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German Pages [272] Year 2010
Friedrich Kießling | Bernhard Rieger (Hg.)
Mit dem Wandel leben Neuorientierung und Tradition in der Bundesrepublik der 1950er und 60er Jahre
2011 BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Gerda Henkel Stiftung, Düsseldorf
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Umschlagabbildungen: Bundespräsident Theodor Heuss während der Internationalen Bauausstellung, Berlin 1957 (Foto: bpk/Klaus Lehnartz) Bergmänner mit Milchflaschen, Essen, Januar 1961 (Foto: Bundesarchiv) Bonn, Warenhaus Kaufhof, Januar 1962 (Foto: Bundesarchiv)
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Inhalt
Friedrich Kiessling und Bernhard Rieger Einleitung: Neuorientierung, Tradition und Transformation in der Geschichte der alten Bundesrepublik ...................................................................................................... 7 I. Neuorientierung und Tradition in grundlegenden Debatten der alten Bundesrepublik zwischen 1950 und 1970 Bernhard Löffler Ein deutscher Weg in den Westen. Soziale Marktwirtschaft und europäischer Neoliberalismus ....................................... 29 Detlef Siegfried Prosperität und Krisenangst. Die zögerliche Versöhnung der Bundesbürger mit dem neuen Wohlstand ............. 63 Kerstin Brückweh Bedenkliche Einzelerscheinungen oder antiliberale Gesinnung des Durchschnittsbürgers? Bundesbürger und -bürgerinnen äußern sich zu Strafen, Rechtsstaat und Demokratie im Fall des Sexualmörders Jürgen Bartsch, 1966–1971 ........................ 79 II. Das Eigene und das Fremde in Zeiten des Wandels Pertti Ahonen Heimat, Europe, and the German Expellees. National Traditions and International Trends in the Consolidation of the German Federal Republic’s Westpolitik ............................................................. 107 Friedrich Kiessling Goethe und der amerikanische Militärpolizist. „National“ und „international“ in der intellektuellen Geschichte Westdeutschlands nach 1945 .......................................................................................... 129 Maren Möhring Veränderungen der bundesdeutschen (Ess-)Kultur durch Migration und Tourismus. Das Beispiel der ausländischen Gastronomie . ............................... 157 Inhalt
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III. Vielerlei Vergangenheit. Der Ort von Kontinuität und Tradition in den Transformationen der 50er und 60er Jahre Bernhard Rieger Schulden der Vergangenheit? Der Mammutprozess der Volkswagensparer, 1949–1961 ........................................ 185 Jens Hacke Nationale Traditionen und politische Öffnung nach Westen. Dolf Sternberger und Theodor Eschenburg als Nestoren der deutschen Politikwissenschaft . ........................................................................................................... 209 Elizabeth Heineman Sexuality in West Germany. Post-Fascist, Post-War, Post-Weimar, or Post-Wilhelmine? ...................................... 229 Thomas Zeller Mein Feind, der Baum. Verkehrssicherheit, Unfalltote, Landschaft und Technik in der frühen Bundesrepublik ......................................................................................... 247 Autorenverzeichnis . .......................................................................................................... 267
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Inhalt
Friedrich Kießling und Bernhard Rieger
Einleitung: Neuorientierung, Tradition und Transformation in der Geschichte der alten Bundesrepublik Die Geschichte der alten Bundesrepublik ist vor allem die Geschichte eines erstaunlichen Wandels. Aus einem Land, das innerhalb von 30 Jahren zwei Weltkriege geführt hatte, dessen Gesellschaft bis dahin in hohem Maße von autoritären Strukturen geprägt war und in dem große Teile der Bevölkerung ihr massives Unbehagen an den vielschichtigen Ausprägungen der Moderne bis 1945 offenbar nie ablegen konnten, entwickelte sich binnen weniger Jahrzehnte ein demokratisches und in steigendem Maße plurales Gemeinwesen. Als er Anfang der siebziger Jahre einmal am Frankfurter Flughafen ankam, so Konrad Jarausch zu Beginn seiner wichtigen Darstellung dieser „Umkehr“, habe er seinen Augen nicht getraut. An der Passkontrolle stand ihm ein junger Grenzbeamter mit Vollbart, offenem Kragen und verrutschter Krawatte gegenüber, der überdies noch lächelte und dem übernächtigten Reisenden einen freundlichen Wunsch mit auf den Weg gab. „Wenn sogar uniformierte Hoheitsträger sich durchaus leger benahmen“, schloss Jarausch, „war dies nicht ein Indiz für eine allgemeinere Transformation deutscher Gesellschaft und Kultur?“1 Die Geschichtswissenschaft hat sich dem solchen Beobachtungen zugrunde liegenden Wandel seit langem angenommen, und während in den Anfangsjahrzehnten der Bundesrepublik das Gespenst der Restauration über vielen Deutungen schwebte, so wird man beim Blick auf die Forschungen der zurückliegenden Jahrzehnte ohne Übertreibung davon sprechen können, dass spätestens seit den achtziger Jahren der vielfältige Wandel des Bonner Staates ins Zentrum des Interesses gerückt ist. Beginnend mit der Neuinterpretation der Ära Adenauer durch Hans-Peter Schwarz entwickelte sich ein „Transformationsparadigma“, das längst zum herrschenden Konzept der historischen Sicht auf die alte Bundesrepublik geworden ist und offenbar für Historiker ganz unterschiedlicher Herkunft und Richtung hohe Plausibilität besitzt.2 1 2
Konrad Jarausch: Die Umkehr. Deutsche Wandlungen 1945–1995. München 2004, S. 7. Es sei nur auf zahlreiche, ebenso eingängige wie wirkmächtige Titel und Überschriften erinnert, mit denen das Transformationsparadigma unterstrichen worden ist. Das Wortfeld reicht dabei von „Ankunft“ über verschiedene „eigentliche“ Gründungen bis zu Erfolgs- und Wunder-Semantiken, die die Plötzlichkeit der Entwicklung betonen. Neben Jarausch: Die Umkehr auch Clemens Albrecht u. a.: Die intellektuelle Gründung der Bundesrepublik. Eine Wirkungsgeschichte der Frankfurter Schule. Frankfurt/M. u. New York 2000; Arndt Bauerkämper u. a. (Hg.): Demokratiewunder. Transatlantische Mittler und die kulturelle Öffnung Neuorientierung, Tradition und Transformation
