Lyrik und Narratologie: Text-Analysen zu deutschsprachigen Gedichten vom 16. bis zum 20. Jahrhundert 9783110922738, 9783110193213

Lyric poetry is usually regarded as a genre in its own right, delineated from narrative and dramatic texts. This publica

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German Pages 341 [344] Year 2007

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Lyrik und Narratologie: Text-Analysen zu deutschsprachigen Gedichten vom 16. bis zum 20. Jahrhundert
 9783110922738, 9783110193213

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Jörg Schönert/Peter Hühn/Malte Stein Lyrik und Narratologie

Narratologia Contributions to Narrative Theory/ Beiträge zur Erzähltheorie

Edited by/Herausgegeben von Fotis Jannidis, John Pier, Wolf Schmid Editorial Board/Wissenschaftlicher Beirat Catherine Emmott, Monika Fludernik Jose Angel Garcia Landa, Peter Hühn, Manfred Jahn Andreas Kablitz, Uri Margolin, Matias Martinez Jan Christoph Meister, Ansgar Nünning Marie-Laure Ryan, Jean-Marie Schaeffer Michael Scheffel, Sabine Schlickers, Jörg Schönert

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G Walter de Gruyter · Berlin · New York

Jörg Schönert/Peter Hühn/Malte Stein

Lyrik und Narratologie Text-Analysen zu deutschsprachigen Gedichten vom 16. bis zum 20. Jahrhundert

w DE

G Walter de Gruyter · Berlin · New York

© Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt. ISBN 978-3-11-019321-3 ISSN 1612-8427 Bibliografische Information der Deutschen

Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Copyright 2007 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, D-10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Einbandgestaltung: Christopher Schneider, Berlin Druck und buchbinderische Verarbeitung: Hubert & Co., Göttingen

Vorwort 2005 erschien in Narrotologia als Band 7 The Narratological Analysis of Lyric Poetiy. Studies in English Poetry from the 16th to the 20th Century von Peter Hühn und Jens Kiefer. Der nun vorgelegte Band 11 ist als ,Parallelaktion' für die deutschsprachige Lyrik anzusehen. Im methodologischen Verbund dokumentieren beide Bände die Arbeit des Projektes 6 in der Forschergruppe Narratologie an der Universität Hamburg (siehe P r o jekte' in: www.narrport.uni-hamburg.de); sie wurde getragen von Peter Hühn und mir als Projektleitern, von Jens Kiefer und Malte Stein als wissenschaftlichen Mitarbeitern sowie den studentischen Hilfskräften Tonio Kempf, Stefan Schenk-Haupt und Jette Katharina Wulf. Für hilfreiche Diskussionen danken wir den Mitgliedern der Forschergruppe und den auswärtigen Experten' unseres Projektes: Dieter Burdorf, Heinz Hillmann, Katrin Kohl, Eva Müller-Zettelmann und Sandra Pott. Hervorgegangen ist ein Großteil der Analysen dieses Bandes aus den Arbeitssitzungen im Forschungsprojekt; ausgeführt wurden sie vom jeweils genannten Autor. Dabei werden vielfach auch Diskussionsbeiträge sowie schriftliche Ausarbeitungen der anderen Beteiligten einbezogen, ohne dass solche Passagen eigens gekennzeichnet sind. Alle Beiträge wurden vor der Drucklegung zwischen den Autoren dieses Bandes ausgetauscht und kommentiert. Die (konstruktive Kritik und Kontroversen einschließende) Zusammenarbeit war eine wertvolle akademische Erfahrung. Malte Stein und ich bedanken uns herzlich bei Peter Hühn, der unserem germanistischen Projekt in so hilfreicher Weise zugearbeitet hat. Unser Dank gilt zudem den Herausgebern von Narratologia für die Aufnahme unserer Publikation in diese Reihe. Tonio Kempf und Anastasia Mattern danken wir die prüfende Lektüre der Texte und Verena Mogl das engagierte und kompetente Erstellen der Druckvorlage. Als Ziel unserer gemeinsamen Arbeit galt nicht die ,hohe Kunst der Interpretation', sondern das ,harte Handwerk der Text-Analyse'. Wir haben die hier eingesetzten Verfahrensweisen in Seminaren erprobt und viel Zustimmung der Studierenden gefunden. Nun freuen wir uns auf kritische und unterstützende Reaktionen aus der akademischen Öffentlichkeit. Hamburg, im Oktober 2006

Jörg Schönert

Inhalt Einleitung: Theorie und Methodologie narratologischer Lyrik-Analyse

1

PETER H Ü H N UND JÖRG SCHÖNERT

Paul Schede (Melissus): „Lied"

19

JÖRG SCHÖNERT

Andreas Gryphius: „An die Welt"

33

JÖRG SCHÖNERT

Johann Christian Günther: „An Leonoren"

45

JÖRG SCHÖNERT

Friedrich Gottlieb Klopstock: „Die Verwandlung"

59

M A L T E STEIN

Johann Wolfgang Goethe: „Harzreise im Winter"

75

M A L T E STEIN

Friedrich Hölderlin: „Andenken"

99

PETER H Ü H N

Joseph von Eichendorff: „Nachruf an meinen Bruder"

113

JÖRG SCHÖNERT

Heinrich Heine: „Im Hafen"

131

JÖRG SCHÖNERT

Annette von Droste-Hülshoff: „Am letzten Tage des Jahres (Sylvester)"

145

JÖRG SCHÖNERT

Theodor Storm: „Geh nicht hinein" M A L T E STEIN

159

viii

Inhalt

Conrad Ferdinand Meyer: „Stapfen"

175

PETER H Ü H N

Friedrich Nietzsche: „Der Freigeist"

185

JÖRG SCHÖNERT

Hugo von Hofmannsthal: „Manche freilich ..."

197

JÖRG SCHÖNERT

Rainer Maria Rilke: „Requiem"

209

PETER H Ü H N

Bertolt Brecht: „Terzinen über die Liebe"

227

JÖRG SCHÖNERT

Else Lasker-Schüler: „Mein blaues Klavier"

241

JÖRG SCHÖNERT

Gottfried Benn: „Du übersiehst dich nicht mehr - "

253

PETER H Ü H N

Ingeborg Bachmann: „Im Zwielicht"

267

M A L T E STEIN

Paul Celan: „Es war Erde in ihnen"

281

PETER H Ü H N

Ilma Rakusa: „Limbo"

295

M A L T E STEIN

Auswertung der Text-Analysen und Schlussfolgerungen zu den Aspekten von Narratologie, Lyrik-Theorie und Lyrik-Analyse PETER H Ü H N UND JÖRG SCHÖNERT

311

PETER H Ü H N UND JÖRG SCHÖNERT

Einleitung: Theorie und Methodologie narratologischer Lyrik-Analyse1 Die Text-Analysen zur deutschsprachigen Lyrik, die in diesem Band vorgelegt werden, stellen die praktische Umsetzung des Vorschlags dar, narratologische Kategorien und Verfahren in innovativer Weise als Methode zur Beschreibung und Interpretation von Gedichten zu nutzen. 2 Ein solcher Vorschlag folgt der Prämisse, dass Erzählen als anthropologisch universelle (kulturen- und epochenübergreifende) Praxis im Strukturieren von Erfahrungen, in der Konstitution von Sinn und im Vermitteln von Bedeutung auch als Basisoperation für weite Bereiche von Lyrik anzusetzen sei und dass daher der inzwischen erreichte hohe Differenzierungs- und Explizierungsgrad der Erzählforschung eine entsprechende begriffliche Präzisierung und Spezifizierung der Lyrik-Analyse ermöglichen werde. Zur theoretischen Grundlegung und methodologischen Vorbereitung der Text-Analysen wird der vorgeschlagene Ansatz in dieser Einleitung in gebotener Kürze zunächst in folgenden Schritten systematisch erläutert und terminologisch definiert: mit Ausführungen (1) zur Rechtfertigung der transgenerischen Anwendung von Narratologie auf Lyrik, (2) zur Frage der gattungstheoretischen Einordnung von Lyrik sowie vor allem (3) zu dem herangezogenen narratologischen Konzept und seinen Elementen, speziell zur Modellierung des Erzählvorgangs hinsichtlich der Dimensionen der (3.1) Sequentialität und der (3.2) Medialität. Diesen systematisch-theoretischen Erläuterungen zur Verfahrensweise im Übertragen von Narratologie auf Lyrik schließen sich (4) Anmerkungen zur Auswahl der Gedichte für die Analysen an. 1

2

Die hier entwickelte theoretische Begründung und methodologische Darstellung narratologischer Lyrik-Analyse entspricht weitestgehend der Einleitung in Hühn / Kiefer (2005). In Details wurden die folgenden Ausführungen weiter präzisiert; ihre Substanz wurde gemeinsam mit Jens Kiefer und Malte Stein in dem Lyrik-Projekt entwickelt, das von 2001 bis 2004 in der Forschergruppe Narratologie von der DFG gefordert wurde. Siehe die programmatische Vorstellung und Begründung dieses Ansatzes in Hühn / Schönert (2002); vgl. ferner Hühn (2002 u. 2005). Um die methodologische Differenz zu Verfahrensweisen der Lyrik-Interpretation vor ihren ,szientifischen' Bestrebungen zu veranschaulichen, wäre beispielsweise ein Vergleich mit Lehnert (1966) relevant, der - darauf verweist der Titel des Buches - „Struktur"-Analysen mit Interpretationen zur „Sprachmagie" von Lyrik-Texten verbindet.

2

Peter Hühn und Jörg Schönert

1. Narrativität und Lyrik: zur transgenerischen A n w e n d u n g v o n Narratologie auf die Analyse von Gedichten Die folgenden Überlegungen gehen davon aus, dass Narrativität durch die Kombination zweier Dimensionen konstituiert wird - primär durch Sequentialität (das heißt durch die zeitliche Organisation und Verkettung einzelner Geschehenselemente und Zustandsveränderungen zu einer kohärenten Abfolge) und sekundär durch Medialität (das heißt durch die Vermittlung in Konstruktion, Präsentation und Interpretation dieser Abfolge aus einer bestimmten Perspektive). 3 Diese beiden Dimensionen liegen den einschlägigen Begriffsoppositionen wie ,histoire / recit, story / discourse, story / text oder fabula / sujet' 4 der meisten narratologischen Modelle zugrunde; sie sind aber insofern nicht mit ihnen völlig identisch, als diese - sozusagen im Sinne eines chronologischen Verarbeitungsprozesses - zwischen dem vorgängigen unvermittelten Geschehen und seiner narrativ vermittelten Darbietung, nicht aber systematisch zwischen konstitutiven Aspekten des Erzählens unterscheiden. Für die Definition von Narrativität kommt dabei der Sequentialität - und innerhalb ihrer der Ereignishaftigkeit (siehe unten) - die Priorität zu, da auch andere Rede- und Schreibweisen wie Erklären, Argumentieren oder Beschreiben notwendig eine Vermittlungsdimension aufweisen (wenn auch nicht in der Komplexität des Erzählens), wohingegen die zeitliche Organisation allein konstitutiv fur narrative Texte ist. Lyrische Texte im engeren Sinne - also nicht nur offensichtlich narrative Gedichte wie Balladen und Romanzen oder wie Verserzählungen teilen potentiell mit Prosa-Erzählungen wie Romanen oder Novellen neben der fundamentalen Kategorie des Äußerungsaktes auch die spezifisch narratologischen Kategorien der Sequentialität und der Möglichkeiten zu einer komplexen Medialität: Sie beziehen sich in vielen Fällen auf eine zeitliche Folge von Geschehnissen (meist mentaler oder psychischer, aber auch äußerer, etwa sozialer Art), vermitteln diese - Kohärenz und Relevanz herstellend - aus einer spezifischen Perspektive (vielfach auch über differenzierte oder gestaffelte Rede-Instanzen) und verweisen dabei - implizit oder explizit - auf den Äußerungsakt, in dem sich diese Vermittlung vollzieht. Diese Strukturanalogie zwischen Lyrik und Erzähllite3

4

In literarischen Texten werden die unterschiedlichen Ebenen und Formen der Vermittlung (,mediacy') in besonderer Weise für ,sinnbildende' Prozesse genutzt. Vgl. Genette (1994); Chatman (1978); Rimmon-Kenan (2002); Tomashevskij (1965); zu den Hintergründen und zur Problematik dieser Opposition vgl. Pier (2003).

Einleitung

3

ratur ist als potentiell zu verstehen; faktisch trifft sie nicht auf sämtliche lyrische Texte zu: Es gibt Gedichte, die kein (sequentialisiertes) Geschehen (keine zeitlich geordneten Zustandsveränderungen) vermitteln, sondern Beschreibungen (beispielsweise von Zuständen, Stimmungen oder Gegenständen), Einsichten oder Maximen. Wie jedoch die Analysen sowohl in diesem Band zur deutschen als auch in dem Parallelband zur englischen Lyrik5 dokumentieren, weist eine erstaunlich große Zahl von Gedichten das Merkmal eines temporalen Ablaufs auf. Die Anwendung der narratologischen Kategorien auf die Analyse von Gedichten hat primär das praktische Ziel, die hoch entwickelte Erzähltheorie zu nutzen, um die Methodologie der Lyrik-Analyse, der es notorisch an theoretischen Begründungen mangelt, zu explizieren, zu präzisieren und zu erweitern sowie nach Möglichkeit auch Impulse zum Entwickeln einer Lyrik-Theorie zu geben.6 Keineswegs ist beabsichtigt - das sei vorab für die Prämissen und Ziele unseres Vorgehens herausgestellt - Lyrik bedenkenlos und undifferenziert dem Gattungsbereich der ,Epik' zuzuordnen. Vielmehr soll dieser transgenerische Ansatz dazu dienen, die Spezifika lyrischer Vermittlung (von Vorgängen, Erfahrungen, Wahrnehmungen oder Reflexionen) im Unterschied zu den anderen Gattungen zu profilieren. Eine derartige Spezifizierung und Profilierung im Zuge einer systematischen Rekonstruktion der kennzeichnenden Strukturen lyrischer Texte mit Hilfe narratologischer Kategorien schließt ein, sowohl die Reichweite der Anwendbarkeit dieser Kategorien zu prüfen als auch die lyriktypischen Manifestationen des Narrativen herauszuarbeiten. 2. Die Spezifik von Lyrik: zur gattungstheoretischen Position der Lyrik Versuche, Lyrik im Rahmen der traditionellen Gattungstrias analog zu Epik und Dramatik systematisch zu definieren, können als gescheitert gelten.7 Auch der bekannteste jüngere Vorschlag, Lampings Minimalde-

5 6

7

Siehe Hühn / Kiefer (2005). Vgl. die grundsätzliche Kritik am Stand einer Theorie der Lyrik in Warning (1997); Müller-Zettelmann (2000); Wolf (2003); Schönert (2004); Wolf (2005). In signifikanter Weise gibt der Band von Müller-Zettelmann / Rubik (2005) zu theoretischen Konzepten für Lyrik dem narratologischen Zugang den größten Raum, vgl. dort das Kapitel „Narratology and beyond", S. 97-249. Vgl. Warning (1997), S. 17f.

4

Peter Hiihn und Jörg Schönert

finition „Einzelrede in Versen", 8 leistet dies nicht, da er zum einen ein allzu dürres Kriterium benennt, 9 zum anderen keine systematische Abgrenzung gegen die anderen Gattungen erlaubt. Stattdessen wird vorgeschlagen, die Position von Lyrik mit Bezug auf die epische und dramatische Gattung texttheoretisch abzugrenzen. 10 Definiert man Erzählen als Kommunikationsakt zur sinnkonstitutiven Strukturierung von Geschehensfolgen durch gestaffelte Vermittlungsinstanzen (insbesondere durch eine Erzählinstanz), so lassen sich sowohl lyrische als auch dramatische Texte als Reduktionsformen mit variablen Reduktionsgraden im Anlegen möglicher Vermittlungsebenen bestimmen. 11 In dieser Betrachtungsweise zeichnen sich lyrische Texte im engeren Sinne (also unter Ausschluss von Balladen und Romanzen) durch eine besondere Variabilität im Nutzen möglicher Vermittlungsebenen und Vermittlungsinstanzen aus. Sie können die beiden narrativen Grundkonstituenten des Erzählvorgangs - also einerseits die temporale Sequentialisierung des Geschehens (wie sie in einem Großteil von Gedichten vorliegt) sowie andererseits die Staffelung von Vermittlungsinstanzen und die Differenzierung von Vermittlungsmodi - gleichermaßen realisieren. Sie können aber auch die Vermitteltheit zugunsten des performativen Vollzugs des Sprechens scheinbar aufgeben, 12 so dass sich vom Rezipienten nur eine einzige ,Stimme' wahrnehmen lässt: in der suggerierten Gleichzeitigkeit von Erleben und Sprechen, in der vermeintlichen Identität von Sprecher und Autor und in Analogie zum vielfach performativen Status der Figurenrede im Dramentext. Dieser texttheoretische Ansatz bietet auch eine praktische Handhabe zur differenzierten Analyse lyrischer Texte in ihrer komplexen kommunikativen Struktur, die in Lampings gattungsbestimmender Formel auf,Einzelrede' reduziert wird.

8 9

10 11 12

Lamping (1989), S. 63. Zum Erfassen der Spezifika von Lyrik wären Zusatzkriterien erforderlich, wie sie etwa Burdorf (1997), S. 20f., oder Wolf (2005), S. 38f„ skizzieren. Vgl. Titzmann (2003); Schönert (2004). Zum Folgenden siehe Schönert (2004), S. 313f. ,Performativ' ist hier so zu verstehen, dass mit dem Äußerungsakt der Rede eine Sprechhandlung vollzogen wird, die beansprucht in selbstreferentieller Weise W i r k lichkeit' zu konstituieren.

Einleitung

5

3. Die Modellierung des Erzählvorganges: zum narratologischen Analysekonzept Hinsichtlich der Dimension der Medialität orientiert sich das für die Lyrik-Analyse vorgeschlagene narratologische Verfahren weithin - mit einigen weiterführenden Differenzierungen - am Ansatz Genettes. Zum Erfassen der Dimension der Sequentialität steht bislang noch kein allgemein etabliertes Kategoriensystem wie für Vermittlung' zur Verfügung. Der hier entwickelte Ansatz greift deshalb mit den Begriffen von Schema, Skript und Frame auf die kognitive Psychologie und Psycholinguistik zurück und verbindet diese Analysekategorien mit Konzepten der SchemaAbweichung und des Erwartungsbruchs, wie sie in Anlehnung an Lotmans Sujet-Theorie (mit den Begriffen der Grenzüberschreitung und des Ereignisses)13 und an Bruners Konzept von ,canonicity and breach' 14 entwickelt werden können. Für die Präzisierung und Weiterentwicklung der Lyrik-Analyse ist die Modellierung der Sequentialität von besonderer Relevanz, da die herkömmlichen Interpretationsmethoden in dieser Hinsicht keine befriedigenden Vorgaben anzubieten haben. Um die Notwendigkeit einer Modifikation der bislang eingeführten Begriffe und Kategorien zu betonen und Missverständnisse zu vermeiden, werden im Folgenden terminologische Festlegungen getroffen, die möglichst wenig durch differierende Verwendungen belastet sind. Im Anwenden der narratologischen Kategorien auf Lyrik ist zunächst grundsätzlich zwischen den beiden Ebenen des Geschehens (^happenings') und der Darbietung (,presentation'), zwischen den als vorgängig anzusetzenden Geschehenselementen ^incidents', ,occurrences') und ihrer textlichen Vermittlung (,mediation') zu unterscheiden.15 Es ist davon auszugehen, dass Geschichten (,narrative sequences', ,plots') in der (fak13 14 15

Vgl. dazu Krah (1999). Vgl. Bruner (1991). Diese Unterscheidung entspricht ungefähr der Differenz zwischen ,histoire' und ,recit' bei Genette (1994), zwischen ,story' und ,discourse' bei Chatman (1978) - allerdings mit dem Unterschied, dass in dem hier vorgestellten Vorschlag ,Geschehen' lediglich die chronologisch angeordnete Menge der Geschehenselemente meint, wie bei Martinez / Scheffel (1999), während Genette und Chatman wie auch zahlreiche andere Narratologen - Tomashevskij (1965); Bai (1985); Rimmon-Kenan (2002) - offenbar bereits sinnhafte Verknüpfungen auf dieser Ebene ansetzen (meist mit dem Begriff der logischen' oder ,kausalen' Verknüpfung umschrieben). Der Begriff ,happenings' im vorliegenden Ansatz ist also nicht identisch mit ,happenings' bei Chatman (1978), der damit Vorkommnisse im Gegensatz zu Handlungen (,actions') meint.

6

Peter Hühn und Jörg Schönert

tischen oder fingierten) Wirklichkeit nicht objektiv gegeben sind, sondern erst durch eine (zumeist menschliche) Instanz aus Geschehenselementen konstruiert werden. Demgemäß wird (a) die Ebene des Geschehens als die lediglich räumlich und chronologisch geordnete Menge der (für den Text relevanten) Gegebenheiten (,existents') und Geschehenselemente (,incidents') definiert und deren sinnhafte Verknüpfung (b) auf der Ebene der Darbietung (,presentation') lokalisiert, das heißt den Kompositions-, Wahrnehmungs- und Vermittlungsinstanzen (dem abstrakten Autor, dem Sprecher / Erzähler, den Figuren) und dem Verfahren der Fokalisierung (siehe weiter unten) zugeschrieben. Das Verhältnis von Geschehen und Darbietung ist durch wechselseitige Abhängigkeit bestimmt: Mit dem (Gedicht-)Text wird das Geschehen einerseits vorausgesetzt, andererseits allererst durch die Aussagen des Textes konstituiert. Diese Relation ist in unterschiedlicher Richtung - genetisch oder analytisch - beschreibbar. Als weitere Kategorie ist der fiktionale Erzählakt 16 bzw. der poetische Äußerungsakt zu nennen, in dem das Geschehen in die Form textueller Darbietung überführt wird. Für die Analyse ist die textuelle Darbietung die einzige direkt zugängliche Ebene, aus der sowohl das Geschehen als auch der Erzählakt rekonstruiert werden müssen. 3.1. Sequentialität (im Sinne von ,motivierten' Zustandsveränderungen) Zur detaillierteren Beschreibung der Geschehensebene werden die Begriffe der Gegebenheit (,existent') und des Geschehenselementes (,incident') eingeführt. 17 Zu den Gegebenheiten zählen die statischen Elemente und Handlungsumstände wie beispielsweise alle konstanten Figuren- und Raumeigenschaften; als Geschehenselement ist hingegen jede - etwa durch Handlung bewirkte - Veränderung von Eigenschaften, Zuständen oder Konstellationen anzusehen. Die Gesamtmenge der Gegebenheiten und Geschehenselemente in der erzählten Welt konstituiert - in chronologischer Anordnung - das Geschehen. Lyrik enthält als dargebotenes Geschehen vielfach mentale oder emotionale Vorgänge.

16 17

Genettes Begriff der ,narration'. Vgl. die Differenzierung zwischen ,existents' und ,events' bei Chatman (1978). Chatmans Bezeichnung ,event' wird im vorliegenden Ansatz durch ,incident' ersetzt, da ,event' hier in Anlehnung an den Begriff der Lotman'sehen Grenzüberschreitung und in Rückgriff auf Bruners (1991) Konzeption von ,canonicity and breach' verwendet wird.

Einleitung

7

Die Darbietungsebene wird durch eine komplexe Kombination von syntagmatischen und paradigmatischen Verbindungen der Geschehenselemente konstituiert - es sind Verbindungen, die jeweils aus bestimmten Perspektiven und durch bestimmte Vermittlungsinstanzen vorgenommen bzw. diesen zugeschrieben werden (siehe weiter unten). Durch Auswahl, Verkettung und Bedeutungszuschreibungen werden dabei Geschehenselemente und Gegebenheiten vom Rezipienten zu sinnhaft kohärenten Sequenzen verknüpft. Zur genauen Erläuterung dieser Operationen kann auf Ansätze in kognitiver Psychologie und Linguistik zurückgegriffen werden. Dementsprechend ist grundsätzlich davon auszugehen, dass kontingentes Geschehen sich erst durch die Verknüpfung mit Kontexten und Weltwissen in sinnhafte Sequenzen überfuhren lässt. Sowohl die Autoren als auch die Leser beziehen sich bei der Konstruktion solcher Sequenzen auf vorgängige Sinnstrukturen (kognitive Schemata), die ihnen bereits vertraut sind.18 Der Begriff ,Weltwissen' umfasst hierbei kulturspezifische Muster, die teils aus allgemeiner Erfahrung,19 teils aber auch aus der Wissenschaft, der Literatur und den anderen Künsten stammen.20 Die narratologische Sequenz-Analyse von Gedichten wird somit die Schemata, die für den Autor wie auch für den zeitgenössischen Leser als vertraut anzusetzen sind, aus Lebenserfahrung oder Lektüre zu rekonstruieren suchen, insoweit sie für die Texte relevant sind und deren Bedeutung mitbegründen.21 Kognitive Schemata können auch eine vornehmlich intratextuelle Basis besitzen, indem für einen Text bestimmte Muster geschaffen und diese sodann - wiederum im Bezug auf vorgängige extra- oder intertextuelle Muster - textspezifisch ausgearbeitet werden.22 18

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22

Vgl. Culler (1975), S. 139-160; Schänk / Abelson (1977); Bruner (1990 u. 1991); Turner (1996). Das sind beispielsweise extratextuelle Bezüge auf Konstellationen wie ,Glaubenssicherheit und Glaubenszweifel im Christentum', ,Krisen der Adoleszenz' oder problematische Orientierungen in unterschiedlichen sozialen Milieus'. Das sind beispielsweise intertextuelle Bezüge auf literarische Muster wie etwa die ,Lebensallegorie der Schiffsreise' im 17. Jahrhundert oder die ,ästhetizistische Lebensform' um 1900. Vgl. insbes. Herman (2002), S. 85-113; und Semino (1995) sowie allgemein Barthes (1988); Culler (1975); Eco(1979). Vgl. dazu beispielsweise in diesem Band die (Selbstgefährdungen nach sich ziehende) ,Freigeist'-Einstellung in Friedrich Nietzsches Lyrik-Text (der weithin unter dem Titel „Vereinsamt" überliefert ist) als Abweichung von ,risiko-armen' bürgerlichen Verhaltensweisen.

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Peter Hühn und Jörg Schönert

Hinsichtlich der kognitiven Schemata können mit den Begriffen Frame und Skript zwei Typen unterschieden werden. Frames bezeichnen thematische oder situative Kontexte, also Bezugsrahmen, innerhalb derer das betreffende Gedicht zu lesen ist - wie ,Endlichkeit des Lebens' oder , locus amoenus'. Skripts bilden demgegenüber Sequenzmuster, das heißt, sie verweisen auf bekannte Prozesse oder Entwicklungen, auf konventionelle Handlungsabläufe oder stereotype Prozeduren. Das geschieht zumeist in enger Beziehung zu dem jeweils relevanten Frame - wie dem Sterben als Grenzüberschreitung von einer Welt in eine andere oder dem Entwickeln einer Liebesbeziehung in einer idyllischen Naturszenerie. Während die Identifikation des Frame dem Leser die kohärente Integration der Elemente des Gedichtes mit Begriffen situativer und / oder thematischer Signifikanz in vornehmlich statischer Hinsicht ermöglicht, erlaubt der Bezug auf ein oder mehrere Skripts die Modellierung der dynamischen, das heißt der spezifisch narrativen Dimension des Textes. Aufgrund der Konventionen von Kürze und Situationsabstraktheit der Geschehensvermittlung in Lyrik werden in Gedichten Frames und Skripts meist nur knapp angedeutet, so dass vom Leser eine höhere Rekonstruktionsleistung als bei der Lektüre von Romanen oder Erzählungen gefordert wird. Hierin zeigen sich lyrikspezifische Realisierungen narrativer Elemente (siehe auch das Schlusskapitel in diesem Band). Ein zusätzliches Mittel zum Herstellen von Sinnbezügen sind Isotopien,23 das heißt Äquivalenzen von Wörtern oder Wendungen auf der Ebene der Signifikate; sie bilden die semantischen Kohärenzen durch Dominantsetzen und Rekurrenz der gleichen Seme.24 Für die Strukturierung des dargestellten Geschehens in Sequenzen wird der Begriff des Ereignisses als des entscheidenden Wendepunktes innerhalb einer Sequenz eingeführt - als das zentrale Moment der narrativen Organisation, das die Erzählwürdigkeit des Geschehens (Reliability') 25 bedingt. Ereignis soll als eine Abweichung von der erwarteten

23

24

25

Vgl. Greimas (1966); Greimas' ursprünglich restriktive Definition von Sem und Isotopie ist später durch ihn selbst und Courtes (1979), Rastier (1972) und Eco (1979) über einfache Merkmale (wie ,menschlich' oder geschlechtlich') hinaus auf komplexe semiotische Phänomene einschließlich thematischer, situativer und figurativer Kategorien ausgedehnt worden, die durch Rekurrenz Kohärenz erzeugen. In diesem Band stehen beispielsweise in dem Sonett „An die Welt" von Andreas Gryphius für ein Sem die unterschiedlichen Gefährdungen einer sicheren Schiffsreise durch Naturgewalt. Vgl. Pratt (1977); Prince (1987).

Einleitung

9

Fortsetzung des im Text aktivierten Sequenzmusters definiert werden. 26 Ein Ereignis kommt auch dann zustande, wenn eine erwartete Fortsetzung oder Veränderung nicht eintritt. Sequenzen können von den Erwartungen, die mit den jeweils aufgerufenen Mustern verbunden sind, mehr oder weniger stark abweichen und damit mehr oder weniger ereignishaft sein: Die Ereignishaftigkeit ist gradierbar. 27 Der Grad der Abweichung ist jeweils das Ergebnis von Interpretationen, die für eine Sequenzstruktur im Kontext kultureller und historischer Vorgaben ausgearbeitet werden. Ereignisse werden in der Regel einer Instanz, einem Handlungsträger zugeschrieben, mit dem oder durch den sich etwas Unerwartetes ereignet. Entsprechend der Zuordnung dieser Instanz zu einer der beiden narrativen Ebenen (der Ebene des Geschehens oder der Ebene der Darbietung) lassen sich zunächst grundsätzlich zwei Ereignistypen unterscheiden. Ist die Bezugsinstanz eine Figur, etwa der Protagonist in der erzählten Geschichte (also auf der Geschehensebene), so handelt es sich um ein Geschehensereignis. Bezieht sich die entscheidende Einstellungs- oder Verhaltensänderung auf den Sprecher oder Erzähler im dargebotenen Artikulations- oder Erzählakt im Sinne einer - performativ vermittelten - Erzählgeschichte, 28 so wird dies als Darbietungsereignis bezeichnet. 29 Zusätzlich werden zwei weitere Ereigniskategorien (in spezifizierender Zuordnung zum Darbietungsereignis) eingeführt. Das ist zum einen der Typus des Vermittlungsereignisses (als Grenz- und Sonderfall von Darbietungsereignissen), bei dem der entscheidende Umschlag nicht durch einen Wandel der personalen Einstellung zustande kommt, sondern durch eine primär textuell-rhetorische Umstrukturierung der Darbietungsform (als Veränderung der Vermittlungsweise) - etwa durch Verschieben oder Austausch der aufgerufenen Schemata (primär von Skripts und gegebenenfalls auch von Frames). Damit wird der Bezug von der Person des Sprechers auf die Ebene des abstrakten Autors, des Kompositionssubjekts (siehe weiter unten), verlagert - vielfach durch Thematisieren des poetischen Kompositionsaktes. Zum anderen ist es der Typus des Rezeptionsereignisses mit 26

27 28 29

Das heißt: Jedes Ereignis ist als Zustandsveränderung anzusehen, aber nicht jede Zu standsveränderung ist ein Ereignis; vgl. dazu auch bei Lotman (1973) den emphatischen Ereignisbegriff als Grenzüberschreitung bei Bruner (1991) die Formel ,canonicity and breach' (S. 11-13), bei Wolf (2002) das Konzept des „Narrems" (S. 44-51). Vgl. Schmid (2005), S. 21f. Vgl. Schmid (1982), S. 93. Dabei kann als ,lyrikspezifische' Tendenz gelten, dass - im Vergleich mit der Erzählprosa - Darbietungsereignisse zahlreicher sind als Geschehensereignisse.

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Peter Hühn und Jörg Schönert

dem (intendierten) Leser als Bezugsinstanz, für den eine entscheidende Einstellungsänderung als Ergebnis der Lektüre angestrebt wird: etwa als Erkenntnisgewinn oder ideologische Umorientierung - und zwar besonders in Fällen, in denen eine derartige Änderung bei dem Sprecher (dem Erzähler) und / oder dem Protagonisten des erzählten Geschehens gerade nicht eintritt. Dieses Phänomen ist als Spezialfall von der stets intendierten Wirkung auf den Leser - einem schon geringfügigen Verändern seines Wahrnehmens und seines Wissens - zu unterscheiden und ist nur für solche Texte anzusetzen, bei denen der Leser bei seiner Lektüre eine Bewusstseins- und / oder Einstellungsveränderung vollziehen soll, wozu der Protagonist und / oder der Sprecher des Gedichtes nicht fähig oder willens ist. Die besonders komplexe und weitreichende (makrostrukturelle) Organisationsform auf der Geschehensebene ist die Geschichte (,plot'). 30 Eine Geschichte ist das Resultat von Auswählen, Gewichten und Korrelieren sinnbesetzter Sequenzen; sie ist typischerweise auf einen Handlungsträger bezogen und über diesen Bezug strukturiert. Ereignisse bilden die zentralen Orientierungsstellen einer Geschichte in ihrem Ablauf und werden durch die Verknüpfungsleistungen einer Geschichte in eine sinnhafte Beziehung gesetzt.31 Zusammenfassend sei festgehalten: In der Lyrik beziehen sich insbesondere seit dem 17. Jahrhundert Geschichten - tendenziell anders als in Romanen - vornehmlich auf innere Phänomene wie Wahrnehmungen, Gedanken, Vorstellungen, Empfindungen, Erinnerungen, Wünsche, Imaginationen oder Einstellungen, die der Sprecher oder der Protagonist in einem monologischen Reflexions- und Bewusstseinsprozess sich selbst als Geschichte zuschreibt, durch die er sich in seiner individuellen Identität definiert.32 Solche Prozesse können im Tempus des Präsens mit dem sprachlichen Gestus vermittelt werden, dass sie sich im ,Aussprechen' und Vermitteln gerade erst vollziehen - noch vor dem Einsetzen der eigentlichen Handlungen oder (sehr typisch für Lyrik) als die entscheidende Handlung selbst. In der Zeitform des epischen (vergegenwärtigenden) Präteriums können jedoch auch bereits abgeschlossene Prozesse 30 31

32

Vgl. das ,plot'-Konzept bei Brooks (1984). Als Ordnungsform ist .Geschehen' allein durch den zeitlichen Zusammenhang (die chronologische Ordnung) bestimmt, während das Konstrukt einer .Geschichte' noch zusätzliche Ordnungen erfordert. Zur narrativen Konstitution von persönlicher Identität vgl. z.B. Cavarero (1997); Eakin (1999); Kerby (1991); Worthington (1996).

Einleitung

11

dieser Art aufgerufen und / oder erinnert werden, um mit Aktionen, die sich in der Gegenwart des Sprechens vollziehen (oder vollziehen sollen), verbunden zu werden. 3.2. Medialität (,mediacy') Die Beschreibung zur Organisation der narrativen Sequentialität muss ergänzt werden durch das Kennzeichnen der Formen und Instanzen für die Vermittlung des Geschehens auf der Darbietungsebene. Hierzu sind zwei Grundverhältnisse der Medialität zu unterscheiden: Vermittlungsmodi und Vermittlungsinstanzen. Hinsichtlich der Vermittlungsmodi lassen sich zwei Aspekte unterscheiden: (1) die verbalisierte Vermittlungsaktivität (Stimme), das heißt die sprachliche Äußerung mit der durch das Äußerungssubjekt vorgegebenen deiktischen Orientierung (pronominal, temporal, lokal, modal); (2) Fokalisierung (im Sinne von Mieke Bai und Shlomith Rimmon-Kenan), das heißt die perzeptionelle, psychische, kognitive und / oder ideologische Verhaltensweise und Einstellung, mit der die Geschehenselemente und Gegebenheiten wahrgenommen und dargeboten (,geformt' und gegebenenfalls gedeutet oder gewertet) werden. 33 Fokalisierung und Stimme sind - kategorial gesehen - zu trennen; sie werden jedoch im Vorgang des Wahrnehmens und Vermitteins in unterschiedlicher Weise korreliert. Hinsichtlich der Vermittlungsaktivitäten lassen sich vier gestaffelte (Kommunikations-)Ebenen (und Vermittlungsinstanzen) voneinander abgrenzen: 34 (1) empirischer Autor / Textproduzent und empirisch zu bestimmende Adressaten und Rezipienten, (2) abstrakter Autor / Kompositionssubjekt und ,abstrakte Leser', (3) Sprecher / Erzähler und Adressaten im (Fiktions-)Zusammenhang der Erzählung, 35 (4) Protagonist / Figur und ,angeredete' Figuren. Auch der Protagonist bzw. die Figur kann wie der Sprecher eine Stimme erhalten, indem die zuzuordnende Rede entweder vom übergeordneten Sprecher zitiert wird oder Sprecher und Protagonist identisch sind (siehe dazu in diesem Band etwa „Im Hafen" von Heinrich Heine).

33

34

35

Vgl. Genette (1994); Kablitz (1988); Lanser (1981); Nünning (1990); Uspenskij (1975). Erste Ansätze zu einer derartigen Differenzierung in der Lyrik finden sich bei Bernhart (1993); Burdorf (1997); Hühn (1995 u. 1998); Schönert (1999). Als Sonderfall ist hier ,second person narration' zu beachten.

12

Peter Hühn und Jörg Schönert

Der empirische Autor wird in der Text-Analyse lediglich insofern berücksichtigt, als sicherzustellen ist, dass die herangezogenen Frames und Skripts sowie die unterstellten Wortbedeutungen für ihn als kultur- und lebensgeschichtlich möglich veranschlagt werden können. Dem abstrakten Autor / dem Kompositionssubjekt ist das in der formalen, stilistischen, rhetorischen und topischen Organisation des Textes implizierte Werte-, Normen- und Sinnsystem zuzurechnen - eine Einstellung oder Haltung, die als Konstrukt und nicht als Eigenschaft einer individualisierten Person zu erfassen ist.36 Auf dieser Ebene lässt sich auch b e obachten', was aus der Äußerung des Sprechers / des Erzählers - im Sinne einer personal kohärenten Perspektivierung - ausgeschlossen wird (das in ihr Verschwiegene, Verdrängte oder Latente): zum Beispiel die der Äußerung zugrundeliegende Motivations- oder Problemlage.37 Diese Ebene ist daher als eine dem Sprecher (der eigene oder ,fremde' Wahrnehmungen vermittelt) übergeordnete (sozusagen hinter dem Rücken errichtete) Beobachtungsperspektive und somit als Beobachtungsebene zweiter Ordnung beschreibbar.38 Sie kann daher auch als eine besondere Perspektivform bezeichnet werden (so verdeutlicht beispielsweise in Heines „Im Hafen" die stilistische Organisation der Rede des autodiegetischen Erzählers, die dem Kompositionssubjekt zuzurechnen ist, die sich steigernde Trunkenheit des Protagonisten). Die genaue Differenzierung zwischen den Vermittlungsinstanzen des abstrakten Autors und des Sprechers ist immer interpretationsbedürftig und zwar mit Hilfe von Zuschreibungen: Zu entscheiden ist, welchen Bewusstheitsgrad und welche Bewusstseinsinhalte man im Einzelnen dem Sprecher / dem Erzähler (gegebenenfalls auch dem ,erzählten Ich') und dem unpersönlichen Kompositionssubjekt zuschreibt, oder ob eine derartige Unterscheidung absichtlich erschwert wird. Über die Relation zum abstrakten Autor kann die Frage der Zuverlässigkeit des Sprechers bzw. des Erzählers bestimmt werden: Widersprüche zwischen der Äußerung des Sprechers und der Komposition des Textes (die dem abstrakten Autor zuzuordnen ist) deuten auf die Unzuverlässigkeit des Ersteren. Das Phänomen der Unzuverlässigkeit oder Begrenztheit des Sprechers kommt in der Lyrik ebenso vor wie in der Erzählliteratur; es ist für die Lyrik jedoch noch nicht programmatisch untersucht worden. 36

Zur Begründung dieser Instanz - gegenüber vielfältiger Kritik - vgl. z.B. Chatman (1990).

37

Vgl. Easthope (1983); Hühn (1998). Luhmann (1990 u. 1995).

38

Einleitung

13

4. Zur Textaus wähl und zur Anlage der Text-Analysen Zum exemplarischen Erproben des narratologischen Ansatzes zur LyrikAnalyse werden fur diesen Band insgesamt 20 Beispiele aus der Geschichte der deutschsprachigen Lyrik vom 16. bis zum Ende des 20. Jahrhunderts ausgewählt. Um die Analysen über die Epochen und Autoren hinweg ansatzweise vergleichbar zu machen, wird ein thematisches Auswahlprinzip zugrundegelegt: die Entscheidung für Gedichte mit deutlicher Selbstreflexivität oder Selbstthematisierung des Sprechers oder der von ihm eingenommenen Rolle sowie der aufgerufenen' Einstellungen und Verhaltensweisen, die den Sprecher einer bestimmten Gruppe (etwa einem spezifischen sozialen Milieu) zuweisen. Diese Wahl soll nicht durch ein subjektivistisches Gattungsverständnis von Lyrik gerechtfertigt werden; sie ist vielmehr durch die Beobachtung motiviert, dass ein Großteil der deutschsprachigen Lyrik aus allen Epochen in repräsentativen Anthologien das Merkmal eines markanten Selbstbezugs des Sprechers aufweist. Die ausgewählten Autoren können als Vertreter des Kanons deutschsprachiger Lyrik gelten, der seit dem 18. Jahrhundert vor allem in repräsentativen Anthologien aufgebaut und vermittelt wird. Eine aktuelle Auswertung der Anthologie-Konstellationen für 239 ,kanonisierte' Gedichte vom frühen Mittelalter bis zur Gegenwart bietet der Band Die berühmtesten deutschen Gedichte. Auf der Grundlage von 200 Gedichtsammlungen ermittelt und zusammengestellt von Hans Braam (mit einem Vorwort von Helmut Schanze), 2004 erschienen in Stuttgart.39 Die folgenden Text-Analysen haben primär das Ziel, die Verfahrensweisen und die Fruchtbarkeit des narratologischen Ansatzes praktisch zu demonstrieren. Sie gebrauchen die jeweils herangezogenen Kategorien und Begriffe in dem hier erläuterten systematischen Zusammenhang und verstehen sich als Modellanalysen. Das Ziel ist dabei keine umfassende Interpretation der Gedichttexte in detaillierter Auseinandersetzung mit den bislang erarbeiteten Deutungen. Deswegen wird auf Forschungsliteratur lediglich auswählend-exemplarisch verwiesen. Zudem sind die Analysen und die abschließende (die Einzeltexte übergreifende) Auswertung darauf angelegt, mit Hilfe des narratologischen Instrumentariums die Besonderheiten narrativer Strukturen in der Lyrik herauszuarbeiten.

39

Die Studie bezieht sich auf Lyrik-Anthologien, die seit 1800 erschienen sind, und wertet diese Anthologien auch für Teilphasen von jeweils 50 Jahren des Publikationsgeschehens aus (die letzte Phase der Auswertung beginnt mit dem Jahr 1951).

14

Peter Hühn und Jörg Schönert

Katalog der textanalytischen Begriffe Hier sind die wichtigsten Begriffe aufgeführt, die wir für unsere TextAnalysen gebrauchen; die Seitenzahlen in Klammern verweisen auf die Definitionen und Erläuterungen im voranstehenden Text: Autor - Empirischer Autor (S. 11 f.) - Abstrakter Autor / Kompositionssubjekt (S. 12) Darbietung (S. 5) Ereignis (S. 8f.) - Geschehensereignis (S. 9) - Darbietungsereignis (S. 9) - Vermittlungsereignis (S. 9) - Rezeptionsereignis (S. 9f.) Fokalisierung (S. 11) Gegebenheit (S. 6) Geschehen (S. 5f.) Geschehenselement (S. 5f.) Geschichte (S. 5 u. 10) Isotopie (S. 8) Medialität (S. 2 u. 11) Narrativität (S. 2) Kognitives Schema (S. 7) - Frame (S.7f.) - Skript (S.7f.) Sequentialität (S. 2) Sequenz (S. 7) •Stimme (S. 11) Literatur Bai, Mieke 1985 Narratology:

Introduction

Barthes, Roland 1988 Das semiologische Frankfurt a.M.

to the Theory of Narrative. Toronto.

Abenteuer.

Aus dem Französischen von Dieter Hornig.

15

Einleitung

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Einführung

in die Lyrikanalyse.

(WVT Handbücher Bd. 3). Trier.

Brooks, Peter 1984 Reading for the Plot: Design and Intention in Narrative. Cambridge. Bruner, Jerome 1990 Acts of Meaning. Cambridge. 1991 The Narrative Construction of Reality, in: Critical Inquiry 18, S. 1-21. Burdorf, Dieter 1997

Einführung

in die Gedichtanalyse.

Stuttgart / Weimar.

Cavarero, Adriana 1997 Tu che mi guardi, tu che mi racconti. Filosofia della narrazione.

Milano.

Chatman, Seymour 1978 Story and Discourse: Narrative Structure in Fiction and Film. Ithaca. 1990

Coming to Terms: The Rhetoric of Narrative in Fiction and Film. Ithaca.

Culler, Jonathan 1975

Structuralist

Poetics: Structuralism,

Linguistics,

and the Study of

Literature.

London. Eakin, Paul John 1999

How Our Lives Become Stories: Making Selves. Ithaca.

Easthope, Antony 1983

Poetry as Discourse.

London.

Eco, Umberto 1979

The Role of the Reader: Explorations

Genette, Gerard 1994 Die Erzählung. chen. Julien Greimas, Algirdas 1966

in the Semiotics of Texts. Bloomington.

Übersetzt aus dem Französischen von Andreas Knop. Mün-

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Greimas, Algirdas Julien / Courtes, Joseph 1979

Semiotique: dictionnaire

raisonne de la theorie du langage. Paris.

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16

Peter Hühn und Jörg Schönert

2002

2005

Reading Poetry as Narrative: Towards a N a r c o l o g i c a l Analysis of Lyric Poems, in: Christian Todenhagen / Wolfgang Thiele (Hg.): Investigations into Narrative Structures. Frankfurt a.M., S. 13-27. Plotting the Lyric: Forms of Narration in Poetry, in: Eva Müller-Zettelmann / Margarete Rubik (Hg.): Theory into Poetry: New Approaches to the Lyric. Amsterdam / New York, S. 147-172.

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17

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Peter Hühn und Jörg Schönert

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Subjectivity

and Community

in Contemporary

Fiction.

JÖRG SCHÖNERT

Paul Schede (Melissus): „Lied" Im thon / ich ging einmal spatziren. 1 (I)

5

Rot Röslein wolt' ich brechen Zum hübschen Krentzelein: Mich Dörner thaten stechen Hart in die finger mein. Noch wolt' ich nit lan ab. Ich gunt mich weiter stecken In Stauden und in Hecken: Darin mirs wunden gab.

(II) 10

15

Ο dorner krum' und zacket / Wie habt ihr mich zerschrunt? Wer unter euch kompt nacket / Der ist gar bald verwunt. Sonst zwar könt ihr nichts mehr: Ihr keiner Haut thut schonen / Noch nitlicher Personen / Wans gleich ein Göttin wer.

(III)

20

Sie hats wol selbs erfahren / Die schöne Venus zart / Als sie stund in gefahren / Und so zerritzet ward. Daher die Röslein weis Von Bluttriefenden nerben Begunten sich zu ferben: Den man verieht den preis.

(IV) 25

30

1

Ich thu ein Rose loben / Ein rose tugent voll. Wolt mich mit ihr verloben / Wans ihr gefiehle wohl. Ihrs gleichen find man nicht In Schwaben und in Francken: Mich Schwachen und sehr Krancken / Sie Tag und nacht anficht.

Kontrafaktur zu einem Text aus der Volkslied-Sammlung des Paul von der Aelst: Bluom und Außbund Allerhandt Außerlesener Weltlicher / Züchtiger Lieder vnd Rheymen [...]. Deventer 1602.

20

Jörg Schönert

(V)

35

40

Nach ihr steht mein verlangen / Mein sehnlich hertzegird: Am Creutz last sie mich hangen / Meins lebens nimmer wird. Zwar bald ich tod muß sein. Je weiter sie mich neidet / Je lenger mein Hertz leidet. 1st das nit schwere pein?

(VI)

45

Ach liebster Schatz auff Erden / Warumb mich quelest so? Zutheil laß dich mir werden / Und mach mich endlich fro. Dein wil ich eigen sein. In lieb und trew mich binde / Mit deiner hand mir winde Ein Rosenkrentzelein.

V.5: lan ab] ablassen, aufgeben, V.6: Ich begann mich weiter hineinzubegeben / vorzudringen, V.10: zerschrunt] wundgestochen, V.13: Das ist das Einzige, was ihr könnt, V.15: auch nicht angenehmer / begehrenswerter Personen, V.16: sogar wenn es ..., V.24: denen erkennt man den Preis zu, d.h. rote Rosen werden besonders geschätzt; womöglich: denn man musste den Preis für das Blumenbrechen entrichten, V.26: tugent] hier allgemein: gute Eigenschaften, V.32: anficht] bedrängen, bekümmern, V.34: das sehnsüchtige Verlangen meines Herzens, V.36: aus meinem Leben wird niemals etwas, V.37: zwar] wahrlich, V.38: je länger sie mir feind ist / mir mit Missgunst begegnet, desto ... Christian Wagenknecht (Hg.): Epochen der deutschen Lyrik 1600-1700. München 1969, S. 57f.; auch in: Hans-Joachim Simm (Hg.): Deutsche Gedichte. 2. Aufl. Frankfurt a.M. / Leipzig 2001, S. 152f.

Paul Schede (1539-1602) gehörte als Paulus Melissus zu den wichtigsten Vertretern der mitteleuropäischen Humanisten-Gruppe des 16. Jahrhunderts; zu seinen Freunden zählte auch Martin Opitz. Er nannte sich Melissus nach dem Heimatort seiner Mutter, der Ortschaft Mailes. Zudem verweist der Name auf griech. ,melissa' (die Biene), die sich aus leuchtenden Blüten (im Sinne von literarischen Vorbildern) den Honig saugt. Einen Namen als ,poeta doctus' hatte er sich insbesondere durch sein umfangreiches neulateinisches Lyrik-Werk (darunter bedeutende Liebeslyrik) gemacht. 2 Er war ein guter Kenner der antiken Literatur und Bewunderer der französischen Pleiade (insbesondere Ronsards). 3 Als sein an2 3

Vgl. die Auswahl in Kühlmann u.a. (1997), S. 753-861 (Kommentar S. 1395-1483). Vgl. Pott (2005), S. 83f.

Schede (Melissus): „Lied"

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spruchsvollstes Lyrik-Werk gilt Spinae / Acanthae (Dornen) in 36 Büchern (seit 1575); davon sind lediglich wenige Texte erhalten. 4 Deutschsprachige Lyrik hat er wohl nur gelegentlich verfasst; erhalten sind insgesamt fünf Gedichte, die erstmals Zincgref 1624 im Anhang zu Martin Opitzens Sammlung deutschsprachiger Gedichte drucken ließ: Opitz von Boberfeld: Teutsche Pöemata und ARISTARCHUS. Wieder die Verachtung Teutscher Sprach, Item Verteutschung Danielis Heinsij Lobgesangs Iesu Christi, und Hymni in Bachum Sampt einem anhang Mehr auserleßener geticht anderer Teutscher Pöeten. Der gleichen in dieser Sprach Hiebeuor nicht auß kommen. Straszburg In Verlegung Eberhard Zetzners. Anno 1624.

1. Paraphrase zum Text und erste Kennzeichnungen Der Analyse des Gedichtes sei eine Paraphrase vorausgeschickt. In einer ersten Sequenz folgt die erinnernde Rede des Sprechers dem Skript , Rosen pflücken': Die Blumen sollen zu einem schönen Kranz zusammengesteckt werden, doch fugen die Dornen der Rosen dem Sprecher schmerzhafte Verletzungen an seinen Händen zu. Ungeachtet dessen will er sein Vorhaben nicht aufgeben; er begibt sich - die ,Blumen brechend' - in einen Rosenbestand, wobei er sich viele Verletzungen zuzieht (vgl. Strophe I). Der Sprecher beklagt seine Verwundungen gegenüber ihren Verursachern, den krummen und zackigen Dornen (als ,Begleiter' der Rosen), die auf bloßer Haut schmerzhafte Spuren hinterlassen haben. Diese Erfahrung verallgemeinert er zu der Erkenntnis und Regel, dass - wer immer sich solchen Dornen nähere - Wunden davontragen müsse. Denn Dornen fügen Hautverletzungen ohne Ansehen der Person zu; auch besonders zu schätzende Personen werden nicht verschont - selbst dann nicht, wenn es sich um Göttinnen handelt (vgl. Strophe II). In einer zweiten Sequenz wird von den Selbsterfahrungen des (anzunehmenden) männlichen Sprechers 5 in einer weiteren retrospektiven Erzählung auf die ,Fremderfahrungen' der Göttin Venus übergegangen. Verwundungen der besagten Art habe die Liebesgöttin Venus selbst erlitten: Das Blut aus ihren (Haut-)Wunden habe die ursprünglich weißen Rosen rot gefärbt, die seither als Blumen besonders geschätzt werden (vgl. 4 5

Vgl. Schäfer (1973) und Kühlmann u.a. (1997), S. 1476. Die gepriesene „Rose" (V.25) ist als Frau zu verstehen, und es gibt keine gegenteiligen Signale dafür, dass von der Standardsituation einer Mann-Frau-Beziehung abgewichen wird.

22

Jörg Schönert

Strophe III). In der dritten Sequenz wird nun von dem allgemein-mythologischen Wissen erzählend wieder zurückgelenkt auf die besondere Erfahrung des Sprechers; es wird der bestimmende thematische Frame (die Liebe zu einer Frau) eingeführt und nach dem Skript ,Liebeswerben' entwickelt. Der Sprecher schildert seine Beziehung zu einer ,Rose' im Sinne einer - ob ihrer guten Eigenschaften zu preisenden - Frau, mit der er sich in Liebe verbinden wollte. Dass sie im Vergleich mit anderen Frauen „in Schwaben und in Francken" (V.30) eine außergewöhnliche Erscheinung ist, bekümmert - im Hinblick auf den Erfolg seiner Werbung den Sprecher, der sich selbst nicht rühmen, sondern sich nur als mutlos und ,liebeskrank' (im Sinne des frühneuzeitlichen Topos) beklagen kann (vgl. Strophe IV). Nach den Retrospektiven wechselt die Rede sodann in das Präsens: Der Sprecher unterstreicht sein Verlangen nach dieser außergewöhnlichen Frau (der ,Rose unter den Frauen') und beklagt zugleich, dass seine Wünsche nicht erhört werden, so dass er Liebesqualen erleidet, die einer Kreuzigung gleichen. Je mehr die geliebte Frau sein Werben (iterativ) missachtet, umso heftiger und schmerzlicher sind seine emotionalen Leiden (vgl. Strophe V). Abschließend wendet er sich direkt an die begehrenswerte Frau, seinen „liebsten Schatz auf Erden" (V.41) und seinen heftigsten Plagegeist - mit der Bitte, ihn (dem Skript Bereinigung in Liebe' folgend) in Zukunft nicht länger durch abweisendes (schmerzendes) Verhalten zu quälen, sondern ihn zu erhören und an sich zu binden, so dass nun sie das Rosenkränzlein zur gemeinsamen Liebe winden könne (vgl. Strophe VI). Die ,pictura' des Rosenbrechens steht für die ,subscriptio' des Liebesverlangens (hier: des Mannes), 6 der schließlich geflochtene Rosenkranz für ein mögliches Liebesbündnis (zwischen Mann und Frau). Die schöne rote Rose mit ihren Dornen ist das Sinnbild für die Liebe mit ihren Wonnen und Schmerzen. Das Röten der (ursprünglich weißen) Rosenblätter durch die Blutstropfen der - von Dornen verletzten - Liebesgöttin markiert für die visuelle Erscheinung der Blume den Zusammenhang von Schönheit und Schmerz, den die Dornen zufügen. In der hier zitierten mythologischen ,Urszene' des Rosenbrechens ist Venus (als Frau) diejenige, deren ,Begehren' der Rose gilt. Damit mag impliziert sein, dass in einer Liebesbeziehung die Frau nicht nur durch das Abweisen des Liebhabers 6

Vgl. u.a. auch Schweikle (1989) zum Bildgebrauch im Minnesang: „bluomen brechen (vgl. lat. de-florare), metaphorisch für eine Liebesvereinigung in freier Natur [...]; Varianten sind rösen lesen [...], ze hohe gän [...] u.a." (S. 195).

Schede (Melissus): „Lied"

23

Schmerzen zufügen kann, sondern - im schließlichen Vollzug der Liebe auch selbst körperlich verletzt wird durch ,den Dorn': in der Defloration.7 2. Intertextuelle Bezüge Zunächst sind zwei bildliche Konstellationen fur die Explikation des thematischen Frame zu unterscheiden: Zum einen ist es ,die Rose unter den Dornen' (,rosa inter spinas') als die schöne Kostbarkeit zwischen dem (All-)Gemeinen - so entwickelt Martin Luther das ursprüngliche Bild von der Lilie unter den Dornen für die Unvergleichlichkeit der Geliebten (vgl. im „Lied" V.29f.) in seiner Übersetzung des Hohelieds Salomos (Hld 2, 2). Dieser Anspielungszusammenhang ist bei Melissus das intertextuelle Grundmuster für die vom Sprecher vollzogene Gleichsetzung der umworbenen Frau mit der Rose (vgl. V.25f.). Zum anderen geht es um die Zusammengehörigkeit von Rose und Dornen als Bild für schmerzensvolle Liebe - wohlbekannt bereits aus der mittelalterlichen Tradition des deutschsprachigen Minnesangs. In der zeitgenössischen Emblematik werden für den „Rosenstock mit Dornen und Blüten", für die „Rose erblüht aus Dornen", für die „Rose mit Dornen, von einem Mann gepflückt" oder für „weiße Rose mit Dornen, von Venus gepflückt"8 auch weitere kontrafaktische Verbindungen von Mühsal und Erfolg oder Freude und Schmerz angelegt: Wer die Rose im grünen Hag pflücken will, soll sich nicht wundern, wenn er sich in den Finger sticht. Das Gute ernten wir nie ohne irgendwelche Trübsal. Ebenso kommt Freude nicht ohne Schmerz. Alles ist gemischt, kurz, es steht so, dass man nach dem 7

8

Umschrieben ist dieser Zusammenhang in der ,subscriptio' zum Emblem „weiße Rose mit Dornen, von Venus gepflückt" mit der ,inscriptio' „Defloratio": Venus hat die „Blume der Jugend bei einem weißen Mädchen" gepflückt; „der Stich bringt eine Wunde, und Blut fließt hervor": Die weiße Rose steht nun da „in süßer Röte mit breit entfalteten Blättern" - Henkel / Schöne (1978), S. 299. Das Deflorations-Motiv kennzeichnet beispielsweise auch Goethes Bearbeitung des Volksliedes vom „Heidenröslein" (vermutlich 1771 entstanden), vgl. dazu den Kommentar von Karl Eibl in der Frankfurter Ausgabe zu Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke. Bd. 1.1. Frankfurt a.M. 1987, S. 830, sowie Gerhard Sauder im Goethe Handbuch. Bd. 1: Gedichte, hg. von Regine Otto u. Bernd Witte. Stuttgart / Weimar 1996, S. 127-132. Ein neunstrophiges Volkslied aus der Sammlung des Paul von der Aelst (1602) lag Herder vor, der es ,zeitgleich' mit Goethe mehrfach bearbeitete. Mit Goethes Text zum „Heidenröslein" und dem ,wilden Knaben' wird das Motiv von Verfuhrung - wenn nicht gar Vergewaltigung; vgl. dazu Woesler (2005), S. 198f. - einer Frau dominant, das in dem ,Rosen'-Gedicht von Melissus keine Rolle spielt. Siehe Henkel / Schöne (1978), S. 295-300.

24

Jörg Schönert Schmerz oft Freude erlebt. Nach einem starken Wind sieht man bald schönes Wetter, ein großes Glück kommt nach einem Unglück. Deswegen soll jeder weise Mensch darüber nachdenken, dass keine Lust ohne Schmerzen ist.9

Im Kontext dieser Bildlichkeit ist im neulateinischen Werk von Paul Schede vor allem die Sammlung von Liebeslyrik (in petrarkistischer Tradition) unter dem Titel Spinae (Dornen), später gräzisiert als Acanthae, zu beachten. Zudem ergeben sich über ,Venus' und ,Rose' Bezüge zur Mythologie der Antike. Venus ist die altitalienische Göttin des Frühlings und der Gärten, im hellenisierten Status die Göttin der Liebe und der Schönheit. Die Rose (als schönste Blume und als Blume der Liebe) ist Venus zugeordnet, die Blume ist ihr ,heilig'. Die uns bekannte Haupterscheinungsform der roten Rose soll aus dem Blut von Venus (und dem ihres Sohnes Cupido) entstanden sein: Als Venus die ursprünglich weiße Blume brechen wollte, wird sie verletzt, und ihr Blut färbt die Pflanze rot.10 In einer variierenden mythologischen Erzählung hat sich Venus nicht an den Dornen beim Blumenpflücken verletzt, sondern wurde von der Lanze ihres Söhnleins Cupido an der Brust verletzt, so dass die Frau nicht mehr als Agierende verwundet wird, sondern als das Opfer von (im Kind verdeckter) männlicher erotischer Aggression erscheint. In einer weiteren Darstellung entsteht die rote Rose im Zusammenhang der Liebesbeziehung zwischen Venus und Adonis als Konsequenz des nunmehr männlichen Opfers', des tödlich verwundeten Adonis: Aus seinem Blut wachsen Rosen und Anemonen.11 Und schließlich wird die Rose als Königin der Blumen (in ihrer dornenlosen Spielart) auch der ,Himmelskönigin' Maria zugeordnet. In seiner neulateinischen Lyrik hat Melissus bereits 1575 in den Spinae eine Rosina-Gestalt entworfen (Rosina ist die Koseform von ,Rosa'), die - in einem Traumbild - dem Sprecher als zukünftige Ehefrau verheißen wird.12 Im Petrakismus (und in verwandten Lyrik-Modellen) entzieht sich die Geliebte dem Werbenden - so wie die Rose durch ihre Dornen den sich ihr Nähernden (den Rosen Brechenden) auf Abstand hält. Doch baut sich die Spannung in den Rosina-Texten von Melissus nicht

9 10 11

12

Ebd., S. 298 (zu „Rose mit Dornen, von einem Mann gepflückt"). Vgl. u.a. in Zedlers Universallexikon. Bd. 32 (1742), Sp. 836; siehe hier auch Anm. 7. Vgl. u.a. in Ovids Metamorphosen, X, V.728ff. (eingesehen wurde die deutsche ProsaÜbersetzung von Michael von Albrecht. 4. Aufl. München 1988). Vgl. Schäfer (1973), S. 2211

Schede (Melissus): „Lied"

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aus Begehren und Verweigern auf, sondern aus der Frage, wann die Verheißung des Eheglücks eingelöst werden kann.13 3. Formale Aspekte Im „Lied" werden die sechs (jeweils achtzeiligen) Strophen mit Kontrasteffekten gebaut: Gestützt auf das durchgehende metrische Grundmuster der dreihebigen Jamben sind die ersten vier Zeilen einer Strophe im Kreuzreim (a-b-a-b) und mit dem Wechsel von weiblichem und männlichem Zeilenausgang verbunden, die zweiten vier Zeilen im umarmenden Reim (c-d-d-c) mit zunächst weiblichem, dann zweimal männlichem und wiederum weiblichem Zeilenausgang. Die Regelmäßigkeit des Metrums wird vielfach gestört. Zeilen-Enjambements sind häufig (V.lf., 3f., 6f., 14f., 20ff., 29f., 31 f. u. 47f.); sie finden sich vor allem in den Strophen I, III und IV. Die phonetische Organisation des Textes lässt darauf schließen, dass die Rede des Sprechers keiner strengen und durchgehenden Orientierung folgt, sondern unterschiedliche Organisationsmuster benutzt und erprobt, um aus spannungsvollen Konstellationen zu einem ,guten Ende' zu kommen. Diese thematische Perspektive wird mit Hilfe der Reimstruktur pointiert in den Strophen V und VI herausgearbeitet: Die ersten vier Verse der Strophe verbinden Einstellungen und Aktionen, während die letzten vier Verse (mit umarmendem Reim) einen daraus resultierenden Zustand beschreiben, wobei die extreme Leiden-Situation des Sprechers in Strophe V mit der erwünschten Freuden-Situation einen markanten (und unerwarteten) Kontrast bildet. 4. Skripts und Ereignisse Das sechsstrophige „Lied" hat eine deutliche Zäsur nach der dritten Strophe, die eine Veränderung der Skript-Gestaltung bringt. Die ersten drei Strophen folgen dem Skript ,Rosen brechen' als Aktion des Begehrens nach der Liebe eines Partners (die sich im ,Rosenkranz' erfüllt). Dieses Begehren wird jedoch - ohne dass Gründe genannt werden - mit den Verletzungen durch die Dornen der Rosen abgewiesen und bestraft. Dass sich ein solches Geschehen sowohl in der Alltagssituation des Sprechers als auch im herausgehobenen Fall der Göttin Venus vollzieht, verweist darauf, dass es sich um die prinzipielle Konstellation von Liebesbezie13

Vgl. Schäfer (1973); Kühlmann u.a. (1997), S. 1475f. u. 1396f.

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Jörg Schönert

hungen handelt (mit ihrer Verbindung von Freuden und Leiden). Insofern sind die Verwundungen, die der Sprecher erlitten hat, vorauszusehen - sie sind kein Ereignis im emphatischen Sinne. Die Verletzungen, die Venus erleidet, sind - angesichts ihres Status als Göttin der Liebe - in der Ereignishaftigkeit gesteigert, doch im Prinzip nicht unerwartet. Das Skript für die Strophen IV bis VI präzisiert den generellen Zusammenhang von ,Wonnen und Schmerzen der Liebe', indem es entschieden dem petrarkistischen Muster von Liebesbeziehungen folgt: Angesprochen wird das Liebeswerben eines Mannes um die sich ihm entziehende begehrenswerte Frau. Markiert ist der petrarkistische Gegensatz von Rose und Dorn [...], der unter wechselnden Aspekten als ein Zugleich von Glück und Unerfiilltheit in solcher Liebe oder [in der von Melissus nicht aufgegriffenen poetologischen Reflexion] als eine Verbindung von unbefriedigendem Thema und der Süße seiner Gestaltung dargestellt wird.14

Für das erste Skript ließe sich vermuten, dass der Sprecher wegen der erlittenen Verletzungen - wie vorauszusehen war - den gewünschten Kranz nicht winden kann; es kommt zu keinem emphatischen Ereignis. Für das zweite Skript werden zunächst die üblichen Leiden, die aus den petrarkistischen Gestaltungen des erotischen Begehrens resultieren, geschildert, um dann (deutlich ereignishaft) dieses Modell dadurch zu variieren, dass - als Wunsch und prospektives Skript formuliert - die umworbene Frau dem um sie Werbenden entgegenkomme, ihn erhöre und zum Zeichen dieser Zustimmung selbst den Rosenkranz für die gelungene Verbindung winde. Was dem Sprecher nicht gelang, soll nun die (in der Rede des Gedichts angesprochene) Geliebte leisten. Das Gedicht selbst, die vom Sprecher formulierte Situation des Leids aus unerfüllter Liebe und des Verlangens nach Umkehr dieser Konstellation, soll dazu dienen, das Ereignis einer erfüllten wechselseitigen Liebe herbeizuführen.

5. Zum Modus der Rede und zu ihrer semantischen Organisation Bereits die erste Zeile referiert auf einen autodiegetischen Sprecher, der im Rückblick (im epischen Präteritum) von seinen leidvollen Begegnungen mit den dornenbesetzten Rosen erzählt (vgl. V.l-8). Am Ende dieser kurzen Retrospektive (vgl. V.9ff.) formuliert er die Anrede an die Widersacher', die Dornen, die ihm als Opponenten seines Liebesverlangens erscheinen. Die persönliche Erfahrung wird dann verallgemeinert zur Aus14

Schäfer (1973), S. 227.

Schede (Melissus): „Lied"

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sage des Sprechers über die schmerzhaften Folgen des Kontaktes mit Dornen - und damit auch (metonymisch) der Rosen und (emblematisch) der Liebe: Liebe geht einher mit Leiden. Diese allgemeine Erkenntnis wird in einem zweiten (zeitlich viel weiter zurückreichenden) Rückblick des ,wissenden' Sprechers durch das Exempel der Göttin Venus belegt und mit der Erzählung zum Entstehen der ,roten Rosen' erweitert. Bereits für die Eingangsaussage (einen Kranz aus Rosen binden zu wollen) lässt sich als Frame die Liebesthematik assoziieren; mit dem Einfuhren der Göttin Venus wird das Thema verstärkt und ab Strophe IV mit dem zweiten Skript entfaltet. Die Rede des Sprechers wechselt in das Präsens, in den Lobpreis der geliebten Frau: Der Sprecher würde gerne mit ihr eine feste Verbindung eingehen - wenn sie nur wollte. Dass dies nicht der Fall ist, wird in Vers 31 f. deutlich: Der an seiner unerfüllten Liebe Erkrankte wird durch den Gedanken an die geliebte Frau Tag und Nacht beunruhigt, bekümmert (,angefochten') und geschwächt in seiner Kraft zum Umsetzen seiner Wünsche. Seine Rede wird zur Liebesklage und zur Anklage an die sich entziehende Frau. Dass die Geliebte die Gegenliebe verweigert, führt zu einer zukünftig tödlichen Leidensgeschichte des Liebenden, die in der (zeitgenössisch geläufigen) Passionsmetaphorik erzählt wird: zur ,Kreuzigung' des Sprechers (vgl. V.35-40). Damit würde das benutzte Skript ,Liebeswerben' zu einem erwartbaren, aber extremen Ende gefuhrt. Wie in Vers 9f. die Opponenten, die Dornen, angeredet werden, so wendet sich in Vers 4Iff. die Rede nun an die Geliebte als Opponentin des Sprechers (und seiner Interessen), so dass Dornen und die sich versagende Geliebte in Stellvertretung gesetzt werden können. Die Rede bleibt bis zum Schluss in der Anredeform und formuliert den Wunsch zu einem prospektiven ereignishaften Geschehen: Die Geliebte möge - entgegen den Vorgaben des petrarkistischen Modells - in die erstrebte dauerhafte Verbindung eintreten. Dieser Wunsch wird abschließend zum einen unterstützt durch den Liebes- und Treueschwur des Sprechers (vgl. V.45f.) und zum anderen durch einen - dem Hauptwunsch zugeordneten - Wunsch nach einem Beweis für die Zuneigung der geliebten Frau: Sie möge das leisten, was dem Sprecher nicht gelungen ist - nämlich einen Kranz von Rosen zu winden, so dass sich der Bericht über das vergangene erfolglose Geschehen zum Kranz-Winden und die Zukunftshoffnung auf den von der Geliebten geschaffenen Kranz wie in einem Kranz zusammenschließen lassen. Die Rede des Sprechers hatte in das intensive Ausarbeiten seiner Leidens- und Notsituation deren mögliche Verände-

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rung von Anfang an eingeschlossen; sie war auf das außergewöhnliche Ereignis angelegt, dass die Ergebenheits- und Treueversicherung des Mannes nicht nur als zu erwartende Leistung im Liebeswerben erscheint, sondern durch eine ,Gegenleistung' der umworbenen Frau erwidert wird. ,Logisch konsequent' bliebe zu fragen, wie der Frau das Herstellen des Rosenkranzes gelingen soll, das dem Mann wegen der ,wehrhaften Dornen' unmöglich war. Dabei wäre im Sinne der Ausdeutung des zentralen Bildbereiches von den dornenbesetzten Rosen anzunehmen, dass Leid und Verletzungen in der Liebesbeziehung nur dann entstehen, wenn das Werben um den Partner unerwidert bleibt (wenn er - oder sie - sich der Rose ungeschützt in seinen Gefühlen nähert, das heißt „nacket" und „in gefahren" - V . l l u. 19). Das wäre nicht der Fall, wenn die umworbene Frau sich dem Werben des Mannes nicht mehr widersetzt und eigenhändig den Rosenkranz als Zeichen für die erreichte Verbindung flicht. ,Zerschrunden zu werden' (vgl. V.10) wäre nur dann eine notwendige Folge des liebenden Verhaltens, wenn es unerwidert durch Gegenliebe bleibt. Der allgemeinen Regel, die in Strophe II formuliert wurde, ist nun - als überraschende Pointe (,in a sophisticated manner') - eine Ausnahme zugeordnet.15 Zur ,wunderbaren' (höchst ereignishaften) Erlösung von den Liebesqualen soll im prospektiven Wunsch, mit dem der Sprecher seine Rede abschließt, die - mit der ,pictura' (in den Strophen I bis III) etablierte - Regel außer Kraft gesetzt werden, dass Liebe stets auch Leid bedeutet. Im Sinnzusammenhang des „Liedes" kann der Bildzusammenhang von Rosen, Dornen und Liebe pointiert werden: Rosen zu brechen, hieße also in eine Liebesbeziehung einzutreten, und der Kranz, der aus den Rosen zu winden ist, wäre das Bild für die sich wechselseitig erfüllende Liebe. Der zentrale Bildbereich der Rosen wird somit in zweifacher Hinsicht entfaltet: Zum einen sind die Rosen mit negativen, zum anderen mit positiven Erfahrungen besetzt. Ihre ,zerritzenden' harten Dornen, die bluttriefende' Wunden und Narben verursachen, verweisen auf die Schmerzen, die bei unerwiderter Liebe entstehen und zu Schwäche, Krankheit, Leiden, Qual und Pein führen, die sich bis hin zum Tod am Kreuz (vgl. 15

Eine Verstehensmöglichkeit wäre auch, dass der (männliche) Sprecher mit dieser Aufforderung der Frau die Verwundungen zumuten will, die er selbst beim ,Rosen brechen' erlitten hatte. Doch dadurch, dass in Strophe IV und V der allgemeine Fall der .Liebesleiden' präzisiert wird als Leiden, die aus dem Sich-Verweigern der Geliebten resultieren, wäre in einem solchen Vorgehen die Regelhaftigkeit von Verwundungen als Folge des unerfüllten Verlangens nach Gegenliebe durchbrochen.

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V.35: womöglich mit einer Krone aus Dornen) steigern. Der Blütenkörper der Rose - zur Fülle versammelt im Rosenkranz - steht dagegen für das Wohlgefällige und Begehrenswerte (V.2: „hübsch", V.15: „nitlich", V.18: „schön" und „zart", V.26: „tugent voll", V.44: „fro", V.46: „lieb und trew"). Stellvertretend könnten für die beiden Aspekte einer Liebesbeziehung der Dornenkranz (als säkularisierte Dornenkrone des in der Liebe Gekreuzigten - vgl. V.35) und der Kranz aus Rosen (vgl. V.2 u. 48) stehen.16 6. Fazit Die Strophen I bis III lassen sich als eine narrativ organisierte ,pictura 1' zu den Verwundungen und Schmerzen, die jede Liebesbeziehung mit sich bringt, verstehen. Dieser ,pictura 1' wird dann in den Versen 25 bis 42 eine weitere ,pictura 2' zugeordnet, die (im petrarkistischen Sinn) Erklärungen für solche Leiden (gesteigert als Qualen) bietet: Sie resultieren aus unerwiderter Liebe. Die ,pictura 2' kann zugleich als auslegende und konkretisierende ,subscriptio' zu den Strophen I bis III aufgefasst werden. Die abschließenden Verse 43 bis 48 bieten dann die überraschende Möglichkeit, mit Hilfe einer prospektiven Erzählung dem petrarkistischen Schema zu entgehen und - mit der Logik dieses Erklärungsschemas für Liebesleid - auch die Vorgaben der ,pictura Γ außer Kraft zusetzen: Wenn es zu wechselseitigen Bekenntnissen und Aktionen der Liebe kommt, verlieren die ,Rosen der Liebe' ihre Dornen, und der Rosenkranz kann zum Zeichen einer Liebesgemeinschaft geflochten werden. Die Gesamt-, subscriptio' für die Strophen I bis VI könnte also lauten: Liebe bringt nicht nur Freude, sondern erhebliche Leiden - insbesondere dann, wenn das ,Begehren' vom gewünschten Partner nicht akzeptiert wird; doch kann diese qualenreiche Konstellation mit einem Schlag zur Freude' gewendet werden, wenn sie sich zur Wechselseitigkeit entwickelt. Das heißt für das „Lied", dass der Wunsch des Sprechers, einen Rosen16

Ich sehe keinen Anlaß dazu, das „Rosenkrentzelein" (V.48) analog zur (in V.35) angesprochenen Kreuzigungssituation (die für den Liebenden vermutlich nur den Leidensaspekt, nicht aber die Erlösungsperspektive durch Stellvertretung für alle Liebenden aktiviert) mit der perlen- bzw. kugelbesetzten Gebetsschnur des Rosenkranzes ^rosarium') in eine assoziative Verbindung zu bringen, obwohl die vom Rosenkranz abgeforderten Gebetsfolgen nach den Bezügen zum Leben Jesu u.a. als schmerzhaft, freudenreich und glorreich gekennzeichnet werden. Diese Bezeichnungen könnten im säkularisierenden Gebrauch auch für die Phasen einer Liebesbeziehung eingesetzt werden, doch bietet dazu der Text von Melissus keine deutlichen Anknüpfungspunkte.

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kränz als Zeichen der erreichten Liebesbeziehung zu winden, von der Partnerin übernommen wird, so dass sich daraus eine entscheidende und dauerhafte Veränderung in der Existenz des Sprechers ergibt. Im Zeichen dieser Argumentation schließen sich die Strophen I und VI mit den Versen lf. und 47f. - die das „krentzelein" thematisieren - zu einem Kranz von Wunsch und Erfüllung in der Pointe, dass dieses Schließen dadurch möglich wird, dass der ,Begehrende' die von ihm gewünschte Aktion der ,Begehrten' zum Ausfuhren überträgt. Ungeachtet einer solchen zusammenführenden Konstruktion bleiben noch Fragen offen zur genaueren Rekonstruktion der ,pictura Γ: Wird beim Rosenbrechen (dem Liebesverlangen) nur der- / diejenige von Dornen verletzt, der / die sich nicht hinreichend schützt („nacket" ist - V. 11), sich unbedacht in ,Gefahr' begibt - etwa durch das ,Gefahr bringende' einseitige Lieben (die im petrarkistischen Sinne unerwiderte Liebe)? Müssen überhaupt im poetischen Vorgehen dieses Textes, im Ausarbeiten der , pictura', strenge Regeln im Sinne kausal erzeugter Narrationen zum Aufbau der fiktionalen Welt gelten? Könnte die ,Venus-Erzählung' (V. 17-24) nicht mit Hilfe der Erfahrungen der Liebesgöttin in letzter Instanz beglaubigen, dass mit dem Lieben unausweichlich Verwundungen und Leid riskiert werden müssen? Ist es dann nicht umso überraschender (und damit ,ereignishaft'), dass aus einer prospektiven Erzählung zu den Konstellationen wechselseitiger Liebe Möglichkeiten erwachsen, den festgeschriebenen Abläufen des scheiternden Liebeswerbens zu entgehen? Dass Melissus mit seinem „Lied" den emblematischen Kontext von ,Rose mit Dornen' aus dem Miteinander von Schmerz und Freude ,erzählend' in ein Nacheinander von Liebesleid und Liebesglück überführt, erscheint als ein gelungenes ,poetisches Experiment'.17

Literatur Conrady, Karl Otto 1962 Lateinische Bonn.

Dichtungstradition

und deutsche Lyrik des 17.

Jahrhunderts.

Henkel, Arthur / Schöne, Albrecht (Hg.) 1978 Emblemata. Handbuch zur Sinnbildkunst des 16. und 17. Jahrhunderts. Stuttgart.

17

Sandra Pott (King's College London) und Johann Anselm Steiger (Universität Hamburg) danke ich fur hilfreiche Hinweise zu meinen Überlegungen.

31

Schede (Melissus): „Lied" Kühlmann, Wilhelm u.a. (Hg.) 1997 Humanistische Lyrik des 16. Jahrhunderts. a.M.

Lateinisch

und deutsch. Frankfurt

Pott, Sandra 2005 Zweisprachigkeit oder Mehrsprachigkeit? Muster der Selbstbeschreibung in der poetologischen Lyrik des deutschen Humanismus, in: Christiane Maass / Annett Volmer (Hg.): Mehrsprachigkeit in der Renaissance. Heidelberg, S. 7590. Schäfer, Eckart 1973 Die „Dornen" des Paul Melissus, in: Humanistica S. 217-255.

Lovaniensia

22 (1973),

Schweikle, Günther 1989 Minnesang. (Slg. Metzler 244). Stuttgart. Woesler, Winfried 2005 Goethes „Heidenröslein". In: Wirkendes Wort 55 (2005), H. 2, S. 195-208.

JÖRG SCHÖNERT

Andreas Gryphius: „An die Welt" (Sonette. Das erste Buch. Nr. XLIX)

5

10

Mein offt besturmbtes Schiff der grimmen winde spiell / Der frechen wellen baall / das schier die flutt getrennet / Das vber klip auff klip' / vndt schäum / vndt sandt gerennet; Kombt vor der zeit an port / den meine Seele will. Offt wen vns schwartze nacht im Mittag vberfiell: Hatt der geschwinde plitz die Seegel schier verbrennet! Wie offt hab ich den Windt / vndt Nord' vnd Sudt verkennet! Wie schadhafft ist der Mast / Stewr=ruder / Schwerdt vnd Kiell. Steig aus du müder Geist! steig aus! wir sindt am Lande! Was grawt dir fur dem portt / itzt wirstu aller bände Vndt angst / vndt herber pein / vndt schwerer schmertzen los. Ade / verfluchte weit: du see voll rawer stürme: Glück zu mein vaterlandt / das Stätte ruh' im schirme Vnd schütz vndt friden hält / du ewiglichtes schlos.

Andreas Gryphius: Sonette. Das erste Buch. [1643, Ausgabe B], hg. von Marian Szyrocki - als Bd. 1 in: Andreas Gryphius: Gesamtausgabe der deutschsprachigen Werke, hg. von Marian Szyrocki u. Hugh Powell. (Neudrucke deutscher Literaturwerke, NF 9). Tübingen 1963, S. 61.'

Wie vielfach in der Lyrik des 17. Jahrhunderts ist dieses Sonett nach dem emblematischen Muster zu verstehen: 2 Die dargestellte Gegebenheit oder das erzählte Geschehen bildet die ,pictura', aus der sich die Leser - geleitet vom kulturellen Wissen - eine ,subscriptio' erschließen sollen. Der hier angelegte ,pictura' / ,subscriptio'-Zusammenhang von ,Schiffsreise' und ,Lebensweg' wird im ersten Schritt der Text-Analyse nur punktuell 1

2

In der Leydener Edition von 50 Sonetten (B) steht „An die Welt" an vorletzter Stelle. Fragen zum Stellenwert des Textes in der Gesamtfolge der Sonette werden in der hier vorgelegten Text-Analyse vernachlässigt. In der Sonette-Ausgabe von 1650 (C) ergeben sich für den Textstand nur unwichtige Varianten. In den Ausgaben von 1657 (D) und 1663 (E) findet sich eine markante Variante zu Vers 3: „Das wie ein schneller pfeil nach seinem ziele rennet"; zudem wird in Vers 13 „stete" und in Vers 14 „ewiglichtes" geschrieben. Diese spätere Textgestalt ist abgedruckt in: Gryphius (1961), Bd. 3, S. 125f. Vgl. dazu u.a. Kemper (2004), S. 164-168; siehe auch Witte-Heinmann (1973). Für hilfreiche Hinweise zum ideengeschichtlichen Kontext zu „An die Welt" sei Sandra Pott (King's College London) herzlich gedankt.

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Jörg Schönert

angesprochen, um zunächst die narrative Organisation der Sequenz ,Ankunft im Hafen nach beschwerlicher Seereise' zu beschreiben. Die Erzählung erfolgt in der (weithin regelmäßig erfüllten) strophischen Form des Sonetts in sechshebigen Jamben (mit Zäsur nach dem dritten Versfuß) und dem Reimschema a-b-b-a, c-d-d-c, e-e-f, g-g-f. In den beiden Quartetten, die auch syntaktisch voneinander getrennt sind, werden die Zeilenausgänge im Gegensatz zum letzten Teil des Sonetts nicht mit Enjambements überspielt. Die Beschreibung der Gefahren einer Seereise erstreckt sich auf die beiden Quartette, wobei im zweiten Quartett die Klage über die unzulänglichen Mittel zur Abwehr dieser immer wieder auftretenden Gefahren emphatischen Charakter erhält (V.7f.). Emphase bestimmt auch die abschließenden sechs Zeilen (die beiden Terzette) des Sonetts; sie fuhrt im Aufzählen der Belastungen des Erdenlebens in den Versen 10 und 11 sowie 13 und 14 zu Enjambements - in Passagen, die weniger vom Erzählen als vom Appellieren bestimmt sind.

1. Zur Struktur der Erzählung , Ankunft im Hafen nach beschwerlicher Seereise' Die Erzählung wird von einem autodiegetischen Erzähler getragen; 3 sie setzt am Ende einer langen, beschwerlichen Seefahrt bei der Ankunft im Hafen ein (V.4) und steht im Präsens; das Geschehen und das Erzählen erfolgen gleichzeitig. Einbezogen sind aber auch zwei kurze Analepsen (V.l-3 u. 5-7). In den Versen 1 und 2 (bis zur Zäsur) wird der Status des (,zerbrechlichen') Schiffes als Spielball der mächtigen Elemente (Wind und Wasser, Sturm und schwere See) gekennzeichnet: Ein Geschehen, das sich mehrfach ereignet hatte, wird in „offt besturmbt" (V.l) zusammengefasst mit Verweis auf die Opponenten' des Schiffes (und seiner Besatzung): die „grimmen winde" und die „frechen wellen". In Vers 8 wird diese Bilanz zu den prinzipiellen Gefahren einer Schiffsreise ergänzt mit Hinweisen zur ,Materialschwäche' des Schiffes (als Allegorese auf die ,gebrechliche Existenz' des Menschen), so dass Wetterunbilden, ein wenig taugliches Gefährt und menschliches Versagen (vgl. V.7) die Hauptfaktoren im Frame ,Gefahren der Seefahrt' bilden. Die zweite Halbzeile von Vers 2 sowie Vers 3 enthalten eine (Kleinst-)Erzählung davon, 3

Das Sprecher-Ich ist jedoch nicht als individualisierte Figur wie etwa im Erlebnisgedicht des späten 18. Jahrhunderts zu verstehen, sondern als figurales Konstrukt, das allgemein-menschliche Komponenten wie Körper, Geist und Seele oder die ,Rollen' von beförderndem Schiff, steuerndem Kapitän und erlebendem Passagier verbindet.

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wie nahe die Gefahren von Schiffbruch und ,Auf-Grund-Laufen' waren. Sie rufen dem Leser ins Bewusstsein, wie leicht aus der grundsätzlichen Bedrohung („offt besturmbt") ein Scheitern folgen kann. In Vers 5 bis 7 wird diese Erfahrung mit der Erzählung von wiederholten Gefährdungen in knappen Analepsen weiter veranschaulicht: Erzählt wird von heftigen (Tages-)Gewittern und der Zerstörung der Segel sowie von der (Selbst-) Gefährdung durch falsches Einschätzen der Wetterlage und fehlerhaftes Navigieren. Alle diese Vorkommnisse können zum einen als ein (mehrfach expliziertes) Sequenzelement für die Makrosequenz ,Seereise' angesehen werden; sie erscheinen als Hindernisse auf dem Weg zum Ziel, dem Hafen. 4 Bis zur Information über die Ankunft im Hafen (vgl. V.4) wäre auch noch die Erzählung über einen Schiffbruch denkbar. Die Geschehenselemente folgen dem Skript ,beschwerliche Seereise'; sie sind nicht als Ereignisse (als Abweichungen von einem erwarteten Verlauf) einzuordnen. Ein niedriger Grad an Ereignishaftigkeit ergibt sich womöglich aus der extremen Steigerung der üblichen Gefährdungen einer Seereise. Zum anderen sind diese Vorkommnisse als Indizes dem Frame , Gefahren der Seefahrt' zuzuordnen (in allegorischer Bedeutung ist damit auf das menschliche Leben als einen mühevollen und arbeitsreichen Existenzkampf in der Folge von äußeren Bedrohungen und eigener Schwäche verwiesen). In den Versen lOf. wird dieser Frame erneut über „angst" angesprochen (sowie in Vers 12 mit „rawer stürme" ergänzt) und mit einem zweiten (semantisch verwandten) Frame verbunden, mit dem Zusammenhang von Fesseln („bände"), „herbe pein" und „schwere schmertzen" (V.lOf.). Damit ergeben sich konkrete Assoziationen zu Gefangenschaft und Folter - als einer ergänzenden ,pictura', die auf die unerlöste Existenz des Menschen, auf seine Gefangenschaft im Irdischen verweist. Allerdings wird in Vers 4 ein Vorkommnis berichtet, das als weiteres Sequenzelement und als erstes Ereignis anzusehen ist. Die Erzählung weicht nun von dem angelegten Skript ab: Die zahlreichen Gefahrdungen haben das Erreichen des Hafens nicht verzögert, sondern das auf das Ziel gerichtete starke Verlangen ,der Seele' fuhrt zum vorzeitigen Einlaufen in den Hafen. 5 Dieser Aspekt wird zunächst nicht weiter kommentiert und 4

5

In späteren Fassungen (vgl. Anm. 1) wird mit der Variante in V.3 über den bildlichen Vergleich die Zielbestimmtheit der Seefahrt herausgestellt, nämlich das Erreichen des Hafens (nach Überstehen der Gefahren): wie ein „schneller pfeil" fliegt das Schiff dem Ziel entgegen. Dass es ,die Seele' ist, die hin zum Hafen drängt, lässt sich im Verfolgen der Erzählung auf der ,pictura' verstehen, wenn die ,subscriptio' einbezogen wird: Der gläubige

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erhält erst dann besondere Bedeutung, wenn zum Verständnis des Geschehens der ,pictura'-Ebene auf die ,subscriptio'-Ebene gewechselt werden muss, um die vorzeitige Ankunft mit dem Zaudern beim Landgang (vgl. V.9f.) in Verbindung zu setzen. Die vorzeitige Ankunft löst für den ,Geist', der sich in den Vorkehrungen zum Überstehen der Gefahren der Schiffsreise erschöpft hat, keine Freude aus. Der ,Geist', das planende Denken, konnte sich noch nicht auf den neuen Aufgabenbereich , Ankunft und Heimkehr' einstellen (im allegorischen Sinn: auf den Abschied aus dem Leben in der Welt des Irdischen); 6 ihm fehlt sozusagen Präsenzzeit in der „Schule des Sterbens". 7 Das Vorkommnis des Zauderns entspricht auf der ,subscriptio'-Ebene also durchaus den Erwartungen, die mit dem Skript ,Übergang vom irdischen Jammertal zum ewigen Leben' verbunden werden: Das gottesfürchtige und gelassene Sterben erfordert Vorbereitungen. Für die ,pictura'-Erzählung der Schiffsreise markiert das Zögern dagegen eine Abweichung vom etablierten Skript; es hat einen beträchtlichen Grad an Ereignishaftigkeit (der entschieden höher einzuordnen ist als im Falle der vorzeitigen Ankunft). An das Zaudern könnten Folgehandlungen alternativ angeschlossen werden: (1) das Zögern führt zum Aufschub der erwarteten Aktion (des Landgangs), (2) das Zögern bewirkt die Rückkehr des Schiffes auf die hohe See; zu einem späteren Zeitpunkt wird erneut der Hafen oder ein anderer Hafen angesteuert. Im performativen Vollzug der Rede des Sprechers werden solche Handlungen jedoch durch einen Blick in die nahe (sich nach dem Landgang eröffnende) Zukunft eliminiert: Das von Mühsalen beladene Leben auf See (die „verfluchte welt" - V.12, das ,irdische Jammertal') wird emphatisch verabschiedet. Mit der Apostrophe an „mein vaterlandt", 8 das „ewiglichte schlos", dem auf Dauer ,Schirm und Schutz' und „friden" zugewiesen sind (V.13f.), wird das Zögern überwunden und der Landgang eingeleitet, sein ,Vollzug' wird allerdings nicht berichtet. Die Rede des Sprechers, seine Narration, liegt also zeitlich vor dem wichtigsten Geschehenselement (dem Betreten des sicheren Festlandes); sie dient dazu, diese Zustandsveränderung herbeizuführen und das Skript,Seereise' abzuschließen.

6

7 8

Christ (die ,Christenseele') will aus dem irdischen Jammertal (aus der gefährlichen Schiffsreise) erlöst werden und in das ,ewige Leben' eintreten (,an Land gehen'). Zum besseren Verständnis dieser Konstellation wäre hier das theologische Schrifttum zur Vorbereitung auf das Sterben einzubeziehen. Vgl. Steiger (2000). Der Begriff ist nicht patriotisch zu verstehen, sondern im Sinne von Heimat.

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Die Verheißung von sicherem Leben auf festem Land wird als Frame im Gegensatz zu dem zuvor aufgerufenen Frame gefährdetes Leben auf hoher See' entwickelt (vgl. V.13f.) Anstelle von Gefährdung stehen Schutz und Schirm, anstelle von Kampf und Mühe stehen stete Ruhe und Frieden, anstelle von ,bewegtem Meer' steht das feste Schloss-Gebäude, anstelle von Unheil drohender „schwartzer Nacht" auf See (V.5) der ewige Glanz des Heils (das „ewiglichte schlos" - V.14). Die kontrastierenden semantischen Reihen (die Isotopien) lassen sich mit den Klassemen ,fehlende Sicherheit' und ,gegebene Sicherheit' auf einen gemeinsamen Nenner beziehen; auf der ,subscriptio'-Ebene wird dieser Gegensatz im Sinne des christlichen Glaubens überfuhrt in das anzustrebende Zurücklassen des unsicheren und mühevollen irdischen Lebens zugunsten der Erlösung im ,ewigen Leben' im Zeichen der Gnade Gottes. Doch wird mit dem Zögern vor dem Landgang in der Erzählung der ,pictura'-Ebene auch für die ,subscriptio'-Ebene ein Zeichen gesetzt: Nur für die Instanz , Seele' gilt ohne Einschränkung, dass ein ,Leben auf hoher See' durch das ,Leben auf festem Land' zu ersetzen sei. Dagegen wäre für die Instanz , Geist' - so ist aus der Erzählung , Ankunft im Hafen nach beschwerlicher Seefahrt' zu schließen - dieser Wechsel nicht bedingungslos, nicht ohne entsprechende Erwägungen und Vorkehrungen zu vollziehen. Insofern könnte das naheliegende Verständnis der ,inscriptio' „An die Welt" als Absage an die irdische Welt eingeschränkt werden: Es fehlt die unerschütterliche Sicherheit des Glaubens. Entsprechend hat HansGeorg Kemper zu Gryphius festgehalten: „Zweifel an der Heilsgewissheit und das Ringen um sie artikulieren sich immer wieder in der Sonettsammlung dieses Autors." 9 2. Z u m (historischen) Verständnis von ,Seele' und ,Geist' Mit welchen theologischen Implikationen der Lutheraner Gryphius 10 in seiner geistlichen Dichtung die Begriffe ,Seele' (,anima') und ,Geist' (,spiritus') verwendet, wäre Aufgabe einer eingehenden Analyse, die hier nicht geleistet werden kann. Ausgangspunkt der folgenden Überlegungen sind die umfangreichen Einträge zu den beiden Lemmata im Deutschen Wörterbuch. Auf die Komplexität im historischen Begriffsgebrauch wird vom Deutschen Wörterbuch verwiesen: „geist und seele stehen in einem 9 10

Kemper (2004), S. 167; siehe auch Mauser (1976), S. 119ff. u. S. 131f. Vgl. Steiger (1997).

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eignen schwierigen Verhältnis, theils zusammenfallend theils sich scheidend" (Bd. 5, S. 2661). Vielfach werde von drei prinzipiellen Bereichen der menschlichen Existenz gesprochen, die im Zeichen von Seele, Geist und Leib erscheinen. Im (theologisch inspirierten) kulturellen Wissen des 17. Jahrhunderts werden ,Geist' und ,Seele' oft - ohne entscheidende Abstufungen - zusammengefasst in der Formel ,Geist und Seele', die dann im Gegensatz zu ,Leib' steht." Für die Gleichsetzung bringt das Deutsche Wörterbuch auch einen Beleg für Gryphius: „und wenn dem blöden geist wird vor dem tode grauen, / so steh, ο höchster trost, der schwachen seelen bei" (Bd. 5, S. 2662).12 Für das Sonett „An die Welt" ist jedoch von einer Unterscheidung zwischen ,Geist' und ,Seele' auszugehen: Es „graut" dem Geist (V.10) vor dem Betreten des Festlandes (dem Wechsel in ein neues Leben unter der Bedingung des Sterbens). Der Sprecher ist - wie auch das sogenannte Lyrische Ich in anderen Texten des 17. Jahrhunderts - nicht als eine individualisierte Person mit,eigener' Seele und ,eigenem' Geist und Leib anzusehen, sondern als ein Ich-Konstrukt, das den Christenmenschen repräsentiert (vgl. V.9: „wir").13 In dieser Konstellation kann das Ich unterschiedliche Orientierungen und Aktivitäten von ,Seele' und ,Geist' beobachten. Der , Geist' (die kognitive Kompetenz des Menschen) übernimmt auf der Schiffsreise (des Lebens) die Navigation; er reagiert auf das Geschehen in ,der Welt' und leistet Arbeit bis zur Erschöpfung (vgl. V.9), während die Seele gleichsam für die sinnsetzende Perspektive im Handeln des Menschen zuständig ist, den Blick und die Aktionen auf das Jenseits von Welt' lenkt, nicht auf das erfolgreiche Bekämpfen der Gefahren der Schiffsreise, sondern auf ihr eigentliches Ziel, das Erreichen des Festlandes. Diese ,Ziel-Energie' bewirkt die vorzeitige Ankunft im Hafen (vgl. V.3). Die Beobachtungen des Sprechers zu den wechselnden Orientierungen von ,Seele' und ,Geist' werden in Vers 13f. wieder zusammengeführt in der emphatischen Hinwendung des ,Gesamt-Ichs' zu den Zielen, die im Orientierungsbereich der , Seele' liegen. Zwar wird der Vollzug des Land11

12

13

In dem Sonett „An die Welt" wird für den Leib explizit keine Beschreibung gegeben; implizit gesehen dürfte sein Zustand in Analogie zum Zustand des Schiffes zu sehen sein, nämlich „schadhafft" (V.8). Das Zitat stammt aus dem Sonett (XIII) „Auf den dritten ostertag. Luc [24].", in: Gryphius (1961), Bd. 3, S. 79. Auch wenn von „meiner Seele" (vgl. V.4) und „meinem Schiff' (vgl. V . l ) die Rede ist, wird dieses Ich nicht individualisiert; zwischen „ich" und „wir" wird beliebig gewechselt.

Gryphius: „An die Welt"

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gangs nicht mehr erzählt, doch lässt die Emphase der Anreden in den Versen 12 bis 14 den Übergang von der Schwellensituation ,im Hafen' zum Endzustand ,Festland' erwarten; wie vielfach in Lyrik-Texten soll die Rede von dem zukünftigen Geschehen oder den zukünftigen Konstellationen diese Zukunft erreichen helfen. Das Einfuhren des Zauderns vor dem Landgang in die Erzählung der Schiffsreise ist zunächst einmal eine strategische Maßnahme, die Interesse dafür weckt, ob die Realisierung des aufgerufenen Skripts gelingen kann. Erst in einem zweiten Schritt, der von besonderen Interpretationsleistungen zu begleiten ist, wäre eine hochgradige Ereignishaftigkeit im Sinne von ,Glaubenszweifel' anzusetzen. Diesen Schritt vollziehe ich hier nicht. Geht man von der (weniger ereignishaften) Konstellation aus, dass in der Rede des Sprechers die mögliche Divergenz von prinzipiellen Orientierungen (,Geist' vs. ,Seele') erprobt wird, um schließlich doch zu einer koordinierten Entscheidung im Sinne von Glaubensgewissheit zu kommen, wäre nicht zwingend, das von den wechselnden ,Blickpunkten', die das Sprecher-Ich einnimmt, auf eine individuelle Glaubenskrise oder allgemeiner gesehen - auf einen (im Rede-Vollzug erst zu leistenden) exemplarischen Prozess der Selbstvergewisserung für den Glauben an ein erlöstes Leben Jenseits der Welt' zu schließen ist. Der Glaubenszweifel, auf den Kemper als wiederkehrende Konstellation in den Sonetten von Gryphius hingewiesen hat,14 erscheint in „An die Welt" eher als rhetorische Strategie.15 Über den „müden Geist" (V.9) adressiert sich der Sprecher nicht selbst, sondern er ruft im Adressieren bestimmte Einstellungen und Verhaltensweisen auf, um sie zu prüfen und gegebenenfalls zu widerlegen. 16 Diese Annahme, die aus der narratologischen Analyse des Sprecher-Verhaltens gewonnen wird, ermöglicht es auch, unterschiedliche ideengeschichtliche Kontexte für die Interpretation in ihrem Geltungsanspruch zu bewerten. 17 Die Kontextualisierungen werden notwendig, wenn die ,subscriptio'-Aspekte zu der erzählten ,pictura'-Konstellation zu entwickeln sind. 14 15 16

17

Vgl. Anm. 9. Vgl. zu den rhetorischen Grundmustern in Gryphius' Lyrik Zimmermann (1999). Vgl. ebd., S. 239: zu dem (hier nicht weiter entwickelten) ideengeschichtlichen Kontext wäre die Rezeption (neu-)stoischen Gedankengutes durch Gryphius zu bedenken. Die stoischen Verfahren der Selbstzuwendung, Selbstermahnung und Selbstsorge, auf die Neymeyr (2002) für Paul Flemings Lyrik verweist, können auch für die inszenierte Selbsterkundung in Gryphius' „An die Welt" geprüft werden. Vgl. beispielsweise Kemper (2004) zum Glaubenszweifel; Steiger (2002) zur Jutherischen Orthodoxie'; Neymeyr (1997) zum Stoizismus.

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3. Das Zusammenwirken v o n ,pictura' und ,subscriptio' Zunächst sei ein deskriptiver Befund zur Erzählung auf der ,picture'-Ebene festgehalten, von der die beiden Quartette des Sonetts (V.l-8) bestimmt sind. Die bereits beschriebene narrative Sequenz hat vier Sequenzelemente: die (analeptisch berichtete) gefahrvolle Schiffsreise, die vorzeitige Ankunft im Hafen, das Zögern vor dem Landgang, die emphatische (Selbst-)Aufforderung zum Landgang. Damit entstehen Abweichungen von den Mustern des zugeordneten Skripts; sie geben Impulse für die Bedeutungszuschreibungen, die auf der ,subscriptio'-Ebene in der konventionellen Form einer Absage an das irdische Jammertal, an die Welt, 18 abgerufen werden könnten, jedoch im Falle des vorliegenden Textes problematisiert werden. In den folgenden Terzetten wird die ,pictura' nicht durch eine ,subscriptio' abgelöst, sondern in der konkreten Bildlichkeit erhalten, jedoch stärker mit (religiös getönten) Abstraktionen (,Schirm und Schutz und Frieden') durchsetzt. Das erzählte Geschehen (in interpretierender Verknüpfung von ,pictura'- und ,subscriptio'-Ebene) wäre also folgendermaßen zu verstehen: Die Seefahrt (der Lebensweg) fuhrt aus Mühsal, Gefahr und Kampf für die Selbsterhaltung mit dem Einlaufen des Schiffes in den Hafen hin zum Gewinn von Sicherheit und Frieden (zum ewigen Leben in der Gnade Gottes). 19 Eine vorzeitige Ankunft im Hafen (am Lebensziel) ist die Ursache für das Zögern, an Land zu gehen (das Leben in der Welt preiszugeben). Im Verdeutlichen dessen, was durch den Landgang zu gewinnen ist, wird das Zögern überwunden. Daraus könnte folgende ,Sinnsetzung' entwickelt werden: Selbst wenn der Abschied von der Welt (der Tod) früher eintritt als zu erwarten war, ist die Möglichkeit, die mühevolle Existenz im Diesseits verlassen zu können, Grund zur Genugtuung. Das ereignishafte Abweichen vom Ausgangsskript der Erzählung verweist auf die besondere Strategie der Rede: Durch das Zögern (in der Bereitschaft, die Welt zu verlassen) ist zwar ein Zeichen des Glaubenszweifels gesetzt, zugleich wird - um den Zweifel zu überwinden - damit die Möglichkeit eröffnet, ein emphatisches Bekenntnis zur Gewissheit des Glaubens an ein neues Leben in einer besseren Welt zu formulieren. Die 18

19

Vgl. Mauser (1976): ,Welt' stehe bei Gryphius für jenen „Teil des Kosmos, der dem Gesetz der Vergänglichkeit unterliegt und dem Menschen Heil, dauerhaftes Glück und Erlösung nicht zu gewähren vermag." (S. 131). Vgl. auch ebd.: Das eigentliche ,Vaterland' fur den Menschen ist nicht die irdische Welt, sondern die ,Gottes-Welt\ das Himmelreich (S. 13lf.).

