292 Alberti, Rafael 244, 245 n. 199, 251 Andersch, Alfred 44–46, 412, 448 – Das junge Europa formt sein Gesicht 44f. – »Die deutsche Literatur in der Entscheidung« 46 – »Rede auf einem Empfang bei Arnoldo Mondadori« 448 n. 15 Andres, Stefan 76 Antschel, Paul f Celan, Paul Apollinaire, Guillaume 79, 242f., 443 Aristoteles 43 Auden, W. H. 108 Bach, Johann Sebastian 326 – Kunst der Fuge 326 Bachmann, Ingeborg 5–7, 13, 22, 29, 39, 56f., 71f., 93f., 100, 131, 134, 162, 191, 219, 255–308, 328, 343, 382–385, 394, 438, 451 – »Alle Tage« 292 – »Anrufung des großen Bären« 293–296 – Anrufung des großen Bären 131, 264, 278, 281, 293, 296, 298f., 302, 304, 306–308, 343 – »Ausfahrt« 290 – »Beweis zu nichts« 287f.

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Das dreißigste Jahr 264 »Das erstgeborene Land« 293, 299f. Das Lächeln der Sphinx 259f. »Das schreibende Ich« 267 »Das Spiel ist aus« 293, 296–298 »Das Unglück und die Gottesliebe – Der Weg Simone Weils« 294 – »Die gestundete Zeit« 282–286, 290f. – Die gestundete Zeit 131, 264, 281f., 286, 288f., 291, 293, 296, 302, 306f., 343 – Die kritische Aufnahme der Existentialphilosophie Martin Heideggers 257f. – »Fragen und Scheinfragen« 265–267 – »Früher Mittag« 290–292 – »In Apulien« 300–304 – »Landnahme« 293, 298f. – »Ludwig Wittgenstein« 260 – »Mein Vogel« 293, 304 – »Menschenlos« 286f. – Probleme zeitgenössischer Dichtung (Frankfurter Vorlesungen) 39, 131, 193, 264–281, 293, 304f., 307 – »Sagbares und Unsagbares« 261 – »Über Gedichte« 267 – »Von einem Land, einem Fluß und den Seen« 293 – Was ich in Rom sah und hörte 261 Bachofen, Johann Jakob 170, 175 – Das Mutterrecht 170, 174f. Bachtin, Michail 354 Barner, Wilfried 11, 105 – (Hrsg.) Geschichte der deutschen Literatur von 1945 bis zur Gegenwart 19 Bartel, Kurt 126 Barthes, Roland 435 – Mythologies 435 n. 225 Bartsch, Kurt 279 Baudelaire, Charles 53, 55, 113, 180, 355 – »Le gouffre« 258 Bayerdörfer, Hans-Peter 89f. Beckett, Samuel 267 Beiken, Peter 257f. Bekes, Peter 406

486 Bender, Hans 77–84 – (Gründer, Hrsg.) Akzente 442, 454f. – (Hrsg.) Mein Gedicht ist mein Messer 347, 352, 435f. – (Hrsg.) Widerspiel 62, 77–84 Benjamin, Walter 259–261 – Aufgabe des Übersetzers 356 Benn, Gottfried 5f., 23, 29, 35–37, 49f., 56, 69, 71, 85, 87f., 91–93, 101f., 106–121, 128–130, 139, 141, 143, 192, 197, 276, 284, 289, 312, 328, 344, 382, 387, 392f., 400, 404–411, 412 n. 144, 413, 436, 438, 447 – Apréslude 116 – »Bar« 117 – Der Ptolemäer 109–112 – Destillationen 116f. – Doppelleben 110f., 117 – »Fragmente« 117 – Fragmente 116–118 – »Konfetti« 117 – Probleme der Lyrik 18, 81, 91f., 106f., 109, 113–118, 344, 442 – Rönne-Novellen 139, 267, 270 – »Statische Gedichte« 111–113 – Statische Gedichte 111, 113, 284, 289, 382 – »Verlorenes Ich« 111f. Bergengruen, Werner 67, 69, 71, 76 Bermann Fischer, Gottfried 143 Bielefeld, Michael 406 Biermann, Wolf 88 Bild 414f. Billinger, Richard 71 Bingel, Horst 77–84 – (Hrsg.) Deutsche Lyrik 62, 77–84 Blamberger, Günter 15 Bloch, Ernst 279 Böckmann, Paul 47 Böhme, Jakob 170 Böll, Heinrich 104f. – »Bekenntnis zur Trümmerliteratur« 104 Böttiger, Helmut 73, 454f. Bollack, Jean 309 n. 2, 322, 325, 364, 379 Bollenbeck, Georg 27 Borchardt, Rudolf 69