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Auch dieser Sammelband geht von den Wandlungen aus. Politisch und kulturell sowie hinsichtlich ihrer Wirtschafts- und Sozialstruktur war die Bundesrepublik vielfältigen Transformationsprozessen unterworfen. Doch die Konzentration auf den letztendlich erfolgreichen Wandel bringt auch Probleme mit sich, sie hat inhaltliche wie konzeptionelle Kosten. Vor diesem Hintergrund haben wir den Autoren dieses Bandes, der auf eine Londoner Tagung des Jahres 2007 zurückgeht, die Frage nach den Transformationen noch einmal vorgelegt. Es ging dabei nicht darum, die Veränderungen zu leugnen. Vielmehr schien es uns gerade angesichts des erreichten Forschungsstandes angebracht, gleichsam einen Schritt zurückzutreten, die Ergebnisse zu überprüfen und gegebenenfalls zu präzisieren bzw. zu differenzieren. Ausgangspunkt waren dabei vor allem zwei Überlegungen: Zum einen haben sich bisherige Arbeiten ganz überwiegend auf die inhaltliche Beschreibung der jeweiligen Veränderungen konzentriert, der Wandlungsprozess selbst wurde weit seltener thematisiert. Neben dem „Was“ wäre aber auch stärker das „Wie“ des Wandels zu beschreiben bzw. zu fragen, welche Funktionen dem Wandel selbst in der Geschichte der Bundesrepublik möglicherweise zukamen. Zum anderen ist nicht zu verkennen, dass die Veränderungen der deutschen Gesellschaft auch eine Grenze haben. Gerade die Reaktionen auf die Weltfinanzkrise der Jahre 2008/09 oder auch die vorangehenden Debatten um die Globalisierung in Deutschland haben einmal mehr spezifische Verhaltensweisen und Haltungen zu Tage treten lassen, die von jenen, die in Großbritannien oder den USA vorherrschend waren (um nur diese beiden Beispiele zu nennen), doch erheblich differierten und hinter denen man mit einigem Recht längerfristige Prägungen und Kontinuitäten vermuten darf. Vor diesem Hintergrund aber erhält die Frage nach Brüchen im Transformationsgeschehen der alten Bundesrepublik neue Brisanz. Es gilt genau zu bestimmen, wo Altes abgelöst wurde, wo Neues entstand, und wo sich vor allem auch entsprechende Mischformen bildeten. Darüber hinaus ist Veränderung nur in Auseinandersetzung mit dem Bestehenden möglich. Damit erhält dieses aber auch eine bestimmte Funktion, die innerhalb des Dreiecks von Tradition, Neuorientierung und Transformation sowohl aus der historischen Rückschau wie aus Sicht der Zeitgenossen genau zu bestimmen ist. Wie also lebten die Bundesbürger mit dem rasanten Wandel ihrer Welt? Wie gingen Sie damit um? Und welche Brüche zeiWestdeutschlands 1945–1970. Göttingen 2005; Axel Schildt: Ankunft im Westen. Ein Essay zur Erfolgsgeschichte der Bundesrepublik. Frankfurt/M. 1999; Edgar Wolfrum: Die geglückte Demokratie. Stuttgart 2006. Vgl. auch die Kapitelüberschrift „Die Umgründung der Republik“ in: Manfred Görtemaker: Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Von der Gründung bis zur Gegenwart. München 1999, S. 475. Zur Neuinterpretation der Ära Adenauer bei Hans-Peter Schwarz z. B. ders.: Modernisierung oder Restauration? Einige Vorfragen zur künftigen Sozialgeschichtsforschung über die Ära Adenauer. In: Kurt Düwell/Wolfgang Köllmann (Hg.): Rheinland-Westfalen im Industriezeitalter. Bd. 3. Wuppertal 1984, S. 278–293.
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gen sich vielleicht auf dem insgesamt überraschend kurzen Weg zu einem veränderten Deutschland?
Das „Transformationsparadigma“ der alten Bundesrepublik Bei den Beschreibungen der Transformationsprozesse in der alten Bundesrepublik haben Historiker in den letzten Jahrzehnten vor allem auf zwei, eng verbundene Grundkonzepte zurückgegriffen. Zum einen wurde der Wandel als Öffnung und Annäherung an internationale und vor allem westliche Welt- und Lebensvorstellungen begriffen, zum anderen als Ablösungsprozess, in dessen Rahmen Elemente einer politisch und sozial an traditionalen Leitbildern orientierten Kultur mehr und mehr aufgegeben und durch pluralistische Haltungen und Ideen ersetzt wurden. Je nach Schwerpunktbildung wurde der beschriebene Prozess mal als „Amerikanisierung“ oder „Westernisierung“, mal als „Liberalisierung“, „Modernisierung“ bzw. „Demokratisierung“ gefasst. Jedes dieser Modelle setzt eigene Schwerpunkte. Während „Amerikanisierung“, jedenfalls in der ursprünglichen Variante, stärker an der Übertragung US-amerikanischer Vorstellungen, Gesellschafts- und Wirtschaftsformen auf Westeuropa interessiert war,3 ordnet das Konzept der „Westernisierung“ die Entwicklung der alten Bundesrepublik von vornherein in einen langfristigen und komplizierten Vermittlungsprozess ein, in dessen Rahmen seit dem 19. Jahrhundert ein gemeinsamer „westlicher“ Werte- und Vorstellungsraum entstand.4 Während Arbeiten zur „Modernisierung“ ursprünglich eher sozialgeschichtlich argumentierten und Phänomene der Sozialstruktur bzw. der materiellen Kultur zum Ausgangspunkt nahmen, liegt der Fokus bei „Liberalisierung“ stärker auf mentalen Veränderungen, Modifikationen im Bereich der Wertesysteme und Lebensstile bzw., und das gilt dann vor allem für „Demokratisierungs“-Modelle, im Bereich der politischen Kultur.5 Allen diesen Ansätzen, die sich im Übrigen auch ansonsten eher ergänzen, als dass sie sich widersprechen würden, ist gemeinsam, dass sie am Ende dieser Prozesse eine Gesellschaftsformation ausgebildet sehen, die sich 3
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Zum inzwischen im Vergleich zur Anfangsphase deutlich differenzierteren Stand: Lars Koch (Hg.): Modernisierung als Amerikanisierung? Entwicklungslinien der westdeutschen Kultur 1945–1960. Bielefeld 2007 u. Alexander Stephan (Hg.): Americanization and Anti-Americanization. German Encounters With American Culture After 1945. New York u. a. 2005. Anselm Doering-Manteuffel: Wie westlich sind die Deutschen? Amerikanisierung und Westernisierung im 20. Jahrhundert. Göttingen 1999, z. B. S. 12. Axel Schildt/Arnold Sywottek (Hg.): Modernisierung im Wiederaufbau. Die westdeutsche Gesellschaft der 50er Jahre. Bonn 1993; Ulrich Herbert (Hg.): Wandlungsprozesse in Westdeutschland. Belastung, Integration, Liberalisierung 1945–1980. Göttingen 2002; Matthias Frese u. a. (Hg.): Demokratisierung und gesellschaftlicher Aufbruch. Die sechziger Jahre als Wendezeit der Bundesrepublik. Paderborn ²2005. Neuorientierung, Tradition und Transformation