Gryphius: „An die Welt"

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rhetorische Emphase der Verse 10 bis 14 (der illokutionäre Akt - unabhängig vom propositionalen Gehalt der Äußerung) kann abgesehen von solchen Überlegungen zur Strategie der Argumentation jedoch auch verstanden werden als Antwort auf den Wunsch, der durch Angst und Verunsicherung erzeugt wird: die Verheißung der Erlösung bekräftigt zu sehen. 4. Zur Perspektivierung der Erzählung Als (Stand-)Ort fur die Narration ist der Übergangsbereich zwischen See und Festland (zwischen Diesseits und Jenseits) anzusehen. Das bestimmende Tempus der erzählenden Rede ist das Präsens; die Präsensform in Vers 11 hat eine futurische Implikation. Einen beträchtlichen Raum nimmt die Retrospektive ein: Die Absage „an die Welt" erfordert die Beschreibung der mühseligen irdischen Existenz im knappen Erzählen (V. 1 3 u. 5-8) und im Konstatieren (V.10-12). Als Sprecher ist ein repräsentatives Gesamt-Ich anzusehen, das die unterschiedlichen Orientierungen von „Seele" und „Geist" (V.4 u. 9) ,auszuhalten' hat und zusammenschließt. Allerdings wäre auch denkbar, dass die Verse 5 bis 8 (die Navigationsprobleme) der Wahrnehmung durch die ,Geist'-Teilmenge dieses Gesamt-Ichs zuzuschreiben sind. Wie auch immer: Das Sprecher-Ich ist kein individualisiertes Ich, sondern ein exemplarisches Ich in der Gemeinschaft gläubiger Menschen. Deshalb kann auch zwischen der 1. Person Singular (V. 1, 4, 7 u. 13) und der 1. Person Plural (V.5 u. 9) gewechselt werden. Das Wir bezieht sich auf die Menschheit, die Gesamtheit der gläubigen Christen. Das Ich verweist auf ein besonderes Wissen von sich selbst - allerdings vor dem Hintergrund des alle Ichs betreffenden Geschehens ,in der Welt' und der Verheißung eines ,erlösten Lebens'. Dem (angesichts des Festlandes) souverän argumentierenden Ich scheint das Ich, das die Seereise erlebt hat, untergeordnet zu sein; dem (Teil-)Ich fehlt es an solcher Souveränität (V.7: „Wie offt hab ich den Windt / vndt Nord' vnd Sudt verkennet!"). Diesem berechnenden und planenden (Teil-)Ich könnte die Perspektive des ,Geistes' zugeschrieben werden, dem vertrauenden und hoffenden (Teil-)Ich die Perspektive der ,Seele'. Das Gesamtich führt die abschließende Rede des letzten Terzetts - zunächst in der Absage - an die „see" (V.12), dann in der Hinwendung an das „ewiglichte schlos" (V. 14). Das „schlos" steht für die ,feste Burg' des Glaubens

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und das Erlösung versprechende Himmelreich; das Attribut ,ewiglicht' verweist auf die dauerhafte Anziehungskraft dieser Verheißung. Vom Beginn der Rede an wird über ,die Welt' (im Sinne der allegorischen Bedeutung der Schiffsreise) gesprochen, doch redet das Gesamtich nicht vor Vers 12 die „verfluchte weit" an und sagt sich von ihr los. Diese Anrede-Situation wird - entgegen der Überschrift (der ,inscriptio') des Sonetts - erst hergestellt, als aus der Glaubensgewissheit die Zuversicht erwächst, die menschliche Existenz von der Welt abzulösen. So wird nun ,die Welt' gleichsam als Person, als Teilnehmerin in einem Erfahrungs- und Redezusammenhang sichtbar und steht im Kontrast zu ihrem Gegenspieler, dem „vaterlandt", zu dem sich das Ich hinwendet, um es sich anzueignen (V.13: „mein vaterlandt"). Die Möglichkeit des Ichs, sich fur seine (An-)Rede die Personifikationen von „weit" und „vaterlandt" als Adressaten zu schaffen, verweisen auf die Souveränität, die durch das Überwinden des Zauderns beim Landgang in der emphatischen Absage „an die Welt" gewonnen werden soll: Die (Selbst-)Erkundung zu den Konstellationen des Zweifels gegenüber den Einstellungen und Handlungen des gläubigen Christen führen im Vollzug der Rede des Gedichts zur bekräftigenden (Selbst-)Behauptung im christlichen Glauben.

Literatur Gryphius, Andreas 1961 Werke in drei Bänden mit Ergänzungsband. [Tübingen 1884], Fotomechan. Neudruck. Darmstadt. Kemper, Hans-Georg 2004 Von der Reformation bis zum Sturm und Drang, in: Franz-Josef Holznagel u.a.: Geschichte der deutschen Lyrik. Stuttgart, S. 95-260. Mauser, Wolfram 1976 Dichtung, Religion und Gesellschaft im 17. Jahrhundert. Die ,Sonette' des Andreas Gryphius. München. Neymeyr, Barbara 2002 Das autonome Subjekt in der Auseinandersetzung mit Fatum und Fortuna. Zum stoischen Ethos in Paul Flemings Sonett „An sich", in: Daphnis 31, S. 235-254. Steiger, Johann Anselm 1997 Die poetische Christologie des Andreas Gryphius als Zugang zur lutherischorthodoxen Theologie, in: Daphnis 26, S. 85-112. 2000 Schule des Sterbens. Die „Kirchhofgedanken" des Andreas Gryphius (16161664). Heidelberg.

Gryphius: „An die Welt"

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Witte-Heinmarm, Birgit 1973 Emblematische Aspekte im Gebrauch des freien Verses bei Andreas Gryphius, in: Jb. d. Deutschen Schillergesellschaft

17, S. 166-191.

Zimmermann, Christian von 1999 Andreas Gryphius' „Threnen des Vaterlandes / Anno 1636". Überlegungen zu den rhetorischen Grundlagen frühneuzeitlicher Dichtung, in: Daphnis 28, S. 227-244.

JÖRG SCHÖNERT

Johann Christian Günther: „An Leonoren' (i)

5

Mein Kummer weint allein um dich, Mit mir ists so verlohren, Die Umständ' überweisen mich: Jch sey zur Noth gebohren. Ach! spahre Seuffzer. Wunsch und Flehn, Du wirst mich wohl nicht wieder sehn, Als etwann in den Auen, Die Glaub' und Hoffnung schauen.

(Π)

10

15

Vor diesem, da mir Fleiß und Kunst Auf künfftig Glücke blühte, Und mancher sich um Günthers Gunst Schon zum Voraus bemühte, Da dacht ich wider Feind und Neid Die Palmen der Beständigkeit Mit selbst erworbnem Seegen Dir noch in Schooß zu legen.

(III)

20

Der gute Vorsatz geht in Wind: Jch soll im Staube liegen, Und als das ärmste Findelkind Mich unter Leuten schmiegen; Man läßt mich nicht, man stößt mich gar Noch stündlich tieffer in Gefahr, Und sucht mein schönstes Leben Der Marter Preiß zu geben.

(IV) 25

30

So wird auch wohl mein Alter seyn, Jch bin des Klagens müde, Und mag nichts mehr gen Himmel schreyn, Als: HErrl nun laß im Friede! Κ rafft, Muth und Jugend sind fast hin, Daher ich nicht mehr fähig bin, Durch auserlesne Sachen Mir Guth und Ruhm zu machen.

(V) 35

Nimm also, liebstes Kind! dein Hertz, Ο schweres Wort! zurücke, Und kehre dich an keinen Schmertz, Womit ichs wieder schicke,

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Es ist zu edel und zu treu, Als daß es mein Gefehrte sey, Und wegen fremder Plage Sein eignes Heil verschlage.

(VI)

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Du kanst dir durch diß theure Pfand Was köstlichers erwerben, Mir mehrt es nur den Jammer-Stand, Und läst mich schwerer sterben; Denn weil du mich so zärtlich liebst, Und alles vor mein Wohlseyn giebst, So fühl ich halbe Leiche, Auch zweyfach scharffe Streiche.

(VII) 50

55

Jch schwur vor diesem: Nur der Tod Sonst soll uns wohl nichts trennen, Verzeih es jetzo meiner Noth, Die kan ich dir nicht gönnen; Jch liebe dich zu rein und scharff, Als daß ich noch begehren darff, Daß Lorchen auf der Erde Durch mich zur Wittwen werde.

(VIII)

60

So brich nur Bild und Ring entzwey, Und laß die Brieffe lodern, Jch gebe dich dem ersten frey, Und habe nichts zu fodern, Es küsse dich ein andrer Mann, Der zwar nicht treuer küssen kan, Jedoch mit grösserm Glücke Dein würdig Braut-Kleid schmücke.

(IX) 65

70

Vergiß mich stets und schlag mein Bild Von nun an aus dem Sinne, Mein letztes Wünschen ist erfüllt, Wofern ich diß gewinne, Das mit der Zeit noch jemand spricht: Wenn Philimen die Ketten bricht, So sinds nicht Falschheits-Triebe, Er haßt sie nur aus Liebe.

V.2: so] ohnehin, V.3: Ueberweisen] überführen, V.7: etwann] irgendwann, V.9: Vor diesem] Früher, V.27: gen] zum, V.28: im Friede] in Frieden, V.40: verschlage] versäume, V.48: Streiche] Hiebe, V.52: Die] d.i. diese Not, V.53: scharff] tief, V.60: fodern] fordern, V.65: stets] für immer, V.70: die Ketten bricht] die Verlobung auflöst.

Günther: „An Leonoren"

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Johann Christian Günther: Werke, hg. von Reiner Bölhoff. Frankfurt a.M. 1998, S. 902905. Erstdruck 1735 in Der Sammlung von Johann Christian Günthers, aus Schlesien, Theils noch nie gedruckten theils schon heraus gegebenen Teutschen und Lateinischen Gedichten. Vierdter Theil oder Dritte Fortsetzung-, der Herausgeber war Gottfried Fessel.

Der Text ist vermutlich zwischen dem 2. April und 10. Juli 1720 entstanden 1 - in der ,Laubaner Elendszeit'. 2 Günther war am 8. April des Jahres 25 Jahre alt geworden; er starb 1723. 1. Konvention und Authentizität „An Leonoren" gehört zu Günthers „Liebes- und [...] Klageliedern", in denen man „geniale Vorläufer der Goetheschen Erlebnislyrik" 3 sehen wollte. In einer wiederkehrenden Forschungskontroverse wird in Analysen zu diesen Gedichten seit den 1980er Jahren zum einen die Perspektive ,rhetorisch ausgearbeitete Rollengedichte', 4 zum anderen die Annahme vom ,lebensgeschichtlich begründeten subjektiven Gefuhlsausdruck' 5 vertreten. Dabei erhält Günther eine Schlüsselstellung in der poetologischen und gattungsgeschichtlichen Diskussion zur Repräsentation von ,Gefühl' und Subjektivität' in der Lyrik des 18. Jahrhunderts, die zwischen den Polen der (rhetorischen) Nachahmung von vorgestellten Affekten und dem (authentischen) Ausdruck von selbst erlebten Gefühlen aufgespannt wird. 6 Am hier gewählten Text lässt sich zeigen, dass Günther für den Aufbau eines Gedichts deutlich von topischen Rollen und Situationen ausgeht und weniger ,Gefühle' vermitteln als damit zusammenhängende Formen menschlicher Beziehungen (oder Wahrnehmungen von Naturphänomenen) entwerfen und in Miniaturgeschichten entwickeln will. 1 2

3

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5

6

Vgl. Bölhoff (1998), S. 1542. Vgl. dazu Osterkamp (1988), S. 452: Gemeint ist Günthers Aufenthalt im Armenhaus von Lauban, „in dem er monatelang krank und völlig mittellos liegt". Ebd., S. 456. Osterkamp plädiert für Skepsis gegenüber solchen Festlegungen und verweist auf die häufig zu findende ,casus'-Struktur in Günthers Lyrik, auf die rhetorisch-argumentative Organisation vieler Texte und die „rollenhaften Stilisierungen" (S. 457); am weitesten hin zum ,authentischen Gefuhlsausdruck' führen die Gedichte auf Eleonore Jachmann (S. 460). Ausführlich zu diesem Thema auch Osterkamp (1981) - mit dem Diktum zu Günthers „poetischer Professionalität" (S. 279). Vgl. zur Bedeutung der Rhetorik für die Lyrik Günthers den kurzen Bericht zum Stand der jüngeren Forschung in Regener (1989), S. 7-26. Vgl. dazu Trautwein (1987), insbes. S. 167-170 u. S. 215-218, sowie Bölhoff (1988), S. 94-97 u. 101-103. Vgl. dazu u.a. Guthke (1989), insbes. S. 100-117.

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Dass bereits mit dem Titel „An Leonoren" die Rede des Gedichts einer bestimmten Person zugedacht wird 7 und auf Günthers mehrjährige Liebesbeziehung zu Magdalena Eleonore Jachmann verweisen könnte, dass der Sprecher sich neben dem (Schäfer-)Rollennamen Philimen (vgl. V.70) auch mit dem Namen des realen Autors (vgl. V. 11) ausweist, 8 verdeutlicht eine prinzipielle Konstellation der Liebes- und Klagelieder Günthers: Literarisch bereits ausgearbeitetes Material wird zum Gestalten von topischen Situationen und Skripts für kleine Erzählungen gleichberechtigt' mit lebensgeschichtlich erworbenen Erfahrungen verwendet. Im Jahr 1720 führte Günther in Schlesien ein „Wanderdasein [...] auf der Suche nach einer sicheren Existenz"; 9 das seit langem angespannte Verhältnis zu Eleonore Jachmann (die Günther in einem Verlöbnis verbunden war) spitzte sich weiter zu: In der Familie und Verwandtschaft von Eleonore wurde auf Trennung gedrängt, zumindest sollte zwischen den Lebensräumen von Günther und ,seiner Leonore' Distanz geschaffen werden. 10 Ob zum Zeitpunkt der Entstehung des hier zu erörternden Gedichts eine endgültige Trennung des Liebespaares beschlossen wurde, ist ungeklärt." Mit großer Wahrscheinlichkeit anzunehmen ist dagegen, dass Günther in diesem Text eine Konstellation in seinem Verhältnis zu Eleonore Jachmann gestaltet, die in gemeinsamen Gesprächen als eine mögliche zukünftige Entwicklung diskutiert wurde: Die einige Jahre ältere Frau sollte sich nicht länger an den erfolgs- und mittellosen Autor gebunden sehen, auch wenn sich dessen tiefe Liebe zu ihr nicht verändert hatte. Der literarische Text eröffnet ein Erkundungsfeld (womöglich auch einen Spielraum), in dem die endgültige Trennung, die damit verbundenen Affekte und weiteren Entwicklungen simuliert werden können. 12 7

8

9 10

11

12

In anderen , Leonoren'-Gedichten von Günther wird - wie auch hier (V.55) - zudem die Koseform ,Lorchen' gebraucht. Vgl. zu diesem Nebeneinander beispielsweise „Als er ungefehr auf dem Kirchhofe mit seiner Leonore zusammenkam" - Günther (1998), S. 795-801. Siehe auch Manger (1997), der in seinen Analysen zu exemplarischen , Leonoren'-Gedichten auf den „Wechsel zwischen biographischen und rollentypischen Namen" innerhalb eines Gedichtes verweist (S. 219). Stüben (1997), S. 7. Vgl. Krämer (1980), S. 239f. Zum Ende des Jahres 1720 verlegte Eleonore Jachmann ihren Wohnsitz nach Anklam. Vgl. etwa Polheim (1997), S. 34. Folgt man Krämer (1980), so wird zwischen Günther und Eleonore Jachmann das wechselseitige Versprechen (im Sinne des Verlöbnisses) erneuert, ehe Günther im August 1720 seinen Heimatkreis verlässt und zu neuen Stationen seiner ,Lebenswanderschaft' aufbricht (S. 238). Vgl. Bölhoff (1998), S. 1542f.

Günther: „An Leonoren"

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Dafür spricht auch, dass in der (vermutlich) 1722 von Christian Jacobi angelegten Sammelabschrift der 47 „Verliebten Gedichte" Günthers auf „An Leonore" eine fingierte Antwort von ,Leonore' („Ach liebster Schatz, verdient mein Herz") 13 folgt, in der die Sprecherin den intellektuellen und poetischen Qualitäten von ,Günther' mehr Gewicht gibt als seiner Armut und die vorgeschlagene Trennung ablehnt.14 In dieser Sicht könnte der fingierte Abbruch der Beziehungen mit dem erzählenden Ausmalen der damit verbundenen Folgen sogar als eine ,galante Strategie' zur Bekräftigung der Beziehung angesichts der unerträglichen Alternative einer Trennung angesehen werden. Dafür, dass der Text nicht lebensgeschichtliche Realität darstellt, sondern mit einer topischen Situation e x perimentiert', spricht auch der Vergleich mit einem zeitlich nahen weiteren , Leonoren'-Gedicht: In „Aria eines Amanten, dem die Liebste durch einen andern entführet worden" 15 wird die Geliebte als Verräterin stilisiert, die einen anderen Mann heiratet,16 während sie in dem Gedicht zur endgültigen Trennung als unveränderlich Liebende erscheint.

2. Abschied und Trennung als (fingierter) Anlass zu einer gegenläufigen Rede Günther gilt als „ein geübter Abschiedslied-Schreiber"; das von Reiner Bölhoff zu den „Galanten und Verliebten Schriften" erstellte Register erfasst „siebzehn Gedichte auf Abschiede und Trennungen". 17 Als Abschied 13 14

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In die Werkausgabe von 1998 wurde dieser Text allerdings nicht aufgenommen. Vgl. dazu Trautwein (1987): Anrede und fingierte Antwort sollen als ein Text angesehen werden - im Sinne der rhetorischen Konvention zum gleichsam dialektischen Bezug solcher ,Gefühlsaussprachen' (S. 208-210). Es sei ein „eigenartiges poetisches Gefüge! Günther dichtet die Absage, um sie aus der Perspektive Leonores, deren Rolle er poetisch einnimmt, wieder aufzuheben" (S. 209). Ungeklärt sei, ob sich dieses Pro und Contra auf eine konkrete lebensgeschichtliche Situation beziehe oder als ein strategisches Rollenspiel aufzufassen sei. Günther (1998), S. 905-907; der Text ist in zeitlicher Nähe zu „An Leonoren" vermutlich im August oder September 1720 in Schweidnitz entstanden; vgl. Bölhoff (1998), S. 1544. Auch hier gilt eine fingierte (Rollen-)Situation, denn Magdalena Eleonore Jachmann starb 1746 unverheiratet - vgl. Bölhoff (1998), S. 1544. Vgl. zu diesem ,Fiktionsexperiment' mit der Trennung durch ein Sich-Abwenden der Partnerin auch „Abschied von seiner ungetreuen Liebsten" („Wie gedacht") - Günther (1998), S. 852-854 - aus dem Jahr 1715, dazu ausfuhrlich Regener (1989), S. 122-129. Regener (1989), S. 27. Regener untersucht diesen Themen- und Motivkomplex in den Kap. III-V ihrer Studie Stumme Liederl im ergiebigen Rückbezug auf die bis dahin

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sei dabei eine Trennung auf Zeit verstanden - so angelegt sind etwa „Abschieds-Aria" aus dem Jahr 1715,18 „Ana. An Leonoren. Lüben, den 29. Octobr[is] A[nno] 1715"19 sowie „An Leonoren bey dem andern Abschiede"20 (vermutlich im Januar 1720 entstanden).21 Weniger als diese viel diskutierten ,Abschiede' wurden in der Forschung die Ende 1719 bis Anfang 1720 verfassten22 „An Leonoren"-Texte erörtert.23 Neben dem Dialog mit den beiden Einheiten „An Leonoren" („Ich nehm in Brust und Armen") und „Leonorens Antwort" („Du suchest ja dein Glücke")24 sind es „An Leonoren" („Gedenck an mich, und sey zufrieden")25 sowie „Aria. An Leonoren" („Ach Kind! Verschone mich in dir").26 Vom Abschied auf Zeit27 ist die endgültige Trennung zu unterscheiden: Eine Verbindung zwischen zwei Partnern wird aufgelöst. Allerdings sind bei Günther die Situationen von Abschied und Trennung nicht immer deutlich voneinander unterschieden; die damit verbundenen Emotionen von Schmerz und Trauer, die möglicherweise anzuschließenden Aktionen der Einrede zum Abwenden des Vorhabens sowie des Erinnerns an vergangene Zeiten und Projektionen zukünftigen Geschehens ähneln einander. Weitergehender als etwa in Hölderlins „Der Abschied", dem prototypischen Gedicht zur Unmöglichkeit einer Trennung zweier Liebenden,28 sind die von Günther gestalteten Abschiede und Entwürfe zu

18 19 20

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vorliegende Forschung (vgl. zu .Abschied und Trennung im engeren Sinn' insbes. Kap. III); vgl. zum Motiv ,Abschied' bei Günther auch Trautwein (1987), S. 208-215. Günther (1998), S. 862-864; dazu Stenzel (1982). Günther (1998), S. 864-867; dazu Trautwein (1987), S. 188f. Günther (1998), S. 888-890; dazu u.a. Preisendanz (1974) und erneut Kaminski (1997), S. 237-239. Vgl. Bölhoff (1998), S. 1527. Vgl. ebd., S. 1529, 1531 u. 1533. Vgl. Regener (1989), S. 57. Regener geht darauf ausführlicher ein (S. 56-65); den hier ausgewählten Text „An Leonoren" erwähnt sie dagegen nur beiläufig (S. 119, Anm. 75). Günther (1998), S. 890. Ebd., S. 891 f. Ebd., S. 892-894. Vgl. für die Konstellationen bei Günther auch Trautwein (1987): „Abschied und räumliche Trennung" sind ein „konventioneller poetischer Redeanlaß, dem die Motive von Schmerz, Treueversicherung und tröstender Hoffnung zugehören" (S. 187). Friedrich Hölderlin: Sämtliche Werke. Bd. 2, hg. von Friedrich Beißner. Stuttgart 1965, S. 24f. („Trennen wollten wir uns? Wähnten es gut und klug?").

Günther: „An Leonoren"

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Trennungen zumeist der Anlass für analeptische, vor allem aber proleptische Erzählungen zu den angesprochenen Liebesbeziehungen. 29 Die mit solchen Erzählungen verbundenen Geschichten folgen in „An Leonoren" einer zweifachen Orientierung am gesellschaftlichen Erfolg und Misserfolg der Handlungsweisen des Sprechers (und autodiegetischen Erzählers) und der daraus resultierenden Entscheidungen für die Liebesbeziehung zwischen ihm und der Adressatin seiner Rede. Der Erwerb von Gütern, Geld und Ruhm würde die dauerhafte Vereinigung der Partner ermöglichen, das Scheitern solcher Erwartungen erzeugt Probleme für die Beziehung und kann im extremen Fall für die Frau zu einer alternativen Liebes- und Ehegeschichte führen. Im Laufe des Gedichtes werden diese beiden (auf gegensätzlichen Skripts beruhenden) Geschichten zu Erfolg und Misserfolg wiederholt erzählt - mit wechselnden Bezügen auf Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft und aus unterschiedlicher Perspektive. Ausgegangen wird von der Konstellation, dass der (männliche) Sprecher eine endgültige Trennung beschlossen hat und sich nicht umstimmen lassen will, obwohl sowohl ihn als auch seine Partnerin die Trennung sehr schmerzt. Der Sprecher will die Verbindung zur geliebten Frau lösen, weil er sich ihrer nicht für würdig erachtet und sie mit seiner Notsituation nur belastet. Wenn unter diesen Aspekten die Trennung aufrecht erhalten wird, ergeben sich in der Perspektive des Sprechers weitere (dramatische) Schritte im Trennungs-Skript: Sie fuhren dazu, dass die Geliebte schließlich einen neuen Partner finden, küssen und gar ehelichen wird (vgl. V.61-64). In der Sicht des Sprechers war die Vergangenheit durch eine glückliche Partnerschaft bestimmt; im Zeichen der Trennungsabsicht wird die nahe und fernere Zukunft aus der Umkehr des Vergangenheitszustandes bestehen: Statt stetem Einander-Gedenken gilt dann die Weisung „vergiß mich stets" (V.65), und der Sprecher wird durch einen anderen (ihm allerdings nicht gleichwertigen) Mann ersetzt.

29

Zur Zukunft nach einem Abschied bzw. einer Trennung wird auch .erzählt' in der „Abschieds-Aria" von 1715 - mit ausfuhrlichen Verhaltensanweisungen an die Geliebte für die Zukunft - sowie in der zeitlich benachbarten „Aria. An Leonoren" und noch ausfuhrlicher und in selbstquälerischer Weise in „Aria eines Amanten, dem die Liebste durch einen andern entführet worden" vom Liebesleid des verlassenen Liebhabers (und Sprechers) - Günther (1998), S. 905-907. Bei Günther finden sich auch Erzählgedichte im engeren Sinn, beispielsweise der viel diskutierte Text „Als er ungefehr auf dem Kirchhofe mit seiner Leonore zusammen kam" (S. 795-801) vom Sommer 1719, vgl. dazu Regener (1989), S. 97-121.

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Jörg Schönert

3. Zeitliche Strukturierung des erzählten Geschehens Die Verteilung des berichteten und prospektiv entworfenen Geschehens und die Verschränkung dieser Zeitebenen soll noch im Einzelnen verdeutlicht werden.30 Die erste Strophe bezieht sich auf die Misserfolgsgeschichte mit dem Ausblick auf eine - davon unabhängige - Vereinigung der Partner im Jenseits (vgl. V.7f.). In Vers 5 übernimmt der Sprecher kurz die Perspektive von Leonore und stellt die von ihm vermuteten Reaktionen der Partnerin auf den Abbruch der Beziehung dar. Die zweite Strophe wendet sich den bereits vergangenen Handlungen des Sprechers im Sinne der Erfolgsgeschichte zu. Die Strophen III bis VII sind dagegen auf die Misserfolgsgeschichte bezogen, die in der dritten und vierten Strophe vor allem durch die gegenwärtige Situation des Sprechers verdeutlicht und zudem mit Annahmen fur daraus resultierende Konstellationen in der nahen Zukunft ausgeführt wird. Prospektiv erzählt werden auch in den Strophen V bis VII einzelne Aspekte fur die zu vollziehende Trennung der Liebenden; sie werden mit aktuellen Konstellationen der Misserfolgsgeschichte und mit Erinnerungen an die einst begonnene Erfolgsgeschichte und die bereits vollzogenen Schritte zur Vereinigung der Partner verbunden. Dabei übernimmt der Sprecher wiederholt auch die Perspektive Leonores (vgl. V.35 u. 45f.). Als Quintessenz dieser Erzählungen ergibt sich kein eindeutiges Plädoyer für den Abbruch der Beziehung. Deshalb wird in den Strophen VIII bis IX die (bereits in V.41f. angesprochene) Alternativgeschichte ausgeführt, die prospektiv nun in rigoroser Weise den Vollzug der Trennung und die Hinwendung Leonores zu einem anderen Partner erzählt. Doch ist auch diese Zukunftsprojektion mehrfach durchsetzt mit Hinweisen auf die unverbrüchliche Treue und die nicht zu erschöpfende Liebe des Sprechers für Leonore (vgl. V.62 u. 71 f.). Der Verlauf der Rede des Gedichts lässt sich für die zeitlichen Dimensionen von Vergangenheit (V), Gegenwart (G) - unterteilt in die synchronen Segmente a bis e - und Zukunft (Z) mit den diachronen Schritten 1 bis 3 (nahe bis ferne Zukunft) folgendermaßen gliedern:

30

Preisendanz (1974) hat in seiner eingehenden Analyse zu „An Leonoren bey dem andern Abschiede" bereits auf die „eigenartige Zeitreferenz" (einerseits) im Bezug auf Verharren in der subjektiv erfahrenen Gegenwart und (andererseits) im Bezug auf ein fortschreitendes, eher ,objektiv' zu beschreibendes Geschehen aufmerksam gemacht (S. 233f.).

Günther: „An Leonoren"

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Strophe I: G/a-Sprecher (Trennungsaktion und ihre Begründung) und Z/l-Paar und Z/3-Paar (neue gemeinsame Zukunft nach dem Tode im Jenseits); Strophe II: V-Sprecher (mit guten Auspizien für die Gemeinsamkeit durch sich anbahnende Erfolge des Sprechers); Strophe III: G/b-Sprecher; Strophe IV: Z/2-Sprecher (Zustand des Sprechers im Alter), dann G/c-Sprecher; Strophe V: G/a-Paar; Strophe VI: Z/1-Adressatin und Z/lSprecher; Strophe VII: V-Paar (Untrennbarkeit) und G/b-Paar; Strophe VIII: Z/l-Adressatin und G/d-Sprecher; Strophe IX: Z/l-Paar, Z/l-Adressatin und G/e-Sprecher. Nachdem in der ersten Strophe der zu entwickelnde ,casus' mit Folgen fur die nahe und ferne Zukunft des Paares bezeichnet wird, dienen die Strophen II bis IV zur Selbstdarstellung des Sprechers und zum Rechtfertigen seines Trennungsvorschlags. Im Zentrum der semantischen Organisation des Textes steht also zunächst die aktuelle Misere des Sprechers: sein „Jammer-Stand" (V.43), er liegt „im Staube" (V.18), sein „Kummer" (V.l), seine „Noth" (V.4 u. 51), seine „Marter" (V.24) - mit Assoziationen zur Passionsmetaphorik und zur Hiob-Situation (V.27: „gen Himmel schreyn")31 - und sein baldiger Tod. Die Qualen des Sprechers werden von der Umwelt (V.l3: „Feind" und „Neid") verursacht; er wird am Umsetzen seines Fleißes und seines Ehrgeizes (V.32: „Ruhm"), seiner Talente und seiner Kunst gehindert, und auch der Himmel hilft ihm nicht. Ungeachtet dieser Erfahrungen zeichnet sich der Sprecher in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft durch Beständigkeit und Treue aus - auch wenn ihm „die Palmen der Beständigkeit" (V.14), die öffentliche Anerkennung und Auszeichnung seiner Qualitäten, „Guth und Ruhm" (V.32) versagt bleiben. Die ,Abschiedsrede' des Sprechers ist nicht nur als (Selbst-)Darstellung seiner misslichen Situation und Ausdruck seiner Emotionen zu verstehen. Die Anrede an Leonore ist von Beginn an ,rhetorisch' angelegt, um das Verhalten der Partnerin zu lenken (so nimmt der Sprecher auch wie bereits beschrieben - wiederholt ihre Wahrnehmungs- und Empfindungsposition ein). Dieses appellative Vorgehen wird mit entsprechenden sprachlichen Signalen in den Strophen I und II markiert, in der Strophe V mit „mein liebstes Kind" (V.33) emphatisch betont und in den folgenden Strophen explizit oder implizit fortgesetzt. Die Rede des Sprechers soll die Adressatin zu bestimmten, ihr noch fremden Einstellungen 31

Vgl. Osterkamp (1981) zur Gestaltung der Leidenssituation mit Bezug auf Hiob und die Passion von Jesus Christus (S. 281-288): „Ermächtigung der Passionsmetaphorik durch das leidende Subjekt" (S. 292).

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veranlassen, da die beabsichtigte Trennung nicht als Folge der Entfremdung zwischen den Partnern, sondern - paradoxerweise und als primäres Ereignis dieses in Gang gesetzten Trennungsgeschehens - als Zeichen der übergroßen Liebe des Sprechers erscheint: Er will ,Leonore' nicht in seine verworrene und aussichtslose Existenz hineinziehen. Seine tiefe Liebe ist durch diese fürsorgliche Maßnahme nicht betroffen; deshalb ließe sich als Hoffnung des Sprechers vermuten, dass seine Partnerin sich keineswegs auf die von ihm vorgeschlagene Trennung einlassen wird. Zudem ist dem Sprecher die richtige Einschätzung seiner Trennungsabsicht wichtig - sowohl durch die Partnerin als auch durch die Öffentlichkeit (vgl. Strophe IX): Selbst die Trennung von der Geliebten wurde aus Liebe vollzogen, so dass die Inszenierung des Trennungsgeschehens in der paradox-,witzigen' Schlusswendung vom ,Hassen aus Liebe' (vgl. V.72) mündet und damit eigentlich nahe legt, die Beziehung fortzusetzen. 4. Perspektivierung Der Träger der Rede ist im Hinblick auf das vermittelte Trennungsgeschehen als autodiegetischer Erzähler anzusehen; er trifft Aussagen zu seiner Person; er beschreibt und definiert die Adressatin seiner Rede als eine ihn zärtlich Liebende. ,Leonore' wird vom Sprecher als Person geschaffen; sie erhält - etwa in zitierter Rede - keine Möglichkeit, sich selbst zu bestimmen. Der Sprecher erfasst analeptisch die von ihr erfahrene Zuneigung und Liebe. Zudem bestimmt er in seiner Rede sowohl den Schmerz der Geliebten über die zu vollziehende Trennung als auch ihr zukünftiges Verhalten (dass sie sich einem anderen Mann zuwenden wird, der allerdings nicht die ,Liebhaber-Qualität' des Sprechers erreichen kann). Selbst im Aufruf des Sprechers, ihn als Liebespartner zu vergessen, schwingt mit, dass dem Vergessen das Gedenken vorausgeht, die Partnerin das Vergangene vermissen wird und die frühere Gemeinsamkeit wiederherstellen will. Diese Miniatur-Erzählungen zu Vergangenheit und Zukunft sind so angelegt, dass der Sprecher sich durchaus Hoffnung machen kann, dass sich die Adressatin den von ihm entworfenen Festlegungen entzieht und die Trennung nicht akzeptiert: Ein solches Abweichen vom TrennungsSkript wäre ein emphatisch zu verstehendes Ereignis. Es wird jedoch nicht ausgeführt, sondern im Text - wie dargestellt - nur impliziert, wo-

Günther: „An Leonoren"

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hingegen das Antwortgedicht „Ach liebster Schatz, verdient mein Herz" die implizierten Erwartungen zum Zurückweisen der Trennung einlöst.

5. Ereignishaftigkeit Das erzählte Geschehen kulminiert in zwei Ereignissen. Ereignishaft ist zunächst die vom Sprecher willentlich herbeigeführte Trennung, da sie nicht durch das Verlöschen der Liebe der Partner, durch Bruch des Treuegelöbnisses oder andere ,Verfehlungen' herbeigeführt wird, sondern gerade durch die übergroße Liebe des Sprechers, die aus Fürsorglichkeit fur die Geliebte auf deren Gegenliebe und den ,Besitz ihres Herzens' (vgl. V.33f.) verzichten will (vgl. V.71f.). Die beschriebenen Implikationen der ,Abschiedsrede' des Sprechers zielen auf ein weiteres (erst noch zu vollziehendes) Ereignis: dass nämlich Leonore die Trennung und eine neue Partnerbeziehung nicht akzeptiert, sondern trotz der Misserfolgsgeschichte des Sprechers weiterhin in Liebe zu ihm steht. Dieses Ereignis will der rhetorisch versierte Sprecher durch die Widersprüchlichkeit seiner Aufforderungen an Leonore und die abschreckende Schilderung der Begebenheiten, die aus der Trennung folgen, herbeiführen. In der Korrespondenz beider Ereignisse wird die Ereignishaftigkeit noch gesteigert. Selbst wenn sich das zweite (vom Sprecher erhoffte) Ereignis nicht ergäbe, erschiene seine Liebe und die damit verbundene vorausschauende Fürsorglichkeit fur die Geliebte als eine ,unerhörte Begebenheit', für die er sich auch entsprechende Wirkung in der Öffentlichkeit erhofft (vgl. V.68f.).

6. Semantische und formale Organisation der Rede ,Leonore', die Adressatin der Rede, wird vor allem mit partnerbezogenen semantischen Einheiten charakterisiert: durch ,ihr Herz' (das wie ein Ring als ,Pfand der Liebe' erscheint), ihr Brautkleid (das eigentlich dem Sprecher zugehören sollte), ihre liebende Zuneigung. Diese Attribute aus Vergangenheit und Gegenwart werden ab Strophe V vom Sprecher fur die Zukunft des Paares und seiner Adressatin (in Konsequenz der von ihm verfügten Trennung) durch Negativbilder des Partnerbezugs ersetzt: Die Geliebte soll seine Briefe verbrennen (vgl. V.58), sein Bild vergessen (vgl. V.65f.) und an seine Stelle einen neuen Liebhaber und zukünftigen Ehemann treten lassen (vgl. V.61-64). Auch die partnerbezogenen semantischen Einheiten, die dem Sprecher zugeordnet sind, werden prospektiv

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ins Negative verkehrt: Sein Treueschwur (vgl. V.49) gilt nicht mehr, und die Ketten, die ihn an seine Geliebte banden, werden zerbrochen. Doch stehen diese Handlungsanweisungen unter dem paradoxen Vorbehalt, dass sie nicht aus einem Liebesverlust oder gar einem ,Hass' auf die Geliebte (vgl. V.72) ausgesprochen werden, sondern „aus Liebe" (V.72). Das in der Rede erinnerte und entworfene dramatische Geschehen ist metrisch und strophisch in einer klar gegliederten und rasch zu überschauenden Ordnungsform gehalten: Jede Strophe umfasst acht Zeilen mit vier- und dreihebigen jambischen Versen mit dem Reimschema a-b-ab-c-c-d-d; ab Vers 5 wechselt also der alternierende Reim jeweils in den Paarreim. Die Vierheber haben einen ,männlichen', die Dreiheber einen ,weiblichen' Versausgang. Die ,Paarigkeit' des Reims, die in der zweiten Hälfte der Strophe gewählt wird, mag als Signal für das eigentliche, aber verdeckte Sinn-Zentrum des Gedichts verstanden werden: Die MiniaturErzählungen, die in die Vergangenheit und Zukunft der beiden Partner und des Paares führen, haben - recht verstanden - nicht die Trennung, sondern den Erhalt der Liebesverbindung zum Ziel. Literatur Bölhoff, Reiner 1987 Zur neueren Günther-Forschung, in: Hans-Georg Pott (Hg.): Johann Christian Günther (mit einem Beitrag zu Lohensteins ,Agrippina'). Paderborn u.a., S. 83105. 1998 Kommentar, in: Johann Christian Günther: Werke, hg. von dems. Frankfurt a.M., S. 913-1584. Günther, Johann Christian 1998 Werke, hg. von Reiner Bölhoff. Frankfurt a.M. Guthke, Karl S. 1989 Die Entdeckung des Ich in der Lyrik. Von der Nachahmung zum Ausdruck der Affekte, in: Wilfried Bamer (Hg.): Tradition, Norm, Innovation. Soziales und literarisches Traditionsverhalten in der Frühzeit der deutschen Aufklärung. München, S. 93-121. Kaminski, Nicola 1997 Textualität des Erlebens und Materialität der Zeichen. Zu einer Semiotik der Liebe und des Todes in Johann Christian Günthers Liebesgedichten, in: Jens Stüben (Hg.): Johann Christian Günther (1695-1728). Oldenburger Symposium zum 300. Geburtstag des Dichters. München, S. 229-248. Krämer, Wilhelm 1980 Das Leben des schlesischen Dichters Johann Christian Günther 1695-1723. 2. Aufl. Stuttgart.

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Günther: „An Leonoren"

Manger, Klaus 1997 Leben als Lieben. Zur szenischen Gestaltung in Johann Christian Günthers Gedichten. In: Jens Stüben (Hg.): Johann Christian Günther (1695-1728). Oldenburger Symposium zum 300. Geburtstag des Dichters. München, S. 213-228. Osterkamp, Emst 1981 Das Kreuz des Poeten. Zur Leidensmetaphorik bei Johann Christian Günther, in: DVjs 55, S. 278-292. 1988 Johann Christian Günther, in: Deutsche Dichter. Leben und Werk deutschsprachiger Autoren, hg. von Gunter E. Grimm u. Frank R. Marx. Bd. 2: Reformation, Renaissance und Barock. Stuttgart, S. 449-462. Polheim, Karl Konrad 1997 Der Dichter Johann Christian Günther. Wirken und Wirkung, in: Jens Stüben (Hg.): Johann Christian Günther (1695-1728). Oldenburger Symposium zum 300. Geburtstag des Dichters. München, S. 21-45. Preisendanz, Wolfgang 1974 Präsente Bedrängnis. Über ein Gedicht von Johann Christian Günther, in: Jb. d. Deutschen Schillergesellschaft 18, S. 221-234. Regener, Ursula 1989 Stumme Lieder? Zur motiv- und gattungsgeschichtlichen Situierung Johann Christian Günthers „ Verliebten Gedichten ". Berlin / New York.

von

Stenzel, Jürgen 1982 Johann Christian Günthers „Abschieds-Aria", in: Gedichte und Interpretationen. Bd. 1: Renaissance und Barock, hg. von Volker Meid. Stuttgart, S. 381390. Stüben, Jens (Hg.) 1997 Johann Christian Günther (1695-1728). Geburtstag des Dichters. München.

Oldenburger

Symposium

zum

300.

Trautwein, Wolfgang 1987 „Von innen zwar ein Paradies, von außen Unruh, Zanck und Plagen" - zur Komposition von Johann Christian Günthers Liebesgedichten, in: Daphnis 16, S. 167-218.

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Friedrich Gottlieb Klopstock: „Die Verwandlung"

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Als ich unter den Menschen noch war, da war ich ein Jüngling, Weiblich und zart von Gefühl, Ganz zur Empfindung der Liebe geschaffen. So zärtlich und fühlend War kein Sterblicher mehr. Also sah ich ein göttliches Mädchen; so zärtlich und fühlend War keine Sterbliche mehr. Aber ein unerbittliches Schicksal, ein eisernes Schicksal Gab mir ein hartes Gesetz, Ewig zu schweigen, und einsam zu weinen. So zärtlich und elend War kein Sterblicher mehr. Einst sah ich sie im Haine; da ging ich seitwärts und weinte Seitwärts ins Einsame hin, Tief in den dunkelsten Hain, der den bängsten Schmerzen geweiht war, Und dem erbebenden Geist. Ach, vergebens erschaffhe - wenn jene, die die Natur dir Gleich schuf, ewig dich flieht Ach, vergebens unsterbliche Seele! Wenn ewig einsam Dir die Unsterblichkeit ist. Wenn du, da du die Seelen erschufst, zwo Seelen von vielen, Mütterliche Natur, Zärtlicher und sich ähnlich erschufst, und gleichwohl sie trenntest, Sage, was dachtest du da, Mütterliche Natur? Sonst immer weise, mir aber Hier nicht weise genug, Hier nicht zärtlich genug! nicht mehr die liebende Mutter, Die du immer sonst warst! Ach, wenn dich noch Tränen erweichten! und wenn ein vor Wehmut Bang erbebendes Herz Dich und dein eisernes Schicksal und seine Donner versöhnte, Wenn du Mutter noch wärst! Wenn, wie vormals, dein Ohr, zur Zeit des goldenen Alters, Stammelnde Seufzer vernähm'! Aber du bleibst unerbittlich und ernst. So sei es denn ewig! Sei's! nicht mehr Mutter, Natur! Warum hast du mich nicht, wie diesen Hain hier, erschaffen, Ruhig und ohne Gefühl? Warum nicht, wie den Sänger des Hains? Er fühlt sich vielleicht nicht, Oder ist es Gefühl, Was ertönet; sinds zärtliche Klagen, die seufzend sein Mund singt, Ach, so wird er gehört! Ach, so lieben ihn Sängerinnen! so donnert kein Schicksal

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Sie zu trennen daher! Ach, so fühlt er kein menschliches Elend! - Auf, laß mich wie er sein! Nicht mehr Mutter, Natur, Schaffe zur Nachtigall mich! doch laß mir die menschliche Seele, Diese Seele nicht mehr! Also sagt ich, und wurde verwandelt, doch blieb mir die Seele Und mein zu fühlendes Herz; Und, nicht glücklicher, klag ich noch einsam, und weine die Nacht durch Und den mir nächtlichen Tag. Wenn der Morgen dahertaut, wenn glücklichern Vögeln und Menschen Du, ο Abendstern, winkst, Geht, die ich lieb', im Haine daher; dann sing' ich ihr Klagen, Aber sie höret mich nicht. Ο so höre mich, Jupiter, dann, Du, des hohen Olympus Donnerer, höre Du mich: Schaffe zum Adler mich um, laß deinen Donner mich tragen, daß sein kriegrischer Schall, Hart und fühllos mich mache, daß in den hohen Gewittern Zärtlich mein Herz nicht mehr bebt, Daß ich die ehernen donnernden Wagen des Zeus nur erblicke, Aber kein blühend Gesicht, Und kein lächelndes Auge, das seelenvoll redt, und die Sprache Der Unsterblichen spricht. Also sang er und wurde zum Adler, und an dem Olympus Zog sich ein Wetter herauf.

Friedrich Gottlieb Klopstock: Ausgewählte chen 1962, S. 49.

Werke, hg. von Karl August Schleiden. Mün-

1. Staffelung der Kommunikationsinstanzen „Die Verwandlung" (1749 erstmals veröffentlicht) ist eine von Klopstocks frühen Oden, die um die Themen Freundschaft, Liebe und Dichtung kreisen. Diese Ode drängt sich einer narratologischen Analyse geradezu auf. Das dem Diskurs zugrundeliegende „Vertextungsmuster" 1 ist so eindeutig narrativ, dass sich eine Diskussion darüber, ob denn in diesem Gedicht wohl erzählt werde, erübrigt. Statt dessen lässt sich aus narratologischer Sicht sogleich fragen, wer hier wem erzählt, was und wie er erzählt und zu welchem Zweck er erzählt. Unmittelbar auffällig an dem Gedicht ist die Komplexität der fiktiven Kommunikationsverhältnisse, die ich im folgenden Diagramm zu verdeutlichen versucht habe: 1

Siehe dazu Gülich / Hausendorf (2001).

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Klopstock: „Die Verwandlung'

Leser

Autor I II primärer Erzähler

sekundärer l-'r/iihlor - der /ur Ν:ΐι·1ιιίμ;ι1Ι gewordene Jüngling

III Jüngling

Sekundärer Adressat] Natur

primärer Adressat

der priniil rc 1 r/iihler? Jupiler 1 '

Abb. 1: Kommunikationsebenen

Die im erzählerischen Diskurs dargebotenen Figurenaussagen lassen sich, obwohl sie jeweils nur einmal - nur „singulativ" 2 - angeführt werden, bis zu drei verschiedenen Sprechsituationen zuordnen. So äußert den zeitlich ersten Verwandlungswunsch - „Schaffe zur Nachtigall mich! doch laß mir die menschliche Seele [...] nicht mehr!" (V.45f.) - ein aus Einsamkeit verzweifelter Jüngling, der sich damit an die „mütterliche Natur" (V.20 u. 23) wendet und von dieser tatsächlich verwandelt wird. Unbestimmte Zeit später bittet der zur Nachtigall gewordene Protagonist den „Donnerer" Jupiter um eine zweite Verwandlung (V.55f.), nachdem er (dem Gott?) vorher, mit wörtlicher Anfuhrung der einstigen Rede an die Natur, von den Gründen, Umständen und Folgen seines ersten Gestaltwandels erzählt hat (vgl. V.l-54). Diese Erzählrede wird wiederum mitsamt dem zweiten Verwandlungswunsch von einem anonymen Sprecher reproduziert und in den Schlussversen (V.65f.) um zwei Geschehenselemente ergänzt. Der Fiktion nach fließt somit das, was die Nachtigall ,singt', als Zitat, und was der Jüngling sagt, als zitiertes Zitat in die Gesamtrede ein. Der primäre (mit Genette: extradiegetische) Sprecher - jene im Fiktionsspiel anzusetzende Sender-Instanz, die der fiktive Urheber des Gesamttextes ist - begnügt sich weitestgehend damit, seinem nicht näher bezeichneten Adressaten fremde Rede zu präsentieren. Bis auf den Titel und die zwei letzten Verse ist der Text eine von diesem Sprecher „kommunizierte Kommunikation" 3 - die Darstellung von jemandem, der selber etwas zur Darstellung bringt - , so dass der fiktiven Sprechhandlung bereits dieselbe Vermitteltheit anhaftet, von der im fiktionalen Erzählen auch (und a 2 3

Genette (1994), S. 82. Janik (1973), S. 12.

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priori) die Kommunikationsweise des Autors gekennzeichnet ist.4 Wegen des fast durchgängigen Zitatcharakters der im Gedicht dargebotenen Rede gilt für den fiktiven Sprecher genauso wie für den Autor, dass er seine Kommunikationsabsicht(en) nicht etwa direkt, sondern „mit Hilfe fremder Worte, die auf bestimmte Weise konstruiert und als fremde angeordnet sind", 5 lediglich indirekt zum Ausdruck bringt. Untersucht man nun näher, welche konkreten Effekte die Vermehrung der fiktiven Redekontexte hat, so lassen sich - noch rein deskriptiv - drei Phänomene feststellen: (1) Wo Aussagen der drei fiktiven Sprecher (Jüngling, Nachtigall, primärer Erzähler) auf dieselben Objekte referieren, kommt es teilweise zu leichten Widersprüchen (a) bzw. Umdeutungen (b, c): (la) Von dem Jüngling, der sie einst war, erzählt die Nachtigall, er sei einem ihm „ähnlichen]" (V.21) Mädchen aus dem Wege gegangen (vgl. V . l l ) ; im Gegensatz dazu beklagt sich der Jüngling, dass dieses Mädchen immer vor ihm davonlaufe („wenn jene, die die Natur dir gleich schuf, ewig dich flieht" - V.15f.). (lb) Während der Jüngling die „mütterliche Natur" für seine schmerzliche Isolation verantwortlich macht (V. 19-26), spricht die Nachtigall von einem „unerbittlichen Schicksal", das ihr auferlegt habe, für „ewig zu schweigen" und „einsam zu weinen" (V.7-9). (lc) Dieses ,,eiserne[...] Schicksal und seine Donner" werden vom Jüngling wiederum mit der „Mutter" Natur assoziiert (V.29f.), wohingegen die Nachtigall zumindest die Attribute ,,ehern[...]" (V.61) und ,,donnernd[...]" (V.61 u. 56f.) - womöglich aber auch das Merkmal ,schicksalbestimmend' (vgl. V.7) - mit dem Vatergott Jupiter / Zeus (vgl. V.55 u. 61) in Verbindung bringt. (2) Der Übergang von der zitierten Rede der Nachtigall hin zur direkten Rede des primären Sprechers motiviert einen Perspektivenwechsel, bei dem die bis dahin mögliche Innen- durch Außenansicht abgelöst wird: Während der autodiegetische (über sich selbst sprechende) sekundäre Erzähler, als er in Nachtigallengestalt von der ersten Verwandlung berichtet, Auskunft auch über deren innere Auswirkungen geben kann, vermag der primäre Erzähler bei seiner Darbietung der zweiten Verwandlung lediglich die äußere Zustandsveränderung mitzuteilen (vgl. V.65). 4

5

Zum Nebeneinander von fiktiver und realer Kommunikation bei der fiktionalen (,literarischen') Rede (die in dieser Hinsicht dem ironischen Sprechen ähnelt) siehe etwa Ryan (1980), S. 408ff.; Weimar (1980), S. 68-81; Martinez / Scheffel (1999), S. 17 u. lOOf.; Jannidis (2002), S. 540-550. Bachtin (1985), S. 209.

Klopstock: „Die Verwandlung"

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(3) Bei einzelnen Aussagen der Nachtigall - wie etwa der Aussage, dass „so zärtlich und fühlend" wie Jüngling und Mädchen „kein Sterblicher" bzw. „keine Sterbliche mehr [war]" (V.3f. u. 9f.) - ist ungewiss, ob sie die Sichtweise (auch) der Erzählinstanz wiedergeben (also narratorial perspektiviert sind) oder aber allein das Bewusstsein des Jünglings repräsentieren (figural perspektiviert sind). Welche interpretatorische Relevanz solche Befunde haben, ist letztlich daran zu messen, wie sie sich auf die Kommunikation zwischen Autor und Leser auswirken. Die in narratologischen Analysen so oft untersuchten Fragen ,wer spricht?' und ,wer nimmt wahr?' werden erst dann sinnvoll, wenn man sie um die weitere Frage ,was kann der Leser (infolgedessen) wissen (bzw. auch gerade nicht wissen)?' ergänzt. Zu dieser Einschätzung ist schon Genette gelangt, als er in seinem Nouveau discours du recit den Terminus ,focalisation' nicht mehr länger mit Wahrnehmung' gleichsetzte, sondern ihn nunmehr als eine „selection de l'information" begriff, durch welche der Leser - sei es vorläufig oder sei es definitiv - nicht die „information complete" erhalte.6 Allerdings hat Genette nicht weiter erläutert, woran es sich erkennen lässt, ob die einem Text zu entnehmende Information (schon) vollständig bzw. (noch) lückenhaft ist. Um das beurteilen zu können, braucht man einen narrationsspezifischen Maßstab für Vollständigkeit'. Benötigt wird eine genauere Vorstellung davon, wann der Autor einer Erzählung, mit Grice gesprochen, die Konversationsmaxime der notwendigen Quantität eingehalten hat.7 2. Sequenzen Gemäß einem neueren Definitionsversuch 8 ist bei Erzählungen die Menge der vermittelten Information immer dann hinreichend groß, wenn sie den (Modell-)Leser dazu in die Lage versetzt, aus den ihm dargebotenen Geschehenselementen (und in Ergänzung der mittels kulturellem Wissen aus ihnen abzuleitenden Inferenzen) eine Geschichte zu rekonstruieren 6 7

8

Genette (1983), S. 49 (deutsche Übersetzung: Genette [1994], S. 242). Damit Kommunikation gelingen kann, müssen sich die Kommunikanten, wie von Grice dargelegt worden ist, die Einhaltung von vier grundlegenden Regeln sowohl selber auferlegen als auch gegenseitig unterstellen. Hierzu gehört auch die Maxime der Quantität, die besagt, dass ein Kommunikationsbeitrag nicht mehr und nicht weniger Informationen enthalten soll als zur Erfüllung seiner pragmatischen Funktion(en) in der jeweiligen Kommunikationssituation nötig ist; vgl. Grice (1993), S. 248f. Vgl. Jesch / Stein (2007).

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wozu es dem Rezipienten im Laufe der Lektüre irgendwann möglich sein muss, die Geschehnisse und Gegebenheiten (a) chronologisch und räumlich zu ordnen (Kohärenzsstufe I), (b) in ihrer Qualität als innerhalb der dargestellten Welt erwartbar (= einem Schema entsprechend) oder ereignishaft (= vom Schema abweichend) zu erkennen (Kohärenzstufe II) und (c) in ihren kausalen, finalen und konsekutiven Zusammenhängen zu erfassen (Kohärenzstufe III).9 Kohärenzstufe I.

Verknüpfungstyp

Leseraktivitäten

zeitlich und räumlich zuerst x, dann y, dann z; dort x, dort y, dort ζ

Ordnung der Geschehenselemente nach ihrer chronologischen Reihenfolge in der dargestellten Welt; Zuordnung von Merkmalen zu Objekten und von Objekten zu Räumen. Sequenzanalyse: Ordnung und inferenzielle Ergänzung der dargebotenen Geschehnisse auf der Grundlage von intra-, inter- oder extratextuell etablierten Schemata; Ereignisanalyse: Feststellung von Schemabrüchen. Motivationsanalyse: Erfassen des dargebotenen Geschehens (insbesondere der von Schemata abweichenden Elemente) im Hinblick auf Ursachen, Beweggründe und Konsequenzen.

II.

korrelativ wenn x, dann auch y

III.

kausal / final / konsekutiv weil x, y; damit x, y; x, so dass y

Tabelle 1: Stufen der Kohärenzbildung bei Rekonstruktion der dargestellten Geschichte 9

Laut Martinez und Scheffel ist es zum Verständnis einer Geschichte „nicht unbedingt" nötig, „über die genaue kausale Verknüpfung der einzelnen Ereignisse [= Geschehnisse, MS] Bescheid zu wissen" - Martinez / Scheffel (1999), S. 151. Eine Geschichte zu verstehen, könne „auch einfach nur heißen, sie unter ein bestimmtes ,script' zu subsumieren"; denn die „Kohärenz des .script' [sei] nicht auf eine durchgehende Motivierung des Geschehens angewiesen" (S. 51). Dem ist insoweit zuzustimmen, als die Subsumtion unter Skripts tatsächlich einen Zuwachs an Kohärenz bedeutet; geraten ja die Geschehenselemente, wenn sie zu ein und demselben Ablaufschema gehören, in eine Relation der Erwartbarkeit. Wer aber lediglich konstatieren kann, dass ihr Verlauf einem bestimmten Muster entspricht, hat dennoch eine Geschichte nicht schon verstanden. Stellen wir etwa fest, dass sich zwei Figuren in einer gewissen Situation immer auf dieselbe Weise verhalten, so können wir deren Aktionen für diese Situation zwar voraussagen, haben damit aber nicht notwendig auch schon den jeweiligen Sinn ihres Verhaltens erfasst. Von einem ,Verstanden-Haben' lässt sich - bei Handlungen nicht anders als bei Naturphänomenen - immer erst dann reden, wenn begriffen worden ist, welche Ursachen oder Beweggründe dem beobachteten Vorgang zugrunde liegen.

Klopstock: „Die Verwandlung"

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Da „Anachronien" 10 in Klopstocks Gedicht kaum vorkommen, muss die chronologische Ordnung der darin erzählten Geschehnisse nicht eigens rekonstruiert werden. Abgesehen von jenen Stellen, an denen Jüngling und Nachtigall auf eine schicksalhafte Vorherbestimmung bzw. das frühere Verhalten der „Mutter" Natur referieren (vgl. V.7-9 u. 19-26), entspricht die Reihenfolge der Geschehensdarbietung dem zeitlichen Ablauf in der fiktiven Welt; es wird weitgehend chronologisch erzählt. Wir können deshalb sogleich - im Übergang zur Kohärenzsstufe II mit der Sequenzanalyse beginnen, bei der es darum geht, die mitgeteilten Geschehenselemente über deren bloß temporale Verknüpfung hinaus auch nach Erwartbarkeitsrelationen zu ordnen. Geschehenselemente gehören immer dann zu einer Sequenz, wenn ihre (isolierte) Erwähnung die Erwartung rechtfertigt, dass ihnen bestimmte andere Geschehenselemente in der dargestellten Welt entweder schon vorausgegangen sind oder noch folgen werden. Entsprechende Erwartungen setzen ein leserseitiges Wissen um regelmäßige Prozessabläufe um „Stereotype" 11 bzw. „scripts" 12 - voraus. Sie beruhen auf kognitiven Sequenzschemata, die sich mitunter erst im Zuge der aktuellen Textrezeption gebildet haben (beispielsweise durch die Schilderung einer Aktionskette als gewohnheitsmäßig), häufig jedoch auch - sei es aus früheren Lektüren oder aus der Alltagserfahrung - beim Leser schon abrufbereit vorhanden sind. Im Falle der vorliegenden Ode lassen sich solche Schemata aufgrund von Rekurrenz-Phänomenen intratextuell herleiten: Analysiert man den Gedichttext im Hinblick darauf, welche Vorkommnisse sich in der dargestellten Welt wiederholen (und entsprechend auch mehrfach erzählt werden), kann man aus dem dargebotenen Geschehen zwei Sequenzschemata abstrahieren, von denen das weniger umfangreiche die Begegnungen mit dem geliebten Mädchen betrifft. Eine solche Begegnung wird zweimal geschildert und verläuft jeweils so, dass der Protagonist das Mädchen zunächst erblickt, zu diesem dann aber nicht in kommunikativen Kontakt treten kann und daraufhin, in Einsamkeit verharrend, Schmerzen empfindet.

10 11 12

Genette (1994), S. 22ff. Barthes (1988), S. 151. Schänk / Abelson (1977), S. 36-68; Linke u.a. (1996), S. 235-237; Herman (1996); Martinez / Scheffel (1999), S. 149-151.

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SeS 1

Erblicken des Mädchens

Ausbleiben eines kommunikativen Kontakts

Schmerzempfindung

SeV 1

Als er noch ein Mensch war, sah der Jüngling das Mädchen einmal „im Haine" ( V . l l )

„da ging" er „seitwärts" (V.ll)

SeV 2

Seit er zur Nachtigall geworden ist, erblickt der Jüngling das Mädchen regelmäßig „im Haine" (V.53)

„dann" singt er ihr „Klagen", „aber sie höret" ihn „nicht" (V.53f.)

„und weinte seitwärts ins Einsame hin", tief im „dunkelsten Hain, der den bängsten Schmerzen geweiht war" (V. 1 lf.) „nicht glücklicher, klagt" er „noch einsam" und ,,weint[..] die Nacht" und den ihm „nächtlichen Tag [durch]" (V.49)

L

.

Tabelle 2: Sequenzschema (SeS 1) und Sequenzverläufe (SeV 1 u. 2) der Sequenz ,Begegnung mit der Geliebten'

Das abschließende Sequenzelement bei diesen Begegnungen - die durch das symptomatische Weinen angezeigte Seelenpein - bildet zugleich auch den Auftakt des zweiten Sequenzschemas. 13 Aus seiner inneren Not heraus wendet sich der Protagonist mehrfach an eine quasi elterliche Instanz, die ihm dazu verhelfen soll, seines aus den Begegenungen mit dem Mädchen hervorgehenden Schmerzes ledig zu werden - was dann aber zumindest bei den zwei ersten von insgesamt drei Versuchen nicht gelingt: SeS 2

Schmerzempfindung

SeV 2.1

Der Jüngling weint, nachdem er der Geliebten ausgewichen ist (V.llf.)

Bitte an jemanden, dem Schmerz abzuhelfen Er richtet einen indirekten Appell an die Natur, jenes „harte Gesetz", dass er für immer „schweigen und einsam [...] weinen" müsse (V.8f.), aufzuheben (V.27-32)

Reaktion des jeweiligen Adressaten Die Natur bleibt „unerbittlich" (V.33)

Auswirkung der Reaktion [Schmerz hält an]

Tabelle 3: Sequenzschema (SeS 2) und Sequenzverläufe (SeV 2.1-2.3) der Sequenz , Schmerzabhilfe' 13

Zwischen den beiden Sequenzen liegt somit - in der Terminologie Bremonds gesprochen - ein „enchainement bout ä bout" vor, also jener Typ von Sequenzverknüpfung, bei dem das Resultat der ersten Sequenz die zweite sogleich eröffnet; vgl. Bremond (1973), S. 132.

67

Klopstock: „Die Verwandlung"

Tabelle 3 (Fortzetzung): Die Natur verwandelt den Jüngling in die Nachtigall, belässt ihm dabei aber die empfindsame Seele (V.47f.)

SeV 2.2

[anhaltender Schmerz]

Der Jüngling bittet die Natur nunmehr, ihn in eine Nachtigall ohne empfindsame „menschliche Seele" zu verwandeln (V.45f.)

SeV 2.3

[anhaltender Schmerz]

Jupiter Die Nachtigall appelliert nun an Jupiter, sie in verwandelt die Nachtigall in den einen Adler zu verwandeln, damit sie Adler (V.65) gefühllos und hart werde (V.55-64)

Auch als Nachtigall kann j der Jüngling zum ; Mädchen nicht in Kontakt treten; seinen seelischen Schmerz darüber empfindet er so stark wie zuvor (V.49-54)

???

Mit dieser Sequenzrekonstruktion wird nunmehr ersichtlich, welchen Effekt es hat, dass mit dem Sprecherwechsel zwischen Vers 64 und 65 auch ein Wechsel der Perspektive einhergeht: Während in den zwei ersten Sequenzverläufen die gewünschte Abhilfe des Schmerzes offenkundig nicht eintritt, bleibt das Ende des dritten Sequenzverlaufs gänzlich ungewiss. Ob die Verwandlung zum Adler die vom Helden erbetene Anästhesierung des gar „zu fühlenden Herzens" (V.3 u. 48) tatsächlich erbracht hat, kann man der dargestellten Rede (infolge des Wechsels von der Innen- zur Außensicht) nicht entnehmen. Eine solche bis zum Textende aufrechterhaltene „Filterung" 14 der eigentlich notwendigen Information ist eine Art erzählpragmatisches Skandalon, zu dessen Bezeichnung sich der Begriff des Vermittlungsereignisses anbietet. Wie aus den Appellen im Gedicht klar hervorgeht, dient alles (Sprech-)Handeln des Protagonisten dem Bemühen, bei seinen 14

Den Terminus „Filterung" übernehme ich hier - und zwar zur Benennung dessen, was Genette im Nouveau discours du ricit als (die Funktion der) „focalisation" begreift von Chatman (1990), S. 143-153. Wie dieser ausfuhrt, ist „[filtration] a good term for capturing something of the mediation function of a character's consciousness - perception, cognition, emotion, reverie - as events are experienced from a space within the story world" (S. 143 u. 149). Chatman sieht den Vorzug seines Terminus zu Recht darin, „that it catches the nuance of the choice made by the implied author about [...] which areas of the story world [he] wants to illuminate and which to keep obscure" (S. 144).

68

Malte Stein

Adressaten Mitgefühl zu erregen, auf dass diese ihm zu einem Zustand der Schmerzlosigkeit verhelfen. Erzählt wird von einem mehrmals wiederholten Problemlösungsversuch, wobei - nach dem Grice'sehen Kooperationsprinzip - zu erwarten wäre, dass man schließlich auch etwas über dessen (definitives) Ergebnis erfahrt. Indem nun aber der Autor seinen primären Sprecher dieses Ergebnis nicht mitteilen lässt, begeht er einen Verstoß gegen die Kommunikationsmaxime der Quantität: Er vermittelt dem Leser nicht die Informationsmenge, die gebraucht würde, um die erzählte Geschichte vollständig rekonstruieren zu können. Entsprechende Abweichungen vom Regel- bzw. Erwartungsgemäßen entsprechende Ereignisse - sind im buchstäblichen Sinne fragwürdig. Da sie sich in einem literarischen Kunstwerk nicht als zufallig und sinnlos abtun lassen, fordern sie zum Erschließen von Ursachen und Gründen heraus: Weshalb wohl mag sich der Autor für ein so unbestimmtes Handlungsende entschieden haben? Was könnte der Zweck seiner Informationsvorenthaltung sein? Mit derlei Fragen wechselt die narratologische Untersuchung erneut ihren Fokus und wird, sich auf die dritte Kohärenzstufe verlagernd, zur Analyse der Motivationen.

3. Kompositorische Motivation Jede Handlung, die jemand vollzieht, beruht auf einer Auswahl aus möglichen Alternativen. Hauptziel der Motivationsanalyse ist es, eine begründete Vorstellung davon zu entwickeln, aus welcher Intention heraus sich der Handelnde für die gewählte Alternative entschieden hat. Im Rahmen des fiktionalen Erzählens stellt sich diese Aufgabe im Hinblick auf die dargestellten Akteure (Figuren und Erzähler), genauso aber eben auch in Bezug auf den Autor, insofern sich ja dessen Text - als eine schriftlich fixierte Kommunikationshandlung - auf eine Vielzahl von Kompositionsentscheidungen gründet (wie etwa die Wahl einer bestimmten Erzählform, einer bestimmten Erzählperspektive oder einer bestimmten Erzählerfigur). Während die Rekonstruktion der erzählten Geschichte eine Konzentration auf die Motivationen des fiktiven Personals erfordert, muss sich eine narratologische Untersuchung doch immer auch mit Fragen der „kompositorischen Motivation" 15 beschäftigen - mit Fragen also wie etwa der, warum ein Autor für bestimmte Textteile nicht diese, son15

Martinez (1996), S. 27-30.

Klopstock: „Die Verwandlung"

69

dem jene Darbietungsweise gewählt, warum er hier beispielsweise einen Erzählerkommentar, da eine Anachronie und dort eine Metalepse in seinen Text eingebracht hat. Was nun die kompositorische Motivation' für jene Unbestimmtheitsstelle am Ende von Klopstocks Ode betrifft, so lässt sich bei deren Erschließung ein gutes Stück weiterkommen, wenn man sich noch einmal den zweiten - seitens des sekundären Sprechers an Jupiter adressierten Verwandlungswunsch vergegenwärtigt: Schaffe zum Adler mich um, laß deinen Donner mich tragen, daß sein kriegrischer Schall, Hart und fühllos mich mache, daß in den hohen Gewittern Zärtlich mein Herz nicht mehr bebt, Daß ich die ehernen donnernden Wagen des Zeus nur erblicke, Aber kein blühend Gesicht, Und kein lächelndes Auge, das seelenvoll redt, und die Sprache Der Unsterblichen spricht. - (V.57-64)

Indem der Sprecher sich wünscht, dass er als Adler künftig „kein blühend Gesicht" und „kein lächelndes Auge" (V.62f.) mehr erblicken müsse, versucht er einer weiteren Wiederholung jener (nach Sequenzschema 1 ablaufenden) Begegnungen vorzubeugen, aus denen ihm stets nur Schmerzen erwachsen sind. Das „göttliche Mädchen" (V.5) fortan niemals mehr zu Gesicht zu bekommen, dünkt ihm offenkundig als der sicherste Weg, einen erneuten Seelenaufruhr zu verhindern. Doch muss auch hier wieder als unsicher gelten, ob sich sein Wunsch tatsächlich erfüllt. Sofern man nämlich, auf kulturelles Wissen gestützt, annimmt, dass die Verwandlung zum Adler auch mit dem Erwerb der sprichwörtlichen Adleraugen einhergeht, wird einem die erhoffte Nichtwahrnehmung des Mädchens (vgl. V.61-64) eher unwahrscheinlich vorkommen. Jedenfalls ist ein erneutes Sichten der (vormals) Geliebten keineswegs ausgeschlossen, und es entspricht zweifellos der Appellstruktur des Gedichts, wenn man zu extrapolieren versucht, was sich bei einem solchen Wiedersehen ereignen würde. Zu welcher Annahme man diesbezüglich gelangt, ist aber wiederum abhängig davon, von welchem inneren Zustand des nochmals verwandelten Jünglings man ausgeht. Wenn der Autor weniger offen gelassen hätte, wie sich die zweite Verwandlung seelisch auswirkt, und wenn er eindeutig vorgegeben hätte, dass in dem neu geschaffenen Raubvogel ein ,,hart[es] und fuhllosjes]" Herz schlägt, dann wäre es durchaus naheliegend gewesen, sich einen „Adler" (im übertragenen Sinne: einen gewaltbereiten Mann) zu denken, der im ,,kriegrische[n] Schall" (V.58) des

70

Malte Stein

heraufziehenden Donner-„Wetters" (V.66) - auf die erfahrene Verletzung nunmehr mit Aggression reagierend - eine Attacke (auch) gegen das Mädchen führt. Dass sich der Autor indessen doch anders entschieden und die fiktive Erzählung mit einer Unbestimmtheitsstelle beendet hat, ist vor diesem Hintergrund als Versuch erklärbar, ein anstößiges Sinnpotential kompositorisch zu kaschieren und dadurch dessen Realisierung ins Belieben des Rezipienten zu stellen. 4. Motivation des Geschehens Wie auch immer man aber das Handlungsende ergänzt - festzuhalten bleibt in jedem Fall der erzählerische Gegenstand des Gedichts: Dargeboten findet sich hier, in mythisierende Metaphern gekleidet, die Entwicklungsgeschichte eines „weiblich" (V.2) empfindsamen Adoleszenten (V.l: „Jünglings"), der in dem Wunsch, sich aus schmerzlicher Einsamkeit zu befreien, zunächst zum Poeten wird (Verwandlung zur „Nachtigall" - V.45), jedoch auch als „Sänger" (vgl. V.37) den von ihm gewünschten Liebeskontakt nicht herzustellen vermag und infolgedessen, um nichts mehr fühlen zu müssen, die Identität eines ,männlich' hartherzigen Kriegers annehmen will (Verwandlung zum „Adler" - V.65). Ereignishaft an diesem Geschehen - und von daher auch wieder einer eigenen Motivationsanalyse bedürftig - ist zuvorderst die Tatsache, dass dem Protagonisten als Möglichkeit, sich seines Leidens an Einsamkeit zu entledigen, am Ende nur die Flucht in die innere Verhärtung offen zu stehen scheint. Sofern ja der „Jüngling" (V.l) eigentlich „zur Empfindung der Liebe geschaffen" war (V.3) und in dem „göttlichen Mädchen" ein ihm seelenverwandtes Wesen erblickte (vgl. V.5, 15f. u. 21), wäre grundsätzlich zu erwarten gewesen, dass sich die Qualen der Einsamkeit auf weitaus glücklichere Art würden beseitigen lassen. Hingegen führt uns die Erzählung dann aber vor, wie der kommunikative Kontakt zwischen den zwei Adoleszenten auf jeder Entwicklungsstufe neuerlich scheitert: (1) Als „Jüngling" zunächst weicht der Held dem geliebten Mädchen aus, wenngleich er von ihm doch zu wissen meint, dass es überaus „zärtlich und fühlend" ist (V.5); (2) als Poet wiederum vermag er sich der Geliebten nicht vernehmlich zu machen („sie höret mich nicht" - V.54), obwohl er damit gerechnet hat, dass die ,,zärtliche[n] Klagen" der „Sänger" von ihresgleichen mit Liebe „gehört" würden (V.39f. u. 41f.: „Ach, so lieben ihn Sängerinnen! So donnert kein Schicksal / Sie zu trennen daher");

Klopstock: „Die Verwandlung"

71

(3) als angehender Krieger schließlich will er den Kontakt zur Geliebten wieder von sich aus vermeiden, selbst wenn es denn einmal der Fall sein sollte, dass ihr „lächelndes Auge [...] seelenvoll" zu ihm „redt" (V.63). Zur Motivation dieser anhaltenden Kontaktstörung sind sowohl dem sekundären Erzähler als auch dessen erzähltem Ich erklärende Hinweise in den Mund gelegt, denen zufolge eine höhere Gewalt die Paarbildung verhindert. Seitens des Jünglings wird gegen die „mütterliche Natur" (V.20) der Vorwurf erhoben, „unerbittlich und ernst" (V.33) zwei Seelen zu trennen, die sie doch als einander besonders „ähnlich" erschaffen habe (V.21). Aus der zeitlich späteren Sicht des „Sängers" (V.37) ist es vor allem das „eiserne Schicksal" (V.7), das ihn in Schweigen und Einsamkeit hält. Auf beiden Entwicklungsstufen empfindet sich der Protagonist mithin also als fremdbestimmt. Gegenüber dem Mädchen autonom handeln zu können, erscheint ihm als völlig unmöglich. Gemäß seiner subjektiven Wahrnehmung steckt er in einem Konflikt zwischen einerseits der Sehnsucht nach liebevoller Gemeinschaft und andererseits dem Beziehungsverbot durch Instanzen, deren auf ihn bezogenes Verhalten er als „eisern", unversöhnlich und lieblos erlebt (V.7; vgl. auch V.25 u. 29).16 Auf solche Art hin und her gerissen zwischen zwei unvereinbaren Ansprüchen, identifiziert sich der Held schließlich mit den Repräsentanten der Macht. Seine Verwandlung zu einem Begleiter des Donner und Blitze streuenden Jupiter soll ihn so „hart und fuhllos" (V.59) machen, wie es das „unerbittliche Schicksal" (V.7) und die „nicht mehr [...] liebende Mutter" (V.25) vorher gewesen sind. Zugleich kommt es zu einer definitiven Preisgabe des bislang noch gehegten Kontaktwunsches: Das vormalige Ideal, in ein „seelenvoll [redendes]" Auge blicken zu können (V.63), wird als nicht mehr erwünscht verworfen. Sich anverwandelnd an jene Mächte, unter deren Zwang es ehedem litt, will das dargestellte Subjekt nicht länger „weiblich"-empfindsam (vgl. V.2) sein, sondern - als „Adler" (V.65) - zum ,maskulinen' Aggressor werden. Thema des Gedichts ist somit ein Typus der männlichen Selbstkonstitution, bei welchem der Eintritt in die sozial bestimmte Geschlechterrolle, statt an das Eingehen einer Geschlechterbeziehung gekoppelt zu sein, mittels Gewaltakten erfolgen soll. Wie auch mit seinen ,vaterländi16

Ob mit seiner Figur auch der Autor an eine Verhaltensdeterminierung durch Natur und Schicksal geglaubt haben mag, lässt sich aus dem kurzen Text nicht erschließen. Eine psychologisch aufgeklärte Lektüre dürfte in den hypostasierten Mächten jedoch Projektionen erkennen, die dem dargestellten Subjekt, indem sie belastende Persönlichkeitsanteile in die Umwelt verlagern, zu einer psychischen Selbststabilisierung verhelfen.

72

Malte Stein

sehen' Dichtungen, in denen er sich bei der Darstellung von Schlächtereien „keinerlei Zurückhaltung [auferlegt]", 17 vermittelt der Autor die schon zu seiner Zeit keineswegs unumstrittene Auffassung, es habe sich wahre Männlichkeit in Tötungsbereitschaft und Todesmut zu bewähren. Inhaltlich interessant wird „Die Verwandlung" erst dadurch, dass dieses Gedicht zu erkennen gibt, was die persönliche Vorgeschichte jedes martialischen Heroismus ist: Der da im Text nach Härte und Kriegsschall sich sehnt, tut dies als Kompensation für eine vorherige Erfahrung von Fremdbestimmung, Zurückweisung und Schwäche.

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M A L T E STEIN

Johann Wolfgang Goethe: „Harzreise im Winter' (i)

5

Dem Geier gleich, Der auf schweren Morgenwolken Mit sanftem Fittich ruhend Nach Beute schaut, Schwebe mein Lied.

(II)

10

15

Denn ein Gott hat Jedem seine Bahn Vorgezeichnet, Die der Glückliche Rasch zum freudigen Ziele rennt: Wem aber Unglück Das Herz zusammenzog, Er sträubt vergebens Sich gegen die Schranken Des ehrenen Fadens Den die doch bittre Schere Nur einmal löst.

(III) 20

In Dickichts Schauer Drängt sich das rauhe Wild, Und mit den Sperlingen Haben längst die Reichen In ihre Sümpfe sich gesenkt.

(IV) 25

Leicht ists folgen dem Wagen Den Fortuna führt, Wie der gemächliche Troß Auf gebesserten Wegen Hinter des Fürsten Einzug.

(V) 30

Aber abseits wer ists? Ins Gebüsch verliert sich sein Pfad, Hinter ihm schlagen Die Sträuche zusammen Das Gras steht wieder auf, Die Öde verschlingt ihn.

76

Malte Stein

(VI)

35

40

Ach wer heilet die Schmerzen Des, dem Balsam zu Gift ward? Der sich Menschenhaß Aus der Fülle der Liebe trank, Erst verachtet, nun ein Verächter, Zehrt er heimlich auf Seinen eignen Wert In ungnügender Selbstsucht.

(VII)

45

50

Ist auf deinem Psalter, Vater der Liebe, ein Ton Seinem Ohre vernehmlich, So erquicke sein Herz! Öffne den umwölkten Blick Über die tausend Quellen Neben dem Durstenden In der Wüste.

(VIII)

55

Der du der Freuden viel schaffst, Jedem ein überfließend Maß, Segne die Brüder der Jagd Auf der Fährte des Wilds Mit jugendlichem Übermut Fröhlicher Mordsucht, Späte Rächer des Unbills, Dem schon Jahre vergeblich Wehrt mit Knütteln der Bauer.

(IX) 60

65

Aber den einsamen hüll In deine Goldwolken, Umgib mit Wintergrün, Bis die Rose wieder heranreift Die feuchten Haare, Ο Liebe, deines Dichters!

(X)

70

Mit der dämmernden Fackel Leuchtest du ihm Durch die Furten bei Nacht, Über grundlose Wege Auf öden Gefilden; Mit dem tausendfarbigen Morgen Lachst du ins Herz ihm, Mit dem beizenden Sturm Trägst du ihn hoch empor.

Goethe: „Harzreise im Winter"

75

80

77

Winterströme stürzen vom Felsen In seine Psalmen, Und Altar des lieblichsten Danks Wird ihm des gefurchteten Gipfels Schneebehangner Scheitel Den mit Geisterreihen Kränzten ahndende Völker.

(XII)

85

Du stehst mit unerforschtem Busen Geheimnisvoll offenbar Über der erstaunten Welt, Und schaust aus Wolken Auf ihre Reiche und Herrlichkeit, Die du aus den Adern deiner Brüder Neben dir wässerst.

Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens Ausgabe) Bd. 2.1. München 1987, S. 37-41.

(Münchner

1. Biographischer Hintergrund Bekanntlich ist bereits der Entstehungskontext des berühmten Hymnus so geheimnisvoll wie erzählenswert: In schlechter Jahreszeit machte sich Goethe am 29. November 1777 zu einer Reise auf, die Merkmale des Besonderen trug. Der Herzog [Carl August von Sachsen-Weimar] hatte sich zwei Tage zuvor zur Jagd ins Eisenachische begeben, während Goethe „nach einem kleinen Umweg" nachkommen wollte. Wohin ihn dieser Umweg fuhren sollte, darüber schwieg er gegenüber jedermann. In seinem Tagebuch stand schon unter dem 16. November: „Projekte zur heimlichen Reise". Auf der Reise selbst bezeichnete er sein geheimgehaltenes Unternehmen als „Wallfahrt" (an Charlotte von Stein, 7.12.1777). Es zog ihn in den Harz. [...] Von Süden nach Norden durchquerte der Reiter das Gebirge, besichtigte die Baumannshöhle [...], ritt am 4. Dezember nördlich am Harz entlang bis Goslar und nahm das Winterwetter ruhig in Kauf. [...] In den nächsten Tagen Besuch des Harzer Bergwerksreviers, Einstieg in verschiedene Gruben und dann am 10. Dezember der Höhepunkt [der sich im Tagebuch wie folgt festgehalten findet]: „Früh nach dem Torfhause in tiefem Schnee. 1 viertel nach 10 aufgebrochen von da auf den Brocken. Schnee eine Elle tief, der aber trug. 1 viertel nach eins droben, heitrer herrlicher Augenblick, die ganze Welt in Wolcken und Nebel und oben alles heiter. Was ist der Mensch dass du sein gedenckst [...].'

Wie aus Tagebucheintragungen und brieflichen Äußerungen hervorgeht, hat Goethe den Verlauf seiner ersten Harzreise mitsamt der zur Winters1

Conrady (1987), S. 370 (Ergänzungen in eckigen Klammern von MS).

78

Malte Stein

zeit damals unüblichen Brockentour als eine Art Zeichen gedeutet, über dessen Sinngehalt er sich jedoch in seinen biographischen Zeugnissen ausschwieg. „Man weiß, daß Goethe seiner Besteigung des Brockens vorher und auch nachher eine Bedeutung zugemessen haben muß, die sie auch als immerhin beachtliche alpinistische Leistung [per se, MS] nicht gehabt hat; aber man weiß nicht, welche Bedeutung das war." 2 Vor diesem Hintergrund ist wiederholt versucht worden, das während der ominösen Reise zumindest schon begonnene Gedicht „Harzreise im Winter" als „Auskunftmittel" 3 zu nutzen, wobei man sich zweier grundlegend verschiedener Vorgehensweisen bediente: Während es die Mehrheit der Kommentatoren für legitim und sinnvoll erachtet hat, erläuterungsbedürftige Textelemente aus dem biographischen Kontext heraus zu erklären, unterstellen Weimar und Wellbery in zwei miteinander konkurrierenden „Harzreise"-Analysen, dass der publizierte Gedichttext als Äußerung in einer öffentlichen Kommunikation auch ohne biographische Kenntnisse verstehbar sein müsse und auf Seiten der Leserschaft nur ein gewisses kulturelles Wissen voraussetze. Wellbery zieht aus dieser Prämisse die Konsequenz, auf Bezüge zur Biographie völlig zu verzichten. Dem postmodernen Intertextualitätskonzept verpflichtet, schreibt er dem Gedicht eine „kulturelle Dimensionalität" zu, die „an kein einzelnes biographisches Subjekt rückzubinden ist".4 Weimar dagegen vertritt die Ansicht, dass aus dem Textsinn, der im Rahmen einer biographie-unabhängigen Analyse zu ermitteln sei, durchaus auf die Bedeutung der Reise für Goethe geschlossen werden dürfe: Die „Bilder des Textes seien biographisch instrumental" in dem Sinne, dass sie als „Instrumente zur Deutung des Weges" dienen, „den ihr Autor biographisch gegangen ist".5 Ob Letzteres zutrifft, vermag auch die folgende Analyse nicht zu entscheiden, da Aussagen zur Autor-Biographie ihren Untersuchungsbereich überschreiten. 6 Mit Hilfe narratologischer Begriffe wird gleichwohl eine neue Lesart des enigmatischen Gedichts entwickelt, die (nähme man sie tatsächlich als des reisenden Goethe ,confessio' an) der biographisch verbürgten „Wallfahrt" 7 eine erstaunlich häretische Bedeutung verliehe. 2 3 4 5 6

7

Weimar (1984), S. 16. Ebd., S. 17. Wellbery (1984), S. 80. Weimar (1984), S. 35. Eine gute Sammlung und anregende Interpretation der biographischen Zeugnisse aus dem Umkreis von Goethes erster Harzreise bietet Dwars (1998). Goethe an Charlotte von Stein vom 7.12.1777, zitiert nach Conrady (1987), S. 370.

79

Goethe: „Harzreise im Winter"

2. Rezeptionslenkende Funktion der Überschrift Durch die Gedichtüberschrift „Harzreise im Winter" werden beim Leser sogleich zwei Schemata aufgerufen; zum Einen der Frame , Harzlandschaft im Winter', eine Szenerie, die als unabdingbare (Kern-)Elemente die Gegebenheiten ,Berge' und ,Schnee' umfasst; zum Andern das Skript ,Reise', das sich in seiner abstraktesten Form aus den Sequenzelementen ,Aufbruch', ,Zurücklegen einer Wegstrecke' und ,Ankunft' (bzw. auch ,Nicht-Ankunft') zusammensetzt. Die Kombination dieser beiden Schemata weckt (mindestens) die Erwartung, dass in Goethes Gedicht der Verlauf einer Reise dargestellt wird, deren durch ein winterliches Gebirge führende Wegstrecke etappenweise mit besonderen Anstrengungen und Gefahren verbunden sein kann.

Harzreise im Winter

Aufbruch

Zurücklegen einer beschwerlichen Reiseroute

Etappe η

Etappe n+1

Ankunft oder Nicht-Ankunft

Etappe n+2

Abb. 1: Sequenzschema A

Dieses auf pragmatischen Präsuppositionen beruhende Sequenzschema wird noch um eine Ebene komplexer, wenn man berücksichtigt, dass Reisen ein zielgerichtetes Handeln ist, zu dem sich jemand aus irgendeiner Veranlassung und in irgendeiner Absicht entschlossen haben muss.

80

Malte Stein

Handlung

Veranlassung

Handlungsentschluss

Umsetzung: Erreichen oder Verfehlen Harzreise im Winter des Handlungsziels

Aufbruch

Zurücklegen einer beschwerlichen Reiseroute

Etappe η

Etappe n+1

Ankunft oder Nicht-Ankunft

Etappe n+2

Abb. 2: Sequenzschema Β

Nach Kenntnisnahme der Überschrift hat der Leser also bereits - mehr oder minder reflektiert - gewisse Strukturhypothesen in Bezug auf das dargestellte ,Was'. Durch den Gedichttitel vorbereitet, nimmt er die Lektüre (oder auch Analyse) des Textes mit vorläufigen Schemata auf, die bestimmte Informationen erwarten lassen und es ermöglichen, das im Text sukzessiv dargebotene ,Einzelne' versuchsweise in einen unterstellten Gesamtzusammenhang einzuordnen.8 8

Obwohl schon der Titel „Harzreise im Winter" „einen gewissen Grad der Narrativierung erwarten läßt" (Wellbery [1984], S. 59), haben sich die bisherigen Interpreten des Textes entweder gar nicht oder nicht hinlänglich darum bemüht, die im Text dargebotenen Geschehenselemente zu Handlungssequenzen zu ordnen. Weimar beispielsweise umgeht das Problem der Sequenzen-Rekonstruktion, indem er sich darauf beschränkt, die Kohärenz des dargestellten ,Was' fast ausschließlich auf der Ebene von Sem- und Bildrekurrenzen aufzuzeigen. Dagegen führt Wellbery bereits aus, dass als kohärenzbildende Faktoren neben semantischen Isotopien auch kognitive Schemata wirksam sind, welche dem Rezipienten, sobald er sie auf bestimmte Textsignale hin aktiviert, als konzeptuelle Basis für die Feststellung von impliziten Geschehenszusammenhängen dienen. Zur Liste der für die „Harzreise"-Lektüre besonders wichtigen Schemata zählt Wellbery dann allerdings mit dem Skript ,Jagd' (neben ,Dichtung', ,Weg', .Flüssigkeit', ,Wahrnehmung' und ,Religion') nur ein einziges Sequenzschema (S. 53), so dass die Sequenzanalyse auch bei ihm noch unterentwickelt bleibt.

Goethe: „Harzreise im Winter"

81

3. Konkretisierung der durch die Überschrift aufgerufenen Schemata Auf Geschehenselemente und Gegebenheiten, die sich als Teile der angekündigten Szenerie begreifen lassen, stößt der Leser schon in den ersten Strophen (I u. III): Der nach Beute suchende Raubvogel (V. 1: „Geier"), das im Unterstand (V.19: „Schauer") sich drängende Pelzwild, die nach tradierter Vorstellung in den Sümpfen überwinternden Spatzen sowie das Vergrabensein auch der „Reichen" (V.22) in ihren Winterquartieren - das alles passt bereits ins Bild eines winterlichen Harzes und wird in den Strophen V, VIII und IX bis XII durch zahlreiche weitere Elemente noch ergänzt (V.30: „Gebüsch", „Pfad", V.32: „Sträuche", V.33: „Gras", V.34: „Öde", V.62: „Wintergrün", V.68: „Furten bei Nacht", V.69: „grundlose Wege", V.70: „öde Gefilde", V.71: „tausendfarbiger Morgen", V.73: „beizender Sturm",V.75: „Winterströme", „Felsen", V.78: „gefluchteter Gipfel", V.79: „schneebehangener Scheitel", V.85: „Wolken"). Auf sich warten lässt dagegen bis Strophe V ein erstes Geschehnis, das als Sequenzelement einer ,Harzreise' identifiziert werden kann. Von einer Reise zwar ist in der vierten Strophe schon die Rede, wo sich der „Troß" (V.26) und der „Einzug" (V.28) des Fürsten erwähnt finden. Sofern dort aber an den „Einzug" ins Winterquartier zu denken ist - der Fürst und seine Gefolgsleute zählen zu den „Reichen", die sich zum Zeitpunkt der Sprecher-Rede „längst" (V.22) schon in ihre „Sümpfe" (V.23) (= Winterunterkünfte) „gesenkt" (V.23) haben - , muss der „auf gebesserten Wegen" (V.27) vollzogene Umzug noch vor dem Winter erfolgt sein. Tatsächlich zur Winterszeit unterwegs sind erst (a) der Wanderer „abseits" (V.29), dessen „Pfad" sich „ins Gebüsch verliert" (V.30), und (b) der durch Äquivalenzbeziehung mit diesem eng verbundene „Dichter" (V.65), der auf abenteuerlicher Route - erst nämlich „durch die Furten bei Nacht" (V.68) und dann „über grundlose Wege auf öden Gefilden" „hoch empor" (V.74) auf den Gipfel des Brocken gelangt. Angedeutet werden somit gleich zwei Winterreise-Verläufe, die sich dem Anschein nach zueinander in Gegensatz befinden: Während die Darstellung des einen Verlaufs mit dem Verschwinden oder gar der Vernichtung des Wanderers endet - „die Öde verschlingt ihn" (V.34) - , bricht die Darstellung des anderen mit dem Erreichen eines Etappenziels ab.

82

Malte Stein

Harzreise im Winter I

i Etappe η

Etappe n+1

Aufbruch

|

Wandern „abseits" auf einem „Pfad" „ins Gebüsch" (V.29f.)

Verschlingung durch „Öde" (V.34) = Nicht-Ankunft am (Etappen-) Ziel

Harzreise im Winter II

Etappe η

Aufbruch

Wandern „durch Furten bei Nacht" (V.68)

Etappe n+1

Ankunft Aufbruch Wandern am „über Etappengrundlose ziel Wege auf öden Gefilden" (V.69) „hoch empor' (V.74)

Etappe n+2

Ankunft am „gefiirchteten Gipfel" (V.78)

Abb. 3: Sequenzen A

4. Semantisierung der Reise als Symbol eines besonderen Lebenslaufs Bevor ab der fünften Strophe die eigentliche Darbietung der doppelten , Harzreise im Winter' beginnt, wird das Reise-Skript zunächst als ein komplexes Symbol codiert. Beim Lesen der Strophen II und IV kommt es zu einer assoziativen Verschmelzung der durch die Überschrift aktivierten Schemata mit einer auf die antike Mythologie anspielenden Lebenslauf-

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Metaphorik: Der winterliche Harz erhält die Konnotation, ein Bild für die allgemeine Beschaffenheit der Welt zu sein; der abseitige und gefahrvolle Reiseweg erscheint als göttlich vorherbestimmte .Lebensbahn'.

5. Klassifikation der Figuren Aus den Strophen II und IV mit ihren als allgemeingültig formulierten Aussagen ergibt sich eine Art Grundordnung der erzählten Welt. Der Leser kann diesen Strophen entnehmen, (1) dass in der erzählten Welt mindestens „ein Gott" (V.6) und Nicht-Götter (sterbliche Lebewesen) existieren; (2) dass besagter „Gott" einem jeden Lebewesen dessen Lebensweg „vorgezeichnet" (V.8) hat; (3) dass sich die Menge der Lebewesen in „Glückliche" (V.9) und Unglückliche unterteilt; (4) dass ein „Glücklicher" der ist, der seiner ihm vorgegebenen „Bahn" (V.7), insofern sie „auf gebesserten Wegen" (V.27) zu einem „freudigen Ziele" (V.lOf.) führt, „leicht" (V.24) folgen kann; (5) dass sich hingegen derjenige, dem „Unglück das Herz zusammenzog" (V.12f.) - dessen Lebensbahn von ,,Fortuna[s]" (V.25) Wagenspur abweicht „vergebens" (V.14) gegen sein Schicksal sträubt. Als ein weiteres Strukturraster intratextuell etabliert ist mit diesen Propositionen ein Schema zur (wiederum versuchsweisen) Klassifizierung der im Gedicht dargestellten Figuren: Gottheit(en) Sterbliche Lebewesen mit der Bestimmung, mit der Bestimmung, einen leichten Lebenslauf einen schweren Lebenslauf auf „gebesserten Wegen" (V.27) auf unbefestigten Wegen zu haben zu haben Glückliche, die ihrer Bestimmung willig folgen

Unglückliche, die sich gegen ihre Bestimmung erfolglos sträuben

Abb. 4: Figurenklassen

Das Leben der Glücklichen veranschaulicht die Art und Weise, in der das „rauhe Wild" (V.20), die „Sperlinge" (V.21) und die „Reichen" (V.22) über den Winter kommen. Deren in Strophe III beschriebenes Winterleben, das gekennzeichnet ist durch die Merkmale (1) ,Behaustsein'

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(V.19: „Schauer", V.23: „Sümpfe"), (2) .Gemeinschaft' (V.20: „drängen", Nennung im Plural) und (3) ,Prokreation' (Sperling als Vogel der Aphrodite, konnotiert mit Vermehrungslust; Sumpf als Pfuhl, konnotiert mit Sünde / Sexualität), wird mit der vierten Strophe in die aus der zweiten schon vertraute Wegmethaphorik übersetzt: Wer ein derartiges Leben führt - so besagt Strophe IV als ein nachträglicher Kommentar zu III --, der zieht auf bequemen Wegen hinter Fortunas Wagen her und vermag deshalb sein Schicksal bereitwillig anzunehmen. Was es hingegen bedeutet, einer Bahn „abseits" (V.29) der GlücksWege folgen zu müssen, ist mit dem Winterreisenden aus den Strophen V bis VII und IX dargestellt. Als ein zu einsamer Wanderschaft Bestimmter, der im Gegensatz zu den vorher genannten Figuren (1) ohne Behausung, (2) ohne Gemeinschaft und (somit) (3) ohne Nachkommen bleibt, hinterlässt er auf seinem Lebensweg keinerlei Spuren: „Hinter ihm schlagen die Sträuche zusammen, / Das Gras steht wieder auf, / Die Öde verschlingt" (V.31-34) nicht etwa nur ihn selber, sondern im gleichen Moment auch seine spärlichen Lebenszeugnisse. Es führt die Lebensbahn dieses ,,[E]insamen" (V.60) auf das un-„freudige Ziel" (V.lOf.) eines schnellen Vergessenseins zu - und bietet ihm deshalb Grund, sich mit der göttlichen Wegvorgabe nicht abfinden zu können. Zwar ist von einem solchem Aufbegehren nicht ausdrücklich die Rede, gewiss. Insofern aber aus Strophe VI hervorgeht, dass jener Wanderer - als „erst verachtet, nun ein Verächter" (V.39) - ein von Leiderfahrung geprägtes Herz voll „Menschenhaß" (V.37) hat, lässt sich auf eine Diskrepanz zwischen Wollen und Schicksal in seinem Falle doch schließen: „Wem [...] Unglück das Herz zusammenzog" (V.13f.) wie ihm, „Er sträubt vergebens / Sich gegen die Schranken / Des ehernen Fadens" (V.14ff.) ... Ein entsprechender Konflikt wäre dann eigentlich auch bei dem zweiten Winterreisenden zu erwarten, da dieser ja ebenfalls unbehaust und ohne Gemeinschaft ist. Doch obwohl dessen Lebensbahn einmal mehr auf ein glückloses Dasein hindeutet - über „grundlose Wege" (V.69) auf einen verschneiten Gipfel kann Fortunas „Wagen" (V.24) nicht rollen scheint der Besteiger des Brockens mit seiner Bestimmung in Einklang zu sein (was als ein Verstoß gegen die vorher angezeigte Korrelation von Abseitigkeit und Unglück den Status eines Ereignisses hat): Durch göttliche Lenkung an einen Ort gelangt, der in größter Ödnis liegt und von ,,ahndende[n] Völker[n]" (V.81) aus „Geister"-Furcht gemieden wird, zeigt sich der Bergbezwinger durchaus erfreut über seine

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Situation. Indem er „des gefürchteten Gipfels [...] Scheitel" (V.78f.) zum „Altar des lieblichsten Danks" (V.77) sich macht, bringt er gegenüber der gepriesenen Gottheit zum Ausdruck, die ihm vorbestimmte Lebensbahn glücklich angenommen zu haben. Dass ihm dies, anders als dem vorangegangenen Wanderer, möglich ist, lässt sich zunächst damit erklären, dass er am Ende trotz größter Isolation keine ,Verschlingung' (mehr) fürchten muss. In seiner Eigenschaft als „Dichter" (V.65) nämlich hat dieser ,,[E]insame" (V.60) die ihm verwehrte Prokreation durch künstlerische Kreativität ersetzen können. Seine in der elften Strophe erwähnten „Psalmen" (V.76) nebst jenem „Lied" (V.5), das er - als der fiktive Sprecher des Textes - einem „Geier gleich" (V.l) in die „Welt" (V.84) entsendet, bieten ihm eine Gewähr dafür, dass sich die Spur seiner Erdentage vorerst nicht „verliert" (vgl. V.30). auf „gebesserten W e g e n " (V.27)

auf „grundlosen W e g e n " (V.69) (abseits)

Im Tal Die Sperlinge, das rauhe Wild, die Reichen:

Der Menschen-„Verächter":



behaust





in Gemeinschaft



einsam



werden nicht



wird „verschlungen"

„verschlungen" (weil prokreativ) •

Auf dem Gipfel

(weil nicht prokreativ) •

nehmen ihre Bestimmung an



unbehaust

sträubt sich gegen seine Bestimmung



unglücklich

glücklich

Der Dichter: •

unbehaust



einsam



wird nicht verschlungen (weil kreativ)



nimmt seine Bestimmung an glücklich (?)

Abb. 5: Semantische Oppositionen und Äquivalenzen der in die Weg-Metaphorik einbezogenen Figuren (unvollständig)

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6. (Vorläufige) Bestimmung der zentralen Zustandsveränderung Begreift man den Menschen-,,Verächter" (V.39) und den „Dichter" (V.65) als eine personelle Einheit - wofür neben den diversen Äquivalenzmerkmalen auch die Tatsache spricht, dass in der neunten Strophe die Rede vom „einsamen" zunächst auf den „Verächter" referiert, sodann aber ganz unvermittelt zur Rede vom „Dichter" gerät - so repräsentieren die beiden Wanderer-Darstellungen den Anfangs- und Endzustand eines Prozesses, in dessen Verlauf sich ein Glückloser mit seinem Lebenslos (bzw. dem dafür verantwortlichen Gott) aussöhnt. Die angedeutete Brockenbesteigung wird bei solcher Betrachtung zu einem Symbol tur die Überwindung einer psychischen Krise - erscheint als ,pictura' für den Aufschwung bzw. die Heilung einer von „Unglück" (V.12) beschwerten Seele. Aus einem Tal der Melancholie aufsteigend (aus „Menschenhaß" [V.37], „Schmerzen" [V.35] und Selbstentwertung in „ungenügender Selbstsucht" [V.42]), erreicht der „Dichter" buchstäblich ,per aspera' eine gottähnliche Stellung „über der erstaunten Welt" (V.84).

7. Einordnung der Zustandsveränderung in eine übergeordnete Makrosequenz Im Zuge eines solchen Übergangs von den Signifikaten erster Ordnung auf die Ebene der Signifikate zweiter Ordnung verändert sich mit der Bedeutung des dargestellten Geschehens auch dessen sequentielle Struktur: Die angedeutete Besteigung des Brockens ist nur auf der ,pictura'-Ebene das Sequenz-Element einer ,Harzreise im Winter'. Sobald man die Bergtour als die bildliche Repräsentation eines Heilungspozesses entziffert, wird sie - auf der ,subscriptio'-Ebene - zum Element einer anderen Sequenz. Bereits in den Strophen VI und VII ist durch die Terme „Gift" (V.36), „Schmerzen" (V.35), „Balsam" (V.36), „Ach, wer heilet" (V.35) und „erquicke sein Herz" (V.46) das allgemeine Skript einer (vergiftungsbedingten) ,Erkrankung' aufgerufen worden, in das sich das Wandergeschehen nun (neben noch weiteren Signifikanten zweiter Ordnung) integrieren lässt:

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Erkrankung —· Verursachung: Trinken von „Balsam", der als „Gift" (V.36) wirkt: die „Fülle der Liebe" (V.38) / Verachtung —> Zusammenziehung des Herzens durch Unglück —· Symptome·. „Schmerzen" (V.35), „Menschenhaß" (V.37), ,Aufzehren" (vgl. V.40) des „eigenen Wertes" (V.40f.) in „ungenügender Selbstsucht" (V.42) —> Einsamkeit / Unbehaustheit ohne Prokreation —> Sträuben gegen die vorgezeichnete Lebensbahn —· Hilfeappell: (durch den Sprecher): „Vater der Liebe, [...] erquicke sein Herz!" (V.44, 46), „öffne den umwölkten Blick" (V.47), „den Einsamen hüll in deine Goldwolken" (V.60f.); „[0 Liebe], umgib mit Wintergrün die feuchten Haare f...] Deines Dichters" (V.62, 64) —· Maßnahmen des Helfers: „Liebe" (V.65) „leuchtet" (V.67) mit „dämmernder Fackel" (V.66) durch „Furten bei Nacht" (V.68); fuhrt über „grundlose Wege" (V.69); „trägt" (V.74) mit dem „beizenden Sturm" (V.73) empor; „lacht" (V.72) mit dem „tausendfarbigen Morgen" (V.71) „ins Herz" (V.72) * Wirkung: Erreichen des Gipfels; [Erlangung von künstlerischer Produktivität]; Aufgabe des Sträubens gegen die vorgezeichnete Lebensbahn (V. ΜΙ 6); Überwindung von „Selbstsucht" (V.42) und „Menschenhaß" (V.37); Klassenwechsel zu den „Glücklichen" (V.9) ^

Danksagung: Psalmengesang als „lieblichster Dank" (V.77) Abb. 6: Schema (Skript) und Verlauf der Sequenz ,Erkrankung'

Aufgrund seiner besonderen Integrationskraft - keines der in dem Gedicht sonst noch indizierten und / oder etablierten Schemata vermag eine ebenso große Menge an Propositionen aufzunehmen - darf das hier angeführte Skript als die Makro-Strukur des dargestellten Geschehens gelten. Sobald man einmal beginnt, aus Goethes Text eine Krankheits- und Heilungsgeschichte zu abstrahieren, lassen sich diesbezüglich relevante Informationen aus jeder einzelnen Strophe ableiten; nämlich - aus Strophe VI Informationen über die , Krankheitsursachen und -symptome', - aus den Strophen V und II (V.12-16) in Kontrast zu den Strophen III, IV und II (V.6-11) Informationen über die Auswirkungen der , Krank-

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heit' auf des ,Erkrankten' Leben und Zukunft (siehe oben die Ausführungen zur Klassifikation der Figuren), aus den Strophen VII und IX Informationen über die Hilfe-Appelle an einen offenbar heilungsmächtigen (,Arzt'-)Gott, aus den Strophen VIII, XI, XII und II Informationen über die (weiteren) Eigenschaften bzw. die Identität dieses Gottes, aus Strophe X Informationen über die Art seiner Teilmaßnahmen', aus den Strophen XI, XII und I Informationen über die therapeutische' Wirkung jener Maßnahmen - und somit über den Endzustand des ursprünglich ,Kranken'.