Personen- und Werkregister Borchert, Wolfgang 391 Brahms, Johannes – Deutsches Requiem 322 Braun, Volker 88 Brecht, Bertolt 6, 23, 29, 69, 71, 85, 87f., 101f., 119–130, 153, 188, 289, 328, 382, 409f., 424f., 430–432 – »An die Nachgeborenen« 188, 430, 432 – Aufbaulied der F.D.J. 125 – »Böser Morgen« 127f. – Buckower Elegien 119, 125f. – »Der Blumengarten« 126 – »Der Einarmige im Gehölz« 126 – »Der Radwechsel« 439 – »Der Rauch« 126 – »Die Lösung« 125f. – Hauspostille 430 – »Heißer Tag« 126 – Hundert Gedichte 1918–1950 119, 130 – Kinderlieder 125 – Kleines Organon für das Theater 18 – Kurzer Bericht über 400 (vierhundert) junge Lyriker 121f. – Leben Eduards des Zweiten von England 122 – Lesebuch für Städtebewohner 123, 289 – »Rudern, Gespräche« 126 – »Schlechte Zeit für Lyrik« 123f., 127 – Svendborger Gedichte 123, 430f. – Über reimlose Lyrik mit unregelmäßigen Rhythmen 122 – »Vom armen B.B.« 430 – »Vor acht Jahren« 126 Brentano, Clemens 50, 153, 204 Breton, André 197 Briegleb, Klaus 318 Britting, Georg 69 Büchner, Georg 209–211, 348 – Dantons Tod 349 – Lenz 347–349, 351 – Leonce und Lena 209–211 Bürger, Christa 305 Bürger, Gottfried August 397 Buck, Theo 319, 325

Personen- und Werkregister Carossa, Hans 67, 69, 71, 76, 93 Cassirer, Ernst 52 Celan, Paul 5, 7, 13, 29, 56f., 70–72, 94, 100, 131, 134, 162, 191, 206, 262, 267, 276–279, 305–385, 394f., 438, 448, 451 – »Antwort auf eine Umfrage der Librairie Flinker« 339–342 – Atemwende 341, 376 – Bremer Rede 278, 315, 334, 341, 343–346, 367 – »Bretonischer Strand« 311 – Der Sand aus den Urnen 310, 316 – »Der Sand aus den Urnen« 316 – Die Dichtung Osip Mandelstamms 361–363 – Die Niemandsrose 341, 354 – »Ein Brief« 347, 352 – »Ein Knirschen von eisernen Schuhn ist im Kirschbaum …« 328–333 – »Engführung« 310–313 – »Espenbaum« 332 – Fadensonnen 341 – Flimmerbaum 358 – »Gemeinsam« 336 – Lichtzwang 341 – Meridian 308–310, 313, 315, 327, 341, 346–355, 360–363, 366, 372, 375, 448 n. 15 – »Mit Äxten spielend« 336 – Mohn und Gedächtnis 277, 310, 312, 316–339 – Sprachgitter 131, 264, 277f., 306f., 310f., 315f., 327, 340f., 353f., 364–378 – »Sprich auch du« 312f., 337–339 – »Stimmen« 366–378 – »Strähne« 336 – »Todesfuge« 131, 276, 309 n. 2, 312, 316–339, 342, 347, 378, 381, 383 – Von Schwelle zu Schwelle 277, 311, 316–339 – »Zähle die Mandeln« 332–336 Céline, Louis Ferdinand 267 Cervantes, Miguel de – Don Quijote 329 Claudius, Matthias 397, 402 – »Abendlied« 387, 399–404