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fundamental von der unterscheidet, die am Beginn der Bundesrepublik vorhanden war. Als entscheidende Periode, in denen sich die Veränderungen vollzogen, sind dabei übereinstimmend die „langen sechziger Jahre“ ausgemacht worden, also ungefähr die Zeit zwischen den ausgehenden fünfziger Jahren und den beginnenden siebziger Jahren – als einerseits, beginnend mit dem Ulmer Einsatzgruppenprozess, zum Beispiel der Nationalsozialismus neu ins Gedächtnis trat sowie der wirtschaftliche Aufschwung breitere Bevölkerungsgruppen zu erreichen begann und andererseits, im ersten Drittel der siebziger Jahre, die allgemein als Reformphase der sozialliberalen Ära verstandene erste Legislaturperiode der Regierung Brandt zu Ende ging und überdies die erste Ölkrise auch international nach den vorangegangenen Boomjahren eine neue Periode einzuleiten schien. Der große Abstand zwischen der Bundesrepublik vor und nach dieser Transformationsphase ist immer wieder formuliert worden. „Um 1969/70“, so etwa Anselm Doering-Manteuffel, „waren Konturen modelliert, die bis 1990 erhalten blieben und kaum noch Ähnlichkeiten mit der Zeit um 1950 aufwiesen.“6 Andere Autoren haben gerade in dieser Zeit den eigentlichen Umbruch vom 20. zum 21. Jahrhundert ausgemacht, und dem sich in den „langen sechziger Jahren“ vollziehenden Wandel damit auch eine säkulare Dimension gegeben.7 Bedenken gegenüber einer (zu) einseitigen Betonung des „Transformationsparadigmas“ sind vor allem in drei Hinsichten formuliert worden. So ist bezogen auf das Konzept der Verwestlichung gefragt worden, ob der Westen überhaupt als ein homogenes Gebilde begriffen werden könne. Nicht nur sei „unklar, was wir in der Gegenwart eigentlich unter dem Westen verstehen“, auch historisch sei der Westen eine „hochideologische Konstruktion“ vor allem der Zeit nach 1945 gewesen.8 Dieses Problem ist selbstverständlich auch den Vertretern der Verwestlichungs-These bewusst, angesichts der hohen Syntheseleistung, die eine solche Bestimmung des Westens erfordert, ist es jedoch gar nicht so leicht zu lösen.9 Darüber hinaus ist eingewandt worden, 6
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Anselm Doering-Manteuffel: Im Kampf um ‚Frieden‘ und ‚Freiheit‘. Über den Zusammenhang von Ideologie und Sozialkultur im Ost-West-Konflikt. In: Hans Günter Hockerts (Hg.): Koordinaten deutscher Geschichte in der Epoche des Ost-West-Konflikts. München 2004, S. 29–47, hier S. 40. Vgl. Paul Nolte: Einführung: Die Bundesrepublik in der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts. In: Geschichte und Gesellschaft 28 (2002), S. 175–182 u. Axel Schildt: Nachkriegszeit. Möglichkeiten und Probleme einer Periodisierung der westdeutschen Geschichte nach dem Zweiten Weltkrieg und ihre Einordnung in die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts. In: GWU 44 (1993), S. 567–584, v.a. S. 575–578. Philipp Gassert: Die Bundesrepublik, Europa und der Westen. Zu Verwestlichung, Demokratisierung und einigen komparatistischen Defiziten der zeithistorischen Forschung. In: Jörg Baberowski u. a.: Geschichte ist immer Gegenwart. Vier Thesen zur Zeitgeschichte. Stuttgart/München 2001, S. 67–89, hier S. 69 u. 75. Vgl. Michael Hochgeschwender: Was ist der Westen? Zur Ideengeschichte eines politischen Konstrukts. In: Historisch-Politische Mitteilungen 11 (2004), S. 1–30.
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dass die Deutung eines weitgehenden und erfolgreichen Wandels der westdeutschen Gesellschaft nach 1945 das Selbstbild der späten Bundesrepublik fortschreibt und somit einseitig eine Erfolgserzählung bietet, die vorderhand noch stark an zeitgenössische Eindrücke gebunden ist. Entsprechende Bedenken kamen insbesondere um die Wende zum 21. Jahrhundert auf, als die verbreiteten Krisendebatten bei manchem Beobachter die Gefahr einer Verklärung des Bonner Staates hervortreten ließen bzw. in der stärkeren und zunehmend kritischeren Reflexion des Vereinigungsprozesses die Zäsur von 1989/90 auch für Westdeutschland stärker hervortrat.10 Schließlich ist in letzter Zeit vermehrt die Frage nach Kontinuitätsüberhängen bzw. nach der Fortexistenz heimischer Traditionsbestände zu hören. Axel Schildt hat in seinen Arbeiten von Anfang an die Bestimmung der jeweiligen Mischungen als eines der Kernprobleme bei der Analyse von Transfer und Transformation identifiziert. Angesichts dessen gelte es, in jedem Fall gesondert zu untersuchen, „ob entsprechende Ideen, Muster, Formen bereits bestanden hatten und der Einfluß von außen nur der Anstoß war, sie freizusetzen und dominant werden zu lassen, oder ob tatsächlich außerhalb des nationalen Systems entstandene Zusammenhänge eingeführt und modifiziert wurden, um in die vorgegebenen kulturellen Muster zu passen“.11 Eine Mahnung, die er jüngst wiederholt hat12 und die auch in seine Darstellung der Kulturgeschichte der alten Bundesrepublik eingeflossen ist.13 Neben Transfer könne es sich auch um Nachahmung, Parallelentwicklungen oder eben auch um bereits vorhandene Muster handeln, die unter bestimmten Bedingungen, wie etwa dem Stimulans von außen, in den Vordergrund rücken – ganz zu Schweigen vom „Beharren auf deutschen Traditionen“ oder „nationalen Traditionslinien“, die es im Einzelfall zu gewichten gäbe.14
10 Hans Günter Hockerts (Hg.): Koordinaten deutscher Geschichte in der Epoche des Ost-WestKonflikts. München 2004. Einführung des Herausgebers, VII-XV; Ralph Jessen: Bewältigte Vergangenheit – blockierte Zukunft? Ein prospektiver Blick auf die bundesrepublikanische Gesellschaft am Ende der Nachkriegszeit. In: Konrad Jarausch (Hg.): Das Ende der Zuversicht? Die siebziger Jahre als Geschichte. Göttingen 2008, S. 177–195; Andreas Rödder: Das „Modell Deutschland“ zwischen Erfolgsgeschichte und Verfallsdiagnose. In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 54 (2006), S. 345–363. Ähnlich auch schon Gassert: Die Bundesrepublik, Europa und der Westen, z. B. S. 88. 11 Axel Schildt: Moderne Zeiten. Freizeit, Massenmedien und „Zeitgeist“ in der Bundesrepublik der 50er Jahre. Hamburg 1995, S. 400. 12 Axel Schildt: Amerikanische Einflüsse auf die westdeutsche Konsumentwicklung nach dem Zweiten Weltkrieg. In: Heinz-Gerhard Haupt/Claudius Torp (Hg.): Die Konsumgesellschaft in Deutschland 1890–1990. Ein Handbuch. Frankfurt/M. 2009, S. 435–447, hier S. 439. 13 Axel Schildt/Detlef Siegfried: Deutsche Kulturgeschichte. Die Bundesrepublik von 1945 bis zur Gegenwart. München 2009. 14 Schildt: Amerikanische Einflüsse, S. 443ff. Eine stärkere Berücksichtigung der Frage nach dem Stellenwert eigener Traditionen fordert auch: Arnd Bauerkämper/Konrad H. Jarausch/ Neuorientierung, Tradition und Transformation