Vor allem in Bezug auf die letzten drei Punkte (die Identität des Gottes, die Art seiner Hilfe und deren Effekte) erfolgt die Informationsvergabe auf eine überaus implizite Weise, so dass hier das Maß der vom Leser zu erbringenden Erschließungsarbeit - wie sich gleich zeigen wird: aus inhaltlichen Gründen - besonders hoch ausfallt. 8. Identität des Gottes Jener „Vater der Liebe" (V.44), an den der extradiegetische Sprecher in VII appelliert, er möge den ,,[E]insamen" (V.60) von dessen „Schmerzen [heilen]" (V.35), ist in der bisherigen Rezeption des Textes zumeist als Vater der christlichen Nächstenliebe - als Gott der , α γ α π η ' (Agape) identifiziert worden. 9 Ausschlaggebend dafür dürften Diskursmarker wie 9

So beispielsweise von Friedrich (1991), S. 172, Weimar (1984), S. 26, und Wellbery (1984), S. 58. Wellbery unterstellt, dass der fiktive Sprecher des Gedichts in Strophe VII an einen Gott mit „entschieden judäo-christlichen Zügen" sich wende, sodann aber in Strophe VIII eine Bitte an den „[selbstverständlich" graeco-romanischen „Gott des Weines" richte (S. 58). Gesetzt einmal, dass diese Beschreibung zuträfe, müssten aus ihr zwei alternative Schlüsse gezogen werden: Entweder wäre nämlich der Sprechakt aus Strophe VIII als eine ereignishafte Regelverletzung zu identifizieren, insofern doch einer der Haupt-„Züge" des jüdisch-christlichen Gottes die Forderung ist, dass seine Anhänger neben ihm keine weiteren Götter haben sollen. Oder aber es wäre ausdrücklich zu unterstellen, dass lediglich der Sprecher in Strophe VII und VIII derselbe bleibt, die dargestellte Welt aber bzw. deren Grundordnung von Strophe zu Strophe sich unvermittelt ändert. Im einen wie dem anderen Falle ergäbe sich sogleich die Frage nach Ursache und Konsequenzen des jeweiligen Phänomens. Weiter zu untersuchen wäre entweder, warum und mit welcher Folge der Sprecher gegen das erste der zehn Gebote verstößt, oder andernfalls eben, wie es dazu kommt, dass aus dem jüdisch-christlichen Gotteshimmel, der die dargestellte Welt in der siebten Strophe noch überwölbt, in Strophe VIII wieder ein heidnisches Pantheon geworden ist. Da aber Wellbery keiner

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„Psalter" (V.43) oder „Psalmen" (V.76) gewesen sein, welche - in Konkurrenz allerdings zu den Anspielungen auf die griechisch-römische Mythologie (vgl. V.24f.: Fortunas Wagen, V.16: „Faden" u. V.17: „Schere" der Parzen) - an die Bibel und deren Hauptakteur denken lassen.10 Bei dieser Lesart ergibt sich jedoch die Schwierigkeit, dass Goethes Text Propositionen enthält, die mit den Objektschemata christlicher Gott' und ,Agape' nur schwer zu vereinen sind: (1) Die vom „Vater der Liebe" (V.44) gespendete Liebe kann „Balsam" sein, kann aber ebenso gut auch als „Gift" (V.36) wirken. Wer sie in „Fülle" zu „trinken" (V.38) bekommt, entwickelt weder „eine unbegrenzte Bereitwilligkeit zum Geben und zum Vergeben",11 noch erreicht er die „völlige Überwindung des Hasses und der Rache".12 Der reichliche Empfang dieser Liebe vermag vielmehr die gegenteilige Reaktion hervorzurufen. Er ist im Falle des Wanderers die Ursache von „Menschenhaß" (V.37) gewesen. (2) Dem göttlichen Adressaten wird angetragen, die „Brüder der Jagd" (V.53) (die das Jagdprivileg besitzenden adligen „Reichen" - V.22) mit Jugendlichem Übermut fröhlicher Mordsucht" (V.55) zu ,,segne[n]" (V.53). Der angesprochene Gott soll Eigenschaften fördern (Übermut, Mordsucht, ,,Rache"-Streben), die zu christlichen Werten wie Demut und Nächsten- bzw. gar Feindesliebe in Gegensatz stehen.13 (3) Während der jüdisch-christliche Gott keine weiteren Gottheiten neben sich duldet, hat der in Strophe XII als „Du" angeredete Gott

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dieser Fragen nachgeht, wirkt seine Deutung der Textstelle unbegründet bzw. willkürlich. Weimar (1984) spricht vom „Gebetston mit unüberhörbaren Anklängen an biblische Sprache" (S. 26), Friedrich (1991) entsprechend von einem „bibelsprachlichen Anklang" (S. 171). Religion in Geschichte und Gegenwart. 2. völlig neu bearb. Aufl., Bd. 3. Tübingen 1929; Stichwort,Liebe': Sp. 1638. Ebd. Beide Zitate führen aus, inwiefern „nach Jesu Gebot [...] die Liebe der Liebe Gottes entsprechen und also vollkommen sein [soll]". Sicher, der Sprecher führt an, dass die „Schwein[e]"-Jagd wohltätige Wirkung habe, insofern sie einen „Unbill" beende, gegen den sich „mit Knütteln der Bauer [schon Jahre vergeblich wehrt]" (Strophe VIII). Durch diesen Hinweis ist jedoch das Verhalten der Jagdbrüder nur vordergründig gerechtfertigt. Dass nämlich die Bauern den Wildschäden „schon Jahre" ausgesetzt waren, ohne sich dagegen anders als nur mit „Knütteln" wehren zu dürfen, sagt letztlich etwas über die Verantwortunglosigkeit eines Adels aus, der sich das Jagen als Privileg vorbehält, die Jagd dann aber nicht etwa planmäßig, sondern allein zur Befriedigung persönlicher Vorlieben - nur aus „fröhlicher Mordsucht" - betreibt.

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„Brüder" (V.87) um sich herum, so dass er - wie der griechische Zeus bzw. römische Jupiter - den Rang lediglich eines ,primus inter pares' einnimmt. Die Beschreibung der Liebe als eine Medizin, die bei übermäßiger Anwendung zu „Gift" (V.36) werde, greift eine aus der antiken Philosophie bekannte Vorstellung auf: Als in Piatons „Symposion" (186a-189a) der Arzt Eryximachos an der Reihe ist, sich über den Eros zu äußern, stellt er die Heilkunde neben der Musik als eine „Wissenschaft von den Liebestrieben" dar.14 „In der Musik sowohl als in der ärztlichen Kunst" 15 komme es darauf an, eine „weise Mischung" aus „himmlischem" und „gewöhnlichem" Eros zu erreichen, so erklärt der Redner. Da „Maßlosigkeit und Unordnung in diesen Liebestrieben" die Ursache von „Krankheiten bei Mensch und Tieren" seien,16 müsse ein tüchtiger Arzt sich darauf verstehen, „denen, die keinen Eros in sich haben, [...] ihn zu verschaffen, und denen, die ihn [zu viel, MS] in sich haben, ihn wegzunehmen". 17 Erst eine rechte Dosierung von „beiderlei Eros" ermögliche es nämlich dem Patienten, „die Begierden [...] gut zu verwenden, so daß man, ohne krank zu werden, die Lust erntet". 18 Werde dagegen der sinnliche Eros, „wo man ihn zufuhrt", nicht hinreichend „vorsichtig [zugeführt]", dann könne dieser so „manches [verderben]" und schweren „Schaden [anrichten]". 19 Vor diesem Wissenshintergrund liegt es nahe - zumal der „Hederich", das von Goethe gerne benutzte mythologische Lexikon, auch die in Strophe X genannte „Fackel" zu den Attributen des antiken Liebesgottes zählt20 - mit dem Signifikanten ,Liebe' eben nicht das Objektschema ,Agape' zu verbinden, sondern als Basis für weitere Inferenzen das kulturelle Wissen über den griechisch-römischen Eros anzusetzen. Somit könnte man dann als den „Vater der Liebe" (V.44) gleich eine ganze Reihe von Göttern in Betracht ziehen - bekanntlich werden dem Wesen Eros (Amor, Cupido) in den antiken Mythen vielerlei Eltern nachgesagt - und dürfte bei diesem Akteur nicht mehr länger einfach voraussetzen, dass er die Eigenschaften des gütigen Christengottes besitzt.

14

„Symposion", 186c, zitiert nach Piaton (1986), S. 125. Ebd., S.127. 16 Ebd. 17 Ebd., S.125. 18 Ebd., S.127. 19 Ebd. 20 Hederich (1967), Sp. 811 u. 812. 15

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9. Art der Heilmaßnahmen Betrachten wir nun genauer, welche therapeutischen Maßnahmen vom „Vater der Liebe" (V.44) erwartet werden, so lässt sich feststellen, dass der Erfolg, den diese Maßnahmen verheißen, jeweils als recht zweifelhaft erscheint: Der erste (explizite) Hilfe-Appell lautet, es möge der „Vater der Liebe" dem Patienten, „der sich Menschenhaß aus der Fülle der Liebe trank" (V.37f.), mit einem „Ton" (V.44) seines ,,Psalter[s]" (V.43) das Herz ,,erquicke[n]" (V.46). Dass hier Musik als Heilmittel fungieren soll, muss nicht weiter überraschen, insofern ja laut Piatons Eryximachos „auch die Musenkunst" - gleich der „Heilkunde" - „eine Wissenschaft von den Liebestrieben" 21 ist. Nicht anders als mit den medizinischen Pharmaka, so das in Strophe VII zu inferierende Musikkonzept, vermag ein Kundiger auch mit Tönen (beiderlei) „Liebe [einzuflößen]"; 22 wobei es jedoch einmal mehr wichtig ist - ,,[i]n der Musik sowohl als in der ärztlichen Kunst" 23 - , die bekömmliche Dosis „vorsichtig" 24 einzuhalten. Heißt es dagegen nun aber vom „Vater der Liebe" (V.44), er verschaffe an „Freuden" (V.51) jedem „ein überfließend Maß" (V.52), so darf wohl als fraglich gelten, ob seine Liebesapplikation für den „Verächter" (V.39) tatsächlich ein „Balsam" (V.36) wird sein können oder ob sie auf diesen nicht doch wieder - wie schon vorher die „Fülle der Liebe" (V.38) - als ein „Gift" (V.36) wirken muss, das weiteren „Menschenhaß" (V.37) schürt. Die beiden nächsten Hilfe-Appelle sodann - „Öffne den umwölkten Blick / Über die tausend Quellen / Neben dem Durstenden / In der Wüste" (V.47ff.), „[...] den einsamen hüll' / In deine Goldwolken!" (V.60f.) widersprechen einander, solange man den ersten davon als eine Aufforderung versteht, den „umwölkten Blick" mittels ,Entwölkung' zu „öffnen". In diesem Falle wäre nämlich unverständlich, warum wohl der ,,[E] insame" (V.60) gleich anschließend in „Goldwolken [gehüllt]" werden soll (V.61); hätte man ja dann doch zu unterstellen - wenn schon die Umwölkung in Strophe VIII sichtbehindernd war dass der soeben befreite Blick durch die gewünschte neue Wolkenhülle sofort wieder verschlossen würde. 21

„Symposion", zitiert nach Piaton (1986), S. 125f. Ebd., S. 126. 23 Ebd., S. 127. 2 4 Ebd. 22

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Um diesen Widerspruch auflösen zu können, muss man berücksichtigen, welche Information über die Gegebenheit,Wolken' zwei weitere Textstellen vermitteln. Wird in der ersten Strophe ein „Geier" (V.l) beschrieben, der „nach Beute schaut" (V.4), während (und obgleich) er sich über „schweren Morgenwolken" (V.2) befindet, und heißt es in Strophe XII dann ähnlich, das dort angeredete „Du" (V.82) schaue „aus Wolken" (V.85) auf die „Reiche und Herrlichkeiten" (V.86) der Erde, so findet sich sowohl zu Beginn als auch am Ende des Textes angedeutet, dass Wolkendecken in der hier dargestellten Welt einer bestimmten Art des Sehens - nämlich dem „Schauen" (vgl. V.85) - keineswegs abträglich sind, so dass man als Leser sich hüten muss, mit diesem Objekt allein dessen realistische Eigenschaften zu assoziieren. In zahlreichen Texten des Autors erscheinen Wolken, Dunst und Nebel als wandlungsfähige Projektionsfläche für „von der Einbildungskraft [...] vorgespiegelte Vision[en]". 25 Sie fungieren als ein ,,würdige[r] Boden" für die „Luftbilder" all derer, die im weitesten Sinne zum Kreise der „Imaginanten", „Phantomisten", „Phantasmatiker" oder „Nebulisten" gehören. 26 Diese Motiv-Verwendung reicht wiederum bis in die griechische Klassik zurück, wo ja bekanntermaßen schon die Wolken des Aristophanes einen jeden Menschen, welcher „Lust auf böse Werke hat", 27 mit vorgegaukelten Wunschbildern 28 so lange in „Wahn und Illusion" 29 wiegen, bis der Getäuschte schließlich - „Auf daß er [...] lern' die Götter fürchten" - „ins Unglück [...] gerät".30 Wenn man mit einem solchen Televisions-Charakter der Wolken auch in der „Harzreise" rechnet, so hat man sich jenen da „Durstenden" (V.49) nicht etwa inmitten von „Quellen" (V.48) vorzustellen, die wahrzunehmen ihn allein sein ,,umwölkte[r] Blick" (V.47) noch hindert, sondern tatsächlich als einen „Durstenden / In der Wüste" (V.49f.), den die erwünschte Wolkenhülle darüber hinwegtäuschen soll, auf welch „öden Gefilden" (V.70) seines Lebens Wege verlaufen. Des Sprechers Umwölkungs-Bitte würde demnach auf eine Illusionierung zielen, die einen grundlegenden Mangel, statt ihn zu beseitigen, lediglich verdeckt. Man könnte im doppelten Sinne von einer Schein25 26 27 28 29 30

Goethe (1987): Des Epimenides Erwachen, S. 216. Goethe (1988): Der Sammler und die Seinigen, S. 123f. Aristophanes (1963): Die Wolken, V.1459. Vgl. ebd., V.348ff. Ebd., V.819. Ebd., V.l460.

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befriedigung sprechen, insofern hier einem Ungenügen mittels schönen Scheins (eben nur) scheinbar abgeholfen wird. Voraussetzung fur diese Art Lösung ist eine zum Wahn gesteigerte Einbildungskraft, wie sie gemäß platonischer Überlieferung durch die mit dem ersten Appell verlangte - Erhöhung der Liebestriebe erreicht wird,31 zu der aber nach einer anderen Vorstellung auch die - als vierte Maßnahme geforderte - Bekränzung mit „Wintergrün" (V.62) etwas beitragen kann. Unter die als „Wintergrün" bezeichneten Pflanzenarten fallt laut Deutschem Wörterbuch u.a. der Efeu.32 Und dieser wiederum gilt seit der Antike als eine Poeten-Droge, wie man im 18. Jahrhundert etwa aus Zedlers Universal-Lexikon wissen konnte: Man hat auch vor Zeiten die Dicht=Meister, und Poeten mit Epheu gecrönet, damit hierdurch ihre Sinnen, die von vielem und scharffen Nachsinnen erhitzt, und fast in eine Raserey gerathen, mögen besänfftiget werden. Daß also nicht unglaublich ist, daß, wie etliche sagen, in dem Winter-Grün ein Geist sey, der die Raserey erwecket, die Sinnen betäubet, und ohne Wein truncken macht. Dahero der Epheu von Dioscor. Fons Poetica genennet wird. 33

Widersprüchlich wie diese Angaben zu seiner pharmazeutischen Wirkung - „besänfftiget" der Efeu die „Raserey" oder „erwecket" er sie?! sind auch die Aussagen über des „Winter-Grüns" sinnbildhafte Potenzen. Wegen ihrer immergrünen Beschaffenheit kann die Pflanze „als Zeichen für den Anspruch des Dichters auf ewigen Ruhm"34 stehen, wegen ihres zerstörerischen Schmarotzertums aber genauso auch ein Symbol der Zerstörungsgewalt und Vergänglichkeit sein: Im Hymnus „Der Wandrer", den Goethe zwei Jahre vor der „Harzreise" verfasste, wird der „Efeu" neben „Moos", „Disteln", ,,Brombeergesträuch[...]" und ,,hohe[m] Gras" (!) als eines der ,Werkzeuge' beschrieben, mit denen die ,,[r]eichhinstreuende Natur" alle Kunstwerke des Menschen - ihres „Meisterstücks Meisterstück[e]" - „[unempfindlich zertrümmer[t]".35 Die ,,umkleide[nde]"36 Pflanze ist dort Bestandteil eines Naturraums, der wie die „Öde" des winterlichen Harzes den (einsamen) Menschen mitsamt seinen Lebenszeugnissen - den Spuren - „verschlingt" (V.34). Von ihren Ranken „um31 32 33 34 35 36

Vgl. hierzu etwa in Piatons „Phaidros", 244a-245c. Vgl. Deutsches Wörterbuch, Bd. 14.2. Leipzig 1960, Sp. 443. Zedier (1961), Sp. 1361. Friedrich (1991), S. 176. Goethe (1985a): „Der Wandrer", S. 205, V.75f. Ebd.: „Der Wanderer", S. 204, V.61.

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g[eben]" (V.62) zu werden, wie es der „Harzreise"-Sprecher als einen Liebesdienst für den „Dichter" (V.65) erbittet, kann also einmal mehr auch zerstörerisch sein. Nur wenig vertrauenserweckend wirkt schließlich, was die personifizierte „Liebe" (V.65) des göttlichen Vaters in Strophe X dann tut. Über abgründige (V.69: „grundlose") Wege lenkt sie - lenkt der fackeltragende Eros (der als des „Chaos wunderlicher Sohn" in Goethes Faust unter dem Namen Mephistopheles auftritt) 37 - den „in der Wüste" (V.50) wandelnden Wanderer immer weiter durch „öde Gefilde" (V.70), ihn hinaufführend zu jenem „gefürchteten Gipfel" (V.78), der im kulturellen Wissen des 18. Jahrhunderts als Teufels- und Hexenplatz gilt (für „ahndende Völker" [V.81] von „Geisterreihen" [V.80] besucht ist).38 Diese Führung des Wanderers auf einen hohen Berg, von dessen Gipfel aus er sich die „Reiche und Herrlichkeit" (V.86) der „Welt" (V.84) beschauen kann, steht in intertextuellem Bezug zur biblischen Geschichte von Jesu Versuchung: Nachdem auch dort der Geführte erst in die Wüste geleitet und dann an Abgründe gebracht worden ist, nimmt ihn der Teufel „auf einen sehr hohen Berg und zeigte ihm alle Reiche der Welt und ihre Herrlichkeit" und spricht zu ihm: „Das alles will ich dir geben, wenn du niederfällst und mich anbetest." (Mt 4, 8f.) Die Homologie zwischen beiden Erzählungen ist augenfällig: Die „Liebe" (V.65) in Goethes Text Eros - verhält sich zum „Dichter" (V.65) wie der christliche Teufel zum Gottessohn. Im Gegensatz aber zu Jesus, der die geforderte Anbetung verweigert, macht sich der Brockenbesteiger „des [...] Gipfels [...] Scheitel" - Goethe als Tagebuchschreiber spricht vom „Teufels Altar" 39 - zu einem „Altar des lieblichsten Danks" (V.77). - Und wofür dankt er? 10. t h e r a p e u t i s c h e E f f e k t e ' Unter dem Einfluss des vom „Vater der Liebe" (V.44) herrührenden Eros - jener bewegenden Kraft, die nach platonisch-sokratischem Verständnis 37

38

39

Goethe (1986): Faust l S. 572, V.1384; Goethe (1997), S. 217, V.8027. Gemäß der Theogonie Hesiods (V. 120) ist Eros ein direkter Nachkomme des Chaos. Zur Personalunion von Eros und Mephistopheles vgl. Stein (2001). Dass sich der überirdische ,Reiseleiter' eines „beizenden Sturm[s]" bedient (V.73), um den Wanderer emporzuheben, gleicht seine Beziehung zu ihm - durch die erneute Aktualisierung des schon in Strophe I aufgerufenen Skripts ,Beizjagd' - dem Verhältnis von Jäger und Beute an. Eintrag vom 10.12.1777, zitiert nach Weimar (1984), S. 34.

Goethe: „Harzreise im Winter"

95

dazu antreibt, sich durch „Zeugung im Schönen" weitestmöglich „unsterblich" zu machen40 - ist aus dem Wanderer, der aufgrund seiner Einsamkeit verschlungen zu werden drohte, ein schöpferischer „Dichter" (V.65) geworden: jemand, der sich mit seinen Werken das Staunen der Welt - ein (vermeintlich) dauerhaftes Andenken - hat sichern können. Trotz dieser zentralen Zustandsveränderung wird man aber die dargestellte Geschichte - anders als der umwölkte Protagonist selbst - nicht einfach für eine ,Erfolgsstory' halten dürfen. Von einer erfolgreichen Seelen-Behandlung wäre (unter Voraussetzung der christlichen Liebesideologie) zu erwarten, dass sie den als „Verächter" (V.39) charakterisierten Patienten auch von seinem „Menschenhaß" (V.37) heilt. Aber genau zu dieser Veränderung kommt es in der Geschichte nicht. Die Lebens- und Menschenferne des dargestellten Subjekts ist auf dem winterlichen Brocken größer denn je: Äußert der „Dichter" (als Sprecher des Gedichts) den Wunsch, es möge sein Lied wie ein nach „Beute" (V.4) schauender „Geier" (V.l) in die Welt fliegen - auf „sanften" (V.3) Fittichen zwar, aber zur Beize doch so bereit wie in „fröhlicher Mordsucht" (V.56) die „Brüder der Jagd" (V.53) oder ein „beizende[r] Sturm" (V.73) - , so lässt dies auf seine Einstellung gegenüber den „Lied"-Empfängern schließen und berechtigt wohl kaum zu der Diagnose, dass sein durch erlittene Verachtung „[zusammengezogenes] Herz" (V.72) sich wieder erweitert habe. Sofern es sich bei dem therapierenden Arzt-Gott um den Vater der christlichen Agape handelte, müsste man diese Nicht-Heilung des Hasses als einen ereignishaften Fehlschlag des doch eigentlich unfehlbaren Christengottes ansehen. Erkennt man dagegen in der fackeltragenden Liebe „des Chaos wunderlichen Sohn" Eros und vergegenwärtigt sich dessen Charakterisierung im Faust,41 erscheint die unveränderte Men40 41

Vgl. in Piatons „Symposion", 206b-209b. Als „des Chaos [...] Sohn" - Eros - ist in Goethes Tragödie, wie schon gesagt, Mephistopheles mehrfach ausgewiesen, dem der „Herr" die Aufgabe zuweist, durch Reizen, Wirken und .teuflisches' Schaffen einer Erschlaffung' der menschlichen Tätigkeit vorzubeugen (Goethe [1986], S. 544, V.340ff.). Gleich Goethes Prometheus oder auch dem „Luzifer" im 8. Buch von „Dichtung und Wahrheit" besitzt und verkörpert Mephisto eine „Schöpfungskraft" (Goethe [1985b], S. 379), die ihn und seine , Klienten' zu begrenzter Produktivität befähigt. Mittels des ihm eigenen Elements, des Feuers, vermag er Kreaturen wie den Homunculus zu erschaffen: künstliche Halbwesen ohne Fleisch und Blut, denen es jeweils an wirklichem Leben gebricht. Was indes auf natürliche Weise (durch geschlechtliche Zeugung) entsteht, verachtet der Goethesche Teufel und versucht es „mit Wellen, Stürmen, Schütteln [und] Brand" zu „vernichten" (Goethe

96

Malte Stein

schenverachtung des Patienten durchaus konsequent. In diesem Falle würde das zentrale Ereignis der Geschichte darin bestehen, dass der dargestellte Dichter, um über die Vergänglichkeit triumphieren zu können, einen Bund mit dem ,Teufel' eingeht: er sich, wie später der Doktor Faust, einer misogynen „Kraft" 42 überlässt, die zwar zu künstlerisch-geistiger Produktivität verhilft, gegen die natürlich gezeugte „Tier- und Menschenbrut" aber die „kalte Teufelsfaust [...] ballt!" 43 Literatur Aristophanes 1963

Die Wolken. Übertragen von Otto Seel. Stuttgart.

Conrady, Karl Otto 1987

Goethe. Leben und Werk. Frankfurt a.M.

Dwars, Jens-F. 1998

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Friedrich, Hans-Edwin 1991 Der Enthusiast und die Materie. Von den „Leiden des jungen zur „Harzreise im Winter". Frankfurt a.M. u.a. Gabriel, Norbert 1992

Werthers"

bis

Studien zur Geschichte der deutschen Hymne. München.

Goethe, Johann Wolfgang 1985a Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchener Ausgabe, hg. von Karl Richter. Bd. 1.1. München. 1985b Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchener Ausgabe, hg. von Karl Richter. Bd. 16. München. 1986 Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchener Ausgabe, hg. von Karl Richter. Bd. 6.1. München.

42 43

[1986], S. 572, V.1360ff.). Entsprechend ist der von ihm repräsentierte Eros nicht einfach mit dem Geschlechtstrieb gleichzusetzen, sondern, wie schon der bei Piaton diskutierte Eros, als päderastisch und misogyn zu erkennen. In Goethes Faust-Welt werden grundsätzlich - nicht nur von Mephisto selbst und nicht nur während der Grablegungs-Szene - die „allerliebsten Jungen" (Goethe [1997], S. 341, V. 11763) und „schönen Kinder" (ebd., S. 341, V.l 1769) begehrt, wohingegen „Frauen-Schönheit" in ihr „nichts heißen [will]" (ebd., S. 197, V.7399) und weibliche Sexualität Ächtung und Tod nach sich zieht. Von daher steht auch der „so ziemlich eingeteufelt[e]" (Goethe [1986], S. 633, V.3372) „Wandrer" Faust (ebd., S. 651, V.3900) vor dem Problem, dass seine Erdentage eine „Spur" hinterlassen sollen (Goethe [1997], S. 335, V.l 1583), ihm eine Familiengründung aber - als die natürliche' Art der , Selbstverewigung' nicht möglich ist; vgl. dazu ausfuhrlicher Stein (2001), S. 206-215. Goethe (1986): Faust I. S. 571, V.1335. Ebd., S. 572, V.1369 u. 1381f.

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Goethe: „Harzreise im Winter"

1987 1988 1997

Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchener Ausgabe, hg. von Karl Richter. Bd. 9. München. Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchener Ausgabe, hg. von Karl Richter. Bd. 6.2. München. Sämtliche

Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchener Ausgabe, hg. von

Karl Richter. Bd. 18.1. München. Hederich, Benjamin 1967 Graendliches mythologisches Lexikon. [Leipzig / Gledisch 1770]. Neudruck. Darmstadt. Piaton 1986 Meisterdialoge. Eingeleitet von Olof Gigon. Übertragen von Rudolf Rufener. 2. Aufl. Zürich / München. Schönert, Jörg 1996 „Aber [...] wer ists?" Die Referenz der Aktoren in „Harzreise im Winter" als Deutungsproblem, in: Gerhard Sauder (Hg.): Goethe-Gedichte. Zweiundreißig Interpretationen. München, S. 90-99. Stein, Malte 2001 „Frauen-Schönheit will nichts heißen". Ansichten zum Eros als Bildungstrieb bei Winckelmann, Wilhelm von Humboldt und Goethe, in: Ortrud Gutjahr / Harro Segeberg (Hg.): Klassik und Anti-Klassik. Goethe und seine Epoche. Würzburg, S. 195-218. Weimar, Klaus 1984 Goethes „Harzreise im Winter". Zur Auslegung sprachlicher Bilder u. Rückblick und Ausblick, beides in: David E. Wellbery / Klaus Weimar (Hg.): Goethe. „Harzreise im Winter". Eine Deutungskontroverse. Paderborn, S. 15-44 u. 82-85. Wellbery, David E. 1984 Poetologischer Kommentar zur „Harzreise im Winter" u. Lernerfahrungen, beides in: David E. Wellbery / Klaus Weimar (Hg.): Goethe. „Harzreise im Winter". Eine Deutungskontroverse. Paderborn, S. 45-78 u. 79-81. Zedier, Johann Heinrich 1961

Grosses vollständiges Universal-Lexikon aller Wissenschaften Bd. 8. [Halle / Leipzig 1732-1754], Neudruck. Graz.

und

Künste.

PETER HÜHN

Friedrich Hölderlin: „Andenken" (i)

5

10

Der Nordost wehet, Der liebste unter den Winden Mir, weil er feurigen Geist Und gute Fahrt verheißet den Schiffern. Geh aber nun und grüße Die schöne Garonne, Und die Gärten von Bordeaux Dort, wo am scharfen Ufer Hingehet der Steg und in den Strom Tief fällt der Bach, darüber aber Hinschauet ein edel Paar Von Eichen und Silberpappeln;

(II)

15

20

Noch denket das mir wohl und wie Die breiten Gipfel neiget Der Ulmwald, über die Mühl', Im Hofe aber wächset ein Feigenbaum. An Feiertagen gehn Die braunen Frauen daselbst Auf seidnen Boden, Zur Märzenzeit, Wenn gleich ist Nacht und Tag, Und über langsamen Stegen, Von goldenen Träumen schwer, Einwiegende Lüfte ziehen.

(III) 25

30

35

Es reiche aber, Des dunkeln Lichtes voll, Mir einer den duftenden Becher, Damit ich ruhen möge; denn süß Wär' unter Schatten der Schlummer. Nicht ist es gut, Seellos von sterblichen Gedanken zu seyn. Doch gut Ist ein Gespräch und zu sagen Des Herzens Meinung, zu hören viel Von Tagen der Lieb', Und Thaten, welche geschehen.

Peter Hühn

100 (IV)

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Wo aber sind die Freunde? Bellarmin Mit dem Gefährten? Mancher Trägt Scheue, an die Quelle zu gehn; Es beginnet nemlich der Reichtum Im Meere. Sie, Wie Mahler, bringen zusammen Das Schöne der Erd' und verschmähn Den geflügelten Krieg nicht, und Zu wohnen einsam, jahrlang, unter Dem entlaubten Mast, wo nicht die Nacht durchglänzen Die Feiertage der Stadt, Und Saitenspiel und eingeborener Tanz nicht.

(V) 50

55

Nun aber sind zu Indiern Die Männer gegangen, Dort an der luftigen Spiz' An Traubenbergen, wo herab Die Dordogne kommt, Und zusammen mit der prächt'gen Garonne meerbreit Ausgehet der Strom. Es nehmet aber Und giebt Gedächtniß die See, Und die Lieb' auch heftet fleißig die Augen, Was bleibet aber, stiften die Dichter.

Friedrich Hölderlin: „Andenken", in: Friedrich Hölderlin: Sämtliche Werke. Bd. 2, hg. von Friedrich Beißner. Stuttgart 1951, S. 188f.

„Andenken", Hölderlins vermutlich letztes vollendetes Gedicht, entstanden 1803, Erstdruck 1808, ist ein außerordentlich komplexer, viel interpretierter und kontrovers gedeuteter Text, der bisher mit Bezug auf unterschiedliche Problemkomplexe und Fragestellungen erörtert worden ist - beispielsweise unter (kunst-)philosophischen oder metaphysischen Perspektiven verschiedener Art (Heidegger [1981], Henrich [1986], Homann [1986], Gethmann-Siefert [1987], Henrich [1990]), unter geographischbiographischen Aspekten (Henrich [1986], Lefebvre [1989]), im zeitgenössischen politischen Kontext (Gaier [1989]), als Rekonstitution des Mythos (Böschenstein [1984]) oder im poetologischen Rahmen (Hamlin [1987], Valk [2003], Martel [2004]). Diese thematischen Aspekte sind vielfach von sehr großer Abstraktheit und Allgemeinheit, und entsprechend herrscht eine Neigung vor, das Gedicht als poetologischen oder philosophischen Entwurf zu lesen. Die folgenden Ausführungen konzen-

Hölderlin: „Andenken"

101

frieren sich demgegenüber (aber mit Anschließbarkeit an einige bisherige Interpretationsansätze, wie etwa den von Martel [2004]) gemäß dem narratologischen Analysekonzept auf das Gedicht als Reflexionsprozess (und der schließlich damit verbundenen Reflexion von Dichtung) im Rahmen der Imaginations- und Erinnerungsthematik, die bereits mit der Überschrift „Andenken" angesprochen wird. Auf eine ausführliche Auseinandersetzung mit anderen (insbesondere primär philosophisch-metaphysischen) Deutungsansätzen wird verzichtet.

1. Zwei gegenläufige Sequenzen als Grundstruktur Der Gesamtaufbau des Gedichtes ist durch das Prinzip von einander gegenläufigen Strukturen bestimmt. In formaler Hinsicht ist der Text in fünf (reimlose, rhythmisch variable) Strophen gegliedert, von denen die ersten vier jeweils 12 Verse umfassen, abweichend dazu die fünfte Strophe nur 11 Verse. Aber in der Thematik und der Perspektivierung der Rede ist eine (nahezu symmetrische) Zweiteilung zu beobachten. In den ersten 29 Versen sind die Aussagen persönlich formuliert, die beschriebenen Vorgänge pronominal auf den Sprecher bezogen („mir", „ich") und im Indikativ-Präsens oder Imperativ, ohne Fragen oder Verneinungen abgefasst, das heißt die Vorgänge werden als sich unter Beteiligung des Sprechers vollziehend oder zu vollziehen gedacht. Die folgenden 29 Verse (V.3058) präsentieren dagegen allgemein formulierte gnomische Sätze in Verbindung mit Aussagen über andere Personen ohne jeden pronominalen Bezug auf den Sprecher, mit Fragen, Verneinungen und auch im Präteritum, das heißt die beschriebenen Sachverhalte werden aus kognitiver Distanz und ohne Verbindung zum Sprecher thematisiert und reflektiert. Während also die erste Hälfte des Gedichtes die Welt stets auf das Ich bezieht, erscheint diese in der zweiten losgelöst und unabhängig von ihm. Der Vers 59 in der letzten elf- statt zwölfzeiligen Strophe (in der also eigentlich ein Vers ,fehlt') ist paradoxerweise bei der Zweiteilung (in zweimal 29 Zeilen) numerisch überzählig (als die 30. Zeile), und diese Zeile ist auch als explizite Aussage über Dichtung thematisch im gesamten Gedicht, nicht nur in seiner zweiten Hälfte (V.30ff.), isoliert und wird auf diese Weise besonders herausgehoben (s.u.). Die beiden Teile des Gedichtes (V.l-29 u. 30-58) - unter Absehung von der Schlusszeile - lassen sich aufgrund der Aussageformen, die ihnen jeweils eine tendenziell einheitliche, aber einander kontrastierende Wahrnehmungsweise und Sprechhaltung verleihen, in zwei mentale Sequenzen

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Peter Hühn

gliedern. Sie lassen sich als zwei Abfolgen von je unterschiedlichen Bewusstseinszuständen, Wahrnehmungen von Sachverhalten und Artikulation von Lebenseinstellungen (als Geschehenselemente) rekonstruieren. 1 Die stellenweise inkohärent wirkende Aufeinanderfolge dieser Bewusstseinszustände kann durch die Beschreibung von Isotopien in ihren semantischen Zusammenhängen und Bewegungsrichtungen deutlich gemacht werden. Es handelt sich, kurz zusammengefasst, um zwei gegenläufige imaginative Bewegungen in der Konstellation von Ich und Welt, die Bewegung nach Innen und die nach Außen, wie im Folgenden im Einzelnen nachgezeichnet werden soll.

2. Die erste Sequenz: Rückzug auf das Ich Die erste Sequenz bietet eine Reihe von Bildern aus der Hafenstadt Bordeaux und ihrer Umgebung, die offenbar Erinnerungen repräsentieren. Mit ihrer Hilfe versetzt sich der Sprecher aus der Ferne - aus dem nordöstlich hiervon gelegenen Deutschland, wie die Windrichtung (vgl. V.l) sowie die Biographie des Autors nahelegen - an diesen Ort (V.8: „dort") imaginativ wieder zurück (V.13: „noch denket das mir wohl"). Diese gedankliche (Rück-)Versetzung wird über die Wahrnehmung des Nordostwindes inszeniert (V.llf.: „Der Nordost wehet / [...] / Geh aber nun und grüße / [...]");2 sie löst einen imaginativen (Wieder-) Vergegenwärtigungsprozess aus, wie die durchgängige Verwendung des Präsens betont. Dementsprechend ist der (thematische) Frame dieser Sequenz zunächst als - sehnsuchtsvolle - persönliche Erinnerung zu bestimmen, allgemeiner dann als Lebenseinstellung in der Relation von Ich und Welt. Der persönliche Bezug auf den Sprecher wird durch die wiederholte Verwendung des Pronomens der 1. Person (V.3 u. 13 sowie V.27f.) nachdrücklich und durchgängig herausgestellt. Dieser erinnernde (Rück-)Versetzungs- und 1

Zur Doppelperspektive vgl. Martel (2004). Sein Ansatz, die Analyse in einen (wie er es nennt) ,poesiologischen' Rahmen zu stellen, scheint mir die Signifikanz der plötzlichen Schlusswendung zum Dichter-Thema abzuschwächen und der Prozessstruktur des Gedichtes nicht gerecht zu werden. Die von Valk (2003) postulierte Grundopposition von Liebe und Tat, die in der Dichtung aufgehoben werde und dort ihre Dauer erhalte, basiert auf einer forcierten Zuschreibung von Erotik für den Bedeutungszusammenhang der ersten Strophen. Sie ignoriert zudem die Unterschiede im Rededuktus und in der Position des Ich und seiner Involviertheit in den thematisierten Sachverhalten.

2

Wie Jamme (1988) vorschlägt, kann man in der Anrufung des Windes eine Anspielung auf das Konzept der Inspiration erblicken - eine Anspielung, so lässt sich hinzufugen, die den imaginativen Charakter der folgenden Bilder unterstreicht (S. 648).

Hölderlin: „Andenken"

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Imaginationsprozess unterliegt einem spezifischen Ablauf und einer Tendenz zur Veränderung, die sich isotopisch vor allem in den räumlichen und visuellen Komponenten der vermittelten Bilder, also in den Semen der dafür verwendeten Wörter manifestiert, nämlich als Bewegung von oben nach unten sowie als Verschiebung von Dynamik und Aktivität zu Langsamkeit, Ruhe und harmonischer Balance. 3 Besonders klar tritt eine derartige Entwicklungstendenz in Erscheinung beim Umschlag von dem (mit dem Nordostwind assoziierten) „feurigen Geist" und der „gute[n] Fahrt" (V.3f.) am Anfang zu den von „goldenen Träumen schwere[n]" „über langsamen Stegen" ziehenden ,,einwiegende[n] Lüfte[n]" (V.22-24) sowie zu dem am Schluss dieser Sequenz ausgesprochenen Verlangen nach Herbeiführung von Ruhe und süßem „Schlummer" mit Hilfe von Weingenuss (vgl. V.25-29). Dieselbe Bewegung drückt sich subtiler aus im Fallen des Bachs nach unten in den Strom (V.9f.) verbunden mit dem ruhigen ,Darüber-Hinschauen' der Bäume, augenscheinlich ebenfalls nach unten („darüber [...] hinschauet ein edel Paar / [...]" - V.10-12), sowie im Neigen des Ulmenwaldes „über die Mühl" (V.14f.). In anderer Weise setzt sich diese Tendenz fort in den Implikationen von feiertäglicher Geruhsamkeit (V.17: „an Feiertagen"), von Gedämpftheit (V.19: „auf seidenen Boden") und Ausgleich der Gegensätze im Frühlingsäquinoktium („wenn gleich ist Nacht und Tag" - V.21), aber auch im Betonen wachsender Dunkelheit als visuellem Äquivalent von Ruhe und Abschirmung (V.27: „des dunklen Lichtes voll", V.29: „Schatten"). Die sich hier vollziehende Bewegung stellt einen imaginierten Rückzug aus Weite, Geschäftigkeit und Aktivität zu Ruhe, Abgeschlossensein, Schlaf und Vergessen dar als Wandel in der psychischen Einstellung und als mentalen Veränderungsprozess beim Sprecher. Dass eine Veränderung eintritt, zeigt sich besonders prägnant in der Differenz bei gleichbleibender Subjektbezogenheit zwischen Anfang und Ende der Sequenz, nämlich zwischen einerseits den persönlichen Assoziationen von Wind und Dynamik (V.2-4: „Der liebste unten den Winden / Mir, weil er feurigen Geist / Und gute Fahrt verheißet [...]") und den Aufforderungen zum Aufbruch in die Weite (V.5: „Geh aber nun und grüße / [...]") und andererseits der abschließenden Äußerung des Wunsches nach Ruhe (V.25ff.: „Es reiche aber / [ . . . ] / Damit ich ruhen möge"), dessen Intensität durch die unmittelbare Koppelung von „ich" als Subjekt und dem Verb „ruhen", der einzigen Verwendung des Personalpronomens der 3

Vgl. Martel (2004), S. 387ff.

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Peter Hühn

1. Person im Nominativ, eine besondere Emphase erhält. In dieser Verschiebung vom Wahrnehmen der Umwelt hin zur Wunschvorstellung für den künftigen Zustand des Sprechers ist die rudimentäre Form eines Skripts zu sehen, das in der Literatur um 1800 vielfach ausgearbeitet wurde (,Weg nach innen'). Die erste Sequenz setzt somit ein mit dem imaginativen Gang in die Ferne, nach Außen, um dann das Dämpfen und Auslöschen dieser Bilder und den Rückzug, die Regression ins Ich zu vollziehen und zum Abschluss zu bringen. Die Kohärenz dieser Sequenz wird durch interne - mit der Adversativpartikel „aber" markierte - Steigerungsschritte gegliedert und in ihrer Bewegungsrichtung akzentuiert. Mit „aber" wird jeweils (insgesamt viermal) eine vorher beschriebene Tendenz mit einem anderen, gesteigerten Bild kontrastiert und graduell übertroffen - in Richtung auf größere Ruhe und stärkere Abgeschlossenheit. Dieser Kontrast nimmt folgende Formen der Verschiebung an: in Vers 5 von der dynamischen Ausfahrt über das weite Meer zu dem imaginativen Gang zu Fluss und Stadt mit (begrenzendem) Ufer und (umfriedeten) Gärten, in Vers 10 vom heftigen Fall des Baches zum stillen Schauen der Bäume, in Vers 16 von der Neigebewegung einer Vielzahl von Bäumen zum unmerklich-ruhigen fruchttragenden Wachstum eines Einzelbaums 4 und von der (implizierten) Arbeitsaktivität einer Mühle zum (abgeschirmten, geschützten) Bezirk eines Hofes und in Vers 25 von diesen impliziten Bildern der Ruhe und Dämpfung zu der expliziten Artikulation der Sehnsucht nach Schlaf und Auslöschung. Die narrative Qualität dieser ersten Sequenz liegt somit nicht auf der Ebene des Geschehens, sondern in der Verknüpfung der subjektbezogenen Wahrnehmung der Außenwelt und der Wunschvorstellungen zum Zustand des Sprechers. Dadurch entsteht der Eindruck einer Bewusstseinsveränderung im Sprecher: die regressive Veränderung wird quasidramatisch inszeniert und in der Aneinanderreihung sich qualitativ wandelnder Erinnerungsbilder und Wunschvorstellungen vollzogen.

4

Die Bedeutung des Feigenbaums ist in diesem Sinne weiter spezifizierbar, wenn man hier eine Anspielung auf seine Symbolfunktion im Alten Testament fur das erfüllte glückselige Leben im Reich Gottes sieht (1 Kön 4, 5; Mi 4, 4; Sach 3, 10; Joel 2, 21 f.) - übrigens stets in Verbindung mit dem Weinstock, siehe Martel (2004), S. 388. Darüber hinaus scheint der Feigenbaum für Hölderlin mit Dionysos assoziiert zu sein - vgl. Gaier (1989), S. 180f. - und antizipiert somit den diese Sequenz abschließenden Verweis auf den Becher Wein (vgl. V.27).

Hölderlin: „Andenken"

105

3. Die zweite Sequenz: A u f b r u c h in die Welt Mit einer abrupten Abkehr von der Tendenz zum Rückzug und zur Konzentration auf das eigene Ich und zu dessen schließlicher Auslöschung als Ergebnis dieser ersten Sequenz wird dann innerhalb der dritten Strophe (also konträr zum formalen Aufbau) unvermittelt eine genau gleichlange zweite Sequenz (V.30-58) eingeführt, die eine gegenläufige Bewegung hin zu Progress, Aufbruch in die Weite, Öffnung nach Außen und Wachheit umfasst. Der Gegensatz der beiden Sequenzen wird durch verschiedene direkte Bezugnahmen und durch Umkehrung der wieder aufgegriffenen Motive zusätzlich betont. Endet die erste Sequenz im Verlangen nach Auslöschung des Bewusstseins im Schlaf, so setzt die zweite ein mit der ausdrücklichen Abwertung des Wunsches nach Rückzug aus ,der Welt' und der menschlichen Gemeinschaft auf das eigene Ich, „seellos von sterblichen / Gedanken zu seyn" (V.31f.), 5 und fahrt mit der positiven Bestimmung der Alternative fort: „Doch gut / Ist ein Gespräch und zu sagen / Des Herzens Meinung, zu hören viel / Von Tagen der Lieb, / Und Thaten, welche geschehen" (V.32-36). Die Richtung kehrt sich um: Ausdruck und Austausch (statt Regression und Vergessen), Wahrnehmung der Welt in der Vielheit ihres Geschehens. Die Gegensätzlichkeit der beiden Sequenzen zeigt sich vornehmlich in dem Kontrast zwischen der Ichbezogenheit (dem Rückzug auf das Ich) in der ersten Sequenz und dem Absehen vom Ich in der zweiten, zwischen Regress und Progress, zwischen Individualität und Isolation auf der einen Seite und Gemeinschaftlichkeit und Kommunikation auf der anderen: 6 Die Perspektive richtet sich jetzt auf die Welt außerhalb der Selbstwahrnehmung des Ich. Zugleich impliziert dieser Kontrast auch, dass der Sprecher mit der ersten Sequenz sich selbst identifiziert, die zweite jedoch prononciert mit anderen Personen verbindet - als Beispiele werden „die

5

6

Diese Wendung ist sehr unterschiedlich und tiefsinnig gedeutet worden; vgl. z.B. den Überblick bei Jamme (1988), S. 650; siehe auch Reuß (1990), S. 240ff. Aber durch die direkt antithetische Position zu dem unmittelbar zuvor formulierten Ziel der ersten Sequenz, dem Verlangen nach Vergessen, wird primär die Bedeutung der Bewusst- und Fühllosigkeit, der Auslöschung von Erinnerungen und Gedanken an das Vergängliche (das „Sterbliche") nahegelegt. Der Ausdruck „seellos" charakterisiert ein solches Verlangen sogleich als negativ. In dieser Abwertung schwingt die schwäbische Bedeutung des Wortes (im Sinne von „ruchlos") mit, auf die Binder (1986), hinweist (S. 16). Vgl. grundsätzlich Martel (2004), der allerdings den Analogien beider Einstellungen gegenüber den Differenzen zu viel Gewicht gibt (S. 386ff.).

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Freunde", 7 „Bellarmin mit dem Gefährten" (V.37f.) 8 genannt, auf die anschließend offenbar mit „sie" (V.41) Bezug genommen wird und die später mit den ,,Männer[n]" (V.50) assoziiert werden. Während das Ich in der ersten Sequenz anwesend ist und das Geschehen ausschließlich auf sich bezieht, sind die Bezugspersonen der zweiten Sequenz bezeichnenderweise abwesend, das heißt vom Sprecher entfernt - sie sind in die Welt (vgl. V.41 ff.), zum Beispiel nach Indien (vgl. V.49ff.), gegangen, und zwar schon in der Vergangenheit, so dass die Distanz zum Sprecher (und zu seiner Haltung in der ersten Sequenz) sich sowohl auf der räumlichen als auch zeitlichen Ebene manifestiert. Die Bewegung nach außen wird in der vierten und fünften Strophe durch Wiederaufnahme des Meeres-Motivs aus der ersten Sequenz weiter profiliert. Löst sich der Sprecher in der ersten Sequenz schließlich vom Nordostwind ab, der sich vom Festland zum Meer hin bewegt, und hält in Bordeaux und an der Garonne inne, so geht die Bewegung der zweiten Sequenz nun explizit und entschieden in die Weite über die (Land-) „Spitze" (V.51) hinaus, bei der sich Garonne und Dordogne zur meerbreiten Gironde vereinigen und in den Ozean münden. Das prononciert wiederholte Ortsadverb „dort" im Zusammenhang mit Bordeaux macht diesen Gegensatz der räumlichen Orientierung (Innehalten vs. Aufbruch) besonders sinnfällig (V.8 vs. V.51). Während die Bewegung der ersten Sequenz durch Konzentration, Reduktion, Kontraktion und Rückzug charakterisiert ist, verläuft die Linie in der zweiten nicht zurück an die Quelle (diese scheint vielmehr mit den Erfahrungen von Kontraktion und Konzentration verbunden zu sein),9 sondern entgegengesetzt auf das Meer hinaus, in das die Flüsse münden: Gerade das Meer ist mit Reichtum und Vielfalt (V.40f.) assoziiert (und nicht die Quelle), daher „die Scheue" 7

8

9

Mit den Freunden mögen die des Sprechers gemeint sein, aber der Bezug auf ihn wird gerade gekappt - durch das fehlende Possessivpronomen und durch ihre Entfernung. Dies ist eine deutliche Anspielung auf Hölderlins Roman Hyperion oder der Eremit in Griechenland (1797/99). Mit diesem Bezug sowie mit der Nennung Indiens als dem Reiseziel der Männer erhält der Gang nach Außen und in die Welt eine implizit politische Dimension, im Sinne des Freiheitskampfes (zu den politischen Anspielungen im Zusammenhang mit Indien siehe unten S. 107); vgl. dazu Gaier (1989), S. 188ff. Auch dieser Begriff ist sehr unterschiedlich interpretiert worden; z.B. sieht Reuß (1990) keinen Gegensatz zwischen Quelle und Meer, sondern eine paradoxale Einheit (S. 264ff.). Die Syntax signalisiert jedoch einen Kontrast zweier Verhaltensweisen (,an die Quelle zu gehen' vs. ,auf das Meer hinauszufahren') und nennt die Begründung für die Bevorzugung der zweiten Alternative (Reichtum, sinnliche Fülle ist allererst im Meer zu finden); vgl. hierzu Henrich (1986), S. lOOff.; auch Gaier (1989), S. 180f.

Hölderlin: „Andenken"

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(V.39), die mangelnde Bereitschaft, an die Quelle10 (zurück) zu gehen. Dieser Reichtum, der durch ,Aktion' zu erlangen ist, wird im Folgenden (V.41ff.) beispielhaft konkretisiert - als Schönheit der Erde und als „geflügelter" (also dynamischer, belebender) Krieg (V.44). Das aktive Leben ist aber auch mit Entbehrungen und Gefahren verbunden. Diese Ambivalenz wird beispielhaft im Verweis auf die „Indier" (V.49) angesprochen: Zum einen galt Indien (damit wäre gleichermaßen Ost- wie Westindien gemeint) allgemein als legendäres Land reicher Schätze, zum anderen lässt sich in Indien (als Westindien) eine spezielle Anspielung auf Amerika und seinen Freiheitskampf sehen (zu dessen Unterstützung der Marquis de Lafayette 1776 von Bordeaux aus nach Südwesten, also in der Richtung des Nordostwindes, aufgebrochen war).11 Die mit der Öffnung in die Welt verbundene Aktivität wird dann - wiederum im kontrastierenden Rückgriff auf ein Motiv der ersten Sequenz, nämlich die „Feiertage der Stadt" (V.47 vs. V.17) - eigens hervorgehoben: Für diese Lebensorientierung gibt es keine Feiertage als Zeit der festlichen Muße und des Ausruhens vom Handeln. Einen Kontrast zur Reife und ruhigen Erfüllung markiert auch der „entlaubte Mast" (V.46) - im Gegensatz zu den blättertragenden Bäumen der ersten Sequenz. Die Seefahrer werden zudem mit Malern verglichen (vgl. V.42), wobei als ,tertium comparationis' das Sammeln, Einbringen und Festhalten der konkreten Schönheiten der Welt benannt und die Sinnlichkeit solcher Erfahrungen unterstrichen wird (vgl. V.42ff). Gerade mit Bezug auf die Motivik der Seefahrt trägt diese Lebenseinstellung Züge des Heroischen, im Gegensatz zur Idyllik, die den in der ersten Sequenz beschriebenen Schauplatz charakterisiert. Die die Sequenz abschließende erste gnomische Aussage (V.56-58) vor dem letzten Vers! - stellt eine Art generalisierender Zusammenfassung über das der zweiten Sequenz zugrundeliegende Prinzip dar. Zum Einen wird auf die See, die Welt außerhalb des Ich, in ihrer umfassenden Ambivalenz des Gebens und Nehmens, also in ihrer riskanten, nicht kontrollierbaren Eigendynamik, verwiesen, und zwar mit Bezug auf das Kollektive' Gedächtnis, das gedankliche Festhalten, das nicht in der 10

11

Der Gang zur Quelle und die Fahrt aufs Meer sind offenbar als gegensätzliche Lebenseinstellungen etwa im Sinne von ,vita contemplative' und ,vita actica' zu verstehen. Aber die Quelle dient hier vor allem als Kontrastbegriff zum Meer und nicht der Charakterisierung der Lebensform des Sprechers - denn dessen Regress und Wunsch nach Auslöschung ist keineswegs die Entscheidung fur die Kontemplation. Vgl. Gaier (1989), S. 178f. u. 189ff. In dem Verweis auf die Indier werden Assoziationen von Kolumbus und Lafayette, von Reichtum und Freiheit miteinander verknüpft.

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Peter Hühn

Macht des Einzelnen liegt - im Gegensatz zur ersten Sequenz, wo der Sprecher durch Imperative und konstative Aussagen die Erinnerung zu steuern vermochte. Einen eklatanten Kontrast zur ersten Sequenz stellt ebenfalls die folgende Wendung her: „die Lieb auch heftet fleißig die Augen" (V.58). Im Gegensatz zum ersehnten Schlummer (vgl. V.29), bei dem die Augen naturgemäß geschlossen sind, wird jetzt die intensive („fleißig[e]") Wachheit und Aufmerksamkeit der Sinne auf das Andere, auf die außerhalb des Bewußtseins existente Welt, hervorgehoben. Die „Lieb'" öffnet das Ich für das Andere, setzt ,Ich' und ,Welt' miteinander in Beziehung. 12 In zwei Passagen auch dieser zweiten Sequenz markiert die Adversativpartikel „aber" wiederum den Steigerungsprozess innerhalb des Ablaufs an besonders signifikanten Stellen und verdeutlicht so die Kohärenz. In Vers 49 wird die Frage nach dem Verbleib der Freunde (V.37ff.) beantwortet: Wie der Strom sich in die Wasserfülle des Meeres ergießt, so sind die Freunde hinaus ,in die Welt' aufgebrochen. In Vers 56 wird aus den vorausgegangenen konkreten Beispielen der Bewegung nach Außen das abstrakte Fazit gezogen: Für das Erinnern, das Bewahren von Andenken' an die aktive Existenz in der Welt, lässt sich keine sichere Prognose stellen. Allgemeiner Frame der zweiten Sequenz ist - ähnlich wie bei der ersten - das Thema der Lebenseinstellung hinsichtlich des Verhältnisses von Ich und Welt, und als abstraktes Verlaufsmuster, als rudimentäres Skript läßt sich hier der Prozess der Öffnung gegenüber der Welt, des Sammeins von Erfahrungen jenseits des eigenen Ich benennen, jedoch verbunden mit dem Verlangen nach Festhalten und Bewahren. In dieser Lebenseinstellung begibt sich das Ich in die Welt, um sie sich anzueignen und so seine Existenz zu erweitern. Das dafür notwendige bewahrende „Gedächtniß", das Dauer verleihende ,Andenken', ist jedoch ein prekärer Vorgang, weil es nicht der Kontrolle des Einzelnen unterliegt, sondern dem Willen und der Macht der „See", der sich entziehenden oder darbietenden Welt, dem Leben. Der narrative Status der zweiten Sequenz ist anders angelegt als der der ersten. Vollzieht sich dort die narrative Veränderung auf der Darbietungsebene, also in der Bewusstseinsdimension, als ein Einstellungswandel des Sprechers, so hier auf der Geschehensebene als ein Handeln anderer Figuren, der Freunde des Sprechers. Während ferner die erste Se12

Hierin zeigt sich eine Ähnlichkeit mit den vorher genannten Malern als ,Augenmenschen'.

Hölderlin: „Andenken"

109

quenz den narrativen Prozess weitgehend kontinuierlich in den imaginierten Bildern präsentiert, koppelt die zweite nicht-narrative, gnomische Passagen (V.30-32, 38-41 u. 56-58) mit kurzen, komprimierenden narrativen Abschnitten (dem gesprächsweisen Austausch von Meinungen und Erfahrungen in den Versen 33 bis 36, der Aktivität der Seefahrer und Maler im Sammeln von Erfahrungen und Bildern in der Welt in den Versen 41 bis 48, dem Aufbruch der „Männer" zur Reise von Bordeaux nach Indien in den Versen 49 bis 56).

4. Die Schlusszeile: ereignishafter Umbruch in die Dichtungsthematik Das Verhältnis von Ich und Welt ist somit als genereller Frame beiden Sequenzen gemeinsam, aber für das Gestalten dieser Relation werden polar gegensätzliche Skripts gewählt: im (narrativen) Ausarbeiten des IchBezugs bzw. des Welt-Bezugs, in der Sehnsucht nach Abschließung gegenüber dem Verlangen nach Öffnung, in der Konzentration auf sich selbst gegenüber der Kommunikation und Kooperation in der Gemeinschaft, im Streben nach Ruhe und Auslöschen des Bewusstseins gegenüber dem Streben nach Aktivität und Erfahrungserweiterung. Beide Sequenzen sind zusätzlich in einen übergreifenden Frame eingefügt: Sie verbindet das Thema der Erinnerung - genauer des Bewahrens im Gedächtnis. Diese Konstellation wird zum Einen mit dem Titel „Andenken" aufgerufen, zum Andern ist sie gleichermaßen in den beiden Sequenzen thematisiert. Während die erste Sequenz die Erinnerung (als bewusst geschaffene Imagination im performativen Sprechakt) inszeniert, das heißt in ihrer Entstehung und in ihrem Ablauf konkret vorführt, spricht die zweite Sequenz von Erinnerung begrifflich abstrakt und zusammenfassend: „zu hören viel / Von Tagen der Lieb, / Und Thaten, welche geschehen" (V.34-36), „Sie [die Freunde / Schiffer] / Wie Mahler, bringen zusammen / Das Schöne der Erd' [...]" (V.41ff.) und das „Gedächtniß", das die See nimmt und gibt (V.56f.). Gemeinsam ist beiden Sequenzen in dieser Hinsicht, dass die Erinnerung nicht dauerhaft bewahrt werden kann. Während die erste Sequenz am Ende mit der Bewusstseinsaufgabe (im Schlaf) auch das Erinnerte auslöscht (vgl. V.28f.), endet die zweite Sequenz mit der Aussage, dass die See das Gedächtnis sowohl gebe als auch nehme (vgl. V.56-58). ,Nehmen' erscheint hier zwar weniger definitiv als der Regress, der in der ersten Sequenz gewünscht wird (zumal das

110

Peter Hühn

Geben und nicht das Nehmen die zweigliedrige Wendung abschließt), aber dennoch ist das Unsichere der erinnernden Bewahrung betont. Hiergegen wird nun unvermutet in der Schlusszeile des Gedichts das Vertrauen in das bleibende Bewahren von Erfahrungen des Lebens durch die Dichter gestellt: „Was bleibet aber, stiften die Dichter" (V.59). Diese Behauptung ist wie die gnomische Rede in Vers 56 durch die Adversativpartikel „aber" abgesetzt, jedoch nicht im Sinne der Steigerung wie zuvor, sondern des klaren Gegensatzes. Sie bildet den Kontrapunkt zu den Tendenzen in beiden Sequenzen, indem sie die bewusstseinsmäßige Entwicklungslinie der ersten Sequenz (das Auflösen von Erinnerung) und die sich an Aktionen anschließende Ungewissheit für das Erinnern der „Thaten" (V.36) auf der übergeordneten Ebene negiert - im Verweis auf die Erinnerungskompetenz „der Dichter". Indem hierin ein Bruch der in beiden Sequenzen am Schluss aufgerufenen Erwartung liegt, handelt es sich um ein Ereignis. Schärfer formuliert: Da beide Sequenzen abgeschlossen schienen und so keine Fortsetzung zu erwarten war, wirkt die Replik der antithetischen Schlusszeile umso überraschender. Das „Stiften" von Dauer durch Dichtung (oder genauer: die Behauptung eines derartigen Vermögens) ist ereignishaft als überraschende Erweiterung' (,Fortsetzung') der beiden gegenläufigen, aber in den Aussagen zum möglichen Verlust von Andenken' übereinstimmenden Sequenzen. Der Grad der Ereignishaftigkeit wird noch durch den Umstand weiter verstärkt, dass , Dichter' vorher nicht erwähnt worden waren und mit ihnen also ein neues Element - auch in Absetzung von den im Vergleich genannten anderen Künstlern, den Malern (vgl. V.42) - unvorbereitet eingeführt wird.13 Zuordnung und Status dieses Ereignisses sind komplex und mehrschichtig. Auf der einen Seite schließt die Behauptung gewissermaßen insofern an die zweite Sequenz an, als sie den Dichtern das Ermöglichen von Dauer in der Welt - im Gegensatz zur wechselvollen Existenz der Seefahrer (und der See) - zuschreibt. In diesem Sinne liegt ein Geschehensereignis vor. Auf der anderen Seite setzt die Schlusszeile semantisch 13

Jamme (1988) konstruiert einen wesentlichen Zusammenhang aller drei Schlusssätze (V.56-59) als eine dreifache Entfaltung des Andenkens und übersieht damit die internen Differenzen, die das Gedicht durch den oben beschriebenen Perspektivwechsel in der Konstellation Ich-Welt in den beiden Sequenzen strukturieren (S. 652). Auch Henrich (1986) betont den grundsätzlichen Zusammenhang der Schlusssätze als Formulierung der Ganzheit des bewussten Lebens und Entfaltung des modernen Bewusstseins (z.B. S. 118f., 135 u. 182).

Hölderlin: „Andenken"

111

nicht den Darstellungsgang der zweiten Sequenz fort, sondern fügt unvermittelt ein neues, andersartiges Element an, was einen Anschluss damit nicht auf der Geschehens-, sondern auf der Darbietungsebene konstituiert. So betrachtet handelt es sich um ein Darbietungsereignis, denn die Dauerhaftigkeit wird nicht erzählt, sondern durch die gnomische Formulierung in der Komposition des Gedichtes postuliert und durch die Existenz des Textes als Gedicht realisiert. Ein Darbietungsereignis konstituiert die Schlusszeile demgemäß in der Hinsicht, dass sich ihre Aussage auch auf das vorliegende Gedicht und die Aktivität des Autors beziehen läßt. Für das Gedicht „Andenken" wird seine abschließende Behauptung durch seine bloße Existenz eingelöst: 14 Sowohl die Vergänglichkeit der Erinnerungsprozesse der ersten als auch die prekären Erfahrungsprozesse der zweiten Sequenz werden durch diesen Text dauerhaft festgehalten. Ein derartiger Rückbezug der innertextlichen Aussage auf die Textgestalt im Sinne eines Darbietungsereignisses ist - in unterschiedlichen Ausprägungsformen - typisch für poetologische Gedichte, für Gedichte, die den Dichtungsvorgang thematisieren. 15

Literatur Binder, Wolfgang 1986 Hölderlin: „Andenken", in: Uvo Hölscher (Hg.): Turm-Vorträge bingen, S. 5-30.

1985/86. Tü-

Böschenstein, Bernhard 1984 Geschehen und Gedächtnis: Hölderlins Hymnen „Wie wenn am Feiertage . . . " und „Andenken": Ein einführender Vortrag, in: Le pauvre Holterling: Blätter zur Frantfurter Ausgabe. Frankfurt a.M., S. 7-16. Gaier, Ulrich 1989 Hölderlins vaterländischer Gesang „Andenken", in: Hölderlin-Jb. 201.

26, S. 175-

Gethmann-Siefert, Annemarie 1987 Die „Poesie als Lehrerin der Menschheit" und das „neue Epos" der modernen Welt: Kontextanalysen zur poetologischen Konzeption in Hölderlins „Andenken", in: Helmut Bachmaier / Thomas Rentzsch (Hg.): Poetische Autonomie? 14

15

Einen derartigen Rückbezug der Aussage des Gedichtes auf dieses selbst nimmt auch Martel (2004) vor, aber nicht als Selbst-Erfüllung, sondern als Aufforderung zum „poesiologischen" Gespräch mit dem Leser (S. 404f.). Beispiele aus der englischen Literatur finden sich etwa bei Coleridge, Keats und Wordsworth oder bei Yeats. Zu Beispielen aus der deutschen Lyrik siehe Hildebrand (2003) und Pott (2004).

112

Peter Hühn

Zar Wechselwirkung von Dichtung und Philosophie und Hölderlins. Stuttgart, S. 70-100.

in der Epoche

Heidegger, Martin 1981 Hölderlins Hymne „Andenken". [1943], in: ders.: Gesamtausgabe. Bd. 4, hg. von Curd Ochwadt. Frankfurt a.M., S. 79-151.

Goethes

1. Abt.,

Henrich, Dieter 1986 Der Gang des Andenkens: Beobachtungen und Gedanken zu Hölderlins Gedicht. Stuttgart. 1990 Andenken, Erinnerung, Gedächtnis: Über Hölderlins Gedicht „Andenken", in: Sinn und Form 42, S. 379-84. Hildebrand, Olaf (Hg.) 2003 Poetologische Lyrik von Klopstock tionen. Köln u.a.

bis Grünbein.

Gedichte

und

Interpreta-

Homann, Renate 1988 Das Besondere und das Allgemeine in der Dichtung. Anmerkungen zu Dieter Henrichs Buch: Der Gang des Andenkens. Beobachtungen und Gedanken zu Hölderlins Gedicht. Stuttgart 1986, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 42, S. 620-644. Hölderlin, Friedrich 1951 Sämtliche Werke. Große Stuttgarter Ausgabe, hg. von Friedrich Beißner. Bd. 2. Stuttgart. Jamme, Christoph 1988 Hölderlin und das Problem der Metaphysik: Zur Diskussion um „Andenken", in: Zeitschrift für philosophische Forschung 42, S. 645-665. Lefebvre, Jean-Pierre 1989 Auch Stege sind Holzwege, in: Hölderlin-Jb.

26, S. 202-223.

Martel, Christoph 2004 Noch denket das mir wohl ... Poetik der Erinnerung in Hölderlins Hymnen „Andenken" und „Mnemosyne", in: Euphorien 98, S. 385-406. Pott, Sandra 2004 Poetiken. Poetologische lin / New York.

Lyrik, Poetik und Ästhetik von Novalis bis Rilke. Ber-

Reuß, Roland 1990 die eigene Rede des andern": Basel / Frankfurt a.M.

Hölderlins „Andenken"

und

„Mnemosyne".

Valk, Thorsten 2003 Das dunkle Licht der Dichtung. Zur Kunst des Erinnerns in Friedrich Hölderlins Hymne „Andenken", in: Olaf Hildebrand (Hg.): Poetologische Lyrik von Klopstock bis Grünbein. Gedichte und Interpretationen. Köln u.a., S. 100-113.

JÖRG SCHÖNERT

Joseph von Eichendorff: „Nachruf an meinen (i)

5

Ach, daß auch wir schliefen! Die blühenden Tiefen, Die Ströme, die Auen So heimlich aufschauen, Als ob sie all' riefen: „Dein Bruder ist todt! Unter Rosen rot Ach, daß auch wir schliefen!"

(II)

10

15

„Hast doch keine Schwingen, Durch Wolken zu dringen! Mußt immerfort schauen Die Ströme, die Auen Die werden dir singen Von Ihm Tag und Nacht, Mit Wahnsinnes-Macht Die Seele umschlingen."

(III)

20

So singt, wie Sirenen, Von hellblauen, schönen Vergangenen Zeiten, Der Abend vom Weiten, Versinkt dann im Tönen, Erst Busen, dann Mund, Im blühenden Grund. Ο schweiget Sirenen!

(IV) 25

30

Ο wecket nicht wieder! Denn zaub'rische Lieder Gebunden hier träumen Auf Feldern und Bäumen, Und ziehen mich nieder So müde vor Weh Zu tiefstillem See Ο weckt nicht die Lieder!

(V) 35

Du kanntest die Wellen Des Sees, sie schwellen In magischen Ringen. Ein wehmüthig Singen

114

Jörg Schönert

40

Tief unter den Quellen Im Schlummer dort hält Verzaubert die Welt. Wohl kennst Du die Wellen.

(VI)

45

Kühl wird's auf den Gängen, Vor alten Gesängen Möcht's Herz mir zerspringen. So will ich denn singen! Schmerz fliegt ja auf Klängen Zu himmlischer Lust, Und still wird die Brust Auf kühlgrünen Gängen.

(VII)

50

Laß fahren die Träume! Der Mond scheint durch Bäume, Die Wälder nur rauschen, Die Täler still lauschen, Wie einsam die Räume! Ach, niemand ist mein! Herz, wie so allein! Laß fahren die Träume!

55 (VIII)

60

Der Herr wird dich führen. Tief kann ich ja spüren Der Sterne still Walten. Der Erde Gestalten Kaum hörbar sich rühren. Durch Nacht und durch Graus Gen Morgen, nach Haus Ja, Gott wird mich führen.

Sämtliche Werke des Freiherrn Joseph von Eichendorff. Historisch-kritische Ausgabe. Bd. 1.1: Gedichte. Erster Teil. Text, hg. von Harry Fröhlich u. Ursula Regener. Stuttgart u.a. 1993, S. 269-271.

1. Entstehung und Druckgeschichte Seit Juni des Jahres 1814 befand sich Eichendorff auf ,Heimaturlaub' vom Militärdienst in Lubowitz. Dort hörte er lange Zeit nichts mehr von seinem geliebten Bruder Wilhelm, von dem getrennt zu sein in Eichendorffs Gedichten wiederholt beklagt wird;1 Eichendorff befürchtete, dass 1

Vgl. etwa „An meinen Bruder 1813", „An meinen Bruder 1815", „An meinen Bruder" (= „Nachklänge 6").

Eichendorff: „Nachruf an meinen Bruder"

115

der Bruder den Tod gefunden haben könnte2 - so in seinem Brief an Otto Heinrich von Loeben vom 10. August 1814: ,,[I]ch schreibe dieß mit tiefen Schauern, denn ich weiß nicht, wie ich ihn überleben soll."3 Im August des Jahres ist auch die erste Fassung des hier zu erörternden Gedichtes entstanden. Kurz darauf traf in Lubowitz ein ausfuhrlicher Brief des Bruders ein; Wilhelm von Eichendorff starb erst 1849. Erstmals gedruckt wurde der Text in Fouques Frauentaschenbuch für das Jahr 1818 unter dem Titel „Lied". Eichendorff sandte die Druckvorlage in handschriftlicher Fassung am 15. März 1817 an den Herausgeber. 4 In dieser Fassung erschien der Text zudem 1826 unter dem Titel „Abendlandschaft" im Lieder-Anhang zum Taugenichts,5 Die Eichendorff-Ausgabe der „Bibliothek deutscher Klassiker" nimmt die Taschenbuch-Veröffentlichung mit dem Titel „Lied" auf.6 In der (für den Druck der Handschrift hinzugefügten) ersten Strophe war der Vers 6 nicht auf den (möglichen) Tod des Bruders bezogen, sondern lautete „Dein Liebchen ist tot!"; auch mit der Überschrift „Lied" war gegenüber der Handschrift der Verweis auf den Bruder Wilhelm getilgt. Der Druck von 1818 soll nicht im Einzelnen mit der hier zu analysierenden Fassung von 1837 verglichen werden. 7 Hinzuweisen ist jedoch auf die abweichende Kennzeichnung direkter Rede in der ersten Strophe. In der Fassung von 1818 stehen Anfuhrungszeichen am Eingang von Vers 1: „Ach, dass auch wir schliefen." Die direkte Rede wird erst am Ende von Vers 8 geschlossen - mit einem 1837 veränderten Wortlaut: „Ach, dass wir auch [1837: auch wir] schliefen!". Es handelt sich also (im Gegensatz zur Fassung von 1837) um direkt zitierte ,Stimmen' einer noch nicht näher bezeichneten Herkunft; erst in Strophe V wird das ,wehmütige Singen' lokalisiert: Es kommt aus dem Wasser- und Quellenbereich, wo Sirenen vermutet werden können. Für die umfassende Ausgabe seiner Gedichte (1837) hatte Eichendorff das Textkorpus - wie damals vielfach üblich - unter Mithilfe von Adolf 2 3 4 5 6

7

Vgl. Fröhlich (1994), S. 453f. Ebd., S. 457. Vgl. ebd., S. 454. Vgl. ebd. Eichendorff (1987), S. 193. Den Wortlaut des Textes der hier fur die Text-Analyse gewählten Fassung stellt die „Bibliothek deutscher Klassiker" im Band 2 (S. 440f.) der Eichendorff-Ausgabe in den Kontext der zu Lebzeiten des Autors unveröffentlichten Erzählung Das Wiedersehen (1817) als „Verse von Ludwigs Hand"; Leonhardt, an den die Verse gerichtet sind, liest sie auf „einem alten Blatte". So lauten beispielsweise der erste und letzte Vers der Strophe IV nicht „wecket" und „weckt" (V.25 u. 32), sondern „wecke" und „weck'" im Sinne einer Selbstanrede.

116

Jörg Schönert

Schöll in Abteilungen bzw. Zyklen gegliedert. Der „Nachruf steht ungefähr in der Mitte der vergleichsweise schmalen Abteilung V „Todtenopfer"; darauf folgt das zehnteilige Gedicht „Auf meines Kindes Tod". Die Themen dieser Abteilung sind zum einen bestimmt durch Totenklagen; zum anderen stehen die entschieden religiös orientierten Gedichte im Zeichen von Todessehnsucht und Aufnahme in die Gnade Gottes. Erst in dieser Publikation von 1837 wird als Titel „Nachruf an meinen Bruder" eingesetzt. Es wird vermutet, dass Schöll die (missverständliche) Formulierung gewählt und den Text in die Abteilung „Todtenopfer" eingerückt hat. Allerdings hat Eichendorff diese Entscheidung nicht mehr korrigiert. 8 2. Intertextuelle Bezüge Das Sirenen-Motiv (wer dem Gesang der Sirenen nicht widersteht, findet den Tod in der Tiefe des Wassers) wird im lyrischen Werk Eichendorffs vielfach aufgenommen und im Sinne eines Skripts ausgeführt - insbesondere für „Am Strom"; 9 auf dieses Skript 1 (mit seinen Bezügen auf die mythologischen Erzählungen der Antike) verweise ich im Folgenden mit der Abreviatur ,Sirenen-Skript'. In dem viel zitierten Gedicht „Lockung" wird das Skript auch mit dem situativen Frame verbunden, der für „Nachruf an meinen Bruder" noch genauer zu beschreiben ist: Kennst du noch die irren Lieder Aus der alten, schönen Zeit? Sie erwachen alle wieder Nachts in Waldeseinsamkeit, Wenn die Bäume träumend lauschen Und der Flieder duftet schwül Und im Fluß die Nixen rauschen Komm herab, hier ist's so kühl. 10

In „Denkst du des Schloßes [sie] noch auf stiller Höh?" 11 werden - ohne dass verführerische Wasserwesen (wie Nixen oder Sirenen) genannt sind - die Gefährdung durch „Zauberklänge" (V.10), Gesang „von der alten schönen Zeit" (V.12) und das „geheime Singen" (V.16) angesprochen 8 9 10

11

Vgl. Fröhlich (1994), S. 454. Eichendorff (1993), S. 268f. Ebd., S. 103f.; vgl. u.a. auch in „Die Zwei Gesellen" (ebd., S. 66f.): „Den Zweiten sangen und logen / Die tausend Stimmen im Grund, / Verlockend' Sirenen, und zogen / Ihn in der buhlenden Wogen / Farbig klingenden Schlund." Eichendorff (1997), S. 202f.; Erstdruck 1859 unter dem Titel „Die Heimat. An meinen Bruder. 1819".

Eichendorff: „Nachruf an meinen Bruder"

117

mit dem dadurch ausgelösten Untergang in eines „Sees wunderbaren Ringen" (V.17; vgl. dazu im „Nachruf an meinen Bruder" die „magischen Ringe"-V.35). Das Motiv eines lyrischen Nachrufs' (im Texte-Korpus der ,Lieder für Verstorbene') ist beispielsweise ausgearbeitet in „Nachruf. 12 Für den hier zu erörternden Text wird 1837 als Titel allerdings „Nachruf an meinen Bruder" eingesetzt und nicht die geläufige Wendung ,Nachruf auf...', so dass mit der Präposition ,an' die primäre Wortbedeutung mit Rekurs auf das Medium der Stimme verstärkt ist: nämlich jemandem, der sich entfernt hat, etwas nachzurufen.

3. Sprechsituation und skriptbezogene Organisation der Rede Damit ist auch auf die komplexe Organisation des Textes verwiesen, der weniger als Erzählung eines vergangenen Geschehens sowie gegenwärtiger und zukünftiger Aktionen angelegt ist, sondern als Inszenierung von Stimmen, von zitierter Rede und Anrede, Gedankenrede (mit Selbstanrede), Erinnerungen, Träumen und Visionen. Insofern können ,die Lieder', die der Sprecher hört und teilweise auch zitiert, im konkreten und übertragenen Sinn als ,Sirenengesang' verstanden werden. Diese Lieder aus einer , anderen (und vergangenen) Welt' bestimmen die ersten zwei Drittel des Textes. Seine Eindrücke, Emotionen und Überlegungen vermittelt der autodiegetische Sprecher in Gedankenrede synchron zu seinen sinnlichen Erfahrungen. Lediglich am Beginn der Rede wird - so ist anzunehmen - eine bereits verklungene Rede (in analeptischer Form) in Erinnerung gerufen.13 Die Wendung „Ach, dass auch wir schliefen" (V.l) ist - wie ihre Wiederholung im Rede-Zitat in Vers 8 zeigt - Teil der , Sirenen-Rede', die in der imaginierenden Wahrnehmung des Sprechers (V.5: „als ob") aus den „blühenden Tiefen" der Gewässer einer Auenlandschaft (V.2f.) aufzusteigen scheint und (unmittelbar an das anfangliche Erinnern anknüpfend) durch direkte Rede (V.6-8 u. 9-16) repräsentiert wird. Die Rede des Sprechers entsteht also zunächst aus den zahlreichen sinnlichen Erfahrungen, die - so hat es den Anschein - von außen auf ihn einwirken: aus seinem Hören, Schauen und Fühlen. Im Fortgang der Rede 12 13

Eichendorff (1993), S. 282. Das Geschehen in Vers 2 bis 8 erfolgt vor dem Ausruf des Sprechers in Vers 1; die fremden Stimmen haben sich gleichsam in den Gedanken des Sprechers festgesetzt. Dabei wird das ,wir' in bewusster Ambiguität gebraucht: Es könnte das Sprecher-Ich einschließen.

118

Jörg Schönert

wird jedoch in Strophe VII (V.49: „Laß fahren die Träume") nahe gelegt, dass diese sinnlichen Wahrnehmungen eine ursprüngliche Substanz von Wünschen und Ängsten in Bewegung setzen, die dem Sprecher angehört. Die vom Sprecher erlebte und imaginierte Rede wird als ,Gesang', verstanden. Als Gesang - als lyrisches Sprechen im engeren Sinne - bestimmt der Sprecher sein eigenes Reden allerdings erst zu Beginn des letzten Textdrittels in Vers 44: „So will ich denn singen!". Das hieße, dass seine zuvor geführte Rede (wo sie nicht zitierte Rede ist) eher einem sensorisch und kognitiv bestimmten Gestus im Zuge von Wahrnehmen und (Selbst-)Erkunden folgt. Im Singen dagegen könne „Schmerz" in „himmlische Lust" verwandelt werden (V.45f.). Solcher Schmerz wird beim Sprecher in paradoxer Weise gerade durch einen Typus von Gesang (etwa durch „zaub'rische Lieder" - V.26) ausgelöst, der zum einen eine besondere zeitliche Bindung (an das Erinnern von Vergangenem) und zum anderen eine besondere räumliche Bindung hat (an den Landschaftsraum, insbesondere an Gewässer). Diesem Paradoxon will ich zugunsten möglicher Auflösungen noch nachgehen. Da die dominierende SprecherRede immer wieder elliptisch angelegt ist und auch zwischen den relativ selbstständigen Strophen kaum explizit formulierte und vermittelnde Ubergänge geschaffen werden, muss im Konstruieren von Sinnzusammenhängen für das Gedicht häufig interpoliert werden. Der Sprecher blickt am Ende eines Tages (der Abend zieht „vom Weiten" heran - V.20) auf eine Naturlandschaft; mit seiner Rede ruft er folgt man der Überschrift - dem abwesenden Bruder nach. Diese Abwesenheit kann in der Vorstellungswelt des Sprechers auch die Vermutung des Todes einschließen. Eine solche Besorgnis lässt der Sprecher in seiner Rede von zunächst nicht genauer identifizierten Stimmen laut werden, die mit der Todesbotschaft ihren Wunsch verbinden ,auch zu schlafen' (die Welt der Lebenden zu verlassen) und zudem den angeredeten Gangesungenen' - vgl. V.13) Sprecher dazu bringen wollen, diesen Wunsch zu übernehmen; sein eigener Todeswunsch wird den sinngemäß zitierten Stimmen übertragen. Da es sich - nach Selbstkennzeichnung der Singenden - um Wasserwesen handelt, die durch ihren Gesang die Vernunft eines Menschen verwirren und in den „Wahnsinn" (V.15) treiben können sowie darauf zielen, sich seiner „Seele" zu bemächtigen (V.16), ist das Sirenen-Skript der mythologischen Erzählungen aufgerufen. Als Sirenen werden diese Stimmen im Fortgang des performativ angelegten Sprechaktes nun vom Sprecher imaginiert (V.17: „wie Sirenen"). Der Sprecher hält den eigentlichen Ursprung der Töne mit der Ambiguität von Identifi-

Eichendorff: „Nachruf an meinen Bruder"

119

kation und Vergleich offen.14 Die „zaub'rischen Lieder" (V.26) rufen Erinnerungen an eine schöne Vergangenheit wach; ihr Gesang erfüllt in der Wahrnehmung des Sprechers den (Landschafts-)Raum und die (Tages-) Zeit (vgl. V.20f.); der Sprecher ,schaut' nun auch die Singenden in ihrer Gestalt mit den sie (und ihre gefährlich-erotische Attraktion) bestimmenden Körperteilen: den bloßen Brüsten und dem singenden Mund (V.22). In den Versen 20 bis 23 ist der Satzgegenstand allerdings nicht eindeutig zu bestimmen. Zunächst ist „der Abend" das Subjekt, das dem Prädikat „versinken" zugeordnet wird; dem Abend „Busen" und „Mund" zuzuschreiben, erscheint mir jedoch nicht sinnvoll zu sein, so dass in der dominierend elliptischen Organisation der Rede „versinken" - ohne explizit wieder aufgenommen zu werden - auch auf die (besonders in Strophe III wahrgenommenen) Sirenen übertragen werden kann. Dabei scheinen sie sich mit dem heraufkommenden Abend in den „blühenden Grund" (V.23, vgl. auch V.2) zurückzuziehen: Zunächst ist ihr Oberkörper nicht mehr zu erkennen, dann auch der Mund (als ,pars pro toto' für das Gesicht), so dass auch ihre Lieder nicht mehr zu hören sind, was vom Sprecher - zugunsten seiner Selbststabilisierung - mit einem Schweigegebot (vgl. V.24) ergänzt wird. Das Schweigen der Sirenen ist wichtig für den Selbsterhalt des Sprechers, der sich dazu in Strophe V auch ermahnt mit dem Hinweis auf sein Wissen zur Anziehungskraft der Wellen des Sees: Sie „schwellen in magischen Ringen" - wie Töne anschwellen im verlockenden Gesang der Sirenen.15 In Strophe VI fügt der Sprecher dem Schweige-Gebot an die Sirenen gleichsam ein Singe-Gebot an sich selbst hinzu, um seine Wehmutsschmerzen in „himmlische Lust" (V.46) zu verwandeln. Mit diesem Gebot ist ein weiteres in Strophe VII verbunden: Der Sirenengesang und die damit verbundenen Gefühle sollen als Imaginationen (als „Träume" - V.49) verstanden werden, die von der Wehmut des Sprechers hervorgebracht wurden aus den natürlichen' Bildern und Tönen einer Landschaft (vgl. V.50-52). Zuvor (in Strophe IV) und danach (in Strophe VI) wird die Präsenz von „zaub'rischen Liedern" (V.26), die im Sprecher Wehmut, Müdigkeit und (so wäre zu interpolieren) Todessehnsucht hervorrufen, auch für den Bereich der Felder, Gehölze und Wälder (vgl. V.28) markiert: Diese Lieder erklingen jedoch nicht; sie sind einst verstummt und „träumen" noch (V.27) - sie können allerdings durch den Gesang der Wasserwesen ,ge14 15

Vgl. Peucker(1987), S. 42. Vgl. ebd., S. 43f.: Die „magischen Ringe" des Sees stehen als visuelles Zeichen fur die magischen Töne des Sirenengesangs.

120

Jörg Schönert

weckt' werden (vgl. V.25). Ihre (möglicherweise) freizusetzende Kraft fürchtet der Sprecher: Durch das Auslösen von selbstzerstörerischen Gefühlen könnten die „alten Gesänge" (V.42) dem Sprecher das Herz „zerspringen" lassen (V.43). Um diese Stimmen nicht laut werden zu lassen, will der Sprecher selber „singen" (V.44) und in seine Rede nicht mehr fremde Stimmen einbeziehen. Zugleich beklagt der Sprecher seine Vereinsamung: „Ach, niemand ist mein! / Herz, wie so allein!" (V.54f.). So wird auch seine abschließende Rede (vgl. V.45ff.) zum Monolog und folgt dem nun erst eingeführten christlich bestimmten Skript 2, der ,Selbstabilisierung durch Glaubenszuversicht und Erlösungshoffnung'; dieses Skript löst das bis dahin dominierende ,heidnische' Sirenen-Skript ab. Die Rede des Sprechers wechselt nun zwischen gnomischen Aussagen (vgl. V.45-48), Selbstanrede (vgl. V.49, 56f. und 64), Selbstaussage (vgl. V.54f.), Naturbeschreibung (vgl. V.50-53) sowie Selbstaussage in Verbindung mit Naturbeschreibung (vgl. V.58-63). Die Einsamkeit kann nur aufgehoben werden durch das Vertrauen in Gott, das in Strophe VIII aufgerufen wird.

4. Die sprachmateriale und formale Organisation des Textes Die Rede des Sprechers ist in Kurzzeilen gegliedert, die häufig zu ZeilenEnjambements (nie aber zu Strophen-Enjambements) fuhren. Die Verse sind in der Regel zweihebig; sie verwenden (oft mit einer Auftaktsilbe) voll ausgeführte und verkürzte Daktylen - das (nur selten variierte) Grundmuster ist xXxxX(x) im Reimschema a-a-b-b-a-c-c-a. Die ostentativ ausgearbeiteten Reime und zahlreiche Assonanzen verstärken die sinnliche Qualität des Akustischen, von der immer wieder die Rede ist. Das Reimschema der Strophen lässt sich in Analogie zu drei unterschiedlichen Stimmen (A, B, C) verstehen. Dabei rahmt die Stimme Α die beiden anderen Stimmen. Die dominierende Stimme Α ließe sich als die dem Sprecher eigene Stimme (seine ,Hauptstimme') verstehen. Zugleich kann der Sprecher andere Stimmen vernehmen und auch (zitierend) in seine Rede einbeziehen - wie die Stimmen Β und C der (bereits sprechenden) Wasser- und der (noch stummen) Feld- und Waldwesen (vgl. die Strophen IV u. VI). Die Stimme Α schließt also die beiden anderen Stimmen ein. Das Muster einer Rahmung wird in den Einzelstrophen aufgegriffen durch die Rahmung mit dem Reim a in der ersten und letzten Zeile. Sie ist in den Strophen I sowie III bis VIII verstärkt durch den engen semantischen Bezug der Anfang- und Schlusszeile; dieses Um-

Eichendorff: „Nachruf an meinen Bruder"

121

schließen wird durch Wiederholung und Variation entwickelt.16 So gewinnen die einzelnen Strophen an Eigengewicht, und es wird jene Permutation in der Reihenfolge möglich, von der hier im abschließenden Blick auf die handschriftliche Fassung des Textes noch die Rede sein wird. Die Strophe II ist ausschließlich dem Zitat des Sirenengesangs gewidmet und erhält damit eine Sonderstellung. Ihre erste Zeile könnte - mit der Zuschreibung durch die ,Sirenen' - die fehlende Kraft des Sprechers bezeichnen, sich ihrem (heidnischen) Gesang zu widersetzen, um sich himmelwärts', hin zum Christlichen, zu orientieren (vgl. V.9). Der Schlussvers verwiese dann auf die Macht der ,Sirenen' - nämlich von der Seele eines Menschen Besitz ergreifen zu können (vgl. V.16). Im Ganzen gesehen lässt sich von einer stabilen formalen Organisation der einzelnen Strophen sprechen; sie steht im Gegensatz zu Instabilität' (zur Wehmut und drohenden Selbstauflösung) des Sprechers, der seine Glaubenszuversicht erst im ,Bewusstseinsereignis' einer Selbstsuggestion (vgl. Strophe VIII) erreicht.

5. Räumliche und zeitliche Organisation des Textes Die dargestellte Welt ist räumlich und primär tageszeitlich strukturiert: räumlich durch die Polarität von Tiefe und Höhe - mit den Extrempunkten von (christlich bestimmtem) Himmel und (heidnisch besetzter) Tiefe eines Gewässers, tageszeitlich durch das Aufziehen des Abends (vgl. V.20), die nachfolgende Nacht (vgl. V.50, 59 u. 62) und den beginnenden Morgen (vgl. V.63) - wobei die Tageszeiten auch sinnbildliche Bedeutung haben und auf Schlafen bzw. Sterben, auf die Abwendung vom Glauben (markiert durch V.62: „[...] Nacht und [...] Graus")17 und Erlösung (markiert durch V.63: „gen Morgen") verweisen. Auf einer allgemeinen zeitlichen Ebene wird zudem zwischen einer attraktiven, aber 16

17

In Strophe I und VII finden sich wörtliche Wiederholungen; Strophe IV, V und VIII zeigen sinngemäße Wiederholung; Strophe VI modifiziert „kühl" zu „kühlgrün"; in Strophe III fuhrt die Variation zu einer Verkehrung des Gebots (von „singt" zu „schweiget"). In Strophe VIII wäre „Durch Nacht und durch Graus / Gen Morgen, nach Haus" (V.62f.) sinnbildlich zu verstehen: ,Nacht und Graus' meint das gottesferne Erdenleben; der „Morgen" ist als der daraus erlösende Tod zu verstehen und „nach Haus" wäre als Eintreten in das (von Gottes Gnade geschenkte) ,ewige Leben' anzusehen. Verstünde man ,nach Haus' in realistischer Weise, dann erschiene die Erzählung als banal; zudem wurde zuvor nicht gesagt, dass ,das Haus' für einen Gang in die Natur verlassen wurde.

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Jörg Schönert

gefährlichen Vergangenheit (vgl. die „hellblauen, schönen / Vergangenen Zeiten" - V.16f.), einer mit,Sirenengesang' und Wehmut erfüllten abendlichen Gegenwart (vgl. V.30 u. 36), einer nahen dunklen sowie grauenvollen nächtlichen Zukunft (vgl. V.62) und einer etwas ferneren morgenhellen Zukunft (vgl. V.63) unterschieden. Die Rede des Sprechers wird in der Mehrzahl der Strophen synchron zu seinem sinnlichen Erleben der Umwelt mit ihren Tönen und Bildern geführt; Temperaturen (im Sinne von Kühle - vgl. V.41 u. 48) werden dagegen in einer nahen Zukunft gefühlt (vgl. Strophe VI). Es ist die Kühle der hereinbrechenden Nacht, die auf den „Gängen" (V.41, den Wegen) der Wiesen und Wälder aufsteigt. Zeitlich nahe ist auch das drohende Zerspringen des wehmutsvollen Herzens (vgl. V.43); eindeutig prospektiv angelegt ist hingegen in der letzten Strophe das Vertrauen auf die Wegweisungen Gottes. Diese prospektiv erzählte Fortsetzung des noch nicht realisierten Geschehens folgt aus dem aktuell-nachhaltigen Erfühlen (vgl. V.58) 18 einer göttlichen Ordnung der Welt (markiert durch das ,stille Walten der Sterne' - vgl. V.59), die im Gegensatz zu den schönen, aber bedrohlichen Liedern mit der Erfahrung von Stille (vgl. auch V.52) verbunden ist. Der Sinneseindruck der Stille verweist im übertragenen Sinne auf Beruhigung von Emotionen (V.47: „und still wird die Brust" vom Singen des Sprechers) und Erfahrung von Ordnung; durch das Gefühl der Einsamkeit (vgl. V.53-55) verstärkt sich für den Sprecher die Stille als neu erreichter kontemplativer Zustand nach der drohenden Auflösung seines Selbst in einem ,Meer von Tönen'. In der Fiktionswelt des Textes sind ideologische Konzepte' (auf der Grundlage von Wertvorstellungen und Verhaltensnormen) ähnlich wie mit den Zeitstrukturen auch mit den Raumverhältnissen verbunden. Dominant ist die vertikale Struktur:19 Als ,verführerisch-heidnisch' zu verstehen ist die bis „ t i e f unter die Erdoberfläche reichende ,,verzaubert[e]" Welt des Sirenengesangs (vgl. V.36-39) mit den Teilräumen der Ströme, Seen und ihrer Quellen (vgl. V.3 u. 34).20 Dazu gehören auch noch die 18

19

20

Das Adverb „ t i e f (V.58), das in Strophe I und IV mit dem Todes-Motiv verknüpft war, könnte hier (ohne dass die räumliche Bedeutung aufgehoben wäre) als , intensiv' verstanden werden (vgl. etwa ,tieftraurig'): ,Intensiv spüren' (alle Sinne zu mobilisieren) tritt dann an die Stelle des bis dahin dominierenden Hörens. Was ,intensiv gespürt' wird, muss nicht unbedingt auch „hörbar" sein (vgl. V.60). Für die Raumstruktur, die im Text aufgebaut wird, gilt nur der Gegensatz ,oben vs. unten', nicht aber ,innen vs. außen'. Vgl. auch die „blühenden Tiefen" (V.2) und den „blühenden Grund" (V.23) als die Welt der Sirenen mit Konnotationen zu ,vegetativ = weiblich' gegenüber dem Sinnbild-

Eichendorff: „Nachruf an meinen Bruder"

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Wiesen und das Buschwerk um die Gewässer, die „Auen" (V.3). Gleichsam in einem naturhaften und zudem in einem sinnbesetzten Verbund mit dieser Welt der ,Tiefen' stehen die Felder, Gehölze und Wälder (V.28), in denen - ebenso wie in den Gewässern und Auen - Lieder ihre magische Kraft entfalten können (vgl. V.26 u. V.39).21 Allerdings ist diese Zaubermacht - anders als im Fall des Sirenengesangs - noch nicht in Aktion gesetzt, so dass beim rechten Besinnen des Sprechers aus dieser magischen Welt ,nur' eine mondbeschienene Landschaft mit rauschenden Wäldern werden kann (vgl. V.50-52). In diesem Fall werden solche Räume nicht mit heidnischen Mächten, sondern mit den Emotionen eines Menschen - hier des sich selbst überlassenen Sprechers - besetzt: „Wie einsam die Räume! / Ach, niemand ist mein! / Herz, wie so allein!" (V.53-55). In der vertikalen Schichtung der Räume steht ,der Himmel' (mit Wolken, Mond und Sternen - vgl. V.10, 50 u. 59) für den Erfahrungsund Aktionsraum des gläubigen Christen und das Walten eines ordnungsstiftenden und gnädigen Gottes. ,Singen' lässt sich in unterschiedlicher Weise den einzelnen Räumen zuordnen; es kann dazu beitragen, in die (heidnische) Tiefe gezogen zu werden (vgl. V.15f.) oder sich im Sinne des Himmels (der „himmlischen Lust" [V.46] als himmlischer Freude) zu orientieren. 6. Frames und Isotopien Der situative Frame ist - wie häufig bei Eichendorff - dadurch angelegt, dass ein autodiegetischer Sprecher mit seinen Sinnen die Reize und emotionalen Impulse eines Landschaftsraumes aufnimmt und mit bestimmten Lebens- und Glaubenserfahrungen reflexiv verbindet - vielfach in der Abkehr von ,den Tiefen' mit einer Bewegung in die ,Höhe', 22 hier vom Sirenengesang hin zu Gott im Himmel. Der mit dieser Bewegung verbundene thematische Frame ist das Erhalten einer gefährdeten (christlichen)

21

22

liehen Komplex des Himmels (mit Wolken und Gestirnen) als strukturierter Ausdrucksund Aktionsraum des christlichen (Vater-)Gottes. Der Bereich des ,Unten' wird nicht nur mit Geräuschen und Stimmen (,laut'), sondern auch vegetativ besetzt; das ,Oben' ist ,still' und .lautlos' - hier wird nicht ,spontan gelebt', sondern mit Bedacht gewaltet und gestaltet (vgl. Strophe VIII). Vgl. u.a. Piepmeier (1989) zur Konstellation eines „bedrohenden, dunklen, dämonischen" Naturraums im Werk Eichendorffs (S. 56f.). Vgl. Peucker (1987), S. 19.

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Existenz durch die Festigung des Gottvertrauens. Die Gefährdung, der sich der Sprecher ausgesetzt sieht, entsteht dadurch, dass der mögliche Tod des Bruders den wehmütigen Wunsch des Sprechers nach sich zieht, in Folge seiner Fremdheit und Vereinsamung in der aktuell erfahrenen Existenz 23 dem Bruder in den Tod zu folgen, und dass der Sirenengesang diesen Wunsch verstärkt und damit den Tod herbeiführen kann. Der Sprecher kann also zum einen ein Wissen von heidnischen und magischen Zuständen nutzen, um den Sirenen zuzuhören und in den Tod zu gehen, oder er kann sein christliches Wissen reaktivieren und sich der Obhut Gottes anvertrauen: im Erkennen der göttlichen Ordnungsmacht und im Vertrauen auf die Hilfe (die Gnade) Gottes zum ,ewigen Leben'. Auch die semantischen Makrostrukturen des Textes sind hauptsächlich durch Entgegensetzungen bestimmt. So werden die Beschreibungen von akustischen Vorgängen insbesondere den unteren (,heidnischen') Bereichen in der räumlichen Vertikale mit dem Zentralkomplex des Sirenengesangs' zugeordnet, während visuelle Eindrücke vornehmlich (aber nicht ausschließlich) mit dem oberen (,himmlisch-christlichen') Raum verbunden werden. Solchen Scheidungen der Wahrnehmungsvermögen stehen jedoch Synästhesien wie „tiefstill" (V.31) oder „kühlgrün" (V.48) und „Schmerz fliegt [...] auf Klängen" (V.45) im Aufheben der sinnlich differenzierten Weltwahrnehmung entgegen. Die semantische Reihe mit Merkmalen der Passivität wie ,schlafen' (vgl. V.l), ,träumen' (vgl. V.27), ,müde sein' (vgl. V.30) oder Merkmalen in der Folge von erlittenen Attacken wie ,umschlungen sein' (vgl. V.16), ,gebunden sein' (vgl. V.27), ,niedergezogen werden' (vgl. V.29), ,verzaubert' (vgl. V.39) oder z e r sprungen sein' (vgl. V.43) verweist auf Wirkungen des Sirenengesangs und kontrastiert Aktivitäten, die dem oberen Bereich der Raumstruktur gelten - wie ,sich aufschwingen' und ,durch Wolken dringen' (vgl. V.9) oder ,auffliegen' (vgl. V.45). 7. Skripts, Ereignisse und Geschehen Den zahlreichen Kontrastrelationen in der Organisation des Textes entsprechen auch die beiden (bereits erwähnten) konfligierenden Skripts: Das Sirenen-Skript fuhrt über Zuhören und sehnsuchtsvolle Faszination zur Selbstauflösung des Ichs im heidnischen Raum, das Erlösungs23

Vgl. dazu Bormann (1968), S. 184-187, der diese Konstellation auch auf die Stellung der Kunst in einem ihr gegensätzlichen' Zeitalter überträgt.

Eichendorff: „Nachruf an meinen Bruder"

125

Skript über Sich-Widersetzen und die Stabilisierung des Gottvertrauens zum ,ewigen Leben', dem Gegensatz zum unvollkommenen, wehmutsvoll erfahrenen irdischen Dasein. Doch wird das erzählte Geschehen zu den Erfahrungen und Bewusstseinsprozessen des Sprechers nicht einfach durch einen Skriptwechsel bestimmt. Die Gefährdung des Sprechers wird gemäß dem Sirenen-Skript durch den Gesang der Wasserwesen verursacht. Der Sprecher gebietet nicht nur den Sirenen zu schweigen (bzw. gebietet er sich selbst, seine Träume „fahren" zu lassen, nicht mehr seinen Imaginationen nachzuhängen - V.49), sondern er widersteht auch dem Sirenengesang, indem er selbst zum Sänger wird (vgl. V.44), der sich in der Abkehr vom Existenzraum der Sirenen ,himmelwärts' orientiert und damit das Erlösungs-Skript aufzurufen vermag, in dem „Schmerz" zu „himmlischer Lust" verwandelt werden kann (V.45f.). Der Wechsel von der Passivität im Wahrnehmen von (Wehmut fördernden) „zaub'rischen Liedern" (V.26) zur Aktivität des selbst verantworteten (Wehmut und Schmerzen verarbeitenden) Singens ermöglicht es dem Sprecher, den Bereich der sinnlich ausgelösten Imaginationen zu verlassen und ein kognitiv stabilisierendes Vertrauen in Gott herzustellen. Das Darbietungsereignis des Skriptwechsels wird also verbunden mit dem Ereignis im Bewusstseinswandel des Sprechers (einem inneren Geschehen) vom passiven Erleben des Singens anderer Urheber zur aktiven (und reflektierten) eigenen Praxis. Skriptwechsel und Bewusstseinswandel sind unterschiedliche Ergebnisse einer Umstellung, die von einem rezeptiven Verhalten, einer Fremdgestaltung des Subjekts zu seiner Selbstgestaltung fuhrt. Das Handlungssubjekt im erzählten Geschehen24 ist demnach der autodiegetische Sprecher, dem nacheinander zweierlei Handlungsziele zugeschrieben werden können: Zum einen sehnt er sich nach einer ,Auflösung im Wasser', nach dem (Todes-)Schlaf, zum anderen hat er den Wunsch trotz der ihm abgesprochenen Fähigkeiten, auf Flügeln „durch Wolken zu dringen" (V.9f.), sich „zu himmlischer Lust" zu erheben (V.45f.).25 In24

25

Geschehen wird auch in diesem Text - wie häufig in Lyrik - nur verkürzt vermittelt: Der Bruder des Sprechers könnte gestorben sein, der Schmerz dieser Erfahrung bringt den Sprecher in seiner Vereinsamung (vgl. V.53-55) selbst an den Rand des Todes (vgl. V.l), doch fuhrt ihn schließlich sein Gottvertrauen wieder zurück in den Fortgang eines christlichen Lebens'. Malte Stein hat mich darauf hingewiesen, dass im psychoanalytischen Verständnis dieser unterschiedlichen Bewegungsrichtungen die Sehnsucht nach dem Aufgehen im Gewässer als eine Selbststabilisierung auf dem Wege einer ,Verschmelzungsübertragung' im Hinblick auf ein als weiblich bzw. mütterlich konnotiertes (Selbst-)Objekt zu deuten wäre, während die Bewegung zum Himmel eine Verbindung mit dem (Selbst-)

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folge ihrer , magischen' Wirkung können die Sirenengesänge den Sprecher dem ersehnten (Todes-)Schlaf näher bringen, so dass sie in Bezug auf dieses erste Ziel eine helfende Funktion erfüllen. Da bald jedoch auch das zweite Ziel eingeführt wird, erklärt sich daher die ambivalente Einstellung, die der Sprecher gegenüber dem Sirenengesang (V.17 u. 24: „So singt, wie Sirenen" und „O schweiget Sirenen") und einem Freisetzen der im Traum-Schlummer gebundenen Lieder hat (vgl. Strophe IV).26 Im Gegensatz zu anderen Texten der Romantik wird in diesem „Nachruf das Bedürfnis nach Selbstauflösung vom Sprecher schließlich getilgt. Doch sind die Stimmen ,νοη unten' so mächtig, dass gegen sie Gott selbst als Helfer und Retter gebraucht und beschworen wird. Gegen die Macht des Rezeptiv-Sinnlichen, die zur Selbstauflösung führt, wird die Selbstbehauptung in der Aktivität (,ich singe selbst') gestellt. Dieses Ereignis einer Umorientierung ist im Vollzug der Rede des Sprechers noch nicht eingetreten; es kann aber in der Glaubenszuversicht erwartet werden. Letztlich - so die Quintessenz dieses „Nachrufes" - ist der Selbsterhalt nur im Vertrauen auf die Führung und Hilfe Gottes zu erlangen. Zu fragen bleibt jedoch, ob die entscheidende Wendung nicht in V.44 markiert ist mit der Selbstaufforderung des Sprechers zum ,Singen', ob dem Selbsterhalt durch den christlichen Glauben nicht die (im Sinne der literarischen Romantik) vollzogene Selbsterlösung durch Dichten vorausgeht. Unter diesem Aspekt sollen abschließend nochmals Stationen der Textgenese bis zur Druckfassung von 1837 betrachtet werden. 8. Zur Handschrift von 1817 In der Handschrift (als Vorlage für den Erstdruck im Frauentaschenbuch von 1818) trug das Gedicht den Titel „Abendlandschaft o[der] Abendwehmuth. An Wilhelm 1814. Im August." Abendlandschaft und Abendwehmut waren vermutlich als Alternativen für den Leitbegriff des Titels zu verstehen.

26

Objekt ,Vater' anstrebt - vgl. dazu Malte Stein: „Sein Geliebtestes zu töten". Literaturpsychologische Studien zum Geschlechter- und Generationenkonflikt im erzählerischen Werk Theodor Storms. (Husumer Beiträge zur Storm-Forschung 5). Berlin 2006, Kap. 2.10 u. 2.11. Vgl. Peucker (1987), S. 41: Der Bruder figuriere als ,alter ego'; sein angenommener Tod erübrige den Todeswunsch des Sprechers bzw. dieser Todeswunsch wird christianisiert' und damit auch verschoben bis zum vorbestimmten Ende der Erlösung aus dem „Graus" (V.62) des Erdenlebens.

Eichendorff: „Nachruf an meinen Bruder"

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Die Handschrift umfasste nur sieben Strophen, denen eine weitere Strophe (der nunmehrigen ersten Strophe entsprechend) erst für den Druck vorangestellt wurde. In der Handschrift war die Reihenfolge der Strophen (nach der Zählung der gedruckten Fassung) IV-VI-V-VII-III-IIVIII. Die gegenüber der handschriftlichen Fassung für den Druck von Eichendorff vollzogenen Veränderungen in der Zuordnung der Strophen sind ein erster Hinweis darauf, dass jede einzelne Strophe im Hinblick auf ihre formale und semantische Organisation einer spezifischen Konstellation der Selbst- und Umweltwahrnehmung und der daraus resultierenden Gefühle und Aktionen gilt. Die Verbindung dieser Einheiten bestimmt abgesehen vom Zielpunkt der Schlussstrophe (mit der Hinwendung zur Orientierungs- und Ordnungsmacht Gottes) - keine linear-kausale Verknüpfung, sondern das Sich-Einlassen auf unterschiedliche sinnliche und emotionale Impulse. Zunächst sei die Strophenfolge der handschriftlichen Druckvorlage (1817) wiedergegeben: 27 Abendlandschaft o. Abendwehmuth. An Wilhelm. 1814. Im August (i)

5

Ο wecket nicht wieder! Denn zaub'rische Lieder Gebunden hier träumen Auf Feldern und Bäumen, Und ziehen mich nieder So müde vor Weh Zu tiefstillem See Ο weckt nicht die Lieder!

(II) 10

15

Kühl wird's auf den Gängen, Vor alten Gesängen Möcht's Herz mir zerspringen: So will ich denn singen! Schmerz fliegt ja auf Klängen Zu himmlischer Lust, Und still wird die Brust Auf kühlgrünen Gängen.

(III) Du kanntest die Wellen Des Sees, sie schwellen In magischen Ringen. 27

Es geht wohlgemerkt nur um die Abfolge, nicht um den Textstand im Wortlaut oder in der Schreibweise.

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20

Ein wehmüthig Singen Tief unter den Quellen Im Schlummer dort hält Verzaubert die Welt. Wohl kennst Du die Wellen.

(IV)

25

Laß fahren die Träume! Der Mond scheint durch Bäume, Die Wälder nur rauschen, Die Täler still lauschen, Wie einsam die Räume! Ach, niemand ist mein! Herz, wie so allein! Laß fahren die Träume!