487 Curtius, Ernst Robert 42–44 – Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter 51 – »Goethe – Grundzüge seiner Welt« 42f. Daemmrich, Horst S. 254 – Messer und Himmelsleiter 254 Däubler, Theodor 69 Dante Alighieri 42f. Davies, Peter 9, 28, 154, 171 Demetrios 189 Demetz, Peter 70 Der Ruf 44 Der Skorpion 138 Die Kolonne 89f., 96, 100, 132, 136, 138, 154, 164–166, 172f. Die literarische Welt 165, 171 Diebold, Bernhard 136 Döblin, Alfred 29 – Bau des epischen Werks 18 Donahue, Neil H. 214–218, 222–224, 227f., 235, 254 – Karl Krolow and the Poetics of Amnesia 214–218, 222–224, 227f., 235, 254 Dostojewskij, Fjodor 267 Dutt, Carsten 135 Eco, Umberto 435 – Apocalittici e integrati 435 n. 225 – Diario minimo 435 n. 225 Eggers, Ingrid – Veränderungen des Literaturbegriffs im Werk von Hans Magnus Enzensberger 434 n. 218 Eich, Günter 5f., 11, 29, 59, 69–71, 83, 89, 93f., 99f., 102f., 105, 119f., 130–168, 173, 182, 191, 193, 219, 237, 240, 255f., 262, 267, 305, 308, 310f., 328, 344f., 379, 381f., 384f., 391, 393f., 432f., 437, 450, 454 – Abgelegene Gehöfte 148, 155, 157 – »Angst« 159f. – »Bemerkungen über Lyrik« 136f. – »Betrachtet die Fingerspitzen« 275 – »Blick nach Remagen« 157, 159 – »Botschaften des Regens« 151 n. 85, 160f.

488 – Botschaften des Regens 148, 151 n. 85, 152, 159f., 162–164 – Büchnerpreis-Rede 147f. – »Camp 16« 157 – »D-Zug München–Frankfurt« 161 – »Der Mann in der blauen Jacke« 162 – »Der Nachmittag« 159 – »Der Schriftsteller 1947« 138–140 – »Der Schriftsteller vor der Realität« 144–146, 344 – »Die Häherfeder« 148–151, 153 – »Die Herkunft der Wahrheit« 163 – »Die heutige Situation der Lyrik« 140f. – Gedichte 155 – »Gefangener bei Nacht« 157 – »Gegenwart« 161 – »Innere Dialoge« 136 – »Inventur« 102f., 105, 135, 157f., 432f., 446 – »Latrine« 157–159 – »Lazarett« 157 – »Rede vor den Kriegsblinden« 144f. – »Reise« 161f. – Sabeth 146 – »Tage mit Hähern« 148–153, 160 – »Thesen zur Lyrik« 148 – Träume 147 – Untergrundbahn 159f. – »Weg durch die Dünen« 155f. – »Weg zum Bahnhof« 159 – »Westwind« 161 – Zu den Akten 154, 162f. Eichendorff, Joseph von 50, 139, 399 Eliot, T. S. 29 n. 8, 35, 37, 79, 91, 107f., 113 – Four Quartets 37 – From Poe to Valéry 107 Eluard, Paul 79, 197, 242f., 364 Emmerich, Wolfgang 116, 312, 325, 336, 361 Encounter 445 Enzensberger, Hans Magnus 7f., 29f., 56f., 59, 72, 80, 93f., 100, 131, 162, 191, 267, 276, 307, 328, 382f., 385f., 395f., 408–445, 448f., 452f., 455

Personen- und Werkregister – »an einen mann in der trambahn« 413, 415–419 – Anatomie einer Wochenschau 435 – »april« 422f. – »aussicht auf amortisation« 419 – Bewußtseins-Industrie 434 – »bildzeitung« 413–415 – blindenschrift 409, 424, 426, 431, 434 – Brentanos Poetik 429 – Der Fall Pablo Neruda 434 – Die Aporien der Avantgarde 434 – Die Entstehung eines Gedichts 440 – »Die falschen Fünfziger« 418f. – Die Sprache des »Spiegel« 435 – Einzelheiten 410, 434, 442 – Einzelheiten I 434 – Einzelheiten II 434 – »fremder garten« 423f. – »geburtsanzeige« 413, 419f. – »gewimmer und firmament« 426 – »In Search of the Lost Language« 445f., 449 – »ins lesebuch für die oberstufe« 413 – Journalismus als Eiertanz 435 – »konjunktur« 419 – »landessprache« 426, 429f. – landessprache 409, 424–427, 430f., 434, 441 – »lock lied« 420f. – (Hrsg.) Museum der modernen Poesie 7, 386f., 410, 421, 442–444, 452 – »nänie auf den apfel« 432f. – »option auf ein grundstück« 419f., 422 – Poesie und Politik 434, 439f. – »schaum« 426–429 – »Scherenschleifer und Poeten« 435–437, 440 – »schläferung« 422 – Steine der Freiheit 448 n. 14 – »verteidigung der wölfe gegen die lämmer« 276, 413, 419 – verteidigung der wölfe 307, 409, 411–413, 419, 421f., 424–426, 430, 434 – »weiterung« 431f. – Weltsprache der modernen Poesie 434, 442