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Es ist schon gesagt worden, dass der vorliegende Sammelband nicht den Weg geht, die Ergebnisse des Transformationsparadigmas gänzlich zu verwerfen. Er möchte vielmehr zu der beginnenden Bestandsaufnahme beitragen, darüber hinaus aber durchaus angeben, wo die Probleme entsprechender Deutungen liegen. In einem einzelnen Band ist es dabei nicht möglich, den gesamten Komplex auszuleuchten, zumal Wert darauf gelegt worden ist, jeweils empirisch gesättigt vorzugehen. Im Mittelpunkt stehen deshalb vor allem vier Themenkomplexe: die Frage nach den Konsequenzen des Transformationsparadigmas für die Zäsurbildung innerhalb der Geschichte der alten Bundesrepublik, die nach den Grenzen des Transfers, das Problem, auf welche Vergangenheit sich Tradition und Neuorientierung in der Bundesrepublik jeweils bezogen, sowie die Dimension der zeitgenössischen Haltungen zu den Wandlungsprozessen.15
Transformationsparadigma und das Problem historischer Zäsuren Die bisherigen Arbeiten zu den Wandlungsprozessen legen nahe, dass es sich bei diesen nicht nur um Veränderungen in nahezu allen Bereichen von Staat und Gesellschaft handelte, sondern auch um einen fast vollständigen historischen Bruch. Auch wenn die meisten Studien zur westdeutschen Gesellschaft in den fünfziger und sechziger Jahren von komplizierten Transformationsverläufen ausgehen, so liegt den Analysen doch zumindest implizit eine klare Gegenüberstellung von „alten“ und „neuen“ Orientierungen zugrunde. Diese dichotomische Grundstruktur der Transformationsbeschreibungen16 und die daraus resultierende weitgehende Trennung der frühen von der späten Bundesrepublik wirft aber eine Reihe von Fragen auf, die es verdienen, stärker bedacht zu werden. Das betrifft zum einen den teleologischen Marcus M. Payk: Einleitung: Transatlantische Mittler und die kulturelle Demokratisierung Westdeutschlands 1945–1970. In: dies. (Hg.): Demokratiewunder, S. 11–37, hier S. 21. 15 Zur kritischen Bestandsaufnahme des Transformationsparadigmas auch: Friedrich Kießling: Westernisierung, Internationalisierung, Bürgerlichkeit? Zu einigen jüngeren Arbeiten der Ideengeschichte der alten Bundesrepublik. In: Historische Zeitschrift 287 (2008), S. 363–389. 16 Vgl. z. B. das bezeichnenderweise aus der Migrationsforschung entlehnte Modell, das Ulrich Herbert für die Beschreibung der bundesdeutschen Wandlungsprozesse herangezogen hat. Danach vollzog sich in einer Übergangsphase „im Schutz des Traditionsbezugs eine schrittweise Anpassung an das Neue, bis dieser Prozeß so weit fortgeschritten ist, daß es der schützenden Orientierung an den Normen der alten Heimat nicht mehr bedarf und diese sich für den Umgang mit der neuen auch als überholt und hemmend erweisen.“ Entsprechend fallen dann die folgenden Formulierungen für die Bundesrepublik aus: Seit den sechziger Jahren war die zuvor als „Vergewisserung“ notwendige kulturelle Rückbesinnungen „obsolet“ geworden, „erweisen sich als Ballast“ und wurden „abgeworfen“. Ulrich Herbert: Liberalisierung als Lernprozess. Die Bundesrepublik in der deutschen Geschichte – eine Skizze. In: ders. (Hg.): Wandlungsprozesse, S. 48.
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Charakter der entsprechenden Modelle. Schon vor einiger Zeit ist auf den Umstand verwiesen worden, dass der Abstand zu britischen bzw. amerikanischen Wirtschaftsund Gesellschaftsvorstellungen in den siebziger Jahren durchaus wieder zu wachsen schien.17 Kaspar Maase hat darüber hinaus für die spätere Bundesrepublik die Frage nach der Doppelung von Amerikanisierung und „Entamerikanisierung“ aufgeworfen.18 Wie nachhaltig, wie irreversibel waren und sind demnach die entsprechenden Entwicklungen, zumal sie in einer Epoche stattfanden, in der mit der Frontstellung des Ost-West-Konflikts ein spezifischer äußerer Faktor vorlag, der gerade für „binnengesellschaftliche Veränderungsprozesse“ wie Verwestlichung und Amerikanisierung von großer Bedeutung gewesen sein dürfte, der aber eben auch eine ganz bestimmte und damit Veränderungen unterworfene historische Konstellation darstellte?19 Auch hier wird man davon ausgehen können, dass viele Entwicklungen tatsächlich fundamentale Modifikationen darstellten. Auf der anderen Seite birgt die starke Betonung der Brüche aber die Gefahr in sich, sich längerfristiger historischer Erklärungen zu berauben. Denn konstatiert man einen nicht nur graduellen, sondern einen tiefgreifenden qualitativen Einschnitt irgendwann in oder am Ende der „langen sechziger Jahre“, ist nur schwer zu sehen, wie Phänomene, die vor diesem Bruch liegen, für die späteren Entwicklungen überhaupt noch als Ursachen herangezogen werden können. Vor diesem Hintergrund besteht letztlich die Gefahr einer historischen „Verinselung“ der späten Bonner Republik, die nun zwar Anschluss an den Westen gewinnt, deren eigenes historisches Bezugsgeflecht aber kaum noch zu erkennen und in der historischen Analyse nutzbar zu machen ist. Das mag so sein, wir meinen aber dennoch, dass dieses Problem, das selbstverständlich nicht nur die Periodisierung der alten Bundesrepublik betrifft, sondern ein allgemeines Problem historischer Epochenbildung darstellt,20 ausführlicher als bisher für den Bonner Staat in Erinnerung gerufen werden sollte. Die Konsequenz wäre, zu überprüfen, inwieweit die dichotomische 17 Doering-Manteuffel: Wie westlich sind die Deutschen?, S. 133. Arnd Bauerkämper hat die Konzepte von Amerikanisierung und Westernisierung in diesem Sinne als zu „homogeneous“ und zu „teleological“ bezeichnet: Arnd Bauerkämper: Americanisation as Globalisation? Remigrés to West Germany after 1945 and Conceptions of Democracy: The Cases of Hans Rothfels, Ernst Fraenkel and Hans Rosenberg. In: The Leo Baeck Institute Year Book 49 (2004), S. 153–170, hier S. 169. 18 Kaspar Maase: Entamerikanisierung des Amerikanischen? Eine Lokalstudie zur Nutzung von Kulturimporten in Tübingen. In: Alexander Stephan/Jochen Vogt (Hg.): America on my mind. Zur Amerikanisierung der deutschen Kultur seit 1945. München 2006, S. 237–256. 19 Eckart Conze: Zwischen Staatenwelt und Gesellschaftswelt. Die gesellschaftliche Dimension in der Internationalen Geschichte. In: Wilfried Loth/Jürgen Osterhammel (Hg.): Internationale Geschichte. Themen – Ergebnisse – Aussichten. München 2000, S. 117–140, hier S. 135. 20 Zum Problem der Länge von „Kausal-“ bzw. „Ursachenketten“ z. B. Chris Lorenz: Konstruktion der Vergangenheit. Eine Einführung in die Geschichtstheorie. Köln 1997, S. 277–284. Neuorientierung, Tradition und Transformation