30 (V)

35

40 (VI)

45

So singt, wie Sirenen, Von hellblauen, schönen Vergangenen Zeiten, Der Abend vom Weiten, Versinkt dann im Tönen, Erst Busen, dann Mund, Im blühenden Grund. Ο schweiget Sirenen! „Hast doch keine Schwingen, Durch Wolken zu dringen! Mußt immerfort schauen Die Ströme, die Auen Die werden dir singen Von ihm Tag und Nacht, Mit Wahnsinnes-Macht Die Seele umschlingen."

(VII) 50

Der Herr wird dich führen. Tief kann ich ja spüren Der Sterne still Walten. Der Erde Gestalten Kaum hörbar sich rühren. Durch Nacht und durch Graus Gen Morgen, nach Haus Ja, Gott wird mich fuhren.

Die handschriftliche Textfassung konzentriert die Informationen ganz auf den Zustand des autodiegetischen Sprechers, der sich im Vers 17 vermutlich selbst anredet; eindeutig ist eine solche Selbstanrede in der letzten

Eichendorff: „Nachruf an meinen Bruder"

129

Strophe (V.49). Weniger entschieden als in den weiter bearbeiteten Fassungen werden die sinnlichen Wahrnehmungen der Außenwelt als „Träume", als Imaginationen und Selbst-Suggestionen des Sprechers markiert (V.25-32). Die Selbstaufforderung zum ,Singen' wird bereits im ersten Teil der Rede formuliert (vgl. V.12); sie wird ausgelöst durch Erinnerungen an „zaub'rische Lieder" (V.2) und „alte Gesänge" (V.10), die dann als ein „wehmüthig Singen" (V.20) der Vergangenheit zugeordnet werden. Das Singen des Sprechers erscheint dabei eher als ein Einstimmen in die erinnerte Vergangenheit (und als ,Mitsingen') und nicht als ein ,Gegengesang', da die erinnerten und wahrgenommenen ,Lieder' erst im zweiten Teil der Rede als verführerisch-gefahrlicher Sirenengesang eingeordnet werden (V.33 u. 40). Zudem missachten in dieser Fassung die S i renen' das Schweigegebot des Sprechers (V.40); sie reden ihn sogar in (zitierter) direkter Rede an (vgl. V.41-48). Diesem heidnischen Sirenengesang setzt der Sprecher - ohne weiteren vermittelnden oder erklärenden Hinweis - als letzten Abwehrgestus sein Gottvertrauen entgegen (V.4956): Das mythologisch-heidnische Skript (dem Sirenengesang zu erliegen) wird durch das neuplatonisch-christliche (die Welt überwinden und verlassen) abgelöst. In den weiter bearbeiteten Fassungen werden dagegen die heidnisch-bedrohlichen Verlockungen bereits in der zweiten Strophe zitiert und in der Folgestrophe als ,Sirenengesang' bezeichnet. Die Hinwendung zu Gott wird in zweifacher Weise vorbereitet: durch die Selbstaufforderung ,zum Singen' und durch die Absage an die Neigung des Sprechers zum Imaginieren und Träumen. Durch den Vergleich mit der handschriftlichen Vorfassung wird deutlich, dass - so wäre zu interpolieren - die Selbstaufforderung zum Singen (zur Selbsterlösung durch Dichten) nicht ein Dichten im Sinne der träumerischen Erinnerung einer vergangenen Zeit meint, sondern sich in christlicher Orientierung auf das ,allein Wirkliche', das ewige Leben aus der Gnade Gottes, richtet.

Literatur Bormann, Alexander von 1968 Natura loquitur. Naturpoesie und emblematische Formel bei Joseph von Eichendorff. Tübingen. Eichendorff, Joseph von 1987 Werke. Bd. 1: Gedichte. Versepen, hg. von Hartwig Schultz. Frankfurt a.M. 1993 Sämtliche Werke des Freiherrn Joseph von Eichendorff. Historisch-kritische

130

1997

Jörg Schönert

Ausgabe. Bd. 1.1: Gedichte. Erster Teil. Text, hg. von Harry Fröhlich u. Ursula Regener. Stuttgart u.a. 1993 Sämtliche Werke des Freiherrn Joseph von Eichendorff. Historisch-kritische Ausgabe. Bd. 1.3: Gedichte. Zweiter Teil: Verstreute und nachgelassene Gedichte. Text, hg. von Ursula Regener. Tübingen.

Fröhlich, Harry 1994 Kommentar, in: Sämtliche Werke des Freiherrn Joseph von Eichendorff. Historisch-kritische Ausgabe. Bd. 1.2: Gedichte. Erster Teil. Kommentar. Stuttgart u.a.; zum „ N a c h r u f : S. 453-457. Peucker, Brigitte 1987 Lyric Descent in the German Romantic Tradition. New Haven / London; zu „Nachruf an meinen Bruder": S. 40-45; ferner S. 26-70: The Poetry of Transgression: Eichendorffs Venus and the Voices in the Ground. Piepmeier, Rainer 1989 Die Landschaft Eichendorffs. In: Evangelische Akademie Baden (Hg.): „Schläft ein Lied in allen Dingen". Natur, Romantik und Religion bei Joseph von Eichendorff. (Herrenaiber Protokolle 57). Karlsruhe, S. 44-75.

JÖRG SCHÖNERT

Heinrich Heine: „Im Hafen" (I) Glücklich der Mann, der den Hafen erreicht hat, Und hinter sich ließ das Meer und die Stürme, Und jetzo warm und ruhig sitzt Im guten Rathskeller zu Bremen. (ID

5

10

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Wie doch die Welt so traulich und lieblich Im Römerglas' sich wiederspiegelt, Und wie der wogende Mikrokosmus Sonnig hinabfließt in's durstige Herz! Alles erblick' ich im Glas, Alte und neue Völkergeschichte, Türken und Griechen, Hegel und Gans, Zitronenwälder und Wachtparaden, Berlin und Schiida und Tunis und Hamburg, Vor allem aber das Bild der Geliebten, Das Engelköpfchen auf Rheinweingoldgrund.

(III)

20

25

O, wie schön! wie schön bist du, Geliebte! Du bist wie eine Rose! Nicht wie die Rose von Schiras, Die hafisbesungene Nachtigallbraut; Nicht wie die Rose von Saron, Die heiligrothe, prophetengefeierte; Du bist wie die Ros' im Rathskeller zu Bremen! Das ist die Rose der Rosen, Je älter sie wird, je lieblicher blüht sie, Und ihr himmlischer Duft, er hat mich beseeligt, Er hat mich begeistert, er hat mich berauscht, Und hielt mich nicht fest, am Schöpfe fest, Der Rathskellermeister von Bremen, Ich wäre gepurzelt!

(IV) 30

35

Der brave Mann! Wir saßen beisammen Und tranken wie Brüder, Wir sprachen von hohen, heimlichen Dingen, Wir seufzten und sanken uns in die Arme, Und er hat mich bekehrt zum Glauben der Liebe, Ich trank auf das Wohl meiner bittersten Feinde, Und allen schlechten Poeten vergab ich, Wie einst mir selber vergeben soll werden, -

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40

Ich weinte vor Andacht, und endlich Erschlossen sich mir die Pforten des Heils, Wo die zwölf Apostel, die heil'gen Stückfässer, Schweigend pred'gen, und doch so verständlich Für alle Völker.

(V)

45

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Das sind Männer! Unscheinbar von außen, in hölzernen Röcklein, Sind sie von innen schöner und leuchtender Denn all die stolzen Leviten des Tempels, Und des Herodes Trabanten und Höflinge, Die goldgeschmückten, die purpurgekleideten Hab' ich doch immer gesagt Nicht unter ganz gemeinen Leuten, Nein, in der allerbesten Gesellschaft, Lebte beständig der König des Himmels.

(VI)

55

60

Hallelujah! Wie lieblich umwehen mich Die Palmen von Beth El! Wie duften die Myrrhen von Hebron! Wie rauscht der Jordan und taumelt vor Freude! Auch meine unsterbliche Seele taumelt, Und ich taum'le mit ihr und taumelnd Bringt mich die Treppe hinauf, an's Tagslicht, Der brave Rathskellermeister von Bremen.

(VII)

65

Du braver Rathskellermeister von Bremen! Siehst du, auf den Dächern der Häuser sitzen Die Engel und sind betrunken und singen; Die glühende Sonne dort oben Ist nur eine rothe betrunkene Nase, Und um die rothe Weltgeist-Nase Dreht sich die ganze, betrunkene Welt.

Heinrich Heine: Die Nordsee (1825/26), Zweiter Cyklus, IX, in: Heinrich Heine: Historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke, hg. von Manfred Windfuhr. Bd. 1.1: Buch der Lieder. Text, bearb. von Pierre Grappin. Hamburg 1975, S. 423-425.

Erzählt wird in diesem Text die fortschreitende Trunkenheit eines Heimgekehrten (V.l-4), der im „Rathskeller zu Bremen" (V.4) dem Weingenuss so lange frönt, bis er ,volltrunken' vom „Rathskellermeister" auf den Marktplatz „an's Tagslicht" (V.59f.) geführt wird. 1 Durch den Ver1

Zur Thematisierung des Weins und des Zechens im Werk Heines vgl. Kruse (1997), insbes. zu „Im Hafen": S. 290-293.

Heine: „Im Hafen"

133

weis auf die singenden Vögel (V.63, die Engel) liegt es nahe, dass „die glühende Sonne" (V.64) für den Sonnenaufgang steht und den Tagesbeginn (nach einer durchzechten Nacht) markiert. In der (Gedanken-)Rede des Zechers, die bis Vers 60 wie ein ,Innerer Monolog' angelegt ist und sich bis zu diesem Punkt an keinen (in der fiktiven Redesituation anwesenden) Adressaten richtet, mischen sich Feststellungen, emphatische Objekt- und Selbstbeschreibungen, Erinnerungen, Anspielungen auf unterschiedliche Wissenszusammenhänge und Lobpreisungen mit erzählenden Passagen, die retrospektiv (V.25-42) oder in zeitgleicher Rede zum Zechvorgang (beispielsweise V.57-67) verschiedene Stadien der Trunkenheit nach dem Skript,ausschweifendes Zechen' entstehen lassen. Berauscht ist der Sprecher nicht allein vom Wein, sondern auch vom Gedanken an die schöne Geliebte (V. 16-21), vom Bekehrungsgespräch mit dem Kellermeister, das ihn von emphatischen Aktionen der Nächstenliebe (im Sinne des Neuen Testaments) zum Genuss der „allerbesten" (V.51) ,Apostelweine' führt (V.40-42), und von den Imaginationen der biblischen Welt Palästinas (V.46-56). In der trunkenen Rede des Sprechers werden in einem karnevalesken Synkretismus Bestandteile des religiösen, philosophischen und literarischen Bildungswissens verbunden; sie purzeln' (vgl. V.29) und ,taumeln' (vgl. V.57f.) durcheinander und überhöhen in ironischer Weise die an sich triviale Erzählung einer Zecherei nach gut überstandener Schiffsreise. Der Basis-Frame für das dargestellte Geschehen ist die Handlungssituation des Zechens; sie wird überlagert von mehr oder weniger ausgeführten Frames zum Lobpreis der Geliebten, zur Erkenntnis der Welt und zur Repräsentation religiöser Erfahrungen. 1. Entstehung und erste Einordnungen Nach seinem ersten Aufenthalt auf Norderney im Juli 1823 besuchte Heine die ostfriesische Insel erneut vom 24. Juli bis etwa 15. September 1826. Während dieser Wochen entstand der zweite Zyklus von Die Nordsee mit einem kleineren Anteil der Texte, mit einem größeren Anteil während des sich anschließenden Aufenthaltes in Lüneburg (bis Ende Oktober / Anfang November 1826); in Bremen machte Heine um den 20. September 1826 Station.2 Im Kommentar der Werkausgabe spricht Pierre 2

Vgl. Heine (1975), S. 1054. Ob dieser Aufenthalt einen Ratskeller-Besuch eingeschlossen hat, ist für die hier beabsichtigte Analyse, die von der narrativen Organisation des Textes ausgeht, unerheblich. Ein - nicht notwendigerweise relevantes - biographisches Detail ergibt sich allerdings zum Aspekt der ,Bekehrung' (V.34): Heine wurde

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Grappin von den „großen hymnischen Gedichten" des zweiten Zyklus, die in ,freien Rhythmen' „Zeiterscheinungen, Mythologie und Kosmos miteinander [...] verbinden" und an die Hymnik des jungen Goethe erinnern. 3 Von der zeitgenössischen Kritik wird dagegen dem satirischen Element im Zyklus Gewicht gegeben. So ist „Im Hafen" 4 auch als Satyrspiel 5 zum hohen Ton und den bevorzugten Themen der Hymnen anzusehen. 6 In der durchgehenden ironischen Verknüpfung von semantisch kompatiblen, in ihrem kulturellen Wert jedoch disparaten Einheiten wird zunächst eine kosmologische und geschichtsphilosophische Thematik angesprochen. Das Motiv von der Welt, die sich im Weinglas widerspiegelt, ist eine Anspielung auf den persischen Becher Dschemschids. 7 Das Glas vermittelt dem Zecher eine Vielzahl von Visionen seiner Phantasie, die vom Alkoholgenuss beflügelt wird. Durch den Wein werde - so Grappin - der Becher „zu einem magischen Weltspiegel" und zum „Schlüssel zur Entdeckung der Schönheiten und Geheimnisse" 8 - das sei mit der Anspielung auf die Geschichtsphilosophie Hegels (seiner „Dechiffrierung der Geschichte", in der viele Epochen und Länder verbunden sind) das „eigentliche Thema" des Gedichts. 9 Es entzieht sich allerdings - so ist hinzuzufügen - dem Bewusstsein des Sprechers und wäre der Vermittlungsebene des abstrakten Autors zuzuordnen. Durch den Wein-Genuss werden in diesem Text die wiederkehrenden Elemente der Nordsee-Texte in krude Verbindungen gebracht - ver-

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Ende Juni 1825 getauft; vgl. auch Martens (2000) zu Heines Taufe und ihren Spuren in Nordsee I / II, insbes. S. 132. Das vom Sprecher des Gedichts erzählte weinselige Bekehrungsereignis vermindert in ironischer Weise die Bedeutung von ,Bekehrungen' im Sinne eines Religionswechsels, wie ihn Heine vollzogen hatte. Vgl. Heine (1975), S. 1000; vgl. auch Gabriel (1992), S. 181-192 (zur Hymnik in Die Nordsee), insbes. S. 181 f. Entstanden im Oktober 1826, Erstdruck 1827. Vgl. Heine (1975), S. 1055: „Im Hafen" wird als „burleskes Trinklied" bezeichnet. Gegenüber dieser Einordnung (mit ihrer Assoziation ftir das Lob von ,Wein, Weib und Gesang') ist das Erzählen über die fortschreitende Trunkenheit zu betonen. Ein Hauptthema des „Zweiten Zyklus" (aber weniger relevant fur „Im Hafen") sind Leiden, Groll und Enttäuschung ob eines fehlgeschlagenen Liebesverhältnisses, vgl. beispielsweise die Gedichte Nr. 3, 4, 5 u. 8. Heine (1975), S. 1055; Heine (1968), S. 760f.: Der Becher als ein extrem verkleinernder Spiegel des Kosmos. Heine (1975), S. 1055. Hegel las im Winter 1822/23 erstmals über „Philosophie der Weltgeschichte" an der Universität Berlin, wo auch sein Anhänger Eduard Gans lehrte; zu Heines Kritik an Gans' Übertritt zum protestantischen Glauben vgl. Martens (2000), S. 121f. u. S. 123f.

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bunden wird die preußische Moderne' mit der griechisch-römischen Antike, das Christentum mit dem Judentum, das Abendland mit dem Morgenland. Das eklektizistische Vermischen von disparaten Schemata der (eigentlich viel zu umfassend angelegten) Frames zu ,Welterkenntnis' und ,religiöser Bildung' ist ein fiktionsimmanentes Indiz für die fortschreitende Trunkenheit des Sprecher-Ichs.10 In der Organisation der (trunkenen) Rede des autodiegetischen Erzählers werden die Wirkungen des Weingenusses performativ ,zum Ausdruck' gebracht, da die Wahrnehmung der Szenerie und des Geschehens an die Sicht der Dinge durch diesen Erzähler gebunden ist. 2. Zur Organisation der Rede Für die Organisation der Rede sind die Leistungen des Sprechers von denen des abstrakten Autors zu unterscheiden. Dem abstrakten Autor sind offenkundige und verdeckte Aktionen zuzuschreiben, auf die hier vorab und dann weiterhin im Verlauf der Text-Analyse einzugehen ist. Die Metrisierung der Rede des autodiegetischen Erzählers, die Anordnung des Textes im Druck (der Zeilenbruch und die Strophengliederung) sind unabhängig vom Bewusstsein des Sprechers; der abstrakte Autor manipuliert gleichsam dessen Rede. Das metrische Grundmuster sind vierhebige Daktylen; die Zeilen werden zugunsten des Erzählflusses (befördert durch den Wein-Genuss) vielfach durch Enjambements verschränkt. Verzichtet wird auf Reimbindungen und auf die Gliederung in gleichförmige Strophen; der Text besteht aus sieben Strophen von unterschiedlicher Länge - von vier Zeilen (V. 1 -4) bis hin zu sechzehn Zeilen (V. 16-29). „Im Hafen" zeichnet sich durch einen hohen Anteil intertextueller Bezüge aus - durch Verweise auf andere Texte Heines (insbesondere auf Die Nordsee I / II), auf Texte anderer Autoren und auf das kurrente Bildungswissen. Damit wird - über das Bewusstsein des Sprechers hinausgehend - auf die kalkulierte Organisation der fingierten Rede des Trunkenen verwiesen: auf das poetische Verfahren, das Herausheben der Rede aus dem Alltagsgeschehen der Kommunikation. In diesem Sinne travestiert die Alkoholisierung den antiken Topos vom ,Kuss der Musen' zum ,Kuss des Alkohols' als Inspiration für den 10

Der Trunkenheit sind auch die Inkohärenz-Aspekte des Textes zuzuschreiben, auf die Perraudin (1986) verweist (S. 53).

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Dichter. Die zahlreichen Anspielungen auf andere Texte werden in den kommentierten Ausgaben zum Werk Heines nachgewiesen; hier sei nur pauschal verwiesen auf Bezüge zum Alten Testament (insbesondere zum Hohelied) und zum Neuen Testament, auf die ,großen Erzählungen' der Antike (insbesondere die Anspielungen auf Motive bei Homer und Horaz), auf den persischen Dichter Hafis, auf Goethes West-östlichen Divan, 11 auf die Trinklieder aus Des Knaben Wunderhorn.12 Zudem lässt sich (mit Michael Perraudin)13 das Motiv der Heimkehr auch auf den Abschluss von Heines zehnjähriger ,poetischer Fahrt' des Buches der Lieder beziehen. Die intertextuellen Aspekte eröffnen für „Im Hafen" einen ostentativen Zugriff auf ,hehre' konfessionelle und kulturelle Frames, der durch die Trunkenheit des Sprechers ironisiert ist: Einem nüchternen ,Alltagsdeutschen' - so ist anzunehmen - könnte das kundige Ausschweifen in die Kulturgeschichte des Morgen- und Abendlandes nicht zugetraut werden, das der Sprecher als ,Apostel' (inspiriert vom ,Heiligen Geist' des Weines) in seiner , Predigt' so „verständlich für alle Völker" praktiziert (V.41f.). Insbesondere über das Bildmotiv der Rose verschränken sich deutsche, persische und jüdische Kulturbereiche. Die Zitate und Anspielungen stehen in keinem kausal begründeten Zusammenhang; sie werden in , freier Assoziation' eingebracht. Die zahlreichen Wiederholungen und Variationen von semantischen Einheiten der Rede können als , Inszenierung' der Redeweise eines Zechers angesehen werden. Der Sprecher ist ein autodiegetischer Erzähler, der zunächst über sich selbst in der 3. Person spricht mit einem kurzen und pauschalen Rückblick auf die stürmische Schiffsreise und das Erreichen des Hafens (V.lf.) - in Bremerhaven, so wäre für die verkürzte Erzählung zu interpolieren und sodann seine Gedanken in ,Rede', in Gedankenrede, umsetzt. Er hat Platz genommen im „guten Rathskeller zu Bremen" (V.4), dem Ort für den synchronisierten Sprech- und Zechakt. Der hohe Ton, wie er etwa aus Homers Einkehr- und Heimkehr-Erzählungen der Odyssee vertraut ist, steht im ironischen Kontrast zur bürgerlich-alltäglichen Behaglichkeit (V.3: „warm und ruhig", V.5: „traulich und lieblich"), die es dem Erzähler angetan hat. Aus dem Verweis auf die „Geliebte", die er mit einer 11 12 13

Vgl. auch zu den D/ww-Bezügen Perraudin (1986), S. 43ff. Vgl. Kruse (1997), S. 290. Vgl. Perraudin (1986), S. 53f.; Perraudin setzt „Im Hafen" als ,Epilog' zum Buch der Lieder in Verbindung mit dem prologhaften Text „Die Weihe" (1816 entstanden, in der „Nachlese" zu „Junge Leiden", dem 1. Teil des Buches der Lieder).

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schönen Rose vergleicht (V.16f.)14 und die er - nach einer Folge von möglichen, aber nicht realisierten orientalischen' Vergleichen - mit der Rose des gordischen' Ratskellers, mit dessen berühmtem Rosewein, in Verbindung setzt, lässt sich der Ort der Rede im Blick auf ihren Verweiszusammenhang genauer ermitteln: Der Zecher befindet sich im dritten Schiff des Ratskellers; dort sind Wein, Rosen und Liebe das Thema der Deckenmalerei. 15 Der autodiegetische Erzähler referiert im Folgenden mit dem Pronomen der 1. Person auf sich selbst (V.9): Das Ich schildert in der simultanen Gedankenrede die Zech-Situation: „Alles erblick' ich im Glas". Der Makrokosmos wird im Glas zum „wogenden Mikrokosmos" (V.7) reduziert: Die Geheimnisse der Welt tun sich auf. Dabei verbinden sich (wie im Kunstprogramm der Weimarer Klassik) Altes und Neues, (wie in Goethes Divan) der Osten mit dem Westen - und schließlich auch Norden und Süden, das Preußentum und die Mittelmeerwelt. Der durstigen Kehle entspricht das „durstige Herz" (V.8): Es dürstet nach erhebenden sinnlichen Erfahrungen. Die ,poetologisch' naheliegende (und weiter berauschende) Erfüllung solcher Wünsche bringt das imaginierte Bild der Geliebten, 16 die einer „Rose" (V.17) gleicht: Der Liebesrausch wird noch gesteigert im Zechen des Roseweins. Das im Glase (V.14ff.) ,phantasmagorierte' Erscheinungsbild der Geliebten (womöglich das im Weinglas sich spiegelnde Deckenfresko des dritten Schiffes im Ratskeller?) führt zur lobpreisenden Anrede der Geliebten, die schließlich mit dem (nicht minder stimulierenden) Rosewein des Ratskellers verglichen wird: Ob jedoch auch für die Geliebte wie für die ,Rose im Fass', den Rosewein, gelten solle „Je älter sie wird, je lieblicher blüht sie" (V.24), bleibt - mit ironischem Vorzeichen - zu erwägen. Im semantischen Umfeld von Erotik und Sinnlichkeit wird die religiöse Semantik in absteigender Linie trivialisiert: „himmlischer Duft" - „er hat mich beseeligt" - „begeistert" - „berauscht" (V.25f.). Zwischen ,Himmel' und ,Alltag' kann der (vom Alkohol erregte) Enthusiasmus des Dichters vermitteln.

14

15 16

Vgl. Heines vielzitiertes Gedicht „Du bist wie eine Blume" im Buch der Lieder („Die Heimkehr", Nr. 47); zu „Rose" und „Nachtigallbraut" vgl. auch Oellers (1990), insbes. S. 136f. Vgl. Heine (1968), S. 762. Vgl. zur vielfachen Präsenz des ,holden Bildes' in Die Nordsee Gabriel (1992), S. 187f.

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Ab Vers 25 wird im Duktus der Erzählung ein Zeitsprung markiert, der - wie sich herausstellt - auch mit einem Ortswechsel verbunden ist. Aus einem späteren Stadium der Trunkenheit blickt der Sprecher zurück auf die ersten manifesten Folgen seines Zechens: Ohne Eingreifen des „Rathskellermeisters" wäre er „gepurzelt" (V.29). Wiederum lässt sich dieses semantische Element als Resultat aus dem Alltagsgeschehen ,Trunkenheit' in ironisch-travestierender Weise mit,Höherem' vermitteln - hier nämlich mit dem Frame ,Sündenfall'. Die Rede wechselt zuerst in das Perfekt (V.26), dann in das epische Präteritum (zunächst im Konjunktiv); gleichzeitig wird die zunehmende Trunkenheit angesprochen (V.26). Es entwickelt sich ein Geschehen, das in der figuralen Sicht des Sprechers zunächst dem Skript ,Zechen' folgt. Dann wird - so ,erlebt' es der Sprecher - dieses Skript 1 (wie die ,pictura' durch die ,subscriptio') durch ein neues Skript 2 in der Konstellation eines neuen Frame überlagert: dem Skript der religiösen Erhebung, bestehend aus den Elementen ,Bekehrung', ,Vergeben von Schuld', ,Einzug ins gelobte Land', A u f stieg in den Himmel'. Der Ratskellermeister steht im Anspielungszusammenhang des (Hafis zugeordneten) Schenken-Motivs.17 Zudem wird er - mit ironischem Vorzeichen - zur Postfiguration von Johannes dem Täufer, ja sogar von Christus: Er bekehrt zum rechten Glauben, und er lebt umgeben von den ,zwölf Aposteln'. In den Versen 25 bis 39 blickt der Sprecher zurück auf ein (ihn bekehrendes) Zechgespräch mit dem Ratskellermeister sowie auf den Einzug in das ,Apostelzimmer' des Ratskellers,18 der mit dem Einzug in das ,Gelobte Land' parallelisiert werden kann. Der Tempuswechsel in das Präteritum verweist auf einen Zeitsprung im Prozess der fingierten Narration; ab Vers 43 (deutlich ab V.53) sind der Fluss der Gedanken und die Rede wieder synchronisiert. Das gemeinsame Trinken mit dem (zuvor dem Sprecher noch unbekannten) Ratskellermeister folgt auch für den rückblickend erzählten Zeitraum dem Skript des Zechens; es kommt womöglich zur Verbrüderung mit dem Zechkumpan (V.31: „und tranken wie Brüder"), und wie zuvor wird das triviale Trinken ironisch verschränkt mit „hohen, heimlichen Dingen" (V.32) als einem anderen Frame. Der Sprecher, der sich nun als habituell streitbarer ,Poet' zu erkennen gibt, bekehrt sich zum „Glauben der Liebe" (V.34) (im Sinne des Neuen Testaments); mit den Formeln des Glaubensbekenntnisses vergibt er seinen Feinden, um für diese glaubens17

18

Vgl. Heine (1968), S. 762f. Auf Hafis verwiesen wird auch mit Schiras; der Geburtsort von Hafis war seiner Rosen wegen berühmt. Der Raum im Ratskeller mit zwölf Weinfässern, die nach den Aposteln benannt sind.

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starke Haltung auch selbst Vergebung für - so ist zu schließen - misslungene Poesie aus der eigenen Feder erhalten zu können. Dieser (pseudo-)religiöse Akt ist wiederum ironisch mit dem Trinken verbunden (V.35) und löst - gemäß dem Skript ,Zechen' - in selbstgefälliger Weise heftige Rührseligkeit aus: Der Sprecher „weinte vor Andacht" (V.38). Der Einzug in das ,Gelobte Land' ist travestiert als Eintritt in das ,Apostelzimmer' mit den zwölf Stückfässern. An diesem Ort wird nach Abschluss des Rückblicks die simultane Erzählung über die Zecherei (und die dadurch ausgelösten Imaginationen) fortgeführt. Die Rede des Sprechers geht also von unterschiedlichen Erzähl-Orten aus: dem dritten Schiff im Ratskeller sowie dem Apostelzimmer mit folgendem ,Aufstieg' über die Treppe zum Verlassen des Ratskellers und dem abschließenden Rundblick auf dem Marktplatz. Dass zwischen der ersten und zweiten Station für den Ablauf der Rede eine Zeitlücke entsteht, die durch eine Retrospektive (V.23ff.) überbrückt wird, ließe sich zweifach begründen: fiktionsimmanent als Bewusstseinsschwund durch Alkoholisierung, der zum Unterbrechen der Rede fuhrt, und auf der Ebene der Komposition des Textes, der Darbietungsebene, durch den Topik-Wechsel von der erotischen Liebe zur christlichen Nächstenliebe, von der erlebten Szenerie des Bremer Ratskellers zur imaginierten Kulisse des ,Gelobten Landes' (V.45-52) als einem üppigen Bezugspunkt für den Vergleich mit dem „unscheinbar" drapierten, aber im Inneren umso „leuchtenderen]" (V.44f.) Schatz der Weinfässer. Ab Vers 27 ist nicht mehr von Frauen, sondern nur noch von (zechfahigen) Männern die Rede: Der Lobpreis der Geliebten wird abgelöst vom Lobpreis der Männer, der Apostel-Weinfässer, der ,Vasallen' des „Königs des Himmels" (V.52), der hier implizit mit dem heidnischen Gott Bacchus gleichgesetzt ist und der den Glanz der Herrschaft des Herodes, des Königs der Juden, überbietet. Im Zuge der fortschreitenden Trunkenheit verliert der Sprecher die Kontrolle über den angelegten Vergleich zwischen den Erfahrungen eines zechenden Poeten im Bremer Ratskeller und der Machtfülle eines morgenländischen Herrschers, der daraus hinauslaufen sollte, dass den Zecher nichts dazu veranlassen könne, seine Existenz mit einem König zu tauschen. In den Versen 53 bis 56 wird der Sprecher mit Hilfe der entfesselten Einbildungskraft in der Tat in das , Gelobte Land' versetzt. Imaginationen, die in Strophe II noch im Spiegel des Glases zu erblicken sind, werden nun - im Zustand der fortgeschrittenen Trunkenheit - mit allen Sinnen erfahren (durch Spüren, Riechen, Hören und Sehen). Das unablässige Trinken des erzählenden Ichs

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ist als Reaktion auf die wirkungsreiche , Predigt' zu verstehen, die von den Apostel-Fässern ausgeht (V.41f.). Der Enthusiasmus des Sprechers, die ,Fülle seiner Gesichte', führt im Verein mit dem Alkoholgenuss schließlich zum Verlust der Selbstkontrolle, zum ,Taumeln' von Seele und Körper - und auch die Rede des Zechers taumelt von einer Alliteration zur anderen (V.57-59). Der offenkundig besonnenere Ratskellermeister fuhrt den Sprecher zur ,Ausnüchterung' aus dem Weinkeller an die frische Luft. In den Skripts für die religiös besetzten Geschehensabläufe, die der Sprecher imaginiert (das Bekehrungsgespräch mit nachfolgender Predigt zur Festigung des Glaubens und die ,Wallfahrt' in das ,Gelobte Land' - vgl. V.32-56), könnte dieser Aufstieg als Aufnahme in den Himmel,19 als ,Himmelfahrt' mit dem anschließenden Anblick des Herrschers des Himmels und der Heerscharen seiner Engel (vgl. die weltliche ,Parallelaktion' in den Versen 46 bis 52) verstanden werden. In der Schlussstrophe (V.61-67) wird die Gedanken-Anrede an die Geliebte (V. 16-22) durch die (reale oder wiederum nur imaginierte) Anrede an den Ratskellermeister ersetzt, um ihm eine Vision des Himmels als einer „betrunkene[n] Welt" (V.67) zu schildern, deren Mittelpunkt - Gott alias der Hegeische Weltgeist - selbst ein Trinker und als solcher zum Stiften von Ordnung unfähig ist. Die auf den Dächern sitzenden und singenden Vögel werden als Engel wahrgenommen; die aufgehende Sonne, der prächtige Himmelskörper, wird in der Sicht des Zechers zu einem Körperteil reduziert, der Nase eines Alkoholikers, und der christliche Glaube erscheint ebenso wie Hegels Geschichtsphilosophie als Halluzination eines Betrunkenen. Gemäß dem Skript ausschweifende Zecherei' setzt der betrunkene Sprecher seinen Zustand als den Zustand aller, den Zustand der Welt (der Erde und des Himmels) an. 3. Skripts und Ereignisse Auf der Ebene des erzählten Geschehens einer durchzechten Nacht, wird das entsprechende Skript 1 eingelöst; es ergeben sich keine ereignishaften Abweichungen, wenn man die trunkene Rede des Sprechers mit nüchternem Blick auf das ,reale' Geschehen reduziert. Die mit diesem Geschehen in der Darbietung verbundenen Erhebungen und Visionen, die sich bei dem zechenden Poeten (dem Sprecher-Ich) einstellen, unterscheiden 19

So träumte Jakob von der Himmelsleiter (1 Mos, 28); mit der Himmelsleiter ist die Ratskellertreppe in Verbindung zu setzen - vgl. Heine (1975), S. 1057.

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sich jedoch erheblich von den Redeweisen, die sich beim ,dumpfen Zechen' ergeben (vgl. etwa die Szene „Auerbachs Keller" in Faust I). Versteht man den Zechvorgang als ,pictura' und ordnet ihm in der ,subscriptio' eine zweite Geschehensfolge (Skript 2) zu, so lässt sich auch dafür ein Skript - nun ein religiöses für ,Bekehrung, Erweckung und Erlösung' - ansetzen: Abkehr von den Sinnesfreuden der Erotik, Bekehrung zu höheren Formen der Liebe, Festigung des Glaubens im Erlebnis einer Predigt, Einzug in das ,Gelobte Land' und Aufstieg in den Himmel. Diese Geschehensfolge ist - für sich genommen - zunächst eine stringente individuelle Heils- bzw. Erlösungsgeschichte, bis dann am Ende die himmlische Population als betrunken erscheint (als berauscht von Hegels Geschichtsphilosophie?) und die ,pictura' die ,subscriptio' überlagert. Damit wird ,ereignishaft' vom Skript 2 abgewichen und zudem die poetologische Regel zur emblematischen Konstruktion in der prinzipiellen Differenz von ,pictura' und ,subscriptio' gebrochen, so dass es auf der Ebene der Darbietung zu einem Ereignis kommt. Setzt man auch für die Organisation der Darbietung Skripts im Sinne von literaturgeschichtlich entwickelten Konventionen an, so entsteht bereits in der Strophe II ein Erwartungsbruch gegenüber der anakreontischen Tradition (die in der deutschsprachigen Lyrik in den Jahrzehnten um die Mitte des 18. Jahrhunderts Bedeutung hatte): Zunächst führt der Wein-Genuss nicht zum Schwelgen in den Freuden der Liebe, sondern mit dem Blick in ,Dschemschids Becher' zu Visionen von ,,alte[r] und neuefr] Völkergeschichte" (V.10) im Zeichen eines synkretistisch-additiven anti-hegelianischen Weltgeistes - erst dann kommt ,die Geliebte' in das Sprachspiel. Diese Abweichung wird vom Sprecher nicht als Handlungsabsicht herausgestellt; sie unterläuft ihm gleichsam. Bewusst ist dem Sprecher allerdings, dass er sich nicht mit dem Rühmen der Liebe begnügt, sondern dieses Rühmen mit dem emphatischen Lobpreis des ,Hauptfasses' des Weinkellers (V.22: der „Ros"') verdrängt. Diese Entscheidung zum gesteigerten Zechen wird dann sozusagen geadelt durch die Überlagerung mit Skript 2: Das Lob des Weines führt zum Lobpreis des Gottes - doch als der „König des Himmels" (V.52) erscheint schließlich das ,Hauptfass' des Bremer Ratskellers, das sinnbildlich für den heidnischen Gott Bacchus stehen könnte. Die Vielzahl der ironischen Verschränkungen von disparaten Frames im Sinne der travestierenden Säkularisierungen von Themen und Motiven jüdischer und christlicher Religiosität (wie beispielsweise die Travestie des Gebots des Neuen Testaments zur Nächstenliebe, das zur Tilgung von

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Kritik und Selbstkritik im Literaturbetrieb umgedeutet wird - vgl. V.36f.) unterlaufen einerseits unkontrolliert dem trunkenen Sprecher; andererseits sind sie als Kompositionsleistung dem abstrakten Autor zuzurechnen, der auf der Darbietungsebene die mäandernde Einbildungskraft des alkoholisierten Sprechers veranschaulicht und zugleich die ,Interessenpolitik' des realen Autors betreibt, der dem Vorwurf, er betreibe nur ,Hohn und Spott', mit Verweis auf die unzurechnungsfähige Rede seiner SprecherFigur begegnen kann. Was fiktionsimmanent durch die Trunkenheit motiviert ist, kann auf der Vermittlungsebene des abstrakten Autors vom Leser als ,nüchtern' kalkulierte Wirkungsabsicht bestimmt werden. In dieser Sicht erscheint die figural bestimmte Redeweise, in der das Ritual einer religiösen Bekehrung und Erlösung mit dem Zustand fortschreitender Trunkenheit verbunden wird, als ein ostentativ travestierender, ja blasphemischer Verstoß gegen die Gepflogenheiten im religiösen Sprechen - und in diesem Sinne wird ein ,Vermittlungsereignis' markiert. Es könnte zugleich jedoch - unter dem Aspekt der ,autonomen Poesie' - wieder aufgehoben werden, wenn die Rede des Sprechers als ,poetische Rede' begriffen wird, denn die poetische Rede kennt keine Tabus:20 Sie kann alles mit allem in Verbindung setzen. Insofern ist die Organisation dieser Figuren-Rede durch den abstrakten Autor auch der Hinweis auf ein poetologisches Programm: Redefreiheit' vollzieht sich unter dem Schutz der fingierten Trunkenheit.

Literatur Gabriel, Norbert 1992

Studien zur Geschichte der deutschen Hymne. München; zu Heine: S. 181 -192.

Heine, Heinrich 1968 Sämtliche Schriften, hg. von Klaus Briegleb. Bd. 1. Darmstadt; Kommentar zu „Die Nordsee": S. 746-764. 1975 Historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke, hg. von Manfred Windfuhr. Bd. 1.2: Buch der Lieder. Apparat, bearb. von Pierre Grappin. Hamburg; zu „Die Nordsee": S. 994-1058. Kruse, Joseph A. 1997 „Alles erblick' ich im Glas": Heinrich Heine über den „Mikrokosmos" Wein, in: ders. (Hg.): „Ich Narr des Glücks." Heinrich Heine 1797-1856. Bilder einer Ausstellung. Stuttgart, S. 286-296. 20

Das Sprecher-Ich hingegen würde nach seiner Ausnüchterung die freien Verknüpfungen des Disparaten und die Tabu-Verletzungen, die es in seiner trunkenen Rede vollzogen hat, nicht mehr aufrechterhalten.

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Martens, Gunter 2000 Heines Taufe und ihre Spuren in den Gedicht-Zyklen „Nordsee I" und „Nordsee II", in: Wolfgang Beutin u.a. (Hg.):,,Die Emanzipation des Volkes war die große Aufgabe unseres Lebens ". Hamburg, S. 119-132. Müller, Joachim 1972 Heines Nordseegedichte, in: ders.: Gesammelte Studien. Bd. 2: Von Schiller bis Heine. Halle a.d.S., S. 492-578. Oellers, Norbert 1990 Mehrfacher Schriftsinn. Rosen und Nachtigallen in Heines Lyrik, in: Heine-Jb. 29, S. 129-146. Perraudin, Michael 1986 „Anfang und Ende meines lyrischen Jugendlebens": Two Key Poems of Heine's Early Years, in: Seminar 22, S. 32-54.

JÖRG SCHÖNERT

Annette von Droste-Hülshoff: „Am letzten Tage des Jahres (Sylvester)" (i)

5

Das Jahr geht um, Der Faden rollt sich sausend ab. Ein Stündchen noch, das letzte heut, Und stäubend rieselt in sein Grab Was einstens war lebendge Zeit. Ich harre stumm.

(II)

10

'S ist tiefe Nacht! Ob wohl ein Auge offen noch? In diesen Mauern rüttelt dein Verrinnen, Zeit! Mir schaudert, doch Es will die letzte Stunde sein Einsam durchwacht.

(III)

15

Gesehen all, Was ich begangen und gedacht, Was mir aus Haupt und Herzen stieg, Das steht nun eine ernste Wacht Am Himmelsthor. Ο halber Sieg, Ο schwerer Fall!

(IV)

20

Wie reißt der Wind Am Fensterkreuze, ja es will Auf Sturmesfittigen das Jahr Zerstäuben, nicht ein Schatten still Verhauchen unterm Sternenklar. Du Sündenkind!

(V)

25

30

War nicht ein hohl Und heimlich Sausen jeder Tag In der vermorschten Brust Verließ, Wo langsam Stein an Stein zerbrach, Wenn es den kalten Odem stieß Vom starren Pol?

(VI)

Mein Lämpchen will Verlöschen, und begierig saugt Der Docht den letzten Tropfen Oel.

146

Jörg Schönert

35

Ist so mein Leben auch verraucht, Eröffnet sich des Grabes Höhl Mir schwarz und still?

(VII)

40

Wohl in dem Kreis, Den dieses Jahres Lauf umzieht, Mein Leben bricht: Ich wußt es lang! Und dennoch hat dies Herz geglüht In eitler Leidenschaften Drang. Mir brüht der Schweiß

(VIII)

45

Der tiefsten Angst Auf Stirn und Hand! - Wie, dämmert feucht Ein Stern dort durch die Wolken nicht? Wär es der Liebe Stern vielleicht, Dich scheltend mit dem trüben Licht, Daß du so bangst?

(IX) 50

Horch, welch Gesumm? Und wieder? Sterbemelodie! Die Glocke regt den ehrnen Mund. Ο Herr! ich falle auf das Knie: Sey gnädig meiner letzten Stund! Das Jahr ist um!

Annette von Droste-Hülshoff: Historisch-kritische Ausgabe. Bd. 4.1: Geistliche Text, bearb. von Winfried Woesler. Tübingen 1980, S. 165f.'

Dichtung.

1. Entstehung Mit den Arbeiten für die geplante Sammlung Geistliches Jahr in Liedern auf alle Sonn- und Festtage hatte Annette Droste-Hülshoff bereits im Alter von 23 Jahren begonnen. 2 Im Jahr 1820 waren die Texte fur den ersten Teil (vom Jahresbeginn bis einschließlich der Osterfeiertage) fertiggestellt; danach kam es zu einer langen Unterbrechung von fast 15 Jahren; die Arbeiten für den zweiten Teil wurden zunächst zögerlich und erst ab Sommer 1839 wieder intensiv aufgenommen; ein vorläufiger Abschluss wurde im Januar 1840 erreicht. „Am letzten Tage des Jahres" beschließt die Sammlung, die der zeitlichen Organisation des Kalender- und nicht des Kirchenjahres folgt. Der Text ist vermutlich im Zeitraum vom Dezember 1839 bis Januar 1840 ent1 2

Siehe dazu den Kommentar in Droste-Hülshoff (1992), S. 584-588. Dazu ebd., S. 256-284.

Droste-Hülshoff: „Am letzten Tage des Jahres (Sylvester)"

147

standen. 3 Im Druck erschien die vollständige Sammlung des Jahres erst (nach dem Tod der Autorin) im Jahr 1851.

Geistlichen

2. Intertextuelle Bezüge Abgesehen von den zahlreichen thematischen und bildlichen Bezügen zu Texten aus der Sammlung Geistliches Jahr4 ist zu verweisen auf drei weitere Silvester-Gedichte der Droste mit den Titeln „Neujahrsnacht", „Silvesterabend" und „Sylvesterfey". 5 Zudem liegt es im Zusammenhang der Thematik eines „Geistlichen Jahres" nahe, den Bezügen zur Bibel nachzugehen. Sie ergeben sich insbesondere für das Neue Testament - unter anderem für die Verse 1 lf. (Mk 14, 35-37; Mt 26, 39f.), 31 bis 33 (Mt 25, 1-13) und 42 bis 44 (Lk 22, 44). 6 Doch bringen sie für die textstrukturell bedingten Bedeutungszuschreibungen, zu denen die nachfolgende Analyse hinführen will, keine differenzierenden oder zusätzlichen Aspekte, so dass ich mich mit dem Nachweis begnüge.

3. Topik Das Geistliche Jahr steht in der Traditionsreihe der Lyrik-Zyklen zum Kirchenjahr, das allerdings Silvester nicht als Festtag aufführt. So finden sich in der Regel keine Silvester-Gedichte in der Themenreihe eines Kirchenjahr-Zyklus. Damit ist ein Gedicht auf das Jahresende nicht an eine diesem Tag zugewiesene Bibelstelle (Perikope) gebunden und frei im Aufnehmen religiöser Themen. 7 Zudem kann an die Praxis der geistlichen und weltlichen Gelegenheitsgedichte zum Silvestertag angeknüpft werden. Der Jahreswechsel stellt eine Zäsur im bürgerlichen Alltagsgeschehen' dar. Im Münsterland wurde im 19. Jahrhundert Silvester vor allem als Tag der Rückschau und Besinnung verstanden - so auch mit dem Brauch der Silvester-Briefe, in denen die persönlichen Empfindungen und Erwartungen an das kommende Jahr aufgeschrieben wurden, um diese Briefe dann am Silvestertag des nächsten Jahres zu lesen und am Geschehen des abgelaufenen Jahres zu prüfen. 8 Auf eine solche (allerdings modi3 4 5 6 7 8

Vgl. Woesler (1983), S. 148. Vgl. dazu insbes. Berning (1975); auch Woesler (1983). Droste-Hülshoff (1985), S. 170-172, 368f. u. 331-333. Vgl. Droste-Hülshoff (1992), S. 586. Vgl. dazu Berning (1975), S. 190. Vgl. Droste-Hülshoff (1992), S. 586.

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fizierte) Situation der Selbstprüfung sind die Gedanken und Selbstgespräche des Sprechers oder der Sprecherin in dem Silvester-Gedicht der Droste bezogen;9 es sind also primär nicht Erfahrungen der Christengemeinde im Ablauf des Kirchenjahres, von denen ausgegangen wird, sondern es ist die ,Geschichte' eines Ich. Dieses Subjekt (im Folgenden: die Sprecherin) ist nicht eingebunden in ein gemeinschaftliches Brauchtum der Besinnlichkeit, sondern hat sich zurückgezogen und will die letzte Stunde des Jahres „einsam" durchwachen (V.12). Die Gedanken und Gefühle richten sich nicht auf das ,neue Jahr'; sie gelten dem Hinsterben des vollendeten alten Jahres und der Endlichkeit des menschlichen Lebens.10 Erst mit der akustischen Verbindung zum mitternächtlichen Gottesdienst der Gemeinde (dem „Gesumm" - V.49) und dem Neujahrsläuten (auch einem Brauchtum des Münsterlandes)11 wird zum Ende des Gedichts die ,Absonderung' der Sprecherin aufgebrochen und ihre Hinwendung zu Gott, dem Herrn über Leben und Tod, unterstützt (vgl. V.52f.); diese Bewegung setzt mit dem Anblick eines - durch die Wolkenmassen der Sturmnacht schimmernden - (Hoffnungs-)Sternes (vgl. V.44f) ein. 4. Frames und Sprechsituation Wie bereits angesprochen bestimmen die alltagskulturellen Frames Silvesternacht / Jahresende' (als situativer Frame) und .Selbstbesinnung und Selbstprüfung' (als thematischer Frame) die Rede der Sprecherin, die in einer autodiegetischen Rolle im raffenden Erzählen - prinzipiell aber synchron zu ihren Erfahrungen und Erinnerungen oder ihren Vorstellungen und Reflexionen - im Tempus des Präsens der verrinnenden Zeit der letzten Stunde des Jahres folgt. Der Zeitpunkt für den Beginn der Wiedergabe von Gedanken und dem (V.6: ,,stumm[en]") Selbstgespräch zur Selbstbesinnung der Sprecherin y

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Da im Text keine ,gender'-Markierung für die redetragende Instanz zu finden ist, entscheide ich mich für ,Sprecherin', ohne damit eine prinzipielle Nähe des .Lyrischen Ich' zur realen Autorin nahelegen zu wollen. Dieser allgemein-existenzielle Aspekt ist wichtig; auch wenn sich Todesfurcht und Todesangst in der Rede der Sprecherin mit der gesundheitlichen und psychischen Situation der Autorin im Entstehungszeitraum des Gedichts in Beziehung setzen lassen (vgl. ihren Brief an Wilhelm Junkmann vom 17.11.1839 - Droste-Hülshoff [1992], S. 586): Das Silvester-Gedicht ist nicht als autobiographisch gestütztes .Erlebnisgedicht' zu verstehen. Vgl. ebd., S. 587.

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ist fixiert auf 23.00 Uhr am Silvestertag eines unbestimmten Jahres. Die Sprecherin befindet sich allein (vgl. V.12) im Zimmer eines Hauses.12 Die fiktive Zeit der Gedankenrede beträgt eine Stunde - bis zum Läuten der Neujahrsglocken um 0.00 Uhr. Die sinnlichen Erfahrungen von Zuständen und Zustandsveränderungen - „tiefe Nacht" (V.7); ein Sturm, der um das Haus tobt (vgl. V.19); 13 das verlöschende Öllämpchen (vgl. V.31); heißer (Angst-)Schweiß auf Stirn und Hand (vgl. V.42-44); ein hinter den Wolken sichtbarer Stern (vgl. V.44f.); das Läuten der Glocken (vgl. V.51) - sowie die Selbstprüfungen werden mit dem Wahrnehmen zugleich in der Rede vermittelt: in einem mimetischen Modus als Monolog der Sprecherin, der jedoch narrativen Mustern - bezogen auf die oben beschriebenen Zustandsveränderungen - folgt. Im Zuge der Gedanken ergeben sich mehrere Retrospektiven (vgl. V.13-15, 25-30, 34 u. 40f.), die mit wachsender Konkretheit ,Sünden' aus der Vergangenheit gelten. Die Gedanken und Erfahrungen werden vielfach als Fragen (vgl. V.8, 25-30, 3436 u. 44-50) oder als Exklamationen formuliert (vgl. V.8, 10, 17f., 19-24, 39, 50, 52 u. 53f.). Die Sprecherin redet sich selbst an (vgl. V.24); und sie redet ,die Zeit' an (vgl. V.10) sowie Gott, den „Herrn" (V.52). 5. Zur formalen Organisation der Rede Die emotional und gedanklich komplex angelegte Rede der Sprecherin ist in neun gleichförmige sechszeilige jambische Strophen mit zwei zweihebigen (in Zeile 1 und 6) und vier vierhebigen Versen mit stets männlichem' Ausgang gegliedert. Das - nicht gerade gängige - Reimschema (ab-c-b-c-a) grenzt durch den ,umarmenden Reim' von erster und letzter Zeile die einzelne Strophe als eigenständige Einheit im Redeverlauf ab. Doch wird diese ,Autonomie' durch den drängenden Fluss der Rede (in der drängenden Zeit der letzten Stunde des Jahres) in Frage gestellt. Diesen Fluss unterstützen zahlreiche Zeilen-Enjambements (nicht in der ersten und letzten Strophe) sowie das kühne Strophen-Enjambement zwischen Strophe VII und VIII.

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Diese Einsamkeit (vgl. V.12) verweist auch auf die Situation von Jesus Christus im Garten von Gethsemani in der Nacht vor seiner Kreuzigung (Mk 14, 35-37; Mt 26, 39). Zu den Aspekten im säkularen Verständnis der letzten Nacht des Jahres gehört die Vorstellung, dass in dieser Nacht Wotans wütendes Heer herrsche (und im Sturm tobe) vgl. Woesler (1983), S. 148.

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6. Skripts und Ereignisse Insgesamt liegen der Rede drei Skripts zugrunde. Als Skript 1 ist der kalendarische Ablauf des Jahres anzusetzen, als Skript 2 die mit dem Verrinnen der Zeit in der letzten Stunde des Jahres verbundene Selbsterkundung und Bilanz eines von Verfehlungen geprägten und dem Sterben zulaufenden Lebens. Skript 2 wird von der Sprecherin dem Skript 1 (der sinnlich erfahrenen Situation der letzten Stunde des Jahres) wie die ,subscriptio' einer ,pictura' zugeordnet: In Misserfolg, Krankheit und Verschuldung zerrinnt das Leben hin zum Tode. Aus dieser Zuordnung resultiert die im Gedicht vermittelte Rede im Sinne des - liturgisch fundierten - Skripts 3 von Gewissenserforschung, Sündenbekenntnis (V.13f. entspricht dem liturgischen Sündenbekenntnis „quia peccavi nimis cogitatione, verbo et opere") 14 und Selbstgericht sowie der abschließenden Bitte um die Gnade Gottes: „Sey gnädig meiner letzten Stund" (V.52f.). 15 Diese Bitte kann zudem als ,inscriptio' der emblematischen Konstellation angesehen werden. Von Skript 1 sind die Strophen I, II und IV bestimmt, von Skript 2 die Strophen III und V. In den letzten vier Strophen werden Skript 1 und 2 miteinander verschränkt (punktuell in „meiner letzten Stund" - V.53); das von Anfang an ,mitlaufende' Skript 3 wird in der letzten Strophe in besonderer Weise markiert. Die konkreten Erfahrungen und die erinnernden Gedanken der Sprecherin werden in dem von ihr erlebten und zeitgleich erzählten Geschehen der letzten Stunde des Jahres mit allen Sinnen erfasst und sinnbildlich verdeutlicht. Die Sprecherin nimmt die Szenerie ihres Zimmers und den um das Haus tobenden Sturm mit Augen und Ohren wahr; sie spürt körperlich das Unwetter; die heftige äußere und innere Unruhe treiben ihr ,brühenden' Angstschweiß „auf Stirn und Hand" (V.42-44). Doch kommt es weder im Bezug auf Skript 1 noch auf Skript 2 zu einem Ereignis im emphatischen Sinne, zu Abweichungen von den zu erwartenden Abläufen. Die Ereignishaftigkeit der in Gedichtform angelegten Erzählung ist in der darin vermittelten religiösen Einstellung der Sprecherin zu suchen - in ihrer existenziellen, kreatürlich-körperlich vermittelten Angst vor dem Selbstgericht und dem Gericht Gottes, die es zunächst unwahrscheinlich erscheinen lässt, dass Skript 1 und Skript 2 in den liturgisch vorgeordneten Prozess von Skript 3 mit dem Ziel eines Gnadenerweises 14 15

Vgl. Droste-Hülshoff (1992), S. 587. Dieses Skript 3 wird in der ,existenzialistisch-nihilistischen' Lektüre des Gedichts durch Freund (1997) völlig ausgespart.

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eingeordnet werden können. Diese Skepsis nährt sich aus der Entschiedenheit, mit der die Sprecherin gegenüber der christlichen Verkündigung eines ,ewigen Lebens' dem Zweifel an einer solchen Verheißung Raum gibt (vgl. den umarmenden Reim der achten Strophe: „Angst" und „du bangst")16 und im Sterben des sündigen Menschen seine Selbstauflösung, den Eintritt in ein Nichts fürchtet. Das Darbietungsereignis soll im Fortgang der Text-Analyse noch genauer herausgearbeitet werden. Die in der Gedankenrede der Sprecherin vermittelte Erfahrung der letzten Stunde des Jahres ist von Anfang an sinnlich-konkret und zugleich sinnbildlich organisiert: Zum einen wird ein Vorrat an Zeit verbraucht (in den Bildern des Lebensfadens [vgl. V.2], der Sanduhr [vgl. V.4f.], des Öllämpchens [vgl. V.31-33]), zum anderen soll ein menschlicher Körper zerbrochen, aufgelöst und wie die vergehende Zeit,zerstäubt' (vgl. V.4 u. 22) werden.17 Der Sturm der Silvesternacht bedroht das festgefügte Haus; es steht sinnbildlich für den Körper und mit einem seiner Räume für die Seele, das Gewissen der Sprecherin (V.27: „der vermorschten Brust Verließ"). Die aktuelle Erfahrung dieses Silvester-Sturms wird mit den Bestürmungen der Gewissenspein verbunden, die von der Sprecherin, dem „Sündenkind" (V.24), lebenslang als ein „hohl und heimlich Sausen" (V.25f.) wahrgenommen wurde - gesteigert in von außen wirkenden Bedrohungen der Körperlichkeit durch den kalten Wind aus der Nordpolregion (vgl. V.29f.), der Festgefügtes zu brechen und aufzulösen vermag (vgl. V.28). Auf der sinnbildlichen Ebene gilt dieses Bestürmen auch dem zeitlichen Zusammenhang eines Kalenderjahres, das in seinen letzten Stunden vom Sturm zerrieben und „zerstäubt" wird (V.21f.). Damit werden Kalenderzeit und Lebenszeit der Sprecherin in Analogie gesetzt (vgl. auch V.31-34), um diese Verschränkung in die Stationen von Skript 3 zu überführen. Für die Erfahrungssituation ,Silvester' wird dabei nicht der Aspekt der Jahreswende (des Ineinander von ,altem' und ,neuem' Jahr) herausgestellt, sondern der auf einen Endpunkt bezogene Ablauf des Kalenderjahres: Das Jahr „geht um" (V.l); die ,Zeit ist um', das Jahr ,stirbt' (vgl. V.5), so wie ein Mensch sterben muss. Heftige Angst vor dem Verlöschen des eigenen Lebens erwächst aus dem Erinnern von Lebensschuld, von sündhaftem Tun und Denken (vgl. 16 17

Vgl. dazu auch Woesler (1983), S. 154. Mit Bezug auf Gen 3, 19, wonach der Mensch aus Staub geschaffen wird und zu Staub werde.

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V.13-15),18 wodurch die Gnaden Verheißung eines ewigen Lebens verwirkt sein könnte: Wenn ,im Himmel' das Gute und Schlechte im Leben der Sprecherin abzuwägen wären, stünden die Waagschalen im Gleichgewicht, wenn nicht gar die Sünde schwerer zu wiegen drohte (vgl. V.1618). Die Angst der Sprecherin - als Resultat der Selbstbesinnung, der Erinnerungen an den Ablauf ihres Lebens und der Furcht vor der Dunkelheit und dem Sturm der Silvesternacht - bestimmt ab Strophe VI im Sinne von Todesangst ihre Rede: Noch im zeitlichen Zusammenhang des seinem Ende zugehenden Jahres könnte das Leben der Sprecherin ge- oder zerbrochen werden (vgl. V.37-39). Daraus erwächst die Furcht, dass am Ende eines Sündenlebens nicht die Aufnahme ,in den Himmel' stehen könnte, sondern der Sturz ,in die Hölle' (vgl. die Assonanz mit „des Grabes Höhl" - V.35) oder - im Ausblenden der religiösen Dimension der Zerfall des Körpers im Grab, das in der Wahrnehmung der Sprecherin (in der Frageform) als „schwarz und still", als das (durch die Sinne nicht mehr wahrnehmbare) Nichts erscheint (V.36). Angst und seelische Erschütterung werden geradezu ,naturalistisch' durch intensive Erfahrungen der (von der Auflösung bedrohten) Körperlichkeit verdeutlicht - in der Prosodie des kühnen Strophen-Enjambements (V.42f.) und in der intensivierenden Assonanz (dem Binnenreim) von ,geglüht' und ,brüht' (vgl. V.40 u. 42): Die (zur Sünde geneigte) Leidenschaftlichkeit im Wahrnehmen des Lebens endet gleichsam im ,Selbstverbrühen' des Ichs, in einer tödlichen Selbstbestrafung als Folge des Selbstgerichts, das in der Gedankenrede der letzten Stunde des Jahres in Gang gesetzt wurde. An diesen Höhepunkt der ersten Sequenz (die von Skript 1 und 2 bestimmt ist) schließt in der zweiten Hälfte (vgl. V.44ff.) eine zweite (tendenziell gegenläufige) Sequenz an, die sich an Skript 3 orientiert: Zwar wird die Angst darin nicht aufgehoben (V.50: „Sterbemelodie", V.53: die „letzte Stund"), jedoch vermengt (vgl. das ,dämmerige' und „trübe" Licht des Sternes - V.44 u. 47) mit Hoffnung auf Vergebung der Sünden und die Gnade Gottes. Es liegt nahe, das akustisch wahrzunehmende „Gesumm" (V.49) wie das visuell wahrzunehmende Dämmerige und Trübe als ,Gemengelage' von Angst und Hoffnung zu verstehen, aus der die konkretisierende Wahrnehmung des ,,Gesumm[es]" als Gesang der Gemeinde im Neujahrsgottesdienst erwachsen könnte. Zunächst wäre das „Gesumm" in der Isotopie von Windes- und Sturmeserfahrungen (vgl. bereits in V.2: „sausend") auf entsprechende Geräusche zu beziehen: Der 18

Diese Lebensschuld baut sich gleich einer mahnenden „ernsten Wacht" (V.16) am Himmelstor auf.

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Sturm hat sich gelegt; er ,heult' nicht mehr (das „Gesumm" kann zudem gleichsam der ,verinnerlichte' Wind sein, vgl. das „hohl und heimlich Sausen" - V.25f.). Die Sprecherin kann das „Gesumm" jedoch nicht mit Sicherheit bestimmen. Es könnte sich auf den von fern her tönenden festlichen Gesang der Kirchengemeinde beziehen; es könnte aber auch das in ihrem Inneren aufsteigende Lied der Todgeweihten sein, ihre „Sterbemelodie" (V.50). Übertönt wird das „Gesumm" schließlich durch den lauten Klang der Glocken (V.51); er ist als Drohung („ehern") und zugleich auch als Verheißung der (ehernen) ewig währenden Gnade Gottes in die ambivalente Konstellation von Angst und Hoffnung einzuordnen, von der die Schlussverse bestimmt sind. Die letzten beiden Zeilen nehmen nochmals auf Skript 1 und 2 Bezug; in der letzten Zeile ist dabei jedoch Skript 2 (das Verrinnen des Lebens) suspendiert; aufgenommen wird die erste Zeile (die konkrete Ausgangssituation für die Rede der Sprecherin), die nun variiert wird: Der Vorgang des Aufzehrens der letzten Stunde des Jahres ist abgeschlossen, „Das Jahr ist um"; vom ablaufenden ,Leben' ist jedoch nicht mehr die Rede. Der Anruf Gottes und die Bitte um Gnade (vgl. V.52f.) haben Bestand; das ,Bangen' (vgl. V.48) könnte durch vertrauensvolles Hoffen abgelöst sein. In dem Skript zur Organisation der Rede als ,Selbsterforschung des sündigen Menschen' wäre ein solches Gottvertrauen (als dogmatisch geforderte Haltung) nur schwach ,ereignishaft'; diese Ereignishaftigkeit wird jedoch in der vermittelten Rede dadurch verstärkt, dass die vorausgehende und tief verstörende Erfahrung von Schuld und Angst die Notwendigkeit von Gottes Hilfe umso mehr unterstreicht (nicht als Abweichung von Skript 3, sondern als Intensivierung des Verlangens nach seinem konventionell vorgesehenen Abschluss). 7. Fokalisierung und Akteure In der autodiegetischen Konstellation der Erzählung zum Verlauf der letzten Stunde des Jahres (und ihrer Korrelation mit der Selbstbeobachtung der Sprecherin) werden die sinnlich erfassbaren Geschehnisse der Umwelt sowie die Gefühle und Gedanken der Sprecherin vermittelt; die Rezipienten werden in die Lage versetzt, der Rede in Mitsicht mit der Wahrnehmung und Einstellung der Sprecherin zu folgen und zudem Einsicht in den , Seelenraum' des erlebenden und erzählenden Ichs zu gewinnen. Die im Kalenderjahr ablaufende Zeit wird personifiziert und in Analogie zur Lebenszeit des Menschen gesetzt. Die ,Kalender-Zeit' ist „leben-

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dig" (V.5), mit dem Ablauf des Jahres ist sie ,gestorben'- sie ist ,tot'. Das ,Verrinnen' wird sinnlich konkretisiert als ,stäubendes (zerstäubendes) Herabrieseln' (vgl. V.4), als „Zerstäuben" (V.22) und „[nicht] Verhauchen" (V.23), als „Verlöschen" (V.32) und „Verrauchen" (V.34). In dieser Isotopie ist vor allem für „Verstäuben" semantisch markiert, dass das Verrinnen der Zeit nicht nach ,ihrem Willen' geschieht, sondern einem , fremden Gesetz' folgt und dass eine Kraft von außen auf die ablaufende Zeit ebenso einwirkt wie auf den schwindenden Lebenswillen der Sprecherin. Das „Lämpchen" (das ,Lebenslicht') „will" (V.31) nicht ,sua sponte' verlöschen, sondern es muss verlöschen, weil der Lebenswille' an dem nur noch geringen Öl- (und Zeit-)Vorrat „begierig saugt" (V.32). Dem Verlöschen der Lampe entspricht das Brechen des menschlichen Lebens (V.39, vgl. auch V.28). Diese Verweise auf gewalthafte Auflösungsvorgänge, die mit dem Leben im Wissen um seine Endlichkeit verbunden werden, fügen sich nicht dem christlichen Dogma vom Auferstehen der Toten' in einer - wie auch immer zu verstehenden - Restitution eines unversehrten Subjekts, das die Gnade Gottes empfängt. Als weiterer Akteur (und , Widersacher' der sich dem Verrinnen widersetzenden Zeit des Kalenderjahres - vgl. V.21f.) erscheint - ebenfalls personifiziert - der Sturm, der am Haus (an der Existenz der Sprecherin) „reißt" und rüttelt (V.19), der in modifizierter Erscheinung - so wird in der Retrospektive berichtet - bereits seit langem (synchron zum sündigen Handeln der Sprecherin) zerstörend auf die Sprecherin einwirkt (vgl. V.25-30). Schließlich wird das Geläute zur Neujahrsnacht personifiziert: Die Glocke „regt [...] den ehrnen Mund" (V.51), sie spricht zum Ich eher bedrohlich (,ehern') als tröstend - und doch wird durch das Geläute (im Sinne des Skripts 3) der liturgische Anruf Gottes, die Bitte um Gnade ausgelöst in der ,ehernen' Gewissheit, dass Gott den reuigen Sünder erhöre. Diese Glaubensstärke war der Sprecherin in ihrer „tiefsten Angst" (V.43), im ,Bangen' (vgl. V.48) beinahe verloren gegangen. Ihre Rede hindurch liegen Glaubensgewissheit und Zweifel im Widerstreit. Dabei bleibt die einsame Sprecherin (vgl. V.12) ohne Hilfe von anderen, von unangefochtenen Gläubigen, von der Gemeinde.19 Erst das „Gesumm" (V.49) - deutbar als Gemeindegesang - und das Neujahrsläuten sorgen für ein Abwenden von der Verunsicherung im Glauben durch die subjektive Erfahrung von Schuld und Sünde. Doch bleibt - insgesamt gesehen für das ,Handlungssubjekt', die Sprecherin, die Position eines Helfers zum Erlangen des ,Wunschobjektes', der Gnade Gottes, unbesetzt. 19

Vgl. zur „Isolation des Subjekts" auch Freund (1997), S. 79.

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8. Isotopien In Verbindung mit ihrer subjektiv wahrgenommenen ,Lebensschuld' werden der Sprecherin die Erfahrungen der verrinnenden Zeit zu Bedrohungen ihrer Existenz: Der Faden rollt ab (vgl. V.2), das Lämpchen verlöscht (vgl. V.31), das „Leben bricht" (V.39). Die semantische Reihe ,Verfall, Tod, Leichnam' wird aufgenommen in ,Grab,20 Verließ, Höhle' (V.4 sowie 27-34) und in den Erscheinungsweisen des Todes mit „schwarz und still" (V.36) sowie in den Prozessen des Sterbens im Sinne von ,zerstäuben, verrauchen, vermorschen, zerbrechen'. Sie stehen zum einen im Kontrast zu den Erscheinungsformen des intensiven Lebens (in ,Glut' und Leidenschaft - vgl. V.40f.), zum anderen zu denen des Vertrauens in die Gnade Gottes, das sich in der Hoffnung auf die Liebe Gottes und das Hoffhungslicht eines Himmelssterns (vgl. V.45f.) äußert.21 In ihrer quantitativen Repräsentation verweisen die Isotopien darauf, dass in der - zum Ende der Rede hergestellten - ambivalenten Konstellation zwischen Angst und Hoffnung unterschwellig doch die Angstmomente dominieren (vgl. auch die Reihenfolge in V.17f.: „O halber Sieg / Ο schwerer Fall!"): Das vom Dogma geforderte Gottvertrauen wird nur mit Mühen durchgesetzt. Und selbst dann, wenn das Gebet um Gnade formuliert ist, wird die Antwort an die reuige Sünderin im Sinne der kirchlichen Dogmatik ausgespart. Die schuld- und angstbesetzte Selbsterforschung wird gleichsam übertönt vom Neujahrsläuten - und dieses Ritual zieht die liturgische Konvention des Kniefalls nach sich. So wird die Auseinandersetzung mit den persönlichen Problemen der Sprecherin mit einer affektiv -rituellen Aktion (vgl. V.52f.) abgebrochen, aber noch nicht endgültig aufgelöst: Die - nach Skript 3 - erhoffte Gewissheit der Gnade Gottes bleibt unausgesprochen. 9. Sinnliches und sinnbildliches Erzählen Die religiöse Praxis der Gewissenserforschung zum Erkennen von sündhaftem Handeln, zum Bekennen der Schuld und der Bitte um ,gnädige' Vergebung (vgl. V.53) erhält in der Sprechsituation des Gedichtes eine doppelte Emphase: zum einen in der besonderen Situation der letzten 20

21

Das ,Grab' erscheint zunächst (vgl. V.4) noch ,undramatisch' als Gefäß, das in der Sanduhr den herabrinnenden Sand aufnimmt. Der einzelne Stern erinnert an das „Sternenklar" (V.23), das von der Sprecherin in der Sturmnacht vermisst wurde.

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Stunde im Jahr (als Jahresbilanz), zum anderen in der - von der Sprecherin selbst hergestellten - sinnbildlichen Situation der möglichen letzten Stunde des Lebens (als Lebensbilanz). Als Muster religiöser Praxis ist vorgegeben, was in der lyrischen Praxis vielfach in säkularisierter Weise zu finden ist:22 das Verfahren der Selbstkonstitution durch Selbsterforschung und Selbstadressierung. 23 Auf der Ebene des konkreten Geschehens wäre eine Sequenz ohne eigentliches Ereignis anzusetzen; sie bezieht sich auf das von außen vorbestimmte Verrinnen von Zeit in einem besonderen Zeitraum, in der letzten Stunde des Jahres. Auf der zugeordneten sinnbildlichen Ebene (dem Verrinnen des Lebens) wird das Geschehen nicht zu einem Ende gefuhrt, sondern der Tod nur prospektiv gesetzt. Die ,Geschichte', die auf der Grundlage von Skript 2 erzählt wird, erreicht für den vermittelten Prozess der Gedankenrede - für das Erkennen des schuldbeladenen (sündigen) Lebens, das Bereuen, die Bitte um Gnade - keinen Endpunkt: Ob das ,ewige Leben' gewonnen oder verloren werden kann (ob „Sieg" oder „Fall" - V.17f.), ob der Bitte um Gnade entsprochen wird, bleibt offen. Demgemäß richtet sich auch das Interesse des Adressaten für die Rede der Sprecherin letztlich nicht auf das vermittelte Geschehen (das ,Was'), sondern auf das ,Wie' der Vermittlung. Stephan Berning hat herausgearbeitet, wie im Vollzug der Rede des Gedichts fortschreitend die konkrete ,Hier-und-Jetzt'-Situation durch sinnbildliche Bezüge überlagert wird, 24 so dass die Bedeutungsebenen des verrinnenden Jahres und des verrinnenden Lebens in ein „gleichnishaftes Analogieverhältnis treten": 25 Dabei wird die Sinnbildlichkeit der Aussagen zum einen durch topische Vorgaben hergestellt (wie durch die Sanduhr oder die Öllampe), zum anderen erst im Vollzug der Rede entwickelt.26 Als signifikant für die Darbietung und als ereignishafte Abwei22

23 24

25 26

Dieser Aspekt wäre etwa im Anschluss an Hillmann (2005) darzustellen, der seinen Uberblick zu Säkularisationsvorgängen in der deutschsprachigen Lyrik allerdings mit Bezügen auf Eichendorff abschließt. Vgl. dazu auch Heselhaus (1957), S. 160f. Vgl. Berning (1975), S. 191. Zu ergänzen wäre noch, dass die Sturm-Nacht der Jahreswende auch in sinnbildlicher Beziehung zur Zeitenwende von Apokalypse und Jüngstem Gericht steht, die durch einen Sturm angekündigt werden. Ebd., S. 188. Dazu ebd.: „Die religiöse Sinnbilddeutung ist nicht in einer statischen, abgeschlossenen Form gegeben, etwa in einer allegorischen Bildlichkeit, in verfestigten Topoi oder klaren Begriffen, sondern sie entsteht stattdessen erst innerhalb des Gedichts in einem aktualen Vorgang der Sinnkonstitution"; vgl. auch S. 193f.

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chung von der - im Sinne religiöser Dogmatik - zu erwartenden Folge von Wahrnehmungen und Gedanken kann angesehen werden, dass das Konkret-Sinnliche (die ,pictura'-Ebene) in der Lektüre mehr Wirkung hinterlässt als die ausdeutende Begrifflichkeit (im Sinne der ,subscriptio'); damit ergibt sich ein Darbietungsereignis: Das mit Hilfe von Abstraktionsleistungen eigentlich zu vollziehende Ordnen der Erfahrungen (hin zum Glauben an die Gnade Gottes) setzt sich gegen das sinnlicheindringlich geschilderte Bangen, gegen die Todesangst nicht durch. Die Darbietung des sinnlichen Erfahrens erweist sich gegenüber der aus ihr zu gewinnenden Sinnbildlichkeit als einprägsamer. Nur aus der eher plakativen Sinnbildlichkeit zum Beginnen eines neuen Jahres ließe sich für die Lebensbilanz der Sprecherin die Zuversicht gewinnen, dass ihre Angst und ihr Bangen vor dem Urteil über ihren Lebenslauf durch neue Zuversicht in die Gnade Gottes abgelöst werden könnten.

Literatur Berning, Stephan 1975

Sinnbildsprache.

Zur Bildstruktur

des Geistlichen Jahrs der Annette von Dros-

te-Hülshoff. Tübingen; zu „Am letzten Tage des Jahres": S. 187-196. Droste-Hülshoff, Annette von 1980 Historisch-kritische Ausgabe. Winfried Woesler. Tübingen. 1985 Historisch-kritische Ausgabe. Winfried Theiss. Tübingen. 1992 Historisch-kritische Ausgabe. bearb. von Winfried Woesler. Freund, Winfried

Bd. 4.1: Geistliche Dichtung.

Text, bearb. von

Bd. 1.1: Gedichte zu Lebzeiten.

Text, bearb. von

Bd. 4.2: Geistliche Tübingen.

Dichtung.

Dokumentation,

1997

Mit den Augen der Sterblichen. „Am letzten Tage des Jahres", in: ders.: Annette von Droste-Hülshoff. Was bleibt. Stuttgart, S. 78-86. Heselhaus, Clemens 1957

Annette von Droste Hülshoff: Am letzten Tag des Jahres. Silvester, in; Benno von Wiese (Hg.): Die deutsche Lyrik. Bd. 2. Düsseldorf, S. 159-167. Hillmann, Heinz 2005

Säkularisationen in Lyrik und Lied seit Luther, in: Ulrich Wergin / Karol Sauerland (Hg.): Literatur und Theologie. Schreibprozesse zwischen biblischer Überlieferung und geschichtlicher Erfahrung. Würzburg, S. 17-39. Woesler, Winfried 1983 Religiöses Sprechen und subjektive Erfahrung. Annette von Droste-Hülshoffs „Am letzten Tag des Jahres (Sylvester)", in: Gedichte und Interpretationen. Bd. 4, hg. von Günter Häntzschel. Stuttgart, S. 145-156.

M A L T E STEIN

Theodor Storm: „Geh nicht hinein"

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Im Flügel oben, hinterm Korridor, Wo es so jählings einsam worden ist, - Nicht in dem ersten Zimmer, wo man sonst Ihn finden mochte, in die blasse Hand Das junge Haupt gestützt, die Augen träumend Entlang den Wänden streifend, wo im Laub Von Tropenpflanzen ausgebälgt Getier Die Flügel spreizte und die Tatzen reckte, Halb Wunder noch, halb Wissensrätsel ihm, Nicht dort; der Stuhl ist leer, die Pflanzen lassen Verdürstend ihre schönen Blätter hängen; Staub sinkt herab; - nein, nebenan die Tür, In jenem hohen dämmrigen Gemach, - beklommne Schwüle ist drin eingeschlossen Dort hinterm Wandschirm auf dem Bette liegt Etwas - geh nicht hinein! Es schaut dich fremd Und furchtbar an! Vor wenig Stunden noch Auf jenen Kissen lag sein blondes Haupt; Zwar bleich von Qualen, denn des Lebens Fäden Zerrissen jäh; doch seine Augen sprachen Noch zärtlich, und mitunter lächelt' er, Als säh' er noch in goldene Erdenferne. Da plötzlich losch es aus; er wußt' es plötzlich, - Und ein Entsetzen schrie aus seiner Brust, Daß ratlos Mitleid, die am Lager saßen, In Stein verwandelte - er lag am Abgrund; Bodenlos, ganz ohne Boden. - „Hilf! Ach, Vater, lieber Vater!" Taumelnd schlug Er um sich mit den Armen; ziellos griffen In leere Luft die Hände; noch ein Schrei Und dann verschwand er. Dort, wo er gelegen, Dort hinterm Wandschirm, stumm und einsam liegt Jetzt etwas - bleib! Geh nicht hinein! Es schaut Dich fremd und furchtbar an; für viele Tage Kannst du nicht leben, wenn du es erblickt. „Und weiter - du, der du ihn liebtest - hast nichts weiter Du zu sagen?" Weiter nichts.

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Malte Stein

Theodor Storm: Sämtliche Werke, hg. von Karl Ernst Laage u. Dieter Lohmeier. Bd. 1. Frankfurt a. M. 1987, S. 93f.

1. Entstehung Zu diesem letzten, großen Gedicht aus der Feder Theodor Storms, das in seiner „expressiven Radikalität" geradezu „einen Wendepunkt in der Geschichte der neueren deutschen Lyrik bedeutet", 1 gab der Tod des 16jährigen Theodor zu Reventlow „die ganz äußerliche Veranlassung". 2 Als der älteste Bruder der späteren Schriftstellerin und Malerin Franziska zu Reventlow am 22. Mai 1878 nach langer Krankheit verstorben war, stattete ihm der mit dem Vater befreundete Amtsrichter Storm noch am selben Tag einen Totenbesuch ab, von dem er sich anschließend erschüttert zeigte: „Ein den Beschauer vernichtender Friede liegt doch über einer solchen Leiche", schrieb der Besucher nach Rückkehr vom Wohnsitz der Landratsfamilie Reventlow - dem Schloss vor Husum - einem seiner Söhne. 3 Knappe zwei Monate später kündigte er in einem Brief an Gottfried Keller „Verse neuen Datums" an,4 welche den „Eindruck" beträfen, den auf ihn „der Tod eines jungen, eigentümlichen Menschen" gemacht habe. 5 Doch blieb es zunächst nur bei dieser Ankündigung; die „projektierten Verse" 6 ließen einige Zeit auf sich warten. Erst im Februar 1879 konnte das Gedicht unter der Überschrift „Einem Toten" den Gebrüdern Paetel zum Druck angeboten werden, woraufhin es in deren Deutscher Rundschau noch im selben Jahr erstmals erschien. 2. Darbietungsmodi Den unmittelbaren Darstellungsgegenstand des in Blankversen gehaltenen Gedichts bildet nicht etwa ein Toter, wie der ursprüngliche Titel noch erwarten ließ, sondern die Art und Weise, in der jemand über einen Toten spricht. Dargeboten wird dem Leser ein Dialog, den man als einen sol1 2

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Martini (1957), S. 11. Storm an Erich Schmidt vom 3.9.1879, zitiert nach Theodor Storm: Gedichte, Novellen 1844-1864, hg. von Dieter Lohmeier. Frankfurt a.M. 1987, S. 873. Storm an Karl Storm vom 22.5.1878, zitiert nach Karl Ernst Laage: Theodor Storm. Studien zu seinem Leben und Werk. Berlin 1985, S. 75. Storm an Gottfried Keller vom 15.7.1878, zitiert nach Theodor Storm: Briefe, hg. von Peter Goldammer. Bd. 2, 2. durchges. Aufl. Berlin / Weimar 1984, S. 160. Storm an Gottfried Keller vom 29.8.1878, zitiert nach ebd., S. 163. Ebd.

Storm: „Geh nicht hinein"

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chen nicht sogleich erkennt, da es erst in den letzten zwei Versen zu Sprecherwechseln kommt. Über die 35 vorausgehenden Verszeilen erstreckt sich die Rede eines Sprechers (A), der zuvor den Todeskampf eines ihm nahestehenden Jungen miterlebt hat und nun, unter dem Eindruck des Geschauten stehend, an eine dritte Person appelliert, das Zimmer mit der jungen Leiche nicht zu betreten. Auf diese Beschwörung reagiert das angesprochene Gegenüber (Sprecher B) mit einer halb erstaunten, halb kritischen Nachfrage, von der sich Α aber nicht anfechten lässt. Wortkarg antwortend, bekräftigt er das von ihm Gesagte - und behält mit dieser Bekräftigung das letzte Wort. Der Modus der Rededarbietung in dem Gedicht ist überwiegend „dramatisch", nicht „narrativ":7 Insofern die drei Gesprächsschritte in „autonomer direkter Rede"8 angeführt werden, enthält der Text für deren Vermitteltheit durch einen fiktiven Erzähler keinerlei Anzeichen. Die Position des primären Sprechers - des extradiegetischen Erzählers der Redebeiträge von Α und Β - bleibt unbesetzt. Eine vermittelnde Erzählinstanz gibt es in „Geh nicht hinein" erst auf der intradiegetischen Ebene der Figurenkommunikation, und zwar in der (fiktiven) Gestalt von Sprecher A. Nachdem dieser zunächst die räumlichen Verhältnisse beschrieben (V.l-16) und daran anschließend seinen zentralen Appell erstmalig formuliert hat (V. 16), folgt in seiner Rede ein Segment (V. 17-31), das (1) mit dem Wechsel ins Präteritum, (2) mit der chronologischen Wiedergabe eines zurückliegenden Geschehens und (3) mit der Hervorhebung eines ereignishaften Geschehenselements (V.23: „Da plötzlich [...]") drei idealtypische Merkmale des narrativen Diskurses aufweist. Steht so gesehen außer Frage, dass in dem Gedicht unter anderem auch erzählt wird, wäre es aus narratologischer Sicht doch zu einfach, dessen Narrativität ausschließlich auf den besagten Textpassus beschränken zu wollen. Ob nämlich (und in welchem Maße) ein Text bzw. Textsegment narrativ ist, macht die strukturalistisch orientierte Narratologie nicht in erster Linie vom Modus der Darbietung abhängig. Entscheidend ist vielmehr, welche übergeordnete Struktur das mentale Modell hat, das sich der (abstrakte) Leser von der ihm dargestellten Welt machen soll: Kann aus den Informationen, die sich dem Text unmittelbar oder durch Inferenzprozesse entnehmen lassen, ein narrativ strukturiertes Geschehen - eine Geschichte - rekonstruiert werden? 7 8

Martinez / Scheffel (1999), S. 49 u. 62. Ebd., S. 62; vgl. auch S. 51.

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Um das im Folgenden zu prüfen, ziehe ich nacheinander zwei Ansätze heran, die auf unterschiedliche Weise definieren, unter welchen Bedingungen ein dargestelltes Geschehen (bzw. dessen mentale Repräsentation) als narrativ strukturiert gelten darf. 3. Narrative Strukturen gemäß Prince Der erste Ansatz geht auf Gerald Prince zurück, dessen Narrativitätskonzept das Vorhandensein einer narrativen Struktur von der Feststellbarkeit einer Zustandsveränderung abhängig macht und durch Michael Titzmann wie folgt reformuliert worden ist: Ein Text(segment) hat eine narrative Struktur genau dann, wenn gilt: (1.) aus ihm sind ableitbar (1.1.) (mindestens) eine zustandsbeschreibende Proposition pi über einen (Ausgangs-) Zustand der dargestellten Welt zu ti, (1.2.) (mindestens) eine veränderungsbeschreibende Proposition pz über eine Transformation des Ausgangszustandes zu t2, (1.3.) (mindestens) eine zustandsbeschreibende Proposition p3 über den (End-)Zustand der Gegebenheit zu t3, (2.) wobei (2.1.) ti, t2 und t3 sukzessiv Zeitpunkte/ -räume der dargestellten Welt sind, (2.2.) der Endzustand Zf der Welt zu t3 ein Produkt der Transformation zu h sein muss, (2.3.) der Anfangszustand Z, und Endzustand Zf in (mindestens) einem Merkmal oppositionell sein müssen, (2.4.) die drei Propositionen Aussagen über ein und denselben Term machen müssen. 9

Eine diesem Ansatz entsprechende Inhaltsanalyse setzt am besten mit der Frage ein, welche Gegebenheiten zur dargestellten Welt gehören und auf welche Zeitpunkte sich deren Darstellung bezieht. Sodann kann festgestellt werden, welche der Gegebenheiten ihren Zustand verändern, wann genau sich deren Transformation vollzieht und wodurch es zu dieser Transformation jeweils kommt. Die im Gedicht aus der homodiegetischen Rede von Sprecher Α zu rekonstruierende Welt umfasst drei Räume im oberen Stock eines Hauses (Korridor, Gebäudeflügel mit zwei Zimmern), diverse darin befindliche Gegenstände (Tropenpflanzen, ausgestopfte Tiere, Stuhl, Bett, Wandschirm) sowie eine unbestimmte Anzahl Personen, zu denen neben dem erkrankten Jungen mehrere bei ihm sitzende Menschen gehören, darunter 9

Titzmann (2003), S. 3076.

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auch der spätere Sprecher selbst und - sofern er denn mit ihm nicht etwa identisch ist - der Vater des Sterbenden. Temporale Bezüge in der Darstellung dieser Personen und Dinge sind (ti) der Zeitraum vor der Erkrankung bzw. der Bettlägerigkeit (V.3: „sonst"), (t2) ein Zeitpunkt „vor wenigen Stunden" (V.17), (t3) ein Zeitpunkt kurz danach (V.23: „plötzlich") und schließlich (t4) die zeitliche Gegenwart während des Dialogs (V.34:,jetzt"). Eine erste narrative Struktur im Sinne der obigen Definition wird bereits durch Vers 2 repräsentiert. Der dortige Attributsatz „wo es so jählings einsam worden ist" beschreibt einen Endzustand (,es ist jetzt einsam da [oben im Flügel]') und den Prozess seiner Entstehung (,so ist es schlagartig geworden'), setzt dabei aber gleichzeitig auch einen bestimmten Anfangszustand voraus: ,Vorher war es ebenda nicht einsam'. Wann genau und wodurch im oberen Gebäudeflügel die Einsamkeit „so jählings" entstanden ist, kann zumindest der Leser - anders als der fiktive Gesprächspartner - vorerst nicht wissen. Diese Informationen bleiben ihm vom Autor bis auf weiteres vorenthalten und müssen im Laufe der Lektüre allmählich ergänzt werden. Zunächst jedoch vermitteln die Verse 3 bis 12 eine zweite Zustandsveränderung, welche der zuerst repräsentierten zeitlich vorausgegangen ist, so dass ihre Erwähnung die diskursive Funktion einer „Analepse"10 bzw. „aufbauenden Rückwendung"11 hat: Ursprünglich - zum Zeitpunkt ti - konnte man „ihn", von dem im Gespräch die Rede ist, im vorderen Zimmer des Flügels antreffen, „in die blasse Hand das Haupt gestützt, die Augen träumend" auf Tropenpflanzen und ausgestopfte Tiere gerichtet. Mittlerweile jedoch hat er dieses Zimmer - von U aus betrachtet - seit längerem nicht mehr betreten: „der Stuhl ist leer, die Pflanzen lassen / verdürstend ihre schönen Blätter hängen; / Staub sinkt herab" (V.10-12). Ohne dass hier schon klar würde, aus welchem Grund das Zimmer nun leer steht - auf eine krankheitsbedingte Umquartierung lässt sich erst aus den Versen 18 bis 20 zurückschließen - , zeigen auch diese zwei Zustandsbeschreibungen einen Prozess der Vereinsamung an. Zwar ist es dereinst noch nicht im ganzen Flügel einsam geworden, sondern nur eben im „ersten Zimmer" (V.3). Doch vermitteln dessen Veränderungen bereits einen Eindruck davon, was in der dargestellten Welt ,Vereinsamung' bedeutet: Insofern die hängenden Pflanzenblätter und der herabsinkende Staub die Klasseme ,Niedergang' und ,Verfall' indizieren, wird der 10 11

Genette (1994), S. 25. Lämmert (1955), S. 104.

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Abwesenheit des Jungen - wie dann später auch durch die Warnung in V.36f. („für viele Tage kannst du nicht leben") - eine entvitalisierende Wirkung zugeschrieben. Wo er nicht mehr ist, so erfährt man, kommt alles übrige Leben zum Erliegen, breitet sich Öde aus. Die anschließende Erzählung vom Todeskampf dessen, der, krank im zweiten Zimmer liegend, „vor wenig Stunden noch" dreinblickte, als sähe er einer strahlenden Zukunft entgegen, liefert die nachträgliche Konkretisierung jenes Vorgangs, durch den sich die fürchterliche Einsamkeit „so jählings" auf den gesamten Gebäudetrakt ausgeweitet hat. Diese Veränderung ist zum Zeitpunkt t3 eingetreten, als unmittelbare Folge davon, dass der erkrankte Jüngling sterbend „verschwand" (V.31), nachdem sich sein eigener Zustand kontinuierlich verschlechtert hatte. Auf die von ti bis U verfolgten Zustände des jungen Kranken richtet A besondere Aufmerksamkeit - was sich daran zeigt, dass er außer dem Knaben keine andere Gegebenheit der dargestellten Welt auf allen vier Zeitstufen beschreibt. Anzeichen einer Erkrankung bzw. Lebensgefährdung des Jungen sind bereits in dessen erster, auf ti bezogener Darstellung enthalten. Die Blässe seiner Hand (vgl. V.4), welche sich bis t2 zu einer Bleichheit des Kopfes gesteigert haben wird, zeugt von anämischer Schwäche. Dass er auf die nämliche Hand seinen Kopf stützt, während die Augen „träumend" (V.5) am Wandschmuck aus Pflanzen und wie lebendig wirkenden Tierpräparaten verweilen, exponiert ihn gemäß der herkömmlichen TemperamenteIkonographie als einen über Tod und (Un-)Vergänglichkeit rätselnden Melancholiker. Seine fortschreitende Todesnähe wird sodann, in Anknüpfung an die zuvor schon eröffnete Isotopie ,Verfall', wie ein zunehmender Verlust an Halt beschrieben: Es wechselt (zwischen ti und t2) die Körperstellung vom Sitzen ins Liegen. Es zerreißen die Fäden, an denen das Leben hängt (vgl. V.19f.). Und es erlebt sich der Liegende (an t3) auf einmal - laut dem an dieser Stelle introspektiven Bericht des Augenzeugen - als „bodenlos, ganz ohne Boden" (V.27), so dass er ,taumelnd um sich schlägt', ,ziellos in leere Luft greift' (vgl. V.28-30) und schließlich, da er trotz entsetzter Hilfeschreie keinerlei Rückhalt mehr findet, in den „Abgrund" (V.26) verschwindet (vgl. V.31). Das im Erleben solcher Haltlosigkeit empfundene „Entsetzen" bildet einen Gegensatz zu der an t2 noch vorhandenen Zuversicht des Jungen. Sein emotionaler Zustand verschlechtert sich abrupt, als ihm auf einmal eine Erkenntnis kommt: Der von Sprecher Α geschilderte Kranke weiß

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„plötzlich", dass sein , Lebenslicht' nicht mehr brennt - „[es] plötzlich [...] aus[losch]" in ihm (V.23). Während er bis dahin den Abgrund nicht sah, sondern in „goldene Erdenferne" zu blicken schien (V.22), ist er sich seines bevorstehenden Todes nunmehr bewusst und erfährt diesen Wissenszuwachs als eine schreckliche Desillusionierung. Wenige Momente danach ist er dann bereits, nach Ansicht des Beobachters, nicht mehr da: An seiner Stelle befindet sich jetzt bloß noch „etwas" (V.16 u. 33). Jener Körper, der vormals zu einer Person mit „zärtlich [sprechenden]" Augen gehörte, hat sich in ein ,,stumm[es]" Ding verwandelt, das den Betrachter nun „fremd / und furchtbar [...]" anschaut (V.32 u. 16f.). Dargestellt wird von Α somit ein Vorgang der Dehumanisierung, bei dem der im Bett liegende Leib zugleich mit dem Leben auch alles Reizvolle, Ansprechende und Vertraute verliert. Diese so rasche und radikale Entfremdung im Zuge des Todes ist der einzige Zustandswechsel, den Sprecher Α gleich zweimal - mit erhöhter Frequenz also - berichtet, wobei er die Veränderung besonders beim zweiten Mal auch durch die Art der Darbietung (satzimmanente Kontrastierung von Anfangs- und Endzustand, Enjambement und doppelte Hebung am Versanfang) diskursiv hervorhebt: Dort, wo er gelegen, Dort hinterm Wandschirm, stumm und einsam liegt Jetzt etwas [...]! Es schaut Dich fremd und fruchtbar an; (V.31-34)

Indem Α die Gegebenheiten, die an t3 und U aus seiner Sicht festzustellen sind, einander unmittelbar gegenüberstellt, liefert er hier eine Art Resümee der von ihm dargebotenen Entwicklung. Ergänzt noch um den ersten Teil von Vers 31 - „Und dann verschwand er" vermittelt dieses Segment seiner Rede eine im Sinne der Prince'schen Definition vollständige narrative Struktur, deren drei zustands- und veränderungsbeschreibende Propositionen sich nunmehr - anders als bei den vorherigen Entwicklungsschritten - allesamt explizit repräsentiert finden: (pi) Dort lag er in Anwesenheit anderer, mit den Augen sprechend, vertraut wirkend; (p2) dann verschwand er; (p3) jetzt liegt dort einsam, stumm, fremd und furchtbar etwas anderes, das nicht mehr er ist. Begreift man sowohl die Frequenz als auch die Explizitheit der Darbietung als ein Indiz für die subjektive Bedeutsamkeit von Rede-Inhalten, so ist der Wechsel von pi zu P3 als die - zumindest für A - entscheidende Veränderung in der dargestellten Welt zu bewerten. Entsprechend fungiert sie in rhetorischer Hin-

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sieht als Argument für die warnende Aussage, dass auf Tage hinaus nicht mehr „leben" könne, wer in der Absicht, noch einmal den Jungen aufzusuchen, den besagten Raum betrete und hinter den Wandschirm sehe. Mit dieser den ersten Gesprächszug abschließenden Warnung setzt der Sprecher seinen Adressaten über die Gefahr einer eigenen Verwandlung in Kenntnis (indem er für den Fall eines Totenbesuchs eine weitere Zustandsveränderung prophezeit). Darüber hinaus aber gibt Α auch implizit zu verstehen, in welcher Verfassung er selbst sich aktuell befindet. Von dem furchtbaren Leichenanblick und dessen entvitalisierender Wirkung aus eigener Anschauung sprechend, muss er bereits zum Kreise derer gehören, die sich in der Konfrontation mit dem Tod gleichsam , infiziert' haben, so dass ihnen lebendig zu sein - zu „leben" - vorerst unmöglich ist. Wie man somit sieht, kann aus dem Gedichttext eine ganze Fülle von temporal sukzessiven Objekttransformationen abgeleitet werden - und das weitgehend unabhängig davon, ob die fiktive Rede auch auf der Darbietungsebene narrativ strukturiert ist. Dabei bleibt die Beachtung der Darbietungsweise dennoch notwendig, da einem die Phänomene des ,discours' (wie hier die Frequenz, die Reihenfolge und die Explizitheit der Informationsgebung) wichtige Aufschlüsse darüber geben, für wie bedeutsam (wie relevant, wie ereignishaft)12 der Sprecher die vermittelten Zustandsveränderungen jeweils hält. Weitere Hilfe bei dieser mitunter diffizilen Aufgabe, die in der dargestellten Welt sich vollziehenden Veränderungen „hinsichtlich ihrer Aktionalität, Relevanz und Tragweite [zu] unterscheiden",13 bietet die auf Jurij Lotman zurückgehende „Grenzüberschreitungstheorie":14 jener, neben dem Prince'schen Modell, zweite Ansatz, den ich zur Rekonstruktion der Geschehensstrukturen heranziehe.

4. Narrative Strukturen gemäß Lotman und Renner Gemäß dem Textmodell Lotmans besteht das Kennzeichen von Narrativität darin, dass „in der dargestellten Welt (mindestens) ein Ereignis stattfindet".15 Das vermittelte Geschehen muss etwas umfassen, das sich, in Worten Goethes zu sprechen, als eine „unerhörte Begebenheit"16 bezeich12 13 14 15 16

Zum Begriff des Ereignisses siehe den nachfolgenden Abschnitt 4! Schmid (2005), S. 20. Renner (1983), S. 23. Titzmann (2003), S. 3077. Eckermann (1987), S. 208.

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nen lässt. Lotman selbst hat sich um eine Präzisierung dieses emphatischen Ereignisbegriffs bemüht, schwankte dabei aber zwischen einer vergleichsweise weiten Definition, derzufolge jede „Versetzung einer Figur über die Grenze eines semantischen Feldes" ereignishaft sein soll,17 und einer engeren Definition, nach der eine solche „Versetzung" lediglich dann ereignishaft ist, wenn sie eine „Abweichung von der Norm"18 oder „die Verletzung irgendeines Verbots"19 bedeutet. So wurden von Lotman zwei gänzlich verschiedene Kriterien zur Ereignisfeststellung angeführt, zum einen eben die Überschreitung einer klassifikatorischen Merkmalsgrenze und zum anderen die Überschreitung einer Norm. Die Verquickung dieser beiden Kriterien hat in der Narratologie zu dem verbreiteten Missverständis geführt, es seien klassifikatorische Grenzen (wie sie etwa zwischen den Teilmengen des zur dargestellten Welt gehörigen Figurenensembles bestehen) grundsätzlich auch als Verbotsgrenzen aufzufassen.20 Wäre das zutreffend, so müsste es im Gedicht bereits als Ereignis gelten, dass der kranke Junge nicht unter den Lebenden verbleibt, sondern in die komplementäre Menge der Toten wechselt. Da es jedoch Erkrankungen gibt, bei denen ein tödliches Ende häufig oder sogar wahrscheinlich ist, kann des Jungen Versetzung über die Grenze zum Tod auch eine durchaus reguläre Zustandsveränderung sein.21 In diesem Fall wäre eine Regelverletzung erst dann gegeben, wenn die zu erwartende Veränderung am Ende ausbliebe - die klassifikatorische Grenze 17 18 19 20

21

Lotman (1972), S. 332; vgl. auch S. 440. Ebd., S. 333. Ebd., S. 336. Diesem Verständnis scheint selbst noch Titzmann (2003) anzuhängen, wenn er apodiktisch erklärt: „Die Zugehörigkeit zu einem sfemantischen] R[aum]i ist die Regel der dargestellten Welt, der Übergang von sRi zu sRnon-i die Abweichung" (S. 3077). Die Ereignishaftigkeit eines Geschehenselements ist nicht allein vor dem Hintergrund der klassifikatorischen Grenzen einer Erzählung zu bestimmen. Stets mitzuberücksichtigen gilt es die Regeln, nach denen sich die Figuren zwischen den Klassen bewegen. Wie schon Renner (1983) klargestellt hat, gibt es Wechsel des semantischen Feldes, die durchaus normengemäß sind und deshalb nicht als Ereignis, sondern als bloße „Zustandsveränderung" bezeichnet werden sollten (S. 28). Entsprechendes deutet auch Lotman (1993) schon an, wenn er erläutert, dass „vom Standpunkt der Straßenverkehrsordnung aus ζ. B. das falsche Überqueren der Straße" ein Ereignis sei - nicht aber schon das Überqueren der Straße überhaupt (S. 336); vgl. als Widerspruch dazu Lotmans Aussage, dass eine Landkarte bereits dann ereignishaltig werde, wenn etwa eine regelmäßig verkehrende Schiffslinie darin verzeichnet sei (S. 340). Tatsächlich repräsentiert eine solche Linie nur die geltende Norm, von der erst der Verlauf einer konkreten Schiffsfahrt ereignishaft abweichen kann.

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nicht überschritten würde. Dergleichen Beispiele für regelwidrige Merkmalskonstanzen bzw. regelkonforme Merkmalswechsel legen die Konsequenz nahe, der Feststellung von Ereignissen mit Karl N. Renner nur noch eines der zwei erwähnten Kriterien zugrunde zu legen: Setzt man voraus, dass jede dargestellte Welt durch eine gewisse Menge von Regularitäten definiert ist - eine erkennbare „Grundordnung" 22 hat - , so sind als ereignishaft alle Sachverhalte zu begreifen, die gegen mindestens eine der Regularitäten verstoßen. Bei diesen Sachverhalten kann es sich sowohl um Zustandsveränderungen als auch um Zustandsbeibehaltungen handeln, je nachdem eben, ob die Regel, von der etwas abweicht, einen bestimmten Wechsel (des semantischen Raumes) eigentlich erwarten ließe oder nicht. 23 Ereignishaft ist jede „bedeutsame Abweichung von der Norm". 24 Die wesentliche Schwierigkeit von Ereignis-Analysen besteht in der Rekonstruktion dessen, was Lotman das „sujetlose System", 25 Schmid die „narrative ,Doxa"' 26 und Renner die „Grundordnung" 27 nennt: Damit Regelverletzungen als solche tatsächlich auch zu erkennen sind, muss man jeweils wissen, welche Regeln bzw. „Ordnungssätze" 28 in einer dargestellten Welt überhaupt gelten. Weil aber diese Regeln im Text häufig nicht expliziert werden, kann ihre Feststellung ein hohes Maß an inferenzieller Tätigkeit erfordern und entsprechend ein Rezeptionsakt mit bereits deutlich interpretativem Charakter sein. Zum „Aufdecken von Regularitäten" hat Renner ein „Suchraster" entwickelt, das unter anderem die Empfehlung enthält, bei der Suche nach Hinweisen auf die „Reaktion von Figuren" zu achten.29 Komme im Figurenverhalten zum Ausdruck, dass ein Sachverhalt als etwas Außerordentliches eingeschätzt werde, sei ,ex negativo' auf eine zumindest aus Figurensicht bestehende, den spezifischen Erwartungshorizont bildende Regel zu schließen. 22 23

24 25 26 27 28 29

Renner (1983), S. 33. Diese Feststellung widerspricht der Auffassung, dass ,jedes Ereignis [...] eine Zustandsveränderung impliziert" und deshalb die Menge der Ereignisse als eine Teilmenge aus der Gesamtheit der Zustandsveränderungen zu definieren sei - vgl. Schmid (2005), S. 20f. Lotman (1993), S. 333. Ebd., S. 339. Schmid (2005), S. 23. Renner (1983), S. 33. Ebd., S. 31 f. Ebd., S. 92f.

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Solcherart signifikante Reaktionsweisen begegnen uns in Storms Gedicht an zwei Stellen. (1) Unmittelbar augenfällig ist jene Nachfrage, mit der Sprecher Β signalisiert, dass ihn A's Rede wundert - er sich von seinem Gegenüber, insofern es den verstorbenen Menschen „liebtef...]", noch andere Worte erwartet hätte: „Und weiter - du, der du ihn liebtest - hast / Nichts weiter du zu sagen?" (V.36f.) Aus der Perspektive von Β erscheint es als Normverletzung, dass Α „weiter nichts" (V.37) sagen will oder kann. Mit der erstaunten Nachfrage wird auf der Ebene der Figurenkommunikation geradezu eingefordert, der Schilderung des entsetzlichen Sterbevorgangs noch etwas folgen zu lassen. Anzuschließen wäre - so lässt sich aus dem kulturellen Wissen des 19. Jahrhunderts ergänzen - sowohl die Klage über den persönlichen Verlust eines geliebten Menschen als auch das Bemühen, dessen so frühem Tod mittels christlicher Jenseitsvorstellungen einen positiven (und tröstlichen) Sinn zu geben. Dass der Sprecher beides nicht tut, ist, wenn man es vom Standpunkt B's aus betrachtet, eine ereignishafte Unterlassung, deren Gründe zu erschließen die Aufgabe des Lesers bleibt. Der vorherrschenden Lesart zufolge hat Storm mit Α einen Menschen dargestellt, der sich in „stoizistischer Selbstkontrolle" jeden Affektausdruck und jede Jenseitshoffnung „verweigert": 30 einen Feuerbach'schen Rationalisten, dem keine Wahrheit so schrecklich ist, als dass er sich über dieselbe etwa hinwegtäuschen müsste. Es bleibe vorerst dahingestellt, wie triftig diese idealisierende Deutung ist. Indem ich noch immer dem Renner'sehen Rat folge, aus mitgeteilten Figurenreaktionen erste Hinweise darauf zu gewinnen, was in der dargestellten Welt jeweils als regelhaft eingestuft werden darf und was als regelverletzend, stoße ich auf noch ein anderes, chronologisch früheres Ereignis. (2) Für den an ti in seinem Zimmer sitzenden Knaben nämlich sind die ausgestopften Tiere ein exzeptionelles Phänomen. Wie man erfährt, ist ihm das „ausgebälgt Getier / [...] / halb Wunder noch, halb Wissensrätsel [...]" (V.7-9) - was auf Leserseite die Frage hervorruft, worin solch Staunen denn wohl begründet sein mag. Indirekten Aufschluss hierüber bietet die kurze Beschreibung jener Tiere, insofern sie, wie in Vers 8 das Präteritum anzeigt, aus der Perspektive des Jungen erfolgt (in Form von erlebter Rede). Dessen Wahrnehmung zufolge scheint sich das „Getier", obwohl es doch längst gestorben ist, weiterhin bewegen zu können. Statt wie andere tote Wesen zu Staub zu zerfallen, „spreiztf...]" und ,,reckt[...]" es noch immer die Flügel und Tatzen (V.8) - wirkt es inmitten der 30

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Tropenpflanzen ebenso agil wie unvergänglich. Somit liegt hier eine Normabweichung vor, die sich in der Terminologie Renners als ein „weder-noch-Ereignis" 31 bezeichnen lässt: Während in der Regel ein jedes Lebewesen doch entweder tot oder lebendig ist, können die an der Wand hängenden Tiere - so wie sie die Figur „träumend" (V.5) wahrnimmt weder der einen noch der anderen Klasse eindeutig zugewiesen werden. Als kunstvoll konservierte Körper nehmen sie vielmehr jene unheimliche „Sonderstellung" ein, die laut zeitgenössischem Volksglauben allen Leichen zukommt, solange sie sich vor ihrer Bestattung in der Phase „zwischen dem Austritt aus dem Leben und dem endgültigen Abgang aus dem Lebensbereich" befinden: 32 Nach dem Volksglauben ist der Tote eben nicht tot, wenigstens nicht sofort. Der Leichnam behält alle möglichen Lebenszeichen an sich, in Ausnahmefällen sogar besonders deutliche und starke; er kann nicht nur hören, er sieht, ja er bewegt sich sogar. [...] Diese Beobachtungen haben dazu geführt, daß der Begriff vom gebenden Leichnam' geprägt wurde.33

Einem solchen Glauben hängt der Knabe freilich nicht mehr ungebrochen an. Charakterisiert als jemand, dem die so lebendig anmutenden Tierkörper nur „[noch] halb" ein Wunder, „halb" aber bereits ein bloßes „Wissensrätsel" (V.9) sind, steht er auf der Grenze zu einer rationalistischnüchternen Betrachtung des Todes und der Vergänglichkeit. Als er diese Grenze dann endgültig überschreitet, insofern er ,es plötzlich weiß' (vgl. V.23), was Sterben jenseits des Wunderglaubens bedeutet, sieht er sich einem „Abgrund" gegenüber, dessen Bodenlosigkeit bei ihm „Entsetzen" auslöst (V.24-26). Sein Durchbruch zum Wissen erweist sich als eine Desillusionierung, die so schrecklich ist, dass ihm zu „stoizistischer Selbstkontrolle", 34 in der sich laut Marianne Wünsch der Sprecher Α später übt, die Kraft fehlt. Man könnte hier nun versucht sein - und Wünschs Deutung legt dies auch nahe - , auf den Sterbenden und den später berichtenden Augenzeugen gegensätzliche Merkmale verteilt zu sehen: Während der eine zunächst dem Unsterblichkeitsglauben verhaftet ist, sich Illusionen hingibt und bei Erkenntnis der Wahrheit die Fassung verliert, scheinen dem

31 32 33

34

Renner (1983), S. 39. Stefenelli (1998), S. 26. Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens. Bd. 5, hg. von Hanns Bächthold-Stäubli. Neudruck. Berlin 1987, Sp. 1025. Wünsch (2000), S. 267.