Personen- und Werkregister – William Carlos Williams 434, 438 – »zikade« 422 Erhart, Walter 22, 47f. Fehse, Willi 71 – (Hrsg.) Deutsche Lyrik der Gegenwart 71f., 76 Felstiner, John 312, 319, 322, 333 Follain, Jean 244, 245 n. 199, 250 – »L’heure du repas« 244 Fortini, Franco 410 Frank, Gustav 9, 25 n. 98, 29 Frankfurter Allgemeine Zeitung 435 Frick, Werner 19 n. 77 Fried, Erich 410 Friedrich, Hugo 47f., 55–57, 59, 81f., 108, 115f., 201, 252f., 380, 411, 452 – Die Struktur der modernen Lyrik 22f., 30, 55–57, 59, 81f., 115f., 201, 252 Gasser, Manuel 143 Genesis 325 George, Stefan 69f., 79, 113, 140f., 153, 275f. Gerhardt, Rainer Maria 4 Gide, André 267 Goes, Albrecht 69, 71, 76 Goethe, Johann Wolfgang von 31f., 38, 40–43, 46, 50, 402 – Faust 323 – »Wandrers Nachtlied« 50 Gogol, Nikolai 269 Goll, Claire 337 Goll, Ivan 69 Gomringer, Eugen 8, 395 Góngora y Argote, Luis de 427 Goßens, Peter 357f. Goya, Francisco de – »Kronos verschlingt seine Kinder« 258 Grass, Günter 83, 93f., 395f., 443 Grimm, Reinhold 113, 411f., 433f. n. 217, 438 Grillparzer, Franz 269 Groll, Gunter 63–68 – (Hrsg.) De Profundis 61–68, 79f. Gryphius, Andreas 242

489 Guillén, Jorge 219, 241–244, 245 n. 199 Guillevic, Eugène 244, 250 Gutjahr, Ortrud 265 Gutztat, Bärbel – Bewusstseinsinhalte kritischer Lyrik 409 n. 131 Haas, Willy 171 – (Hrsg.) Die literarische Welt 171 Hagelstange, Rudolf 67, 70f., 76, 93 Hamburger, Käte 54 – Die Logik der Dichtung 54 Hamburger, Michael – Wahrheit und Poesie 116 n. 120 Harbusch, Ute 353–360 – Gegenübersetzungen 353–360 Hauser, Arnold 39, 81 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 49 Heidegger, Martin 257–259 Heine, Heinrich 398 Heißenbüttel, Helmut 395 Hemingway, Ernest 36 Herbert, Ulrich 9 n. 24 Hermand, Jost 384 Hesse, Hermann 69 Heym, Georg 69, 143, 242 Hiebel, Hans H. 410, 427, 429 Hitler, Adolf 124, 170 Hocke, Gustav René 39, 81, 276 – Die Welt als Labyrinth 39 – Manierismus in der Literatur 39 Hölderlin, Friedrich 16, 153, 159, 399 – »Andenken« 159 Höller, Hans 281f., 286, 289, 296, 298f., 394 Höllerer, Walter 70f., 73–77, 80, 94, 201, 342, 453–456 – (Gründer, Hrsg.) Akzente 442, 454f. – Der andere Gast 453, 454 – (Hrsg.) Transit. Lyrikbuch der Jahrhundertmitte 62–78, 201, 342, 392, 453, 455 Hofmannsthal, Hugo von 69, 76f., 79, 113, 268, 270, 305 – Ein Brief (»Chandos-Brief«) 7, 76, 146, 267–270, 305 – »Lebenslied« 71