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Struktur von alt und neu überwunden werden könnte, und zum Beispiel zu überlegen, ob und inwieweit als „alt“ identifizierbare Phänomene tatsächlich lediglich als Überbleibsel betrachtet werden können, oder ob sie nicht einen genuinen Beitrag zur Transformation leisten konnten, und damit, wenn auch in veränderter Form, erhalten blieben. Beispielhaft kann dies an den westdeutschen Demokratiebegründungen deutlich werden. Mit Theodor Eschenburg und Dolf Sternberger mühten sich, wie Jens Hacke in diesem Band zeigt, zwei der Gründerväter der westdeutschen Politikwissenschaft Zeit ihres Lebens, ihren Landsleuten demokratische Verfahrens- und Regierungsweisen nahe zu bringen. In beiden Fällen geschah dies jedoch in deutlichem Rückgriff auf bestehende Ideenbestände. In Theodor Eschenburgs Demokratietheorie spielten die Institutionen und damit die geregelten staatlichen Verfahren eine wichtige Rolle. Sternbergers Theorie von Politik lässt sich als das Bemühen um überzeitliche Demokratie-Begründungen begreifen, das die Dichotomie von heimischen und „westlichen“ Theorieangeboten hinter sich ließ und letztendlich Anschlüsse an die jeweils unterschiedlichen Traditionsbestände ermöglichte.21 In beiden Fällen lassen sich so durchaus „eigene[n] Demokratieverständnisse[n]“ ausmachen, die sich, wie im Falle Eschenburgs, mit der deutschen Rechtsstaatstradition in Verbindung bringen lassen bzw., wie bei Sternberger, weniger „Fragen des Interessenausgleichs oder der parlamentarischen Repräsentationen“ in den Mittelpunkt stellte, sondern „die wechselseitige Fortentwicklung von Mensch und Gemeinwesen durch Partizipation“ und damit ein Modell, das in der ersten Jahrhunderthälfte gerade deutsche Intellektuelle immer wieder umgetrieben hatte.22 Das damit aufgerufene Problem innerhalb der Transformationsprozesse ist das von der Funktion von Tradition und Kontinuität innerhalb des Wandels. So waren neue Orientierungsmuster vielleicht gerade deshalb erfolgreich, weil sie besonders gut mit herkömmlichen Modellen verknüpft werden konnten oder weil sie an – etwa aus der Zwischenkriegszeit – bereits bekannte Ideen anschlossen. Gerade im jeweiligen Mischungsverhältnis von alt und neu innerhalb der Transformation mag so ein Schlüssel liegen, um die – letztendlich breite – Akzeptanz des politischen Wandels in der Bundesrepublik zu erklären.23 Dass sich die Kategorien von „alt“ und „neu“ zwar selbstverständlich nicht spannungsfrei zueinander verhielten, sich in anderen Fällen aber keineswegs ausschlossen, belegt auch Pertti Ahonen am Beispiel der Vertriebenenverbände. Deren eigenen Konzepte von Heimat und Europa sahen sich zwar im Verlauf der späten fünfziger sowie der sechziger Jahre zunehmend in eine Außenseiterposition gedrängt, gleich21 Siehe den Beitrag von Jens Hacke in diesem Band. 22 Vgl. Sean A. Forner: „Das Sprachrohr keiner Besatzungsmacht oder Partei“. Deutsche Publizisten, die Vereinigten Staaten und die demokratische Erneuerung in Westdeutschland 1945–1949. In: Bauerkämper u. a. (Hg.): Demokratiewunder, S. 159–217, Zitate S. 185. 23 Zur Dimension der Akzeptanz des Wandels ebd., S. 186ff.
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zeitig erlaubte es das breite semantische Feld beider Begriffe aber vielen Vertretern der Vertriebenen, sich dem entstehenden neuen außenpolitischen Mainstream anzunähern, ohne die traditionellen Vorstellungen völlig aufzugeben. Das Ergebnis ist eine komplizierte und zum Teil paradoxe Mischung zwischen alten und neuen Vorstellungen. Das ursprünglich nationalistische Konzept von Heimat konnte zum Beispiel einerseits als allen Menschen zustehendes „Heimatrecht“ zum Türöffner für universalistische Werte werden, andererseits führte es in seiner radikalen Variante aber auch – unfreiwillig – zur weiteren Diskreditierung nationaler Ordnungsmuster in der Bundesrepublik. Beide Varianten trugen letztendlich zur Formierung eines neuen außenpolitischen Konsenses bei. Dass man darüber hinaus selbst mit der Zuschreibung von „alt“ und „neu“ vorsichtig sein sollte, zeigt Kerstin Brückweh am Beispiel der Reaktionen auf die beiden Prozesse um den Serienmörder Jürgen Bartsch.24 Die beiden Urteile von 1967 und 1971 scheinen zwar zunächst den Umbruch zu einem deutlich liberaleren Rechtsverständnis zu markieren. Die zahlreichen an die staatlichen Behörden gesandten Eingaben und Briefe spiegeln eine solche Bewegung allerdings nicht wider. Die Wiederaufnahme des Prozesses lässt sich zudem nicht nur als politisch-gesellschaftlicher Liberalisierungsprozess erzählen. Der Vergleich mit einem ähnlichen Verfahren in den zwanziger Jahren legt vielmehr den Schluss nahe, dass vor allem auch die veränderten Bedingungen des Medienmarkts eine Rolle spielten. Insgesamt zeigt sich eine ganze Bandbreite von Funktionen, die Tradition und Kontinuität innerhalb des Wandels zukommen können. Die sozusagen kompensatorisch zu begreifende, „rückversichernde[n] Orientierung an tradierten Normen“25 in Zeiten massiver Veränderung ist nur eine davon. Bestehende Traditionen konnten durchaus auch zu Türöffnern für das Neue werden, sie konnten zur Akzeptanz von Veränderungen beitragen, und damit – modifiziert – weiterwirken, aber selbstverständlich auch als Gegenfolie die Dynamik der Transformation lenken und steigern.