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anderen, schon weil der Tod ihn selbst erst noch treffen wird, mehr „illusionslose Vernunft" 35 und Selbstbeherrschung eigen zu sein... Rezipiert man A ' s Rede jedoch vor dem Hintergrund des oben erwähnten Volksglaubens, fällt eine Übereinstimmung auf, die in das Figurenschema ,Vernunftmensch' nicht passen will und die deshalb, als eine Überschreitung der Grenze zum abergläubischen Sprechen, ebenfalls ereignishaft ist: Indem der Sprecher seinen Adressaten davor warnt, sich dem Blick des Toten auszusetzen - „Geh nicht hinein! Es schaut / Dich fremd und fruchtbar an" (V.33-34) - , unterstellt er der Leiche eine Aktivität, zu der die „illusionslose Vernunft" nur einen noch lebenden Menschen für fähig hielte. Zugleich wird über den Toten ein Tabu verhängt, wie es auch der volkstümliche Totenbrauch kennt und verlangt: Die Leiche ist tabu, d.h. ihr Zustand wird als unrein empfunden, sie besitzt Zauberkraft, die entsprechend den verschiedenartigen Gefühlen der Hinterbliebenen bald als gefährlich gefurchtet, bald als heilskräftig genutzt werden. Diese von der Leiche ausgehende (gute oder böse) Zauberkraft kann sich auf alles, was in der Nähe ist, übertragen, auf das Haus, die Angehörigen, Leute (und Dinge), die mit ihm in Berührung kommen; schon das bloße Ansehen kann gefährlich sein.36

Aus einer (kulturübergreifend bekannten) Furcht davor, im Kontakt mit den Toten selbst in den Tod gezogen zu werden, hat das animistische Denken bezüglich des Umgangs mit Leichen diverse Vorsichtsmaßnahmen entwickelt, zu denen nicht zuletzt das Bedecken des Gesichts und das Zudrücken der Augen gehören: Die offenen Augen speziell können den bösen Blick haben. 37 Unterlässt man das Schließen der Augen, kann man sie nicht zudrücken, oder öffnen sie sich immer wieder oder auch nur eines, und hat der Tote einen starren Blick, so sieht er sich nach jemand aus der Verwandtschaft um, der ihm bald folgen soll.38 Gefährlich ist es auch, eine Leiche anzusehen: Wer den Toten zuletzt anschaut, stirbt bald darauf. 39

Somit entspricht es also durchaus dem Volksglauben, wenn Α eindringlich beteuert, man könne nach dem Anblick des Toten „für viele Tage nicht leben" (V.34f.). Die der Figur in den Mund gelegte Rede lässt sich ohne weiteres in die Tradition der Todes-„Ansage" stellen, die im Gegen35 36 37 38 39

Ebd., HdA, Ebd., Ebd., Ebd.,

S. 267. Bd. 5, Sp. 1035. Sp. 1034. Sp. 1031 f. Sp. 1036.

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satz zu einer Todes-„Mitteilung" bzw. Todes-„Anzeige" 40 keine Trauerbekundung ist, sondern eben eine Warnung: Mit dem Eintritt des Todes tritt der Sterbende in einen unheimlichen Zustand, der den Hinterbliebenen und all ihrem Besitz gefährlich werden kann. Deshalb muß man alle und alles sofort vor dem Verstorbenen warnen, und diese Warnung ist das Ansagen. 41

Dieselbe Person, die er nach Einschätzung von Β vormals liebte, ist für A „mit dem Eintritt des Todes" zu einem derart „gefahrlichen" und „unheimlichen" Ding geworden, dass in seiner Rede der Ausdruck von Schrecken und Sorge den Ausdruck von Trauer weitgehend überlagert. Statt den erlittenen Verlust zu beklagen, meint Α von dem Toten eine Gefahr für die Überlebenden ausgehen zu sehen, wofür der erschließbare Grund nicht etwa „illusionslose Vernunft" ist, wie mit Wünsch anzunehmen wäre, 42 sondern eine von animistischer Denkweise geprägte Situationswahrnehmung: Aus A's subjektiver Perspektive heraus erscheint die Leiche (wie vorher die konservierte Fauna im Zimmer des Jungen) als ein unbestimmbares „etwas" (V.16), das trotz des Todes noch immer aktiv ist und eben in seiner Aktivität eine Bedrohung darstellt. Dieses um die Jahrhundertwende auch in wissenschaftlichen Schriften aufgegriffene Phänomen, dass selbst die liebsten Verstorbenen direkt nach ihrem Tode als Dämonen gefürchtet und tabuisiert werden können, 43 ist meines Erachtens das zentrale Ereignis, mit dem uns „Geh nicht hinein" konfrontiert. Es handelt sich dabei um denselben Vorgang, der hier bereits in Abschnitt 3 als die entscheidende Zustandsveränderung erkannt wurde - nur dass ich dort noch, die Perspektive von Α übernehmend, als eine objektive Verwandlung des Sterbenden wiedergegeben habe, was doch in Wahrheit ein subjektiver Wahrnehmungs- und Einsteilungswechsel in der Person des Beobachters ist. Wer für dieses so unvermittelte Umschlagen von Liebesempfindungen in Bedrohungsgefühle und Tabuisierung eine psychologische Erklärung sucht, kann als heutiger Leser von der Freud'schen Vermutung ausgehen, dass es zumeist die Projektion einer „im Unbewussten versteckten Feindseligkeit" 44 sei, auf der die Furcht vor dämonischen Toten beruhe. Eine solche hinter Liebesregungen verborgene Aggression gibt es laut Freud 40 41

Huber (1998), S. 146. Ebd., S. 146f.

42

Wünsch (2000), S. 267.

43

Vgl. in Sigmund Freuds Abhandlung Totem und Tabu die Ausführungen und Literaturhinweise innerhalb des Abschnitts „Das Tabu der Toten" - Freud (1999), S. 66-80. Ebd., S. 76.

44

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„bald mehr, bald weniger" in „fast allen Fällen von intensiver [Gefühls-] Bindung". 45 Und in der Tat handelt es sich dabei um ein Phänomen, das Storm in seinen Novellen auch mehrfach und intensiv zur Darstellung gebracht hat.46 In „Geh nicht hinein" sind allerdings keine Indizien dafür zu finden, dass man sich die Gefühle, die Sprecher Α für den Kranken einst hegte, als ambivalent vorstellen soll. Der mit dem Tod des Jungen abrupt einsetzende Wechsel in der Objektwahrnehmung scheint mir im Gedicht psychologisch unmotiviert zu bleiben. Soweit an diesem einzelnen Text zu erkennen ist, will dessen Kompositionssubjekt - der aus dem Text zu rekonstruierende Autor als oberste Sender-Instanz - das idiosynkratische Erleben seines fiktiven Sprechers lediglich anschaulich und nachfuhlbar machen, nicht aber erklären. Die psychischen Ursachen der ereignishaften Redeweise im Dunkeln lassend, stürzt es den Leser ein Stück weit in jene Ratlosigkeit, in die ob der Entsetzensschreie des Sterbenden auch der fiktive Augenzeuge verfallen ist.

Literatur Eckermann, Johann Peter 1987 Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. [1836], hg. von Fritz Bergemann. Frankfurt a.M. Freud, Sigmund 1999 Totem und Tabu. [1912], in: Sigmund Freud: Gesammelte Werke, Bd. 9. Neudruck. Frankfurt a. M., S. 1-206. Genette, Gerard 1994 Die Erzählung. Übersetzt aus dem Französischen von Andreas Knop. München. Huber, Helmut 1998 Maßnahmen unmittelbar nach Eintritt des Todes, in: Norbert Stefenelli (Hg.): Körper ohne Leben. Begegnung und Umgang mit Toten. Wien u.a., S. 144-151. Lämmert, Eberhard 1955

Bauformen des Erzählens.

Stuttgart.

Lotman, Jurij 1993

Die Struktur literarischer Texte. [1972], 4. unver. Aufl. München 1993.

Martinez, Matias / Scheffel, Michael 1999 Einßhrung in die Erzähltheorie.

45 46

Ebd., S. 76f. Siehe dazu Stein (2006).

München.

174

Malte Stein

Martini, Fritz 1957 Ein Gedicht Theodor Storms: „Geh nicht hinein". Existenz, Geschichte, Stilkritik, in: Schriften der Theodor-Storm-Gesellschaft 6, S. 9-37. Renner, Karl Nikolaus 1983 Der Findling. Eine Erzählung von Heinrich von Kleist und ein Film von George Moorse. Prinzipien einer adäquaten Wiedergabe narrativer Strukturen. München. Schmid, Wolf 2005 Elemente der Narratologie.

Berlin / New York.

Stefenelli, Norbert 1998 Sonderstellung des toten Körpers während seiner Anwesenheit im Bereich der Lebenden, in: ders. (Hg.): Körper ohne Leben. Begegnung und Umgang mit Toten. Wien u.a. S. 25-30. Stein, Malte 2006 „Sein Geliebtestes zu töten". Literaturpsychologische Studien zum Geschlechter- und Generationenkonflikt im erzählerischen Werk Theodor Storms. Berlin. Titzmann, Michael 2003 Semiotische Aspekte der Literaturwissenschaft. Literatursemiotik, in: Roland Posner u.a. (Hg.): Semiotik. Ein Handbuch zu den zeichentheoretischen Grundlagen von Natur und Kultur. 3. Teilbd. Berlin / New York 2003, S. 3028-3102. Wünsch, Marianne 2000 Leben im Zeichen des Todes. Zu Theodor Storms Lyrik, in: Gerd Eversberg u.a. (Hg.): Stormlektüren. Festschrift für Karl Ernst Laage zum 80. Geburtstag. Würzburg, S. 255-270.

PETER HÜHN

Conrad Ferdinand Meyer: „Stapfen"

5

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25

30

In jungen Jahren war's. Ich brachte dich Zurück ins Nachbarhaus, wo du zu Gast, Durch das Gehölz. Der Nebel rieselte, Du zogst des Reisekleids Kapuze vor Und blicktest traulich mit verhüllter Stirn. Naß ward der Pfad. Der Sohlen prägten sich Dem feuchten Waldesboden deutlich ein, Die wandernden. Du schrittest auf dem Bord, Von deiner Reise sprechend. Eine noch, Die längre, folge drauf, so sagtest du. Dann scherzten wir, der nahen Trennung klug Das Angesicht verhüllend, und du schiedst, Dort wo der First sich über Ulmen hebt. Ich ging denselben Pfad gemach zurück, Leis schwelgend noch in deiner Lieblichkeit, In deiner wilden Scheu, und wohlgemut Vertrauend auf ein baldig Wiedersehn. Vergnüglich schlendernd, sah ich auf dem Rain Den Umriß deiner Sohlen deutlich noch Dem feuchten Waldesboden eingeprägt, Die kleinste Spur von dir, die flüchtigste, Und doch dein Wesen: wandernd, reisehaft, Schlank, rein, walddunkel, aber ο wie süß! Die Stapfen schritten jetzt entgegen dem Zurück dieselbe Strecke Wandernden: Aus deinen Stapfen hobst du dich empor Vor meinem innern Auge. Deinen Wuchs Erblickt' ich mit des Busens zartem Bug. Vorüber gingst du, eine Traumgestalt. Die Stapfen wurden jetzt undeutlicher, Vom Regen halb gelöscht, der stärker fiel. Da überschlich mich Traurigkeit: Fast unter meinem Blick verwischten sich Die Spuren deines letzten Ganges mir.

Conrad Ferdinand Meyer: Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Bd. 1: Gedichte, hg. von Hans Zeller u. Alfred Zäch. Bern 1963, S. 21 Of.

„Stapfen" entstand in einer ersten Fassung 1865 und wurde in der Folge mehrfach und sehr weitgehend umgearbeitet (in insgesamt elf hand-

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Peter Hühn

schriftlichen und vier gedruckten Fassungen), bis es 1881/82 die endgültige Form erhielt und in Meyers definitiver Gedichtsammlung von 1882 veröffentlicht wurde. 1 Diese vielfältigen Umarbeitungen im langen, nicht zielgerichteten Entstehungsprozess des Gedichtes (mit ihren tiefgreifenden Veränderungen von Intention und Sinnstruktur) schließen aus, dass man sich zur Klärung strittiger Deutungsfragen auf frühere Fassungen oder auch auf mögliche biographische Hintergründe berufen kann.2 1. Redesituation und A u f b a u Der Sprecher von „Stapfen" ist ein älterer Mann, der sich aus einer zeitlichen Distanz an eine Begebenheit aus seiner Jugend (aus „jungen Jahren" - V. 1) erinnert, als er eine zu Besuch weilende junge Frau zu ihrer Unterkunft begleitete und auf dem Rückweg eine plötzliche Vorahnung von der Endgültigkeit ihres Abschieds hatte. Diese Erinnerung an die beiden Gänge - den gemeinsamen zur Unterkunft, den einsamen zurück wird als innere Reflexion des Sprechers in Form einer narrativen (chronologischen) Rekonstruktion des damaligen Geschehens dargeboten, jedoch durchweg an die abwesende Frau adressiert. Die Instanz des Erzählers bzw. Sprechers ist somit autodiegetisch, und die Tatsache der imaginativen Adressierung der Erinnerung an die Frau zeigt bereits die nachhaltige Intensität seines emotionalen Bezugs zu ihr. Wie im narrativen Aufbau des Gedichtes zwischen der aktuellen Redesituation des Erinnerungsprozesses als der Darbietungsebene und der erinnerten vergangenen Begebenheit auf der Geschehensebene zu unterscheiden ist, so auch zwischen den Positionen des jetzt erzählenden, sich erinnernden Ich und des erinnerten, damals erlebenden Ich. Im Vordergrund stehen das in der Erinnerung rekonstruierte damalige Geschehen und die sich darin vollziehende psychische Veränderung des jugendlichen Ich, aber in deren Darbietungsmodalität drückt sich zugleich indirekt die spätere Reaktion des Sprechers und seine Haltung aus. 3 Nach Maßgabe von Einschnitten und Perspektivänderungen im chronologischen Ablauf des Geschehens auf der Geschehensebene kann das 1 2

3

Vgl. Meyer (1975), S. 51-63. Vgl. die Untersuchung unterschiedlicher Modelle von Überarbeitungen bei C. F. Meyer durch Zeller (1991), bes. S. 141 ff., sowie die Kommentare zur Entstehungsgeschichte und zu biographischen Bezügen bei Henel (1957), S. 236ff. u. 242. Vgl. insgesamt die umfassende, methodologisch aber unsystematische Interpretation dieses Gedichtes bei Henel (1957).

Meyer: „Stapfen"

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Gedicht in zwei größere Sequenzen unterteilt sowie die zweite von ihnen weiter in drei Teilsequenzen untergliedert werden: Sequenz A (V.l-13): Begleitung der jungen Frau durch den Sprecher bis zu ihrer Unterkunft und dort ihr Abschied voneinander; Sequenz Β (V. 14-34): Rückkehr des Sprechers alleine auf demselben Weg; Teilsequenz B1 (V. 14-23): frohgemute Erinnerung an die Frau und Betrachtung ihrer Fußspuren (Stapfen); Teilsequenz B2 (V.24-31): imaginative Verselbständigung erst der Stapfen, dann der erinnerten Frau; Teilsequenz B3 (V.32-34): Reaktion des Sprechers - traurige Vorahnung der Endgültigkeit des Abschieds.4 Als Skript liegt dem gesamten Gedicht und seiner Unterteilung die konventionelle, kulturtypische Prozedur der Begleitung eines (weiblichen) Gastes zu dessen Unterkunft und der eigenen Rückkehr nach Hause zugrunde, mit der Implikation von der Episodenhaftigkeit eines solchen Freundschaftsdienstes, der in der Regel keinen endgültigen Abschied einschließt. Als (thematischer) Frame kann eine latente und beginnende Liebesbeziehung (vornehmlich aus der Sicht des Mannes) angesetzt werden.5 Innerhalb dieses Frames zeichnet die erinnernde Rekonstruktion des vergangenen Erlebnisses eine psychische Veränderung des Sprechers auf der Geschehensebene von der ersten zur zweiten Sequenz und dann vor allem innerhalb von deren Teilsequenzen in zweierlei Hinsicht nach: zum einen das erwachende Bewusstsein von der erotischen Qualität des Verhältnisses und die Intensivierung der sehnsuchtsvollen Gefühlsbeziehung, zum anderen die plötzliche Vorahnung von der Endgültigkeit der Trennung. Beide Aspekte hängen offenbar miteinander zusammen und bedingen einander: Die gerade eingetretene Trennung aktiviert und intensiviert die erotische Sehnsucht, und die Sehnsucht macht die Trennung schmerzlich akut und lässt ihre Dauerhaftigkeit befurchten.

2. Sequenz A: Geleit und Abschied Die den gemeinsamen Gang zur Unterkunft des Mädchens erzählende Sequenz Α stellt im Wesentlichen die Ausgangssituation dar, aus der sich dann im Verlauf von Sequenz Β die psychischen Veränderungen des Sprechers entwickeln, die das zentrale Moment des Gedichtes ausmachen. Am Anfang, gleich nach der Zeitangabe fur das erzählte Geschehen („In 4 5

Vgl. ebd. die ähnliche, nur in einem Punkt abweichende Gliederung (S. 232). „Stapfen" steht in der Gedichtausgabe von 1882 in der Sektion „Liebe".

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Peter Hühn

jungen Jahren war's"), steht die zusammenfassende Benennung der aktiven Rolle des Sprechers bei dieser Begleitung (V.l: „Ich brachte dich"), doch dies ist in der Sequenz die einzige Verwendung des Personalpronomens der 1. Person Singular, ebenso wie übrigens auch des Pronomens der 2. Person im Objekt-Kasus. Anschließend wird die Wiedergabe dieses Ganges völlig vom angeredeten Du dominiert: als fünfmaliges Subjekt von Sätzen und daneben einmal als Possessivpronomen. Der Sprecher sieht völlig von sich ab und konzentriert sich ausschließlich auf seine Begleiterin: Deren Handlungen konstituieren das Geschehen (mit Ausnahme eines einzigen Satzes, der sich auf beide bezieht - vgl. V.l 1, siehe unten). Dies Geschehen ist durch zielgerichtete Bewegung - hin zu Abschied und (vorübergehender) Trennung - bestimmt, wie sich an den vielfältigen Referenzen auf Gehen und Weg ablesen lässt (etwa an „zurück ins Nachbarhaus", „durch das Gehölz", „Pfad", „Sohlen", „die wandernden", „schrittest" - V.2-6). Darüber hinaus ist eine weiter ausgreifende Bewegung auch noch im Begriff der Reise mit der jungen Frau verbunden (siehe den Hinweis auf ihr „Reisekleid" [V.4] sowie ihren Bericht von der bevorstehenden und der noch folgenden längeren Reise, vgl. V.9f.). Steht auch der weitgehend faktische Bericht dieser Bewegung hin zur Trennung im Vordergrund, so wird zugleich die Reaktion beider darauf wenngleich knapp - angedeutet. Es ist eine Reaktion, die durch eine prekäre Ambivalenz von unterschwelliger Befürchtung und trotziger Zuversicht gekennzeichnet ist. Die Geste des Verhüllens des Gesichts - wörtlich auf die junge Frau bezogen (vgl. V.4f.), metaphorisch auf beide Personen (vgl. V.12) - ist in Anspielung auf eine Konvention in der griechischen Tragödie6 als konnotative Vorankündigung des bevorstehenden Todes der Partnerin interpretierbar. In dieselbe Richtung deutet, durch diesen Kontext verstärkt, die (vom Sprecher zunächst nicht intendierte oder nicht realisierte) Konnotation in der Aussage der jungen Frau: „Eine [d.i. Reise] noch, / Die längre, folge drauf (V.9f.) meint letztlich die Reise in den Tod. Dagegen stehen ihr Vertrauen (V.5: „blicktest traulich") und beider bewusst zum Überwinden der Angst eingesetztes Scherzen (V.l lf.: „Dann scherzten wir, der nahen Trennung klug / Das Angesicht verhüllend"). In diesem Versuch der Verdrängung von Befürchtungen etabliert sich kurz und einmalig ihre (psychische) Gemeinsamkeit („wir"), ehe sie gleich darauf vom Abschied beendet wird. Die erste Sequenz bleibt somit in der Entwicklung des Geschehens ohne gravierende Wendungen in einem Zustand der Schwebe, schafft je6

Vgl. Meyer (1975), S. 62: Todgeweihte verhüllten auf der Bühne ihr Gesicht.

Meyer: „Stapfen"

179

doch durch die ambivalenten Implikationen auf der Ebene der Darbietung die Ausgangslage fur die weitgehenden Veränderungen in der zweiten Sequenz.

3. Sequenz B: Bewusstwerdung und Ahnung vom Verlust In physisch-konkreter Hinsicht ist das Geschehen der zweiten Sequenz des Gedichtes durch Umkehrung bzw. Intensivierung gegenüber dem der ersten gekennzeichnet. Der Sprecher geht denselben Weg nun alleine zurück; und die Witterung wechselt von rieselndem Nebel (vgl. V.3) zu stärkerem Regen (vgl. V.31). Auch auf der psychischen Ebene zeichnen sich eine Intensivierung (zusammen mit einer Bewusstwerdung) bzw. ein Umschwung ab, die in ihrer Verbindung schließlich die Ereignishaftigkeit der Entwicklung begründen. Die psychischen Veränderungen werden durch die Untergliederung von Sequenz B1 (V. 14-23) gemäß der Perspektiv-Verschiebungen in Teilsequenzen markiert und hervorgehoben. Nach einer Eingangsphase der frohgemuten Erinnerung an die „Lieblichkeit" (V.15) der jungen Frau und an die Betrachtung ihrer Fußspuren verselbständigt sich in der Folgephase B2 (V.24-31) deren Gestalt in der scheinbaren Eigenaktivität ihrer Stapfen (vgl. V.24) und der imaginativen Vergegenwärtigung ihrer Person (vgl. V.29). In der Schlussphase B3 (V.32-34) verschwimmen ihre Fußspuren im Regen und schwindet die Erwartung eines Wiedersehens. Von vornherein ist zu betonen, dass diese Veränderungen nicht Eigenschaften der jungen Frau betreffen, sondern auf Wahrnehmungen durch den Sprecher verweisen, also seine Einstellung zur Partnerin und sein Bewusstsein von der Partnerbeziehung verdeutlichen. Der Übergang von Teilsequenz B1 zu B2 ist durch den Umschwung in der Erscheinungsweise der Frau und ihrer Stapfen (für den Sprecher) von passiver Objekthaftigkeit (der Wahrnehmung und Erinnerung) zu aktiver Subjekthaftigkeit (im Handeln) bestimmt. So besteht B1 aus zwei Sätzen jeweils mit „ich" (dem Sprecher) als grammatischem Subjekt und hiervon regierten Verben (V. 14-18: „ging", „schwelgend", „vertrauend", „schlendernd", „sah"), die sich direkt oder indirekt auf die Frau als Gegenstand beziehen. Der Übergang zu B2 wird vorbereitet, indem sich im weiteren Verlauf des zweiten Satzes die Attribute der Partnerin syntaktisch aus der Objekt-Bindung an das Subjekt (den Sprecher) lösen und eigenständig werden (und in den Nominativ treten): „die kleinste Spur von dir" (V.21), „dein Wesen: wandernd, reisehaft, / Schlank, rein, walddunkel, aber ο wie

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süß!" (V.21ff.)· In B2 wird jetzt das dargestellte Ich in eine grammatisch abhängige Position verschoben (V.24f.: „dem / Zurück [...] Wandernden") und in der 3. Person bezeichnet, während zuerst die Stapfen (V.24f.: „Die Stapfen schritten jetzt entgegen [...]") und sodann die Frau selber zum grammatischen Subjekt werden (V. 26: „Aus deinen Stapfen hobst du dich [...]", V.29: „[...] gingst du, eine Traumgestalt", V.30: „[d]ie Stapfen wurden [...]"). Selbst in dem einzigen Satz mit „ich" als Subjekt erhält die Frau durch Inversion die dominierende Position (V.27f.: „Deinen Wuchs / Erblickt' ich [...]"). Zugleich mit der Verselbständigung ihres Erscheinungsstatus verändern sich die Merkmale der Frau. Während sie in der ersten Sequenz bei direkter Anwesenheit auffälligerweise überhaupt nicht in ihrer Erscheinungsweise beschrieben wurde (abgesehen von der „Traulichkeit" des Blickens - V.5), nimmt in B1 ihre abwesende Gestalt in der Erinnerung nun konkretere Züge an. Erneut aufgegriffen aus dem ersten Teil wird ihre Assoziation mit Bewegung und Reise (V.22: „wandernd, reisehaft"), also mit Unfestigkeit, Ungebundenheit und damit Nicht-Fixierbarkeit und Nicht-Besitzbarkeit. Darüber hinaus ist sie jetzt zusammenfassend als ,lieblich' gekennzeichnet (vgl. V.15). Die darauf folgenden Erweiterungen mit „in deiner wilden Scheu" (V.16) und „schlank, rein, walddunkel" (V.23) verbinden allerdings recht unterschiedliche Merkmale von Ungezähmtheit, empfindlicher Zurückhaltung und Unberührtheit. Durch diese Wendungen wird die junge Frau andeutungsweise mit einem Waldtier (etwa einem Reh) verglichen und damit einer dem Mann fremden Sphäre zugeordnet. 7 Aber zugleich deuten diese Attribute, abschließend verstärkt durch das Adjektiv „süß" (V.23), als Beschreibung einer Frau entschieden auf erotische Attraktion, auf eine latente Leidenschaftlichkeit hinter ihrer manifesten Zurückhaltung. Die Teilsequenz B2 macht diese Latenz der erotischen Komponente in der (retrospektiven) Wahrnehmung der Gestalt des Mädchens durch den Sprecher explizit: „Deinen Wuchs / Erblickt' ich mit des Busens zartem Bug" (V.27f.). Da die genannten Merkmale weniger die Partnerin (als schlank und womöglich noch mädchenhaft) beschreiben als auf das Bewusstsein des Sprechers verweisen, kann dessen psychische Veränderung jetzt präzisiert werden als Erwachen des sexuellen Begehrens, als Bewusstwerden seiner leidenschaftlichen Liebe zur jungen Frau. Parallel zu dieser Erotisierung der Gestalt in der erzählten Erinnerung tritt eine markante Änderung in der Zukunftserwartung des Sprechers ein. 7

Vgl. Henel (1957), S. 234.

Meyer: „Stapfen"

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Erschienen in der ersten Sequenz die Aussichten auf Dauer der Beziehung ambivalent (zwischen sich konnotativ verratenden Befürchtungen und durch Scherzen bekundete oder ertrotzte Zuversicht), so setzt sich zu Beginn der zweiten Sequenz zunächst nur das Vertrauen fort (V.16f.: „wohlgemut / Vertrauend auf ein baldig Wiedersehen"). Doch gegen Ende der Teilsequenz B2 verrät sich abermals in Konnotationen die Vorahnung vom Ende der Beziehung - verknüpft mit den Implikationen der Flüchtigkeit und Nicht-Fixierbarkeit im Wesen des Mädchens (vgl. V.16 u. 21 f.). Dies geschieht beim „Vorübergehen" der „Traumgestalt" (als einer bloßen Einbildung - V.29) wie auch beim Undeutlichwerden der Spuren aufgrund des zunehmenden Regens (vgl. V.30f.). In B3 werden die Vorahnungen nahezu konkret: in der „Traurigkeit" (V.32), dem verstärkten Auslöschen der Stapfen (V.33f.) und der Qualifizierung des Geleits zum Nachbarhaus als ,,deine[n] letzten Gang [...] mit mir" (V.34). Die Schlusswendung steigert insofern noch die Erfahrung eines Endes und der Vergänglichkeit, als sie letztlich das Verlöschen sogar der Erinnerung (der Spuren) an beider Zusammensein bezeichnet. 4. Ereignishaftigkeit Die Ereignishaftigkeit lässt sich aus zwei Perspektiven beschreiben, jeweils mit Bezug auf die Geschehensebene: Zunächst handelt es sich um ein Geschehensereignis. In eher formaler Hinsicht hat die Abweichung vom Skript des Geleitens einer jungen Frau zu ihrem Aufenthaltsort als ereignishaft zu gelten: Die konventionell mit dieser quasi-rituellen Handlung verbundene Erwartung ihrer Episodenhaftigkeit (dass der Abschied nur vorübergehend sei und sich das Geleiten zu einem späteren Zeitpunkt wiederholen lässt) wird hier durch die Vorahnung der Endgültigkeit des Abschieds durchbrochen. Wichtiger und tiefer greifend ist jedoch die Beschreibung einer Veränderung mit Bezug auf die Psyche des Sprechers. Das Ereignis wird über die Koppelung oder gar wechselseitige Bedingtheit zweier Bewusstseinsvorgänge hergestellt: über das Erwachen und Gewahrwerden erotischen Verlangens einerseits und der Vorahnung der Unmöglichkeit einer Erfüllung andererseits. Die beiden Bewusstseinsvorgänge, die ausschließlich auf Wahrnehmungsweisen des Mannes bezogen sind, scheinen sich gegenseitig zu bedingen: Die Trennung nach dem Geleit der Frau zur Unterkunft macht dem Sprecher sein Verlangen nach ihr und ihrer Gegenwart intensivierend bewusst; und aufgrund dieser neu erlebten Stärke der

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Bindung empfindet er die Trennung als derart schmerzlich, dass er zunächst die Spuren ihrer Anwesenheit (die „Stapfen") benutzt, um imaginativ die Partnerin zu vergegenwärtigen und so die Trennung mental rückgängig zu machen, dass ihn dann aber das physische Verschwinden der Spuren (durch den Regen) nötigt, diesen Vorgang als Zeichen für einen endgültigen Verlust zu deuten. Eine solche Vorahnung hatte sich bereits vorher angedeutet (siehe oben). Ereignishaft in psychischer Hinsicht, also für das Bewusstsein des Sprechers auf der Geschehensebene (im Sinne eines Geschehensereignisses), ist somit der Umstand, dass bei dem Sprecher ein intensives Verlangen erwacht und sich ihm zugleich als unerfüllbar darstellt. Diese wechselseitige Bedingtheit erscheint als eine Paradoxie, die sich auch an der Auswirkung der Witterung auf die „Stapfen", die metonymischen Zeichen für die junge Frau, zeigt: Der rieselnde Nebel macht die Stapfen allererst sichtbar: „Der Nebel rieselte, / [...] / Naß ward der Pfad. Die Sohlen prägten sich / Dem feuchten Waldesboden deutlich ein" (V.3-7), und sie sind zu Beginn des Rückwegs „deutlich noch / Dem feuchten Waldesboden eingeprägt" (V.19f.), ehe der Übergang zum Regen sie wieder unsichtbar werden lässt: „Die Stapfen wurden jetzt undeutlicher, / Vom Regen halb gelöscht, der stärker fiel. / [...] / Fast unter meinem Blick verwischten sich / Die Spuren" (V.30-33). Der gegensätzliche Zusammenhang wird eigens markiert durch die Verwendung desselben Adjektivs („deutlich") in allen drei Passagen. Dieser wechselseitige Bedingungszusammenhang der psychischen Veränderungen verweist entschieden darauf, dass die Ereignishaftigkeit für das damalige (das erinnerte) Bewusstsein des Sprechers gilt und dass sie durch subjektive Wahrnehmungen der Objektwelt erzeugt worden ist. Denn die beiden Veränderungsvorgänge im Bewusstsein des Sprechers werden durch seine (emotional motivierte) Semiose ausgelöst: durch sein Wahrnehmen und Deuten der Stapfen als metonymische Referenz8 auf die abwesende Person und entsprechend von deren Auslöschen als ,Zeichen' für die Endgültigkeit dieser Abwesenheit. Dass diese semiotische Tätigkeit zentral für das Geschehen des Gedichtes ist, macht der ungewöhnliche Titel „Stapfen" explizit.9 Darüber hinaus wird in der Verschränkung zwischen der Geschehensund der Darbietungsebene erkennbar, dass Ereignishaftigkeit hier nicht 8

9

Diese semiotische Referenzierung wurde in Sequenz A (V.6-8) in der körperlichen Präsenz der ,Zeichengeberin' eingeführt. Vgl. die Bemerkungen bei Henel (1957) zum - wie er es nennt - „Grundsymbol" der Stapfen (S. 234 u. 237).

Meyer: „Stapfen"

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aus ,Handeln in der Objektwelt' resultiert, sondern einem Bewusstseinsvorgang des Sprechersubjekts zugehört. Die Gedankenrede des Sprechers ist als ein Reflexions-, genauer als ein Erinnerungsprozess angelegt, als vergegenwärtigende Rekonstruktion (auf der Darbietungsebene) eines vergangenen Geschehens, das sich zunächst in der Objektwelt vollzieht, fortschreitend jedoch durch die imaginative Kreativität des Sprechers geprägt wird. Sie setzt mit der Adressierung an die abwesende (und nicht mehr zu erreichende) Partnerin ein, verstärkt sich im vergegenwärtigenden Hineinversetzen in die damalige Situation (vgl. , jetzt" in V.24 u. 30) und verrät sich besonders in den gezielt eingefügten Konnotationen für erinnerte Wahrnehmungen, wie sie in der nunmehrigen Vermittlung durch den Sprecher als Zeichen einer Vorahnung von der Unwiederholbarkeit dieser Gemeinschaft mit der jungen Frau erscheinen: Die metaphorische Wiederaufnahme des zuerst wörtlich gemeinten Verhüllens (vgl. V.12 in Relation zu V.5) ist ebenso ein Indiz hierfür wie der Rückbezug von „vertrauend" (V.17) auf „traulich" (V.5) und von „undeutlicher" (V.30) auf „deutlich" (V.7 u. 19). Diese Strukturierungsmerkmale der Darbietungsebene deuten darauf hin, dass das sich erinnernde und erzählende Ich die Ereignishaftigkeit auf der Geschehensebene wenn nicht erst schafft, so doch gezielt bestätigt und verstärkt. Dennoch ist von einem Geschehensereignis auszugehen. Die Darbietung des Geschehens ist insgesamt so angelegt, dass das Gedicht die semiotische Verfahrensweise (die Bedeutungszuschreibungen für die zeichenhaften Stapfen) als Sinnsuche des Sprechers vorführt. Doch lässt sich dieser Deutungsprozess nicht ohne weiteres als Beispiel für Meyers symbolistische oder allegorische Konzeption werten, die verschiedentlich generell für seine Lyrik reklamiert worden ist10 (abgesehen davon, dass es sich bei den „Stapfen" weder um ein Symbol noch um die ,pictura' einer Allegorie handelt, sondern um die Trope der Metonymie). Das Erstellen eines komplexen Bedeutungszusammenhangs aus einem visuellen Zeichen ist hier primär nicht dem Autor zuzuschreiben, sondern zuallererst dem Sprecher, der mit diesem deutenden Vorgehen seine psychischen Probleme zu verstehen und zu bewältigen sucht und bei dieser Tätigkeit fur den Leser beobachtbar gemacht wird. Das bedeutet, dass „Stapfen" nicht als Erlebnisgedicht zu lesen ist. Dies stützt bereits ein Blick auf die lange Entstehungsgeschichte mit den ständigen Verände10

Vgl. Staiger (1961) sowie Laumont (2000), die diese Behauptung generell (allerdings nicht mit Bezug auf „Stapfen") für Meyers Lyrik aufgestellt haben.

Peter Hühn

184

rungen von Form und Bedeutung, die keineswegs als Versuche der zunehmenden Annäherung an ein ursprüngliches Erlebnis gelten können. 11 Mit der Reim- und Strophenlosigkeit sowie der Häufigkeit von Enjambements suggeriert das Gedicht Kunstlosigkeit und damit die authentische' Repräsentation einer erinnernden Gedankenrede; dem wirkt jedoch die prononcierte poetische Überformung in anderer Hinsicht entgegen: die rhythmische Regelmäßigkeit der Blankverse (der fünffüßige Jambus) mit den durchgängig männlichen Kadenzen und die auffälligen syntaktischen Umstellungen sowie die beschriebenen systematischen Wiederholungen und Variationen von Motiven. Die Metrik unterstützt auf diese Weise die Ambivalenz, wie sie oben für die Darbietung herausgearbeitet wurde: die Suggestion der Unvermitteltheit des Erinnerungsprozesses, dessen Inszenierungscharakter sich gleichwohl in subtilen Signalen verrät. Der Leser wird so veranlasst, den Sinnbildungsvorgang imaginativ nachzuvollziehen, vermag aber trotzdem die darin wirkende psychische Motivation distanziert zu beobachten.

Literatur Henel, Heinrich 1957 Conrad Ferdinand Meyer: „Stapfen", in: Benno von Wiese (Hg.): Die deutsche Lyrik: Form und Geschichte. Bd. 2. Düsseldorf, S. 230-242. Kittler, Friedrich A. 1977 Der Traum und die Rede: Eine Analyse der Kommunikationssituation Conrad Ferdinand Meyers. Bern / München. Laumont, Christof 2000

Auf Spiegeln und Brechen. Allegorie und Autoreflexion in Conrad Ferdinand Meyers Lyrik, in: Rosmarie Zeller (Hg.): Conrad Ferdinand Meyer im Kontext: Beiträge des Kilchberger Kolloquiums. Heidelberg, S. 157-172. Meyer, Conrad Ferdinand 1975 Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Bd. 4: Apparat zu den Abteilungen V, VI und VII, hg. von Hans Zeller u. Alfred Zäch. Bern. Staiger, Emil 1961 „Das Spätboot": Zu Conrad Ferdinand Meyers Lyrik, in: ders.: Die Kunst der Interpretation. 3. Aufl. Zürich, S. 239-273. Zeller, Hans 1991

11

Modelle des Strukturwandels in C. F. Meyers Lyrik, in: Michael Titzmann (Hg.): Modelle literarischen Strukturwandels. Tübingen, S. 129-147.

Vgl. hier S. 175f. u. Anm. 2

JÖRG SCHÖNERT

Friedrich Nietzsche: „Der Freigeist" (I)

Abschied „Die Krähen schrei'n Und ziehen schwirren Flugs zur Stadt: Bald wird es schnei'η Wohl dem, der jetzt noch - Heimat hat!

(II)

5

Nun stehst du starr, Schaust rückwärts ach! wie lange schon! Was bist du Narr Vor Winters in die Welt - entflohn?

(III) 10

Die Welt - ein Thor Zu tausend Wüsten stumm und kalt! Wer Das verlor, Was du verlorst, macht nirgends Halt.

(IV)

15

Nun stehst du bleich, Zur Winter-Wanderschaft verflucht, Dem Rauche gleich, Der stets nach kältern Himmeln sucht.

(V)

20

Flieg', Vogel, schnarr' Dein Lied im Wüsten-Vogel-Ton! Versteck', du Narr, Dein blutend Herz in Eis und Hohn!

(VI) Die Krähen schrei'n Und ziehen schwirren Flugs zur Stadt: Bald wird es schnei'n Weh dem, der keine Heimat hat!" (VII) 25

Antwort. Daß Gott erbarm'! Der meint, ich sehnte mich zurück In's deutsche Warm, In's dumpfe deutsche Stuben-Glück!

(VUI) 30

Mein Freund, was hier Mich hemmt und hält, ist dein Verstand, Mitleid mit dir\ Mitleid mit deutschem Quer-Verstand!

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Jörg Schönert

[Friedrich] Nietzsche: Werke. Kritische Gesamtausgabe, hg. von Giorgio Colli u. Mazzino Montinari. 7. Abt., Bd. 3: Nachgelassene Fragmente. Herbst 1884 bis Herbst 1885. Berlin / New York 1974, S. 37f.

Das Gedicht entstand neben anderen ausgearbeiteten Gedichttexten und Entwürfen 1 im Herbst 18842 im Zusammenhang der Arbeiten am vierten Teil von Also sprach Zarathustra (1883-1885); Nietzsche plante die Veröffentlichung eines Lyrik-Bandes, 3 zu der es allerdings nicht kam (stattdessen wurden einzelne Gedichte in die Publikationen der Jahre 18851887 aufgenommen). 4 Erstmals veröffentlicht wurde „Der Freigeist" 1894 in Das Magazin für Litteratur unter dem Titel „Vereinsamt", gekürzt um den Textteil „Antwort". In dieser Textgestalt ist das Gedicht zu einem festen Bestandteil der Anthologien deutschsprachiger Lyrik geworden. 5 Erst durch die gründliche Aufarbeitung der nachgelassenen Handschriften Nietzsches für die von Colli und Montinari herausgegebene Kritische Gesamtausgabe wurde „Der Freigeist" als ,Rollengedicht' in zweiteiliger Rede („Abschied" und „Antwort") verstanden. Allerdings ist nur „Abschied", nicht aber „Antwort" mit An- und Ausfuhrungszeichen als direkte Rede markiert. Hinter der Teilüberschrift „Antwort" steht ein Punkt, der hinter „Abschied" nicht gesetzt wird. Doch sind solche Unregelmäßigkeiten in handschriftlichen Fassungen nicht außergewöhnlich. 1. Wer spricht? Zusammen mit anderen ausgeführten und entworfenen Gedichten sollte „Der Freigeist" einer Texte-Sammlung oder einem Zyklus eingegliedert werden; dafür werden in den Entwürfen zahlreiche unterschiedliche Titeleien sowie Auswahl- und Anordnungsmöglichkeiten für die Einzeltexte erwogen. 6 Ihnen gemeinsam ist die dominierende Konzeption des , Rollengedichts', dass also die Texte als Rede eines Sprechers in einer be1 2

3

4

5 6

„Gedichte und Gedichtfragmente. Herbst 1884", in: Nietzsche (1974), S. 3-40. Vgl. Montinari (1986), S. 203; vgl. auch S. 244-248: Varianten zu der oben stehenden ,Endfassung' (nach Maßgabe der „Kritischen Gesamtausgabe"). Vgl. ebd., S. 201 u. 215; in den nachgelassenen Notiz- und Entwurfsheften finden sich auch Überlegungen zu möglichen Titeln für die geplante Gedichte-Sammlung und Titellisten zu den dafür vorgesehenen Gedichten. Vgl. ebd., S. 201 f.: u.a. sind es Gedichte mit Titeln, die im Assoziationsbereich von „Der Freigeist" stehen, wie „Das Lied der Schwermuth" oder „Narr in Verzweiflung". Vgl. Müller / Schilcher (2004), S. 41. Vgl. Montinari (1986), S. 201-250, hier S. 201-215.

Nietzsche: „Der Freigeist"

187

stimmten Rolle (vgl. die Figur des Zarathustra) und / oder Situation - beispielsweise als Einsiedler oder als Freigeist in der ,Einsamkeit' - erscheinen: „Prinz Vogelfrei. Ein Narren-Evangelium [...]";7 „Aus sieben Einsamkeiten"; 8 „Zehn Lieder eines Einsiedlers" - darin: „Vereinsamt ,die Krähen schreien'"; 9 „Ohne Heimat" - darin: „die Krähen"; 10 „Narrenbuch. Zwischenspiele zwischen zwei Ernsten";' 1 „Der Wanderer und sein Schatten" - darin: „Dies ist der Herbst - " , „Die Krähen schrein „Wer wärmt mich - " , „Nicht mehr zurück? -", 12 Und schließlich findet sich die Überschrift zu einer nicht ausgeführten Sammlung für den ZarathustraKomplex: „4. Zarathustra. Dies sind die Lieder Zarathustra's, welche er sich selber zusang, dass er seine letzte Einsamkeit ertrüge: ".13 Diese ,heroische Stimmungslage eines leidenden Einzelgängers' ist - so lautet meine These - mit der Sprechsituation (des Selbstanrede) zu vergleichen, die es für „Der Freigeist" zu beschreiben gilt. Für den hier zu erörternden Text waren unterschiedliche Überschriften vorgesehen. Der „Nachbericht" von Mazzino Montinari hält fest: „Der chronologisch letzte feststellbare Titel ist ,Der Freigeist'; zwei gestrichene [Titel]: ,An die Einsiedler.' und: ,Aus der Winter-Wüste.' sowie auch zwei nicht gestrichene: Im ,Deutschen Spätherbste' und ,Mitleid hin und {wieder} her.' gehen dem endgültigen Titel voran."14 Diese genannten Varianten bestätigen, dass Nietzsche den Text (wie auch andere Gedichte - Monologe, Selbstanreden, Fremdanreden - im Aufzeichnungskontext ,Herbst 1884')15 als Rollengedicht angelegt hat: Der Titel nennt den Träger der Rede (die in doppelten Anführungszeichen steht) als Ty7 8 9 10 11 12 13

14 15

Ebd., S. 203. Ebd., S. 204. Ebd., S. 207. Ebd., S. 208. Ebd., S. 210. Ebd., S. 212. Ebd., S. 214. ,Didaktisch' (und Gemeinschaft stiftend) wird im Zarathustra-Kontext die Situation gewendet im Plan zu „An die höheren Menschen. Herolds-Rufe von Friedrich Nietzsche" - Nietzsche (1974), S. 48f. Montinari (1986), S. 246. Der Sprecher erscheint in diesen Texten und Entwürfen - vgl. Nietzsche (1974) vielfach in einer Rolle als Vereinzelter, Außenseiter, Kranker oder Sterbender und wendet sich darin auch gegen die Vielen, .Normalen' und Gesunden - so in der Rolle des Dichters (S. 18), des Narren (S. 27), des Einsiedlers (S. 29) oder von „Yorick als Zigeuner" (S. 35f.) und „Yorick-Columbus" (mit der ständigen Sehnsucht zum Aufbruch in die Ferne); schließlich auch in der Rolle als „Der Freigeist" (S. 38), der ,freie Spötter' (S. 38).

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pus, kennzeichnet seine besondere Rolle als Einzelgänger und Freigeist 16 (der anders denkt und lebt als ,die Menge') und markiert seinen E b schied', den Aufbruch aus der ,Heimat' der Vielen. 17 Im Falle von „Der Freigeist" provoziert - so meine Annahme fur die Folge von „Abschied" und „Antwort" - die Abschiedsrede eine Gegenrede. Doch wird die ,mitleidige' Stellungnahme von Einem der Vielen (einem ,Philister mit Heim und Herd') zum ,schmerzgetränkten' Selbstgespräch des Freigeistes nicht ausformuliert; sie lässt sich jedoch aus der „Antwort" des Freigeistes erschließen, 18 der das ihm zugedachte Mitleid abweist und - mit Hohn und Sarkasmus - auf den ,Mitleidigen' zurücklenkt (vgl. die Titel- / Untertitel-Variante „Mitleid hin und [wieder] her"). Allerdings ist die Argumentation in der „Antwort"-Rede nicht überzeugend: Dass der ,Wanderer' in seinem Aufbruch aus der ,Heimat' innehält, mag damit verbunden sein, dass er bei diesem Verharren für eine gewisse Zeitspanne so denkt wie die Vielen und ,Heimat' hochschätzt (V.30: „dein Verstand"); doch wird nicht dieser Selbstzweifel als Ursache des Verharrens markiert, sondern Mitleid mit demjenigen, der ihn nicht versteht (V.32: „Quer-Verstand"). 19 Ungeachtet dessen: Beide Teile des Gedichtes (die Abschiedsrede und die Antwort auf die Reaktion zur Abschiedsrede) sind demnach als Rede des Freigeistes zu verstehen, 20 nicht aber als Dialog, der von einem Mitleidigen in der Anrede an den Freigeist (etwa mit „du Narr" - V.7) eröffnet wird.21

16

17

18

19 20

21

Vgl. zu „Freigeist" auch Nietzsches Menschliches, Allzumenschliches. Ein Buch für freie Geister (1878) sowie Campioni (2000), S. 236: „Der Freigeist ist verwandt mit dem [einsamen] Wanderer." Vgl. dazu in Nietzsche (1974) unter „Gedichte und Gedichtfragmente Herbst 1884": „Hohn gegen die Gemächlichen / Wuth gegen Lämmerdummheit" (S. 12); Aggressionen gegen „plumpe Tölpel" (S. 8) oder den ,,Pedant[en]" (S. 8), gegen die Schlafrock-Existenzen (S. 26): „An die deutschen Esel" (S. 25), an „falsche Freunde" (S. 28), an die „ächten Deutschen" (S. 28). Aus den Varianten zu „Antwort" - vgl. Montinari (1986), S. 247 - geht hervor, dass der (zu interpolierende) mitleidige Kommentar eines ,echten Deutschen' die ,Abschiedsrede des Freigeistes' als Klage missverstanden hat: „Oh nein mein Freund / Dein deutscher Sang ist deutscher Missverstand". In den Varianten steht auch ,Missverstand'- vgl. ebd., S. 248 . Da die Rede in „Antwort" nicht in doppelte Anführungszeichen gesetzt ist, könnte man meinen, der Freigeist zitiere im ersten Teil des Textes die Rede eines Anderen. Doch sprechen gegen diese - nur formal zu begründende - Annahme so viele semantische Aspekte, dass ich ihr nicht folge. Dieser Befund ist auch ein Einwand gegen Müller / Schilcher (2004), S. 42.

Nietzsche: „Der Freigeist"

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Die Formulierung des Titels könnte mit dem Element „Der Freigeist" einem beobachtenden heterodiegetischen Sprecher, mit dem Element „Abschied" sowohl diesem als auch dem (sich selbst beobachtenden) Sprecher des Haupttextes zugerechnet werden. Die (in Anfuhrungszeichen gesetzte) Rede des (autodiegetischen) Sprechers, der nicht ,ich' sagt, ist als Selbst-Anrede zu verstehen. Entsprechend wird ja auch verfahren in „4. Zarathustra. Dies sind die Lieder Zarathustra's, welche er sich selber zusang, dass er seine letzte Einsamkeit ertrüge: "22 und darüber hinaus im Kontext der weiter oben angeführten Texte und Entwürfe. Diese Selbst-Anrede gilt auch für „Flieg', Vogel" (V.17), in der sich der Sprecher als „Wüsten-Vogel" (V.19) von den stadtwärts ziehenden Krähen absetzt. Das Lied, das er ,schnarrt' (vgl. V.18), ist die Rede seines „Abschieds" vom allgemeinen Lebensprogramm, das auch für die Krähen gilt. Die Strophen II bis V werden also von den Strophen I und VI gerahmt.23 2. Individualgeschichte und Kollektivgeschichte In den beiden rahmenden Strophen werden drei Gegebenheiten (der bevorstehende Winter, der Zug der Vögel zum Überwintern in der Stadt, die Nicht-Geborgenheit des Menschen in winterlich-widriger Situation) aufeinander bezogen. Zu einer verkürzenden Wiederaufnahme dieses Bezugs (im Zeichen der Individualisierung und Vereinzelung) kommt es in den Strophen II bis V mit der Anrede an sich selbst - an den Wanderer, der die Geborgenheit der Stadt verlassen hat. Strophe II markiert als Ereignis auf der Geschehensebene eine Abweichung vom (kollektiv geltenden) Skript, das in Strophe I formuliert wurde: Aus der Wahrnehmung des bevorstehenden Winters folgt die Suche nach Schutz in einem begrenzten Raum (der Heimat). Der Sprecher dagegen hat sich nicht in einen ,Schutz-Raum' begeben, sondern antizipiert in dem vermittelten Rede-Akt seine Existenz in einer ungeschützten, ja bedrohlichen Weite der Welt (vgl. V.9f.): Statt sich vor dem heraufziehenden Winter in heimatliche Geborgenheit zurückzuziehen, ist der Freigeist in die Welt „entflohn" (V.8). Dennoch verharrt er in seinem Aufbruch; er blickt - „wie lange schon" - „rückwärts" zur Heimat (V.6). Die folgenden Strophen III bis V markieren die Konsequenzen eines konsequent umzusetzenden abweichenden Verhaltens': ruhelose 22 23

Montinari (1986), S. 214. In diesem Sinne schon Mennemeier (1957), S. 247.

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Wanderschaft in der widrigen Welt des Winters sowie Sich-Verhärten und Sich-Vereisen (vgl. V.20) nach außen hin, um das gefährdete (innere) Gefühlszentrum zu schützen. Die rahmenden Strophen I und VI sind als Zitate einer ,Allgemeinheitsmeinung' durch den Sprecher zu verstehen - also als Skript, das als Verhaltensvorgabe vom Sprecher abgelehnt wird (so dass er für sich die Fremdbezeichnung als Außenseiter und „Narr" zitiert - V.7 u. 19). Dabei ändert sich von Strophe I zu VI der Gestus der zitierten Rede: vom Trost (V.4: „Wohl dem") hin zu Warnung und Klage (V.24: „Weh dem"); in beiden Fällen lässt sich der Sprecher jedoch zumindest versuchsweise' auf die allgemeine Verbindlichkeit dieses Skripts ein: Noch ist sein heroischer Entschluss zum Anderssein, zur ,Freigeistigkeit' nicht gefestigt. Die rahmenden Strophen berichten also eine kollektive und iterative (Miniatur-)Geschichte von Schutz und Heimat schätzenden tierischen (und implizit auch menschlichen) Gemeinschaften, von denen sich der Freigeist im Gestus des Abschieds als Einzelner in einem symptomatischen Akt entfernt. Die Strophen II bis V wenden sich einer kontrastierenden Individual-Geschichte zu: dem sich absondernden Sprecher, dem Außenseiter. In der Selbstanrede als „Vogel" (V.17)24 wird das ,Freigeistige' definiert: Der im Aufbrechen (zum Abschied) verharrende Wanderer soll ,fliegen' und dabei nicht wie der Krähenschwarm, der zur Stadt (V.28: „in's dumpfe deutsche Stuben-Glück") zieht, den ,Stadt-Ton', sondern den „Wüsten-Vogel-Ton" (V.18) singen. Die Rolle des Sprechers ist - verdeutlicht durch den Kontext der Gedichte und Gedichtfragmente aus der Entstehungszeit - in der Selbstwahrnehmung die eines Vereinsamten, eines ruhelosen Wanderers, des ,Unbehausten' (vgl. Goethes Faust I sowie „Harzreise im Winter", dazu in diesem Band S. 75-97) in transzendentaler Obdachlosigkeit', möglicherweise auch des unerlösten Ahasver. In der Wahrnehmung der Anderen (der ,Mitleidigen') erscheint der Sprecher als ein Außenseiter, ein (Geist e s k r a n k e r und Narr; er ist in dieser Sicht - so zeigt es der entstehungsgeschichtliche Kontext für „Der Freigeist" - auch als ,Dichter' zu rubrizieren.25 Offen bleibt, inwieweit die Entscheidung zur ziellosen Wander24 25

Vgl. ebd., S. 251. Vgl. Montinari (1986), S. 201-215: In der Auflistung zur geplanten Gedichte-Sammlungen werden auch Einzeltitel genannt wie „Narr in Verzweiflung"; „,Nur Narr! Nur Dichter'" (S. 207); „Der fahrende Poet", „Der kranke Dichter" (S. 208); „der Wanderer", „der Narr", „der Kranke", „der Nachtwandler (ohne Führer und Freunde)", „der Wanderer (ohne Heimat)" (S. 210).

Nietzsche: „Der Freigeist"

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schaft in ,den Winter' hinaus (im Gegensatz zum zielbestimmten Flug der Krähen aus der Kälte heraus) selbstgewählt (V.8: „entflohn") oder schicksalsbestimmt (V.14: „verflucht") ist - wie auch immer: Mit der Entscheidung im Sinne eines ,Freigeistes' ist auch ein ,Verlust' verbunden (vgl. V.llf.), oder aber ein hier nicht näher bestimmter Verlust war die Ursache dieser Entscheidung.

3. Anlass, Ort und Zweck der (fiktiven) Rede Als Ort für die Rede des Sprechers wäre das vorwinterliche ,freie Feld' zu vermuten (vgl. zu diesem situativen Frame auch die entsprechende Szene zwischen Faust und Mephisto in Goethes Faust /); auf seinem Weg aus der (Heimat-)Stadt hat der Sprecher innegehalten, um auf das, was er verlassen (oder verloren) hat, zurückzublicken (vgl. V.6); er steht in einem Orientierungskonflikt, den er allerdings in seiner Rede eher impliziert (so im Bezug auf das ,normale' Verhalten in den Strophen I und VI) als expliziert. Deutlich wird jedoch: Er befindet sich „nun" (V.5 u. 13) an der Grenze zwischen den Räumen von Stadt / Heimat und Welt / Wüste.26 Die Stadt ist noch nah genug fur eine Rückkehr - den Krähen folgend, die ihr zufliegen. Doch ist abzusehen, dass der Sprecher seinen Weg in die vor ihm liegende Welt fortsetzen wird. Die Welt wird nicht als lockendes Ziel eingeschätzt - sie ist ohne Verheißungen, ohne Leben; sie ist „ein Thor zu tausend Wüsten stumm und kalt" (V.9f.). Dieses Paradox ist auch in den folgenden Strophen IV und V bestimmend: Die Wanderschaft führt nicht zum ,heimischen Herd', zur Wärme, sondern in die Kälte. Um auf einer solchen Wanderschaft in die Einsamkeit bestehen zu können, muss das lebensvolle (,blutende') Herz in lebensbedrohliches Eis und lebensfeindlichen Hohn gefasst werden (vgl. V.20). Der Gedankenfigur des Paradoxon entspricht auch die Rolle des Freigeistes als ,Narr', der eine - so ist anzunehmen - Fremdbezeichnung zur Selbstbezeichnung mit dem Gestus des Zweifels an seiner getroffenen Entscheidung verwendet. Die Rede zur Individualgeschichte in der Freigeist-Rolle (mit der Vorwegnahme seiner zukünftigen Existenz als Wanderer durch Winter und Wüsten - vgl. V.10 u. 14) setzt also ein, nachdem der Sprecher eine erste Wegstrecke zurückgelegt hat und im Angesicht der zurückgelassenen Stadt innehält, um die veränderte Situation zu reflektieren: „Nun stehst du 26

Die , Wüsten'-Semantik gehört als wichtiges Element zum Zarathustra-Komplex; mehrfach wird sie auch in „Gedichte und Gedichtfragmente. Herbst 1884" aufgenommen, vgl. z.B. Nietzsche (1974), S. 7.

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starr" (V.5). Der nunmehr Vereinzelte muss sich seine Außenseiterrolle nicht nur kognitiv, sondern auch emotional erkämpfen. Was er dabei als Freigeist verliert (vgl. V.llf.) - Gemeinschaft, Heimat, womöglich auch den Glauben und die Hoffnung auf ,Transzendenz' zum begrenzten Wirklichkeitsraum der Stadt - erscheint ihm nicht als wertlos; im Zurückblicken des lange Verharrenden (vgl. V.6) hat die Wertewelt der Vielen (das „deutsche Stuben-Glück" - V.28) noch „hohe Bindungskraft" (es „hemmt und hält" - V.30).27 Die Befreiung steht im Zeichen des Verlustes von Farben, Tönen und Wärme: Der Sprecher erbleicht (vgl. V.13) und vereist (vgl. V.20); eine kalte und stumme Welt erwartet ihn in hyperbolischer Bedrohung (V.10: „tausend Wüsten"). Er sieht sich determiniert wie der Rauch, der dem physikalischen Gesetz folgt und vom Warmen (der ,wärmenden Stadt') in die Kälte zieht. Doch verweist das „blutende Herz" (V.20) auf das Hin- und Hergerissensein zwischen der bisherigen Existenz und dem neuen Lebensprogramm (das vielfach im Kontext der Entwürfe und Ausarbeitungen von Lyrik-Texten im Herbst 1894 zu verfolgen ist).28 4. Zur Organisation der Rede Gewählt ist die konventionelle Form eines Jambus in zwei- und vierhebigen Verszeilen mit regelmäßig alternierendem Reim. Die Folge der sechs Strophen im ersten Teil des Gedichts zeigt in den Strophen II und V ,starke' Enjambements (V.7f., 9f., 17f. u. 19f.), ebenso im zweiten Teil (V.26f. u. 29f.). In der metrischen Ordnung finden sich gelegentliche Abweichungen (etwa in V.3, 17 u. 31 f.). Zusätzliche (lautliche) Bindungen werden durch die (semantisch beschwerten) Alliterationen wie „Winter", „Wüste", „Wanderschaft" oder „Halt", „Heimat", „Himmel" und Assonanzen wie „schwirren", „schnarren", „schreien" eingebracht. Zu der bereits aufgezeigten Gedankenfigur des Paradoxon ist auch die Formfigur des spannungsreichen Gegensatzes von Binden gegenüber Stocken oder Zersprengen zu stellen. Die Rede wird durch Gedankenstriche und elliptische Fügungen (etwa V.9f.) mehrfach gehemmt und gestockt - wie auch die Wanderschaft des Sprechers vor dem endgültigen Abschied von ,der Heimat' stockt.

27 28

Müller / Schilcher (2004), S. 43. Vgl. dazu del Caro (1983).

Nietzsche: „Der Freigeist"

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Dem noch zu vollziehenden ,Vereisen' der Gefühle stehen in der zitierten (fiktiven) Rede Expressivität - markiert durch die zahlreichen Ausrufezeichen (so etwa: „ach! wie lange schon!" - V.6) - und Hyperbolik (vgl. V.10) gegenüber. Erleben, Reflektieren und Sprechen werden synchronisiert (V.5 u. 13: „nun") - mit einem kurzen Ausgriff auf den Fortgang der mit der Rede des Sprechers begonnenen Geschichte in Strophe I („Bald wird es schnei'n - "), einer ebenso kurzen Analepse in Strophe III (V.7f.: „Was bist du Narr /[...] entflohn") und einer Kombination von Analepse und Prolepse (V.l lf.: „Wer das verlor, / [...] macht nirgends Halt"), wodurch die aktualisierte Redesituation als Moment des Innehaltens vor der , Grenzüberschreitung' besondere Bedeutung erhält. Wie vielfach in der Rede von Gedichten wird eine Geschichte von der Position kurz vor dem Ereignis, der Grenzüberschreitung, erzählt (oder angesprochen), um solche Grenzüberschreitungen zu markieren und gegebenenfalls auch zu begründen. Als Ursache für das Verharren wäre zu vermuten, dass der Sprecher noch schwankt zwischen dem entschiedenen Aufbruch ,in die Welt' (mit dem Risiko, sein Leben zu verlieren) und dem Wunsch, sein Leben in ,Geborgenheit' zu erhalten.29 Im Konvolut der Gedichtentwürfe und Fragmente aus dem Herbst 1884 zeigen sich vielfach ähnliche Spannungszustände von Aufbruch und Verharren, von Flucht und Verzweiflung.30 In einem der Entwürfe wird eine konkrete Ursache für die gehemmte Bewegung genannt: „Der [nächtliche] Wanderer" (S.30f.), der ,gehen soll' (vgl. S.31), wird durch das Lied eines Vogels aufgehalten; er ,muss stehen' (vgl. S.31) und verharrt; es

29

30

Vgl. in Nietzsche (1974) die „Gedichte und Gedichtfragmente. Herbst 1884": Die Gedichtentwürfe und Fragmente sind von einem Grundton der ,hochgeputschten' schmerzvoll-verzweifelten Emotionen des Außenseitertums und der Einsamkeit bestimmt - mit der Nähe zum Sterben, aber dennoch durchzogen von der heftigen Liebe zum Leben. Dem distanzierten Leser erscheinen diese lyrischen Rollen-Inszenierungen des 40jährigen Autors als (oft ,kitschiges') Schwelgen im Sentimentalen. Vgl. ebd., S. 9, sowie S. 7: „Du Stachel Schmerz, wie weit wirst Du mich treiben?": Das ,dumpfe', herbstliche und winterliche Deutschland wird gegen das belebende, frühlingshafte und sommerliche Griechenland, den Süden, gestellt, vgl. „Im deutschen November", beginnend mit: „Dies ist der Herbst: der - bricht dir noch das Herz! / Fliege fort! Fliege fort! - " ; vgl. hier auch das mehrfache Stocken der Rede und die Selbstadressierung wie in „Der Freigeist"; die Wendungen ,welke, müde Welt', .geflohene Hoffnung', „eis'ger Schauder" (S. 32) lassen ebenfalls an die Rede im „Freigeist" denken. Zudem wird wie im „Freigeist" die obenstehende Eingangsformel wiederholt (hier vierfach).

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kommt zum Dialog mit dem Vogel (der keine Krähe ist, sondern ein Singvogel, der ein Weibchen lockt).31 5. Bedeutungszuschreibungen und Bewertungen Welche Bedeutungen sind unter diesem Aspekt den Krähen beizumessen? Sie „schwirren" (V.2), was eigentlich Kolibris zugeschrieben wird (die Bezeichnung könnte sich jedoch auch auf einen ungeordneten VogelflugSchwarm beziehen),32 und sie „schreien". Es sind keine Lerchen oder Nachtigallen (die mit ihrem Gesang dem Rhythmus der Natur, dem Tageslauf entsprechen), sondern Vögel, die eine kollektive Stimmungslage (im Sinne des vermeintlichen „Stuben-Glücks" - V.28) nach außen tragen. Dagegen stehen die „Winter-Wanderschaft" (V.14) und der „Wüsten-Vogel-Ton" (V.18), die der Situation des Außenseiters und Freigeistes zugeordnet werden. So verweist auch die Isotopie von ,Schnee', „Eis", „starr", „bleich", „stumm", „kalt" auf die Situation ,Winter', ,Wüste' als ,Mangel an Leben'; das „blutend Herz" (V.20) vertritt dagegen den Anspruch des Lebens, den der Sprecher nicht aufgegeben hat, aber in seiner Situation als Narr und als Wissender über sein Narrentum nicht einlösen kann. Die entscheidende Bedeutungszuschreibung für den Text ist durch die Art und Weise des Vermitteins der zitierten Rede, der ,Erzählgeschichte' zu gewinnen: Das (Diskurs-)Element der Bekräftigung einer natürlichen' (vgl. die Krähen) und verständigen' (vgl. V.30) Schutzsuche wird in Frage gestellt durch das (Diskurs-)Element der Reflexion des Ereignisses auf der Geschehensebene (der unvernünftigen' Winter-Wanderschaft, die allerdings noch nicht endgültig vollzogen wurde, noch zu keinem Ereignis geworden ist). Aus dieser Infragestellung folgt als Darbietungsereignis die ,Heroisierung' des folgenschweren Abschieds vom Vernunft-Programm: „versteck', du Narr, / Dein blutend Herz in Eis und Hohn!" (V.19f.). Die Rolle des Sprechers als ,Einsamer' wird im Vollzug der Rede - so meine (auf den Zarathustra-Kontext gestützte) These - in ,heroischer Weise' angenommen; sie soll nicht Mitleid (vgl. das ,,Antwort"-Gedicht), sondern Bewunderung auf sich ziehen. Diese heroische Haltung schließt den Kampf gegen widerständige Wünsche zum Festhalten am Gewohnten ein. 31 32

Vgl. auch ebd., S. 35: „Der Wanderer und sein Schatten". Vgl. Mennemeier (1957), S. 246.

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Nach dem Verharren in der gerade begonnenen Wanderschaft (Strophen II-IV) folgt in Strophe V eine doppelte Aufforderung, die getroffenen Entscheidungen zur Individualgeschichte im Sinne einer heroischen Einsamkeit zu bekräftigen.33 Inwieweit diese (Selbst-)Aufforderung erfolgreich sein kann, ist nicht mehr Gegenstand der Rede des Gedichts; doch legt die Schlusszeile von Strophe VI nahe, dass es zu keiner Rückkehr in die Stadt kommen wird, dass mit der Rede des Sprechers die Selbstermutigung zum abweichenden Verhalten' vollzogen wurde. Von dieser Position aus ist auch die Rede in „Antwort" als entschiedene Absage an den Verstand der Vielen formuliert. Die dem Sprecher der ,Abschiedsrede' unterstellte Motivation (die Sehnsucht nach dem „deutschefn] StubenGlück" - V.28) wird zurückgewiesen und die Distanz zu den Vielen durch eine besondere Auffassung von ,Verstand' (vgl. V.30-32) die vom Sprecher bestimmt wird, betont. Literatur Campioni, Guiliano 2000 Freigeist, in: Henning Ottmann (Hg.): Nietzsche-Handbuch. S. 255-257.

Stuttgart / Weimar,

Del Caro, Adrian 1983 Anti-Romantic Irony in the Poetry of Nietzsche, in: Nietzsche-Studien 12, S. 372-378. Mennemeier, Franz Norbert 1957 Friedrich Nietzsche: „Vereinsamt", in: Benno von Wiese (Hg.): Die deutsche Lyrik II. Düsseldorf, S. 245-254. Montinari, Mazzino 1986 Nachbericht zur siebenten Abteilung. Zweiter Halbband: Nachgelassene Fragmente. Frühjahr 1884 - Herbst 1885, in: [Friedrich] Nietzsche. Werke. Kritische Gesamtausgabe, hg. von Giorgio Colli u. dems., 7. Abt., Bd. 4.2. Berlin / New York. Müller, Karla / Schilcher, Anita 2004 „Zur Winter-Wanderschaft verflucht"? Zwei Lektüren eines (un-)bekannten Nietzsche-Gedichts, in: Praxis Deutsch 183, S. 41-47.

33

Vgl. Petersdorff (2005) mit Bezug auf die Lyrik des frühen 20. Jahrhunderts: „Wer nach Identität fragt, dem bietet sich die Lyrik in besonderer Weise an" - nämlich durch „Selbstaussprache" zur „Ich-Konstitution". Dies gelte exemplarisch für Nietzsche, der „einen starken Begriff von Individualität" vertrete (S. 13); über die textuelle Ich-Instanz werden unterschiedliche Rollen besetzt und durchgespielt, werden Prozesse von der Selbstschöpfung bis hin zur Selbstvernichtung in Gang gesetzt (S. 35).

196

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Nietzsche, [Friedrich] 1974 Werke. Kritische Gesamtausgabe, hg. von Giorgio Colli u. Mazzino Montinari. 7. Abt., Bd. 3: Nachgelassene Fragmente. Herbst 1884 bis Herbst 1885. Berlin / New York 1974 Petersdorff, Dirk von 2005 Fliehkräfte der Moderne. Jahrhunderts. Tübingen.

Zur Ich-Konstitution

in der Lyrik des fiiihen 20.

JÖRG SCHÖNERT

Hugo von Hofmannsthal: „Manche freilich ..." (i) Manche freilich müssen drunten sterben, Wo die schweren Ruder der Schiffe streifen, Andre wohnen bei dem Steuer droben, Kennen Vogelflug und die Länder der Sterne.

(II) 5

10

Manche liegen immer mit schweren Gliedern Bei den Wurzeln des verworrenen Lebens, Andern sind die Stühle gerichtet Bei den Sibyllen, den Königinnen, Und da sitzen sie wie zu Hause, Leichten Hauptes und leichter Hände.

(III) Doch ein Schatten fällt von jenen Leben In die anderen Leben hinüber, Und die leichten sind an die schweren Wie an Luft und Erde gebunden: (IV) 15

Ganz vergessener Völker Müdigkeiten Kann ich nicht abtun von meinen Lidern, Noch weghalten von der erschrockenen Seele Stummes Niederfallen ferner Sterne.

(V) 20

Viele Geschicke weben neben den meinen, Durcheinander spielt sie alle das Dasein, Und mein Teil ist mehr als dieses Lebens Schlanke Flamme oder schmale Leier.

Hugo v. Hofmannsthal: Sämtliche Werke. Kritische Ausgabe, hg. von Rudolf Hirsch u.a. Bd. 1. Frankfurt a.M. 1984, S. 54.

Vermutlich 1895 entstanden wurde der Text in Georges Blätter fiir die Kunst im März 1896 veröffentlicht; 1 er gehört zu den thematisch anspruchsvollen Gedichten der Jahre 1894/1895 (wie „Weltgeheimnis" oder „Lebenslied"). Darin wirft der 21jährige Autor Existenzfragen auf, und so setzt auch Rudolf Borchardt für „Manche freilich ..." in der Anthologie Ewiger Vorrat deutscher Poesie (1926) den Titel „Schicksalslied". 2 1 2

Vgl. Hofmannsthal (1984): „Varianten und Erläuterungen", S. 258f. Grimm (1983), S. 34.

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1. Raumstruktur und Figurenkonstellation Strophe I und II schildern vier grundsätzliche Existenzformen im Leben der Menschen; jeder Existenzform werden jeweils zumindest zwei Verse zugeordnet, um Zustände des „schweren" (V.lf. sowie V.5f.) und „leichten" Lebens (V.3f. u. V.7-10) zu kennzeichnen. Die Gegenüberstellung wird mit der räumlichen Trennung von ,unten' und ,oben' in einem pikturalen Frame von traditioneller Geltung ausgearbeitet: im , Lebensschiff und im ,Staatsschiff'. Denen, die ,unten im Schiff leben, ist schwere Arbeit zugewiesen, die (so ist zu assoziieren) zu Erschöpfung (V.15: „Müdigkeiten") und zum Tode fuhren kann. Die Tätigkeit der ,Andren' ist nicht durch körperliche Arbeit bestimmt, sondern durch spezifisches Wissen zum Navigieren. Diese Steuerleute orientieren sich am Vogelflug und Sternenhimmel, sie benutzen keine modernen Navigationsinstrumente. Wie auch in Strophe II wird Bildbestand aus antiken Kulturen genutzt; es werden, so wäre anzunehmen, ein existenzielles Problem und eine ,soziale Frage' der Moderne in das Gewand der Antike gekleidet. Für die zweite Strophe wird kein in sich schlüssiger pikturaler Frame aufgerufen. Aus der Strophe I wird die Raumstruktur von ,unten' und ,oben' erhalten: Den „Wurzeln" (V.6) lassen sich durch eine intertextuelle Substitution (mit Bezug auf das „Lied der Parzen" in Goethes Iphigenie auf Tauris, IV, 5)3 die Wolken als Raum der Sibyllen und der Königinnen zuordnen.4 Die Entgegensetzung der beiden Existenzformen für „manche" (V.5) und „andre" (V.7) ist hier nicht wie in Strophe I durch unterschiedliche Arbeitsweisen, sondern durch fehlendes Wissen (angesichts des „verworrenen Lebens" - V.6) und Verfügen über besonderes Wissen bestimmt. Der Mangel an Erklärungen für das verworrene Leben führt ähnlich wie die schwere körperliche (Ruder-)Arbeit zu Erschöpfung und Handlungsunfähigkeit (V.5: „schwere Glieder", „liegen immer"). Die Opposition von „liegen" und „sitzen" (V.5 u. V.9) lässt - deutlicher als in Strophe I - auch auf Machtverhältnisse schließen: Diejenigen, die mit „schweren Gliedern" sozusagen auf dem Boden liegen, sind denjenigen unterworfen, die aufgenommen wurden in den Machtbereich der religiösen und der weltlichen Herrschaft, des Deutungswissens und der J 4

„Auf Klippen und Wolken / Sind Stühle bereitet / Um goldene Tische." Grimm (1983) nennt beachtenswerte intertextuelle Bezüge; zudem skizziert er wichtige Positionen in der Forschungsgeschichte bis zum Beginn der 1980er Jahre. Zu weiteren intertextuellen Bezügen auch Stierle (1990), S. 118-126; Vilain (1991), S. 730-746.

Hofmannsthal: „Manche freilich ..."

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Staatsgewalt. Dort wurden ihnen „Stühle [als Thronsessel] gerichtet", auf denen sie nun „wie zu Hause" (V.9) ,mit leichtem Haupt' und Reichten Händen' (vgl. V.10) sitzen oder thronen. Im Gesamtzusammenhang des Textes - insbesondere mit Blick auf den Schlussvers - könnten dieser Gruppe der Anderen, die (so ist aus der Oppositionsstruktur zu erschließen) wissend die Verworrenheit des Lebens zu ordnen vermögen, auch die Künstler (insbesondere die Dichter) zugerechnet werden. Konsistent erscheint im Durchgang der beiden ersten Strophen die Antinomie einer schweren und leichten Lebensform für unterschiedliche (soziale) Gruppen und Milieus; weniger strikt ausgearbeitet ist die Raumstruktur von ,unten' und ,oben'. 5 In der dritten Strophe wird die vertikale räumliche Schichtung in den Versen 1 lf. zunächst aufgehoben durch die horizontale Sicht auf ein Nebeneinander der unterschiedlichen Lebensformen, die auch nicht mehr deutlich geschieden, sondern durch , Schattenwurf miteinander verbunden werden. In den Versen 12f. wird dieses Faktum des Verbundenseins nun auch für die vertikale Sicht herausgestellt: Das ,leichte Leben' und das ,schwere' gehören zusammen wie „Luft [Äther] und Erde". 6 Solche Wahrnehmungen zu Antinomien und ihren Aufhebungen werden in der vierten Strophe erstmals an ein Ich gebunden: Das Ich wird zum Erfahrungsort für Zusammenhänge der beiden Existenzformen; es leidet geradezu unter den zeitlichen und räumlichen Verknüpfungen, die in Strophe IV dargestellt werden. Es kann Bedrängendes - zeitlich gesehen - nicht ,vergessen' (vgl. V.15) und - räumlich gesehen - nicht,weghalten' (vgl. V.18). Die Lebenswelten und Milieus, die in den Strophen I und II durch zunächst unbezweifelt erscheinendes Wissen als streng geschieden erscheinen, stellen sich nun dem Ich in seiner Erfahrungswelt als „durcheinander [ge]spielt" (V.20) und ,verwoben' (vgl. V.19) dar.

5

6

Die Rede des Sprechers ist durchzogen von unterschiedlichen Gegensatzbildungen, in denen entweder das Gegensatzpaar mit beiden Elementen bezeichnet ist oder ein Element erschlossen werden kann: oben vs. unten, klar vs. verworren, dem Tode fern vs. dem Tode nah (auch müde, stumm), erinnert und gegenwärtig vs. vergessen. Vgl. zur Gestaltung der Antinomien auch Vilain (1991), S. 723f. Allerdings stimmt diese Auslegung nicht völlig mit der Formulierung überein, in der das zweite „an" (V. 14) nicht das zweite Gegensatzpaar verbindet, sondern die beiden Antithesen einander zuordnet, so dass nicht eine parallelisierende Konstruktion , leicht / Luft' und ,schwer / Erde' entsteht, sondern eine Aussage über die Notwendigkeit der Bindung: Wie das Leben prinzipiell an „Luft und Erde gebunden" (V.14) ist, so besteht auch eine Bindung zwischen den leichten und den schweren Lebensformen.

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2. Sprecher und Ort der Rede Die beiden ersten Strophen lassen zunächst die Annahme zu, dass es sich um einen heterodiegetischen Sprecher handelt, der mit Distanz und , Allsicht' die Ordnung der gesellschaftlichen Welt in „drunten" und „droben" (V. 1 u. 3) betrachtet und kommentiert, sich aber für beide Gruppen auch in Mitsicht begeben kann (V.5: „schwere Glieder", V.10: „leichten Hauptes und leichter Hände"). Die dritte Strophe ist noch durch die Wahrnehmungs- und Vermittlungsweise eines überlegenen Beobachters bestimmt, der die zuvor getroffenen eindeutigen Aussagen mit dem einschränkenden „doch" ( V . l l ) relativiert - womöglich vorbereitet durch den Hinweis ,als ob sie zu Hause wären' (vgl. V.9). Herausgestellt werden zwei Verbindungsweisen: zunächst eine weniger intensive (dass die Erfahrungen des ,schweren Lebens' das ,leichte Leben' sozusagen ,verschatten'), dann eine prinzipielle, stabile Verknüpfung (die unterschiedlichen Existenzformen sind aneinander „gebunden" - V.14). Auch in dieser Aussage wird die antinomische Raum- und Bildstruktur nicht konsequent aufgebaut: Der Vergleichsbereich von Äther und Erde (vgl. V.14) ist vertikal geordnet (im Sinne von oben und unten), während die unterschiedlichen Lebensweisen im Bild des Schattenwurfes eine horizontale Ordnung voraussetzen (vgl. dazu auch V.19: „viele Geschicke [...] neben den meinen"). Der Doppelpunkt am Schluss der dritten Strophe signalisiert - so ist aus dem Fortgang der Rede zu erschließen - keine weitere Erläuterung oder Differenzierung der Wahrnehmungsweisen und Wissensformen von Strophe I bis III, sondern einen Wechsel in der Vermittlung von Beobachtungen. Die Rede des Sprechers referiert mit „Ich" (V.16) auf ihn selbst und die ihm zugeordneten Erfahrungen. Für solche Selbstaussagen erscheint als Standort nun offenkundig das ,leichte Leben' gewählt zu sein; und Strophe IV und V ,verorten' auch den Sprecher als autodiegetisch in dieser Sphäre des Sozialen: Das ,Untere', Fremde und Ferne tangieren, ja erschrecken ihn. Im Mit-Erleiden nimmt der Sprecher die Existenzformen der Anderen wahr, selbst dann, wenn sie ihm zeitlich oder räumlich ,fern' sind. Ihre „Müdigkeiten" (V.15) lassen auch ihn ermüden (seine „Lider" schließen sich über seinen Augen - V.16) und weit entfernt sich vollziehendes Leiden und Sterben (das „stumme Niederfallen ferner Sterne" als Vorzeichen für den Tod - V. 18) lässt sich nicht aus der Distanz betrachten; es wird mit Erschrecken erfahren und lastet auf der „Seele" des Sprechers (V.17). Diese Wahrnehmungen zu ,den Anderen' werden in der

Hofmannsthal: „Manche freilich ..."

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Sicht von außen vollzogen, während für die Angehörigen der eigenen Gruppe (,oben') auch Introspektion möglich ist. Die ursprünglich räumliche Antinomie wird wiederum neu besetzt: Es geht nicht mehr um den Gegensatz von ,unten' und ,oben', von ,schwer' und ,leicht', sondern um ,Müdigkeit' und ,stummes Niederfallen' (Sterben) im Gegensatz zum wachen und intensiven Wahrnehmen des Sprecher-Ichs (vgl. V.15-18). Die Sterne, die ,stumm niederfallen', haben - so wäre im Anschluss an das vorausgegangene Bild zu interpolieren - keine Kraft mehr, um sich zu halten; sie sind ,ermüdet'. Diese Zustände des (und der) Anderen, die den Sprecher erheblich affizieren (vgl. V.16), könnten auch abgeleitet werden aus Belastungen durch schwere Arbeit und aus Erfahrungen machtvoller Unterdrückung. Der Sprecher hat teil - so stellt sich fortschreitend heraus - an dem dargestellten Geschehen; im Gegensatz zu den generalisierenden Aussagen in den ersten beiden Strophen können die auf ihn selbst bezogenen Zusammenhänge nun nicht mehr in antinomischen Ordnungsmustern erfasst werden. Schreibt man dem autodiegetischen Sprecher auch die Rede der Strophen I bis III zu (im Status eines noch nicht explizit figurierten Sprechers), so wäre seine Rede insgesamt gesehen an unterschiedliche Bewusstseinshaltungen und Einsichten gebunden. Die Ausgangsposition (V.l-10) ist bestimmt durch das selbstgewisse Abgrenzen des Reichten Lebens' von den ganz anderen, den fremden Existenzweisen. Das Wissen von Strophe I und II wäre als das kollektive Wissen in der Existenzform des Reichten Lebens' zu verstehen (allerdings würde die Einschränkung „wie zu Hause" [V.9] bereits einer anderen Wissensform zugehören). Das in Strophe III vermittelte (Meta-)Wissen wäre dagegen das Wissen derjenigen, die mehr sehen als das Kollektiv, während das Wissen (und die Betroffenheit) in den Strophen IV und V einer (Minderheiten-)Position besonderer Sensibilität zuzurechnen wäre, 7 die das Wissen von Strophe III vertieft und pointiert. In Strophe V wird die nunmehr erreichte Einsicht des Sprechers genauer bezeichnet; sie ändert nichts an seiner anzunehmenden Zuordnung zur Existenzform im Zeichen des „leichten Hauptes und leichter Hände" (V.10), weist aber mit der ,,schlanke[n] Flamme und schmale[n] Leier" (V.22) zudem noch das Spezifikum des Ästheten und des Dichters aus; die „schlanke Flamme" erscheint als das gezügelte, das schöne Feuer oder in übetragener Bedeutung als das ,feine Ingenium' 7

Diese Minderheitenposition wird vom Dichter eingenommen; vgl. Thomasberger (1994), S. 236.

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des schönheitsbewussten Poeten, der sich einer zierlichen (V.22: „schmale[n]") Lyra bedient. 8 Die damit angesprochene ästhetische Einstellung zum Leben ist den Lebensbereichen von ,oben' und ,leicht' zugeordnet, doch wird die distinkte Abgrenzbarkeit dieser Lebensweise zu Gegenpositionen entschieden in Frage gestellt: Aus dem - vom Sprecher (im Gegensatz zu der dominierenden Wahrnehmungshaltung im ,leichten Leben') erfassten - Nebeneinander der „vielen Geschicke" (V.19) wird in der Erfahrung des Lebens (des „Daseins" - V.20) schließlich ein „Durcheinander" als Ergebnis eines ,Spiels' (vgl. V.20), eines Vorgangs - so ist zu vermuten - , der mehr vom Zufall als von konstatierbaren Ordnungen und Gesetzen bestimmt ist. Legt man den Sprecher auf die Rolle eines Dichters fest, dann ist dessen intensive Verbindung mit ,dem Anderen' und ,den Anderen' in Geschichte (Strophe IV) und Gegenwart (Strophe V) Belastung und Auszeichnung zugleich. Das nachhaltige Infragestellen der vom Sprecher zunächst referierten eindeutigen Abgrenzungen und Ordnungen wird in Strophe IV auch gekennzeichnet durch die markanten Inversionen des Satzbaus, aus denen dann erst in Strophe V der Fluß der Rede mit den erreichten Einsichten wieder freigesetzt wird.

3. Zur Organisation der Rede des Sprechers Das metrische Grundmuster ist ein fünfhebiger Trochäus, von dem in vielen Fällen - etwa durch daktylische Erweiterungen (z.B. V.2, 4, 5, 8, 9 u. 12) oder Vierhebigkeit - abgewichen wird. 9 Zudem ist die erste Hebung am Eingang der Verszeile oft nur schwach realisiert (beispielsweise V.6 u. 8), so dass die Aufmerksamkeit auf nachfolgende Schlüsselbegriffe (wie etwa „Wurzeln" - V.6) gelenkt wird. Die Rede ist gegliedert in deutlich abgegrenzte vierzeilige Strophen. Zu diesem Prinzip bildet nur die zweite Strophe eine Ausnahme; in zwei zusätzlichen Zeilen werden diejenigen charakterisiert, die bei den „Sibyllen" sitzen (V.9f.). Auf Reimbindungen der Verse wird verzichtet, doch sind ab Strophe II jeweils zwei Zeilen durch Enjambement zusammengefasst (mit Ausnahme der Verse 19f.). Die Verse sind durchzogen von gleich und ähnlich klingenden Phonemgruppen, so dass sich in der syntaktischen und phonetischen Ordnung der Rede die sinnsetzenden Deutungsmuster von trennender Ab8

9

„Schmal" für den Gegenstand als Attribut des Dichters kann auf das Schönheitsideal des feingliedrigen Körpers verweisen. Vgl. zu den metrischen Aspekten auch Stierle (1990), S. 116.

Hofmannsthal: „Manche freilich ..."

203

grenzung und Aufheben solcher Trennungen wiederholen. Sowohl von den Regeln zur Syntax und Semantik der Alltagssprache als auch von Lyrik-Konventionen des 19. Jahrhunderts wird ostentativ abgewichen: Das Sprecher-Ich signalisiert in der formalen Organisation seiner Rede die Bereitschaft zum Erkunden, zum Umgang mit Neuem. Dies geschieht nicht mit dem Gestus des Zerbrechens oder gar Zertrümmerns, sondern mit großer Kunstfertigkeit. 10 4. Veränderungen im Verhalten des Sprechers bei seiner , Orientierung in der W e l t ' Gegenüber Rolf Tarot11 wäre festzuhalten, dass der Sprecher (das Lyrische Ich) mit seinen Lebenseinstellungen und Wahrnehmungsweisen profiliert wird; dass seine Identität mit dem dargestellten Bewusstseinsprozess an Kontur gewinnt. Die Rede des Sprechers verdeutlicht, mit welchem Wissen er sich angesichts unterschiedlicher Existenzformen jeweils ,in der Welt' orientiert. Seine Rede verweist nicht auf Veränderungen (Ereignisse) auf der ,Geschehensebene', den wahrgenommenen Erscheinungsbildern ,νοη Welt', sondern auf Veränderungen in den Wahrnehmungsweisen und Weltdeutungen des Sprechers; es kommt zu Ereignissen auf der Bewusstseinsebene des sich selbst beobachtenden Ichs, die auf der Darbietungsebene durch den Wechsel der Wahrnehmungsweisen und Erfahrungshaltungen verdeutlicht werden. Die Strophen I bis III sowie Strophe V enthalten im Präsens artikulierte Wahrnehmungen und Einsichten, die das Ergebnis von mehrfach vollzogenen Erfahrungen sein könnten und eher ,gnomisch' als ,erlebend' dargestellt werden. Strophe IV hat eine Sonderstellung; der Sprecher erzählt (in Kürzestfassung) eine Geschichte, deren Geschehen wohl als iterativ anzusehen ist: Die Lebenseinstellung, sich ,rein vom Fremden' zu halten (eine eindeutige ale Identität, ein konsistentes Ich aufzubauen) kann aufgrund der falschen Verfahrensweise des Denkens in Antithesen nicht realisiert werden. Die expressiv ausgearbeitete Bilanz der Strophe IV lässt sich als Bekräftigung nur auf Strophe III, nicht aber auf die Strophen I und II beziehen. So signalisiert bereits das „doch" in Vers 11 eine Veränderung der Wahrnehmungshaltung und des daraus zu gewinnenden Wissens, das zur Orientierung in der Welt eingesetzt wird. Die 10 11

Vgl. dazu Schnell (2004), S. 509-511. Vgl. Tarot (1970), S. 21 Of.

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fünfte Strophe markiert dann das Ende einer Modifikation der Wissensbestände, die der Sprecher dem (nicht weiter explizierten) Adressaten seiner Rede anbietet; womöglich ist damit die Implikation verbunden, dass solche Veränderungen des Wissens einem milieu- und generationentypischen lebensgeschichtlichen Prozess der Selbstkritik eines ,adoleszenten Ästhetizismus' entsprechen. Die antinomische (hierarchisch-vertikal bestimmte) Ordnung der sozialen Welt ist als Deutungsmuster nicht mehr aufrechtzuerhalten; nun werden die unterschiedlichen Existenzformen in der Horizontale (nicht mehr übereinander, sondern nebeneinander und durcheinander) eingeordnet. Diese Veränderung, die an ein differenziertes Bewusstsein des nunmehr stärker als ,Person' explizierten Sprechers gebunden ist und an seinen Wunsch, solches ,abweichendes Wissen' zu vermitteln, hat mit einer allgemeinen Bilanz in Strophe III begonnen. Der Sprecher revidiert die erworbenen Beobachtungs- und Deutungsmuster, die in der ersten und zweiten Strophe eingesetzt wurden. Das Wissen wird im Fortgang der Rede des Sprechers komplexer; der Anspruch, mit einfachen Antinomien Leben, Gesellschaft und Geschichte deuten zu können, wird erschüttert und zurückgenommen. In Frage gestellt ist dieser Anspruch bereits durch die Unscharfen in den wiederholt und unterschiedlich ansetzenden Verbildlichungen der Antinomien, obwohl diese Ungenauigkeitenkeiten zunächst eher auf Verunsicherung schließen lassen oder auf das Ausweichen vor Erwartungen an die notwendige Differenziertheit von Beurteilungen und Einordnungen zur Orientierung ,in der Welt'. Eher (in performativer Darbietung) vorgeführt als erzählt wird in diesem Text also die Veränderung im Weltdeutungswissen und dessen ordnenden Leistungen: von einer simplen Entgegensetzung von Lebensformen bis hin zum Aufheben dieser Opposition, vom vermeintlich genau ordnenden Wissen zur Verunsicherung, zur Unbestimmbarkeit von Lebensformen. Zu fragen bleibt auch, ob das ,Geschick' des Sprechers ebenfalls eines der vielen durcheinander gespielten' Geschicke ist oder ob diese Kennzeichnung nur auf die Geschicke ,neben dem seinen' (vgl. V.19f.) zutrifft. Und schließlich: Wie wird gespielt - im Sinne eines blinden und grausamen Schicksals oder eher, wie es den Anschein hat, mit leichter Hand? Werden die poetischen Verbildlichungen nach dem Muster eines ,unmodernen', das heißt antiken Materials aus den Eingangsstrophen auch in Strophe V genutzt? Erscheinen die Menschen als Spielball der Götter? Oder wird indirekt auf moderne Erfahrungen von politischer und ökonomischer Macht verwiesen, auf physikalische Gesetze

Hofmannsthal: „Manche freilich

205

der Schwerkraft (das „Niederfallen ferner Sterne" - V.18) oder auf entwicklungsbiologische (darwinistische) Prinzipien der Degeneration (der „Müdigkeiten" - V.15)? 5. Widersprüche? Auch zum Schluss der Rede des Sprechers wird kein gesichertes Wissen erreicht; eher gewinnt man den Eindruck, dass mit unterschiedlichen Wissensformen, die in erkundende Bilder umgesetzt sind, experimentiert wird. Die abschließenden bildlichen Kennzeichnungen der Lebensform des Sprechers mit dem Verweis auf „schlanke Flamme oder schmale Leier" (V.22) werden in der vollzogenen Selbstdefmition des dichterischen Ästhetizismus zugleich relativiert; eine Festlegung auf die ,ästhetische Existenz' wäre - nach der dargestellten Erweiterung in Erfahrung und Bewusstsein - dem Sprecher als Bestimmung seiner Existenz zu wenig. So bleibt insgesamt gesehen festzuhalten, dass die Bilder und das Wissen, die im Verlauf der Rede zur Orientierung des Ichs ,in der Welt' eingesetzt werden, fortschreitend an Offenheit und Komplexität gewinnen. Angesichts der schließlich angestrebten Grundsätzlichkeit der Aussagen überrascht im Rückblick der eher beiläufige Beginn der Rede des Sprechers. 12 Zu erklären wäre diese Konstellation damit, dass der Sprecher von Anfang an als Teil der erzählten Welt (und zwar in der Existenzform ,oben') anzusehen ist und zunächst eine gängige Auffassung zur , Weltdeutung' zitiert, um sie dann fortschreitend durch Minderheiten-Positionen und seine individuelle Wahrnehmung zu ersetzen. Die eingeführten Antinomien werden in Frage gestellt; als Kohärenz stiftendes Prinzip der Rede erscheint schließlich das Überfuhren der eindeutigen Oppositionen in Verschränkungen (vgl. die Strophen IV und V). Aus dem Vermischen der Milieus und Lebenswelten in der Wahrnehmungsweise des Sprechers resultiert dann auch ein neuer (von Emotionen durchzogener) Typus von Wissen zur Situation derjenigen, die dem ,Anderen' zuzurechnen sind. Die Ausarbeitung und Darstellung unterschiedlicher Wissensformen zur Orientierung in der Welt - so könnte als These formuliert werden soll den Entwicklungsgang im Wissen des Sprechers vorführen: Vom 12

Vgl. dazu Corbineau-Hoffmann (2002), S. 42. Diese Beiläufigkeit wird auch markiert durch die syntaktisch ,nachlässige' Ausführung von V.2: „streifen" ist vermutlich als transitives Verb eingesetzt (also nicht im Sinne von ,durch die Welt streifen'), doch fehlt das Akkusativ-Objekt.

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Jörg Schönert

Wissensmuster (dem kognitiven Schema) des Trennens und Unterscheidens zu Wissensformen des Verwebens und Vermengens. Insgesamt gesehen macht sein Wissen jedoch keinen gesicherten Eindruck - auch wenn die Aussage der fünften Strophe die Aussagen der Strophen I und II ersetzen soll. Die Unsicherheit wäre beispielsweise an den inkongruenten Bildreihen mit unterschiedlich angelegten Gegensätzen festzumachen; stabile Antinomien sind nur ,manche vs. andre'; ,unten vs. oben'; ,schwer vs. leicht'. In Strophe I wird für die zielgerichtete Fortbewegung eines Schiffes noch konsequent der Gegensatz von ,oben' und ,unten' genutzt; die Strophe II zeigt dagegen eine bildlich inkonsistente Opposition von ,Wurzelwerk' und ,Palast bzw. Tempel'. In Strophe III werden in konsistenter Bildlichkeit Erde und Luft (Äther und Himmel) kontrastiert; in den Strophen IV und V sind - bildlich inkonsistent - Müdigkeit und Sterben („stummes Niederfallen" - V.18) auf „schlanke Flamme oder schmale Leier" (V.22) bezogen. Zu fragen wäre: Stellt der abstrakte Autor dadurch die wachsende Deutungskompetenz, die der Sprecher durch Aufheben der simplen Oppositionen und Differenzierung für sich beansprucht, in Frage? Oder soll vielmehr gezeigt werden, dass es dem Sprecher schwer fällt, seine ästhetizistische Weltsicht mit ihren deutlichen Grenzziehungen zwischen schön und hässlich, leicht und schwer, wissend und unwissend, vital und erschlafft zu verändern? Auf jeden Fall erhält die abschließende Aussage, dass es unmöglich sei, sich als Ästhet ,rein von der Welt' zu halten, das Gewicht einer Erfahrungsbilanz: Der Sprecher ist zu der Einsicht gelangt, dass die Komplexität von ,Leben und Welt' nicht in Gegensatzbildern erfasst werden kann und dass ein solcher Objektbereich den Standpunkt des distanzierten Betrachtens und Deutens nicht zulässt.13

Literatur Corbineau-Hoffmann, Angelika 2002 Die Analyse literarischer Texte. Einfiihrung und Anleitung. Tübingen / Basel; zu „Manche freilich ...": S. 40-45. Grimm, Reinhold 1984 Bange Botschaft. Zum Verständnis von Hofmannsthals „Manche freilich ..." in: Gedichte und Interpretationen. Bd. 5: Vom Naturalismus bis zur Jahr13

Die Ausführungen zu „Manche freilich ..." verdanken wichtige Einsichten einer TextAnalyse, die Simone Winko (Universität Göttingen) am 3.2.2000 an der Universität Hamburg zur Verabschiedung von Heinz Hillmann vorgetragen hat.

207

Hofmannsthal: „Manche freilich ..."

hundertmitte, hg. von Harald Härtung. Stuttgart, S. 33-42 [mit ausführlichen Hinweisen zur Forschungsliteratur]. Hofmannsthal, Hugo von 1984 Sämtliche Werke. Kritische Ausgabe, hg. von Rudolf Hirsch u.a. Bd. 1. Frankfurt a.M. Schnell, Ralf 2004 Von der Jahrhundertwende bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs, in: FranzJosef Holznagel u.a.: Geschichte der deutschen Lyrik. Stuttgart, S. 471-580, zu „Manche freilich ...": S. 508-513. Stierle, Karlheinz 1990 Hofmannsthals „Manche freilich ..." - ein Paris-Gedicht?, in: Etudes niques 45, S. 111-129. Tarot, Rolf 1970 Hugo von Hofmannsthal.

Daseinsformen

Thomasberger, Andreas 1994 Verwandlungen in Hofmannsthals Genese und Gestalt. Tübingen.

Germa-

und dichterische Struktur. Tübingen.

Lyrik. Zur sprachlichen

Bedeutung

von

Vilain, Robert 1991 „Wer lügt, macht schlechte Metaphern": Hofmannsthal's „Manche freilich ..." and Walter Pater, in: DVjs 65, S. 717-754.

PETER H Ü H N

Rainer Maria Rilke: „Requiem" Clara Westhoff

gewidmet

Ο)

5

10

Seit einer Stunde ist um ein Ding mehr auf Erden. Mehr um einen Kranz. Vor einer Weile war das leichtes Laub ... Ich wands: Und jetzt ist dieser Efeu seltsam schwer und so von Dunkel voll, als tränke er aus meinen Dingen zukünftige Nächte. Jetzt graut mir fast vor dieser nächsten Nacht, allein mit diesem Kranz, den ich gemacht, nicht ahnend, daß da etwas wird, wenn sich die Ranken ründen um den Reifen; ganz nur bedürftig, dieses zu begreifen: daß etwas nichtmehr sein kann. Wie verirrt in nie betretene Gedanken, darinnen wunderliche Dinge stehn, die ich schon einmal gesehen haben muß...

(II)

15

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.... Flußabwärts treiben die Blumen, welche die Kinder gerissen haben im Spiel; aus den offenen Fingern fiel eine und eine, bis daß der Strauß nicht mehr zu erkennen war. Bis der Rest, den sie nachhaus gebracht, gerade gut zum Verbrennen war. Dann konnte man ja die ganze Nacht, wenn einen alle schlafen meinen, um die gebrochenen Blumen weinen.

(III)

25

30

35

Gretel, von allem Anbeginn war dir bestimmt, sehr zeitig zu sterben, blond zu sterben. Lange schon, eh dir zu leben bestimmt war. Darum stellte der Herr eine Schwester vor dich und dann einen Bruder, damit vor dir wären zwei Nahe, zwei Reine, welche das Sterben dir zeigten, das deine: dein Sterben. Deine Geschwister wurden erfunden, nur, damit du dich dran gewöhntest, und dich an zweien Sterbestunden mit der dritten versöhntest, die dir seit Jahrtausenden droht. Für deinen Tod

210

Peter Hühn

40

45

sind Leben erstanden; Hände, welche Blüten banden, Blicke, welche die Rosen rot und die Menschen mächtig empfanden, hat man gebildet und wieder vernichtet und hat zweimal das Sterben gedichtet, eh es, gegen dich selbst gerichtet, aus der verloschenen Bühne trat.

(IV)

50

... Nahte es dir schrecklich, geliebte Gespielin? war es dein Feind? Hast du dich ihm ans Herz geweint? Hat es dich aus den heißen Kissen in die flackernde Nacht gerissen, in der niemand schlief im ganzen Haus...? Wie sah es aus? Du mußt es wissen... Du bist dazu in die Heimat gereist.

55

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65

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Du weißt wie die Mandeln blühn und daß Seen blau sind. Viele Dinge, die nur im Gefühle der Frau sind welche die erste Liebe erfuhr, weißt du. Dir flüsterte die Natur in des Südens spätdämmernden Tagen so unendliche Schönheit ein, wie sonst nur selige Lippen sie sagen seliger Menschen, die zu zwein eine Welt haben und eine Stimme leiser hast du das alles gespürt, (o wie hat das unendlich Grimme deine unendliche Demut berührt). Deine Briefe kamen von Süden, warm noch von Sonne, aber verwaist, endlich bist du selbst deinen müden bittenden Briefen nachgereist; denn du warst nicht gerne im Glänze, jede Farbe lag auf dir wie Schuld, und du lebtest in Ungeduld, denn du wußtest: das ist nicht das Ganze. Leben ist nur ein Teil Wovon? Leben ist nur ein Ton Worin? Leben hat Sinn nur, verbunden mit vielen Kreisen des weithin wachsenden Raumes, Leben ist so nur der Traum eines Traumes,

Rilke: „Requiem"

85

90

95

100

aber Wachsein ist anderswo. So ließest du's los. Groß ließest du's los. Und wir kannten dich klein. Dein war so wenig: ein Lächeln, ein kleines, ein bißchen melancholisch schon immer, sehr sanftes Haar und ein kleines Zimmer, das dir seit dem Tode der Schwester weitwar. Als ob alles andere nur dein Kleid war so scheint es mir jetzt, du stilles Gespiel. Aber sehr viel warst du. Und wir wußtens manchmal, wenn du am Abend kamst in den Saal; wußten manchmal: jetzt müßte man beten; eine Menge ist eingetreten, eine Menge, welche dir nachgeht, weil du den Weg weißt. Und du hast ihn wissen gemußt und hast ihn gewußt gestern... jüngste der Schwestern.

(V)

Sieh her, 105

110

115

120

125

dieser Kranz ist so schwer. Und sie werden ihn auf dich legen, diesen schweren Kranz. Kanns dein Sarg aushalten? Wenn er bricht unter dem schwarzen Gewicht, kriecht in die Falten von deinem Kleid Efeu. Weit rankt er hinauf, rings rankt er dich um, und der Saft, der sich in seinen Ranken bewegt, regt dich auf mit seinem Geräusch; so keusch bist du. Aber du bist nichtmehr zu. Langgedehnt bist du und laß. Deines Leibes Türen sind angelehnt, und naß tritt der Efeu ein... wie Reihn von Nonnen, die sich führen

211

212

Peter Hühn

130

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an schwarzem Seil, weil es dunkel ist in dir, du Bronnen. In den leeren Gängen deines Blutes drängen sie zu deinem Herzen; wo sonst deine sanften Schmerzen sich begegneten mit bleichen Freuden und Erinnerungen, wandeln sie, wie im Gebet, in das Herz, das, ganz verklungen, dunkel, allen offen steht.