490 Hohelied 323 Holthusen, Hans Egon 29 n. 8, 35–38, 40–44, 55, 67–73, 92, 94, 108, 201, 289, 312, 326 n. 81, 328–330, 338, 355 n. 202, 391, 393, 412 – Der unbehauste Mensch 37f. – (Hrsg.) Ergriffenes Dasein 62, 67–73, 78, 80, 92 – »Goethe als Dichter der Schöpfung« 40–42 Homer 43 Horkheimer, Max – Dialektik der Aufklärung 259 – (Hrsg.) Zeugnisse 388 Huch, Ricarda 69 Huchel, Stephan [Sohn] 188 Huchel, Monika 171 n. 165 Huchel, Peter 6, 11, 29, 69–71, 83, 89, 99f., 103, 130–134, 164–191, 193, 237, 255f., 305, 308, 310f., 328, 379, 381f., 384f., 437, 450 – »Am Bahndamm« 176 – »Chausseen« 181f. – Chausseen Chausseen 169, 172, 180–182,185f., 189 – »Das Gesetz« 169, 172, 179–181 – »Das Zeichen« 182–186, 189 – »Der Garten des Theophrast« 186–191 – »Der glückliche Garten« 167f. – Der Knabenteich 171–173 – »Der polnische Schnitter« 168f., 177–179 – »Der Rückzug« 172, 176f., 181 – »Die Magd« 173–175, 177 – Gedichte 173, 175–177, 182, 184 – (Hrsg.) Sinn und Form 11, 166, 169, 172, 180, 188, 190 Huml, Ariane 299f. Husserl, Edmund 50 Hutchinson, Peter 187 Ivanovi´c, Christine 362, 367, 374f. – Das Gedicht im Geheimnis der Begegnung 362 Jahnn, Hans Henny 267 Jakobson, Roman 356

Personen- und Werkregister Janz, Marlies 331, 375 – Vom Engagement absoluter Poesie 331 Jens, Walter 83, 322 Jessenin, Sergei 79 Joyce, James 267, 271 Jünger, Friedrich Georg 69, 93 Kästner, Erich 69, 71 Kafka, Franz 36, 267, 271 Kandinsky, Wassily 77 Karcher, Simon 117f., 121, 125 Kasack, Hermann 67, 100 n. 52 Kaschnitz, Marie Luise 70f., 83, 267, 276 Kayser, Wolfgang 47, 51–54, 59, 451 – Das sprachliche Kunstwerk 51–54 Kemp, Friedrich 67–73, 92 – (Hrsg.) Ergriffenes Dasein 62, 67–73, 78, 80, 92 Kiesel, Helmuth 1 n. 3, 3 n. 12, 16–18, 29, 119 – Geschichte der literarischen Moderne 119 Kirsch, Sarah 88 Klabund 69 Klee, Paul 77 Kleist, Heinrich von 269, 440 Klessinger, Hanna 29 n. 8, 214, 219f. Klinger, Cornelia 15 Klinkert, Thomas 358, 380 Klopstock, Friedrich Gottlieb 399 Knörrich, Otto – Die deutsche Lyrik der Gegenwart. 1945–1970 236 – Die deutsche Lyrik seit 1945 21 Kohlroß, Christian 153 Kolonne f Die Kolonne Kolter, Gerhard 214–216, 219, 223, 228, 233, 254 – Der Lyriker Karl Krolow 214–216, 219, 223, 228, 233, 254 Korte, Hermann 133, 153, 255–257 – Deutschsprachige Lyrik seit 1945 18f., 133, 255–257 Krispyn, Egbert 153–155, 159–161 – Günter Eich 153 Kröll, Friedhelm 106 – »Anverwandlung der ›klassischen Moderne‹« 449 n. 17