Das Problem des Transfers Der Dichotomie von „alt“ und „neu“ eng verbunden ist die Gegenüberstellung von „nationalen“ und „internationalen“ Bezügen. Dabei wirft auch der Umstand, dass viele als westlich erkennbare Einflüsse im Rahmen transnationaler Transfers in die Bundesrepublik gelangten, konzeptionelle Fragen auf, denen die neuere zeithistorische Forschung nur bedingt Beachtung geschenkt hat. In seiner einflussreichen, empirisch präzisen Studie zur Amerikanisierung und Westernisierung der Bundesrepublik hat beispielsweise Anselm Doering-Manteuffel überzeugend die Bedeutung amerika24 Siehe den Beitrag von Kerstin Brückweh in diesem Band. 25 Herbert: Liberalisierung als Lernprozess, S. 49. Neuorientierung, Tradition und Transformation
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nischer Leitideen von Konsensliberalismus und Konsenskapitalismus für die bundesrepublikanische Gewerkschaftsbewegung der fünfziger und sechziger Jahre herausgearbeitet. In den USA entwickelte, durch persönliche und institutionelle Kontakte vermittelte Demokratie- und Wirtschaftskonzepte waren, so Doering-Manteuffel, maßgeblich daran beteiligt, dass die bundesrepublikanischen Gewerkschaften ihr von „klassenkämpferischen Gegensätzen und kollektivistischen Vorstellungen“ verhaftetes Denken überwanden und sich zunehmend auf die „pluralistische, liberaldemokratische Gesellschaftsordnung und die Marktwirtschaft mit Wachstum, Produktivität und Wettbewerb“ orientierten. Gleichzeitig weist Doering-Manteuffel darauf hin, dass es sich hierbei um eine Anverwandlung handelte, deren Erfolg nicht zuletzt auf der Fähigkeit westdeutscher Gewerkschafter beruhte, „das Neue in eine Sprache“ zu kleiden, „die dem deutschen politischen Denken vertraut war und sich traditioneller Begriffe bediente.“26 Es kann nun keineswegs darum gehen, die Bedeutung der USA als Bezugsgröße für die bundesrepublikanischen Gewerkschaften in Frage zu stellen. Vielmehr sei das Augenmerk auf die in der eben zitierten Passage angesprochenen, allerdings konzeptionell bislang eher stiefmütterlich behandelten Sachverhalte der Übersetzung und Anverwandlung gelenkt. Eine Flut von Publikationen über transnationale Geschichte unterstreicht, dass Austauschprozesse über kulturelle Grenzlinien hinweg nicht nur eine Vielzahl globaler Diffusionsphänomene fördern, sondern gleichzeitig das international zirkulierende Inventar selbst Änderungen unterwerfen. Gleich ob es sich um Ideen, Normen, Verhaltensweisen oder materielle Güter handelt, fügt die interkulturelle Übertragung Transferobjekten häufig neue Bedeutungsfacetten hinzu. Derartige Modifikationen am Transfergut können vielerlei Ursprungs sein. So verleihen bereits die Übersetzungs- und Vermittlungsprozesse, die den ersten Schritt auf der Reise in ein neues kulturelles Umfeld darstellen, einem international zirkulierenden Gegenstand häufig neue semantische Dimensionen. Des Weiteren fördern die neuen semantischen Felder im Rezeptionskontext, in denen internationale Objekte sich erst ihren Platz suchen müssen, Bedeutungsverschiebungen am Transfergut. Und schließlich können sich aus interkulturellen Übertragungen ergebende semantische Modifikationen im Lauf der Zeit nicht nur abschleifen, sondern auch verfestigen und zunehmend akzentuieren. Die Forschung zur transnationalen Geschichte unterstreicht also den aktiven Charakter historischer Rezeptionsprozesse, die sich im Rahmen von Transfers vollziehen, und lenkt somit den Blick verstärkt auf das Umfeld und die Motivationen, die von außen einströmende Gegenstände modifizieren, umformen und nutzbar machen, indem sie diesen einen spezifischen Prägestempel aufdrücken.27 26 Doering-Manteuffel: Wie westlich sind die Deutschen?, S. 102. 27 Auf Westeuropa insgesamt bezogen, siehe Victoria De Gracia: Irresistible Empire. America‘s Advance through 20th-Century Europe. Cambridge, MA, 2005. Konzeptionelle Fragen der
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Für eine Bestimmung der Reichweite westlicher Einflüsse in zentralen bundesrepublikanischen Orientierungsmustern sind diese Sachverhalte von grundsätzlicher Bedeutung. Zwar haben zeithistorische Studien „Prozesse der Adaption, Akkulturation und Anverwandlung“ selbstverständlich nicht übersehen, doch bleiben sie in der Regel dem Aufspüren und Nachzeichnen westlicher Einflüsse verhaftet – und dies, obwohl mancher Beitrag angesichts empirischer Befunde zu der Einschätzung gelangt, dass man die bei Kulturtransfers zwischen den USA und Westdeutschland entstandenen Hybridformen nicht mit „einfachen Kategorisierungen wie ‚Amerikanisierung‘, ‚Westernisierung‘ oder ‚Internationalisierung‘“ adäquat erfassen könne.28 Wie schwierig sich derartige Bewertungen gestalten, lässt sich an der bundesrepublikanischen Rezeption von Vance Packards The Hidden Persuaders exemplarisch demonstrieren. In den USA führte dieses Werk, das sich polemisch gegen in der Werbeindustrie vermeintlich gängige psychologische Strategien zur künstlichen Bedürfniserzeugung wandte, 1957 monatelang die Bestsellerlisten an und verlieh einer industriekritischen Verbraucherschutzbewegung Auftrieb. Die deutsche Übersetzung traf auf rege Neugier, wurde jedoch völlig anders als in den USA aufgenommen.29 Während das amerikanische Publikum Hidden Persuaders als Gegenwartsanalyse las, verstand die westdeutsche Öffentlichkeit das Werk angesichts des niedrigeren bundesrepublikanischen Wohlstands- und Konsumniveaus als potentielle Zukunftsprognose für die Zeit einer stärkeren Angleichung der Lebensverhältnisse beiderseits des Atlantiks.30 Die relative wirtschaftliche Rückständigkeit der Bundesrepublik zog also eine erhebliche Bedeutungsverschiebung dieses amerikanischen Bestsellers nach sich. Ob man nun das westdeutsche Interesse an Hidden Persuaders als Verwestlichung werten sollte, ist schwer zu entscheiden, da die Lektüre aus bundesrepublikanischer Perspektive dieses Buch zu einem völlig anderen Text als in den USA werden ließ. Daher ist nicht besonders erstaunlich, dass sich, wie Thomas Zeller ausführt, von den rasant nach oben schnellenden Verkehrstotenzahlen beunruhigte Bundesbürger nicht, wie in den USA Aneignung und Rekontextualisierung stehen im Mittelpunkt von Rob Kroes: American Empire and Cultural Imperialism. A View From the Receiving End. In: Tomas Bender (Hg.): Rethinking American History in a Global Age. Berkeley 2002, S. 295–313; C.A. Bayly/Sven Beckert/Matthew Connelly/Isabel Hofmeyr/Wendy Kozol/Patricia Seed: AHR Conversation. On Transnational History. In: American Historical Review 111 (2006), S. 1441–1464. 28 Die Zitate beziehen sich auf Bauerkämper u. a.: Transatlantische Mittler und die kulturelle Demokratisierung Westdeutschlands, S.21; Arnd Bauerkämper: Demokratie als Verheißung oder Gefahr? Deutsche Politikwissenschaftler und amerikanische Modelle 1945 bis Mitte der sechziger Jahre. In: ebd.: S. 253–280, hier S. 279. 29 Vance Packard: Die geheimen Verführer. Der Griff nach dem Unbewußten in jedermann. Düsseldorf 1958. Zur Auseinadersetzung mit der Werbung in Deutschland, siehe Pamela E. Swett/S. Jonathan Wiesen/Jonathan R. Zatlin (Hg.): Selling Modernity. Advertising in Twentieth-Century Germany. Durham, N.C., 2007. 30 Vgl. Der Spiegel, 7. August 1957, S. 38–42. Neuorientierung, Tradition und Transformation