(VI)

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150

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Aber dieser Kranz ist schwer nur im Licht, nur unter Lebenden, hier bei mir; und sein Gewicht ist nicht mehr wenn ich ihn, zu dir legen werde. Die Erde ist voller Gleichgewicht, Deine Erde. Er ist schwer von meinen Augen, die daran hängen, schwer von den Gängen, die ich um ihn getan; Ängste aller, welche ihn sahn, haften daran. Nimm ihn zu dir, denn er ist dein seit er ganz fertig ist. Nimm ihn von mir. Laß mich allein! Er ist wie ein Gast... fast schäm ich mich seiner. Hast du auch Furcht, Gretel?

(VII)

160

165

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Du kannst nicht mehr gehn? Kannst nicht mehr bei mir in der Stube stehn? Tun dir die Füße weh? So bleib wo jetzt alle beisammen sind, man wird ihn dir morgen bringen, mein Kind, durch die entlaubte Allee. Man wird ihn dir bringen, warte getrost, man bringt dir morgen noch mehr. Wenn es auch morgen tobt und tost, das schadet den Blumen nicht sehr. Man wird sie dir bringen. Du hast das Recht, sie sicher zu haben, mein Kind, und wenn sie auch morgen schwarz und schlecht und lange vergangen sind. Sei deshalb nicht bange. Du wirst nicht mehr

Rilke: „Requiem"

175

213

unterscheiden, was steigt oder sinkt; die Farben sind zu und die Töne sind leer, und du wirst auch gar nicht mehr wissen, wer dir alle die Blumen bringt.

(VIII)

180

185

Jetzt weißt du das Andre, das uns verstößt, so oft wir's im Dunkel erfaßt; von dem, was du sehntest, bist du erlöst zu etwas, was du hast. Unter uns warst du von kleiner Gestalt, vielleicht bist du jetzt ein erwachsener Wald mit Winden und Stimmen im Laub. Glaub mir, Gespiel, dir geschah nicht Gewalt: Dein Tod war schon alt, als dein Leben begann; drum griff er es an, damit es ihn nicht überlebte.

(IX)

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Schwebte etwas um mich? Trat Nachtwind herein? Ich bebte nicht. Ich bin stark und allein. Was hab ich heute geschafft? .... Efeulaub holt ich am Abend und wands und bog es zusammen, bis es ganz gehorchte. Noch glänzt es mit schwarzem Glanz. Und meine Kraft Kreist in dem Kranz.

Rainer Maria Rilke: Werke. Kommentierte Ausgabe in vier Bänden, hg. von Manfred Engel u.a. Bd. 1: Gedichte 1895 bis 1910, hg. von Manfred Engel u. Ulrich Fülleborn. Frankfurt a.M. / Leipzig 1996, S. 341-346.

1. Sprechsituation und A u f b a u „Requiem" entstand 1900 und wurde 1902 (und erneut 1906) im Buch der Bilder veröffentlicht. Anlass für das Gedicht war die briefliche Mitteilung Clara Westhoffs über den Tod ihrer Jugendfreundin Gretel Kottmeyer und den für deren Beerdigung von ihr besorgten Kranz - eine Mitteilung, die Rilke in seinem Tagebuch als Vorstufe für die dichterische Verarbeitung skizzierte. 1 Obgleich er Gretel wohl nur aus Erzählungen 1

Vgl. Stahl (1978), S. 176.

214

Peter Hühn

kannte und der Brief als , Vorlage' für Rilkes Gedicht aus der Sicht Clara Westhoffs formuliert ist, wird im Text nicht signalisiert, dass eine Frau spricht, dass der Sprecher also eindeutig vom Autor dissoziiert ist.2 Auch die Widmung an Clara Westhoff impliziert nicht, dass sie als Sprecherin anzusetzen wäre. 3 Das Geschlecht des Sprechers wird konventionellerweise mit dem des Autors gleichgesetzt (wenn man es überhaupt thematisiert), sofern nicht klare Signale dem entgegenstehen, was hier nicht der Fall zu sein scheint. Für die Deutung des Gedichtes hat die Entscheidung für einen männlichen oder weiblichen Sprecher keine Konsequenzen. 4 Der Titel „Requiem" bezieht sich auf die katholische Totenmesse, deren Eingang („Introitus") mit der Bitte an Gott um ewige Ruhe für die Toten beginnt („Requiem aeternam dona eis, domine"), und definiert damit den thematischen Rahmen (Frame) allgemein als Totenfeier und Fürbitte für Verstorbene, hier für die im Text namentlich angeredete Gretel. Konkret vollzieht das Gedicht einen performativen Reflexionsprozess, wird also unmittelbar aus der Gegenwart des Gedanken- und Geschehensablaufs heraus gesprochen (V.l: „Seit einer Stunde [...]", V.102: „gestern", V.161ff.: „morgen", V.193: „heute"). Inhaltlich repräsentieren diese Reflexionen die mentale Auseinandersetzung des Sprechers mit dem (allzu frühen) Tode der jungen Gretel - und, durch diesen ausgelöst, mit seinen eigenen Todesängsten - mit Bezug auf einen Efeukranz, den er für ihre Bestattung gebunden hat. Augenscheinlich ist sie vor wenigen Tagen gestorben und soll am Folgetag (V.l61 ff.: „morgen") beerdigt werden. Hinsichtlich der wechselnden thematischen Orientierungen dieses Gedankenprozesses ist der Text folgendermaßen in einzelne Abschnitte - narrative Sequenzen - untergliedert: (1) der Kranz (V.l-21): Versuch, Gretels Tod (Signifikat) anhand des Kranzes (Signifikant) zu begreifen; (2) Gretels Leben und Sterben (V.22-54) - in Anlehnung an ein Schicksals- und ein Bühnen-Skript; 2

3

4

Einzig der Ausdruck „Gespielin" (V.46; ähnlich: „Gespiel" - V. 181) könnte so verstanden werden, ist aber nicht eindeutig. Rilke hat zwar Clara Westhoff in einem Brief an sie vom 2.9.1902 als die Dichterin des Gedichtes bezeichnet: „wie der Dichter des Requiems, der Du ja eigentlich bist" - Rilke (1991), S. 127 aber dies heißt nicht zwingend, dass sie die Sprecherin ist, sondern nur, dass der Text auf ihre poetische Briefdarstellung zurückgeht. Ursprünglich lautete die Widmung: „Für Gretel. Clara Westhoff gewidmet" - Stahl (1978), S. 176. „Requiem" - wie auch generell Das Buch der Bilder - wird in der Sekundärliteratur kaum beachtet; vgl. den generellen Überblick bei Engel (2004), S. 227ff.

Rilke: „Requiem"

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(3) Gretels Leben und Sterben (V.55-84) - gestützt auf ein individuelles biographisches Skript (das Streben nach Ganzheit); (4) Gretels Leben und Sterben (V.85-103) - gestützt auf ein exemplarisches lebensgeschichtliches Skript (Vorbild- und Vorgängerfunktion fur andere); (5) der Kranz (V. 104-137): physische Koppelung von Kranz und Leiche, von Signifikant und Signifikat (mit Bezug auf Gretel); (6) der Kranz (V. 138-156): imaginatives Übereignen des Kranzes an die Leiche, Identifikation von Signifikant und Signifikat (mit Bezug auf den Sprecher); (7) der Kranz (V.157-175): Beerdigung als reales Übereignen des Kranzes an die Leiche; (8) Gretels Leben und Sterben (V. 176-187): zusammenfassende Wiederaufnahme der Momente aus Abschnitt 2-4; (9) der Kranz (V. 188-198): imaginative Kontrolle des Kranzes durch den Sprecher, Loslösung des Sprechers von Tod und Leiche, Selbst-Stabilisierung abgeschlossen.5 Zusätzlich zu den wechselnden Bezugsthemen wird der Gedankenprozess durch einen Wechsel der Redehaltung unterteilt. Im Anfangs- und Schlussteil (V.l-21 bzw. V. 188-198) reflektiert der Sprecher in einem Selbstgespräch über den Kranz und seine Einstellung zu ihm, während der von diesen beiden Passagen gerahmte lange Mittelteil (V.22-187) in Form einer imaginativen Anrede an Gretel adressiert ist. In der Reaktion auf die Nachricht des Todes wandelt sich somit im Laufe des dargestellten Gedankenprozesses die mentale Distanz des Sprechers zur verstorbenen Person: Die Reflexion beginnt und endet mit einer über ein dingliches Zeichen vermittelten, indirekten Bezugnahme auf den Tod (primär auf Gretels Tod und sekundär auf das allgemeine Phänomen) und nähert sich dazwischen dem Phänomen direkter über die vergegenwärtigende Imagination der Verstorbenen selbst. Hinsichtlich der Redestrategien stellt „Requiem" eine rhetorische Verarbeitung von Gretels Tod - und zugleich der eigenen Todesfurcht des Sprechers - mittels des Erzählens von Geschichten dar. Erzählen wird angewandt zum einen auf die Wiedergabe von Gretels Leben und Sterben (Abschnitt 2-4 u. 8), zum anderen auf die Reaktionen des Sprechers auf den Tod vermittelt über das Ding-Zeichen des Kranzes; sie werden projiziert auf die Einstellung zum Kranz sowie auf die Erscheinungsweise des Kranzes (Abschnitt 1, 5-7 u. 9). Zunächst etablieren die Äußerungen des 5

Vgl. die ähnliche Untergliederung bei Langenheim (1962), S. 266ff.

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Sprechers in beiden Fällen die diegetische Ebene und modellieren dort das Geschick Gretels bzw. die Herstellung und das Aussehen des Kranzes. Doch dabei werden narrative Sequenzen auf unterschiedlichen Ebenen angelegt. Während es sich im ersten Fall um Sequenzen handelt, die sich auf Vorgänge in den Lebenswelten von Gretel oder dem Sprecher beziehen (der Sprecher ,erzählt' auf der diegetischen Ebene), verweisen die unterschiedlichen Darstellungen und Bewertungen des Kranzes vor allem auf die extradiegetische Ebene des Sprechens und bilden hier eine kontinuierliche narrative Sequenz, in der die allmähliche Verarbeitung der Todesnachricht durch den Sprecher auf performative Weise zu einer Geschichte wird. Kommen die Sequenzen zu Gretel ausschließlich im gerahmten Inneren des Gedichtes vor, so umfasst die (mehrfach unterbrochene) Sequenz zum Kranz sowohl den Rahmen als auch das Innere des Gedichtes, konstituiert dessen übergreifende Struktur und bildet deren Kohärenz aus. Im Folgenden werden zuerst die narrativen Sequenzen zu Gretel, sodann die zum Kranz auf der diegetischen und extradiegetischen Ebene nacheinander untersucht.

2. Erzählungen von Gretels Leben und Sterben Gretels Leben und Sterben wird insgesamt viermal (in vier Sequenzen) erzählt, und zwar jedes Mal so, dass der (frühe) Tod keinen Schrecken darstellt, keine Gewalt bedeutet, sondern als Erfüllung, Ergänzung oder Verwandlung und auch als vorbildhaft erscheint. Diesen Erzählungen liegen unterschiedliche Schemata zugrunde; sie werden mit wechselnder Fokalisierung vorgetragen und stets an Gretel adressiert. Die erste Sequenz (Abschnitt 2, V.22-54) basiert auf einem Schicksals- und Bühnen-Skript: Gretels Leben und Sterben war von Gott „von allem Anbeginn" (V.22, vgl. auch V.36) vorherbestimmt, und der vorausgegangene Tod zweier Geschwister diente einzig ihrer Vorbereitung auf das eigene Sterben. Das dieser Sequenz zugrunde liegende Schema ist die Vorstellung, dass Gott menschliche Lebensschicksale im Sinne einer Prädestinationskonzeption so lenkt wie ein Autor die Komposition eines auf einer Bühne aufzuführenden Stückes (V.43: „gedichtet"·, V.45: „Bühne"), also eines Kunstwerkes.6 Gretel spielt in diesem Drama die Hauptrolle: Bruder und Schwester wurden nur ihretwegen „erfunden" (V.32), um durch den frühen Tod der Geschwister Gretel bei ihrem Ster6

Vgl. ebd., S. 269f.

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ben gleichsam zu helfen (V.33-35: „nur, damit du dich dran gewöhntest, / und dich an zweien Sterbestunden / mit der dritten versöhntest"). Die auf diese Art erzählte Geschichte Gretels wirkt tröstlich, da sie einen besonderen Status zugesprochen bekommt (über dem ihrer Geschwister). Ihrem Tod wird nicht nur die bedrückende Qualität von Unzeitigkeit und Sinnlosigkeit genommen (er ist vom Weltenlenker verfügt), sondern auch von Ernsthaftigkeit (das Leben als Theater). Dieser Tendenz stehen jedoch deutliche Elemente des Destruktiven und Leidvollen entgegen: Der Tod ,,droht[e]" ihr „seit Jahrtausenden" (V.36), anderes Leben wurde ihretwegen „vernichtet" (V.42), das Sterben ist „gegen" Gretel „gerichtet" (V.44), und am Ende der Passage wird der Hinweis auf Gott durch das anonyme „man" (V.42) ersetzt. Diese Ambivalenz zeigt sich auch in der veränderten Fokalisierung des Sprechers. Reduziert er zunächst dadurch die Schwere des frühen Todes, dass er das Sterben aus einer überpersönlich und überzeitlich großen Distanz, aus der Perspektive Gottes, erzählt (vgl. V.22-45), so übernimmt er anschließend (vgl. V.46-54) die individuell begrenzte Perspektive Gretels, indem er nach ihrer persönlichen Wahrnehmung dieses vorbestimmten Sterbens fragt (V.52: „Wie sah es aus?" ), und zwar speziell nach dem Ausmaß ihrer Angst und ihres Leidens (V.46-50: „schrecklich", „dein Feind", „geweint", „hat es dich [...] gerissen"). Mit diesem Übergang von externer zu figurenbezogener, interner Fokalisierung wechselt der Sprecher zugleich von der Außensicht auf die Figur zur Innensicht, zur (Re-) Konstruktion ihrer Gefühlswelt mit deutlich erhöhter Anteilnahme. Er will mit seinen Fragen Gretels Erlebnis- und Erkenntnissituation rekonstruieren (V.53: „Du mußt es wissen ..."). Für den Sprecher ist diese Frage nach ihrer persönlichen Erfahrung und ihrem Wissen allerdings in den (ihm bewussten) übergreifenden tröstlichen Perspektiven zu sehen und dadurch im Leidensaspekt zu relativieren. Ein solches Wissen sowie die (abschließende) Erwähnung von Gretels Heimreise vor ihrem Tode (vgl. V.54) leiten zugleich über zur zweiten narrativen Sequenz in der Wiedergabe von Gretels Lebenslauf (Abschnitt 3, V.55-85), der ein abstraktes biographisches Skript zugrunde liegt: Gretels kognitive Entwicklung. Ihr Leben wird hier als totalisierendes Erkenntnis- und Erfahrungsstreben, als Verlangen nach Einsicht in seinen umfassenden Sinn erzählt. Die Dynamik ihrer Entwicklung besteht darin, dass sie sowohl die Schönheit der Welt (gesteigert im offenbar mediterranen Süden - V.57f. u. 71: „Mandeln", „Seen", „Sonne") als auch die Intensität von ersten Liebeserfahrungen einer Frau (vgl. V.59f. u.

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64f.) bereits kannte, nun die Erkenntnis des Todes zur Komplettierung des Lebens suchte (V.76f.: „du lebtest in Ungeduld, / denn du wußtest: das ist nicht das Ganze") und dazu in die Heimat zurückkehrte (vgl. V.54), womöglich im Wissen um ihren bevorstehenden Tod:7 „Leben ist nur der Traum eines Traumes, / aber Wachsein ist anderswo. / So ließest du's los. / Groß ließest du's los" (V.82-85). Auch hier nimmt die Erzählung dem Tod den Schrecken, den Charakter von Lebenszerstörung: Im Gegenteil erscheint er - wiederum mit tröstlicher Implikation - als Vervollständigung und Erfüllung des Lebens, erwünscht von der Gestorbenen (worauf die Geste des freiwilligen Loslassens hindeutet). Das Konzept des Lebens als Traum, das an die Schauspiel-Metapher der vorhergehenden Sequenz anknüpft, verstärkt die tröstliche Tendenz. Wird Gretels Leben und Sterben hier, wie im Schlussteil der ersten Sequenz, weitgehend in der (Re-)Konstruktion ihrer Erfahrungen und Gefühle wiedergegeben, so verschiebt sich die Perspektive in der dritten biographischen Sequenz (Abschnitt 4, V.86-103) auf den Sprecher selbst und andere auf Gretel bezogene Personen, gewissermaßen als Gemeinde (V.86: „wir", V.97f.: „eine Menge"). Gretel erscheint aus der kollektiven Außensicht trotz ihrer kleinen Gestalt und ihres kindlichen Alters als Heilige, die andere zum Beten veranlasste (vgl. V.96) und ihnen den Weg wies und voranging, im Sinne des Vor-Lebens und Vor-Sterbens: „eine Menge, welche dir nachgeht, / weil du den Weg weißt" (V.98f.). Wie zuvor geschieht dies unter dem Aspekt eines besonderen Wissens von Gretel: „Und du hast ihn [den Weg] wissen gemußt / und du hast ihn gewußt" (V.lOOf.). Vom Sprecher wird ihr das Wissen um ihren kommenden Tod und dessen bereitwillige Annahme unterstellt und damit dem Sterben wiederum der Schrecken genommen. An diese Abfolge von drei Erzählungen zu Gretels Leben und Sterben, die durch zunehmende Annäherung der Perspektive des Sprechers (sowie der von ihm bezeichneten ,Gemeinde') an die Figur Gretel sowie durch das Mindern oder Tilgen des Todesschreckens gekennzeichnet sind, wird - nach zwei eingeschobenen Sequenzen zum Kranz (V. 104-175) - abschließend noch einmal angeknüpft (Abschnitt 8, V. 176-187). Jede dieser Sequenzen wird dabei mit ihren jeweiligen Anfangs- und Endpunkten als nunmehr vollzogen und abgeschlossen zusammengefasst: Die Verse 176f. beziehen sich auf die erste Sequenz (mit ihrem Schlussteil V.44f.): Gretel 7

Die Formulierung des Textes schließt auch die Möglichkeit nicht aus, dass Gretel im Süden starb und die Rückkehr in die Heimat den Rücktransport ihres Leichnams betrifft (vgl. 71 f.).

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hat inzwischen das noch fehlende Wissen erlangt (V.176: Jetzt weißt du"); die Verse 178f. verweisen auf die zweite Sequenz (V.55-85): Ihre Sehnsucht nach dem Fehlenden ist nun erfüllt („von dem, was du sehntest, bist du erlöst / zu etwas, was du hast"); die Verse 180ff. setzen die dritte Sequenz (V.86-103) fort: Sie ist zu etwas Großem gewachsen („vielleicht bist du jetzt ein erwachsener Wald"). Der folgende Satz spricht dann das Problem, das dem gesamten Reflexionsprozess des Sprechers zugrundeliegt und ihn auslöst, direkt an: die angstvolle Vorstellung des (frühen) Todes als Gewalt gegen einen (geliebten) Menschen. Diese Angst wird explizit verneint: „dir geschah nicht Gewalt" (V.183), und zur Begründung wird Bezug auf die erste Sequenz (auf die Verse 22-45) mit dem von Anfang an durch Gott vorbestimmten Sterben Gretels (vgl. V. 183-187) genommen. Das Argument ist allerdings ambivalent (und wirkt etwas rabulistisch): Einerseits wird die Vorzeitigkeit des Sterbens zurückgewiesen (Gretels Tod war „alt", da lange vorherbestimmt - V. 184), andererseits erscheint Gretels Sterben als Rache des Todes am Fortdauern des Lebens und bestätigt damit implizit dessen Gewalttätigkeit: Das Prädikat „griff [...] an" (V.186) schließt an die verwandten Ausdrücke „gegen dich [...] gerichtet" (V.44) und „Feind" (V.47) in Abschnitt 2 an. Die erzählerische Entschärfung des Todesschreckens angesichts von Gretels Tod gelingt damit nur teilweise - ein Rest von Schrecken bleibt. 3. Die narrative Darstellung des Kranzes Im Unterschied zur direkten Beschäftigung des Sprechers mit Gretels Sterben in den eben besprochenen Abschnitten stellen die übrigen Passagen des Gedichtes eine (mit Bezug auf den Efeukranz) symbolisch vermittelte, indirekte Verarbeitung des Todesproblems dar. Aufgrund von Indizien, wie sie im Folgenden verdeutlicht werden, ist diese Sequenz innerhalb des Frame der Todesfurcht zu lesen, der mit dem Tod Gretels assoziierten dunklen Ängste des Sprechers vor Sterben und Vergehen. Auf diesen Aspekt deuten Wendungen wie: Jetzt ist dieser Efeu seltsam schwer / und so von Dunkel voll, als tränke er / aus meinen Dingen zukünftige Nächte" (V.4-6) und ,jetzt graut mir fast vor dieser nächsten Nacht" (V.7). In diesem Sinne läuft auf der höchsten (der extradiegetischen) Sinn-Ebene des Textes eine mental-psychische Geschichte der Bewusstseinsentwicklung des Sprechers ab. Indem er seine durch Gretels Tod ausgelösten Ängste auf den Kranz projiziert und so externalisiert,

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verwendet er diesen als metonymisches dingliches Zeichen für den Tod. Über die Erscheinungsform des Kranzes und die darauf bezogenen Handlungen vermag der Sprecher seine Furcht vor der Auslöschung des Lebens zu ,bearbeiten'. Der Kranz fungiert dabei also als Signifikant für das Signifikat des Todes. Im ersten Abschnitt (V.l-21) beschreibt der Sprecher zusammen mit dem Herstellen des Kranzes auch die Konstitution seines Zeichencharakters, die er offenbar ursprünglich nicht intendiert hatte (V.9: „nicht ahnend [...]", V.12f.: „Wie verirrt / in nie betretene Gedanken [...]"), die sich dann aber ergibt, so dass er den Kranz benutzen kann, um in diesem Medium die Todesnachricht und das Phänomen des Todes überhaupt (auch des eigenen) „zu begreifen: / daß etwas nichtmehr sein kann" (V.l lf.). Paradoxerweise steht in dieser Zeichenrelation somit ein materielles Etwas - die Entstehung eines „Dings" - als Signifikant für das Signifikat eines Nichts, für das Nicht-Mehr-Seiende der Gestorbenen (vgl. V.12). Dadurch schiebt sich der Kranz sozusagen vor den Tod, nimmt seinen Platz ein (V.lf.: „seit einer Stunde ist um ein Ding mehr / auf Erden" statt dessen, was „nichtmehr sein kann" - V.12) und wird - metaphorisch - mit den Ängsten des Sprechers aufgeladen: Der Kranz wird dunkel und schwer (vgl. V.4f.) und erweckt Grauen (vgl. V.7). Das Verlangen nach Begreifen des Ungeheuerlichen wird anschließend in einem ersten Versuch vorgeführt und ansatzweise realisiert: als assoziative Erinnerung an einen früher einmal beobachteten Vorgang (V.l3: „Dinge [...], / die ich schon einmal gesehen haben muß"). Das Blumenbild (vgl. V.l5-21), das mit dem Kranz-Zeichen die Verbindung von Etwas und Nichts gemeinsam hat (diese aber nicht gleichzeitig, sondern sukzessiv - als Übergang von Etwas zu seiner Vernichtung - koppelt), erläutert den Tod als erst mutwillige und dann nachlässige Vernichtung von etwas Lebendigem, Gewachsenem und Schönem, als dessen natürliches Vergehen (die Blumen treiben flussabwärts) und bringt die trauernde Reaktion hierauf als heimliches Weinen zum Ausdruck. Dass dies Bild den Tod - nach der ernsteren Beschreibung im ersten Teil dieses Abschnitts in den Kontext eines kindlichen Spiels rückt, kann als Ansatz zur tendenziellen Abschwächung des Bedrohlichen gedeutet werden. Abschnitt 5 (V.l04-137) nimmt weitergehende Manipulationen an der semiotischen Relation von Signifikant und Signifikat im Ding-Zeichen des Kranzes vor. Im Prozess der integrativen Koppelung dieser beiden Komponenten wird der Signifikant, der Efeukranz, nun auch physisch mit dem Signifikat, der Toten (und so metonymisch dem Tod), direkt verbun-

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den, indem er ihrem Sarg und dann ihrer Leiche auferlegt wird und schließlich in sie eindringt (V. 109-123). Dieser Vorgang weist klare Merkmale von Gewalt gegen die Schutz- und Wehrlose auf (V.119: „du bist nichtmehr zu", V. 121-123: „Deines Leibes Türen sind angelehnt, / und naß / tritt der Efeu ein ..."), gesteigert durch die deutlichen Konnotationen von Vergewaltigung. Der anschließende Nonnen-Vergleich nimmt die Konnotation von (sexueller) Gewalt zugunsten religiöser Implikationen zwar wieder etwas zurück, aber nicht die Merkmale von Bemächtigung und Überwältigung, wie sie im Eindringen von fremder Materie (fremden Gestalten) in die Adern und das Herz der toten Gretel plastisch ausgemalt werden. In dieser gewaltsamen physischen Koppelung von Signifikant und Signifikat klingen die mit dem Kranz von vornherein assoziierten Ängste wieder an: im drastischen Bild für die Schrecklichkeit und Gewaltsamkeit des Todes, angesichts der betonten Ausgesetztheit und Wehrlosigkeit der Toten. Aber dieser Schrecken ist nicht auf den Sprecher, sondern nur auf Gretel und zudem lediglich auf ihren Leichnam bezogen (nicht auf die Lebende im Prozess des Sterbens). Damit setzt ein entschiedener Prozess der Distanzierung des Sprechers von seinen durch den Tod ausgelösten Ängsten ein. Dieser Prozess wird im unmittelbar folgenden Abschnitt 6 (V.138156) entscheidend dadurch weiterentwickelt, dass der Sprecher den Kranz, der sich gerade sehr eng mit Gretels Leiche verbunden hatte, nun ganz an sie abgeben möchte, um sich von ihm zu befreien: „Nimm ihn zu dir, denn er ist dein / seit er ganz fertig ist. / Nimm ihn von mir. / Laß mich allein!" (V.151-154). Im Zuge der Distanzierung kann der Sprecher die Bedeutung des Kranzes für ihn nahezu explizit benennen: Er ist für ihn bedrückend (V.138: „schwer") und mit „Ängsten" assoziiert (V.149). Der Distanzierung dient auch die Abwehr eines möglichen Schuldvorwurfs wegen einer derartigen Übereignung: Der Kranz gehöre zu ihr (vgl. V.151) und sei für Tote - anders als für Lebende - gar nicht bedrückend: Er sei „schwer / nur im Licht, / nur unter Lebenden, hier bei mir; / und sein Gewicht / ist nicht mehr / wenn ich ihn, zu dir legen werde" (V.l SSHS). Doch diese Versicherung des Sprechers ist nicht ganz glaubwürdig, da sie in Widerspruch zu einer vorherigen Erwartung steht: „dieser Kranz ist so schwer. / [...] / Kanns dein Sarg aushalten? / Wenn er bricht / unter dem schwarzen Gewicht" (V.105ff.). Und entsprechend gelingt dieser Versuch der emotionalen und moralischen Ablösung (noch) nicht völlig, wie die besorgte Schlussfrage: „Hast du auch Furcht, Gretel?" (V.156) verrät.

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Die endgültige Distanzierung wird auf die Zukunft verschoben - dies ist Gegenstand der Reflexionen im anschließenden Abschnitt 7 (V.ISTHS), in dem der Sprecher Gretels Beerdigung am folgenden Tag prospektiv erzählt. Hier ist überhaupt nicht mehr von der Beziehung des Sprechers zum Kranz die Rede (die Ablösung von ihm ist somit bereits vollzogen), sondern ausschließlich von der kommenden Übergabe an Gretel (als der Vollendung der Ablösung), und zwar mehrfach, in nahezu jedem Satz: „man wird ihn dir morgen bringen" (V.161). Zum Kranz werden ihr noch Blumen versprochen, womit der Sprecher auf den Vergleich im ersten Abschnitt zurückgreift. Das Bemühen um Befreiung von der Furcht, der Kranz (und damit - metonymisch - der Tod) könne Leiden bedeuten, wird jetzt intensiviert und bestimmt den Duktus der Rede: „warte getrost" (V.163), „schadet [...] nicht sehr" (V.166), „Du hast das Recht, / sie [die Blumen] sicher zu haben" (V.167f.), „sei [...] nicht bange" (V.171) und „Du wirst nicht mehr / unterscheiden, was steigt oder sinkt" (V.171 f.). In diesem Satz wie in den folgenden Zeilen (V. 173-175) wird die Befreiung vom Leiden zudem durch das antizipierte Verlöschen des Bewusstseins und der Wahrnehmung bekräftigt. Nachdem solchermaßen die Ablösung und die Überantwortung des Kranzes zusammen mit der ihm assoziierten Todesfurcht an Gretel abgeschlossen ist, markiert Abschnitt 8 sowohl das Ende der Sequenz zum Kranz als auch den Abschluss der Reflexionen über den unzeitigen Tod überhaupt. Der Sprecher sieht sich jetzt von der von Anbeginn mit dem Kranz assoziierten Angst befreit: Weder von dieser noch von der Toten ist mehr die Rede; er ist nunmehr „stark und allein" (V.192). Damit verändert der Kranz seine semiotische Referenz: Statt für Todesschrecken und Todesfurcht steht er nun für die Stärke und innere Stabilität des Sprechers und für seine Lebendigkeit: „meine Kraft / kreist in dem Kranz" (V.197f.). Die Herstellung des Kranzes durch den Sprecher wird hier nun eigens thematisiert als Zeichen nicht nur allgemein für seine Kraft, sondern auch spezifisch für seine Schöpferkraft: „Was hab ich heute geschafft? I.... Efeulaub holt ich am Abend und wands / und bog es zusammen, bis es ganz gehorchte. / Noch glänzt es mit schwarzem Glanz" (V. 193-196). Der Hinweis auf den Schaffensakt legt es darüber hinaus nahe, den Kranz als Kunstwerk, als Gedicht, spezifisch als das vorliegende Gedicht aufzufassen,8 in dem der Sprecher die Erfahrung des frühen Todes verarbeitet hat und mit dessen Hilfe er sich von dem Be8

Vgl. ebd., S. 262f.: Langenheim sieht die Identifikation des Kranzes als Kunstwerk (mit Rilkes Begriff des Kunstdings bezeichnet) bereits im ersten Abschnitt angedeutet.

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drängenden der eigenen Todesängste hat befreien können. In dieser Selbststabilisierung konzentriert er sich ausschließlich auf sich, kreist nur noch um sich selbst. 4. Poetische Strukturierungsverfahren Die Selbstreferenz des Schlusses und überhaupt der Charakter des Poetischen der vorgeführten Lösung wird durch die besondere klangliche Strukturiertheit des Textes gezielt unterstützt. „Requiem" ist nicht in einem konventionellen Vers- oder Strophenschema geschrieben und benutzt solche Mittel nicht prononciert zur poetischen Strukturierung. So ist das Gedicht statt in (gleichmäßige) Strophen in Abschnitte mit variierender Zeilenzahl unterteilt. Struktur und Länge der Zeilen variieren ebenfalls - zwischen Vers und Prosa (vgl. V. 15-21), zwischen neunzehn (vgl. V.13) und zwei (vgl. V.102 oder 113) Silben. Der Rhythmus ist vielfach durch regelmäßiges Alternieren von Hebungen und Senkungen gekennzeichnet (z.B. V.l-5), zeigt aber auch Abweichungen von dieser Regelmäßigkeit (beispielsweise V.13f., 84, 85, 91 u. 146). Diesen eher unauffälligen Formaspekten stehen jedoch klangliche Mittel gegenüber, die gezielt und ausgiebig zur poetischen Strukturierung des Textes eingesetzt werden, vornehmlich der Reim (End- und Binnenreim sowie Alliteration und Assonanz) und rhetorische Figuren der Wiederholung (Anaphern, Parallelismen, ,figurae etymologicae' etc). Dies sei für einzelne Passagen exemplifiziert. Abschnitt 1 (V.l-21) ist durch eine Kombination von reimenden und (wenigen) nicht-reimenden (x) Zeilen bestimmt: a-b-b-a-a-x-c-c-d-e-e-d-x-x - die letzten beiden nicht-reimenden Zeilen (V.13f.) leiten auch rhythmisch zu der folgenden Prosa-Passage über. Hinzu kommen hier beispielsweise Alliterationen (V.10: „Ranken", „ründen", „Reifen") und Ansätze von Binnenreim (V.13f.: „stehn", „gesehen"). Im Abschnitt 3 vermehren sich die Strukturierungen: a-x-b-b-c-c-d-e-d-e-f-g-f-g-h-a-h-a-i-j-j-i-x-x-x-k-k-x-l-l-e-x-mm-n-n-o-o-p-p-q-q-x-a-r-r-s-s. Die erste Zeile (V.55) reimt (a) nicht nur mit der letzten des vorhergehenden Abschnitts („weißt" - „gereist"), sondern auch noch mit drei Zeilen im weiteren Verlauf dieses Abschnitts (in V.73, „nachgereist", sogar mit identischem Reimwort). Es kommen weitere Klangfiguren vor: Parallelismen zusammen mit Anaphern (V.73-75 u. 82) und Alliterationen (V.78f.: „Teil", "Ton"; „Wovon", „Worin") und wörtliche Wiederholungen mit verändertem Anfangswort (vgl. V.84f.). Die Relation von reimenden und reimlosen Zeilen ist als Spannung zwi-

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sehen ordnenden und widerständigen Tendenzen beschreibbar. So stellt sich der Einsatz der Klangfiguren insgesamt als Bemühung dar, das Sprachmaterial mit einer Ordnungsstruktur zu überziehen, der es sich jedoch nicht völlig unterwerfen lässt. Diese poetische Strukturierung (die in ihrem Ausprägungsgrad im Laufe des Textes variiert) unterstützt die Korrelation von „Kranz" und vorliegendem Gedicht - das Gedicht „Requiem" ist gewissermaßen ein aus einfachem Sprachmaterial kunstvoll gewundener Kranz, der für Gretel hergestellt wird und der zugleich als Medium und Werk fungiert, mit dem der Sprecher seine durch den Tod ausgelösten Ängste äußert, verarbeitet und letztlich überwindet - durch Transformation in ein Kunstwerk. 5. Ereignishaftigkeit Veränderungen treten auf den beiden Ebenen ein, auf denen in „Requiem" narrative Sequenzen gebildet werden und auf denen erzählt wird: zum einen auf der diegetischen Ebene der vom Sprecher erzählten Geschichte des Lebens und Sterbens von Gretel, zum anderen auf der extradiegetischen Ebene der performativ präsentierten Geschichte der Verarbeitung der (mit dem Kranz assoziierten) Ängste des Sprechers. Auf der diegetischen Ebene beginnt das Gedicht im ersten Abschnitt (auf den Kranz bezogen) mit der deutlichen Implikation der üblichen Vorstellung, dass der Tod eines Kindes oder Jugendlichen vom normalen Lauf der Dinge gravierend abweiche, ein trauriges, wenn nicht tragisches' Schicksal darstelle und damit ein negatives Ereignis konstituiere. Diese Implikation ergibt sich aus dem Versuch, „zu begreifen, daß etwas nichtmehr sein kann" (V.l lf.), ebenso wie aus dem Grauen bei der Konfrontation mit dieser Tatsache (vgl. V.7). Die narrativen Sequenzen mit den Erzählungen zu Gretels Sterben und Tod zielen von vornherein darauf, diese implizierte (negative) Ereignishaftigkeit zu bestreiten. Dies geschieht mit den verschiedenen Argumenten, wie sie in der Analyse der drei Abschnitte (V.22-54, 55-85 u. 86-103) oben herausgearbeitet wurden: Wenn Gretels Tod von Anbeginn vorbestimmt war, wenn er die Ergänzung ihrer Existenz darstellte und wenn das Sterben genau wie ihr heiligenmäßiges Leben Vorbildcharakter für Andere hatte, dann kann er nicht als negatives Ereignis gelten - er war kein gewaltsamer Eingriff in das Leben, keine Abweichung vom zugrunde liegenden Schema (vgl. V.l 83).

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Diese Sequenzen sind nun eingebettet in die narrative Darstellung des Kranzes, in der sich die extradiegetische Sequenz der (sich wandelnden) Einstellung des Sprechers zum frühen Tod Gretels - performativ - manifestiert, und zwar als tiefgreifende Veränderung der von Grauen und Bedrückung geprägten Ausgangshaltung im ersten Abschnitt bis zur Befreiung hiervon und zur Selbst-Stabilisierung im letzten Abschnitt. Dieser Wandel tritt als schrittweise Überantwortung des Kranzes an die Tote in den internen Abschnitten in Erscheinung; er ist als (positives) Ereignis zu werten. Der Abschluss dieses Prozesses wird in Wendungen wie „Ich bin stark und allein" (V.192) und „Und meine Kraft / Kreist in dem Kranz" (V.197f.) explizit gemacht. Da sich diese ereignishafte Veränderung im Schlussabschnitt mit der Schaffung des Kranzes verbindet und der Kranz, wie oben ausgeführt, mit dem vorliegenden Gedicht gleichzusetzen ist, liegt das zentrale Ereignis letztlich in der Befreiung von existenziellen Ängsten und von Todesfurcht mit Hilfe des Dichtens, der künstlerischen Kreativität und der Mittel des Erzählens sowie - damit verbunden - im gelungenen Erschaffen des Kunstwerkes. Diese positive Entwicklung ist aufgrund der engen Verzahnung der beiden Sequenzen mitbedingt durch das Bestreiten einer (negativen) Ereignishaftigkeit innerhalb der narrativen Sequenz zu Gretels Leben und Sterben. Mit anderen Begriffen: Das Gedicht bestreitet das Vorliegen eines Geschehensereignisses und vollzieht eben dadurch zugleich ein Darbietungsereignis. Diese Ereignishaftigkeit wird nun durch gewisse Modalitäten ihrer Herbeiführung, wenn auch nicht aufgehoben, so doch ansatzweise qualifiziert.9 Sowohl die Zurückweisung der Negativität von Gretels frühem Tod als auch die Befreiung des Sprechers von Angst und Trauer gehen nicht glatt auf. Die versöhnlichen Skripts (Vorbestimmtheit, heiligenmäßige Vorbildrolle) wirken manipulativ und postulativ. Die Sorge, dass Gretel doch nach ihrem Tod noch zu leiden habe, schimmert durch (V.156: „Hast du auch Furcht, Gretel?"), lässt sich also nicht völlig eliminieren. Noch deutlicher sind die impliziten Momente von Gewalt und Überwältigung in der Kranz-Sequenz bei der Übereignung des Kranzes an Gretel. Hinzu kommen Indizien, die diese Überantwortung hinsichtlich des moralischen Status suspekt machen: das gänzlich ich-bezogene Streben des Sprechers nach Ablösung seiner Befürchtungen, damit aber auch nach 9

Vgl. zum Folgenden dagegen ebd., S. 273f.: Die Herstellung und Überantwortung des Kranzes an die Tote wird allzu harmonisch gedeutet - als Einsicht in die Notwendigkeit des Todes und seine Zugehörigkeit zum Ganzen des Lebens, als Betonung der Friedlichkeit des Sterbens.

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Aufgabe aller seiner emotionalen Bezüge zu Gretel, die er vorher stets als „Gespielin" (etwa V.46) angeredet hatte. Um es noch schärfer zuzuspitzen: Bittet die Gemeinde in der Totenmesse, dem „Requiem" um Ruhe fur die Toten, so strebt der Sprecher in Rilkes „Requiem" immer deutlicher und am Ende ausschließlich nach Ruhe für sich selbst. Zusammen gesehen machen diese Momente aufmerksam auf die Motivation und die manipulative Intention, aber auch auf die fragwürdige Einstellung des Sprechers und ermöglichen eine Beobachtung zweiter Ordnung auf seine Perspektive, die vermutlich von Rilke nicht intendiert war.10

Literatur Allemarm, Beda 1961

Zeit und Figur beim späten Rilke. Pfullingen.

Engel, Manfred (Hg.) 2004

Rilke-Handbuch:

Leben - Werk - Wirkung. Stuttgart / Weimar.

Langenheim, Karin 1962 Rainer Maria Rilke: Das Buch der Bilder. Entstehung und Deutung. Phil. Diss. Kiel. Rilke, Rainer Maria 1991 Briefe in zwei Bänden. furt a.M.

Bd. 1: 1896-1919,

Rolleston, James 1970 Rilke in Transition: An Exploration don. Stahl, August (Hg.) 1978 Rilke-Kommentar

10

hg. von Horst Nalewski. Frank-

of His Earlier Poetry. New Haven / Lon-

zum lyrischen Werk. München.

Vgl. Allemann (1961) zur Todesauffassung insbes. beim späten (aber auch frühen) Rilke, im Sinne der Einheit und Ganzheit von Leben und Tod (S. 193-203).

J Ö R G SCHÖNERT

Bertolt Brecht: „Terzinen über die Liebe" [Sieh] jene Kraniche in großem Bogen! Die Wolken, welche ihnen beigegeben [ , ] Zogen mit ihnen schon, als sie entflogen (II) Aus einem Leben in ein andres Leben. In gleicher Höhe und mit gleicher Eile Scheinen sie alle beide nur daneben. (III) [Daß also keines länger hier verweile [ J Daß so der Kranich mit der Wolke teile Den schönen Himmel, den sie kurz befliegen]" (IV) 10

Und keines andres sehe als das Wiegen Des andern in dem Wind, den beide spüren / , / Die jetzt im Fluge beieinander liegen.

(V) So mag der Wind sie in das Nichts entfuhren; Wenn sie nur nicht vergehen und sich bleiben [ , ] So lange kann sie beide nichts berühren [ J (VI) So lange kann man sie von jedem Ort vertreiben [ J Wo Regen drohen oder Schüsse schallen. So unter Sonn und Monds wenig verschiedenen Scheiben (VII) 20

Fliegen sie hin, einander ganz verfallen. Wohin, ihr? Nirgendhin. Von wem entfernt? Von allen.

(VIII) Ihr fragt, wie lange sind sie schon beisammen? Seit kurzem. Und wann werden sie sich trennen? Bald. So scheint die Liebe Liebenden ein Halt. 1928: Seht 1928: Daß so der Kranich mit der Wolke teile Den schönen Himmel, den sie kurz befliegen, Daß also keines länger hier verweile

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Jörg Schönert

Aus: Aufstieg und Fall der Stadt J Ρ J Ρ 05 / J J+P J 08 / J 09 / Ρ 10 / J 11 / J 12 / J 13 / Ρ 14 / Ρ 15 / J 16 / Ρ 17 / Ρ 18 / J 19 / J 20 / Ρ /J 21 / Ρ /J [/ J+P 22 / Ρ 23 / J /Ρ /J 24 / J+P

Mahagonny

Sieh jene Kraniche in großem Bogen! Die Wolken, welche ihnen beigegeben [ , ] Zogen mit ihnen schon, als sie entflogen Aus einem Leben in ein andres Leben [ . ] In gleicher Höhe und mit gleicher Eile Scheinen sie alle beide nur daneben. Daß so der Kranich mit der Wolke teile Den schönen Himmel, den sie kurz befliegen [ J Daß also keines länger hier verweile Und keines andres sehe als das Wiegen Des andern in dem Wind, den beide spüren [ J Die jetzt im Fluge beieinander liegen. So mag der Wind sie in das Nichts e n t f u h r e n / J Wenn sie nur nicht vergehen und sich bleiben /, / Solange kann sie beide nichts berühren [ , ] Solange kann man sie von jedem Ort vertreiben [ , ] Wo Regen drohen oder Schüsse schallen. So unter Sonn und Monds wenig verschiedenen Scheiben Fliegen sie hin, einander ganz verfallen. Wohin ihr? Nirgendhin. Von wem entfernt? Von allen. So sind sie Liebende.] Ihr fragt, wie lange sind sie schon beisammen? Seit kurzem. Und wann werden sie sich trennen? Bald. So scheint die Liebe Liebenden ein Halt.

Der erste der beiden Textabdrucke folgt Bertolt Brecht: Werke, hg. von Werner Hecht u.a. Bd. 14. Berlin u.a. 1993, S. 15f. (nach dem Erstdruck in den Blättern der ReinhardtBühnen 1931/32, H. 6). Der zweite Text entspricht Bertolt Brecht: Werke, hg. von Werner Hecht u.a. Bd. 2. Berlin u.a. 1988, S. 364f.; neben der Zeilenzählung stehen die Anfangsbuchstaben der Figuren Jenny und Paul, denen die jeweilige Verszeile in Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny zugeordnet ist. Meine Ergänzungen zu den Textvorlagen sind [kursiv] markiert; die Anordnung der Verse 7 bis 9 geht vermutlich auf ein Versehen bei der Erstpublikation zurück - der Textstand des Typoskripts von 1928 entspricht der Mahagonny-Fassung.

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1. Die Vermittlungsorte für den Text Der primäre Vermittlungsort des Texts ist die (Bordell-)Szene 14, für die das Duett zwischen Jim (später: Paul) und Jenny ab 1929 in die BrechtWeill-Oper Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny aufgenommen wurde. Wenn mit dem Bordellgeschehen die Kapitalisierung' und Käuflichkeit der Liebe kritisch dargestellt wird, soll zugleich auch ,etwas Positives' angesprochen werden: 1 das - wenn auch zeitlich begrenzte - Glück der Liebe. Die sekundäre Vermittlung isoliert den Text als Gedicht, zunächst in den Blättern der Reinhardt-Bühnen 1931/32, dann - nach einem eigenhändigen Typoskript von Bertolt Brecht aus dem Jahre 1928 („Die Liebenden") - in Wieland Herzfeldes Edition der Hundert Gedichte (1951); dort steht die Überschrift „Die Liebenden", und die Verse 22 bis 24 fehlen. 2

2. Intertextuelle Bezüge Nicht nur die Strophenform der Terzinen verweist auf Dantes Göttliche Komödie. Nach dem Verknüpfungsschema der Terzinen (hier mit fünfhebigen Jamben) wird bis Vers 21 verfahren - mit der Ausnahme der Verse 7 bis 9; dies Abweichung lässt sich vermutlich als Setzer-Versehen erklären. Die Verse 22 bis 24 brechen mit dem vorgegebenen Muster; eigentlich müssten in den Versen 22 und 24 Reime auf,Nirgendhin' erscheinen. Das Brechen des metrischen Musters korrespondiert mit der (sprecherseitigen) Relativierung des (figurenseitigen) Glaubens, dass die Liebe den Liebenden dauerhaft Halt bieten könne.3 Es fehlt auch eine die Terzinen abschließende letzte Einzelzeile; stattdessen wird der Text in der achten Terzinenstrophe mit einem Paarreim beendet.4

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Vgl. Tatlow (2001), S. 169: den Hinweis auf den Brief Emil Hertzkas von Kurt Weill vom 16.12.1927. Vgl. ebd.; Brecht hat diese Ur-Fassung wohl zum Ausarbeiten des Textes für Mahagonny benutzt. Dagegen Müller / Kindt (2002), S. 93: Das Entstehungsdatum 1928 sei nicht als gesichert anzusehen; vermutlich habe Bertolt Brecht den Gedichttext „Die Liebenden" bereits vor den Arbeiten an Mahagonny in dem überlieferten Typoskript niedergeschrieben; vgl. auch ebd., S. 148, Anm. 46. Ein formaler und ein thematischer Bezug ergibt sich zu Hugo von Hofmannsthals Terzinen-Texten im Zyklus Vergänglichkeit, vgl. insbes. „Wir sind aus solchem Zeug wie das zum Träumen ..."; Vergänglichkeit erscheint in Brechts „Terzinen" als Vergänglichkeit der Liebe'.

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Die inhaltlichen Bezüge zu Dantes Göttliche Komödie („Inferno", Gesang V, V.46ff.) sind in den literaturwissenschaftlichen Studien zu „Terzinen über die Liebe" vielfach herausgestellt worden: „Wie die Kraniche, die klagend singen / Sich in der Luft zu langen Reihen scharen", so werden in Dantes Eops die Totenschatten der „Sünder aller Fleischeslüste" („Inferno", V.38) vom Sturm getrieben; besondere Aufmerksamkeit erhalten Paolo und Francesca („Inferno", V.73ff.), die durch die gemeinsame Lancelot-Lektixre in ehebrecherischer Liebe zueinander entbrannt waren und von Francescas Ehemann (zugleich Paolos Bruder) getötet wurden - jene zwei, „die so leicht vom Wind getragen scheinen" („Inferno", V.75). 5 Der Wind ist in Brechts „Terzinen" einer der ,Akteure' des Geschehens (und ,Helfer' der Liebenden). Bei Brecht sind ,die Liebenden' allerdings - im Gegensatz zu Dantes Liebespaar - keine leidenschaftlich Liebenden. In dem weit gespannten Frame ,ein Liebespaar' wählt Brecht eine Frame-Konstellation, die den Gegebenheiten bei Dante im Bezug auf die fehlende Leidenschaftlichkeit und die begrenzte Dauer der Verbindung entgegengesetzt ist.6 Bei Dante findet sich auch nicht die Verbindung von Liebe und Liebenden mit dem Erscheinungsbild der Wolke, die Brecht herstellt. ,Wolken' stehen in Brechts Lyrik häufig im Zusammenhang mit,Vergehen' und ,Vergessen'. 7 Als aufschlussreiche Referenz auf „Terzinen über die Liebe" erweist sich Paul Celans Gedicht „Die Liebe. [1.3.1967]" aus Fadensonnen (1968). Für Celans Text liegt vermutlich ebenfalls Dantes „Inferno" als Bezugstext zugrunde. Der von Dante gestaltete Frame für die Beziehung 4

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Ungewöhnlich ist auch der dreiteilige Aufbau des vorletzten Verses (V.23) mit A n t wort - Frage - Antwort'. Zitate nach Dante Alighieri: Die Göttliche Komödie. Italienisch und deutsch. Übersetzt von Hermann Gmelin. 1. Teil: „Die Hölle". Stuttgart 1959. Bei Dante sind die Liebenden - allerdings unter der Bedingung von Höllenqualen dauerhaft miteinander verbunden. Zum Wolken-Motiv in Brechts Lyrik vgl. auch „So halb im Schlaf', „Siebenter Psalm", „Von He. 9. Psalm", „Ballade vom Tod der Anna Gewölkegesicht", „Erinnerung an die Marie A." sowie die Szene „Nacht" in der „Baal"-Version von 1919 - alle zitiert bei Müller / Kindt (2002). Ein intertextueller Bezug oder motivliches Vorbild für das Benutzen des Wolken-Motivs findet sich für Goethes Faust II, 4. Akt, eventuell auch fur Aristophanes Die Wolken (vgl. dazu in diesem Band auch die Ausführungen zu Goethes „Harzreise im Winter", S. 91 f.). In beiden Dramen erscheinen die Wolken als eine Projektionsfläche für innere Wunschbilder des Betrachtenden und gaukeln für kurze Zeit - bevor sie ihre Gestalt wieder verändern bzw. sich auflösen - eine Wunscherfüllung vor. Die Beziehung zu dem, wofür sie stehen, hat illusionären Charakter - bei Aristophanes und Goethe wie auch, in modifizierter Form, bei Brecht.

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des Liebespaares wird jedoch von den ,modernen' Desillusionen zur Idee der ,großen Liebe' überlagert. Dass Celan dabei an Brecht anknüpft, könnte sich daraus herleiten lassen, dass in einer Vorstufe zur Druckfassung ,auf den Kranich' in ,auf das Kranichpaar' geändert wurde;8 auch Celan hat - wie viele Leser - in Brechts „Terzinen" ein Kranichpaar als ,die Liebenden' angesehen: Die Liebe, zwangsjackenschön, hält auf das Kranichpaar zu. Wen, da er durch Nichts fahrt, holt das Veratmete hier, in eine der Welten herüber?

3. ,Pictura' und ,subscriptio' Als wichtiger Zugang für das Verständnis der „Terzinen über die Liebe" wird die emblematische Struktur des Textes angesehen.9 Die einleitende Anredeform „Sieh" (V.l) verweist auf ein Erscheinungsbild (die ,pictura'), das prozessual entwickelt wird. Es umfasst eine Vorgeschichte (vgl. V.3f.) und zwei einander kontrastierende Zukunftsprojektionen: Aus der Sicht der Liebenden wird sich das Paar trotz störender Einwirkungen von außen nicht trennen (vgl. V.l3-19), aus der Sicht des Sprechers ist ihre Gemeinsamkeit nur von kurzer Dauer (vgl. V.22f.). Der Kontrast dieser beiden Wahrnehmungsweisen von Gemeinschaftlichkeit führt angesichts der (zunächst einmal anzunehmenden) Autorität des Sprechers zu folgender Deutung im Sinne einer ,subscription10 Das Beisammensein' am Himmel, der ,Gleich-Flug' von Kranich und Wolke, bedeutet die Erfahrung von Liebe, auf deren Dauerhaftigkeit objektiv nicht zu vertrauen ist, wohingegen sich die Liebenden einer subjektiven Illusion der Unvergänglichkeit ihrer Liebe hingeben (V.24). Eine solche Illusion - so wäre weiterhin zu folgern - ist Voraussetzung für das Zustandekommen und den zeitweisen Bestand von Liebe; sie gibt den Liebenden den „Halt" 8

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Ein Kranichpaar findet sich bei Celan zudem in „Herzschall-Fibeln" in der Sammlung Lichtzwang von 1969. Beispielsweise bei Pietzcker (1999), S. 437-439. Die Sicht des Sprechers ist nicht per se .zuverlässiger' als die der Akteure; beide sind sie - vom abstrakten Autor - dargestellte Sichtweisen, wobei aber die des Sprechers, soweit zu sehen ist, in den „Terzinen" keine Relativierung erfahrt (ihm bleibt ,das letzte Wort' vorbehalten); es liegt nahe, seine Sichtweise auch dem abstrakten Autor zuzuschreiben.

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(vgl. V.24), den sie für ihr Miteinander brauchen. Es sind nicht nur die Liebenden der ,pictura', auf die mit der ,subscriptio' der letzten Zeile des Gedichts verwiesen wird, sondern alle Liebenden. 4. Akteure Das Geschehen, das auf der ,pictura'-Ebene erzählt wird, hat als Akteure die Zugvögel - einen Kranich-Schwarm (V. 1: „Kraniche im großem Bogen") mehrere Wolken und den Wind. Unterstellt man Brecht ornithologisches Wissen, so ist die Flugformation der Kraniche kein Bogen, sondern ein Keil; „im großen Bogen" hieße dann, dass diese Formation den Sprecher mit seinem fixierten Standort in einem großen Bogen (ihrer Flugbahn) umfliegt. Der Wind - so ist anzunehmen - hat den Kranichen die Wolken „beigegeben" (V.2) und auf diese Weise ein ungewöhnliches Liebespaar von Kranich und Wolke geschaffen," für das ein Beobachter wegen der den beiden Beteiligten zuzuschreibenden Eigenschaft von Bewegung und Veränderung (Zugvögel und ziehende Wolken) den Anspruch auf ,Dauerglück' von vornherein in Frage gestellt sehen könnte. Der Wind soll - nach dem Wunsch von Kranich und Wolke - diese beiden einander zugeordneten Akteure auch weiterhin führen (vgl. V.13); doch hat er sie nur zu einem kurzen ,Gleich-Flug' miteinander verbunden; ihre Gemeinschaft wird sich - so ist zu erwarten - „bald" (V.23) wieder auflösen (etwa mit der Ankunft am ,Zielort' des Flugs). 5. Skripts und Frames Für die ,pictura' ist das Skript von der Bewegung der Zugvögel am Himmel anzusetzen; eine ereignishafte Abweichung wäre die Konstruktion eines ,Gleich-Flugs' von Kranich und Wolke. Für die ,subscriptio' wären einander kontrastierende Aspekt-Frames zum Basis-Frame für die 11

Kranich und Wolke sind „alle beide" (V.6) und „sie beide" (V. 15). „Alle beide" - so Hermann Paul: Deutsches Wörterbuch. 9. Aufl. Tübingen 1992, S. 106 - „mit Beziehung auf zwei, die i.Ggs. dazu als einzelne schon bekannt sind", vgl. auch „alle zwei" (laut Duden: zusammenfassend für zwei unterschiedliche Dinge bzw. Zustände etc.). Danach bezieht sich „alle beide" nicht etwa auf zwei Kraniche (angesprochen wurde ja auch ein Schwann), sondern auf den gemeinsamen Flug der beiden unterschiedlichen ,Gattungswesen' Kranich und Wolke (vgl. auch V.8: „der Kranich und die Wolke"), deren Verbindung im ,Gleich-Flug' emblematisch für die Liebe zwischen Menschen steht.

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Konstellation eines Liebespaares einzubringen. Aus der Sicht der Liebenden gilt ein Frame, der bezogen ist auf das Herstellen und Behaupten einer dauerhaften (erotisch begründeten) Gleichgestimmtheit und Gemeinschaft durch Abgrenzen von der Umwelt. Dem steht gegenüber, dass eine solche unberührbare Gemeinschaft nur Schein ist, dass sie nur zeitlich begrenzten Bestand hat, weil die Unberührbarkeit dieser hergestellten Gemeinschaft als Illusion anzusehen ist. Den Geltungsanspruch dieses zweiten Frame zu bestätigen, ist Ziel der Aktionen des Zeigens und Belehrens des angeredeten Du durch den Sprecher. 6. Geschehen - Sequenzen - Geschichte Die zeitliche Reihenfolge der narrativen Teilmengen A-F wird abweichend von der Chronologie vermittelt: Zunächst Β (V.l-12) mit dem Erscheinungsbild am Himmel, unterbrochen durch die Analepse A (V.3f.); ihm folgt mit C (V.13-19) eine Prospektive zum Aufrechterhalten des Erscheinungsbildes unter veränderten äußeren Bedingungen; daran schließt sich mit D (V.20f.) eine (fingierte) Wechselrede im ,Hier' und Jetzt' an sowie mit Ε (V.22-24) die Anrede eines Publikums mit Rekurs auf die Analepse Α und einer Prognose F, gefolgt von der ,subscriptio' zur (Un-) Beständigkeit der Liebe. Als Gegebenheit im ,Hier' und ,Jetzt' erscheint „der schöne Himmel" (V.9); er hat durative Qualität und wird in unterschiedlicher Weise, während Tag und Nacht, erleuchtet durch die Gestirne Sonne und Mond (vgl. V.18); in der Prospektive wird dieser Himmel ,unschön' durch Regen, und die zu überfliegenden Regionen werden ,unschön' durch kriegerische Aktionen (vgl. V.17). „Regen" würde das Ende der Wolken bewirken, „Schüsse" das Ende der Kraniche. Als Makro-Sequenz kann gelten: Vom Wind dem Schwann zugeordnet, begleiten Wolken die Kraniche auf ihrem Vogelzug (im Frühjahr oder Herbst) von einer Region (Zustand 1: Kraniche ohne Wolken) in eine andere (Zustand 2: Kraniche wiederum ohne Wolken). Im Sinne einer ersten (Teil-)Sequenz kommt es zu einem Zwischenzustand, einer kurzen Verbindung in gleichförmiger Bewegung: Wolken und Kraniche ziehen in gleicher Höhe und in gleicher Geschwindigkeit. Diese ,schöne' Gemeinschaftlichkeit wird in den Versen 7 bis 12 in einem ,unschönen' unvollständigen Satz aus mehreren Nebensätzen (eingeleitet mit „daß") und mit der zentralen Aussage in Hypo-Hypotaxe (vgl. V.12) dargestellt als ein Aspekt des ,Flug-Programms': als Erfahrung von perfekter zeitli-

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eher und räumlicher Koordination. Die Fliegenden haben ,nur Augen füreinander' in einer schönen und mühelosen Bewegung, im ,Wiegen im Wind'; sie spüren beide dieselbe ,Antriebskraft' (den Wind); ihr Flug so stellen sie es sich vor - fuhrt in das „Nirgendhin" (V.20), in das „Nichts" (V.13); er ist ziellos und damit selbstzweckhaft. Die Erläuterung (und die sie übergreifende erste Sequenz) endet mit dem Anblick des ,Gleich-Fluges', den die Rede des Sprechers synchron verfolgt: Kranich und Wolke liegen im Fluge beieinander (vgl. V.12). Im emblematischen Verständnis der Rede ergibt sich für diese Passagen die Assoziation zum ,Beilager' im Sinne sexueller Erfüllung. Eine zweite (Teil-)Sequenz ist als Prospektive (vgl. V.13-19) angelegt; auch sie endet mit dem Blick auf den ,Gleich-Flug'; die Beschreibung wird - im Zuge der Wunschprojektion der Fliegenden - gegenüber der bilanzierenden Beschreibung in der ersten Sequenz (vgl. V.12) noch gesteigert: sie fliegen dahin, „einander ganz verfallen" (V.19). Die folgende Wechselrede mit den Fliegenden (vgl. V.20f.) schließt - vom Zeitpunkt her gesehen - unmittelbar an die erste Sequenz an, gleichsam als ein Zusatz. Zum Einordnen der Auskünfte der Fliegenden muss jedoch bereits Wissen aus der zweiten Sequenz herangezogen werden. Die Antworten beziehen sich nicht auf die Realität, die Bewegung von Zustand 1 nach Zustand 2, sondern auf die Wunschprojektion der beiden Akteure, die darauf angelegt ist, die Gemeinschaftlichkeit des Zwischenzustandes ins Unendliche zu verlängern. Die abschließende Wechselrede mit dem Publikum (mit zwei berichteten Fragen) entwirft das Gegenbild zur oben beschriebenen zweiten Sequenz und ersetzt das dort vermittelte Wunschbild durch die Realität: Der Zwischenzustand wird in Zustand 2 überführt werden; die Gemeinschaft von Kranich und Wolke kann nicht weiter bestehen. Der ,Sinn' des Erzählten wird im Schlussvers fixiert; es ergibt sich - je nach der Perspektive, die eingenommen wird - eine unterschiedliche Bedeutung: In der subjektiven Sicht von Kranich und Wolke (erscheint die Kraft der Liebe als Garantie für die Beständigkeit der Gemeinschaftlichkeit; in der Sicht des Sprechers ist die Beständigkeit der Liebe nur (An)Schein, sie kann Halt nur für eine kurze, aber womöglich wichtige Dauer des Glücks geben. Im Skript, das der Sprecher dem von ihm aufgerufenen Frame des zeitlich begrenzten Liebesglücks zuordnet, ist die Trennung der Liebenden die regelhafte Zustandsveränderung. Die zeitliche Begrenztheit einer solchen Liebesbeziehung steht ironisch zum sinnbildlichen Bezug

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des Kranichs auf Treue und Langlebigkeit, wie er in ostasiatischen Kulturen angelegt ist. Das dargestellte Geschehen und Sprechen laufen synchron ab. Die vermittelte Momentaufnahme - das Bild vom Vogel- und Wolkenflug am Himmel - ist nur der (Mittel-)Teil eines Gesamtprozesses: eines Ortswechsels von Zugvögeln (auf der ,pictura'-Ebene) bzw. (auf der ,subscriptio'-Ebene) eines Übergangs von einem Leben in ein anderes, besser von einer Lebensform in eine andere (vgl. V.4). Die zeitliche Extension des vermittelten Geschehens übersteigt also die Extension der dargestellten Sprech- bzw. Beobachtungszeit. Erzählt wird von der , Mitte des Geschehens' her (V.l, 5-12), einer Momentaufnahme (V.7: „hier", V.12: ,jetzt") zu Vorgängen am Himmel, die als ereignislose Zentralphase' anzusehen ist in dem Skript, das in der Sicht des Sprechers mit der Trennung der Liebenden die Ausgangssituation wiederherstellt. 7. Zur Darstellung der Sprechsituation Es sind zwei Konstellationen möglich. Zum einen wäre von einem heterodiegetischen Sprecher auszugehen, der nicht auf sich selbst referiert, sondern ein anonymes Du anredet - in der für Lyrik oft genutzten Verbindung des Aufforderungs- und Zeigegestus (vgl. beispielsweise Stefan George: „Komm in den totgesagten Park und schau ..."). Der in die Rede (die selbst schon einer dialogischen Situation zugehört) eingeschlossene Dialog (V.20f.) wäre dann ein ,Schein-Dialog': Der Sprecher beantwortet sich seine Fragen an die Fliegenden selbst; er übernimmt spielerisch die Sprechrolle der von ihm befragten Kraniche und Wolken. In Vers 22 wechselt dann die Adressaten-Anrede (von der 2. Person Singular in die 2. Person Plural) zu einem anonymen ,Publikum'. Dieses ,Ihr' verwendet Brecht auch häufig in den Texten, die in der Hauspostille zusammengeführt sind. Nimmt man dagegen an, dass auf die Fragen an die Fliegenden diese selbst antworten, dann hätten wir es mit einem homodiegetischen Sprecher zu tun, der am Rande des zentralen Kranich-Wolke-Geschehens steht - wobei offen bleibt, wer ,die Fliegenden' anredet: vermutlich der Sprecher, weniger wahrscheinlich das nicht weiter bezeichnete Du. Da der Sprecher sich jedoch als ,allwissend' darstellt, ergäbe sich die ungewöhnliche Konstellation eines allwissenden' homodiegetischen Sprechers, oder man müsste von einer Metalepse von der (zu Beginn) heterodiegetischen in eine (sobald die Fliegenden angeredet werden) homodiege-

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tische Sprechsituation ausgehen. Für das Verständnis des Textes entstünde aus den beiden unterschiedlichen Annahmen allerdings keine Veränderung. 8. Blicklenkungen für die Lektüre des Textes Geht man davon aus, dass der Sprecher in seiner Zuverlässigkeit als Vermittlungsinstanz vom Textrezipienten nicht in Frage gestellt wird, dann ist ihm unbeschränkte Wahrnehmung des Geschehens zuzuschreiben: Konsequenterweise hat er damit ,All-Sicht' und Allwissenheit; er kennt das Davor und Danach des Flugvorgangs, er nimmt das äußere Erscheinungsbild der Akteure Kranich und Wolke wahr und hat ,Introspektion' für ihre ,emotionale Situation' (vgl. V.13-19).12 Der Sprecher beendet seine Rede mit einer gnomischen Aussage, die zudem zu der Annahme Anlass geben kann, dass dem Sprecher auch die Überschrift und die emblematische Organisation der Rede zuzuschreiben sind. Für die verschiedenen Fassungen konkurrieren zwei Überschriften („Terzinen über die Liebe" und „Die Liebenden"), die unterschiedliche Rezeptionslenkungen nahelegen. Geht es um „Die Liebenden", dann ist anzunehmen, dass wir es mit einem homodiegetischen Sprecher zu tun haben, der in den Versen 13 bis 19 in ,Mit-Sicht' die Vorstellungsweisen der Akteure Kranich und Wolke übernimmt, um sie dann in Vers 20 anzureden. Dagegen lässt sich für die Überschrift „Terzinen über die Liebe" eher ein ,allwissender' heterodiegetischer Sprecher annnehmen, der zwischen ,Sicht von außen', ,Mit-Sicht' mit den Akteuren und ,Introspektion'13 wechseln kann. Unabhängig von solchen Vorentscheidungen zur Sprechsituation interferieren zwei (vom abstrakten Autor angelegte) Perspektiven,14 nämlich (a) die emphatisch-illusionäre Haltung der Liebenden (V. 13-21), für die der gemeinsame Flug ziel- und endlos ist, zum „Nirgendhin" führt, sowie (b) die erfahrungsgewisse, desillusionierende Haltung des Sprechers, für den der Flug nur eine ,,kurz[e]" Übergangsphase (V.9) von „einem Leben in ein andres Leben" (V.4) darstellt: Der Sprecher kennt das ,Flug-Pro12

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V.lOf. („Und keines andres sehe als das Wiegen / Des andern in dem Wind, den beide spüren") kann auch bereits als Introspektion des Sprechers zur .Gefühlswelt' der Liebenden verstanden werden. Ausfuhrlich geht Pietzcker (1999), darauf ein, dass die Textrezipienten - angeleitet vom Sprecher - unterschiedliche Perspektiven und Bewertungspositionen (,Rollen') zum erzählten Geschehen übernehmen können (S. 430-434). Nicht „Stimmen", wie Müller / Kindt (2002) formulieren (S. 96).

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gramm', das Kranich und Wolke für den ,Gleich-Flug' gleichsam mitgegeben wurde, ohne dass die beiden Akteure von der zeitlichen Begrenzung („kurz") wissen; aus ihrer Sicht wird der ,Gleich-Flug' ewig dauern, „wenn sie nur nicht vergehen und sich bleiben" (V.14), wenn sie nur auf sich selbst vertrauen und sich vom Wind weit weg aus der Wirklichkeit („in das Nichts") entfuhren lassen (V.13-19). Wie auch immer: Sie erfahren - im einander zugeordneten Fliegen - Gemeinschaftlichkeit („Und keines andres sehe als das Wiegen / Des andern in dem Wind, den beide spüren" - V.lOf.) und finden dabei, dank ihrer Illusion einer dauerhaften Liebesbeziehung, den für ihr Miteinander notwendigen Halt. Die Verse 10 bis 12 gehören syntaktisch zu dem mit „daß" eingeleiteten Finalsatz und geben insofern die Absichten desjenigen Akteurs wieder, der die Wolken den Kranichen „beigegeben" (V.2) hat. Da in diesen Versen allerdings von Wahrnehmungen die Rede ist, die Kranich und Wolke vollziehen („sehen", „spüren"), bilden die Aussagen gewissermaßen eine Überleitung zu der - ab Vers 13 anzusetzenden - Vorstellungsweise (bzw. Perspektive) der Fliegenden.15 Die in Vers 13 enthaltene prospektive Aussage, durch Schüsse und Regengüsse von bestimmten Orten ,vertrieben' bzw. aufgelöst zu werden, lässt sich mit den (subjektiven) Zielbestimmungen der Akteure für ihren ,Gleich-Flug' - hin zum „Nichts" (V.13), dem „Nirgendhin" / „Von allen [entfernt]" (V.20f.) - in Verbindung bringen, wenn man diese Zielbestimmungen als Ausdruck eines Wunsches auffasst, alle Erfahrungen des Alltags hinter sich zu lassen, um gleichsam jenseits der realen Orte und der realen Zeit im „Nichts" anzukommen. Folgt man der Annahme, dass die Wahrnehmungsweisen vom Sprecher gewechselt werden (Wahrnehmung von außen und aus der Sicht der Liebenden), ließe sich folgende Lektüre anlegen: Mit dem ,(All-)Wissen' des Sprechers formuliert sind Wolke und Kranich nicht etwa in kosmischer Ordnung in ihrer Bewegung am Himmel einander zugewiesen (vgl. V.5), sondern durch die ,spontane' Aktivität des Windes; im Sinne des vorgegebenen ,Flug-Programms' erscheinen sie zwar nebeneinander (V.6: „daneben"), doch ist dieses Beieinander zeitlich begrenzt; die im sichtbaren Himmelsflug stabile Gemeinsamkeit ist „nur" Anschein (V.6) - auf diese Weise wären die ,dunklen' Wendungen in den Versen 6f.: „scheinen" (im Sinne von ,den Anschein haben' oder als erscheinen' - vgl. auch V.24) sowie „[...] nur 15

Meine Annahme, dass der Sprecher hier aus der Sicht der Akteure Kranich und Wolke wahrnimmt, steht im Widerspruch zu den Ausführungen bei Pietzcker (1995), S. 75f.

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[...], daß [...]" (im Sinne von ,so ..., daß') und „daneben" (im Sinne von „beieinander", V.12) aufzuhellen'. Die zu erwartende Trennung der Liebenden wird aus der Sicht der Akteure des ,Flug-Geschehens' zu einem negativ besetzten Ereignis. Aus der Sicht des Sprechers (und des von ihm zu belehrenden Adressaten seiner Rede) fugt sich die Trennung dagegen in den aufgerufenen Frame zum zeitlich begrenzten Glück der Liebe. Im Augenschein des beschriebenen ,Gleich-Fluges' von Kranich und Wolke ist das Einander-ZugeordnetSein nicht etwas Ursprüngliches, sondern es erfüllt für die begrenzte Zeit des Vogelzugs einen bestimmten Zweck: Es schafft die gerade in Phasen des Übergangs wichtige Erfahrung von Gemeinschaftlichkeit.16 Ähnlich wie in den Versen 10 bis 12 kann Vers 19 sowohl in ,Mit-Sicht' mit Kranich und Wolke als auch aus der Sicht des Sprechers formuliert sein. Aus der Wahrnehmung des Sprechers wäre die Feststellung „einander ganz verfallen" (V.19) bereits von Ironie begleitet, die sich aus dem Wissen herleitet, dass die Kräfte von Selbstgewissheit und Selbstsicherheit in der (Wunsch-)Projektion der Fliegenden nicht verhindern können, dass die schöne Gemeinschaftlichkeit nur von kurzer Dauer sein wird (vgl. V.23). Erst wenn die Vorstellung von Selbstbestimmtheit und Dauerhaftigkeit einer Verbindung der Liebenden - angesichts der realen Erfahrungen mit der Liebe - als illusionär (als ,Schein' - vgl. V.24) gekennzeichnet wird,17 lässt sich akzeptieren, dass - wenn auch auf Zeit - Liebende ihre Gemeinschaft auf das Gefühl eines unerschütterlichen Miteinanders gründen. Mit der ,Belehrung' der letzten Verse soll der Leser erkennen (und damit ein Ereignis im Vorgang der Textrezeption schaffen), dass er beim Betrachten des vorgeführten Himmelsbildes einem ,schönen Schein' (dem Ideen-Programm der ,großen und ewigen Liebe') verfallen ist; er wird ernüchtert und aufgeklärt,18 während es sich aber auch bestätigt, dass der bloße Schein - die Liebesillusion - zumindest auf Zeit ,Glück' herstellen kann. Die Rede des Gedichtes lässt dieses Glück erscheinen', um zugleich einen damit verbundenen Anspruch auf Dauer auszulöschen.19 16

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Als Zeichen fur solche Gemeinschaft werden in der Oper die beiden Verse mit „scheinen" (V.6 u. 24) jeweils von ,beiden' (also J+P) gesprochen bzw. gesungen. Vgl. auch Müller / Kindt (2002) zur Steigerung' der Ausnüchterung hinsichtlich der ,Idee der Liebe' im Vergleich zur „Erinnerung an die Marie A." (S. 97). In den „Terzinen" werde allerdings „nur eine landläufige Fehleinschätzung der Liebe der Kritik geopfert", „nicht aber deren Erlebnis" (ebd.). Vgl. auch Knopf (1998), S. 31. Vgl. dazu auch Pietzcker (1999), S. 417.

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9. Kunstfertigkeit und Beiläufigkeit in der Präsentation der Rede Die Reimstruktur der Terzinen schafft eine klangliche Verbindung von inhaltlich Getrenntem; ergänzt wird dieses Verfahren vom Autor noch durch die Zeilen-Enjambements und die mehrfachen Strophen-Enjambements (V.3f., 9f. u. 15f.). Im Sinne kunstfertiger Verbindung wirken zudem die zahlreichen Assonanzen, die Anapher (V.15f.: „So lange") sowie der Reim im Zeilenausgang von Vers 1 mit Zeilenbeginn Vers 3.20 Solche Wirkungen werden jedoch zugleich in Frage gestellt durch den ostentativ nachlässigen Umgang mit der Interpunktion und die umgangsprachliche Wortwahl mancher Formulierungen (V.6 u.18). Auch das Abweichen von der Gleichzahl der fünf Hebungen gegen Ende des Textes (V.18, 20, 21 u. 23) und von der Regelmäßigkeit des weiblichen Zeilenausgangs in den Versen 23f. sowie die , Waise' in Vers 20 und der unreine Reim der Verse 21f. könnten den Eindruck von Nachlässigkeit erwecken; dies gilt auch für einige schwer zu metrisierende Zeilen (zum Beispiel V.18 u. 23). Der Emphase in der Schilderung des schönen Erscheinungsbildes ,Gleich-Flug' ist die Beiläufigkeit des Alltäglichen gegenübergestellt, die sich mit dem Aufheben der Illusion von einem beständigen Liebesglück verbindet. In der von Ironie durchzogenen Rede des Gedichts können die unterschiedlichen Einstellungen jedoch miteinander vermittelt werden.

Literatur Knopf, Jan (Hg.) 1998 Bertolt Brechts „ Terzinen über die Liebe ". Frankfurt a.M. 1998; darin eine „Interpretation" von dems., S. 23-32. Matt, Peter von 1989 Liebesverrat.

Die Treulosen in der Literatur. München / Wien, S. 81 -91.

Müller, Hans-Harald / Kindt, Tom 2002 Brechts frühe Lyrik - Brecht, Gott, die Natur und die Liebe. München, S. 93100. Pietzcker, Carl 1995 „Terzinen über die Liebe" - Von aufgehobener Sehnsucht, in: Jan Knopf (Hg.): Interpretationen. Gedichte von Bertolt Brecht. Stuttgart, S. 68-84. 1999 Bertolt Brechts „Terzinen über die Liebe", in: Studi germanici 37, S. 413-444.

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Vgl. ebd., S. 419f.: Der mit dem Rede-Inhalt vermittelten Erfahrung des begrenzten Glückes einer Vereinigung in der Gewissheit von Trennung stehen in der formalen Organisation und der ,Klanggestalt' Muster des Verbindens gegenüber.

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Rey, William H. 1971 Hohe Lyrik im Bordell: Bertolt Brechts Gedicht „Die Liebenden", in: Monatshefte 63, Η. 1, S. 1-18. Tatlow, Antony 2001 „Terzinen über die Liebe", in: Jan Knopf (Hg.): Brecht Handbuch in 5 Bänden. Bd. 2: Gedichte. Stuttgart / Weimar, S. 168-172.

JÖRG SCHÖNERT

Else Lasker-Schüler: „Mein blaues Klavier" (i)

Ich habe zu Hause ein blaues Klavier Und kenne doch keine Note. (II) Es steht im Dunkel der Kellertür, Seitdem die Welt verrohte. (III) 5

Es spiel[t]en Sternenhände vier - Die Mondfrau sang im Boote Nun tanzen die Ratten im Geklirr.

(IV) Zerbrochen ist die Klaviatür ... Ich beweine die blaue Tote. (V) 10

Ach liebe Engel öffnet mir - Ich aß vom bitteren Brote Mir lebend schon die Himmelstür Auch wider dem Verbote.

Else Lasker-Schüler: Werke und Briefe. Kritische Ausgabe. Im Auftrag des Franz Rosenzweig-Zentrums der Hebräischen Universität Jerusalem, der Bergischen Universität Wuppertal und des Deutschen Literaturarchivs Marbach am Neckar hg. von Norbert Oellers, Heinz Rölleke und Itta Shedletzky. Bd. 1: Gedichte, bearb. von Karl Jürgen Skrodzki unter Mitarbeit von Norbert Oellers. Frankfurt a.M. 1996, Nr. 377 (S. 284f.); vgl. auch die 1937 publizierte Fassung: Nr. 352 (S. 267).

Dieses Gedicht gab dem letzten (1943 publizierten) Lyrik-Band von Else Lasker-Schüler den Titel. Der Text ist vermutlich bereits Anfang des Jahres 1937 entstanden und wurde am 7. Februar 1937 erstmals in der Neuen Zürcher Zeitung veröffentlicht.1 Am 19. April 1933 hatte Else LaskerSchüler angesichts der politischen Machtdemonstrationen der NSDAP Berlin in Richtung Zürich verlassen. Die im Gedicht erhobene Klage, dass „die Welt verrohte" (V.4), lässt sich auf die Erfahrungen der NaziHerrschaft beziehen. Norbert Oellers rückt die Verse, die das „blaue Kla1

Vgl. Oellers (2002), S. 186; dort findet sich auch eine Synopse der Textfassungen von 1937 und 1943, ferner der Hinweis auf Themen- und Motivbezüge zu „Mein blaues Klavier" im Kontext der wenigen Gedichte, die Else Lasker-Schüler 1934-1938 verfasste (S. 187f.).

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vier" als „Tote" beweinen (V.9), in die Tradition von Schillers Elegie „Nänie"; 2 er liest den Text als „ein Gedicht der Erinnerung, des Verlusts, des Abschieds" 3 von der Heimat und einem Lebenstraum. 1. Einst - jetzt - zukünftig Wie viele Lyrik-Texte so bietet auch dieses Gedicht nur Abbreviaturen von Geschehen; sie sind hier der Zeitenfolge ,einst - jetzt - zukünftig' zugeordnet. In der Vergangenheit hat eine Zustandsveränderung stattgefunden: Die „Welt verrohte" (V.4), und als Folge davon (so ist anzunehmen) wurde das „blaue Klavier" in das „Dunkel der Kellertür" (V.3) gebracht. Es bleibt ungesagt, durch wen oder was auch immer seine Tastatur zerbrochen wurde, so dass es „nun" (V.7) als Instrument nicht mehr gespielt werden kann und nur noch ein Klirren zu vernehmen ist, wenn Ratten über die Tasten „tanzen" (V.7). Der Vers 7 bildet die Mittelachse des Gedichts; die vorausgehenden sechs Verse gelten dem Vergangenen; von den folgenden sechs Versen sind zwei der Gegenwart gewidmet; die letzten vier Verse beziehen sich prospektiv - abgesehen von der Analepse in Vers 11 - auf ein gewünschtes zukünftiges Geschehen. Dem SprecherIch (sagen wir: der Sprecherin) soll die Himmelstür geöffnet werden (vgl. V.10), damit sie noch im Erdenleben die Verheißungen des Himmels schaue (vermutlich zum Ausgleich und Trost für das Verrohen der Welt) oder sogar (in einer unwahrscheinlicheren Konstellation) schon ,als Lebende' (vgl. V.12) in den Himmel aufgenommen werde. Der Himmel und seine Gestirne bestimmten bereits die - so ist zu interpolieren - glücklichen Erfahrungen der Vergangenheit vor dem Verrohen der Welt: Zum vierhändigen Klavierspiel von ,Sternenmenschen' sang „die Mondfrau" (V.5f.). Der metaphorische Bezug auf die Himmelskörper mag zudem die Assoziation auf die ,Sphärenmusik' als akustisches Zeichen für einen geordneten Kosmos (im Gegensatz zur ,verrohten Welt') hervorrufen; jedoch ist der Himmel, zu dem die Sprecherin in Verbindung treten möchte, weder durch eine akustische noch eine visuelle Erscheinung genauer bestimmt. Der Anruf der Engel ersetzt in der jüdischen und in der christlichen Glaubensvorstellung das Anrufen der Person Gottes. 4 2 3 4

Vgl. Oellers (2002), S. 191. Ebd., S. 185. Hallensieben (2000) verweist in diesem Zusammenhang auf das mosaische Verbot, sich von Gott ein Bildnis zu machen; die Wendung vom „Verbot" (V.13) ist jedoch nicht zwingend mit dem ,Bild-Verbot' in Verbindung zu bringen (S. 292, 296 u. 298).

Lasker-Schüler: „Mein blaues Klavier"

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In dieser stark vereinfachten Form zeigt sich eine erzählte Geschichte im Fortschreiten von den Zuständen des erinnerten Glücks zur Klage über die Gegenwart hin zu Hoffnungen auf eine Zukunft, in der - in modifizierter Form - an glückliche Erfahrungen der Vergangenheit wieder angeknüpft werden kann. Doch ist mit der Rekonstruktion der ,histoire' für das Verständnis des Textes, für die ihm zuzuschreibende Bedeutung, noch wenig gewonnen. Weiterführende Analysen müssen der Ausarbeitung des ,discours' gelten.

2. Zur Lautgestalt Ein erster Schritt soll den (für sich genommen) zumeist bedeutungsarmen Ebenen des Textes, seiner typographischen und phonetischen Modellierung gelten. Wie häufig in der Lyrik Else Lasker-Schülers ist das Gedicht in Kurzstrophen gegliedert: zunächst in zwei zweizeilige Strophen, die dritte Strophe ist um eine Zeile erweitert (die ,Mittelpunkt-Zeile' Vers 7), danach folgen erneut eine zweizeilige und die abschließende vierzeilige Strophe. Die äußeren Strophen (zum einen Strophe I und II, zum anderen die Strophe V) bestehen jeweils aus einem Satz (in der Strophe V ist allerdings mit Vers 11 ein weiterer selbständiger, syntaktisch unverbundener Satz eingeschoben); die inneren Strophen III und IV umfassen dagegen drei bzw. zwei Hauptsätze. Es fallt auf, dass sich lediglich in Strophe II eine hypotaktische Verbindung von Haupt- und Nebensatz findet, wobei die zentrale Aussage vom Verrohen der Welt im Nebensatz steht. Die in Vergangenheit und Gegenwart aufeinander zu beziehenden Handlungen und Zustände erscheinen zumeist als syntaktisch voneinander abgegrenzte Hauptsätze - wie Einzelteile eines zerschlagenen Ganzen. Enge Verbindungen ergeben sich hingegen durch das Reimschema a-b, a-b, a-b-a, a-b, a-b-a-b. In der Lautgestalt des Gedichtes sind die Verse 7 und 8 besonders markiert (auch durch den unreinen Reim „Geklirr" / „Klaviatür"): An dieser Stelle wird das regelmäßige Alternieren des Reims - vergleichbar der „Klaviatür" - zerbrochen. Im Gegensatz zur deutlich ausgeprägten Reimbindung ist die Metrisierung der drei- und vierhebigen Verszeilen nicht auf Regelmäßigkeit abgestellt; 5 der Wechsel von Senkungen und Hebungen im jambischen Grundmuster wird mehrfach durch Verdoppelungen der Senkungen aufgehoben (vgl. beispielsweise die Verse 1, 2, 3, 7, 9 oder 11). In allen Versen mit dem Personal5

Vgl. Oellers (2002), S. 190.

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pronomen ,ich' (V.l, 9 u. 11) wird eine strikte jambische Akzentuierung im ersten Versfuß der Zeile durch die natürliche Betonung gestört. Als reine Reime sind die katalektischen (b)-Verse ausgeführt, während die akatalektischen (a)-Verse den Vokal ,i' mit ,ü' reimen, wobei das kurze ,i' in „Geklirr" die Sonderstellung von Vers 7 als ,Störung' der auf der Darbietungsebene angelegten Ordnung markiert. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass sich in der hier gewählten Perspektive der Textbeschreibung eine Tendenz zur Vereinzelung und bloßen Reihung der Aussagen abzeichnet. Das gilt auch für die centralen' Verse zur Beschreibung der Gegenwart im Zeichen der Zerstörung des Klaviers (als ,verrohender' Aktion) und seiner Inbesitznahme durch die ,tanzenden' Ratten. Alle Aussagen sind an Wahrnehmung und Bewertung der Sprecherin gebunden.

3. Die Modellierung der Klage- und Bittrede Der autodiegetischen Sprecherin, die in einer stilisiert kindhafiten Rede erscheint, ist auch die Überschrift zuzurechnen: Das „blaue Klavier" wird als ihr zugehörig ausgewiesen (und über die Farbe ,blau' sowie durch die Verweise auf Mond und Sterne auch dem Himmel). Auf das Klavier ist jedoch nur das Geschehen in Vergangenheit und Gegenwart bezogen. Der Wunsch nach einem zukünftigen Geschehen verändert nicht den Zustand des Klaviers, sondern den der Sprecherin, für die das Klavier, „die blaue Tote" (V.9), durch das Verrohen der Welt ,gestorben' ist. Die Klage um das Klavier wird ab Vers 10 von der Klage um das eigene Ich abgelöst.6 Dafür stellt die „Klaviatür" (V.8) eine Verbindung her: Die Klaviatur kann als das Herzstück des Klaviers angesehen werden - und wie dem Klavier das Herz zerstört wurde, so hat das Verrohen der Welt auch der Sprecherin das Herz gebrochen.7 In Vers 1 bis 4 wird retrospektiv vom Jetzt-Zustand aus (so V.7: „nun") - unter Einschluss einer zeitlich unbestimmten zurückliegenden Periode des Verrohens der Welt - der ,Klavier-Besitz' konstatiert.8 In der Forschungsdiskussion wird dazu auf das , Puppenklavier' (ein SpielzeugKlavier aus blauem Papier) im Privatbesitz von Else Lasker-Schüler ver6 7 8

Vgl. Loeper( 1992), S. 84f. Ebd., S. 85. Vgl. auch Hallensieben (2000), der für solche Besitz-Erklärungen auf Friedrich Hollaenders Lied „Ich hab' ein Pianola" im Film Der blaue Engel verweist (S. 297).

Lasker-Schüler: „Mein blaues Klavier"

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wiesen, von dem sie häufig berichtet9 - im Zusammenhang mit dem Erinnerungsraum ihrer Kindheit, den sie als Paradies stilisiert.10 Der Umgang mit dem Spielzeug-Klavier erfordert nicht, dass seine Besitzerin Noten lesen und diesen folgend das Klavier spielen kann." Allerdings verwiese eine solche Vorstellung vom ,Puppenklavier' nur auf einen möglichen lebensgeschichtlichen Kontext für das Gedicht. In der dargestellten Welt ist das Klavier an der Kellertüre als das uns bekannte Instrument mit Saiten und Tasten zu verstehen, auf denen die Ratten toben können. Unbestimmt bleibt, wann das Klavier in das Zuhause der Sprecherin gekommen ist. Zu vermuten ist, dass dies zu einem Zeitpunkt geschah, zu dem die Welt noch nicht „verroht" war (V.4), so dass es erst angesichts der Verrohung aus dem ,normalen' Stellort in einem Zimmer ,nach unten' in den Keller getragen (und gleichsam ,exiliert') wurde. Der Transportweg führt aus der ,himmlischen' Situation des Musizierens der Sternenmenschen und der Mondfrau hin zum „Dunkel der Kellertür" (V.3) als einem Grenzbereich zur ,Unterwelt'. Diesem Weg entgegengesetzt ist die Reaktion der Sprecherin auf das Verrohen der Welt: ihre Hinwendung zur „Himmelstür" (V.12), der auf der Klangebene des Gedichts die zerbrochene „Klaviatür" (V.8) zugeordnet ist. Dass sich das Musikinstrument gleichsam an der Schwelle zum Keller befindet, mag darauf verweisen, dass bei ersten Erfahrungen zum Verrohen der Welt noch die Hoffnung bestand, es handele sich um ein Geschehen, das nicht von Dauer sei und dessen Folgen beseitigt werden könnten. Unter solchen Voraussetzungen wäre dann der Glückszustand, von dem in der Erinnerung an Vergangenes die Rede war, wiederherzustellen. Die erinnerte Vergangenheit hat märchenhafte Züge, die sich kindlicher Einbildungskraft zurechnen lassen: Die Sternenhände stehen synekdochisch für ,Sternenmenschen' oder ,Sternenmänner', deren Klavierspiel durch den Gesang der „Mondfrau" (V.6) begleitet wird. Das Boot, in dem sie zum ,Konzert' herbeigekommen ist, wäre als die Mondsichel zu verstehen.12 Die Zeichnungen, die Else Lasker-Schüler zu ihren Texten 9 10 11

12

Vgl. Hallensieben (2000), S. 294; Oellers (2002), S. 187. Vgl. Oellers (2002), S. 187. Vgl. ebd., S. 188. Bei textimmanenter Betrachtung sind noch weitere Verständnismöglichkeiten denkbar: (1) Die Sprecherin kannte in der Vergangenheit Noten (sie hatte einen Zugang zur Kunst), hat jedoch in der ,verrohten Welt' diese Kunstfertigkeit verloren; (2) das Klavier wurde nicht von der Sprecherin selbst gespielt, sondern von anderen Notenkundigen. In südlichen Ländern erscheint die Mondsichel meist liegend, so dass sie wie eine Barke angesehen werden kann.

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erstellte oder in ihre Korrespondenz einfügte, zeigen vielfach diese Himmelselemente (wobei die Sterne häufig die Form des Davidsterns haben). Beispielsweise zieren ein Stern und die Mondsichel die Kopfbedeckungen von Figuren und weisen diese als Sternen- oder Mondmensch aus13 - vermutlich als Figuren, die eine Welt des Schönen bzw. die Wirklichkeit der Kunst repräsentieren. Solche Kunsterfahrungen verbinden sich über den Assoziationsbereich der ,Sphärenmusik' 14 mit dem Himmlischen und dem Schöpfergott - dem Vorstellungsbereich also, der von der Sprecherin im letzten, für die Zukunft bittenden Teil ihrer Rede aufgerufen wird. In der verrohten Welt werden die - auf das blaue Klavier bezogenen ,Himmelsmenschen' (vermutlich die Künstler) durch die Ratten verdrängt. Als Ratten, die ,das deutsche Volk' plagen, erschienen vielfach ,die Juden' in der antisemitischen Propaganda der Nationalsozialisten. Aus der Perspektive der Opfer solcher propagandistischer Strategien, die von der Sprecherin eingenommen wird, werden die Relationen umgekehrt: Ratten sind die Täter. In der Welt, die sie gestalten, haben Schönheit und Kunst keinen Platz: Das Klavierspiel und der Gesang der Vergangenheit sind verstummt; werden die Tasten des Klaviers (die zerstörte Klaviatur) bewegt, so ist nur noch „Geklirr" (V.7) zu vernehmen. Das glückhafte Erlebnis von Kunst (oder die Fähigkeit, selbst künstlerisch produktiv zu werden) ist der Sprecherin nicht mehr möglich. Das blaue Klavier, das Symbol für Kunst und Glück, wird personifiziert zur „blauen Toten" (V.9); dieser Tod löst Trauer aus - und Bitterkeit (so könnte die Analepse in V . l l verstanden werden); er führt zur Klagerede der Sprecherin und zu ihrer Bitte um Abhilfe dieses Zustandes (vgl. V.lOff). Das Skript, dem in dieser Konstruktion gefolgt wird, lässt sich zunächst nur sehr allgemein bezeichnen: Für die Sprecherin hat sich ein glückhafter Zustand infolge von äußeren (gesellschaftlichen) Einwirkungen in Elend verwandelt (das wäre das erste - als negativ erfahrene - Ereignis); diese Not- und Mangelsituation soll von himmlischen Mächten zum (noch näher zu bestimmenden) Positiven (dem zukünftigen zweiten 13

14

Vgl. beispielsweise Lasker-Schüler / Marc (1998), S. 81. Die Gestirne werden von Lasker-Schüler in den eigenhändigen Illustrationen zu ihren Texten vielfach zur Kennzeichnung des besonderen (beispielsweise transrealen oder androgynen) Status von Figuren verwendet. Vermuten lassen sich hier neuplatonische Einflüsse, wie sie auch in der Literatur der Romantik virulent sind, und für ,neoromantische Konstellationen' um 1900 weiter vermittelt werden. Else Lasker-Schüler könnte fur ihr Verlust- und Klagegedicht daran angeknüpft haben. Vgl. dazu Oellers (2002), S. 189.

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Ereignis) verändert werden. In der besseren Zukunft, die von der Sprecherin erbeten wird, ist das Klavier nicht mehr sichtbar. Allerdings wird über die Himmelsfarbe ,blau' eine Verbindung zwischen der erinnerten Vergangenheit (im Zeichen des „blauen Klaviers") und der (in der Schlussstrophe erhofften) Zukunft hergestellt. 15 In Lasker-Schülers Texten ist ,blau' (neben ,golden') eine ,hohe' Farbe; sie steht unter anderem für Kunst und Künstler, für irdische und himmlische Liebe, für das Verlangen nach dem Transzendieren der Wirklichkeit, für die Sehnsucht nach Glück und dem Paradies: ,Blau' ist die Farbe des Himmels und die Farbe Gottes. 16

4. Semantische Ordnungen und Assoziationsbereiche Das Musizieren in der Vergangenheit - vor dem Verrohen der Welt wird durch die Isotopie ,Himmel' („Mondfrau", „Sternenhände", „Engel", „Himmelstür") einem paradiesischen Oben' zugeordnet, wohingegen der spätere Standort des Klaviers im von Ratten bevölkerten, musiklosen Keller als ein ,höllisches Unten' bzw. als Totenreich erscheint (V.9: „Ich beweine die blaue Tote"). Ab Vers 3 fuhrt die Sprecherin mit ihrer Rede durch die Raumfolge von Hölle (Keller) - Erde - (erneut) Hölle - Himmel. 17 Deutlich markiert wird die Antithetik von Hölle und Himmel durch die Positionen von „Kellertür" (V.3) und „Himmelstür" (V.12) jeweils im Zeilenausgang. Aufgerufen werden hier biblische Vorstellungen vom Himmel in einer alltagsweltlich-kindlichen Form, die der stilisiert naiven Wahrnehmungs- und Redeweise der Sprecherin zuzuordnen ist. Im säkularisierten Verständnis wäre der Gegensatz von Himmel und Hölle im Sinne eines glücklichen, im Umgang mit Kunst erfüllten Lebens als ,Vorschein' der himmlischen Existenz und des Unglücklichseins in einer Existenzform ohne Kunst zu verstehen. Die zwischen den Zeit- bzw. Klavierstellräumen bestehenden Oppositionen (oben gegen unten, Leben gegen Tod, himmlisch gegen höllisch) lassen eine prinzipielle Assoziation 15

16

17

Obwohl mit der Himmelstür ein Raum eröffnet wird, der dem geschilderten Geschehen entzogen ist (und es womöglich zu transzendieren vermag), bleibt auf der Klangebene des Gedichts dieser Bereich über die zerbrochene „Klaviatür" (V.8) noch mit dem die Sprecherin bedrückenden Ereignisraum verbunden. Vgl. dazu allgemein Overrath (1987); zu Lasker-Schüler auch Loeper (1992), S. 86; Oellers (2002), S. 191. Vgl. dazu Hallensleben (2000), S. 195; Oellers (2002), S. 190.

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mit dem biblischen Sündenfall zu - mit dem die Welt der Menschen gegenüber der ihnen zunächst von Gott geschaffenen „verrohte" (V.3). Dieser ursprünglichen Verrohung - so wäre zu konstruieren - sind in der Geschichte der Menschheit wiederholt erneute Verrohungen gefolgt. Der aktualisierende Rückschluss auf die Barbarei der Nazi-Herrschaft liegt bei dem 1937 entstandenen Gedicht nahe. Die groß dimensionierten Assoziationsbereiche des Religiösen (der Heilsgeschichte der Menschheit), der Glücks- und Heilsverheißung durch Kunst und der politischen Geschichte Deutschlands (mit der Verfolgung der Juden) sind in diesem ,kleinen Gedicht' aufeinander bezogen. Sie drohen, den Text zu überlasten (was in der Lyrik Else Lasker-Schülers nichts Ungewöhnliches ist), doch wird durch das naiv-schlichte Erinnern, die lapidare Klage des Erzählens und die hoffnungsbereite Bitte in der Rede der Sprecherin eine prekäre Balance zwischen den weitreichenden Geschehensbezügen und Vorstellungsräumen der ,histoire' und der kindlichen Wahrnehmungs- und Äußerungsweise des ,discours' geschaffen. Was wird - mit Blick auf die angesprochenen Assoziationsbereiche erinnert und erzählt? Nach dem ,Sündenfall' (und den darauf folgenden Verrohungen der Menschenwelt) zeigte sich immerhin die Möglichkeit, mit Hilfe der Kunst - dem „blauen Klavier" - in der menschlichen Existenz Glück zu gewinnen, dem Himmel nahe zu kommen, sich mit den himmlischen Gestirnen (mit Sternen und Mond) zu verbinden, der Sphärenmusik zu lauschen.18 Das ,blaue Klavier' läßt zunächst an die ,blaue Blume' denken: Es steht für etwas Höheres als es die vorgefundene Welt bieten kann, beispielsweise für das Idealbild einer erst noch zu erreichenden Wirkungsmacht der Kunst - oder auch für das anzustrebende Kunstvermögen der Sprecherin.19 Ein solches Idealbild verwirklichen zu können, ist angesichts der erneuten, (offenkundig) weitreichenden und tiefgehenden Verrohung der Welt unwahrscheinlich geworden: Die „Klaviatür" (V.8) ist zerbrochen. Das Klavier wird in einen Abstellbereich gebracht. Es verbleibt im „Dunkel der Kellertür" (V.3) an einem Ort des Übergangs; doch - analog zum Verrohen der Welt - verrottet das , Werkzeug für Kunst' bereits an der Schwelle zum Keller. Die Hoffnungen auf die Erlösung der Menschheit durch ,himmelnahe' Kunst (vgl. V.5f.) sind zerstört: Aus dem blauen Kla18

19

Wohlgemerkt verweisen Sterne und Mond nicht auf biblische (heilsgeschichtliche) Vorgaben zum Wiedergewinnen des Paradieses, sie sind Embleme der ,privaten Kunstreligion' Lasker-Schülers. Vgl. dazu Hallensleben (2000), S. 292.

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vier ist eine „blaue Tote" (V.9) geworden. Und - so ließe sich hypothetisch hinzufügen - der Sprecherin (der Dichterin und der Dichtkunst) sind in der verrohten Welt die Inspiration und das Sprachvermögen zum Hervorbringen komplexer Sprachgebilde ausgegangen. Dem (Musik-)Kunst demonstrierenden Beispiel der ,Sternenmenschen' und der „Mondfrau" (V.6) zu folgen, ist der Sprecherin nach dem Verrohen der Welt unmöglich geworden. Dem vorausgehend verwies die Rede vom Klavier-Besitz („Mein blaues Klavier") auf ein Bedürfnis nach dem, was Kunst bedeutet und (womöglich im Sinne des ,Blauen') bewirken kann. Vers 10 bis 13 sind in der Abbreviatur des Textes als Konsequenz aus den Vergangenheits- und Gegenwartserfahrungen aufzufassen, die in Vers 1 bis 9 beschrieben werden. Der Appell der Sprecherin zum Gestalten ihrer Zukunft blendet konkrete Bezüge zur Kunst aus. Man gewinnt den Eindruck, dass die Säkularisierung des Erlösungsgedankens durch eine Kunstreligion zurückgenommen wird zugunsten der biblischen (im engeren Sinne christlichen) Verheißungen vom ,ewigen Leben' in der Himmelswelt der Seligen. Dabei liegt es nahe, dass mit dem Öffnen der Himmelstüre für die noch ,lebende' Sprecherin nicht deren Eintritt in das Himmelsreich gemeint ist, sondern das - angesichts der Verrohungen der irdischen Welt - tröstende und ermutigende Anschauen und Erleben der Transzendenz, wie es (so das religiöse Gebot) eigentlich nur denjenigen gewährt wird, die das irdische Leben verlassen haben. Diese Anschauung, die irdische Vorahnung der Transzendenz, sollten Kunstwerke nach dem Programm der frühromantischen Kunstreligion vermitteln können. Wenn aber in einer verrohten Welt Kunst keinen Ort hat und „Geklirr" (V.7) an ihre Stelle tritt; wenn die zerbrochene „Klaviatür" keinen Zugang mehr zur Transzendenz eröffnet, bleibt als Alternative womöglich nur noch die Regression auf die kindliche Hoffnung, durch die Himmelstür auf direktem Wege - ohne Vermittlung der Kunst - zur Transzendenz zu gelangen, ohne aus dem Leben zu scheiden. Für eine solche, von der Sprecherin erstrebte Ausnahmeregelung, ist als Begründung angeführt, dass sie „vom bitteren Brote" (V.ll) gegessen habe.20 20

Bezüge zum Befolgen religiöser Gesetze des Judentums hat Hallensleben (2000) entwickelt mit dem Verweis auf das Gebot, am Seder (dem Vorabend des Pesach-Festes) ungesäuertes Brot zu essen (S. 296); vgl. auch Oellers (2002), S. 190f. Das ungesäuerte Brot ist allerdings nicht bitter; nur wenn es mit dem bitteren Kraut Maror umwickelt gegegessen wird, wäre es als „bitteres Brot" zu bezeichnen (vgl. auch Joh 6, 35: „Ich bin das Brot des Lebens" und als Gegensatz dazu Sir 41, 1: „O Tod, wie bitter bist du").

250

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Damit wird - zunächst in einem unspezifischen Sinn - darauf verwiesen, dass sie Not und Elend durch die Verrohung der Welt erfahren habe. Wenn also ,die Welt' nicht mehr durch Kunst transzendiert werden kann, dann muss sich die Sprecherin, das ,Weltkind', der Transzendenz (des Himmels) versichern: Die Sprecherin will - so lese ich die Verse ,die Himmel schauen', ihr soll das Himmlische (im Öffnen der Himmelstür) offenbart werden. Nicht der Todeswunsch ist formuliert, sondern die Blickrichtung ändert sich: Im Abwenden von der Welt hin zum Jenseits. Die Sprecherin will „wider dem Verbote" (V.13) etwas schauen, dessen eigentlich nur diejenigen ansichtig werden können, die gestorben sind und zum ,ewigen Leben' erweckt werden. Wenn das bereits genannte Ereignis im Erschauen der himmlischen Freuden als noch zu erreichendes Ziel für die (in großen Zeitsprüngen) erzählende Rede genauer betrachtet wird, so ist weniger das Abweichen von dem ,Verlust- und Klage-Skript' hin zu Offenbarungs- und Erlösungsgeschehen zu markieren. Dass jemand angesichts von Verlust und Verstörung um Erlösung (aus dem irdischen Jammertal) bittet, ist - psychologisch gesehen - noch nicht ereignishaft. Zum Ereignis führt diese Bitte dadurch, dass die Sprecherin von , Grenzwächtern' (den Engeln) die Gewährung eines Raumwechsels (den Einblick oder gar Einlass in den Himmel) erbittet - eine Grenzüberschreitung, die „wider dem Verbote" (V.13) ein Ereignis ,par excellence' wäre. Zu fragen bleibt, welche Bedeutungszuschreibungen sich mit diesem biblischem Skript (der Rückkehr des Menschen in das ersehnte Paradies) verbinden lassen. Offenbar wünscht sich die Sprecherin nicht die Wiederkehr jenes quasi-himmlischen Zustandes (vor dem Verrohen der Welt), als das Klavier noch ,eine Lebende' war, die vier „Sternenhände" auf ihr spielten und die „Mondfrau" (V.5f.) sang. Ich verstehe den Hilferuf an die Engel eher als den Wunsch nach Kompensation für einen großen (und endgültigen) Verlust, nicht aber als Bitte um die Restitution der glücksverheißenden Rolle der Kunst in der irdischen Welt oder um Wiedergewinn des künstlerischen Vermögens der Sprecherin, das angesichts der verrohten Welt verloren ging. Ihre Rede in einfachen, naiv gestimmten Versen mit nur zwei Reimen erscheint - im Sinne eines Darbietungsereignisses - als ein verzweifelter Abschied von der Hoffnung, dass die irdische Welt einmal durch die Kunst ,blau' werden und von Sphärenmusik widerhallen könne. Else Lasker-Schüler hatte seit der Jahrhundertwende in unterschiedlichen literarischen Rollen - im kindlichen Spiel, in exotischer Kostümierung oder im (auch selbstironisch gebrochenen) Pathos der Absonderung und Vereinze-

Lasker-Schüler: „Mein blaues Klavier"

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lung von der Menge - solche Erwartungen an die Kunst inszeniert. Aus der Erfahrung des Exils musste dann ,die Verscheuchte'21 den Abschied von diesen Haltungen und Hoffnungen beklagen.