Personen- und Werkregister Krolow, Karl 6, 22, 29, 69–71, 89, 92–94, 99f., 130f., 191–256, 262, 302, 305, 310–313, 328, 365, 381f., 384, 393, 422, 437, 450f., 455 – Aspekte zeitgenössischer Lyrik 192–202, 312f. – Auf Erden 222, 228, 248 – Ausgewählte Gedichte 252 – »Blätterlicht« 235, 237f. – »Das Wort als konkrete Materie« 365 – »Der Dichter spricht« 224f. – »Der Wald« 216f. – Die Barke Phantasie 241 – Die Zeichen der Welt 233f. – »Drei Orangen, zwei Zitronen« 243 – »Fische« 223 – Fremde Körper 212, 234f., 238 – Gedichte 222–227, 248 – »Gegenwart« 228 – Heimsuchung 222, 228, 248 – Hochgelobtes gutes Leben 216, 218 n. 116, 223, 248 – Intellektuelle Heiterkeit 205–208 – Intellektuelle Heiterkeit (Rede zur Verleihung des Büchner-Preises) 205f., 208–212, 237 – »Kurzes Unwetter« 223 – »Lobgesang« 226f. – »Neumond« 228 – »Nußernte« 218 n. 116 – »Ode 1950« 229f., 249 – »Oktoberlied« 224 – »Orte der Geometrie« 243 – »Robinson I« 235, 238f., 245 – »So nah am Tode« 218 n. 116 – Spanische Gedichte des XX. Jahrhunderts 241 – Tage und Nächte 234f., 237 – »Traum von einem Wald« 218 n. 116 – »Verfallene Laube« 228 – »Verlassene Küste« 231–236, 249, 251, 302 – »Waldmusik« 218 n. 116 – Wind und Zeit 234f. – »Worte« 235–237 Krüger, Michael 308 n. 1

491 Lacoue-Labarthe, Philippe 350 n. 172 Lamping, Dieter 19, 23, 51, 87, 95, 101, 133f., 187, 213, 310, 317f., 323f., 384, 442 – Das lyrische Gedicht 22, 87f., 95, 101, 133f., 213, 310 – Moderne Lyrik 19 Langgässer, Elisabeth 67, 69, 100 n. 52, 199, 219 Larcati, Arturo 279f. – Ingeborg Bachmanns Poetik 279f. Lasker-Schüler, Else 69 Lattmann, Dieter – (Hrsg.) Die Literatur der Bundesrepublik Deutschland 193f. Lau, Jörg 435 Le Fort, Gertrud von 67, 69 Lehmann, Jürgen 339, 364, 367 Lehmann, Wilhelm 6, 23, 67, 69, 77, 87, 89, 91, 98–101, 132, 141–143, 153, 191f., 199, 213, 219, 242, 246f. – Kunst als Jubel der Materie 98 Lenz, Hermann 318f. Lepenies, Wolf 32 – Kultur und Politik 32 Lichtenstein, Alfred 69 Literarische Welt f Die literarische Welt Lönker, Fred 60f. Loerke, Oskar 23, 67, 69, 77, 79, 87, 89, 91, 100f., 132, 141–143, 153, 192, 213, 219, 246f. Lorca, Federico García 79, 197, 219, 241–244, 443 – Canciones 244 Ludwig, Paula 69 Lühe, Irmela von der 265f., 267 n. 52 Mahler, Gustav – Kindertotenlieder 322 Majakowski, Wladimir 79, 113 Mallarmé, Stéphane 55, 81f., 108, 113, 242, 312f., 316, 348, 352–364 – »Rondel« 355, 358f. Mandelstam, Ossip Emiljewitsch 352–364, 367 – Gespräch über Dante 363 – Vom Gegenüber 362

492 Mann, Thomas 35 – Doktor Faustus 322, 327 Marinetti, Filippo Tommaso 108, 113 Marquard, Odo 148 May, Karl 297 Meinecke, Friedrich 32, 53 – Die deutsche Katastrophe 32 Melin, Charlotte Ann 438, 441 n. 260 Menninghaus, Winfried 313–315 – Paul Celan. Magie der Form 314f. Merkur 220, 338 Meyer, Conrad Ferdinand 50 Michaux, Henri 192, 197 Miller, Henri 267 Mörike, Eduard 50, 269, 302 Mombert, Alfred 69 Morgenstern, Christian 69, 398 Müller-Hanpft, Susanne 151 n. 85, 153, 160–162 Musil, Robert 267, 271, 278f. Neruda, Pablo 410, 434 Neumann, Erich 175 – Die große Mutter 174f. Neumann, Gerhard 309 n. 3 Neumann, Peter Horst – »Wortaufschüttung und Wortzerfall« 313f. – Zur Lyrik Paul Celans 313f. Nietzsche, Friedrich 153, 296 Nijssen, Hub 171 n. 165 – Der heimliche König 171 n. 165 Novalis 153 Oelmann, Ute Maria 153f., 332 Ortega y Gasset, José 41 Palfreyman, Rachel 9, 25 n. 98, 29 Parker, Stephen 9, 29, 154, 165, 171–173, 182 Pascal, Blaise 346 Paulus, Rolf 214–216, 219, 223, 228, 233, 254 – Der Lyriker Karl Krolow 214–216, 219, 223, 228, 233, 254 Pennone, Florence 353–355 – Paul Celans Übersetzungspoetik 353–355 Perse, Saint-John 113