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üblich, gegen die Autoindustrie wandten, sondern eine Anpassung des Straßenbaus seitens des Staates forderten.31 Wir regen daher an, im Rahmen einer analytischen Akzentverschiebung zentrale bundesrepublikanische Ordnungsvorstellungen als Mischformen zu verstehen, die in vielen Fällen sowohl erkennbar westliche als auch heimische Züge aufwiesen. Angesichts der Konzentration seitens der jüngeren Forschung auf westliche Außeneinflüsse ist es in diesem Zusammenhang notwendig, im wissenschaftlichen Erkenntnisprozess stärker als bisher heimische Ausgangspunkte in den Blick zu nehmen. Hybridverbindungen konnten sich zum einen aus den oben erwähnten, komplexen Aneignungsprozessen ergeben. Andere Orientierungsmuster verdankten ihre Attraktivität dem Umstand, dass importierte Komponenten sich gut mit herkömmlichen Modellen verknüpfen ließen. Dass solche Mischkonstellationen keineswegs marginale Phänomene darstellten, verdeutlicht Bernhard Löfflers Beschreibung der hybriden Züge in einem für das bundesrepublikanische Selbstverständnis so zentralen Begriff wie dem der „Sozialen Marktwirtschaft“. Einerseits waren Ludwig Erhard und sein Kreis stark typisch westlichen und liberalen Wirtschaftsvorstellungen von marktnaher Preisbildung, marktbezogener Produktion und internationalem Freihandel verpflichtet. Andererseits hielten sie an aus der Weimarer Republik stammenden Konzepten des Ordoliberalismus sowie Lehren aus der damaligen Inflationserfahrung fest. Löffler wirft angesichts dieses Befundes die Frage auf, ob „nicht das Eigengewicht dieser Wechselwirkungen an sich stärker zu beachten wäre als die jeweiligen Einzelkomponenten des Mischsystems.“32 Hinsichtlich der westdeutschen Geschichte in den fünfziger und sechziger Jahren verspricht eine für die teils spannungsreiche Dynamik zwischen erkennbar westlichen und heimischen Aspekten sensibilisierte Betrachtungsweise ein besseres Verständnis dafür, wie einerseits im westlichen Lager weit verbreitete Ordnungsvorstellungen Eingang in die Bundesrepublik fanden, andererseits dort aber häufig eine eigentümliche Prägung erhielten. Nicht nur zu einer präziseren Bestimmung der Orientierungskoordinaten, an denen sich die frühbundesrepublikanische Gesellschaft ausrichtete, kann dieser Ansatz beitragen. Er liefert darüber hinaus Erklärungen, weshalb es im von den USA dominierten westlichen Lager während des Kalten Krieges trotz zunehmend dichter Kommunikationsnetze, beschleunigter Warenzirkulation und ideologischer Frontstellung zum „Osten“ keineswegs zu einer umfassenden Homogenisierung kam. Vielmehr erwiesen sich einige das westliche Lager durchziehende Bruchlinien als außerordentlich langlebig. So hat beispielsweise die wirtschaftshistorische Forschung wiederholt mit der Frage gerungen, in welchem Ausmaß US-amerikanische Einflüsse das westdeutsche Wirtschaftsleben veränderten und somit direkt für das sogenannte Wirtschaftswunder 31 Siehe den Beitrag von Thomas Zeller in diesem Band. 32 Siehe den Beitrag von Bernhard Löffler in diesem Band.
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mitverantwortlich waren. Insbesondere die Bedeutung von zuerst in den USA entwickelten Produktions- und Managementmethoden ist für die westdeutsche Wirtschaft wiederholt herausgestrichen worden.33 Gleichzeitig argumentieren skeptische Stimmen hinsichtlich dieser Interpretation, dass die westdeutsche Wirtschaft nach 1945 auf einen Entwicklungspfad zurückgekehrt sei, dessen Ursprünge sich bis ins späte 19. Jahrhundert verfolgen lassen.34 Selbstverständlich leugnet letztere Interpretation die Anziehungskraft der amerikanischen Wirtschaft auf das westdeutsche Unternehmertum keineswegs rundweg, schreibt dieser allerdings eine eher sekundäre Rolle zu. Auch wenn hier außer Acht bleiben muss, welcher dieser Ansätze überzeugendere Erklärungen für das Wirtschaftwunder liefert, fällt gerade in wirtschaftlichen Kontexten eine Vielzahl von Mischkonstellationen auf. So weist Detlef Siegfried darauf hin, dass die Bundesrepublik sich zwar ab den ausgehenden fünfziger Jahren wie viele westeuropäische Gesellschaften auf dem Weg in den Massenkonsum befand, gleichzeitig aber „nationalspezifische Konsumstile“ ausbildete. Insbesondere betont er, dass die westdeutsche Bevölkerung trotz dauerhaft hoher wirtschaftlicher Wachstumsraten bis in die späten sechziger Jahre dem Aufschwung mit ausgesprochenem Misstrauen begegnete. Siegfried lässt zwar offen, ob sich in dieser Unsicherheit eine Spätwirkung zurückliegender Katastrophen spiegelt, doch zeigt er, dass sich westdeutsche und amerikanische Wirtschaftsmentalitäten in Kernpunkten erheblich von einander unterscheiden konnten.35 Ob die fünfziger und sechziger Jahren bereits Anhaltspunkte liefern, die auf das seit den späten siebziger Jahren verstärkt zu beobachtende Auseinanderdriften wirtschaftlicher Leitvorstellungen in der anglo-amerikanischen Welt einerseits und der Bundesrepublik anderseits verweisen, kann momentan nicht entschieden werden. Allerdings hat Jürgen Kocka kürzlich in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen, dass in der Bundesrepublik „verbreitete Mentalitäten mit ökonomisch problematischer Konsequenz“ wie „allzu dominantes Sicherheitsdenken, Risikounlust [und] Zukunftsangst“ langfristige historische Wurzeln besäßen.36 Man kann diesen Einwurf auch als Aufforderung verstehen, entsprechenden mentalen Dispositionen während der Phase beispielloser ökonomischer Expansion in den Fünfzigern und Sechzigern nachzugehen, ohne deshalb gleich die Wirkungsmacht importierter Vorstellungen grundsätzlich in Zweifel zu ziehen. 33 Volker R. Berghahn: The Americanization of West German Industry, 1945–1973. Cambridge 1986; Christian Kleinschmidt: Der produktive Blick. Wahrnehmung amerikanischer und japanischer Management- und Produktionsmethoden durch deutsche Unternehmer. Berlin 2002. 34 Werner Abelshauser: Deutsche Wirtschaftsgeschichte seit 1945. München 2004, S. 30f. 35 Siehe den Beitrag von Detlef Siegfried in diesem Band. 36 Jürgen Kocka: Einleitung. In: Volker R. Berghahn/Sigurt Vitols (Hg.): Gibt es einen deutschen Kapitalismus? Tradition und globale Perspektiven der sozialen Marktwirtschaft. Frankfurrt/M. u. New York 2006, S. 9–21, hier S. 21. Neuorientierung, Tradition und Transformation
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Dabei unterstreichen die hier versammelten Beiträge, dass weitere internationale, insbesondere europäische Bezugsrahmen neben die USA traten und in ausgesprochen unterschiedlichen Kontexten wichtige Anschlusspunkte bereithielten. So waren für die Ausbildung liberaler Wirtschaftsauffassungen der Nachkriegszeit beispielsweise gemeineuropäische, in der angelsächsischen Aufklärung verwurzelte Denktraditionen von zentraler Bedeutung. Die kulturellen Eliten bemühten sich aber auch um eine Rezeption des französischen Existentialismus sowie um eine Auseinandersetzung mit der internationalen Gegenwartsliteratur. Den vor allem für ihre revanchistischen politischen Ziele bekannten Vertriebenenverbänden wiederum erleichterten, wie Pertti Ahonens Beitrag ausführt, Europakonzepte die allmähliche Integration in die politische Nachkriegsrealität. Die die Forschung bestimmende Fokussierung auf eine Verwestlichung unter amerikanischen Vorzeichen hat den Blick auf europäische Orientierungspunkte der Bundesrepublik in den letzten Jahren an den Rand gedrängt – ein angesichts des großen politischen Gewichts, den der europäische Integrationsprozess in Westdeutschland besaß, überraschender Befund. Auch wenn sich also für die Bundesrepublik der Fünfziger und Sechziger eine breite gesellschaftliche, politische und kulturelle Bereiche erfassende Öffnung nach außen feststellen lässt, sollte man nicht deren Grenzen aus den Augen verlieren. Das Einströmen von Außeneinflüssen bot vielfach Anlässe zur Bestimmung des Verhältnisses von „innen“ und „außen“, die mit vielgestaltigen Grenzziehungen Hand in Hand gingen. In diesem Zusammenhang erwiesen sich nicht nur die anti-amerikanischen Reflexe als ausgesprochen dauerhaft, die sich im Zusammenhang mit der heraufziehenden Konsumgesellschaft sowie der Expansion der kommerziellen Populärkultur manifestierten. Selbst in einem scheinbar so unproblematischen Bereich wie der Verbreitung der internationalen Gastronomie lässt sich nicht unqualifiziert von einer umfassenden Liberalisierung durch neue Konsumgewohnheiten sprechen. Wie Maren Möhring darlegt, wurde ausländischen Gastwirten reihenweise bis in die siebziger Jahre nach einer amtlichen „Bedürfnisprüfung“ durch die Gemeindeverwaltung die Erlaubnis zur Eröffnung eines Restaurants verwehrt.37 Hier geraten langlebige Diskriminierungspraktiken ins Visier, die die Bundesrepublik als Migrationsgesellschaft über Jahrzehnte belastet haben.