Literatur Hallensleben, Markus 2000 Else Lasker-Schüler. Avantgardismus blaues Klavier": S. 292-297. Lasker-Schüler, Else / Marc, Franz 1998

und Kunstinszenierung.

Mein lieber, wundervoller blauer Reiter. Privater Brießvechsel, Marquardt u. Heinz Rölleke. Düsseldorf / Zürich. Loeper, Heidrun

Bern; zu „Mein

hg. von Ulrike

1992

Else Lasker-Schüler: Mein blaues Klavier, in: Peter Geist u.a. (Hg.): Vom Umgang mit Lyrik der Moderne. Berlin, S. 84-88. Oellers, Norbert 2002

Verluste. Zu Else-Lasker-Schülers „Mein blaues Klavier", in: Ulla Hahn / Hajo Jahn (Hg.): „In meinem Turm in den Wolken". Ein Else Lasker-Schüler-Almanack. Wuppertal, S. 185-194. Overrath, Angelika 1987 Das andere Blau. Zur Poetik einer Farbe im modernen Gedicht. Stuttgart.

21

Vgl. das gleichnamige Gedicht in der Sammlung Mein blaues Klavier (Else LaskerSchüler: Werke und Briefe. Kritische Ausgabe. Bd. 1.1, S. 386f.).

PETER HÜHN

Gottfried Benn: „Du übersiehst dich nicht mehr - " (i) Du übersiehst dich nicht mehr? Der Anfang ist vergessen, die Mitte wie nie besessen, und das Ende kommt schwer.

(II) 5

Was hängen nun die Girlanden, was strömt nun das Klavier, was zischen die Jazz und die Banden, wenn alle Abende landen so abgebrochen in dir?

10

Du könntest dich nochmals treiben mit Rausch und Flammen und Flug, du könntest - : das heißt, es bleiben noch einige Töpferscheiben und etwas Ton im Krug.

15

Doch du siehst im Ton nur die losen, die Scherben, den Aschenflug ob Wein, ob Öl, ob Rosen, ob Vase, Urne und Krug.

(III)

(IV)

Gottfried Benn.: Sämtliche Werke. Bd. 1: Gedichte, hg. von Gerhard Schuster in Verb, mit Ilse Benn. Stuttgart 1986, S. 232. Zuerst veröffentlicht 1951 in Gottfried Benn: Fragmente: Gedichte. Wiesbaden 1951, S. 5.

1. Frame und Redesituation Der allgemeine situative und thematische Rahmen (Frame) des Gedichts ist der bilanzierende Blick auf das eigene Leben, von einem Zeitpunkt aus, da es sich dem Ende zuzuneigen beginnt. 1 Aus dieser Situation heraus artikuliert der Sprecher seine Reflexion über seinen Lebensgang, retrospektiv auf den bisherigen Verlauf und prospektiv auf eine mögliche Zukunft gerichtet. Ausgelöst wird die Reflexion offensichtlich durch die spontane Wahrnehmung, die plötzliche Bewusstwerdung der Unüberschaubarkeit, Heterogenität und Fragmentarität des eigenen Ich, wie der 1951 hatte Benn das Alter von 65 Jahren erreicht; 1956 starb er.

254

Peter Hühn

Titel dies formuliert: „Du übersiehst dich nicht mehr - " . Die Formulierung dieser Wahrnehmung als Selbst-Anrede verrät zugleich ihre Ursache, das auslösende Moment: den distanzierten, verfremdeten Blick auf sich selbst und (als Resultat) die interne Diskrepanz in der Selbstwahrnehmung zwischen dem Ich als (beobachtendem) Subjekt und (beobachtetem) Objekt sowie die zeitliche Differenz in dieser Hinsicht zu einer anderen Vergangenheit („nicht mehr"). Die Selbstwahrnehmung hat aufgrund der Metapher des Sehens neben der zeitlichen auch eine räumliche Dimension und impliziert ebenfalls, besonders in der Form des ,Übersehens' (vgl. V.l), des Überblickens, eine potentiell Gesamtsicht verschaffende Distanz zu sich selber. Die Momente der quasi-räumlichen Übersicht und der zeitlichen Veränderung lenken den Blick auf deren Hintergründe und setzen so einen Reflexionsprozess in Gang. Er beginnt mit der fragenden Wiederaufnahme der auslösenden Wahrnehmung in Strophe II: Die Befragung und Problematisierung dieser spontanen Feststellung leitet einen Prozess der Selbstklärung und Selbstvergewisserung ein. 2. Sequenzen und Skripts Der Gang der Reflexion über das eigene Leben basiert auf der abstrahierten formalen Sequenzstruktur eines Prozesses in der grundlegenden Abfolge von Anfang, Mitte, Ende, die vom Sprecher zweimal durchlaufen wird - mit .unterschiedlichem Abstraktionsgrad und Fokus. Während die erste Strophe den gesamten Lebensgang mit diesen Begriffen in abstrakter Form und mit gleichem Gewicht auf den drei Phasen beschreibt, konzentrieren sich die letzten drei Strophen zunächst auf die gegenwärtige Situation und dann auf das Kommende und das Ende. Die Gegenwartsposition, von der aus dieser Blick erfolgt, ist ein Punkt zwischen der Mitte und dem (nach Annahme des Sprechers nicht mehr weit entfernten) Ende. Es handelt sich bei dieser Sequenzstruktur um ein sehr allgemeines Skript mit impliziter quasi-teleologischer Kohärenz, das die Erwartung auf das (nach Ablauf von Anfang und Mitte) noch ausstehende Ende lenkt. Durch die erwartete Fortsetzung und Beendigung des Verlaufs kommt insofern eine dynamische Spannung in den Reflexionsprozess, als dem Sprecher die Zukunft nicht gleichgültig ist, sondern er ihr mit emotionaler Beteiligung (etwa mit Unbehagen oder Sorge) entgegensieht und er sie daher nicht nur zu verstehen, sondern ansatzweise auch zu beeinflussen sucht. In seiner allgemeinsten Form, in Gestalt der abstrakten Benennung der Lebensphasen in ihren relativen Positionen, dient dieses Skript in der

Benn: „Du übersiehst Dich nicht mehr - "

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ersten Strophe der Beurteilung der Struktur des bis zu diesem Zeitpunkt abgelaufenen Lebens - mit dem Resultat, dass es bis dahin inkohärent, fragmentarisiert und leer war. Nicht nur dass kein Zusammenhang zwischen den Halt gebenden Fixpunkten von Anfang, Mitte und Ende besteht, sondern diese selbst geben auch keine verlässlichen Größen ab: Der Anfang ist der Erinnerung nicht mehr zugänglich; die Mitte hat keine Substanz und ist nie Teil des Ich geworden; das Ende bedrückt und schließt nicht glatt an das Vorhergehende an (V.4: „kommt schwer"), bietet also noch keinen Orientierungspunkt. Anschließend reflektiert der Sprecher jetzt konkret, und zwar mit Hilfe einer Reihe von Metaphern bzw. Synekdochen, 2 in je einer Strophe, über die gegenwärtige Situation (vgl. Strophe II), die mögliche aktive Gestaltung der Fortsetzung (vgl. Strophe III) und das schließliche Resultat (vgl. Strophe IV). Die zweite Strophe präsentiert die gegenwärtigen (V.5: „nun") Versuche, die abgebrochene Entwicklung des Lebensganges durch rauschhafte Vergnügung oder Ablenkung - nach der Tagesarbeit, am Abend - zu kompensieren und neu anzutreiben, hier bildlich dargestellt als Jazz-Konzert, in festlich geschmücktem Saal, möglicherweise verbunden mit Tanz und daher mit der Implikation von Liebe und Leidenschaft. 3 Die Dynamik äußert sich in den Bewegungsverben „strömen" und „zischen" (V.6f.), wird aber zugleich durch den Misston in „zischen" und das Moment der Immobilität in „hängen" (V.5) von vornherein unterschwellig eingeschränkt. 4 Die implizierte Einschränkung beim Versuch der rauschhaft-festlichen Gestaltung und Fortsetzung des Lebensvollzugs wird am Ende der Strophe als Scheitern explizit gemacht und auf den Begriff gebracht: „abgebrochen" (V.9) - es gelingt nicht, Kohärenz und Zusammenhang herzustellen, so dass sich die negative Erfahrung der ersten Strophe trotz des gegensätzlichen Versuchs bestätigt. Das angedeutete Skript eines kohärenten Entwicklungszusammenhangs des Lebens kann nicht umgesetzt werden. Wie sehr dieser Versuch bei derartigem Ausgang 2

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Die Verweise der zweiten Strophe können sowohl metaphorisch (als bildliches Analogon des Lebens) als auch synekdochisch (als konkreter Teil des Lebensvollzugs) verstanden werden. Zur Funktion von Rausch im Werke Benns - als dynamisches Mittel zur Transzendierung oder Auflösung des isolierten und begrenzten Ich im Sinne einer Integration in allumfassende Totalitäten oder Einheiten - vgl. Koch (1999); Sorg (1984), S. 180ff.; Schlesier (1993). Eine zusätzliche Einschränkung kann man in der ironischen Geste erblicken, mit der das Kompositum „Jazz bands" aus Reimgründen auseinandergerissen und in seinem zweiten Teil mit grotesker Anspielung eingedeutscht wird.

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bereits von vornherein zum Scheitern verurteilt ist, wird syntaktisch dadurch unterstrichen, dass die drei anaphorisch mit „was" eingeleiteten Ansätze und die dadurch parallelisierten drängenden Impulse alle gleichermaßen in der Negativität des Ergebnisses (vgl. V.8f.) enden und dadurch nachträglich entwertet und zurückgenommen werden. Die dritte Strophe greift diesen Versuch der Dynamisierung des Lebens mittels Ekstase und Erregung erneut auf, gewissermaßen mit erhöhter Bewusstheit, nämlich mit abstrakter oder metaphorischer Benennung der Mittel: „du könntest dich nochmals treiben / mit Rausch und Flammen und Flug" (V. 1 Of.). Das Drängende des Versuchs wird wieder durch den Ansatz zu einer anaphorischen Reihung (V.10 u. 12: „du könntest") ausgedrückt, aber bereits durch den Konjunktiv (V.12: „könntest") abgeschwächt und dann durch den Abbruch des Satzes nach der Wiederholung von Pronomen und Verb aufgegeben. Doch gegenüber dem abschließenden Scheitern in der zweiten Strophe wird dieser Abbruch jetzt durch einen weiteren Ansatz wieder aufgefangen, indem die verwendete Begrifflichkeit der Ekstase nunmehr in einen anderen Bildkomplex, den der Töpferei, umformuliert wird (V.12: „das heißt"). Die Töpferei ist ebenfalls als Skript anzusehen, mit dem normalen Ablauf vom Vorliegen des Rohmaterials über dessen Bearbeitung mit Hilfe der Töpferscheibe bis zur endgültigen Fertigstellung des Produktes. Damit ändern sich die Implikationen der angestrebten Kohärenz des Lebensverlaufs. Verweisen die ekstatischen Bilder „Rausch", „Flammen" und „Flug" sowie das Verb „treiben" auf die Intensität des Erlebens und auf die Dynamik der Entwicklung, aber damit zugleich auf deren Immaterialität, Endlichkeit und Flüchtigkeit (besonders Rausch und Flug sind kaum als andauernd vorstellbar), so suggeriert das Töpferbild die Herstellung eines materiellen Objektes - eines Gebrauchsgegenstandes oder Kunstwerks - mit der Erwartung seiner Dauerhaftigkeit. Diese Dauerhaftigkeit wird in anderer Hinsicht auch durch das Verb „bleiben" (V.12) bezeichnet, aber die Formulierung impliziert letztlich bereits die Zurücknahme früherer hoher Erwartungen - denn was bleibt, sind lediglich Relikte und Fragmente (V.12f.: „es bleiben / noch einige [...]", V.14: „etwas [,..]").5 Auch die letzte Strophe ist, wie die vorhergehenden, durch die widerstreitenden Tendenzen des aktiven Strebens nach Kohärenz und seines Scheiterns gekennzeichnet, jedoch nun in anderer Reihenfolge, konträr zu 5

Das Töpferbild ist in sich unstimmig, insofern man eigentlich nicht mehrere Töpferscheiben benötigt und Ton nicht im Krug, sondern für einen Krug verwendet. Es bleibt zu fragen, ob daraus bestimmte Bedeutungszuschreibungen abzuleiten wären.

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vorher. Folgt in der zweiten und dritten Strophe nach Aufbruch und Streben deren Rücknahme (in letzterer allerdings dann wieder halb aufgefangen), so beginnt die vierte Strophe mit der Wahrnehmung des Scheiterns, um dies dann durch Nennung von Substituten für das angestrebte Ziel zu unterlaufen. Dies bedeutet, dass sich die Betonung von der objektiv vorhandenen Sachlage (wie sie vorher im Zentrum stand) nunmehr zur subjektiven Perspektive auf diese verschiebt. Die Wahrnehmung des Scheiterns setzt die Einschränkungen vom Ende der dritten Strophe fort: zunächst in „doch" und „nur", dann verstärkend in „die losen, / die Scherben" (V.15f.). Nicht das geschaffene Werk im Sinne von Kohärenz und Vollendung wird wahrgenommen, sondern dessen unverbundene Bruchstücke (mit impliziertem Rückbezug auf „abgebrochen" - V.9).6 Das Moment der Zerstörung drückt sich noch stärker im Wort „Aschenflug" aus, denn es kombiniert die beiden positiven Metaphern von Erlebnisintensität in „Flamme" und in „Flug" (V.l 1) aus der dritten Strophe zu einem negativen Bild: Die Elemente des positiven Aufbruchs aus der vorhergehenden Strophe werden aufgegriffen und ins Negative gewendet im Sinne einer negativen Form der Kohärenz. In den folgenden beiden Zeilen werden dann allerdings unzerstört die intendierten Gefäße und deren Inhalte genannt, wobei insgesamt wiederum die Reihenfolge umgekehrt ist. Die verschiedenen Tongefäße und Inhalte sind chiastisch angeordnet: Wein und Öl passen zu Krug, Rosen zu Vase. „Urne" - als Mittelglied in der Aufzählung - fällt heraus und erhält dadurch besonderes Gewicht. Während Krug mit Wein (und Öl)7 und Vase mit Rosen die Rauschhaftigkeit und Lebensintensität von vorher wieder aufnehmen, verweist Urne voraus auf den Tod, das Ende, das bereits am Schluss der ersten Strophe angesprochen worden war. Der Urne kann jetzt nachträglich auch noch der Aschenflug, als Zerstörungsprodukt des Lebens, zugeordnet werden - die Urne erscheint damit assoziativ als Behältnis von Totenasche. Die Urne als Metonymie des Endes und Todes wird durch die beiden Metaphern des Lebens gerahmt und so in eine Ordnung eingepasst. Auf diese Weise stellt sich inmitten der Beschreibung der Versuche der kohärenten, sinnhaften Fortsetzung des Lebensvollzugs 6

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Der syntaktische Zusammenhang zwischen der ersten und zweiten Hälfte dieser letzten Strophe lässt sich dahingehend explizieren, dass „ob" als „ganz gleich ob" zu verstehen ist. In einer kurzen Bemerkung verknüpft Schlesier (1993) diese Stelle mit der dionysischen Motivik bei Benn und sieht hier eine Anspielung auf den Opferkrug im Gedicht „Dir auch - " von 1927 (S. 523).

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unversehens ein Verweis in Gestalt dieser Metonymie auf den Tod und das Ende des Lebens ein. Dass dies in bildlicher Parallelität zu den Tropen des Lebens geschieht - im Bilde verschiedener Töpferei-Produkte ist als Anzeichen dafür zu deuten, dass sich jetzt doch noch so etwas wie eine Kohärenz des Lebens herausbildet.

3. Formale Kohärenzmuster und Ereignishaftigkeit Diese Kohärenz wird wesentlich semantisch, im sprachlichen Medium hergestellt - über das metaphorische Skript des Töpferprozesses und den metonymischen Bezug der Produkte auf Lebensmitte und Lebensende. Die Anzeichen von Ordnung sind also rhetorisch konstituiert. Es finden sich noch weitere Momente zum Einpassen des Gedichtschlusses in eine (sich etablierende) Ordnung, die prononciert formaler Natur sind. Auffällig sind die prosodischen Wiederholungsfiguren, die sich in allen Strophen finden. So setzt die Anaphorik des „ob" in den letzten beiden Zeilen die Kette der anaphorischen Elemente der vorhergehenden beiden Strophen (V.5-7: „was", V.10 u. 12: „du könntest") fort und schließt sich ebenfalls an den Parallelismus in der ersten Strophe an („der Anfang", „die Mitte", „das Ende"). Eine formale Einordnung und Kohärenzbildung zeigt sich darüber hinaus in der Reimverwendung. Zum ersten Mal in diesem Gedicht werden in der letzten Strophe Reimwörter aus vorhergehenden Strophen wieder aufgenommen (und zwar als identische Wiederholung): „Aschenflug" (V.16) nimmt „Flug" ( V . l l ) und „Krug" dasselbe Wort (V.18-14) aus der vorletzten Strophe auf; Anrede und Verb in „du übersiehst" aus Titel und erster Zeile kehren in „du siehst" (V. 16) wieder. Ferner legt die Reimstruktur der Strophen eine konsistente Ordnung über die Reflexionsabfolge. Die erste und letzte Strophe haben je vier, die beiden Mittelstrophen je fünf Zeilen mit folgendem Reimmuster: a-b-b-a, c-d-c-c-d, e-f-e-e-f, g-f-g-f. Die Mittelteile sind also gleich strukturiert, und Anfang und Ende entsprechen einander in der Zeilenzahl, aber nicht in der Anordnung der Reime. In Hinsicht auf diese hängt die Schlussstrophe deutlich mit der vorhergehenden als Teil der Mitte zusammen, indem - wie eben angemerkt - nicht nur der Reim (f), sondern sogar die identischen Reimwörter wieder aufgegriffen werden. Auf diese Weise sind somit Anfang, Mitte und Ende formal aufeinander bezogen und in einer klaren, variierten Ordnung miteinander verknüpft: Der Anfang ist am Schluss nicht vergessen, sondern wird wörtlich sozusagen „erinnert"; die zweiteilige Mitte ist konsistent - parallel - organisiert; das Ende

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kommt nicht schwer, sondern rhythmisch leicht, fast tänzerisch, in den zweimaligen Dreierfiguren mit jeweils markierter Kadenz. Damit wird in der sprachlichen, sinnlichen (hörbaren) Materialität des Gedichtes die Kohärenz aller Teile und ihre Einheit realisiert, deren Fehlen die inhaltlichen Aussagen selbst gerade beklagen. 8 Die prosodisch-ästhetische Ganzheit des Gedichttextes fungiert - so kann man diesen Befund interpretieren - als Kompensation für die fehlende Identität und Ganzheit der Person auf der Aussagenebene. Dieser Rückbezug der formalen Ebene der Darbietung auf die Ebene des Geschehens ist nun noch um einen weiteren Zusammenhang zu ergänzen. Der Töpferbildkomplex verweist in der letzten Zeile auf die verschiedenen Produkte dieses handwerklichen Herstellungsprozesses, also auf geschaffene Werke. Auch der Gedichttext präsentiert sich, wie eben nachgezeichnet, als komponiertes, ,gemachtes' Werk, so dass man als Fazit des Gedichtes formulieren kann, dass das innerhalb des Textes unerfüllte Verlangen nach Ganzheit und die scheiternde Suche nach dem Zusammenhang des Lebenslaufs in der sprachlichen Organisation des künstlerischen Werkes ihre erfolgreiche Erfüllung und Realisierung finden. Das Gedicht stellt sich mithin als das künstlerische Gefäß (Vase, Urne, Krug) dar, in dem das Leben aufbewahrt ist. Es bildet gewissermaßen den bergenden Zusammenhang für die unterschiedlichen Phasen des menschlichen Lebens - bis hin zu seinem Ende, wenn die Urne die Asche des verbrannten Leichnams aufnimmt und diesem , Überrest' der Existenz paradoxerweise Dauer verleiht. 9 Anders ausgedrückt: Das Kunstwerk, speziell das Ge8

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Diese besondere Konstellation kann man mit der allgemeineren Spannung zwischen personalem Ich in der lebensweltlichen Existenz und dem absoluten Ich in der Kunst in Verbindung bringen, wie Meister (1983) sie beschreibt (S. 129ff.). Die in diesem Beispiel auf die Problematik der Ich-Identität beziehbare sprachlichformale Vollendung des Gedichttextes wird von Benn in seinem Marburger Vortrag von 1951 Probleme der Lyrik unter dem Begriff der „Artistik", der künstlerischen und künstlichen „Gemachtheit", generell zum entscheidenden Kennzeichen der modernen Lyrik erklärt: „Artistik ist der Versuch der Kunst, innerhalb des allgemeinen Verfalls der Inhalte sich selbst als Inhalt zu erleben und aus diesem Erlebnis einen neuen Stil zu bilden, es ist der Versuch, gegen den allgemeinen Nihilismus der Werte eine neue Transzendenz zu setzen: die Tendenz der schöpferischen Lust" - Benn (1951), S. 12. Und den Bezug auf das Ich formuliert er ebenfalls explizit: „Ein Gedicht ist immer die Frage nach dem Ich" (S. 14) und „es gibt keinen anderen Gegenstand für die Lyrik als den Lyriker selbst" (S. 23). Dieses „lyrische Ich" sieht er als grundsätzlich prekär, unsicher, unfest an - abweichend von der Normalität (die er als die „Mitte" bezeichnet): „Dieses lyrische Ich steht mit dem Rücken gegen die Wand aus Verteidigung und Aggression. Es verteidigt sich gegen die Mitte, die rückt an. Sie sind krank, sagt diese

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dicht, fängt in seiner künstlich-artistischen Vollendung die Leere, das Scheitern und den Verlust des Lebens auf.10 In diesem kompensatorischen Rückzug von der Darbietungs- auf die Geschehensebene ist die Ereignishaftigkeit der im Gedicht reflektierten Lebenserzählung zu sehen. Innerhalb der Aussagen - auf der Geschehensebene - tritt das ersehnte Ereignis, der rauschhafte, intensive, vitale Zusammenhang der Lebensentwicklung nicht ein. Das Gedicht bleibt in der sich immer erneut wiederholenden Erfahrung des Scheiterns ereignislos, am Schluss nur künstlich verdeckt durch bloße Umstellung, indem das eigentlich angestrebte Ziel (die Werkstücke beim Töpfern) nachträglich, anschließend an die Wahrnehmung des endgültigen Scheiterns (im Verweis auf die Scherben) genannt wird. Es handelt sich mithin um ein Darbietungsereignis - oder genauer - um dessen Sonderform eines Vermittlungsereignisses. Denn was hier vorliegt, ist nicht eigentlich eine Veränderung in der Haltung des Sprechers oder Erzählers im Laufe seiner Erzählung (worin ein Darbietungsereignis im engeren Sinne bestünde): Diese ändert sich nicht, sondern bleibt sich in der immer erneut wiederholten Erfahrung des Scheiterns bei allen Versuchen gleich. Die Änderung tritt vielmehr nur in der sprachlich-prosodischen Form der Vermittlung seiner Aussagen ein. 4. Kontexte und Intertexte In allgemeiner Hinsicht ist als kulturgeschichtlicher Kontext des Gedichtes die Situation des Menschen in der Moderne anzusetzen, die durch die verbreitete (und in der Literatur, speziell der Lyrik immer wieder dargestellte) Problematisierung des Status und der Einheit des Individuums, des Subjekts gekennzeichnet ist.11 Ein engerer Kontext ist naturgemäß durch

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11

Mitte, das ist kein gesundes Innenleben. Sie sind ein Degenere - wo stammen Sie eigentlich her?" (S. 32). Es ist ein Merkmal für die Situation der Literatur in der Moderne, dass diese Situation von Ich und Kunst so klar von einem Autor wie Benn reflektiert und expliziert wird. Siehe Hillebrand (2001), der diesen Zusammenhang generell in der Entwicklung der Benn'schen Lyrik nachzeichnet, sowie vor allem Sorg (1984), der diese künstlerische Strategie im Kontext der Geschichte des lyrischen Ich und speziell mit Bezug auf den prekären Status der Subjektivität in der Moderne (und nach Nietzsche) detailliert erörtert und hierzu auch kritisch auf Benns eigenen Begriff des „absoluten Gedichtes" eingeht (S. 155f. u. 174ff.). Zu Benn siehe Sorg (1984), S. 155ff.; Strelka (1987) sowie allgemein z.B. Bradbury / McFarlane (1976); Calinescu (1987), S. 41-85; Faulkner (1977); Childs (2000).

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den spezifischen Werkzusammenhang des Autors gegeben. 12 Für Benn ist die Ich-Problematik ein hervorstechendes Thema in seinem gesamten Werk, von den Anfängen in den 1910er Jahren bis zu den letzten Bänden, sowohl in der Prosa als auch in der Lyrik.13 Als Beispiele seien nur „Kokain" (1917), „Synthese" (1917), „Das späte Ich" (1922), „Osterinsel" (1927), „Valse Triste" (1936), „Verlorenes Ich" (1943), „Trunkene Flut" (1949), „Reisen" (1951) und „Destille" (1953) genannt. Mit Hilfe zweier Zitate soll die anhaltende Relevanz der Ich-Problematik auch fur das Spätwerk aus dem Umkreis des hier behandelten Textes exemplifiziert werden. Das Titelgedicht „Fragmente" (1951) aus dem Band, dem auch „Du übersiehst dich nicht mehr - " entstammt, zeichnet die Brüchigkeit und Leere des Ich: Ausdruckskrisen und Anfälle von Erotik: das ist der Mensch von heute, das Innere ein Vakuum, die Kontinuität der Persönlichkeit wird gewahrt von den Anzügen, die bei gutem Stoff zehn Jahre halten. 14

„Nur zwei Dinge" (1953) betont dagegen die Widerständigkeit des Ich gegen Leere und Nichts: „es gibt nur zwei Dinge: die Leere / und das gezeichnete Ich".15 Der zeitgenössische kulturgeschichtliche Kontext der Moderne wird in „Du übersiehst dich nicht mehr - " vor allem durch die Anspielung auf Jazz explizit thematisiert. Der Bezug auf die Entstehungszeit und Entste12

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In Bezug auf die Thematik vom Zerfall des Ich, den Ausgangspunkt dieses Gedichtes, ergeben sich interessante Ähnlichkeiten und Differenzen, wie Strelka (1987) ausführt, zwischen Gottfried Benn und Paul Celan. Vgl. die Analyse von „Es war Erde in ihnen" in diesem Band, S. 281-294. Siehe die Darstellung der Entwicklung in ihren Phasen in Benns Werken bei Sahlberg (1985). Sahlberg untergliedert die Entwicklung in drei Phasen: von Ich-Zerfall und Entformung (bis 1926) über Ich-Aufbau und Formung (1927 bis 1941) bis zu Konfrontation und Interaktion beider Tendenzen (ab 1942), um dann festzustellen, dass diese Spannung eigentlich für das gesamte Werk gilt (S. 31). Die hohe Bewusstheit dieser Themenbehandlung geht ferner daraus hervor, dass Benn Ich-Probleme immer wieder in seinen Essays reflektiert (S. 36), z.B. in „Das moderne Ich" (1919), „Das letzte Ich" (1921), „Lyrisches Ich" (1927), „Der Aufbau der Persönlichkeit: Grundriß einer Geologie des Ich" (1930) und „Probleme der Lyrik" (1951); vgl. ebenfalls Dickhoff (1987), S. 138-146. Gottfried Benn: Sämtliche Werke. Bd. 1: Gedichte, hg. von Gerhard Schuster in Verb, mit Ilse Benn. Stuttgart 1986, S. 234f., V.24-29. Ebd., S. 320, V. 12f.

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hungssituation in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg und dem totalen Zusammenbruch intensiviert diese Problematisierung noch erheblich. Hinsichtlich der zeitgeschichtlichen Relevanz der Anspielungen und Bilder ist signifikant, dass dem Verweis auf die ,moderne' Jazz-Musik (in der hilflos oder grotesk wirkenden Eindeutschung von „bands" in „Banden") mit der Töpferei ein sehr traditioneller Bildkomplex folgt, der aber ebenfalls keine Lösung des Kohärenzproblems bringt. In seiner bilanzierenden Haltung aus dem weit fortgeschrittenen Leben heraus kann „Du übersiehst dich nicht mehr - " mit zwei anderen Gedichten unterschiedlicher Art verglichen und in seiner (auch kulturgeschichtlichen) Spezifik weiter profiliert werden. Das eine ist Robert Brownings Gedicht „Rabbi Ben Ezra" (1864), das Benn aller Wahrscheinlichkeit nach nicht gekannt hat, das aber in der Thematisierung genau desselben Problems und in seiner ganz andersartigen Verwendung der Töpfer-Metaphorik für die Bezeichnung oder Herstellung von Kohärenz im Lebensverlauf scharfes Licht auf Benns Gedicht zu werfen geeignet ist. Wie Benns Sprecher reflektiert Rabbi Ben Ezra über den Gang seines Lebens, sieht in diesem aber von vornherein Kohärenz und Sinnhaftigkeit: Grow old along with me! The best is yet to be, The last of life, for which the first was made: Our times are in His hand Who saith ,A whole I planned, Youth shows but half; trust God: see all nor be afraid!' 16

Explizit werden Anfang („the first") und Ende („the last of life") als sinnhaft in einer geplanten und gemachten Ganzheit („whole") aufeinander bezogen gedeutet. Das Ende gehört zur Vollendung dazu („all"), wodurch ihm der Schrecken genommen ist. Einheit und Ganzheit des Lebenslaufs werden durch die transzendente Macht Gottes garantiert. In der zweiten Hälfte des Gedichtes wird diese aktiv und kreativ formende Kraft Gottes mittels der Töpfer-Metapher im Detail verbildlicht, so dass das Gedicht mit der vertrauensvollen Bitte an ihn enden kann: My times be in Thy hand! Perfect the cup as planned! Let age approve of youth, and death complete the same. 17

16 17

Browning (1981), S. 781 -787, V. 1 -6. Ebd., S. 787, V. 190-192.

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Der Sprecher sieht sich als von Gott vollendet geformte Schale („cup"). Das Gedicht antizipiert somit ein positives Ereignis für die Zukunft, das Lebensende; der Grad der Ereignishaftigkeit ist allerdings - als Folge der artikulierten hohen Sicherheit der Erwartung - nicht als hoch anzusetzen. Dies selbstsichere Vertrauen in die perfekte Lebenserfüllung ist vormodern, aber seine prononciert optimistische, emphatische Formulierung kann als Abwehr gegen andersartige Tendenzen der Zeit gedeutet werden und erscheint in dieser Betrachtung in einem etwas prekäreren Licht. Auch Hölderlins „Hälfte des Lebens" (1805) stellt eine Reflexion über den Zusammenhang des Lebensverlaufs dar, gesprochen aus dessen Mitte („der Hälfte"): Mit gelben Birnen hänget Und voll mit wilden Rosen Das Land in den See, Ihr holden Schwäne, Und trunken von Küssen Tunkt ihr das Haupt Ins heilignüchterne Wasser. Weh mir, wo nehm ich, wenn Es Winter ist, die Blumen, und wo Den Sonnenschein, Und Schatten der Erde? Die Mauern stehn Sprachlos und kalt, im Winde Klirren die Fahnen. 18

Hier besteht das Problem - anders als bei Benn - nicht im Rückbezug auf Anfang oder Mitte des Lebens von der Gegenwart des Sprechens aus, denn die gegenwärtige Situation wird noch als erfüllt und sinnhaft - im Bilde des Herbstes („gelbe Birnen", „wilde Rosen") und der rauschhaften Leidenschaft (dies allerdings bezogen auf andere, auf die „Schwäne") erfahren. Vielmehr erweist sich hier die Kontinuität dieses Erlebens auf das Ende zu als problematisch. Dieser Zusammenhang wird mit dem Bild (Skript) der Jahreszeiten - in der Abfolge von Herbst und Winter - vermittelt. Der Blick in die Zukunft des Winters ist derart bedrückend, dass der Sprecher (der, wie die erste Strophe nahe legt, aus der Gegenwart des Herbstes spricht) diese desolate Situation imaginativ bereits vorwegnehmend vergegenwärtigt (wie am Präsens der letzten drei Zeilen ablesbar). Die Haltung des Sprechers beschränkt sich auf die Klage. Er unter18

Hölderlin (1953), S. 121.

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nimmt keinerlei Versuche einer Änderung. Das Jahreszeiten-Skript impliziert darüber hinaus, dass das Problem der Kontinuität der Vitalität naturgesetzlich bedingt ist. Gegenüber der antizipierten positiven Ereignishaftigkeit des Lebensverlaufs bei Browning wird hier ein negatives Ereignis, der Verlust von Sinn und Lebenskraft, vorhergesehen, das durch das Ausmalen der lebensvollen Atmosphäre in der ersten Strophe als gravierend und bedrückend vorgestellt wird.19 Literatur Benn, Gottfried 1951

Probleme der Lyrik. Wiesbaden.

Bradbury, Malcolm / McFarlane, James (Hg.) 1976

Modernism:

1890-1930.

Harmondsworth.

Browning, Robert 1981

The Poems. Bd. 1, hg. von John Pettigrew. Harmondsworth.

Calinescu, Matei 1987

Five Faces of Modernity.

Durham.

Childs, Peter 2000

Modernism.

London.

Dickhoff, Wilfried W. 1987

Zur Hermeneutik

des Schweigens:

Ein Versuch über das Imaginäre

bei Gott-

fried Benn. 2. Aufl. Frankfurt a.M. Faulkner, Peter 1977

Modernism.

London.

Hillebrand, Bruno 2001 Die „schöpferische Lust" und das Nichts. Benns Umdeutung des Nihilismus, in: ders.: Was denn ist Kunst? Essays zur Dichtung im Zeitalter des IndiviHölderlin, dualismus. Friedrich Göttingen, S. 251 -260. 1953

19

Sämtliche Werke. Bd. 2: Gedichte nach 1800, hg. von Friedrich Beissner. Stuttgart.

Vgl. ferner Nietzsches Gedicht „Der Freigeist" (1884), sowie dessen Analyse im vorliegenden Band, S. 185-196. „Der Freigeist" weist Analogien zu Benns Gedicht in der Thematik des Nihilismus, des radikalen Sinn-Verlustes zusammen mit der Geste der Affirmation auf. Hillebrand (2001) geht kurz ein auf dieses Gedicht im Kontext von Benns Rezeption der Philosophie Nietzsches, besonders auf seine Umdeutung des Nietzsche'sehen „Artistenevangeliums" im Sinne von Kunst als letzter metaphysischer Tätigkeit (S. 256ff.).

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Benn: „Du übersiehst Dich nicht mehr - "

Koch, Monika 1999 Zur Funktion von Ambivalenz und Rausch im Werk Gottfried Benns, in: Wolfgang H. Zangemeister u.a. (Hg.): Gottfried Benns absolute Prosa und seine Deutung des „Phaenotyps dieser Stunde": Anmerkungen zu seinem 110. Geburtstag. Würzburg, S. 109-120. Meister, Ulrich 1983 Sprache und lyrisches Ich: Zur Phänomenologie fried Benn. Berlin.

des Dichterischen

bei Gott-

Sahlberg, Oskar 1985 Der Dichter als Psychologe: Ichbildung und kreativer Prozeß bei Gottfried Benn, in: Text + Kritik 44: Gottfried Benn. 2. Aufl., S. 23-46. Schlesier, Renate 1993 „Dionysische Kunst": Gottfried Benn auf Nietzsches Spuren, in: Language Notes 108, S. 517-528. Sorg, Bernhard 1984 Das lyrische Ich: Untersuchungen Benn. Tübingen.

zu deutschen

Modern

Gedichten von Gryphius

bis

Strelka, Joseph. P. 1987 Das neuzeitliche Ich in der Lyrik Gottfried Benns und Paul Celans, in: Zeitschrift für deutsche Philologie 106, S. 236-251.

M A L T E STEIN

Ingeborg Bachmann: „Im Zwielicht" (i)

Wieder legen wir beide die Hände ins Feuer, du für den Wein der lange gelagerten Nacht, ich für den Morgenquell, der die Kelter nicht kennt. Es harrt der Blasbalg des Meisters, dem wir vertrauen. 5

Wie die Sorge ihn wärmt, tritt der Bläser hinzu. Er geht, eh es tagt, er kommt, eh du rufst, er ist alt wie das Zwielicht auf unsren schütteren Brauen.

(II)

10

Wieder kocht er das Blei im Kessel der Tränen, dir für ein Glas - es gilt, das Versäumte zu feiern mir für den Scherben voll Rauch - der wird überm Feuer geleert. So stoß ich zu dir und bringe die Schatten zum Klingen.

(III)

15

Erkannt ist, wer jetzt zögert, erkannt, wer den Spruch vergaß. Du kannst und willst ihn nicht wissen, du trinkst vom Rand, wo es kühl ist und wie vorzeiten, du trinkst und bleibst nüchtern, dir wachsen noch Brauen, dir sieht man noch zu!

(IV)

20

Ich aber bin schon des Augenblicks gewärtig in Liebe, mir fällt der Scherben ins Feuer, mir wird er zum Blei, das er war. Und hinter der Kugel steh ich, einäugig, zielsicher, schmal, und schick sie dem Morgen entgegen.

Ingeborg Bachmann: Werke, hg. von Christine Koschel u.a. Bd. 1. München / Zürich 1978, S. 39.

1. Vorbemerkungen Gilt für die Lyrik Ingeborg Bachmanns grundsätzlich, dass sie im Vergleich zum Prosa-Werk der Autorin erstaunlich selten interpretiert worden ist, so trifft dies erst recht auf das 1953 erstmals veröffentlichte

268

Malte Stein

Gedicht „Im Zwielicht" zu.1 Als ob sein Obskurität verheißender Titel allen Erhellungsversuchen von vornherein eine Absage erteilte, liegt zu dem Text bislang nur eine einzige umfangreichere Studie vor - an deren Anfang sogleich eine Warnung steht: „Readers of Bachmann's texts have to watch their step, because these texts provide traps for those whom they wish to escape", 2 gibt Sabine Gölz zu bedenken. Bachmanns Gedichte wollten sich einer Lektüre entziehen, that presumes that it can „know" its object - a reading that pretends to efface itself in a seeming aperspectivity and impersonality, in the gesture of giving a generalized and objectivized account of what these poems „are" [...]. 3

Wie Stefanie Golisch ausführt, macht einem gerade die Bachmann'sche Lyrik wieder bewusst, dass sich die individuelle Rezeption eines Gedichts „stets in einem kaum mittels objektiver Kategorien zu erfassenden intimen Dialog" vollzieht: Was bei diesem Dialog an grundsätzlich Neuem entsteht, eignet sich, selbst wenn wir von der dialektischen Vermittlung von Individuellem und Allgemeinem ausgehen, nur sehr mittelbar zum theoretischen Nachvollzug. Nachdrücklicher als andere literarische Gattungen beharrt das Gedicht auf seiner semantischen Autonomie. 4

Bei aller begrifflichen Anstrengung, die in diesem Band unternommen wird, kann und will auch die folgende Analyse nicht verbergen, dass sie subjektiv und begrenzt ist. Hinter dem strukturalistischen Ideal, sämtliche textuellen Vorgaben am Ende der Arbeit in ein kontingenzloses Simulacrum überfuhrt zu haben, bleibt sie zurück. Statt zu einer abgeschlossenen Deutung zu fuhren, kann sie mittels der narratologischen Kategorien nur einen neuen Textzugang eröffnen und intersubjektiv plausibilieren. Der pragmalinguistischen Prämisse folgend, dass eine jede Kommunikationshandlung innerhalb ihres situativen Kontextes verstanden sein will, möchte ich zu Beginn meiner Text-Analyse der Frage nachgehen, was man dem Gedicht darüber entnehmen kann, in welcher Situation sich das dargestellte Ich an seinen Adressaten - das Du - wendet. Da ein solcher Ansatz allerdings aktuellen Überlegungen zum Begriff des lyrischen Ich' zuwiderläuft, halte ich es für geboten, zuallererst einmal auf diese Begriffsdiskussion einzugehen. 1

2 3 4

Entsprechende Einschätzungen der Forschungslage geben Kucher / Reitani (2000), S. 7, sowie Höller (2002) in Bezug auf den Gedichtband „Die gestundete Zeit", den zweiten Veröffentlichungsort von „Im Zwielicht" (S. 57). Götz (1989), S. 30. Ebd., S. 31. Golisch (1997), S. 41.

Bachmann: „Im Zwielicht"

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2. Analyse der Sprech- und Handlungssituation In einem Plädoyer dafür, mancher Kritik zum Trotz an dem Begriff des „lyrischen Ich" festzuhalten, 5 hat Marias Martinez eine Definition dieses Terminus vorgeschlagen, die zwei Bestimmungsmerkmale umfasst. Nicht mehr zurückgegriffen werden solle bei dessen Bestimmung „auf inhaltliche Kriterien wie den Ausdruck von ,Innerlichkeit', auf linguistische Kriterien wie die Verwendung von Personalpronomen oder deiktischer Termini", nicht mehr zurückgegriffen „aber auch auf pragmatische Kriterien wie die notwendige Identität des Sprechers mit dem Autor". 6 Es reiche aus, schreibt Martinez, das „lyrische Ich" als einen Sprecher zu definieren, der sich zugleich „monologisch und situationsenthoben" äußere. Mit dem „Merkmal der Einzelrede" und dem „Merkmal der situativen Absolutheit" 7 sei eine literarische Redeform fassbar, „die sich sowohl von dramatischen als auch von erzählenden Texten" unterscheide und deshalb nach einer eigenen Benennung verlange. 8 Wann genau nun allerdings eine Rede als „monologisch und situationsenthoben" zu gelten hat, wird von Martinez nicht eindeutig erklärt. Situationsenthoben nennt der Verfasser zum einen jede „zerdehnte Kommunikation", bei der Adressant und Adressat „zeitlich und räumlich voneinander getrennt sind". 9 Als situationsenthoben erachtet er aber auch alle Texte, deren auf Adressant und Adressat verweisende Pronomina - so sie denn solche enthalten 10 - keinen „empirischen Person[en]" zugeordnet werden können. 11 Für eine praktikable Definition von spezifisch lyrischer Rede scheinen mir die letzteren zwei Kriterien wenig geeignet zu sein, da sie beide auf grundsätzlich jede fiktionale Kommunikation zutreffen - wie dies Martinez an anderer Stelle, dort mit Blick auf das fiktionale Erzählen, auch selber schon dargelegt hat: Fiktionale Texte sind Teil einer realen Kommunikation, in der ein realer Autor Sätze produziert, die von einem realen Leser gelesen werden. Fiktionale Texte sind jedoch komplexer als faktuale, weil sie außer der realen auch noch einer zweiten, imaginären

5 6 7 8 9 10 11

Zur Kritik des Begriffs vgl. Burdorf (1997), S. 185-193; Schönert (1999), S. 289-294. Martinez (2002), S. 389. Ebd., S. 389; vgl. Lamping (2000), S. 64-68. Martinez (2002), S. 387. Ebd., S. 386. Vgl. ebd., S. 387. Ebd., S. 385.

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Kommunikationssituation angehören. [...] Die reale Kommunikation zwischen Autor und Leser ist hier nur indirekt und ähnelt dem Zitieren der Rede eines anderen. 12 Mit dem Entwurf einer imaginären Kommunikationssituation entsteht - im Unterschied zur faktualen Erzählung, deren Sätze unmittelbar an einen realen Sprecher und eine reale Sprechsituation gebunden sind - ein Freiraum, dessen Ausgestaltung im wesentlichen der Imagination des Autors überlassen bleibt. 13

Die Rede in fiktionalen Texten gehört - als „kommunizierte Kommunikation" 14 - immer gleich zwei Kommunikationssituationen an. Entsprechend muss bei allen Aussagen darüber, wie situationsenthoben bzw. auch situationsbezogen solcherlei Rede jeweils ist, zunächst einmal präzisiert werden, ob denn das Augenmerk der „realen" Autor-Leser-Kommunikation oder doch eher der „imaginären" (= fiktiven) Sprecher-Zuhörer-Kommunikation gilt. Auch im letzteren Fall ist jedoch sehr fraglich, ob man mit Martinez der sich in diesem Punkt auf Kaspar Spinner beruft - die Möglichkeit einer „Leerdeixis" postulieren kann;15 gehört es ja doch gerade „zur adäquaten Rezeption von fiktionaler Dichtung", dass man als Leser die Rede eines fiktiven Sprechers so auffasst, als wäre sie (innerhalb der imaginären Situation) real und referiere (innerhalb der vom Autor konstruierten Welt) durchaus „nicht auf nichts, sondern auf bestimmte (wenn auch in der Regel fiktive) Dinge". 16 Davon zu sprechen, dass das deiktische System eines Gedichttextes ins ,Leere' verweise, sofern es „im Augenblick des Verstehens den Bezug zum Augenblick der Entstehung verloren" habe, 17 beruht demnach auf einem unvermittelten Kurzschluss zwischen der „imaginären" (Sprecher-) und der „realen" (Autor-)Kommunikation. Es lassen sich referentielle ,Fülle' und Situationsbezogenheit der im Gedicht präsentierten Erzähler- bzw. Sprecherrede nicht schon daran messen, inwieweit man die Situationsdeixis dieser Rede auf die Kommunikationssitutation des Autors beziehen kann. Zur Einschätzung des situativen Bezugs oder auch Nichtbezugs der vom Autor für den Leser dargestellten Rede ist vielmehr zu analysieren, ob der Text irgendein Wissen aufruft und / oder vermittelt, mit dem das (hinsichtlich der „imaginären" Kommunikation zu aktivierende) Basisschema jemand kommuniziert mit 12 13 14 15 16 17

Martinez / Scheffel (1999), S. 17. Ebd., S. 19. Janik (1973), S. 12. Martinez (2002), S. 385. Martinez / Scheffel (1999), S. 18. Spinner (1975), S. 15.

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jemandem aus Anlass von X über den Gegenstand Y mit der Intention Z' weiter spezifiziert wird. Bei Bachmanns Gedicht „Im Zwielicht", das wohl kein Apologet des lyrischen Ich' aus dem Anwendungsbereich dieses Begriffs ausschließen würde, erfolgt eine entsprechende Konkretisierung schon vor dem Beginn der dargestellten Rede - sogleich nämlich durch den Gedichttitel, welcher den Leser auffordert, sich im Rückgriff auf intertextuell vorhandene Informationen eine Situation des Misstrauens vorzustellen. Denn unter der Überschrift „Zwielicht" steht bekanntlich auch ein Gedicht des Freiherrn von Eichendorff, eine monologische Rede, deren (fiktiver) Sprecher seinen Adressaten - womöglich sich selbst - vor Verlust und Betrug warnt: [...] Hast ein Reh du lieb vor andern Lass es nicht alleine grasen, Jäger ziehn im Wald und blasen, Stimmen hin und wieder wandern. Hast du einen Freund hienieden, Trau ihm nicht zu dieser Stunde, Freundlich wohl mit Aug und Munde, Sinnt er Krieg im tück'schen Frieden. Was heut müde gehet unter, hebt sich morgen neugeboren. Manches bleibt in Nacht verloren Hüte dich, bleib wach und munter! 18

Das in diesem Gedicht am Anfang beschriebene Zwielicht der Abenddämmerung steht sinnbildlich für einen trügerischen Schein von Freundschaft und Treue. Laut Aussage des Sprechers bietet es Anderen die Möglichkeit zur Verstellung und Täuschung. Ob jemand aufrichtig oder falsch ist, Gutes oder Böses im Sinn habe, sei „zu dieser Stunde" schwer zu erkennen. Wer nicht betrogen und nicht überwältigt werden wolle, müsse (auch noch) am Tagesende und über Nacht, statt sich etwa zur Ruhe zu begeben, „wach und munter" bleiben, rät der fiktive Rede-Urheber.19 Verdacht und Eifersucht schürend, legt er den Grundsatz nahe, dass selbst

18 19

Joseph von Eichendorff: Werke. Bd. 1, hg. von Ansgar Hillach. München 1970, S. 48. „Seht zu, daß ihr wachbleibt!" ertönt es wie ein Echo aus der allein stehenden 25. Zeile in Bachmanns „Holz und Späne", dem Gedicht, das im Zyklus II des Gedichtbandes Die gestundete Zeit unmittelbar auf „Im Zwielicht" folgt (Bachmann [1978], Bd. 1, S. 40) und das in der dritten Strophe auf Eichendorffs Wald-Hymnus „Abschied" anspielt (ebd., V.16f.: „das Wort, in die Rinde geschnitten, / wahr und vermessen").

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oder auch gerade in Freundschafts- und Liebesbeziehungen Kontrolle besser sei als Vertrauen. Ruft einem der Titel von Bachmanns Text diese „den Freund in den Feind verhex[ende]" Mahnung bzw. „Verfolgungsphantasie" 20 ins Gedächtnis, ergibt sich beim Lesen der ersten Strophe ein thematischer Anknüpfungspunkt. Das sprechende Ich schildert einem Du ihrer beider habituellen Umgang miteinander, sich dabei einer bildhaften (,uneigentlichen') Redeweise bedienend, die das beschriebene Geschehen sowohl chiffriert als auch charakterisiert. Die inhaltliche Verbindung zu Eichendorffs Gedicht besteht darin, dass zu Beginn des dargestellten Geschehens zwei Personen - Ich und Du, Ego und Alter - sich für Konträres voreinander verbürgen, dabei aber letztlich (doch nur) einem Dritten vertrauen: Die in Vers 1 zitierte Redensart ,die Hände ins Feuer legen' - ein sprachlicher Überrest aus der in Antike und Mittelalter üblichen Rechtspraxis, sich mittels qualvoller und gefährlicher Elementproben (Ordalien bzw. Gottesurteilen) 21 von schweren Beschuldigungen zu entlasten - evoziert die Vorstellung einer Beziehung, in der wechselseitiges Misstrauen die Bezugspersonen zu tendenziell destruktiven Versicherungsformen zu Feuerproben im übertragenen Sinne - anhält. Ihr Vertrauen schenken das Ich und das Du nicht etwa sich selbst, sondern einem „Meister", der mit seinem „Blasbalg" (V.4) - „in der allegorischen Bildersprache zumeist [ein] Sinnbild für die ungezügelten Leidenschaften bzw. für deren Evokation im Menschen" 22 - ein Schmerzen bereitendes „Feuer" anzufachen vermag. Es ist bei Bachmanns Gedicht also durchaus möglich und zum besseren Textverständnis auch nötig, die Rede des Sprecher-Ichs einer konkreten Gesprächssituation zuzuordnen. Den Rede-Anlass bietet der Wiederbeginn eines Beziehungsrituals zwischen Personen, die einander zwar nahe stehen, sich aber dennoch mit tiefem Misstrauen begegnen - just eben so, als ob sie in einem „tück'sehen Frieden" mit baldigem „Krieg" rechnen und hinter dem Schein von Aufrichtigkeit verkappte Feindschaft entdecken müssten. 23 20 21

22 23

Adorno (1981), S. 80. Vgl. Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte. Bd. 1, hg. von Adalbert Erler u. Ekkehard Kaufmann. Berlin 1964, Sp. 1769-1773. Schuster (1991), S. 256. Man könnte einwenden, dass die Sprechsituation nicht identisch sein müsse mit der vom Ich angesprochenen Handlungssituation. Insofern aber die Rede des Ich fast durchgehend im Präsens gehalten ist, kann diese Situationsunterscheidung, obwohl sie erzählanalytisch immer geboten ist, im vorliegenden Fall nicht greifen. Mit ihrer Wahl

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3. Analyse der Makrosequenz Passend zu dieser Ausgangslage ist die im Gedicht angedeutete Handlung als eine der wechselseitigen Vergewisserung dienende Probe bzw. Prüfung zu rekonstruieren - worauf besonders augenfällig jene zwei Verse hinweisen, die genau in der Mitte des Textes platziert sind und als eine Art Regel-Explikation an das Skript,Parole abfragen' erinnern: Erkannt ist, wer jetzt zögert, erkannt, werden Spruch vergaß. (V.12f.)

Nach der Parole - dem „Spruch" - zu fragen, hat grundsätzlich den Zweck, eine Person als Freund oder Feind zu identifizieren. Weiß jemand die richtigen Worte nicht unverzüglich zu sagen, gilt er als potentiell gefährlich und wird als Gegner behandelt. Ähnliche Prüfungsfunktion kommt im kulturellen Wissen auch den bereits erwähnten Ordalien zu, bei denen ein vor Gericht Angeklagter seine Unschuld ausschließlich dadurch erweisen darf, dass er zerstörerische Element-Kontakte - wie etwa das Anfassen eines glühenden Eisens, das Eintauchen in einen Kessel mit kochendem Blei oder das Trinken von schädlichen Flüssigkeiten - schadlos zu überstehen vermag. Auf dieses kulturgeschichtlich verankerte Skript spielt, wie schon gesagt, die Rede von den ins Feuer gelegten Händen an, doch lassen sich ihm mit dem „Kessel der Tränen" (V.8), dem darin gekochten Blei (vgl. V.8) und dem Trinken aus heißem Glase (vgl. V.15), sobald man das Schema einmal aktiviert hat, gleich mehrere Terme zuordnen. Eine Integration der beiden Skripte ,Parole abfragen' und ,Elementprobe' erfolgt über den Vorgang des feierlichen Miteinander-Anstoßens'. Dieser fungiert als ein komplexer (,pictura'-)Signiflkant, zu dem die zwei übrigen Schemata sich gegenseitig verstärkende (,subscriptio'-) Signifikate bilden. Sowohl das Ausbringen des Trinkspruchs als auch das Anstoßen der Gläser und schließlich das Trinken selbst - alle drei wesentlichen Sequenzelemente der geselligen Prozedur - werden im Text sprachlich repräsentiert, wobei ihnen allerdings Konnotationen zukommen, mit denen das Trinkritual, statt wie üblich gemeinschaftsstiftend zu sein, den Charakter eines heimlichen Überführungs- bzw. gar Überwältigungsaktes annimmt: Der von den Akteuren auszubringende (Trink-) „Spruch" ist als die sich gegenseitig abverlangte Erkennungsparole kontier Gegenwartsform hat die Autorin die Grenze zwischen dem Sprechzeitpunkt und der erzählten Zeit systematisch (und lyriktypisch) verwischt.

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notiert (V.12f.: „Erkannt ist, [...] wer den Spruch vergaß"). Dem Leeren der Trinkgefaße lässt sich aus figuraler Perspektive die Bedeutung der entlarvenden Elementprobe - eines Trankordais - beimessen. Und wo zuvor das Geschehnis des ,Anstoßens' umschrieben wird - V . l l : „So stoß ich zu dir und bringe die Schatten zum Klingen" geschieht dies mit Worten („stoße ich zu [...]", „Klingen"), die bei Ausblendung der syntagmatisch bedingten Vereindeutigungen des Wortsinns das kognitive Schema eines ,Kampfes' (mit) aufzurufen vermögen. Darstellungsgegenstand von „Im Zwielicht" ist nach meinem Verständnis also eine Beziehungsinteraktion, die vordergründig der Vertrauensbildung und Gemeinschaftserneuerung zu dienen scheint, in Wahrheit aber den entgegengesetzten Zweck erfüllt, sich selbst einen negativen Verdacht zu bestätigen. 24 Ähnlich wie in den Ordal-Verfahren, in denen zumeist nur ein Wunder die Unschuld des Angeklagten erweisen konnte, ist auch hier das Ergebnis der Glaubwürdigkeitsprüfung nicht offen. Indem das Ich eine Losung erwartet, die sein Gegenüber bekanntermaßen nicht wissen kann (vgl. V.14), wirkt es von vornherein daraufhin, dass ihrer beider Annäherung scheitert. Und sofern das Du tatsächlich auch gar nicht wissen will, welche Worte von ihm erwartet werden, leistet es diesem Scheitern selbst Vorschub. Beim Anstoßen den verlangten „Spruch" schuldig bleibend, wird es gemäß der am Anfang von Strophe III formulierten Regel „erkannt": Das erzählte Ich identifiziert das Du als eine Person - so ist aus dem intertextuellen Bezug zu Eichendorffs Gedicht zu schließen - , der man letztlich nicht trauen könne. Und in der Tat gibt es ja auch eine Unstimmigkeit im Verhalten des Du. Als nämlich der Moment des Trinkens gekommen ist, „zögert" (V.12) es merklich, sich den Elementen und ihren gefahrlichen Wirkungen auszusetzen. Dieselbe Person, die anfangs „den Wein der lange gelagerten Nacht" (V.2) beschworen hat und ihre Hand somit für etwas „ins Feuer [legte]" (V.l), das zu berauschen vermag, trinkt nunmehr aus einem frisch geblasenen (Blei-)„Glas" (V.9, vgl. V.5 u. 8) so derart vorsichtig nur „vom Rand", dass ihr dabei weder Verbrennung noch Trunkenheit drohen: „du trinkst vom Rand, wo es kühl ist / [...], du trinkst und bleibst nüchtern" (V.15f.). Anstatt sich im Augenblick der Wahrheit auf Hitze 24

Sabine Gölz hat hingegen die Auffassung vertreten, es handle sich bei „Im Zwielicht" um ein poetologisches Gedicht, „that is indeed concerned both with the way poetry is produced and with the way it is read." - Gölz (1998), S. 33. Diese Lesart ist fiir mich schwer nachzuvollziehen, da Gölz nicht erläutert, durch welche Terme des Textes sie das Thema ,lyrische Kommunikation' konnotiert sieht.

Bachmarm: „Im Zwielicht"

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und Rausch einzulassen, wahrt das Du in kaschierter Weise Zurückhaltung - rettet es sich in ein laues Kompromissverhalten, welches ihm sowohl seine Unversehrtheit als auch sein Ansehen sichert (V.17: „dir wachsen noch Brauen, dir sieht man noch zu"), zu seiner einleitenden Exponierung aber dessen ungeachtet nicht passen will. Reden und Handeln geraten an dieser Stelle in einen Widerspruch zueinander, der aus der von Misstrauen geprägten Perspektive des Ichs wohl kaum anders zu deuten ist als ein Indiz für Unaufrichtigkeit und Verrat. Doch nicht etwa nur jene(r) Andere, sondern auch und noch offenkundiger das Ich selbst hält bei der sinnbildlichen ,Feuerprobe' nicht durch, was es ursprünglich beteuert hat. Mit seinem Bekenntnis zum ungekelterten „Morgenquell" vertritt es zunächst die Antithese zu allem Dunklen, Alten und Dionysischen, beschwört es Werte wie Reinheit, Licht und Erneuerung, wie Nüchternheit, Aufklärung und Verstand. Anders als dem Du gelingt es ihm dann aber nicht, das vom „Bläser" (V.5) angefertigte Trinkgefäß in der Hand zu behalten. Ob nun aufgrund übermäßiger Hitze oder wegen der Wirkung des giftigen Gefäßinhalts: Der „überm Feuer" geleerte „Scherben voll Rauch" (V.10) fällt dem Ich „ins Feuer" hinab (V.19f.). Den gefährlichen Elementen sich im Gegensatz zum Du rückhaltlos ausliefernd, vermag es deren Wirkungen nicht standzuhalten, was innerhalb der Ordalien-Logik bedeutet, dass seine vorherige Beteuerung nicht aufrichtig gewesen sein kann - es seine Hand für eine unzutreffende Aussage ins Feuer gelegt haben muss. Jedenfalls lässt sich am Ende des Gedichts ein dramatischer Verhaltenswechsel beobachten, dem mehr als jedem anderen Geschehnis, auf das die (fiktive) Sprecher-Instanz referiert, die Qualität eines Ereignisses zukommt. 4. Ereignis-Analyse Nachdem sich das zu Boden gefallene Tongefäß unter der Einwirkung des Feuers in eine Bleikugel zurückverwandelt hat (und damit wieder zu jenem Urstoff geworden ist, aus dem es vom „Bläser" [V.5] alias „Meister" [V.4] gemacht worden war),25 gebraucht das Ich dieses neuerliche Umwandlungsprodukt als ein Projektil. So recht nach Schützenart - „einäugig, zielsicher" und ,,schmal"(-lippig?) - ,,schick[t]" es die Kugel „dem 25

Neben dem Quecksilber galt Blei in der Alchemie als die Urmaterie, auf der alle anderen Stoffe basieren; vgl. etwa Schütt (2000), S. 45. Daher erklärt sich, weswegen der „Meister" in Bachmanns Gedicht nicht allein ein Glasgefäß, sondern auch einen Scherben aus dem Blei herzustellen vermag.

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Morgen entgegen" (V.21f.) und begeht somit einen Akt der Gewalt, welcher im Rahmen des die Makrosequenz grundierenden Gerichtsschemas als Urteilsvollstreckung bzw. Exekution fungiert. Von einem Ereignis - soll heißen: von einem Verstoß gegen den durch das Schema repräsentierten Normalverlauf - kann dabei allein schon deshalb gesprochen werden, weil hier das Ich gerade auf das schießt, wofür es vorher ausdrücklich eingetreten ist. Die Kugel gegen den quellenden „Morgen" abfeuernd, gibt es seine eingangs vertretene Position preis und das nicht etwa in einer den hehren Anschein noch wahrenden, kompromisshaften Art wie das Du, sondern mit vernichtender Gewalt, ganz offen und eindeutig, ganz unumkehrbar und radikal. Es sei an dieser Stelle vermerkt, dass mehrere Wortzitate in Bachmanns Text auf die Celan'sehe „Todesfuge" anspielen, wodurch das erzählte Ich letztlich als ein weiterer Repräsentant jenes „Meisterfs] aus Deutschlan erscheint, der seine jeweiligen Opfer mit „bleierner Kugel [trifft]". 26 Während jedoch bei Celan eine dritte Person (unter anderem) das vom Sprecher angeredete Du ermordet, richtet sich die Gewalt des Bachmann'schen Schützen - insofern der anvisierte „Morgen" dessen persönliche Einstellungen und Überzeugungen symbolisiert - gegen einen Teil seiner selbst. Statt mit einer Hinrichtung des Anderen, für den das Ich nach der Wahrhaftigkeitsprüfung „schon" wieder 27 „Liebe" empfindet (V.19), endet das in Bachmanns Text vorgeführte Beziehungs-,Gericht' mit einer Art von Auto-Exekution. Diese Wendung mutet um so überraschender an, als ja das Verhalten des Du - sein Nicht-Wissen-Wollen des „Spruchs" und sein Lavieren beim Trinken - dem Ich doch einigen Anlass geboten hätte, nun erst recht voll Misstrauen zu sein und sich getäuscht oder gar verletzt zu fühlen. Aus welchem Grund heraus, so gilt es auf der Ebene der Motivierung zu fragen, verfällt das Ich erst dann „in Liebe" (zurück), nachdem ihm das Du und dessen Plädoyer für das Rauschhafte als unzuverlässig durchschaubar geworden sind? Wäre da nicht eher doch zu erwarten gewesen, dass Ego auf Alters Rückzugstendenzen mit jener Aggression reagiert, welche am Ende schließlich gegen den „Morgen" (um-)gelenkt wird?!

26

27

Paul Celan: Gesammelte Werke. Bd. 3, hg. von Beda Allemann u. Stefan Reichert. Frankfurt a.M. 1983, S. 64. Wie Sigrid Weigel konstatiert, sind die Gedichte aus Bachmanns erstem Lyrik-Band „voller Bild- und Wortbezüge zu Celans Lyrik"; vgl. Weigel (1995), S. 129; vgl. in diesem Sinne zu „Im Zwielicht" auch Gölz (1989), S. 36. Da das Zeitadverb „wieder" gleich am Anfang des Gedichts steht, ist es naheliegend, sich das Geschehen in seiner Gesamtheit als iterativ zu denken.

Bachmann: „Im Zwielicht"

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Einmal mehr geraten wir hier an einen Punkt, an dem der Versuch, das dargestellte Geschehen bis hin zur höchsten Kohärenzstufe zu rekonstruieren,28 an eine (aus meiner Sicht) werkbedingte Grenze stößt. Wie schon bei einem früheren Gedicht, das in dem vorliegenden Band analysiert wurde, 29 lässt sich die Motivierung des zentralen Geschehensereignisses aus dem Text selber (soweit ich erkennen kann) nicht erschließen. Damit ebendies möglich wäre, müsste das Gedicht zumindest auf weitere Intertexte verweisen, zu denen dann derjenige, der nach autorisierten' Erklärungen für das Ereignis sucht, einen „inferenziellen Spaziergang" 30 zu unternehmen hätte. Sollten mir entsprechende Textsignale im „Zwielicht" nicht etwa entgangen sein, so hat es die Autorin tatsächlich offen gelassen, weswegen das Ich letztlich auf sich selbst schießt und gegenüber dem Du zuvor „in Liebe" (V.19) entbrennt. Aber auch im Falle einer solchen Unbestimmtheit fordert das Gedicht zu Erklärungsversuchen heraus. Den Text im thematischen Frame eines Nähe-Distanz-Konflikts rezipierend, sehe ich Ego und Alter eine Art Rollentausch vornehmen, durch den ein labiles Beziehungsgleichgewicht vorläufig aufrecht erhalten wird. Während Alter zunächst für die Erfahrung von Rausch und Entgrenzung eintritt, sodann aber - zumindest dem aus der Außensicht entstehenden Eindruck nach - ein auf Selbstschutz bedachtes Rückzugsverhalten zeigt, gibt Ego in Reaktion auf dieses anscheinende Zurückweichen seine anfangliche Position der Nüchternheit auf. Sobald die eine Person sich abgrenzt, provoziert das bei der anderen leidenschaftliche Zuwendung. Wie es typisch für Menschen ist, denen sowohl die Nähe als auch die Einsamkeit Angst macht, muss sich das erzählte Ich zum Du ,reziprok' verhalten. Je mehr dieses sich abzuwenden scheint, erlebt sich jenes als „verurteilt zu lieben".31

Literatur Adorno, Theodor W. 1981

Noten zur Literatur, hg. von Rolf Tiedemann. Frankfurt a.M.

Bachmann, Ingeborg 1978 Werke, hg. von Christine Koschel u.a. Bd. 1 u. 2. München / Zürich. 28

29 30 31

Zur Unterscheidung der (drei) Kohärenzstufen siehe in diesem Band, S. 64f. (zu Klopstocks „Die Verwandlung"). Siehe das Kapitel zu Storms Gedicht „Geh nicht hinein" in diesem Band, S. 172f. Eco (1990), S. 148-151. Bachmann (1978), Bd. 2: „Undine geht", S. 254.

278 Burdorf, Dieter 1997 Einführung

Malte Stein

in die Gedichtanalyse.

2. Aufl. Stuttgart.

Eco, Umberto 1990 Lector in fabula. Die Mitarbeit der Interpretation chen.

in erzählenden

Texten. Mün-

Gölz, Sabine I. 1989 Reading in the Twilight: Canonization, Gender, the Limits of Language - and a Poem by Ingeborg Bachmann, in: New German Critique 16, H. 2, S. 29-52. Höller, Hans 2002 „Die gestundete Zeit". Text-Geschichte und Komposition des Lyrik-Bandes, in: Monika Albrecht / Dirk Göttsche (Hg.): Bachmann Handbuch. Leben - Werk Wirkung. Stuttgart, S. 57-67. Janik, Dieter 1973 Die Kommunikationsstruktur Bebenhausen.

des Erzählwerks.

Ein semiologisches

Modell.

Kucher, Primus-Heinz / Reitani, Luigi 2000 Zur Lyrik Ingeborg Bachmanns. Annäherungen, in: dies. (Hg.): Jn die Mulde meiner Stummheit leg ein Wort... ". Interpretationen zur Lyrik Ingeborg Bachmanns. Wien u.a., S. 7-33. Lamping, Dieter 2000 Das lyrische Gedicht. Definitionen 3. Aufl. Göttingen.

zu Theorie und Geschichte

der

Gattung.

Martinez, Matias 2002 Das lyrische Ich. Verteidigung eines umstrittenen Begriffs, in: Heinrich Detering (Hg.): Autorschaft, Positionen und Revisionen. Stuttgart / Weimar, S. 376389. Martinez, Matias / Scheffel, Michael 1999 Einführung in die Erzähltheorie.

München.

Oelmann, Ute Maria 1993 Lyrisches Sprechen und narratives Sprechen im Werk von Ingeborg Bachmann, in: Dirk Göttsche / Hubert Ohl (Hg.): Ingeborg Bachmann. Neue Beiträge zu ihrem Werk. Würzburg, S. 55-62. Schönert, Jörg 1999 Empirischer Autor, Impliziter Autor und lyrisches Ich, in: Fotis Jannidis u.a. (Hg.): Rückkehr des Autors. Zur Erneuerung eines umstrittenen Begriffs. Tübingen, S. 289-294. Schuster, Peter-Klaus 1991 Melencolia I. Dürers Denkbild. Berlin. Schütt, Hans-Werner 2000 Auf der Suche nach dem Stein der Weisen. Die Geschichte der Alchemie. München. Spinner, Kaspar H. 1975 Zur Struktur des lyrischen Ich. Frankfurt a.M.

Bachmann: „Im Zwielicht"

279

Weigel, Sigrid 1995 „Sie sagten sich Helles und Dunkles". Ingeborg Bachmanns literarischer Dialog mit Paul Celan, in: Text + Kritik Η. 11: Ingeborg Bachmann, S. 123-135.

PETER H Ü H N

Paul Celan: „Es war Erde in ihnen" (i)

Es war Erde in ihnen, und sie gruben. (II)

5

Sie gruben und gruben, so ging ihr Tag dahin, ihre Nacht. Und sie lobten nicht Gott, der, so hörten sie, alles dies wollte, der, so hörten sie, alles dies wußte.

(III)

10

Sie gruben und hörten nichts mehr; sie wurden nicht weise, erfanden kein Lied, erdachten sich keinerlei Sprache. Sie gruben.

(IV)

Es kam eine Stille, es kam auch ein Sturm, es kamen die Meere alle. Ich grabe, du gräbst, und es gräbt auch der Wurm, und das Singende dort sagt: Sie graben. (V)

15

Ο einer, ο keiner, ο niemand, ο du: Wohin gings, da's nirgendhin ging? Ο du gräbst und ich grab, und ich grab mich dir zu, und am Finger erwacht uns der Ring.

Paul Celan: Gesammelte Werke, Bd. 1: Gedichte I, hg. von Beda Allemann und Stefan Reichert. Frankfurt a.M. 1983, S. 211.

„Es war Erde in ihnen", das erste Gedicht des Bandes Die Niemandsrose (1963), dient der einleitenden Präsentation der zentralen Themen dieser Sammlung, der Präsentation nämlich sowohl des fundamentalen Zweifels an der Existenz Gottes als Folge der jüdischen Erfahrung der Shoah als auch des Zweifels an der Möglichkeit, in sprachlicher Repräsentation, insbesondere in der Sprache der Dichtung, einen solchen Erfahrungszusammenhang angemessen zu erfassen.1 Diese Thematik und ihr innerer Diese Themenkomplexe - wenn auch in unterschiedlicher Relationierung und variierender Gewichtung - liegen den meisten interpretatorischen Ausführungen zu „Es war Erde in ihnen" (und dem Gedichtband) zugrunde. Siehe die Literaturhinweise in Anm. 9.

282

Peter Hühn

Zusammenhang bestimmen ebenfalls für das hier zu erörternde Gedicht wie weiter unten im Einzelnen dargelegt - als thematischer Rahmen (Frame) die Darbietung des Geschehens, das sich bildlich konkret als Vorgang des Grabens in der Erde vollzieht. Die Beziehbarkeit des bildlich Ausgesagten auf die thematischen Dimensionen wird vor allem durch die Konnotationen und (intertextuellen) Anspielungen der Worte und Bilder sowie die direkten Aussagen 2 signalisiert, mit denen der Sprecher das Geschehen jeweils vermittelt. Damit wird dem konkreten Geschehen in seiner Sequentialität ein komplexer Zusammenhang zugeordnet sowie zusätzlicher Sinn zugeschrieben und die diesem Gedicht eigene Geschichte konstituiert. Da derartige Sinn-Zuschreibungen, die sich auf Kontextrelationen, Konnotationen und Anspielungen stützen, in „Es war Erde in ihnen" (wie generell bei Celan) von großer Subtilität und Multivalenz sind und deswegen kontrovers rezipiert werden, konzentriert und beschränkt sich die folgende Analyse der Sequentialität des Gedichtes in einem ersten Schritt zunächst weitestgehend auf die Ebene der konkreten Bilder (vor allem des Grabens), 3 arbeitet die zugrundeliegende abstrakte Ablaufstruktur also in den wörtlich-konkreten semantischen Einheiten der Textoberfläche heraus, um daraufhin in einem zweiten Schritt mögliche weitere Bedeutungsdimensionen für diesen Ablauf und seine Protagonisten zu erörtern. 1. Die Sequenzstruktur auf der Ebene der Bilder Der Sprecher präsentiert nacheinander zwei Sequenzen, die sich in Bezug auf den Verlauf des Geschehens sowie hinsichtlich des Grads seiner eigenen Beteiligung und seiner zeitlichen Relation zu diesem (also durch die Pronomina und das Tempus) klar voneinander unterscheiden, aber in der beschriebenen Tätigkeit - des Grabens - einander ähneln, so dass sich die Frage nach ihrer wechselseitigen Beziehung und Verknüpfung ergibt. Sequenz Α erstreckt sich von Vers 1 bis 12 (schließt also die Überschrift ein, die zugleich einen Teil der ersten Zeile bildet), Sequenz Β umfasst die Verse 13 bis 18. Während der Sprecher in Sequenz Α das Geschehen im Präteritum erzählt und sich in Negationen von möglicher2

3

Zur Unterscheidung zwischen tropischen und wörtlichen Aussagen vgl. Poppenhusen (2001), S. 131-145. Vgl. zum Folgenden Szondi (1980), der sich (in den Mitschriften eines Seminars) in seltener sprachlich-sachlicher Detailgenauigkeit auf die syntaktischen, lexikalischen und phonetischen Phänomene des Textes konzentriert (S. 136-147).

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weise zu Erwartendem (wie „sie lobten nicht Gott", „wurden nicht weise", „erfanden kein Lied") auf „sie", eine nicht weiter spezifizierte Gruppe von Menschen (der er selbst nicht angehört) als den kollektiven Protagonisten bezieht, tritt er in Sequenz Β persönlich als Individuum hervor („ich"), redet ein weiteres - herausgehobenes - Individuum („du") an und nennt noch ein anderes (allerdings nicht-menschliches) Einzelwesen (den „Wurm" - V.13) als Protagonisten und präsentiert dieselbe Aktivität des Grabens im Präsens (zum Teil als Aussage dem „Singenden" [V.14] zugeschrieben). Auch hier ist somit von einer Mehrzahl der Grabenden die Rede, mit dem Unterschied jedoch, dass die Gruppe in Individuen differenziert ist und der Sprecher ihr ebenfalls angehört, sich selbst sogar als ersten nennt. So stehen mit den beiden Sequenzen als Figuren einander gegenüber: „sie" (ein anonymes undifferenziertes Kollektiv) versus „ich", „du", „er" (in Einzelwesen differenzierte Gruppe); damit einher gehen noch weitere Oppositionen: (einfacher) Plural versus (dreifacher) Singular; ohne ,Einschluss' versus mit ,Einschluss' des Sprechers / Erzählers, das heißt heterodiegetische versus homo- oder gar autodiegetische Narration'. Der letztgenannte Aspekt deutet daraufhin, dass die Differenz zwischen den beiden Sequenzen unter anderem in einer unterschiedlichen Perspektive besteht (siehe unten). Während sich das Kollektiv „sie" im Ablauf von Sequenz Α nicht verändert, vollzieht sich innerhalb der Sukzession von Sequenz Β ein Zusammenschluss der Singulare „ich" und „du" zum Plural „uns" (V.18), so dass sich in den beiden Sequenzen schließlich, zusammen mit der Differenz von figuraler Kontinuität und figuraler Veränderung, der Plural der 3. ( V . l f f : „sie") und der 1. Person (V.18: „uns") gegenüberstehen. Eine Veränderung, wenngleich nicht in figuraler Hinsicht, findet jedoch auch in Sequenz Α statt. Die Unterschiedlichkeit und die Spezifik dieser Veränderungen in beiden Sequenzen wird ebenfalls pronominal markiert, nämlich durch die Opposition von unpersönlichen und persönlichen grammatischen Subjekten. Diese Opposition betrifft letztlich den Grad menschlicher Aktivität und Handlungskontrolle, den Gegensatz zwischen eigenständigen, außermenschlichen Vorgängen und menschlichen Handlungen. In diesem Sinne kontrastieren Aussagen über „es" (in V.l, 1 lf. u. 13) oder ein nicht-menschliches Nomen (wie V.4: „Tag", „Nacht", V.14: das „Singende", V.18: „Ring") als Subjekt mit solchen Sätzen, die ein menschliches Agens als Subjekt auiweisen (V.2ff.: „sie", V.13ff.: „ich", „du"). Hierdurch werden vor dem Hintergrund einer allgemeinen Gemeinsamkeit menschlichen Handelns (dem Graben) gegensätzliche

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Verlaufsstrukturen eingebracht, die einen negativen (vgl. V.l-12) bzw. einen positiven Ausgang (vgl. V.13-18) haben. 4 Die Ausgangssituation für Sequenz Α (und ,per implicationem' ebenfalls für Sequenz Β - siehe unten) wird in der Überschrift bzw. der Eingangszeile benannt: „Es war Erde in ihnen" als die Konstitution der Figuren (der Menschen), als ein Phänomen jenseits ihrer Kontrolle und ihres Einflusses („es"), das sich dann - in konsequent-pragmatischer oder paradox-inhaltlicher Konstellation - in der Art ihrer immer wieder herausgestellten Aktivität auszuwirken scheint: „und / sie gruben" (V.lf.); sie bearbeiten das, was sie in sich haben. Das Element, das (wesentlich) zu ihrer Konstitution beiträgt, ist zugleich der Zielbereich ihres Tuns, so dass man sagen kann, sie seien von ihrem ,elementaren Wesen' in ihrem Handeln und Leben determiniert. 5 Die Sequenz gliedert sich nun in zwei Phasen: in das aktive Tun, berichtet in Sätzen mit dem Pronomen „sie" als Subjekt (V.2 u.10), und in ein von außen kommendes Geschehen, berichtet in Sätzen mit dem Subjekt „es" ( V . l l u. 12).6 Beide Phasen sind wesentlich durch reduzierte oder verneinte Aktivität, durch schließlichen Untergang, generell durch Negativität gekennzeichnet. Zum einen hat das monoton ständig fortlaufende Graben negative Konsequenzen im Sinne von Verlust und mangelndem Gewinn im Leben, wie dies vor allem durch negierende Sätze formuliert wird: Die Zeit verfließt ungenutzt („so ging / [...] dahin", V.3f.), die Wahrnehmung wird extrem auf das Graben eingeengt (vgl. V.7), so dass „sie" - so ist möglicherweise zu ergänzen - keine Einsicht (vgl. V.8) gewinnen und keine Sprache und Kunst (vgl. V.8f.) entwickeln. Negativ und passiv ist ebenfalls ihr Verhalten gegenüber Gott: Sie schreiben ihm das gesamte Geschehen - als gewollt und gewusst - zu (zudem aufgrund von Aussagen anderer, auf Hörensagen hin), verweigern ihm das Lob vermutlich wegen der Erfahrung von Verlust und Zwang, fahren aber mit ihrem fruchtlos-negativen Tun ohne Einrede fort (vgl. V.10), nachdem die Kommunikation untereinander und nach außen zusammengebrochen ist (vgl. V.7-9). Zum anderen erfolgt schließlich auf diese fortgesetzte nega4

5

6

Menninghaus (1980) sieht dagegen hier aufgrund der Nicht-Beachtung dieser Unterschiede einen kontinuierlich positiven Verlauf, der durch die Beharrlichkeit des Grabens ermöglicht werde (S. 105-107). Vgl. die Untersuchung der syndekdochischen Struktur von „Erde" bei Poppenhusen (2001), die allerdings nicht die Implikationen der unpersönlichen Satzstrukturen mit „es" berücksichtigt (S. 13 lf.). Hierzu gehören ferner die letzte bzw. erste Hälfte von Vers 3 und 4.

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tive Grabungstätigkeit - von außen veranlasst (V.l 1 f.: „es kam" usw.) nach einer Pause der Leere („Stille") ein offenbar destruktives Geschehen (V.l lf.: „ein Sturm", „die Meere alle"), das der Erde (und dem Graben in der Erde) vollkommen entgegengesetzte Elemente (Luft und Wasser) zur Wirkung bringt. Der Ablauf dieser Sequenz stellt somit eine weitgehend willenlos akzeptierte und erduldete, negativ verlaufende und in einem destruktiven Ereignis endende, wesentlich von außen gesteuerte Geschichte dar. Die Ereignishaftigkeit besteht in der (implizierten) Auslöschung des in Erde grabenden Kollektivs durch die Überwältigung von dem gegensätzlichen Element (Wasser gegenüber Erde) - eine Auslöschung, die sich in der dreifachen Nennung des Eindringens von etwas Unpersönlichem (V.llf.: „es kam", „es kamen") und im Nicht-Mehr-Erwähnen der menschlichen Protagonisten zeigt. In prononciertem Kontrast hierzu nimmt Sequenz Β mit anders definierten Protagonisten einen entgegengesetzten Verlauf und führt zu einem entgegengesetzten Ergebnis - ein Kontrast, den die betonte Gegenüberstellung des negativen Endes von Sequenz Α und der andersartigen Aktivität mit ihrem positiven Impetus der Protagonisten in Sequenz Β innerhalb der dritten Strophe thematisch und der hier erstmals auftretende Reim (V.l 1 u. 13: „Sturm" - „Wurm") auch formal eigens unterstreichen. Der Unterschied liegt vor allem in der Andersartigkeit von Bewusstsein und praktischem Verhalten der Protagonisten. Von dem undifferenzierten, willenlosen und letztlich passiven Kollektiv des „sie" hebt sich hier das Individuum ab, das nicht nur bewusst handelt und andere bewusst wahrnimmt, sondern auch womöglich ,Sprachkunst' (V.l4: „das Singende", also Dichtung) hervorbringt, die diese kognitive Wahrnehmung ihrer gemeinsamen Tätigkeit zu artikulieren und auf den Begriff zu bringen vermag („[...] sagt: Sie graben" - „sie" als Zusammenfassung von „ich" und „du" - V.14). Diese Wahrnehmung und deren dichterische Artikulation stehen im Gegensatz zum Zusammenbruch der Wahrnehmung nach außen (vgl. V.7) und der Abwesenheit von Lied und Sprache in Sequenz Α (vgl. V.8f.). Anders als beim richtungs- und ziellosen Graben in Sequenz A wird das Ziel dieser Tätigkeit hier zu einem Problem, und zwar speziell angesichts einer generellen Sinnlosigkeit und Nichtigkeit (V.l6: „Wohin gings, da's nirgendhin ging?"), wie sie sich in der Vergangenheit ergab (markiert durch das Präteritum). Dieses zunächst vermittelte Bewusstsein von Leere und Sinnlosigkeit drückt sich darüber hinaus in der - diese Frage einleitenden - Anrede an einen Adressaten aus: „O einer, ο keiner, ο niemand, ο du" (V.l5). Selbst der Bezug auf einen Anderen ist zum

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(nunmehr bewussten) Problem geworden, sogar seine Existenz wird in Frage gestellt: Ist es ein Individuum, oder ist dort nichts und niemand? Was hier letztlich explizit problematisch wird, ist die Konstitution einer (zumindest rudimentären) menschlichen Gemeinsamkeit und Gemeinschaft, die als Basis für Entwicklung und Bewegung auf ein Ziel hin dienen kann. Die fortgesetzte Tätigkeit im (wahrnehmenden) Bewusstsein vom Anderen, so wird diese Sequenz in der letzten Strophe fortgeführt, löst dann ebendiesen Impuls aus. Dass die Reihenfolge „ich grabe, du gräbst" (V.13) hier umgekehrt, durch ein „und" verbunden sowie als emphatischer Appell artikuliert wird (V.17: „O du gräbst und ich grab"), signalisiert eine kommunikative und perzeptive Verbindung mit dem Anderen, die sich anschließend als auf den Anderen gerichtetes Handeln praktisch manifestiert: „ich grab mich dir zu" (V.17). Der Erfolg ist der endliche Vollzug einer geschlossenen Verbindung, die pronominal in „uns" signalisiert und im „Ring" (V.18) symbolisiert wird. Die Platzierung des Rings am Finger (wie bei einer Verlobung oder Hochzeit) verknüpft dieses Ergebnis mit der Tätigkeit des Grabens, die mit Händen ausgeübt wird. Das Prädikat „erwacht" (V.18) metaphorisiert die vollzogene Verbindung als Übergang vom Schlaf zum Wachsein, von Unbewusstheit zu Intentionalität und Bewusstheit, als Eintritt in einen neuen Zustand, 7 als Ereignis. Die Ereignishaftigkeit wird dadurch etabliert, dass diese Entwicklung vor dem Hintergrund des negativen Ausgangs in Sequenz Α in Erscheinung tritt. Der Bezug von Sequenz Β zu Sequenz Α kann über die Kontrastrelation hinaus nun weiter präzisiert werden. Durch die Wiederaufnahme des Prädikats „ging" im Präteritum in Vers 16 aus Vers 3 einerseits und durch die Nennung der Tätigkeit „sie graben" als Gegenstand der Kunst, des ,,Singende[n]" (V.14) andererseits wird angedeutet, dass das hier dargestellte Geschehen im selben Kontext und damit vermutlich auch aus derselben Ausgangssituation entsteht und sich vollzieht wie in Sequenz A, aber mit veränderter Einstellung. Dadurch wird die stagnierende und destruktiv endende Abfolge der Vergangenheit in der Gegenwart (siehe das Präsens in „sie graben" [V. 14] sowie in „ich grabe, du gräbst" [V.13] und „du gräbst und ich grab" [V.17] gegenüber dem Präteritum in „sie gruben" [V.2 u. 10]) in ein positives, belebendes Ereignis überführt. Mit den beiden Sequenzen kontrastiert der Autor somit zwei Geschichten, eine vergangene Geschichte mit destruktivem und negativem Ereignis (Sturm und Flut - vgl. V.l lf.) bzw. eine gegenwärtige mit positivem Er7

Vgl. die tropische Analyse dieser Metapher duch Poppenhusen (2001), S. 137-140.

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eignis und stellt zudem die Möglichkeit einer späteren Entwicklung auf das katastrophale Scheitern einer früheren dar. Die Art dieser Reaktion des Sprechers lässt sich noch einen Schritt weiter explizieren, wenn man bedenkt, dass in entscheidender Weise die kognitive Perspektive des Sprechers / Erzählers in beiden Sequenzen letztlich dieselbe ist, denn auch die Erzählung des Geschehens, das aus der besonderen Einstellung der Protagonisten-Gruppe („sie") folgt, wird - in Sequenz A - aus der Perspektive eines Wissenden formuliert, wie sich vornehmlich in der Fähigkeit zur Wiedergabe der Wahrnehmungen der Protagonisten zeigt (V.5f.: „so hörten sie"); der Sprecher verfugt in Bezug auf „sie" über Introspektion (Innenschau). 8 Dies impliziert möglicherweise, dass der Sprecher auch aus dieser Gruppe (V.2f., 7f. u. 10: „sie") stammt, in der Vergangenheit zu ihr gehörte, sich in der Gegenwart aber in eine andere Richtung und zu einer anderen Einstellung verändert und entwickelt hat. Soweit lässt sich die Sequentialität des Gedichtes - weitestgehend beschränkt auf die semantischen Einheiten der Oberflächenstruktur (das heißt vor allem auf die konkreten Bilder des Grabens sowie die expliziten Hinweise auf Sanges- oder Dichtkunst und Sprache) - in ihrer abstrakten Struktur narratologisch als kontrastive Aufeinanderfolge zweier Geschichten rekonstruieren, ohne dass man dabei sogleich auf die Sinndimension eingeht, also ohne zunächst zu fragen, was die Gegebenheiten und Geschehenselemente (das Graben, das Lied, Sprache, die Protagonisten „sie", „ich", „du", „der Wurm") in thematischer Hinsicht ,bedeuten'. In einem zweiten Schritt soll nunmehr untersucht werden, wie diese relativ abstrakte Sequenzstruktur durch spezifische Kontextbezüge mit zusätzlichen Sinndimensionen versehen wird. 2. Zusätzliche thematische Dimensionen Die Frage, die sich hier stellt, zielt vornehmlich auf den (oder die) thematischen Frame(s), innerhalb dessen (oder deren) die dargestellten Abläufe 8

Dittrich (2005) macht die Perspektive des Sprechers, und zwar in erkenntnistheoretischer Hinsicht, im Sinne einer impliziten Epistemologie, radikal zum zentralen Deutungsansatz des Bandes Die Niemandsrose. In Bezug auf „Es war Erde in ihnen" (S. 559f.) kommt er dabei meines Erachtens zu verkürzenden Aussagen, wenn er hier vor allem das Problem von Selbst-Wissen und Zugang zum Bewusstsein des anderen („du") sieht. Ohne auf die syntaktisch-morphologische Struktur der Sätze einzugehen, interpretiert er z.B. die Begriffe „Tag" und „Nacht" isolierend als Hinweise auf Selbsttransparenz bzw. -intransparenz, „Graben" als Selbsterkundung.

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Bedeutung erhalten. Die Antwort hieraufhängt vom jeweiligen (kulturellen, sozialen, psychischen) Kontext ab, den man für das dargestellte Geschehen ansetzt. Durch entsprechende kontextuelle Bezüge lassen sich die Bedeutungszuschreibungen herstellen. Die Bestimmung der Frames und des Kontextes stützt sich generell auf Signale, speziell auf Konnotationen und intertextuelle Anspielungen innerhalb des Textes sowie zusätzlich außertextlich - auf (das Wissen über) den Entstehungszusammenhang des Gedichtes (in sozial- und kulturhistorischer Hinsicht), den Werkzusammenhang und den Lebenszusammenhang des Autors. Im vorliegenden Fall - wie auch für den gesamten Band der Niemandsrose, aus dem das Gedicht stammt, sowie darüber hinaus für weite Bereiche von Celans Lyrik - ist als allgemeiner Kontext die katastrophische Erfahrung der Shoah und deren Auswirkungen bei dem / den Überlebenden in Bezug auf die Einstellung zum Leben, insbesondere zur Lebenshaltung und zu Annahmen über Weltordnung und Transzendenz, zu Kommunikation und Kunst (zumeist im Zeichen von Sprachskepsis) anzusetzen. 9 Der Bezug von „Es war Erde in ihnen" auf diesen Kontext ergibt zwar keine eindeutige semantische geschichtliche Festlegung der beiden narrativen Sequenzen und ihres Zusammenhangs in Form konkreter Geschichten, aber er ermöglicht konkretisierende Sinn-Zuschreibungen auf relativ hohem Allgemeinheitsniveau. Für die im Folgenden dazu eröffneten Möglichkeiten sind Alternativen denkbar. Doch wird die Mehrdeutigkeit des Gedichtes, das heißt die offene Relationierbarkeit seiner semantischen Elemente, durch diesen Kontextbezug wenn nicht aufgehoben, so doch graduell eingeschränkt. Die Ausgangssituation in Sequenz Α verweist (in offensichtlicher Anspielung auf die biblische Schöpfungsgeschichte) auf die Kreatürlichkeit des Menschen: Der Mensch wurde aus einem Erdenkloß geschaffen (Gen 2, 7)10 und wird nach seinem Tod wieder in Erde zerfallen (Gen 3, 19). Aufgrund dieser Anspielung ließe sich eine allgemein-menschliche, eine kreatürliche Verhaltensweise als Kontext für die Deutung der Sequenz einsetzen. Demgemäß würde das Graben in Erde die letztliche Bestimmung menschlicher Aktivität im Sinne des Todes implizieren. Gelesen als

9

10

Siehe z.B. Günzel (1995), S. 169-174; Jakob (1993), S. 267, 270ff. u. 280f.; Janz (1976), S. 129; Mackey (1997), 15ff„ 123ff. u. 275ff.; Markis (1999), S. 8, 58 u. 116ff.; Schmitz (2003), S. 125ff„ 171ff. u. bes. 213ff.; Vietta (1970), S. 90, 94 u. 117. Der Name „Adam", hebräisch fur Mensch, ist aus „adamah" (Ackererde) ableitbar vgl. Birus (1997), S. 52.

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Darstellung menschlicher Lebensmöglichkeiten 11 erzählt diese Sequenz im allgemeinen Sinne die Geschichte eines Menschentypus, einer Menschengruppe, die sich obsessiv auf ihre Kreatürlichkeit und Todesverfallenheit eingrenzt, diese Ausrichtung als gottgegeben hinnimmt (vgl. V.46) und darüber ihre Lebenszeit ungenutzt verschwendet (vgl. V.3f), weder interpersonale Beziehungen und Kommunikationsinstrumente (vgl. V.7 u. 9) noch künstlerische Medien zur Selbstdarstellung entwickelt und keinerlei Einsicht in menschliche Begrenztheit (vgl. V.8) gewinnt oder Glück und Dankbarkeit für die göttliche Gabe des Lebens empfindet (vgl. V.4). 12 Die Konsequenz einer derartigen Lebenshaltung ist die schließliche Auslöschung (vgl. V.l lf.), als ein negatives Ereignis.13 Setzt man jedoch als spezifischen Rahmen (Frame) die jüdische Shoah-Erfahrung an, so lässt sich diese Sequenz auf die Vernichtung der Juden (etwa in den von Sondereinsatzkommandos durchgeführten Massenerschießungen) beziehen: Viele von ihnen wurden vor ihrer Ermordung gezwungen, ihre eigenen Gräber zu graben, und schienen sich vielfach in ihr Schicksal im Glauben an dessen Gottgewolltheit ergeben zu haben. 14 In dieser Glaubenshaltung war das Ausbilden gemeinschaftlichen menschlichen Potentials wie Kommunikativität, Solidarität, Selbstreflexi11 12

13

14

Vgl. die Deutung bei Markis (1999), S. 59ff. Schmitz (2003) bezieht diese Sequenz Α auf die Dichter in einer säkularisierten Welt, die nach Gott oder einem tieferen Sinn oder nach Spuren der Toten und der Vergangenheit suchen (220ff.). Schmitz (ebd., S. 220f.) - und vor ihr schon Voswinckel (1974), S. 3Iff. - formulieren diese Identifikation von „sie" als Dichter noch spezifischer als Bezug zur romantischen Bergmannsmetaphorik (Suchen nach Schätzen im Unbewussten u.ä.). Diese Deutung überzeugt nicht, da die ,Grabenden' der Romantiker schon über Sprache und Dichtung verfügen dürften und da ihr Tun nicht in einer Sintflut endet. Hier kann man eine Anspielung auf die biblische Sintflut als Strafgericht Gottes (Gen 6-10) sehen - vgl. Markis (1999), S. 60; Jakob (1993), S. 255; Janz (1976), S. 136 - , die allerdings der traditionellen religiösen Deutung konform bliebe, welcher die Sequenz Α jedoch widerspricht. Angemessener ist vielleicht ein Bezug auf 1 Kön 19, 1112, wo Gottes Manifestation vor dem Propheten Elia als Abfolge von Sturm - Erdbeben - Feuer - Stille beschrieben wird. Dass sich in Celans Gedicht die Reihenfolge umkehrt und mit Wasser (an Stelle von Feuer) und nicht mit der Stille endet, ist möglicherweise als Hinweis auf die Abwesenheit Gottes zu lesen. Dieser Rahmen lässt sich durch den Bezug auf die „Todesfuge" verdeutlichen und die dort wiederholte Wendung: „wir schaufeln ein Grab in den Lüften" - Celan (1983), S. 39-42; vgl. Schmitz (2003), S. 219; Poppenhusen (2001), S. 135. Lackey (2002) formuliert diesen Bezug auf eine krude, polemisch vereindeutigende Weise, wenn er in dem Gedicht die umkehrende Anwendung eines alttestamentarischen Genozidgebots in Bezug auf Ungläubige durch Hitler auf die Juden sieht.

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on oder Kunstpraxis nur von nachgeordneter Bedeutung. Diese Lesart stimmt strukturell mit der allgemeineren Lesart dieser Geschichte im Sinne ihrer Konkretisierung überein, führt aber zu einem spezifischen Sinn. Das negative Ereignis am Ende der Sequenz Α (die Überwältigung durch Sturm und Wasserflut) 15 meint dann die physische Vernichtung der europäischen Juden während der Zeit des Nationalsozialismus. Der Glaube an Gottes Wollen und Wissen in Verbindung mit diesem Geschehen begünstigt die Hinnahme der Shoah. Als Folge dieser Auffassung, dass Gott die Vernichtung seines auserwählten Volkes zugelassen habe (vgl. V.4-6), 16 unterlassen die Opfer jedoch sein Lobpreisen und ziehen sich zurück aus der Religion ihrer Väter, für die das Loben des sorgenden Schöpfergottes zentral ist, wie dies die Psalmen immer wieder zum Ausdruck bringen. 17 Wenn das Lob Gottes nicht mehr ,gesungen' wird, verlieren letztlich auch die Sprachkompetenz des Menschen und die Möglichkeit zum ,verdichteten Sprechen', die Sprachkunst der Dichtung, Ziel und Sinn. Dieser Deutungsansatz geht allerdings nicht problemlos auf, da das im Text implizierte Ausbleiben eines quasi-menschheitsgeschichtlichen Entwicklungsgangs - dass nämlich Weisheit, Kunst und Sprache nicht erworben wurden - so nicht auf die Juden während der nationalsozialistischen Verfolgung zutrifft (da sie Sprache und Dichtung bereits besaßen). Als Fazit aus dieser Diskrepanz ließe sich formulieren, dass Sequenz Α beide Aspekte miteinander verbindet: eine allgemeine menschliche Verhaltensmöglichkeit und Bezüge auf das Schicksal der Juden in ihrer Verfolgung und Vernichtung durch die Nationalsozialisten (besonders hinsichtlich des Zweifels am ererbten privilegierten Gottesbezug). Im eben skizzierten Kontext wird für Sequenz Β die Sprach- und Dichtungsproblematik (als Folge der mangelnden Kommunikation und Solidarität der Menschen) der wichtigste Bezugspunkt und ergibt eine gegenläufige Entwicklung zu Sequenz A. Wie oben bereits für die konkrete Bildlichkeit dieser Sequenz beschrieben wurde, entstehen im Zusammenhang mit der individualisierenden und selbstbewussten Personalisierung von Tätigkeit („ich" / „du") und im prononcierten Gegensatz zur unpersönli15

16 17

Man könnte hierin auch eine Anspielung auf Mk 4, 35ff., die Beruhigung des stürmischen Sees durch Jesus, sehen. Jedoch scheint mir ein Bezug auf das Neue Testament in einem prononciert jüdischen Kontext weniger plausibel. Der Hinweis auf die Vernichtung folgt allerdings erst in den Versen 1 lf. Vgl. Birus (1997), S. 52; Stadler (1989) arbeitet sehr genau die radikale und umfassende Abwendung von dem Gott und dem Gotteslob der Psalmen heraus und die Konsequenz im Selbstvollzug des Grabens (in dem, was hier Sequenz Α genannt wird), geht jedoch nicht auf die gegenläufige Bewegung in Sequenz Β ein ( S. 142-151).

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chen, nicht-menschlichen, nicht-bewussten Grabungstätigkeit des Wurms (V.13: „es gräbt auch der Wurm"18 - in Analogie zur eher mechanischen Aktivität von „sie") Dichtungskunst und Sprache (V.14: „das Singende dort sagt"). Dadurch werden die Anrede an den Anderen (vgl. V.15) und die Frage nach Sinn und Richtung des Lebens (vgl. V.16) sowie - als Konsequenz - Kommunikation, zwischenmenschliche Bezüge (vgl. V.17) und schließlich das Ausbilden bewusster Gemeinsamkeit und höherer Einheit (V.18: „uns", „der Ring")19 als einer ereignishaften Veränderung im Kontrast zu den Konstellationen in Sequenz A. Diese Ereignishaftigkeit20 konstituiert sich dadurch, dass das Geschehen unerwartet eintritt. Nach der Verwerfung der Menschen (der Juden) durch Gott in der Vergangenheit in Sequenz Α findet nun, in der Gegenwart des Sprechens, eine Verwerfung Gottes durch die Menschen statt, die sich in ihrer Gemeinschaftlichkeit an seine Stelle setzen. Diese neue menschliche Gemeinschaft kann alle Menschen oder die Juden meinen oder die Dichter oder - noch spezifischer - die Gemeinschaft mit dem geistesverwandten russisch-jüdischen Dichter Ossip Mandelstam,21 dem die gesamte Sammlung gewidmet ist. 3. Sprachlich-poetische Selbstreferentialität und Aspekte der Ereignishaftigkeit Diese ereignishafte Veränderung durch Sprache und Dichtung manifestiert sich nicht nur auf der Ebene des erzählten Geschehens, sondern auch auf der der Darbietung, auf der poetische Verfahren selbstreferentiell in Erscheinung treten.22 Mit dem Anfang von Sequenz Β beginnen die Zeilen zu reimen, denn in der vorletzten Strophe kommt bereits ein Reim vor: 18

19

20

21 22

Trotz des Vergleichs in „auch" dienen die unpersönlichen Implikationen in „es gräbt auch der Wurm" zur Betonung des Gegensatzes zu „ich" und „du" und heben deren Kommunikativität und Menschlichkeit durch Kontrast zur unbewussten Erdverhaftetheit besonders hervor; vgl. Stadler (1989), der in diesem Zusammenhang auf Psalm 22, 7 verweist (S. 148). Der Wurm ist - wie das Kollektiv des „sie" - ausschließlich auf das Graben beschränkt. Vgl. z.B. Markis (1999), S. 60f„ und Schmitz (2003), S. 226ff„ die jedoch im Prinzip statt einer prononcierten Gegenläufigkeit eine andersartige Fortsetzung der ersten zwölf Verse sieht. Szondi (1980) scheint sich auf dies Moment zu beziehen, wenn er vom „Erreichen eines Telos" spricht (S. 145). Die beiden letzten Möglichkeiten hebt Schmitz (2003) hervor (S. 218ff.). Vgl. zum Folgenden die Hinweise bei Szondi (1980), S. 141 ff.

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„Wurm" (V.13) reimt auf „Sturm" (V.ll), und zudem stimmen Syntax und zum Teil auch Wortwahl der beiden Sätze weitgehend überein („es kam auch ein Sturm" - „es gräbt auch der Wurm"). In der letzten Strophe schließlich sind alle Zeilen durch (Kreuz-)Reim miteinander verbunden.23 Hinzu kommen interne Regularitäten wie Alliterationen („das Singende", „sagt"), Binnenreime („einer", „keiner"), lautliche Wiederholungen („o", V. 15 u. 17, insgesamt fünfmal; „gings", „ging"), ,figurae etymologicae' („grabe", „gräbst", „gräbt", „graben"), Parallelismen und Antithesen (V.13: „ich grabe, du gräbst, und es gräbt auch der Wurm"; V.17: „und ich grab mich dir zu", V.14: „und das Singende dort sagt", V.18: „und am Finger erwacht uns der Ring"), Chiasmen und Inversionen (V.13: „Ich grabe, du gräbst", V.17: „du gräbst und ich grab"). Es fällt jedoch auf, dass sich bereits in Sequenz Α ähnliche Regelmäßigkeiten wie beispielsweise Alliterationen (siehe V . l l : „Stille", „Sturm"), Wiederholungen („gruben", viermal; V.llf.: „es kam", „es kamen"), Parallelismen (siehe V.4: „ihr Tag", „ihre Nacht"; V.5f.: „der, so hörten sie, alles dies wollte / der, so hörten sie, alles dies wußte"; V.8f.: „erfanden kein Lied / erdachten sich keinerlei Sprache") abzeichnen, allerdings keine Reime. So ergibt sich als Fazit, dass die poetische Strukturierung von Sequenz Α zu Sequenz Β quantitativ und qualitativ deutlich gesteigert wird, parallel zum thematischen Übergang von der Konstatierung der Abwesenheit von Sprache und Dichtung zur Beschreibung von deren Entwicklung. Da Sequenz Α (wie oben angedeutet) gleichfalls aus der Perspektive des homodiegetischen Sprechers von Sequenz Β beobachtet und erzählt wird, verweist ihre - wenn auch gradmäßig geringere - poetische Überformung auf der Darbietungsebene bereits (gleichsam antizipatorisch) auf das Wirken der sich neu bildenden Fähigkeiten zu Sprache und Dichtung. In diesem Zusammenhang zeigt sich die Scharnierfunktion der vierten Strophe für den ambivalenten Zusammenhang der beiden Sequenzen. Zum einen wird ihre semantisch-thematische Opposition durch das unvermittelte Aufeinandertreffen des semantischen Inhalts am Aufeinanderstoßen des Endes der einen und am Anfang der anderen Sequenz eigens betont. Zum anderen finden sich formale Anschlüsse, wie die Rückbindung durch den hier erstmals auftretenden Reim („Sturm", „Wurm") und den syntaktisch-lexikalischen Parallelismus im selben Satz („es kam auch ein Sturm", „es gräbt auch der Wurm" - siehe V.ll u. 13). Somit wirkt sich das Geschehensereignis der neu gewonnenen interpersonalen menschlichen Gemeinschaftlichkeit mittels Sprache und Dichtung, wie es Sequenz 23

Vgl. Markis (1999), S. 61.

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Celan: „Es war Erde in ihnen"

Β erzählt, schon auf der Darbietungsebene des gesamten Gedichtes als sich steigernde Poetisierung des Sprechens aus. Das Geschehensereignis wird also durch ein Darbietungsereignis parallelisiert und praktischsprachlich umgesetzt. Literatur Birus, Hendrik 1997 „Es war Erde in ihnen", in: Kommentar zu Paul Celans „Die hg. von Jürgen Lehmann. Heidelberg, S. 51-56.

Niemandsrose",

Celan, Paul 1983 Gesammelte Werke, Bd. 1: Gedichte I, hg. von Beda Allemann und Stefan Reichert. Frankfurt a.M. Günzel, Elke 1995

Das wandernde Zitat: Paul Celan im jüdischen Kontext. Würzburg.

Jakob, Michael 1993

Das ,Andere' Paul Celans: oder von den Paradoxien relationalen Dichtens. München. Janz, Marlies 1976 Vom Engagement absoluter Poesie: Zur Lyrik und Ästhetik Paul Celans. Frankfurt a.M. Lackey, Michael 2002 Poetry as Overt Critique of Theology : A Reading of Paul Celan's „Es war Erde in ihnen", in: Monatshefte 94, S. 433-446. Mackey, Cindy 1997 Dichter der Bezogenheit: A Study of Paul Celan 's Poetry with Special Reference to „Die Niemandsrose". Stuttgart. Markis, Sabine 1999 Mit ,lesendem Aug": Prinzipien der Textorganisation in Paul Celans „Niemandsrose ". Bielefeld. Menninghaus, Winfried 1980

Paul Celan: Magie der Form. Frankfurt a.M.