Personen- und Werkregister Petersdorff, Dirk von 99, 116–118, 135 – Hans Magnus Enzensberger und die Ideengeschichte der Bundesrepublik 434 n. 219 Philpotts, Matthew 9, 29, 154, 171 Picard, Max 83 Pinthus, Kurt 68 Piontek, Heinz 69–71, 100 n. 52 Platen, August von 302 Platon 43, 294 Poe, Edgar Allan 107f. Pöggeler, Otto 329, 331, 379 – Spur des Worts. Zur Lyrik Paul Celans 329, 331, 379 Post-Adams, Ree 144 Pound, Ezra 91, 107, 113, 276 Proust, Marcel 267, 271 Psalmen 323 Raschke, Martin 96–98, 165f. – Vorspruch für die Zeitschrift »Die Kolonne« 96–98 Reitani, Luigi 300–304 Reverdy, Pierre 243f., 245 n. 199 Riegel, Werner 394 – (Gründer, Hrsg.) Zwischen den Kriegen 388 Rilke, Rainer Maria 35f., 69f., 79, 113, 140f., 153, 443 – Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge 267, 270 Rimbaud, Arthur 55, 81, 180, 242, 252, 355, 358, 380 – Le bateau ivre 358 Ringelnatz, Joachim 69, 443 Rolleston, James 88, 119f. Rühmkorf, Peter 7, 29, 92–94, 100, 114f., 131, 191, 215, 313, 328, 382f., 385–410, 443, 448f., 452 – Anleitung zum Widerspruch 387f., 390, 397–399, 401f., 404 – Das lyrische Weltbild der Nachkriegsdeutschen 92–94, 114f., 313, 387f., 390–397, 400, 408, 449 – Die Jahre die Ihr kennt 405 – Einige Aussichten für Lyrik 387–389, 448 n. 15 – Kunststücke 388–400

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Personen- und Werkregister – »Lied der Benn-Epigonen« 406–408 – »Lied der Naturlyriker« 393 – »Variation auf ›Abendlied‹ von Matthias Claudius« 387, 399–404 – (Gründer, Hrsg.) Zwischen den Kriegen 388 Rümmler, Arthur 215f., 218, 220–223, 234, 241–245, 254 – Entwicklung der Metaphorik in Karl Krolows Lyrik 215f., 218, 220f., 222f., 234, 241–245, 254 Ruf f Der Ruf Sachs, Nelly 83, 267, 276 – »Von den Schaukelstühlen« 276 Sanders, Rino 181 n. 192 Sartre, Jean-Paul 44 Saussure, Ferdinand de 314 Schäfer, Hans-Dieter 17 Schäfer, Oda 93 Schärf, Christian 285 n. 125 Schafroth, Heinz F. 153, 161f. Scherer, Stefan 9, 25 n. 98, 29 Schildt, Axel 31f. – Ankunft im Westen 31 Schiller, Friedrich 50 – Die Räuber 412 – »Nänie« 433 Schmaus, Marion 298, 300 Schnack, Anton 69 Schnack, Friedrich 69 Schneider, Reinhold 67, 71 Schnell, Ralf – Geschichte der deutschsprachigen Literatur seit 1945 19 Schöne, Albrecht 311f. Scholz, Wilhelm von 69 Schröder, Rudolf Alexander 67, 69, 71f., 93 Schubert, Franz – Der Tod und das Mädchen 322 Schwitters, Kurt 77 Sedlmayr, Hans 33–36, 38f., 40, 55 – Verlust der Mitte 33–35, 112 Seng, Joachim 334, 336 n. 108 Shakespeare, William 42f., 356 – »Sonnet 105« 356 Silone, Ignazio 44