Poppenhusen, Astrid 2001 Durchkreuzung der Tropen. Paul Celans „Die Niemandsrose" im Lichte der traditionellen Metaphorologie und ihrer Dekonstruktion. Heidelberg. Schmitz, Simone 2003

Grenzüberschreitungen in der Dichtung Paul Celans. Heidelberg.

Stadler, Arnold 1989 Das Buch der Psalmen und die deutschsprachige Lyrik des 20. Jahrhunderts: Zu den Psalmen im Werk Bertolt Brechts und Paul Celans. Köln.

294

Peter Hühn

Szondi, Peter 1980 Celan-Studien, hg. von Jean Bollack. Frankfurt a.M. Vietta, Silvio 1970

Sprache und Sprachreflexion in der modernen Lyrik. Bad Homburg u.a.

Voswinckel, Klaus 1974 Paul Celan: Verweigerte Poetisierung Heidelberg.

der Welt. Versuch einer

Deutung.

M A L T E STEIN

Ilma Rakusa: „Limbo" 1. 2. 3. 4. 5.

region on the border of Hell Hell, Hades prison, durance border, edge zombie-like condition

Gefällt und unten bricht der Boden weg so weg von wegen unten: wo singt das Vogelpack im Herzton late fall das Blättergelb der Kehraus später Hoffnung froh zu sein bedarf es viel die Kinder spielen auch nicht mehr im Feld nur Hunde drehen eine schnelle Runde und Kastanienrauch das Rehkitz frisch serviert (Wildfestival) ein Schmaus die Köche haben lange Ohren dann zu dünn besohlt nach Haus im Regen ruft wer? die Silhouette Syriens gebannt in meinem Kopf mit Wüsten Flüssen kahlen Bergen von oben brach das ganze Land von wegen oben: Ätherblau kennt keine Zonen und wo ich bin ist einerlei

296

Malte Stein 35

im Flugstrom (Traumflug) ungelandet

(III)

40

45

schwebender Appell: die Füsse runter walk through mud durch Novembertiefen wie Zirpen hört sich's an (einer Gewissensgrille) während das Gesicht Falten wirft art in ruins und

(IV)

50

55

himmelweit kein Meer in Sicht nur vertikal der Schwindel sticht Vertigo honiggelb ist Gott (reluctant gravities) ich gehe aus und ein und finde nicht den Ort

(V)

60

65

den Stern wie Tenne Teppich Taubenschlag nur Laub im Garten haufenweis und pennt ein Stuhl many things stand in our way das ist es dann gewesen ein zwei Himmelsstreiche und der Abstieg so indifferent, so unpleasurably flesh

(VI) egress to ingress (VII) lichtet sich die Liebe in limbo, Mr. Edge? Ilma Rakusa: Love after love. Acht Abgesänge. Frankfurt a.M. 2001. Hier zitiert nach der um die Verse 46 und 63 längeren Fassung, in: Das Gedicht. Zeitschrift für Lyrik, Essay und Kritik 9 (2001/2002), S. 45f.

Rakusa: „Limbo"

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1. Erscheinungsorte Die Autorin hat dieses Gedicht während eines Jahres in zwei unterschiedlichen Kontexten veröffentlicht. Innerhalb des Gedichtzyklus Love after love. Acht Abgesänge gehört es zu einem monologischen Zwiegespräch, das die fiktive Sprecherinstanz - eine Frau, die sich u.a. als „Närrin der Sehnsucht" bezeichnet1 - mit ihrem davongegangenen Geliebten führt. Unter dem Titel „Limbo (I)" steht das Gedicht im Zyklus an vierter Stelle und ruft ein bestimmtes Vorwissen auf: Wer es im Anschluss an die drei vorangestellten ,Gesänge' liest, rezipiert den dargebotenen Gedankenstrom bereits vor dem Hintergrund eines transatlantischen Liebesverhältnisses, das auf manischer Illusionierung beruhte,2 in masochistische Hörigkeit führte 3 und vom abwesenden Du - einem englischsprachigen Geschäftsmann mit Fluchttendenzen 4 - schließlich beendet wurde. Im Wissen um diese Beziehungsgeschichte lässt sich der Text, wie auch die übrigen „Abgesänge", als das Seelenprotokoll einer versuchsweisen Trennungsverarbeitung begreifen. Vermittelt wird etwas von dem Erleben einer Liebenden, nachdem die „Abschiedsaxt" 5 sie getroffen hat. An seinem zweiten Publikationsort, einer Zeitschrift mit „Lyrik zwischen Himmel und Hölle", 6 steht „Limbo" in der oben zitierten Fassung für sich allein. Hier muss das Textverstehen ohne jede Vorinformation über das dargestellte Ich auskommen. Der Leser erfahrt von des Subjekts Enttäuschtsein („Kehraus / später Hoffnung" - V.8f.]) und einer der kanonisierten Volksweisheit widersprechenden Schwermut („froh zu sein bedarf es / viel" - V. 1 Of.), kann aber auf ein Leiden an Liebe erst aus der Schlussfrage schließen und bleibt dann ohne jeden Hinweis darauf, wie dieses Leiden entstanden ist. Derart entkoppelt von aller persönlichen Vorgeschichte, erscheint die Melancholie des reflektierenden Ich als überindividuelle Erlebnisweise eines Menschen, der - in die Jahre gekommen („das Gesicht [wirft] Falten" - vgl. V.44f.) und um eine „späte Hoffnung" (vgl. V.9) ärmer geworden - besonders empfänglich ist für die Tristesse seiner herbstzeitvollen Umgebung (V.7: „late fall", V.40: „Novembertiefen"). Statt der „mikroskopischen Prozesse zwischenmenschli1 2 3 4 5 6

Rakusa (2001), S. 20. Ebd., S. 9: „Neben dem Walin der Abyss". Ebd., S. 10: „Prügelmädchen", „getrimmt auf weitere Disqualifikation". Ebd., S. 11: „Kaum da, schon wieder weg". Ebd. So lautet die Überschrift der Anthologie in Nr. 9 der Lyrik-Zeitschrift Das Gedicht.

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eher Beziehungen" 7 tritt als Thema des Gedichts das Verhältnis zu Leben, Tod und Transzendenz in den Vordergrund. Mit beiden Textfassungen wird ein ,stream of consciousness' dargeboten, in dem sich Impressionen aus der realen Umwelt mit Elementen einer imaginären Wüsten-Szenerie vermischen. Rhetorische Mittel wie etwa der wiederholte Sprach- und Stilebenenwechsel oder der Einsatz von Ellipsen, Katachresen, Ambiguitäten und kühnen Metaphern lassen den Bewusstseinsstrom assoziativ und unzusammenhängend wirken. Doch gibt es zugleich auch Faktoren, die dem Leser die Herstellung von Kohärenz ermöglichen: Nicht nur sind die meisten Geschehenselemente des Gedichts einem gemeinsamen Sequenzschema (Skript) zuzuordnen (siehe den folgenden Abschnitt); darüber hinaus fällt an Rakusas Text auch die hohe Rekurrenz von gewissen Semen bzw. semantischen Oppositionen auf (siehe Zeile 3 im Paratext des Gedichts). 2. Makrosequenz auf der ,pictura'-Ebene Als ,reale' Handlung, die das Subjekt im dargestellten Zeitraum vollzieht, kann aus mehreren Geschehenselementen die Sequenz ,Ausgehen' erschlossen werden: Das reflektierende Ich begibt sich zu einem Lokal bzw. Grillfest (V.54: „ich gehe aus", V.19: „Wildfestival"), verzehrt oder beobachtet dort eine Mahlzeit (V.18: „das Rehkitz frisch serviert", V.19: „ein Schmaus") und kehrt sodann wieder „nach Haus" (V.22) in seinen „Garten" (V.60) zurück. Nachträglichen Aufschluss über die persönliche Motivation zu diesem Ausflug bietet der vierte Abschnitt im Gliederungsschema des Gedichts: Durch die resümierende Feststellung „ich gehe aus und / ein / und finde nicht / den Ort" (V.54-57) ist die dargestellte Sequenz als eine iterative Bewegung des Suchens definiert. Das Subjekt hält Ausschau nach einem „Ort" (V.57), den es erreichen möchte, aber nicht finden kann. Sein Bemühen erweist sich als vergeblich, Resignation und Ernüchterung setzen sich - in Abschnitt V - durch: Das „haufenweis" im Garten liegende Laub (V.60f.) ist - gemäß der Semantisierung des „Blättergelbs" (V.8) im ersten Abschnitt - als Zeichen für einen großen „Kehraus später Hoffnung" zu verstehen (V.8f.). Statt noch länger auf einen Sucherfolg zu hoffen, rechnet das aus- und eingehende Ich mit einem baldigen Stolpern „many things stand in our way" (V.63) das es mit seinem physischen 7

Rakusa (1987), S. 96.

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Verfall assoziiert: „das ist es dann gewesen / [ . . . ] / und der Abstieg / so indifferent, so unpleasurably / flesh" (V.64ff.). Insofern der gesuchte Ort das Ziel eines angestrebten Raumwechsels ist, muss er gewisse Eigenschaften haben, die ihn von der aktuellen Umgebung der Suchenden unterscheiden. Worin diese besonderen Merkmale bestehen, gilt es, da hierzu im Text keine expliziten Aussagen gemacht werden, mittels einer semantischen (Isotopie-)Analyse erst herauszufinden. 3. Semantische Felder (Raumsemantik) (1) Aktuelle Umgebung des Subjekts: Seine aktuelle Umgebung nimmt das dargestellte Subjekt als einen Raum wahr, in dem alles der Schwerkraft ausgesetzt ist und deshalb unvermeidlich fällt bzw. buchstäblich zugrunde geht. Vers 1 ruft mit der Ellipse „gefallt" das Bild eines (unter Gewaltanwendung) umgestürzten Baumes auf, Vers 2 die Vorstellung eines unbestimmten Objekts, das ebenfalls stürzen wird, da unter ihm soeben der Boden wegbricht. Miteinander verbunden sind diese Schemata durch das Klassem ,Sturz' bzw. ,Fall', auf das im selben Abschnitt noch mehrmals angespielt wird: Herabgefallen sein müssen auch die gelben Blätter (V.8: „Blättergelb") und die Kastanien (V.17: „Kastanienrauch"), bevor sie zum „Kehraus" (V.8) werden bzw. im Feuer liegen können. Und diese Veränderung - das Herabfallen der Blätter und Früchte - geschieht typischerweise im Spätherbst (V.7: „late fall"), der Jahreszeit mit den meisten „Regen"-Fällen (vgl. V.23).8 In Übereinstimmung mit dieser Raumsemantik ist auch das Subjekt selber den „reluctant gravities" (V.53) unterworfen.9 Auf seinem Heim8

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Der Zusammenhang zwischen Regenfall und Herbst evoziert eine sprachübergreifende Assoziation von dem englischen Begriff für die Jahreszeit (fall) mit der sinnlichen Erfahrung des fallenden Regens. Mit dem Ausdruck „reluctant gravities", der, eingeklammert wie ein Zitatnachweis, auf die Terme „vertikal", „Vertigo" und „honiggelb ist Gott" (vgl. V.49ff.) folgt, referiert die Autorin intertextuell auf den 1999 publizierten Band Reluctant Gravities der deutsch-amerikanischen Schriftstellerin, Übersetzerin und Verlegerin Rosmarie Waldrop. Die zweite und dritte der sich dort zwischen „two voices" in lyrischer Prosa entspinnenden „conversations" sind mit „On the Vertical" bzw. „On Vertigo" überschrieben und umkreisen, wie auch Rakusas Prosagedicht, die Spannung zwischen Transzendenz und irdischem Dasein, dem aufstrebenden Geist und „the body that remains so painfully" und zugleich „so pleasurably flesh". In „On the Vertical" möchte die mit „he" bezeichnete Stimme wissen: „The way the lark at end of night trills verti-

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weg erlebt es sich zwar noch - während des Tagtraums von „Syrien" (V.25) - als im „Flugstrom (Traumflug) / ungelandet" (V.35f.). Was sich sodann aber anschließt - eingeleitet durch den „Appell: / die Füße runter" (V.37f.) ist die Wahrnehmung eines allmählichen „Abstieg[s]" (V.66) bzw. Niedergangs: Die „runter"-gelassenen Füße (vgl. V.38) versinken beim ,touch down' in des Erdreichs „Novembertiefen" (V.40) („walk through mud" - V.39), und das wahrnehmende Ich findet sich Einflüssen ausgesetzt - außer dem rutschigen Boden und den „reluctant gravities" (V.53) auch einem „[stechenden] Schwindel" (vgl. V.50) und einer Vielzahl von Hindernissen („many things stand in our way" - V.63) - , die ihm seinen eigenen ,FalF so wahrscheinlich wie absehbar machen (vgl. V.63ff.). Vom Subjekt als ein „egress to ingress" (V.69) gedeutet, ist dieser erwartete Sturz auf der ,subscriptio'-Ebene 10 - auf der Ebene der konnotierten Signifikate - als das Ende des eigenen Lebenswegs, als , Todesfall', semantisiert. Unter dem Eindruck der im Herbst sterbenden Natur antizipiert das Subjekt seinen Austritt („egress") aus der irdischen Welt, wobei es sich diesen Raumwechsel als eine Fortsetzung seiner „Abstiegs"-Bewegung vorstellt: als einen Eintritt („ingress") „in limbo" (V.71), jene „region on the border of Hell" (vgl. Paratext), in die nach katholischem Glauben die frommen Heiden und ungetauften Kinder ,post mortem' gelangen. Dass die Bewegung nach unten - das Fallen - (auch) in diesem Text Tod und Vergehen symbolisiert, lässt sich bereits im ersten Abschnitt er-

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cally out of the grass [...] up into anemic heights, the stand-still of time. Could we call this God?" Worauf ihr dann „she" antwortet: „Even the lark's soar breaks and is content to drop back into yesterday's gravitiy. Which wins out over dispersion, even doubt, and our thoughts turn dense like matter. The way the sky turns deep honey at noon" Waldrop (1999), S. 1 If. Aus Waldrops Motiv des zu „deep honey" sich verfärbenden Himmels macht Rakusa die Zeile „honiggelb ist Gott" („Limbo", V.52), aus der Rede vom „body that remains [...] pleasurably flesh" (Waldrop [1999], S. 12) und einem Halbsatz aus der Konversation „On Vertigo" - „So to slide down, so unutterably, so indifferent" (S. 13) - die resignierte Feststellung: „und der Abstieg / so indifferent, so unpleasurably / flesh" („Limbo", V.66-68). In Anbetracht solcher (abändernden) Wortübernahmen steht die intertextuelle Beziehung zu Wal drops Werk außer Frage. Die Untersuchung von deren Funktion(en) muss indes einer späteren Arbeit vorbehalten bleiben, da hierzu eine Analyse des Prätextes erforderlich wäre, wie sie im Rahmen des vorliegenden Beitrags nicht zu leisten ist. ,Subscriptio' im Sinne von Jürgen Link verstanden als ein komplexes Signifikat, das dem Signifikat eines quasi-visuellen Zeichenkomplexes als symbolische Bedeutung zugeordnet werden kann; siehe etwa Link / Parr (1997), S. 116-118.

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kennen: Der da eingangs betrachtete Baum ist ein durch Fällen getöteter Baum, das im Lokal servierte „Rehkitz" (V.18) ein zur Speise verarbeiteter Kadaver (,gefallener' Körper).11 Die zu Boden gefallenen Blätter verrotten allmählich, und die ebenfalls herabgefallenen Kastanien verbrennen im Feuer. Eine jede Beobachtung führt dem Ich etwas der Verwesung bzw. Vernichtung Anheimgefallenes vor Augen, liefert ihm eine Anschauung für jenes Ver- bzw. Eingehen (V.54f.: „ich gehe [...] ein"), in dem - „Falten" (V.44) werfend - auch sein eigener Leib schon begriffen ist: „so indifferent, so unpleasurably" (V.67), so gänzlich „flesh" (V.68). Das dargestellte Subjekt erlebt sich somit als von einer Welt des Verfalls umgeben, durch deren Phänomene es mit seiner eigenen Hinfälligkeit konfrontiert wird. Eben aus diesem Raum (aus der Menge der vergänglichen Objekte) wünscht es fortzukommen an einen „Ort" (V.57), der irgendwie anders wäre... (2) Der gesuchte Ort: Die genauere Beschreibung jenes vergeblich gesuchten Gegenraums erfolgt mit vier Substantiven („Stern", „Teppich", „Tenne" und „Taubenschlag" - vgl. V.58f.), die semantisch ohne unmittelbare (denotative) Gemeinsamkeit sind. Da die vier Terme aber lautliche Ähnlichkeiten (Alliterationen und Assonanzen) aufweisen und in ihrer Funktion als Metaphern dasselbe Substituendum repräsentieren, ist zu unterstellen, dass sie (mindestens) ein aussagekräftiges Bedeutungsmerkmal miteinander teilen. Um dieses Klassem zu finden, muss die Rezeption von der Ebene der normalsprachlichen Zeichenbedeutungen auf die Ebene der Konnotationen - des sekundären semiotischen Systems wechseln. Signalworte wie „Gott" (V.52), „hell" (vgl. Paratext), „flesh" (V.68) oder „Syrien" (V.25) legen es nahe, bei der Lektüre biblisch-religiöse Bedeutungen zu berücksichtigen. Und in der Tat begegnen einem die vier den gesuchten Ort charakterisierenden Substantive - die Tenne, der Teppich, der Stern und die Taube - im biblischen Kontext allesamt wieder: der Teppich als ein Bild für den von Gott ausgebreiteten Himmel (Ps 104, 2), aber auch als das Material, aus welchem die sogenannte ,Stiftshütte' gefertigt ist (das israelische Tempelprovisorium für die Zeit der Wüstenwanderung) (2 Mo 26, 1); die Tenne (von Auranas) als der Standort des Jerusalemer Tempels (2 Sa 24, 18); der Stern (von Bethlehem) als Wegweiser zu jener Stätte, an welcher der neugeborene Heiland zur Welt gekommen ist (Mt 2, 2); und die Taube u.a. als eine Gestalt, in der der Heilige Geist den Menschen erscheint (Mt 3, 16). 11

Das Lehnwort, Kadaver' geht zurück auf das lateinische Verbum ,cadere' (fallen).

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Bezieht man diese intertextuellen Konnotationen in die Lektüre mit ein, so lassen die vier Ortsumschreibungen zwei Gemeinsamkeiten erkennen: Sie alle bezeichnen Gegebenheiten, die in der Höhe liegen (der Teppich als eine Metapher für den Himmel, die Tenne als der üblicherweise auf einer Anhöhe gelegene Dreschplatz); 12 und sie alle verweisen auf Bauten, an denen eine Gottesbegegnung möglich (gewesen) ist: der Teppich als ,pars pro toto' für die Stiftshütte, die Tenne als Metonymie für den Jerusalemer Tempel, der Stern als Metonymie für den Stall von Bethlehem, der Taubenschlag als parodistisch-profane Bezeichnung für einen Raum, in dem der Heilige Geist kommt und geht.13 Mit solchen Eigenschaften ausgestattet, bildet der gesuchte Ort einen Gegenpol zu der im Titel angekündigten Vorhölle. Kennzeichen des Daseins im Limbus ist gerade das Ausgeschlossensein von der göttlichen Heilsgemeinschaft. Wer „in limbo" (V.71) gerät, hat keine Verbindung zu Gott und kann folglich auch nicht zu jener Seinsqualität finden, die im Christentum das ewige Leben genannt wird. Der Limbus ist ein öder Ort, dem Hades bzw. der Scheol ähnlich, wo Menschen nicht wirklich tot und nicht wirklich lebendig sind - wo sie als Wesen, die keine schwere Schuld auf sich geladen haben, gleichwohl aber doch ohne göttliche Gnade bleiben, „zombie-like" (vgl. Paratext) fortexistieren. Limbus

gesuchter Ort

tief keine Verbindung zu Gott „zombie-like condition" (?)

hoch Verbindung zu Gott ewiges Leben

Tabelle 1: Merkmalsvergleich zwischen „limbo" (V.71) und gesuchtem „Ort" (V.56f.)

Schwieriger zu bestimmen ist die Beziehung, in der die herbstliche Realumgebung und der Limbus zu der in Abschnitt II imaginierten SyrienSzenerie stehen: 12

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Dreschplätze befanden sich üblicherweise auf Anhöhen, damit der dort stärkere Wind die Spreu davontrug, wenn man das Getreide mit der Wurfschaufel in Luft warf. Über den „Drang, Garten und Asche zusammzuwingen, das Erhabene zu dekonstruieren", hat Rakusa in Bezug auf Danilo Kis geschrieben: „Nach den feierlichen Worten ,Korallenriff, Augenblick, Ewigkeit, Blatt' setzt er das banale ,Plumasserie', das für die Misere der ständigen Umzüge mit Federbetten etc. steht, das heißt fur die Alltagsrealität" - Rakusa (1998), S. 126. Auf ähnliche Weise dekonstruiert auch die Autorin von „Limbo" das Erhabene, wenn sie auf Tenne, Teppich und Stern den sprichwörtlichen Taubenschlag folgen lässt.

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(3) Syrien: Dieses Syrien könnte zunächst den Eindruck erwecken, wie der gesuchte Ort ein ersehnter Zielraum zu sein. Nicht nur kontrastiert das „Ätherblau" (V.31) mit dem herbstlichen „Regen"-Himmel (vgl. V.23), nicht nur fliegt vor Anbrach des Winters das „Vogelpack" (V.5) (gemäß kulturellem Wissen) in den Süden „weg" (V.3). Signifikant ist vor allem die Tatsache, dass sich das Ich in seiner Syrien-Vision als selber fliegend (V.36: „ungelandet") empfindet. Das in der Realumgebung herrschende Fallgesetz (des Todes) scheint kurz außer Kraft gesetzt zu sein, die Einteilung in oben und unten keinerlei Bedeutung mehr zu haben: „Ätherblau / kennt keine Zonen / und wo ich bin / ist einerlei" (V.3 I f f ) . Achtet man indessen darauf, welche semantischen Merkmale die Szenerie-Elemente miteinander verbinden, so erscheint der imaginäre Schattenriss („die Silhouette Syriens" - V.25) als eine Art Todeslandschaft, deren Leblosigkeit diejenige des „late fall" (V.7) noch übertrifft. Während in der Realumgebung organische Objekte von einer prinzipiellen Fruchtbarkeit der umliegenden Gegend zeugen, gibt es im syrischen Raum, der sich allein aus „kahlen Bergen" (V.28) und „Wüsten" bzw. „Wüsten Flüssen" (V.27) zusammensetzt, keinerlei Lebensspur (mehr). Das „ganze Land" (V.30) ist, „brach" (V.29) liegend, ohne jede Frucht, so dass es - gemäß der Äquivalenz von Tod und Tiefe - ein Stück g e fallene' Erde darstellt („von oben brach / das ganze Land" - V.29f.). Es wird also die „Silhouette Syriens" (V.25) nicht den gesuchten Ort repräsentieren. Mit ihrer Öde eher dem Limbus entsprechend, bietet die „kahle" (vgl. V.28) Kulisse einen Anblick, von dem sich das geträumte Ich sogleich wieder abwendet. Statt während des „Traumflugs" (V.35) in solcher Wüste zu landen, schaut das Traum-Ich lieber zum Äther hinauf blickt es in jenes himmlische Element, das laut Aristoteles, anders als die vier irdischen Elemente, unwandelbar, ursprünglich und ewig ist.14 Dorthin das Auge zu wenden, gewährt die Illusion von eigener Unveränderlichkeit. Solange sich das Subjekt in einem Raum wähnen kann, der „keine Zonen [kennt]" (V.32), braucht es im Herabfallen keine Ankunft zu furchten. Kein Abstand verringert oder vergrößert sich dann. Sein Punkt im Koordinatensystem „ist einerlei" (V.34). Aus solcher Traumhöhe ruft jedoch eine Stimme schon bald auf den , Boden der Realität' zurück. Zwar blendet das Ich auch diese Wahrnehmung - nach einem Aufhorchen am Anfang des zweiten Abschnitts (V.24: „ruft wer?") - zunächst wieder aus. Doch dringt ihm dieselbe Stimme zu Beginn des dritten Abschnitts noch einmal und um so gebiete 14

Zur aristotelischen Äther-Interpretation vgl. Busche (2001), S. 74 u. 151-153.

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rischer ans Ohr: Gleichsam desillusionierend ertönt dort jener Imperativische Appell „die Füße runter" (V.38), mit dem der „Traumflug" (V.35) unverzüglich zu Ende geht. Aus luftiger Höhe „runter"-versetzt (vgl. V.38) in die Niederungen der „Novembertiefen" (V.40), sieht sich das Subjekt in der trostlosen Lage, von der „Zone" (V.32) des Lebens - dem Himmel - weit entfernt (worden) zu sein, hingegen aber seinem Todesf a l l ' und der „Zone" (vgl. V.32) des ,ewigen Todes' - dem „Hades" bzw. der Hölle („Hell" - vgl. den Paratext) - immer näher zu kommen. In welcher Relation steht nun die Syrien-Vision zur Realumgebung des Ich? Bezeichnenderweise gehören zu den vermittelten Herbstimpressionen gleich mehrere Gegebenheiten, die Träger einer künftigen Lebensblüte sein könnten, hier aber als solche nicht mehr in Frage kommen: Der gefällte Baum wird im nächsten Frühling nicht ausschlagen, die Kastanie im Feuer keine jungen Triebe hervorbringen. Auf dem Feld, wo einst noch (als ,Früchte' menschlicher Fortpflanzung) „die Kinder" (V.12) spielten, herrscht Leere. Als „Schmaus" (V.19) beim „Wildfestival" (V.19) tischen die „Köche" (V.20) ausgerechnet ein „Rehkitz" (V.18) auf. Da das betrachtende Auge mithin nichts erspäht, das nachwachsen könnte, wenn das Alte vergangen ist, verliert das herbstliche Sterben seinen Charakter der Vorläufigkeit. Das zyklische Wiederaufleben der Vegetation und auch die Generationenfolge - die beiden Skripte der innerweltlichen Lebenserneuerung - sind in der wahrgenommenen Welt, wenn nicht gar unmöglich, so doch höchst fraglich geworden. Man kann zu der Einschätzung gelangen, dass die in Abschnitt II geträumte Öde einen Endzustand antizipiert, es sich um eine Extrapolation des in der Umgebung beobachteten Verfallsprozesses handelt. Was vormals „grün und voller Leben war", scheint aus Sicht des Subjekts zu einem „riesigen, wüsten Schauplatz" zu werden.15 Erfolglos nach einer Gottesbeziehung suchend, nimmt das ortlose Ich außer sich selbst auch seine gesamte Umgebung als heillos - als für immer todgeweiht - wahr. 15

Die beiden Zitate stammen aus Imre Kertesz' autobiographischem ,Roman' Ich - ein anderer, der von Ilma Rakusa übersetzt worden ist - Kertesz (1999), S. 48 u. 54. In diesem auf Deutsch zwei Jahre vor Love after Love erschienenen Werk finden sich Schilderungen, die zu der Vermutung berechtigen, dass sie die Übersetzerin zu „Limbo" inspiriert haben könnten. Besonders hingewiesen sei, außer noch auf die Schlusspassage (S. 124-127), auf die folgende Schilderung: „Spaziergang in München. Ich suche das berühmte Schwabing. Finde es nicht. Beziehungsweise was ich finde, ist nicht das Erwartete. Düstere Straßen. München im Spätherbst, bei strömendem Regen, ist ein ziemlich düsterer Ort. Deutschland ist seit dem Gottesgericht vollkommen verwüstet. [...] Niemand weiß es, alle finden es schön" (S. 37).

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4. Ereignis und Motivierung Sowohl die Andeutung eines Phantasie- und Gedankenfluges in südöstliche Gefilde als auch die Thematisierung des Verhältnisses zum Göttlichen weisen inhaltlich auf die Gattungstradition der Hymne zurück. Auffallige Motivparallelen lassen an einen intertextuellen Bezug insbesondere zur Hymnendichtung Hölderlins denken,16 in der „Syria" eine Bezeichnung für das gesamte Heilige Land ist17 und „Vater Aether" als eine naturmythologische Umschreibung des jüdisch-christlichen Vatergottes fungiert. Hölderlins Hymne „An den Aether" etwa vermittelt die Vorstellung, dass zu des himmlischen Gottes ,,ewige[r] Halle" 18 sich alles Lebendige aus ,,geheime[r] Liebe" 19 emporheben will. Die folgende etwas längere Zitation mag verdeutlichen, wie viele Motive aus diesem Gedicht sich mit Rakusas „Limbo" in Verbindung setzen ließen. „An den Aether"

[...] Nicht von irdischer Kost gedeihen einzig die Wesen. Aber du nährst sie all' mit deinem Nektar, ο Vater! Und es drängt sich und rinnt aus deiner ewigen Fülle Die beseelende Luft durch alle Röhren des Lebens. Darum lieben die Wesen dich auch und ringen und streben Unaufhörlich hinauf nach dir in freudigem Wachstum. [...] Aber des Aethers Lieblinge, sie, die glüklichen Vögel, Wohnen und spielen vergnügt in der ewigen Halle des Vaters! Raums genug für alle. Der Pfad ist keinem bezeichnet, Und es regen sich frei im Hause die Großen und Kleinen. Über dem Haupte frolokken sie mir und es sehnt sich auch mein Herz

„Limbo" (V.19): (Wildfestival) ein Schmaus

(V.5): Vogelpack

(V.4f.): von wegen unten: wo / singt das Vogelpack / im Herzton

Tabelle 2: Motivparallelen zwischen Hölderlins „An den Aether" und Rakusas „Limbo" 16

17

18 19

Auf den Hymnus „Patmos" beziehen sich Reflexionen und Anspielungen schon in Rakusas Erzählung Die Insel - Rakusa (1982), S. 37 u. 17. In „Brod und Wein" heißt der in Bethlehem geborene Christus bekanntlich „der Syrier" (Hölderlin [1951], S. 95, V.156); entsprechend großzügig verwendet Hölderlin die Ortsangabe „Syiria" in „Männerjubel" (Hölderlin [1946], S. 68, V.36) und einem Bruchstück der späteren Fassung von „Patmos" (Hölderlin [1951], S. 181, V. 141). Hölderlin (1946), S. 204f.: „An den Aether", V.28. Ebd., V.21.

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Tabelle 2 (Fortsetzung): „An den Aether"

„Limbo"

Wunderbar zu ihnen hinauf; wie die freundliche Heimath Winkt es von oben herab und auf die Gipfel der Alpen Möcht' ich wandern und rufen von da dem eilenden Adler, Daß er, wie einst in die Arme des Zeus den seligen (vgl. Paratext; V.35): Knaben, prison; Traumflug Aus der Gefangenschaft in des Aethers Halle mich trage. Thöricht treiben wir uns umher; wie die irrende Rebe, Wenn ihr der Stab gebricht, woran sie zum Himmel aufwächst, Breiten wir über dem Boden uns aus und suchen und wandern Durch die Zonen der Erd', ο Vater Aether! vergebens, Denn es treibt uns die Lust, in deinem Garten zu wohnen. In die Meersfluth werfen wir uns, in den freieren Ebnen Uns zu sättigen, und es umspielt die unendliche Woge Unsern Kiel, es freut sich das Herz an den Kräften des Meergotts. Dennoch genügt ihm nicht; denn der tiefere Ozean reizt uns, Wo die leichtere Welle sich regt - ο wer dort an jene Goldnen Küsten das wandernde Schiff zu treiben vermöchte! 20

(V.54ff.; V.31ff.; V.60): Ich gehe aus und / ein / und finde nicht / den Ort; Ätherblau / kennt keine Zonen; nur Laub im Garten

(V.48f.): Himmelweit kein Meer / in Sicht

Die Sprecher in Hölderlins Hymnen erahnen als ,,wonnetrunkne[...] Seher" 21 den Beginn einer Heilszeit, deren zentrales Charakteristikum die Erlösung vom Tod ist. Beflügelt durch eine Liebe, welche dem „[Sand] der dürren Wüste [höhnt]", winden die „trunknen Geister" sich „von der Fessel [...] los" und steigen dorthin hinauf, 22 „wo das Leben wohnt": 23 Unter Schwur und Kuß vergessen Wir die träge Fluth der Zeit, Und die Seele naht vermessen Deiner Lust, Unsterblichkeit! 24

20 21 22 23 24

Ebd., Ebd.: Ebd.: Ebd.: Ebd.:

V.6-47. „Hymne „Hymne „Hymne „Hymne

an an an an

die die die die

Unsterblichkeit", S. 116, V. 5. Liebe", S. 167, V. 42. Unsterblichkeit", S. 116, V. 26. Liebe", S. 167, V. 45-48.

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Bleibt der gläubigen Seele solcher Aufflug zur Ewigkeit vorläufig noch verwehrt, kann sie durch göttliche Gnade gleichwohl doch versöhnt werden mit ihrem Erdendasein - kann sie „schon im grünen Erdenrunde / [...] hohen Vorgenuß" 25 schmecken: Aber indeß ich hinauf in die dämmernde Ferne mich sehne, Wo du fremde Gestad' umfängst mit der bläulichen Wooge, Kömmst du säuselnd herab von des Fruchtbaums blühenden Wipfeln, Vater Aether! und sänftigest selbst das strebende Herz mir, Und ich lebe nun gern, wie zuvor, mit den Blumen der Erde. 26

Basierend auf einem „eschatologischen Geschichtsverständnis", 27 nähren Hölderlins Hymnen die Erwartung auf eine „universelle Erlösung durch das immanente Eingreifen einer transzendenten Instanz". 28 Sie bekräftigen den Glauben an einen „apokalyptischen ,Zeitbruch', da (der) Gott kraft eines messianischen Mittlers im Zeichen von ,Liebe' und ,Gemeingeist' die Menschen [...] versöhnen wird, und der messianisch-himmlische aion den geschichtlich-irdischen chronus ablöst". 29 Mag die Wirkung des Göttlichen in der dargestellten Gegenwart auch schwer zu fassen sein - dem vom Autor inszenierten Dichterpropheten offenbart sich bei seinem Naturerleben und / oder visionären Gedankenflug, dass gerade die eigene, leidvolle Gegenwart „als Beginn göttlicher Erfüllung betrachtet werden kann". 30 Rakusas „Limbo"-Gedicht mit seinen nicht nur stilistischen Verstößen gegen die Gattungsregeln der deutschen Hymne nimmt sich vor diesem Hintergrund wie ein ,Abgesang' auf religiöse Erlösungshoffhungen aus. Die Autorin führt ein Subjekt vor, das nach Heilsaussichten zwar sucht, sie aber doch nirgends zu finden vermag. Dem zum „Ätherblau" (V.31) aufstrebenden Ich kommt „himmelweit kein Meer in Sicht" (V.48f.), sein gattungstypischer „Traumflug" (V.35) endet gattungsuntypisch in Regen und Erdenschlamm. Die Eindrücke von der sterbenden Natur werden durch die Wüsten-Vision nicht etwa kontrastiert, sondern gesteigert. Anstelle einer Himmelfahrt ins Elysium erwartet das Subjekt seinen (und seiner Welt) Absturz in ewige Todverfallenheit - rechnet es mit einem Einschluß „in limbo" (V.71). 25 26 27 28 29 30

Ebd.: „Hymne an die Schönheit", S. 150, V.41f. Ebd.: „An den Aether", S. 204f., V.48-52. Schmidt (1990), S. 193. Calier (1999), S. 9. Ebd., S. 10. Gabriel (1992), S. 146.

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Bestimmt man von daher als das zentrale Ereignis auf der Geschehensebene das Nicht-Fündig-Werden eines nach Gottesgemeinschaft suchenden Menschen, so stellt sich die Frage, ob aus dem Text Propositionen abzuleiten sind, die dieses Scheitern erklären. Soll man als Leser schlussfolgern, dass es in der dargestellten Welt die Möglichkeit einer transzendenten Erlösung gar nicht gibt? Oder sind im Text Indizien zu finden, die es nahelegen, die transzendentale Obdachlosigkeit der Suchenden als göttliche Strafe für einen Frevel zu verstehen? Gegen diese letztere Deutung scheint zu sprechen, dass in den Limbus nach katholischer Glaubenslehre keine Verdammten kommen, sondern nur Menschen, denen zur Erlösungsfähigkeit lediglich das Taufsakrament fehlt. Andererseits sind dem Lexem „limbo" (V.71) im Paratext des Gedichts (in dessen Überschrift sowie den vorangestellten Begriffen 1.-5.) drei Bedeutungen zugeordnet („prison, durance" und „Hell"), die das Handlungsschema ,Bestrafung' durchaus aufrufen. Wer dann den anschließenden Text nach Geschehenselementen absucht, die sich in dieses Schema einfügen lassen, wird entsprechend auch fündig: Das am Anfang evozierte Bild des gefällten Baumes erinnert zusammen mit dem „Kastanienrauch" (V.17), den „Himmelsstreichen" (V.65) (Schwertstreichen des Himmels) sowie dem vermutlich klingenschwingenden „Mr. Edge" (V.71) an die neutestamentliche Drohung, dass jeder Baum, der nicht gute Frucht bringe, abgeschlagen und ins Feuer geworfen werde (Mt 3, 10). Darüber hinaus bietet es sich auch an - zumal bei Annahme eines intertextuellen Bezugs zu Imre Kertesz' Roman Ich - ein anderer31 - den aus der Perspektive des Ich sich abzeichnenden Prozess der allgemeinen Verwüstung als Folge eines himmlischen Banns32 bzw. „Gottesgerichts"33 aufzufassen. Betrachtet man das dargebotene Geschehen auf der Folie des biblischen Schemas von Götzenverehrung und göttlicher Strafe, wird der Gang zum „Wildfestival" (V.19) als eine Regression in heidnische Kulte deutbar, und der (mitgenossene?) Rehkitz-„Schmaus" (vgl. V.18f.) gewinnt eine potentielle Konnotation als Gebotsverletzung. Angesichts solcher Rezeptionsmöglichkeiten werden wir uns eine Autorin vorstellen dürfen, die religiöse Lesarten 31 32

33

Siehe oben Anm. 15. Als Bann gilt im Alten Testament ein göttlicher Strafbefehl, auf den hin im schlimmsten Fall alles Lebendige, das sich innerhalb des gebannten Gebietes findet, vernichtet wird (vgl. V.25f.: „Die Silhouette Syriens / gebannt in meinem K o p f ) . Im Zusammenhang mit solcher Gottesstrafe ist auch ausdrücklich von Verwüstung die Rede, wie beispielsweise in Ho 14, 1: „Samaria wird wüst werden; denn es ist seinem Gott ungehorsam." Kertesz (1999), S. 37.

309

Rakusa: „Limbo"

ihres Gedichts zumindest nicht ausschließen wollte. Dennoch bleibt festzuhalten, dass die Textvorgaben eine Inferenz auf Schuld und Bestrafung nicht erzwingen. Da die biblischen Konnotationen der Gegebenheiten g e fällter Baum', ,Feuer' und ,Wildfestival' weder evident noch eindeutig sind, kann man die Präsupposition eines göttlichen Strafeinflusses in Abrede stellen. In diesem Fall ließe sich vom Handlungsereignis - dem Scheitern der Heilssuche - nur auf Gottes Nicht-Existenz schließen. Mit dem Gedicht wäre dann die Erfahrung einer niedergehenden Welt dargestellt, in der die göttliche Liebe den einzelnen Menschen nicht vom Tod erlösen kann, sondern der Tod (als „Mr. Edge"? - V.71) allenfalls von der Liebe erlöst.34 Literatur Busche, Hubertus 2001

Die Seele als System. Aristoteles'

Calier, Robert 1999 Heros und Messias. Hölderlins Denken. Würzburg.

34

Wissenschaft von der Psyche. Hamburg. messianische

Mythogenese

und das

jüdische

Postscriptum: Es sei nicht verschwiegen, dass Frau Dr. Rakusa zu der hier vorliegenden Text-Analyse neben Anerkennung und allgemeiner Zustimmung auch Einwände geäußert hat: In ihren Schreibprozessen mische sich „Erfahrenes mit Er-Lesenem", und auch das Unbewusste melde sich „kräftig zu Wort". Doch habe sie an Hölderlin und Kertesz beim Schreiben von „Limbo" „keine Sekunde" lang gedacht, ließ die Autorin auf Anfrage wissen - und reagierte zudem mit „leiser Skepsis" auf den „Versuch, ein Gedicht sozusagen isoliert (von seinen Kontexten) zu interpretieren". Aus dieser letzteren Bemerkung erschließe ich den Hinweis, dass sich im Rahmen einer den ganzen Zyklus Love after Love (bzw. auch der Autorin bisheriges Gesamtceuvre) einbeziehenden Analyse die semantischen Valeurs einiger Motive verändert hätten. Dessen ungeachtet sehe ich eine ,isolierte' - oder genauer gesagt: eine (fast) ausschließlich intertextuell eingebettete - Rezeption als weiterhin legitim an, da das Gedicht ja für seinen Zweitabdruck in der Zeitschrift Das Gedicht ebenfalls dekontextualisiert worden ist und demzufolge als Werk offenbar für sich allein stehen können sollte. Was die Textbezüge zu Hölderlin und Kertesz anbelangt, so möchte ich darauf verweisen, dass meine diesbezüglichen Aussagen von vornherein mit der bei solchen Verknüpfungen gebotenen Vorsicht formuliert wurden. Zudem darf an dieser Stelle an eine Bemerkung Umberto Ecos erinnert werden, der über seine Rolle als Leser in der literarischen Kommunikation einmal schrieb: „Bei einem so komplexen Austausch zwischen meinem Wissen und dem Wissen, das ich einem [mir] unbekannten Autor unterstelle, spekuliere ich nicht über dessen persönliche Motive, sondern über [...] die Absichten jenes exemplarischen Autors, den ich aus der Textstrategie ableiten kann" - Eco (1996), S. 77.

310

Malte Stein

Eco, Umberto 1996 Zwischen Autor und Text. Interpretation

und Überinterpretation.

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Gabriel, Norbert 1992

Studien zur Geschichte der deutschen Hymne. München.

Hölderlin, Friedrich 1946 Sämtliche Werke. Große Stuttgarter Bd. 1.1. Stuttgart. 1951 Sämtliche Werke. Große Stuttgarter

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Bd. 2.1. Stuttgart. Kertesz, Imre 1999

Ich - ein anderer. Aus dem Ungarischen von Ilma Rakusa. Reinbek.

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Waldrop, Rosmarie 1999

Reluctant Gravities. New York.

Hymnen.

,,Friedensfeier",

„Der

Ein-

PETER H Ü H N UND JÖRG SCHÖNERT

Auswertung der Text-Analysen und Schlussfolgerungen zu den Aspekten von Narratologie, Lyrik-Theorie und Lyrik-Analyse1 Die vorstehenden Text-Analysen sollen primär unter zwei Fragestellungen ausgewertet werden: 2 (1) in narratologischer Hinsicht - nämlich inwiefern das Erzählen in Gedichten lyrikspezifische Ausprägungen und Funktionen aufweist und die Analysen daher Beiträge zur Erweiterung des Spektrums narrativer Formen oder zur Weiterentwicklung der Narratologie liefern; (2) in lyriktheoretischer Hinsicht - nämlich inwiefern sich aus den narratologischen Untersuchungen bestimmte Konsequenzen für die Lyrik-Theorie und die Lyrik-Analyse ableiten lassen. Diese beiden systematischen Aspekte sollen zudem (3) durch die Frage ergänzt werden, inwiefern sich aus den ausgewählten Gedichten gattungsgeschichtliche Erkenntnisse 3 und interkulturell vergleichende Aspekte zu Entwicklungen in der englischsprachigen Lyrik ergeben können. Die Aussagekraft dieser Ergebnisse ist durch die Auswahl der hier analysierten 20 Texte eingegrenzt. Obgleich es sich um eine relativ kleine Zahl von Gedichtbeispielen handelt, sind zumindest fur die Überlegungen zu (1) und (2) gute Voraussetzungen geschaffen, da im Blick auf die narrative Organisation der Texte ein differenziertes Spektrum angelegt wurde. Nicht einbezogen wurden spezifisch erzählende Lyrik-Texte (^narrative poetry' wie Balladen und Romanzen) 4 und beschreibende Dinggedichte sowie gnomische Lyrik (,Spruchdichtung'), 5 doch zeigen die aus1

2

3

4 5

Das Schlusskapitel orientiert sich in seiner Konzeption an Peter Hühns „Conclusion" in Hühn / Kiefer (2005), S. 233-259; Übernahmen aus der deutschsprachigen Textvorlage zu diesem Kapitel werden nicht als Zitate nachgewiesen. Zur Skizzierung des analytischen Ansatzes und zur Definition der Kategorien sei auf die Einleitung verwiesen. Erläuterungen zu einigen der Begriffe werden hier wiederholt, um eine zügige Lektüre zu ermöglichen. Vgl. dazu als neueres Kompendium die 2004 erschienene Geschichte der deutschen Lyrik von Franz-Josef Holznagel u.a. sowie Hillmann / Hühn (2005), insbes. die Kapitel „Deutsche Lyrik I: Religiöse Lyrik seit der Reformationszeit" (S. 77-101) und „Deutsche Lyrik II: Liebeslyrik von der Anakreontik zur Romantik" (S. 171-196). Am nächsten kommt diesem Typus in diesem Band C. F. Meyers „Stapfen". Am nächsten kommt diesem Typus in den hier ausgewählten Texten Hugo von Hofmannsthals „Manche freilich".

312

Peter Hühn und Jörg Schönert

gewählten Gedichte unterschiedliche narrative Vermittlungsweisen (vom erzählenden Erinnern bis hin zur Gleichzeitigkeit von Geschehen und erzählender Rede) in vielfaltigen Kombinationen. Aufgrund der getroffenen Auswahlentscheidungen sind die hier herausgearbeiteten Tendenzen lediglich als heuristische Annahmen zur Theorie und Geschichte der Lyrik sowie als Anstoß zu weiterführenden Untersuchungen zu verstehen. Zur Untergliederung der Auswertungen sowohl hinsichtlich der Ausprägung von Narrativität in der Lyrik6 als auch hinsichtlich der Konsequenzen dieser Ergebnisse fur Lyrik-Analyse und Lyrik-Theorie wird auf die texttheoretischen Überlegungen zum Status von Lyrik zurückgegriffen, die in der Einleitung zu diesem Band skizziert wurden. Dort war vorgeschlagen worden, als Basis für die Gattungsdefinition den anthropologisch universellen Kommunikationsakt des Erzählens zu nutzen; er ist narratologisch beschreibbar in der Unterscheidung der zwei Grundkonstituenten zeitliche Sequentialität' und ,Medialität' (im Sinne von Vermitteltheit) sowie in der prinzipiellen Differenzierung der Medialität im Bezug auf Vermittlungsinstanzen (realer Autor - abstrakter Autor / Kompositionssubjekt - Sprecher / Erzähler - Figur) und Vermittlungsmodi (Stimme und Perspektive). Dementsprechend ist Lyrik im engeren Sinne (also unter Ausschluss von Balladen und Romanzen) als besondere Variationsform des Erzählens mit unterschiedlichem Nutzungsgrad der prinzipiell möglichen Vermittlungsinstanzen zu bestimmen. Lyrische Texte können - über die temporale Sequentialisierung des Geschehens hinaus wie in der Erzählprosa 7 die Staffelung von Vermittlungsinstanzen und die Differenzierung von Vermittlungsmodi realisieren; sie können die Vermitteltheit aber auch zugunsten des performativen Vollzugs des Sprechens (analog zur Figurenrede in Dramentexten) scheinbar aufgeben. Dabei ist zu betonen, dass als entscheidender Aspekt für die Definition von Narrativität in der Erzählliteratur wie in der Lyrik (und ebenfalls im Drama) die zeitliche Sequentialität eines Geschehens (und die damit ver6

7

Vgl. Hillmann (2005), S. 27: Eine erste Bestandsaufnahme zu einer „Theorie lyrikspezifischer Erzählung" verweist u.a. auf eingeschränkte Kohärenzbildung für die vermittelte(n) Geschichte(n), auf das Präsens als bevorzugte Aussageform, auf die häufige Koordination mehrerer gleichberechtigter, oft unvermittelt wechselnder Sprecher (bzw. Stimmen), auf einen hohen Anteil von Erzählungen in der Anredeform (Du-Erzählungen). ,Erzählprosa' wird hier stellvertretend für den Gattungsbereich ,Epik' gebraucht. Beide Begriffe sind unzureichend, um die Gesamtheit der Texte dieser Gattung zu erfassen; für , Erzählprosa' sind auch Versepos-Texte mitzudenken. Wegen der intuitiven Festlegung auf diesen Textbereich wird ,Epik' hier nicht als Gattungsbezeichnung eingesetzt.

Auswertung der Text-Analysen und Schlussfolgerungen

313

bundene Ereignishaftigkeit) anzusehen ist, da auch andersartige Texttypen wie Beschreiben, Argumentieren oder Erklären eine (allerdings wenig differenzierte) Vermittlungsdimension aufweisen. Ein charakteristisches Merkmal bei der Gestaltung von Sequentialität in der Lyrik ist die Tendenz zum Raffen und zum zusammenfassenden Bezeichnen temporaler Abläufe gegenüber deren weiterreichender Detaillierung in der Erzählprosa und im Drama.

1. Narrative Elemente in einer prototypischen Konstellation Um die Erscheinungsformen von Narrativität in Gedichten hinsichtlich ihrer lyrikspezifischen Besonderheiten zur Erzählprosa abzugrenzen und deutlicher zu profilieren, bedarf es eines allgemeinen Bezugsrahmens, der die Merkmale umfasst, die gemeinhin im engeren Sinne als charakteristisch für das literarische Erzählen von Geschichten gelten, und der daher als Vergleichsraster genutzt werden kann. Dafür kann die PrototypenTheorie herangezogen werden. In ihrem Sinne soll hier das (Volks-)Märchen als prototypisch für literarisches Erzählen dienen. 8 Es ist insbesondere durch folgende Merkmale gekennzeichnet: im Bezug auf die Medialität durch (1) einen heterodiegetischen und nicht personalisierten Erzähler, (2) Nicht-Thematisierung des Erzählaktes, (3) Übereinstimmung der ideologischen' Position des abstrakten Autors / des Kompositionssubjekts mit dem Erzähler, (4) Außen-Sicht, aber auch Introspektion für die Figuren der Geschichte und (5) durchgängige Retrospektivität des Erzählens; im Bezug auf die Sequentialität durch (6) die markante Ereignishaftigkeit der Geschehensentwicklung, (7) den physisch-sozialen, also bewusstseinsexternen Status des Geschehens (und der zugeordneten Ereignisse), (8) einen zentralen konventionellen Frame und ein ebensolches Skript (beispielsweise Lebensentwicklung im Sinne von Bewährung in einer Reihe von Proben und anschließender Belohnung). Auf diesen Prototyp wird als heuristisches, nicht als normatives Vergleichsmuster zurückgegriffen. Damit versteht sich, dass in der Erzählliteratur insgesamt gesehen, insbesondere aber im 19. und 20. Jahrhundert, vielfältige Abweichungen von diesem prototypischen Muster festzustellen sind. Als generelles Resultat für die Analysen zu allen ausgewählten Gedichten zeigt sich, dass sich fast immer die Basiskomponenten von Narra8

Für einen analogen Zweck hat Wolf (2002) ebenfalls das Märchen als Prototyp für literarisches Erzählen eingesetzt (S. 35-37).

314

Peter Hilhn und Jörg Schönert

tivität nachweisen ließen: einerseits die temporale Strukturierung der Elemente auf der Geschehensebene (auch als Bewusstseinsgeschehen) sowie gelegentlich auf der Ebene des Erzählaktes in Form von Sequentialität und andererseits die Transformation der Geschehensabfolge in die textuelle Darbietung im Sinne der Medialität sowie darüber hinaus auch die Thematisierung einer Vermittlerinstanz, eines Erzählers bzw. Sprechers und seiner Rede. Nach diesen Komponenten sollen im Folgenden die lyriktypischen Ausprägungen von Narrativität in Gedichten zusammengefasst, klassifiziert und hinsichtlich ihrer Funktionen beschrieben werden.

2. Medialität: Vermittlungsinstanzen und Vermittlungsmodi Im Blick auf die Dimension der Medialität ergibt sich bei den ausgewählten Gedichten eine spezifische Einschränkung im Nutzen des Spektrums der Vermittlungsformen. Mit einer Ausnahme (Klopstock) 9 ist der primäre Sprecher oder Erzähler als homodiegetisch (etwa bei Brecht), meist sogar als autodiegetisch einzustufen; in einigen Fällen (bei Hofmannsthal, Celan oder Rakusa) wird diese Zuordnung der Rede jedoch erst im Verlauf des Textes deutlich. 10 In der autodiegetischen Vermittlung fallen Sprecher und Protagonist als personale Instanz zusammen; dieser Selbstbezug wird typischerweise durch die Verwendung des Pronomens der ersten Person (Singular oder Plural) explizit gemacht" und mitunter auch gekoppelt mit einer Anrede an einen Adressaten 12 oder eine externe Instanz (wie bei Melissus, Günther, Goethe, Eichendorff, Meyer, Storm, Rilke, Brecht, Bachmann und Celan). Der Selbstbezug kann durch Selbstanrede in der zweiten Person (partiell bei Gryphius sowie bei Nietzsche 9

In Klopstocks „Die Verwandlung" wird erst im vorletzten Vers durch einen unpersönlichen heterodiegetischen Sprecher deutlich gemacht, dass die lange Rede des Protagonisten ,zitiert' war. 10 Damit ist jedoch nicht gesagt, dass in der Lyrik eine heterodiegetische Sprecherposition außerhalb der Balladen und Romanzen selten zu finden ist - vgl. etwa BrauneSteininger (2002) zu den „lyrischen Porträts" der 1990er Jahre (als „Erzählgedichte") mit der Sprecherinstanz des „Lyrischen Chronisten", analog zum „Er-Erzähler in der Epik" (S. 134). 1 ' Auf die neuere Diskussion zum .Lyrischen Ich' (vgl. den Beitrag von Jörg Schönert unter ,Texte' in http://narrport.uni-hamburg.de) soll hier nicht eingegangen werden; vgl. in diesem Band die Ausführungen von Malte Stein im Zusammenhang seiner Analyse zu Bachmanns „Im Zwielicht" (S. 269-271). 12 In einem Redezusammenhang kann auch mehr als ein Partner adressiert werden (vgl. bei Goethe).

Auswertung der Text-Analysen und Schlussfolgerungen

315

und Benn) markiert werden, bleibt aber auch bei einer externalisierenden Projektion der Psyche des Sprechers auf eine andere Instanz erkennbar. Ein solcher indirekter Selbstbezug hat eine Funktion fur die thematisierte Problematik (die Krise einer prekären Identität): So wird die Selbstblockade verhindert, die durch eine allzu offene Selbstbeobachtung verursacht würde. Es zeigt sich, dass trotz dem personalen Zusammenfall von Sprecher und Protagonist prinzipiell zwischen beiden Positionen zu unterscheiden ist: im Sinne der Differenz zwischen dem Subjekt- und Objektpol des Ich. Diese grundsätzliche Unterscheidung gilt auch für die scheinbare Unvermitteltheit des Selbstausdrucks des Sprechers (wie etwa partiell bei Melissus und Hölderlin sowie bei Günther, Heine, Droste oder LaskerSchüler). Aus narratologischer Sicht ist dieser Fall als Inszenierung des Sprecher-Subjekts zu beschreiben - als ein Vorgang, bei dem die Sprecherinstanz ihr Ich wie ein Objekt (eine Figur des vermittelten Geschehens) vorführt, um den Anspruch auf ,Authentizität' der Vermittlung zu erheben. Eine spezielle Funktion einer solchen Gestaltung eines autodiegetischen Sprechers (verbunden mit dessen Selbstinszenierung) besteht darin, dass sich dieser in vielen Fällen durch die erzählte Geschichte in seiner individuellen Identität definiert, dass er sich - anders ausgedrückt durch die Selbstzuschreibung einer (zumeist mentalen) Geschichte identifiziert' (etwa bei Melissus, Heine, Nietzsche oder Hofmannsthal). In dieser Hinsicht kann man die traditionelle These zur Subjektivität und Selbstreflexivität der Rede in Lyrik-Texten in nicht-normativer und nichtsubstantialistischer Weise narratologisch reformulieren und ersetzen. Trotz dem eingegrenzten Spektrum in der Konstellation von Erzähler / Sprecher und Protagonist zeigen die ausgewählten Gedichte konkrete Unterschiede im Grad der Vermitteltheit des Geschehens. Eine Reihe der Texte mit autodiegetischer Rede betont die Vermittlung des jeweils zentralen Geschehens durch den Sprecher. Es handelt sich hierbei um Vorgänge, die in der Vergangenheit angesiedelt sind (beispielsweise bei Klopstock und Meyer). Doch präsentieren einige Gedichte (etwa bei Gryphius, Hölderlin, Rilke und Celan) zugleich oder im Anschluss an den Erinnerungsvorgang einen simultan ablaufenden Prozess, nämlich der Reflexion dieses vergangenen Geschehens und der Auswirkungen des Erinneras auf den Sprecher. Eine derartige Performativität des Ablaufs ist auch ein dominantes Merkmal in weiteren Gedichtbeispielen, in denen wie in Monologen von Figuren des Dramas - Bewusstseinsvorgänge das Geschehen darstellen und der Rezipient in diesen Vorgang als ,teil-

316

Peter Hühn und Jörg Schönert

nehmender Beobachter' einbezogen wird (beispielsweise bei Heine, 13 Droste, Nietzsche, Benn, Bachmann oder Rakusa). Schließlich werden in die Rede des Sprechers auch Zukunftsprojektionen eingefugt (etwa bei Melissus, Eichendorff oder Brecht), oder das dargestellte Geschehen ist weithin in der Zukunft angesiedelt (wie bei Günther). Dieses breite Spektrum der temporal orientierten Vermittlungsformen teilt die Lyrik mit der Erzählprosa, doch sind simultane Vermittlungen (in der Gleichzeitigkeit von Geschehen und Sprechen) hier viel häufiger als in der Erzählprosa. Wo in den ausgewählten Texten Sprecher und Protagonist identisch sind, wird das Wahrnehmen des Geschehens in der Regel nicht einmal passagenweise auf eine andere (am Geschehen beteiligte) Figur übertragen. Doch können ,fremde Stimmen' zitiert werden (wie bei Nietzsche mit der Warnung vor der Heimatlosigkeit). Vor allem aber können Ambivalenzen und Diskrepanzen in der „Disposition" 14 des Sprechers erkennbar werden: in der Art und Weise, wie er das vermittelte Geschehen erlebt und bewertet. 15 Um solche Ambivalenzen und Diskrepanzen beschreiben zu können, hat sich für eine notwendige Differenzierung der Vermittlungsinstanzen die Kategorie des abstrakten Autors / des Kompositionssubjekts als tauglich erwiesen - auch hinausgehend über die dem abstrakten Autor zumeist zugeschriebene Kritik- und Korrekturfunktion gegenüber der begrenzten Wahrnehmungskompetenz oder der ,Unzuverlässigkeit' eines explizierten Erzählers (oder Sprechers). Insbesondere bei den Analysen zu Texten mit Sprechern, die aus unterschiedlichen Gründen ihre Wahrnehmungen und Vermittlungen auf das eigene Selbst beziehen und es in unzureichender Weise erfassen (etwa bei Günther, Meyer, Storm, Rilke oder auch Hofmannsthal), bringt der Rekurs auf den abstrakten Autor einen deutlichen Gewinn für die Text-Analyse. Darüber hinaus wären dem abstrakten Autor auch weitere offenkundige und verdeckte Kompositionsleistungen zuzurechnen wie beispielsweise Abweichungen vom Metrum oder von der Reinheit des Reims sowie Konnotationen und Assoziationen für die semantischen Einheiten der Rede. Dabei ist zu betonen, dass die Rekonstruktion des abstrakten Autors (als der in der Textorganisation enthaltenen Diskrepanzen zu den expliziten Aussage-Inhalten des Sprechers) in

13 14 15

Eine Passage der Rede des Sprechers ist allerdings im Präteritum gehalten. Grabienski u.a. (2006), S. 197. Vgl. Schmid (2005), S. 127-129; siehe auch Rimmon-Kenan (2002) zur emotiven oder ideologischen Facette der Fokalisierung (S. 81-83).

Auswertung der Text-Analysen und Schlussfolgerungen

317

starkem Maße eine Frage der Zuschreibung aufgrund der Einstellungen und Wertungen der Rezipienten ist. 3. Sequentialität Durch die Selbst-Thematisierung der Erzählerinstanz und die Vorliebe für die Performativität des Wahrnehmungs- und Reflexionsvorgangs innerhalb der hier ausgewählten Gedichte ergeben sich auf der Ebene des Geschehens Tendenzen, die vom beschriebenen Prototyp des Erzählens abweichen und die tentativ als lyriktypisch eingeordnet werden können:16 die Präferenz für psychisch-mentale Vorgänge als ,Erzählstoff, die Situationsabstraktheit der Vorgänge (also der Verzicht auf externe, sozial-konkrete Spezifizierungen mit Nennung von Namen und Beschreibung von Schauplätzen und Handlungsumständen) und die Neigung, Geschehensabläufe als ,Mini-Geschichten' in stark geraffter, kondensierter Form zu repräsentieren, denen zugleich jedoch eine reiche Bedeutungsdimension zuzuordnen ist. 3.1. Modalitäten der Koppelung von Frames und Skripts Vielfaltiger als im Hinblick auf die Medialität sind die lyrischen Ausprägungsformen des Narrativen auf der Ebene der Sequentialität. Die Bestandsaufnahme dazu kann ausgehen vom Herstellen von Ereignissen und Sinnbezügen zum erzählten Geschehen durch das Aktivieren und Zuschreiben von Frames und Skripts (vgl. in der Einleitung S. 8). Von den beiden Aspekten des Frame ist dabei primär die thematische (weniger die situative) Rahmung relevant, die also die übergreifende semantische Einordnung und Deutung des Geschehens betrifft. Ist prototypisches Erzählen durch die Aktivierung vornehmlich eines zentralen (thematischen) Frame und eines entsprechenden Skript gekennzeichnet, so fallt bei vielen der Gedichtbeispiele die Kombination zweier (oder mehrerer) derartiger Schemata als Organisationsprinzip auf, wie es auch in komplexeren Erzählprosa-Texten zu finden ist. Diese Kombinationen variieren von Text zu Text, doch lassen sich wiederkehrende Typen unterscheiden. (Typ 1): Eine verbreitete Form dieser Kombinationen besteht in der Koppelung zweier (thematischer) Frames und / oder Skripts häufig als 16

Vgl. dazu auch Wolf (2005), S. 38f.

318

Peter Hühn und Jörg Schönert

Modifikation eines primären durch ein sekundäres Schema, 17 wobei die Koppelung entweder (Typ la) gleichzeitig - etwa bei Melissus (Rosenbrechen = Liebesverlangen), Gryphius (Seefahrt = Leben), Goethe (Wanderung = Leben), Heine (Zecherei = Bekehrung), Droste (Jahresablauf = Lebensablauf), Brecht (gemeinsamer Flug von Wolke und Kranich = Liebesbeziehung), Celan (Graben = Leben), Bachmann (feierliches Anstoßen = Trankordal / Prüfung), Rakusa (Fallen = Sterben) - oder (Typ lb) sukzessiv - etwa bei Günther (von der Erfolgs- zur Misserfolgsgeschichte), Klopstock (Folge von drei Konstellationen unglücklichen Sehnens als Mensch, Nachtigall, Adler), Meyer (vom Geleit zur Rückkehr), Lasker-Schüler (von Zerstörung zur Erlösung), Benn (von einem abstrakten Verlaufsschema zum speziellen Töpfer-Skript), Bachmann (von der Prüfung zur Verurteilung), Rakusa (Ausgehen und Suchen) gestaltet sein kann. Ein weiterer Typus (lc) ist die Kontrastierung von Alternativen in unterschiedlichen Verhaltensweisen bei sukzessiver Koppelung - etwa bei Goethe (unglücklicher vs. glücklicher Lebensverlauf), Hölderlin (Ich-Bezug vs. Weltbezug), Eichendorff (heidnisch vs. christlich), Nietzsche (Gemeinschaft vs. Einsamkeit / Außenseitertum), Celan (von stummer zu kommunikativer Grabtätigkeit). Vielfach erweist sich das zuletzt eingeführte Schema als das durch den Sprecher höher bewertete (etwa bei Klopstock, Eichendorff, Lasker-Schüler oder Celan). Die Ereignishaftigkeit (als Abweichung vom Erwarteten) kann durch die ungewöhnliche Koppelung eines Struktur- und Ablaufmusters mit den andersartigen Prinzipien eines weiteren Musters konstituiert werden auch im Sinne einer geistreichen (am ,Witz' orientierten) Rhetorik (wie etwa bei Günther, der das Trennungs-Skript derart ausreizt, dass sich die Rückkehr zum Vereinigungs-Skript anbietet). Prinzipiell gesehen dienen solche Koppelungen der Lösung (oder dem Lösungsversuch) von Problemen in einer Krisensituation. Unterschiedlich sind jedoch die Grade der Bewusstheit auf Seiten des Sprechers (distinkte Bewertungen der unterschiedlichen Muster zeigen sich beispielsweise bei Eichendorff, Droste, Lasker-Schüler oder Celan; keine eindeutigen Aussagen erlauben die Texte von Günther und Heine). (Typ 2a): Zwei Skripts greifen ineinander im Sinne der Einbettung in einen thematischen oder situativen Frame. So ist bei Klopstock der übergreifende thematische Frame das Bemühen, ein schmerzliches Liebessehnen zu bewältigen; als eingebettete Skripts erscheinen die drei Verhaltensweisen des Liebenden als Jüngling, als Künstler und als Krieger. 17

Dieses Muster bestimmt auch emblematische Strukturen.

Auswertung der Text-Analysen und Schlussfolgerungen

319

(Typ 2b): Mit einem thematischen oder situativen Frame können auch gegensätzliche Skripts verbunden werden. In Klopstocks „Die Verwandlung" wird der Frame ,Selbststabilisierung und Selbstfindung des Ich' mit den Skripts ,Liebeswerben' und ,Identitätswechsel' verbunden, wobei der Wunsch nach Identitätswechsel jeweils aus der Vergeblichkeit des Liebeswerbens hervorgeht und damit dem Muster ,Sukzession von Skripts' folgt. Diese ungewöhnliche Konsequenz erscheint als Ereignis. (Typ 3): Die Koppelungen können auch nach der Struktur des Emblems vollzogen werden (wie bei Melissus und Gryphius). Die Gedichtüberschrift verweist (in reduzierender Form) auf den thematischen Frame (nicht bei Melissus) und steht für die ,inscriptio'. Die ,pictura' wird als situativer Frame oder als Skript 1 (Melissus und Gryphius) ausgeführt; die ,subscriptio' durch ein Skript 2 entwickelt (so bei Gryphius; Melissus erweitert in ,witziger' Weise das Skript 2 mit einer Modifikation von Skript 1). Diese vielfaltigen Koppelungsmodalitäten von Frames und Skripts als Basis für die Ereigniskonstitution können zusammenfassend (und mit Bezug auf die oben angeführten Beispieltexte) als Strukturtypen kategorisiert werden: 18 (la) gleichzeitiges Ersetzen oder Verschieben von Skripts und Frames (wie bei Hölderlin als passive und aktive Einstellung zum Leben) mit dem Sonderfall der emblematischen Koppelung; (lb) sukzessives Ersetzen oder Verschieben von Skripts und Frames (etwa bei Heine: vom Heimkehr- und Einkehr-Skript zu den folgenden Frames und Skripts schwärmerische Liebe', ,Zechen', ,Bekehrung', alkoholisierende Chaotisierung von Welt und Geschichte') oder alternative Sukzession wie bei Eichendorff oder bei Hofmannsthal (dort im Ersetzen des schematischen Wissens durch differenziertes Wissen zum Abgrenzen von Existenzformen); (2a und b) Einbettung von Skripts in einen übergeordneten thematischen oder situativen Frame; (3) fortschreitende Modifikation eines Skripts (wie etwa bei Klopstock, wo in mehreren Schritten versucht wird, Fühllosigkeit in Liebesdingen zu erreichen: im Status als Mensch, als Nachtigall und als Adler). Festzuhalten ist als generelles Ergebnis, dass in den hier analysierten Texten Ereignishaftigkeit im Sinne von Abweichung und Erwartungsbruch vielfach auf der Darbietungsebene durch die variationsreiche Koppelung unterschiedlicher Skripts als Darbietungsereignis hergestellt wird - wie etwa bei Gryphius, Eichendorff und Droste oder bei Benn durch die Koppelung dreier alternativer Funktionen des Krugs in der 18

Der jeweilige Typus schließt auch die Negation eines Skripts ein.

320

Peter Hühn und Jörg Schönert

Töpfer-Metapher. Aus dieser Aufwertung der Darbietungsebene gegenüber der Geschehensebene ließe sich folgern, dass Gedichte Erfahrungen und Wahrnehmungen nicht nur ,einlinig' aktionenbezogen präsentieren, sondern über vielfältige Bezüge auf kognitive und emotionale Schematisierungen verarbeiten - dass Narrativität in der Lyrik also mit einer besonderen semantischen Komplexität und einer vielschichtigen Sinndimension verbunden wird, die sich in dieser Differenzierung graduell von Erzählprosa (insbesondere dem Prototyp des Märchens) unterscheidet. 3.2. Funktionen der thematischen Frames Die Kategorisierung der jeweiligen thematischen Frames (und der damit verbundenen Zuordnung von Skripts) gibt weiteren Aufschluss über Form, Funktion und Entwicklung von Narrativität in der historischen Reihe der ausgewählten Gedichte. Für erste heuristische Zwecke lassen sich im Blick auf die dominierenden Funktionen der Selbstkonstitution einer Sprecheridentität und - gegebenenfalls - ihrer Selbstreflexion durch den Sprecher folgende Themenbereiche abgrenzen: (A) Thematisierungen, die über die Selbstreflexion hinausreichen, wie (Al) Liebe und intime Freundschaft (etwa bei Melissus, Günther, Klopstock, Meyer, Storm, Brecht oder Bachmann); (A2) Kunst und künstlerische Kreativität (beispielsweise bei Goethe, Hölderlin, Rilke oder Benn); (A3) Religiosität im Sinne von Glaubenszweifel und Glaubensgewissheit (etwa bei Gryphius, Eichendorff oder Droste); (A4) Erkenntnisse zu prinzipiellen Existenzformen (bei Goethe, Hofmannsthal, Brecht, Celan oder Rakusa); (B) Thematisierungen des Selbstbezugs durch Selbstzuschreibung einer Geschichte unter weitgehendem Verzicht auf Außenbezüge zugunsten des essentiellen Bezugs auf sich selbst und einer markanten Existenzform (etwa bei Heine, Nietzsche, Hofmannsthal, Lasker-Schüler oder Benn). Den Gedichten, die sich diesen typisierenden Abgrenzungen zuordnen lassen, ist das sequentielle Grundschema , Instabilität - Stabilität' (im Sinne von ,Krise - Lösung') gemeinsam: Sie setzen in einer Krisen- oder Spannungssituation - mit jeweils unterschiedlicher thematischer Konkretisierung - ein und erproben für deren Bewältigung dann jeweils spezifische Lösungsstrategien. Diese Strategien bestehen darin, dass sich die Sprecher über die erzählten Abläufe in ihrer individuellen Identität definieren oder sich ihrer zu vergewissern suchen (wenn nicht auf Dauer, so zumindest im Akt des Sprechens), um sich damit in einer implizierten

Auswertung der Text-Analysen und Schlussfolgerungen

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Krisensituation selbst zu finden. Die Sprecher entwerfen in vielfältiger Weise individuelle Geschichten, die sie als Protagonisten jeweils auf einen thematisch modifizierten Bezugspunkt (siehe oben unter Α und B) hin verankern und die sie sich selbst zuschreiben, um sich über diese Selbstzuschreibung zu identifizieren oder zu stabilisieren. Auch wenn diese Abläufe Bezüge auf außerpsychische Phänomene enthalten, handelt es sich doch in letzter Instanz in der Regel um mentale (kognitive) Geschichten, mit denen die Sprecher eine momentane oder dauerhafte Selbstvergewisserung erreichen oder zu erreichen suchen. Die meisten dieser Selbst-Konstitutionen werden in Absetzung von Fremdbezügen oder als Ersatz für diese im Sinne des klärenden Rückzugs auf die SelbstVergewisserung eines eigenen Ich-Konzepts formuliert. 4. Ereignishaftigkeit Auf der Basis der hier zusammengestellten Operationen zur Kohärenzund Sinnbildung (insbesondere auf der Sequenz-Ebene) sollen die Typen von Ereignishaftigkeit - verstanden als Abweichung von einem vorgezeichneten, erwartbaren Verlaufsschema - kategorisiert werden. Ereignishaftigkeit in diesem Sinne ist das zentrale Moment eines narrativen Textes, um dessentwillen er überhaupt erzählt wird. Auszugehen ist zunächst von einer ereignishaften Veränderung oder Wende auf einer der beiden Ebenen des Erzählens, der Geschehens- und der Darbietungsebene. Wenngleich das Geschehen stets durch seine Darbietung vermittelt ist und erst dadurch Struktur und Sinn erhält, kann dennoch die Ereignishaftigkeit unterschiedlich bezogen werden: entweder auf die konstituierte Geschehensabfolge im Sinne einer Geschichte (Geschehensereignis) oder auf die Darbietungsvorgänge als Ergebnis der Vermittlung durch die Erzählerinstanz, also auf die Erzählgeschichte (Darbietungsereignis). Ereignisse dieser Art werden stets dem Träger einer Handlung oder einer Rede zugeschrieben, mit dem oder durch den sich etwas Entscheidendes ereignet. Dies ist bei Geschehensereignissen eine Figur (in der Regel der Protagonist) der erzählten Geschichte, bei Darbietungsereignissen der Erzähler oder Sprecher. Darbietungsereignisse betreffen die Einstellung oder die Verhaltensweise des Erzählers im performativ dargebotenen Erzählakt. Von der Variante des direkt auf die Erzählerperson und ihre Einstellung bezogenen Ereignisses ist als Grenz- und Sonderfall das Vermittlungsereignis unterscheidbar, bei dem sich das Entscheidende nicht vor-

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nehmlich als personaler Einstellungswandel, sondern als prononcierter Wechsel vom Geschehensbezug zur markierten Repräsentation der Darbietungsebene oder als rhetorische Veränderung der Darbietungsform, beispielsweise durch Verschiebung der Schemata (des Frames und / oder des Skripts), ereignet. Damit wird die Aufmerksamkeit des Rezipienten (in Abhängigkeit vom Konstrukt des abstrakten Lesers) vom Sprecher oder Erzähler auf die Organisationsleistung des abstrakten Autors / des Kompositionssubjekts gelenkt. Entscheidendes Merkmal dieses Ereignistyps ist die Veränderung der Vermittlungsmodalität; diese kann (muss aber nicht) auch als Veränderung im Bewusstsein des Sprechers oder Erzählers vollzogen und thematisiert werden. Als weitere Ereigniskategorie ist schließlich das Rezeptionsereignis 19 zu nennen, dessen intendierte Bezugsinstanz der Leser ist, der eine entscheidende Veränderung seiner Einstellung oder Wahrnehmungsweise als Ergebnis der Lektüre vornehmen soll. Zwar wird der Sinn eines Textes, also auch die Ereignishaftigkeit letztlich immer erst im Bewusstsein des Lesers konstituiert, aber hiervon sind Fälle abzugrenzen, in denen in markantem Kontrast zum Protagonisten des Geschehens oder zum Erzähler eine Einstellungsänderung, ein Erkenntnisgewinn oder eine kognitive ^ideologische') Umorientierung beim Leser angestrebt wird. Rezeptionsereignisse sind vor allem bei Gedichten mit unzuverlässigen oder in ihrer (Selbst-)Wahrnehmung begrenzten Sprechern anzusetzen sowie - wie eben angedeutet - komplementär bei Vermittlungsereignissen. Je nach der Konstitutionsweise ergibt sich ein unterschiedlicher Status der Ereignistypen: Das Geschehensereignis wird dargestellt, während sich das Darbietungs- und das Vermittlungsereignis in der Rede vollziehen und das Rezeptionsereignis im Bewusstsein und Verhalten des Lesers erst noch zu realisieren ist. Die folgende Übersicht zur Ereignishaftigkeit in den einzelnen Gedichtbeispielen erfasst zunächst den Realisierungsgrad des Ereignisses (inwiefern im Text die ereignishafte Veränderung tatsächlich zum Abschluss gebracht wird) und sodann - in verschiedenen Fallgruppen - den Ereignistyp. Die Kategorisierung der einzelnen Gedichte anhand dieser Typologie ist allerdings oft nur tendenziell (mit Bezug auf die dominanten Textmerkmale und nicht immer unter Berücksichtigung sämtlicher textueller Aspekte) möglich. 19

Es ist zu betonen, dass das Rezeptionsereignis keine empirische Kategorie ist, also nicht die tatsächlich nachweisbare Rezeption meint, sondern eine aus dem Text ableitbare intendierte Rezeption.

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Das prototypische Modell des Märchens, das für diesen Überblick als Vergleichsgröße dazu dient, die Spezifik der Erzählphänomene in der Lyrik zu profilieren, zeigt in der Regel den ,klassischen' Fall des abgeschlossenen Geschehensereignisses: die retrospektiv erzählte und abschließend vollzogene Veränderung oder Wende des Helden / der Heldin im dargebotenen Lebensabschnitt. Dieser Typus des abgeschlossenen Ereignisses tritt in den hier analysierten Gedichten nur in der abgewandelten Form auf, dass sich die Veränderung simultan zum Redevorgang vollzieht und ihr ereignishafter Abschluss erst am Ende erfolgt oder noch zu erwarten ist. Dabei verbindet sich meist ein Geschehensereignis mit einem Darbietungsereignis. Beispiele finden sich in folgenden Texten: Bei Goethe wird der Gipfel erreicht und damit die Vergänglichkeit durch Distanzierung von der Welt überwunden; bei Klopstock gelingt dem Jüngling schließlich die Abtötung des leidenschaftlichen Verlangens; bei Rilke wird die ereignishafte psychische Veränderung des Sprechers zusammen mit der Verwandlung von Gretel und dem Kranz am Schluss vollendet; bei Celan vollzieht sich durch die Absetzung des Sprechers von ,den Anderen' seine ereignishafte Einstellungsänderung. Von einer solchen Konstellation, die trotz ihrer Modifikationen dem Prototyp noch nahe ist, lassen sich als zweiter Typus verschiedene Formen der Nicht-Realisierung einer erwarteten Veränderung abgrenzen (wobei stärker als im vorausgehenden Fall die Bezugsinstanzen für die Ereignishaftigkeit zu berücksichtigen sind). Eine solche Konstellation findet sich beispielsweise bei Meyer, wenn mit dem erwachenden Wunsch nach Liebeserfüllung der Beziehungsabbruch verbunden ist, oder bei Storm, wenn der Sprecher eine von ihm erwartete Trauerbekundung auch auf Nachfrage nicht äußert, oder bei Rakusa, wenn die Suche nach einem Ort der Transzendenz am Ende erfolglos bleibt. Einen dritten Typus von Ereignishaftigkeit stellen Fälle dar, in denen eine entscheidende Veränderung überhaupt verworfen wird - dies jedoch vor dem Hintergrund der Erwartung eines zu realisierenden Ereignisses, also mit implizitem oder explizitem Bezug auf diese Kategorie. In unserer Textauswahl ist diese Konstellation nur ansatzweise bei Rilke repräsentiert, wenn dort in der Rede des Sprechers die Ereignishaftigkeit von Gretels Sterben in Frage gestellt wird. Für die erste Fallgruppe unterschiedlicher Typen von Geschehensereignissen lassen sich hier beispielsweise die Texte von Klopstock, Goethe, Hölderlin, Meyer, Storm oder Celan heranziehen, wobei diese Texte zudem Darbietungsereignisse aufweisen können. Der zweiten Fallgruppe

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der Darbietungsereignisse lassen sich die analysierten Gedichte etwa von Melissus, Gryphius, Eichendorff, Heine, Droste, Hofmannsthal, Rilke oder Bachmann zuordnen, wobei hier auch Geschehensereignisse festgestellt werden können. Die dritte Fallgruppe bilden vollzogene Vermittlungsereignisse, bei denen die Veränderungen durch einen entschiedenen Wechsel von der Geschehens- zur Darbietungsebene (etwa bei Günther durch die Substitution der lebensgeschichtlichen Erfahrungen durch die damit verbundenen emotionalen Konsequenzen für die Liebenden) oder durch eine prononcierte Veränderung in der rhetorischen Darbietungsmodalität bedingt sind. Vermittlungsereignisse ergeben sich darüber hinaus, wenn in der Rede des Gedichts von dem retrospektiv vermittelten Geschehen zur Performanz des in der Rede vollzogenen Geschehens gewechselt wird - beispielsweise bei Goethe, Hölderlin, Rilke,20 Benn oder Celan. Eine besondere Form des Vermittlungsereignisses zeigt sich, wenn es um die Ereignishafitigkeit der Textgestaltung, um sprachliche und literarische Kreativität geht - wie etwa bei Goethe, Hölderlin, Rilke, Benn oder Celan. Der gelungene und zu vermittelnde Text erscheint in solchen Fällen als positiver Abschluss des Vermittlungsvorgangs. 5. Zeitrelationen im Bezug auf das Ereignis und Funktionen des Äußerungsaktes Grundsätzlich ist für das Gestalten der Zeitdimension in den hier analysierten Gedichten herauszustellen, dass in einem Text vielfach die Retrospektive auf ein vergangenes Geschehen (Analepse) mit der Simultanität von gegenwärtigem Geschehen und erzählendem Vermitteln sowie der prospektiven Vorwegnahme eines zukünftigen, noch nicht vollzogenen Geschehens (Prolepse) verbunden wird (siehe dazu die in der historischen Konstellation und rhetorischen Strategie sehr unterschiedlichen Gedichte von Gryphius, Günther, Brecht oder Lasker-Schüler).21 Der ausschließlich retrospektive Aufbau des Geschehens - wie im prototypischen

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21

Für Rilkes Text lassen sich zudem Zwischenformen von Darbietungs- und Vermittlungsereignissen beschreiben. Diese Texte lassen sich in einem zweiten Schritt noch intern differenzieren: Bei Günther und Lasker-Schüler werden die unterschiedlichen Zeitdimensionen vor allem dazu genutzt, die (emotionale) Befindlichkeit des Sprecher-Subjekts zu verdeutlichen; bei Gryphius und Brecht handelt es sich um (unterschiedliche) prinzipielle Konstellationen menschlicher Existenz.

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Fall des Märchens - wird also in der Lyrik (abgesehen von Balladen und Romanzen) vielfach durch komplexe Formen der Zeitgestaltung ersetzt. Narratologische Beachtung verdienen darüber hinaus die jeweilige zeitliche Relation des Äußerungs- oder Erzählaktes zur narrativen Sequenz - insbesondere zu einem Ereignis - sowie (dadurch bedingt) die Funktion des Sprechens oder Erzählens für die realisierende Vermittlung dieses Ereignisses. Die prototypische Position und Funktion des Erzählaktes, wie sie im Märchen vorliegt, ist durch Retrospektivität der Darbietung (Verwendung des Präteritums als Tempus) und durch fehlende Rückwirkung des Erzählens auf die erzählte Geschichte bestimmt; das heißt, der Erzähler erzählt die Geschichte, ohne mit dem Erzählen Einfluss auf den Verlauf der Geschichte zu nehmen oder nehmen zu wollen. 22 Diese Konstellation ist nicht nur bei heterodiegetischen Erzählern (wie im Märchen), sondern grundsätzlich auch bei homodiegetischen oder autodiegetischen Sprechern möglich, wie sie den hier ausgewählten Gedichten zumeist zuzuordnen sind. Dabei ist bemerkenswert, dass ein solcher ,prototypischer' Fall bei den hier analysierten Texten vergleichsweise selten zu finden ist - beispielsweise bei Klopstock und ansatzweise bei Storm, wobei in „Geh nicht hinein" das vergangene Geschehen aber in seinen Folgen für die aktuelle Situation des Sprechers und für zukünftiges Verhalten beschrieben wird. Ein zweiter Typus der zeitlichen Relationierung des narrativen Darbietungsaktes besteht in der simultanen Präsentation des Geschehens, also in der unmittelbaren (performativen und quasi-dramatischen) Darbietung des Ablaufs (vielfach eines Reflexions- und / oder Wahrnehmungsprozesses) einschließlich des ereignishaften Umschwungs (vergleiche dazu etwa Goethe, Hölderlin, Eichendorff, Heine, Droste, Celan, Rilke oder Benn). Eine große Gruppe der Gedichte repräsentiert einen dritten Typus der zeitlichen Relationierung von Darbietung und Geschichte: Hier liegt der Akt des Erzählens vor dem Ereignis, und dieses wird prospektiv erzählt (etwa bei Melissus oder Brecht). Damit ist meist zugleich eine besondere Funktionalisierung des Erzählens für den Fortgang der Geschichte impliziert, der im Bezug auf sein Resultat auch als wahrscheinlich' (etwa bei Gryphius, Droste oder Nietzsche) oder als ,offen' angelegt werden kann (etwa bei Bachmann). Die prospektive Darbietung der ersehnten oder befürchteten ereignishaften Veränderung kann als solche 22

Die Nachträglichkeit des Erzählens ist typischerweise mit einer Beschränkung der Fokalisierung (im Sinne des verfugbaren Wissens) auf den jeweils erzählten Augenblick gekoppelt, das heißt, der Erzähler greift nicht voraus auf die spätere Entwicklung.

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auch eine stabilisierende Rückwirkung auf die Gegenwart haben - wie generell das Erzählen der Geschichte eine Funktion für deren weiteren Verlauf besitzt (etwa in der Aufbruchssituation für Nietzsches Freigeist'). Unter dieser Perspektive ergibt sich also, dass zwar die markierte prototypische Form des Erzählens auch in Gedichten auftritt, dass jedoch stark abweichende Formen wie bei den hier ausgewählten Texten sehr viel häufiger zu beobachten sind: in einer deutlichen Tendenz zum einen zur simultanen (performativen) Präsentation und zum anderen zur prospektiven Erzählung des entscheidenden ereignishaften Umschwungs wie auch zur Funktionalisierung des Erzählens für die Gestaltung des weiteren Ablaufs der erzählten Geschichte. Daraus folgt, dass die Figur des Erzählers oder Sprechers in Gedichten den Erzählakt deutlich prägt und dass das Erzählen erheblichere Auswirkungen auf seinen Lebensvollzug hat als gemeinhin in Erzählungen.

6. Bedeutungserzeugung durch sprachmateriale (Form-)Elemente Ein genuin lyriktypisches Merkmal der Gestaltung narrativer Strukturen in Gedichten ist die Möglichkeit zum Funktionalisieren formaler Elemente, also der traditionell gattungsspezifischen Strukturierungsverfahren für die Materialität der Sprache (etwa in Rhythmus, Metrum und Vers, in Alliteration, Assonanz und Reim, in Tropen und Figuren). Generell ist hierbei festzustellen, dass diese Mittel keine inhärente Bedeutung besitzen, sondern nur durch ihre Beziehbarkeit auf eine übergreifende semantische Dimension bedeutungsmäßig wirksam werden. Narratologisch gesehen betreffen diese Strukturierungsverfahren die Darbietungsebene und damit die Vermittlungsdimension der präsentierten narrativen Abläufe. Es stellt sich daher die narratologische Frage, welcher Instanz diese Verfahren und deren Wirkungsabsicht zuzuschreiben sind. Vor allem zwei Möglichkeiten sind hier denkbar: die Zuschreibung - in seltenen Fällen - an den Sprecher oder Erzähler (wenn dieser sich explizit oder implizit als Urheber des Textes thematisiert) oder aber - in den weitaus meisten Gedichten - an den abstrakten Autor, der durch die Gestaltung der Sprachmaterialität die Darbietung des Sprechers indirekt werten, unterstützen oder unterminieren kann. Das ist beispielsweise in dem hier ausgewählten Gedicht Goethes der Fall (mit dem intertextuellen Bezug zur biblischen Geschichte von der Versuchung Jesu, durch den der „Dichter" und dessen „lieblichster Dank" an seinen „Gott" in kritischer Be-

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leuchtung erscheint) oder in Eichendorffs Text (in dem der bedrohlichen Dissoziation des Ichs auf der Ebene der sprachmaterialen Gestaltung gegengesteuert wird). Auch können die Wiederholungsstrukturen des Reims oder anderer semantischer Einheiten einen sprachmaterialen Zusammenhang herstellen, der auf der thematischen Ebene aufgebrochen wird (wie etwa bei Brecht). Unter den ausgewählten Gedichten finden sich zudem Beispiele für besonders differenzierte Formen der Profilierung des ,discours' parallel zum vermittelten Geschehen: In spezifischer Weise werden elaborierte formale Mittel insbesondere bei Darbietungsereignissen eingesetzt, um die Verschiebung der Ereignishaftigkeit auf die Ebene des ,discours' zu unterstützen - so zum Beispiel bei Rilke mit der komplexen (auch selbstreferentiellen) Reimstruktur und dem strukturierenden Kranz-Bild, oder bei Celan, wo die Thematisierung der poetischen Rede begleitet wird von der gleichzeitigen Vermehrung poetischer Elemente im Text.

7. Fazit zur lyrikspezifischen Narrativität und Konsequenzen für die Narratologie Auszugehen ist von der prinzipiellen Gattungsdifferenz zwischen Erzählprosa und Drama. In der Erzählprosa wird auf der Darbietungsebene (,discours' im Sinne Genettes) die Vermittlungsinstanz deutlich markiert (vielfach auch expliziert) und häufig differenziert. Im Drama (im Sinne des ,Spieltextes') ist die Vermittlungsinstanz reduziert oder verdeckt, um den Anschein der unvermittelten Rede von Figuren des Geschehens zu erwecken. In der Lyrik sind beide Konstellationen möglich. Wo autodiegetische Erzähler / Sprecher eingeführt sind, wird die Vermittlungsdimension vielfach auch reflektiert (als Selbstreflexion der Ich-Position und gegebenenfalls auch als Reflexion des Rede-Aktes, seiner Bedingungen, Ziele und Wirkungen). Narrationen werden in der Lyrik in den drei möglichen Zeitdimensionen der Retrospektive, der Simultanität von Geschehen und Vermittlung sowie in der Prospektive gestaltet. Diese spezifisch angelegten Geschichten werden in einem breiten Spektrum von Redeformen vermittelt: von der singulativ zu verstehenden Erlebnisrede bis hin zur iterativ und durativ geltenden gnomischen Rede. Schließlich zeichnen sich bei den hier ausgewählten Gedichten sowohl durch die Selbstthematisierung der Sprecher- oder Erzählerinstanz als auch durch die Vorliebe für den Vollzug des Wahrnehmungs- und Reflexionsvorgangs in performativer Rede einige Tendenzen ab, die vom be-

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schriebenen Prototyp des Erzählens abweichen und die versuchsweise als lyriktypisch eingeordnet werden können.23 Wo es sich nicht um narrative Lyrik im engeren Sinne (Romanzen und Balladen) handelt, wird das vermittelte Geschehen (mit Präferenz für psychisch-mentale Vorgänge als ,Erzählstoff) vielfach nur mit schwachen Markierungen für den FigurenStatus und für konkrete Raum- und Zeitverhältnisse versehen - mit der ausgeprägten Tendenz, solche ,Aktionen in der Außenwelt' mit (simultan und / oder prospektiv vermitteltem) , innerem (mentalem und emotionalem) Geschehen' zu verbinden oder dadurch zu ersetzen. Häufig werden diese Geschichten nur als ,Mini-Geschichten' in stark geraffter, gedrängter Form und als wenig kohärentes Stenogramm von Aktionen und Bewusstseinsprozessen präsentiert; zugleich ist ihnen jedoch eine reiche Bedeutungsdimension zugeordnet. Aus der narratologischen Text-Analyse der ausgewählten Gedichte hat sich insbesondere ergeben, dass die Kategorie des Ereignisses, die für die Analyse von Erzählprosa ausgearbeitet wurde, in einer differenzierteren Typologie darzustellen ist. 8. Mögliche Konsequenzen für Lyrik-Theorie und Lyrik-Analyse Welche Konsequenzen erwachsen aus den hier erarbeiteten Text-Analysen für die Gattungstheorie der Lyrik? Grundsätzlich ist festzuhalten, dass sich die Orientierung an den narratologisch entwickelten Dimensionen von Sequentialität und differenzierter Medialität (einschließlich der Aufmerksamkeit für die Anlage des Rede- und Erzählaktes) bewährt und in der Text-Analyse tragfahige Ergebnisse erbringt, an die sich bereits eingeführte Vorgehensweisen für die Analyse von Gedichten anschließen lassen. In diesem Sinne zeigt sich, dass Gedichte vielfach eine temporale (und somit narrative) Sequenzstruktur aufweisen und dass sie in unterschiedlichem Maße das Spektrum möglicher Vermittlungsinstanzen und Vermittlungsmodi nutzen - bis hin zu dem scheinbaren Verzicht auf jedwede Vermittlung. Soll die Medialität von Lyrik genauer beschrieben werden, so hat sich insbesondere die Differenzierung der Positionen des abstrakten Autors / Kompositionssubjekts, des Erzählers / Sprechers und der Hauptfiguren des Geschehens (der Protagonisten) als nützlich erwiesen. Auf diese Weise ist etwa die - als lyriktypisch geltende - anscheinende Unmittelbarkeit der Selbstpräsentation als strategische Inszenierung des Ichs 23

Vgl. dazu auch Wolf (2005), S. 38f.

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in der Rolle des Protagonisten des vermittelten Geschehens durch das Ich als Sprecher oder Erzähler darzustellen und der Effekt zu erklären, dass die personale Identität der beiden Positionen den Inszenierungscharakter verdeckt. Ein weiteres (noch genauer zu behandelndes) Problem betrifft die Vermittlungsdimension eines homo- oder autodiegetischen Sprechers, die in ihrer möglichen Relativierung mittels der Kategorie des abstrakten Autors / des Kompositionssubjekts und durch darauf bezogene Annahmen und Zuschreibungen durch den Leser genauer betrachtet werden kann. Mit Hilfe des Begriffs der Fokalisierung (und ihrer verschiedenen Facetten) lässt sich auch in der Lyrik (wie in der Erzählprosa) die Verschränkung von Wahrnehmungs- und Wertungsperspektiven etwa zwischen sprechendem und erlebendem Ich präziser bezeichnen. Und schließlich kann die notorisch problematische Subjektivität der Lyrik-Gattung nicht nur normativ, sondern auch operational definiert werden als Selbstzuschreibung einer im Gedicht vermittelten Geschichte zur Konstitution der Identität des Sprechers. Auf innovative Weise für die Lyrik-Analyse ermöglicht der narratologische Ansatz eine differenzierte Modellierung und Analyse der Sequentialität, denn bislang fehlten analytische Kategorien fur diese zentrale Dimension von Gedichten. Mit Hilfe der kognitivistischen Begriffe von Frame und Skript kann ein Gedicht auf seiner semantischen Ebene an den kulturell-sozialen Wissenskontext über das entsprechende Alltags- und Spezialwissen des Lesers angeschlossen werden. Zudem lässt sich mit Hilfe dieser Schemata die Abfolge von Geschehenseinheiten in Gedichten (und damit auch die ihnen jeweils zugeordnete Bedeutung) auf differenzierte und präzise Art beschreiben. Wie sich in den Analysen zeigt, sind gerade Spezifika der Lyrik-Gattung wie auch einzelner lyrischer Texte über die variablen Modalitäten der Koppelung von unterschiedlichen Frames und Skripts genauer zu benennen. Darüber hinaus ist mit dem Bezug auf das Schema eines Skripts auch das zu bestimmen, was für ein Gedicht einen Brennpunkt im Bedeutungszusammenhang ausmacht: das Ereignis. Es ist kategorisierbar nach den Ebenen, auf die sich die Ereignishaftigkeit bezieht - der Ebene des Geschehens, der Darbietung, des abstrakten Autors oder der Rezeption durch den Leser. Die auffallende Häufigkeit von Darbietungsereignissen (gegenüber selteneren Geschehensereignissen) sowie das Phänomen des Vermittlungsereignisses resultieren aus dem hohen Anteil der Gleichzeitigkeit von Geschehen und Vermittlung als ein mögliches (nicht aber notwendiges) Kennzeichen von Lyrik.

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Ferner ist für Lyrik grundsätzlich zu unterscheiden zwischen Sequenzen auf der Geschehensebene und solchen auf der Ebene des performativ ablaufenden Bewusstseinsprozesses des Sprechers. Für einzelne Gedichte kann die eine oder die andere Ebene als dominant gesetzt werden, um darin dann die entscheidende Sequentialität zum Aufbau von Bedeutung zu konstituieren. Im Gedicht können aber auch beide Ebenen zugleich genutzt werden, um dadurch Geschehensabläufe in komplexer Weise narrativ zu vermitteln. 24 Als weitere Dimension der Medialität ist schließlich der Äußerungsoder Erzählakt in seinem zeitlichen und funktionalen Bezug zur Sequentialität und insbesondere zu dem damit verbundenen Ereignis (oder den Ereignissen) in die Analyse einzubeziehen. Nicht zuletzt wegen der häufigen Präferenz für homo- und autodiegetische Sprecherpositionen in der Lyrik sind hiermit weitere mögliche Merkmale der Gattung zu präzisieren. Auch dieser Aspekt wird in herkömmlichen lyriktheoretischen Ansätzen oft vernachlässigt. Die in den vorstehenden Text-Analysen demonstrierte Anwendbarkeit narratologischer Begriffe und Verfahren auf Lyrik impliziert nicht, dass alle Gedichte mit diesem Vorgehen in angemessener Weise analysiert werden können. Da es in unserem Forschungsprojekt um das praktische Erproben narratologischer Konzepte ging, waren die Grenzen dieses Verfahrens zunächst nicht in den Blick zu nehmen. An dieser Stelle können deshalb nur erste Vermutungen über die Bedingungen angestellt werden, die bei der Analyse von Gedichttexten für einen sinnvollen Rekurs auf die Narratologie erfüllt sein müssen. Notwendige Voraussetzungen dafür sind (1) eine temporal angeordnete Reihe von Elementen auf der Ebene des Geschehens oder der Darbietung, also die Konstruierbarkeit einer Geschehens- oder Darbietungshandlung; (2) das Markiertsein einer kontinuierlich wirksamen (in der Regel personalen) Instanz auf der Geschehensoder Darbietungsebene. Dementsprechend dürften sich zum Beispiel Texte aus der konkreten Poesie, Lautgedichte oder ,language poetry' der Analyse mit narratologischen Kategorien sperren, da sie eine zeitliche durch eine vornehmlich räumliche Ordnung und semantische durch rein klangliche Strukturen ersetzen sowie auch auf die (oben bezeichnete) personale Orientierungsinstanz verzichten.

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Unter den ausgewählten Beispielen betrifft dies etwa die Texte von Goethe, Hölderlin, Meyer, Storm oder Celan.

Auswertung der Text-Analysen und Schlussfolgerungen

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9. Mögliche epochenspezifische und literaturkomparatistische Tendenzen25 Die Auswahl weniger und zudem thematisch eingegrenzter Gedicht-Beispiele erlaubt nur vorsichtige und vorläufige Annahmen aus narratologischer Perspektive über epochenspezifische Tendenzen in der deutschsprachigen Lyrik. Wenn sich ein erster Blick lediglich auf die analysierten Texte richtet, so ergibt sich der (wenig überraschende) Befund, dass die thematischen Frames von Liebesbeziehungen und christlichem Glauben bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts dominieren; das Thema ,Liebe' bleibt auch in der Folgezeit präsent, während der Problemkomplex des Religiösen im 19. und 20. Jahrhundert insbesondere unter dem Aspekt der Gefährdung von Glaubenszuversicht (wie bei Eichendorff, Droste und Rakusa) aufgegriffen wird. Im vergleichenden Blick auf die englischsprachige Lyrik dieses Zeitraums zeigt sich dort ein breiteres Spektrum von thematischen und situativen Frames 26 und eine weiterreichende Differenziertheit in den Verknüpfungen mit unterschiedlichen Skripts und in deren Koppelungen. Für die Lyrik beider Kulturbereiche ist hinsichtlich der Medialität der Texte festzustellen, dass die häufige Identität von Sprecher und Protagonist bereits für die frühen Gedichte zu erkennen ist und sich daran auch in den folgenden Jahrhunderten nichts ändert. 27 Die performative (und gegebenenfalls auch selbstreflexive) Vermittlung von Bewusstseinsprozessen wird in der deutschsprachigen Lyrik im Gegensatz zur englischsprachigen erst um 1800 konstitutiv. Dagegen finden sich - wie in den englischsprachigen Gedichten - in der deutschsprachigen Lyrik des 17. und frühen 18. Jahrhunderts Konstellationen, die darauf verweisen, 25

26

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Die komparatistischen Aspekte werden im Bezug auf das Schlusskapitel zu den narratologischen Analysen englischsprachiger Lyrik bei Hühn / Kiefer (2005) entwickelt. Zu überprüfen wäre, ob die Kontinuität religiöser Themen und Motive, die in der deutschsprachigen Lyrik vom 16. bis zum 20. Jahrhundert im Vergleich zur englischsprachigen Lyrik als stärker ausgeprägt erscheint, nur eine Folge der Auswahl von Gedichten ist, die für die beiden Bände getroffen wurde - wie überhaupt die hier vollzogenen Generalisierungen nur auf der Grundlage einer breiteren Textgrundlage zu halten sind. Dabei ist allerdings zu berücksichtigen, dass die Position des Protagonisten bei Melissus und Gryphius noch ,rollentypisch' (in der Stellvertretung für prinzipielle Handlungsweisen eines Liebenden oder eines gläubigen Christen) ausgearbeitet werden, während bei Günther und Klopstock erste individualisierende Modifikationen dieses Rollenmusters zu erkennen sind.

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dass dem Vermittler der Rede nur eine begrenzte Wahrnehmung oder eine spezifische Interessenpolitik zuzuordnen ist (wie bei Melissus und Günther), die ihn - bezogen auf die Vermittlungsebene des abstrakten Autors - zumindest als problematisch' ausweisen. In den englischsprachigen Lyrik-Texten zeigt sich bereits in frühen Beispielen (im Gegensatz zur deutschsprachigen Lyrik), dass sich der Sprecher / Erzähler in seiner Rede selbst beobachtet oder dass - insbesondere nach 1800 - dem Leser nahe gelegt wird, den Sprecher während seiner Rede zu beobachten (im ,Rollengedicht' und im ,dramatischen Monolog'). 28 Was die Sequentialität betrifft, so zeichnen sich im gattungsgeschichtlichen Prozess Veränderungstendenzen vor allem im Bezug auf die Ereignishaftigkeit ab. Problematisierungen der Erwartung eines Ereignisses (und damit zu verbindende Differenzierungen der analytischen Kategorie) treten - weniger ausgeprägt als in der englischsprachigen Lyrik - vor allem in deutschsprachigen Texten aus dem 19. und 20. Jahrhundert auf. Auch die Verschiebung der Ereignishaftigkeit (wenn sie überhaupt noch realisiert wird) von Veränderungen der äußeren Situation zu einer solchen der Einstellung und der Wahrnehmung des Sprechers scheint in Gedichten nach 1800 zuzunehmen. Der Sonderfall ,dichterische Kreativität' wird anders als in Gedichten der englischen Romantik weniger unter dem Aspekt der Gefährdung solcher Kreativität gestaltet, sondern mehr zum Lösen von Problemen durch Rekurs auf ,das Dichten' (etwa bei Goethe und Hölderlin). Anders als in der englischen Lyrik findet sich die ereignishafte Selbst-Stabilisierung über künstlerische Kreativität auch bei den ausgewählten Gedichten im 20. Jahrhundert (bei Rilke, Benn und Celan). Insgesamt deuten die hier vorgelegten Text-Analysen aber darauf hin, dass eine Vielzahl der herausgearbeiteten Strukturmerkmale der Gedichte weniger epochenspezifisch als lyrikspezifisch zu sein scheint. Zu genaueren Aussagen über Konstellationen im historischen Prozess bedarf es offensichtlich weiterer (und gezielt angelegter) Untersuchungen.

Literatur Braune-Steininger, Wolfgang 2002 Biographie in Versen. Kontinuitäten und Diskontinuitäten im lyrischen Porträt der neunziger Jahre, in: Peter Wiesinger (Hg.): Akten des X. Internationalen Germanistenkongresses Wien 2000 „Zeitenwende - Die Germanistik auf dem Weg vom 20. ins 21. Jahrhundert". Bd. 7. Bern u.a., S. 133-138. 28

Vgl. dazu auch Hühn / Schönert (2005), S. 421 f. u. 433.

Auswertung der Text-Analysen und Schlussfolgerungen

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Grabienski, Olaf u.a. 2006 Stimmen-Wirrwarr? Zur Relation von Erzählerin- und Figuren-Stimmen in Elfriede Jelineks Roman „Gier", in: Andreas Blöhdorn u.a. (Hg.): Stimme(n) im Text. Narratologische Positionsbestimmungen. Berlin / New York, S. 195-232. Hillmann, Heinz 2005 Säkularisationen in Lyrik und Lied seit Luther, in: Ulrich Wergin / Karol Sauerland (Hg.): Literatur und Theologie. Schreibprozesse zwischen biblischer Überlieferung und geschichtlicher Erfahrung. Würzburg, S. 17-39. Hillmann, Heinz / Hühn, Peter (Hg.) 2005 Europäische Lyrik seit der Antike. 14 Vorlesungen. Hamburg. Holznagel, Franz u.a. 2004 Geschichte der deutschen Lyrik. Stuttgart. Hühn, Peter / Kiefer, Jens 2005 The Narratological Analysis of Lyric Poet?y. Studies in English Poetry the 16th to the 20th Century. Berlin / New York.

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Hühn, Peter / Schönert, Jörg 2005 Beobachtete Beobachtungen in Lyrik-Texten und Lyrik-Diskussionen des 19. Jahrhunderts nach dem Ende der ,Kunstperiode', in: Steffen Martus u.a. (Hg.): Lyrik im 19. Jahrhundert. Gattungspoetik als Reflexionsmedium der Kultur. Bern u.a., S. 419-439. Rimmon-Kenan, Shlomith 2002 Narrative Fiction: Contemporaiy Schmid, Wolf 2005 Elemente der Narratologie.

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Wolf, Werner 2002 Das Problem der Narrativität in Literatur, bildender Kunst und Musik: Ein Beitrag zu einer intermedialen Erzähltheorie, in: Vera Nünning / Ansgar Nünning (Hg.): Erzähltheorie, transgenerisch, intermedial, interdisziplinär. Trier, S. 23104. 2005 The Lyric: Problems of Definition and a Proposal for Reconceptualisation, in: Eva Müller-Zettelmann / Margarete Rubik (Hg.): Theory into Poetry. New Approaches to the Lyric. Amsterdam / New York, S. 21-56.