Sinn und Form 11, 166, 169, 172, 179f., 188, 190 Skorpion f Der Skorpion Sophokles 43 Spengler, Oswald 41 – Der Untergang des Abendlandes 34 Stadler, Ernst 69 Staiger, Emil 47, 50–54, 59, 451 – Die Zeit als Einbildungskraft 51 – Grundbegriffe der Poetik 50f. Stifter, Adalbert 139 Strich, Fritz – Goethe und die Weltliteratur 43 Studenten-Kurier 215 n. 103 Supervielle, Jules 243f. Svandrlik, Rita 306 Svevo, Italo 267 Szondi, Peter 310, 313, 355 n. 202, 356f., 359 – Celan-Studien 313f. – »Poetry of Constancy« 356f., 359 Theophrast 186–190 Thomas, Dylan 79 Tolstoi, Lew 267, 269 Trakl, Georg 69, 153, 155, 166, 180, 443 – Die junge Magd 175 Uerlings, Herbert 390, 405–407 Ungaretti, Giuseppe 357f. Valéry, Paul 36, 91, 107, 113, 192, 242, 355, 358 – Jeune Parque 354 Vallejo, César 410 Vergil 43 Verlaine, Paul 53, 241f. Verweyen, Theodor 390, 401 Vieregg, Axel 132 n. 3, 134f., 148, 169–171, 174f. Vietta, Silvio 15f. Vischer, Friedrich Theodor 50 Vring, Georg von der 69 Wagner, Richard – Tristan und Isolde 322 Wedekind, Frank 69 Weigel, Sigrid 258–261, 286–288

494 Weil, Simone 294 Weinheber, Josef 69 Werfel, Franz 69 Weyrauch, Wolfgang 83, 94, 106, 393 – (Hrsg.) Tausend Gramm 106 Wiechert, Ernst 67 Wiedemann(-Wolf), Barbara 319, 329–332 – Paul Celan, die Goll-Affäre 337 n. 114 Williams, William Carlos 410, 434, 438, 453

Personen- und Werkregister Winkler, Heinrich August 1 Winko, Simone 20 Wittgenstein, Ludwig 257–261 Wunberg, Gotthard 427 Zehrer, Hans – »Der Schuß auf den Mond. Was ist denn schon passiert?« 401, 404 Zimmermann, Arthur 412 n. 144

Personen- und Werkregister

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Dank

Für Rat, Hilfe und vielfältige Unterstützung bei Konzeption und Niederschrift sowie bei Abschluss und Drucklegung dieser Arbeit danke ich Professor Dr. Werner Frick, Prof. Dr. Achim Aurnhammer und Prof. Dr. Thomas Klinkert, Prof. Dr. em. Hans Vilmar Geppert, Prof. Dr. em. Dr. Dr. h.c. Wilfried Barner, Professor Jim Reed, Dr. Almut Suerbaum, Dr. Manuele Gragnolati, Professor Ritchie Robertson, Professor Karen J. Leeder, Prof. Dr. Fred Lönker, Prof. Dr. Günter Saße, Prof. Dr. Katharina Grätz, Prof. Dr. Dieter Martin, Prof. Dr. Claudia Stockinger, Prof. Dr. Dieter Lamping, Dr. Gesa von Essen, Dr. Olav Krämer, Dr. Thorsten Fitzon, Aniela Knoblich, Frauke Janzen, Susanne Mang, Barbara Lipps, Marius Niemann, Iljana Weiß, Christine Henschel sowie der Alexander von HumboldtStiftung, dem Somerville College der University of Oxford, dem German Department der Faculty of Medieval and Modern Languages und der Taylor Institution Library der University of Oxford, der Bibliothek des Deutschen Seminars und der Universitätsbibliothek der Universität Freiburg und nicht zuletzt der School of Language & Literature des Freiburg Institute for Advanced Studies (FRIAS). Ebenso danke ich meinen Eltern Ingrid und Elmar Lampart, meiner Schwester Julia Lampart und vor allem meiner Frau Giovanna Cordibella für unermüdliche Ermutigung und kritische Unterstützung. Gewidmet ist dieses Buch dem Andenken meines Vaters Elmar Ludwig Lampart (1932–2011). Freiburg im Breisgau, am 26. Mai 2012