Vielerlei Vergangenheiten Auf welche Vergangenheit bezogen sich aber die einzelnen Transformationsprozesse innerhalb der alten Bundesrepublik? Bereits das Beispiel der Wirtschaftsvorstellungen hat deutlich werden lassen, dass sich die westdeutsche Gesellschaft hier keines37 Siehe den Beitrag von Maren Möhring in diesem Band.
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wegs eindeutig verortete, sondern sich vielmehr in einem komplexen Netz historischer Bezüge befand, in dem je nach Gegenstand mal das Kaiserreich, die Weimarer Republik oder der Nationalsozialismus ins Zentrum rücken konnten. Auch in Fällen, in denen die Neuartigkeit der Bundesrepublik außer Frage stand, betrachteten die Zeitgenossen Westdeutschland dabei keineswegs als ein Gebilde ohne Wurzeln in der deutschen Geschichte und bemühten sich, Anschlüsse an die Zeit vor 1945 herzustellen. Die nationalsozialistischen Verbrechen, die katastrophale Kriegsniederlage sowie die resultierende staatliche Teilung komplizierten derlei Unterfangen erheblich, doch sollte der Schatten, den das Dritte Reich auf die Bundesrepublik warf, insbesondere für die Anfangsjahrzehnte nicht überzeichnet werden. Bis weit in die sechziger Jahre blieb ein Geschichtsbild, das die verbrecherischen Dimensionen des Dritten Reichs auf den Holocaust reduzierte und gleichzeitig die Verantwortung am Völkermord einer kleinen nationalsozialistischen Machtelite zuschob, in der bundesrepublikanischen Gesellschaft über Parteigrenzen hinweg mehrheitsfähig. Diese moralische Entlastungsstrategie, die der deutschen Gesellschaft eine weitgehend passive Rolle im Nationalsozialismus zuschrieb, legte nicht nur die Grundlage für die Vielzahl an öffentlichen Opferdiskursen über Luftkrieg, Vertreibung und Kriegsgefangene, die das Leiden der deutschen Bevölkerung zu Kriegszeiten herausstrichen.38 Sie stand auch hinter ausgesprochen positiven Wertungen, die vor allem die Vorkriegsjahre des Dritten Reichs in der frühbundesrepublikanischen Gesellschaft erfuhren. So bezeichneten beispielsweise einer vielzitierten Meinungserhebung aus den frühen 50er Jahren zufolge 40% der Befragten die Periode zwischen 1933 und 1939 als die Zeit, in der es Deutschland am besten gegangen war.39 Noch ein Jahrzehnt später konnten aus der NS-Zeit abgeleitete rechtliche Ansprüche mit breiter Zustimmung rechnen, wie das Beispiel des öffentlichen Echos auf das Ende des sogenannten Volkswagensparerprozesses zeigt, in dem die Teilnehmer an dem von der KdF-Organisation nach 1938 initiierten Ratensparprogramm gegen das Volkswagenwerk einen für sie günstigen Vergleich erstritten.40 Dass sich die finanziellen Forderungen auf Zahlungen bezogen, die die Sparer ursprünglich im Rahmen eines parteinahen Prestigeprojektes im Dritten Reich geleistet hatten, tat dem breiten Wohlwollen gegenüber den Klägern keinen Abbruch. Es war also in den Fünfzigern und Sechzigern keineswegs der Fall, dass lediglich Opferdiskurse das „kommunikative Beschweigen“ (Hermann Lübbe) durchbrachen, das Teile der nationalsozialistischen Vergangenheit umgab. Vielmehr 38 Eine komprimierte Einführung mit weiteren Angaben zur ausufernden Literatur bietet Wolfgang Hardtwig: Von der „Vergangenheitsbewältigung“ zur Erinnerungskultur. Zum Umgang mit der NS-Vergangenheit in Deutschland. In: Thomas Hertfelder/Andreas Rödder (Hg.): Modell Deutschland. Erfolgsgeschichte oder Illusion? Göttingen 2007, S. 171–189. 39 Elisabeth Noelle/Peter Erich Neumann: Jahrbuch der öffentlichen Meinung 1947–1955. Allensbach 1956, S. 125–126. 40 Vgl. der Beitrag von Bernhard Rieger in diesem Band. Neuorientierung, Tradition und Transformation
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musste sich die Bundesrepublik auch an explizit aus der NS-Zeit stammenden Ansprüchen messen lassen. In strengem Gegensatz zu Bezügen zum Dritten Reich standen diejenigen historischen Anknüpfungsversuche, die sich auf die Weimarer Republik richteten. Das Beispiel Theodor Eschenburgs zeigt die Wirkungsmacht eines aus der Weimarer Zeit stammenden, liberal-demokratischen Traditionsverständnisses in der Politologie als neuer normativer Leitwissenschaft der frühen Bundesrepublik. Hier fand sich also ein positiver Anknüpfungspunkt in die Vorkriegsvergangenheit. Gleichzeitig weist Jens Hacke in seinem bereits erwähnten Beitrag jedoch darauf hin, dass Eschenburg innerhalb seiner Zunft im Laufe der sechziger Jahre an Einfluss verlor, da in der anglo-amerikanischen Welt entwickelte empirische Methoden zunehmend die wissenschaftliche Praxis bestimmten. Eschenburgs verminderte Stellung verweist jedoch nicht nur auf wissenschaftsimmanente Wandlungsprozesse, sondern auch darauf, dass die Weimarer Republik angesichts ihres unrühmlichen Endes einen ambivalenten Bezugspunkt zur politischen Neuorientierung bot. Ambivalenz hinsichtlich der Weimarer Republik scheint auch in Elizabeth Heinemans Studie über die Beziehung zwischen Konsum und einer schrittweisen Liberalisierung der Sexualmoral in den ersten zwei Nachkriegsjahrzehnten durch. Manch bundesrepublikanischer Sexualreformer verstand die Weimarer Republik aufgrund ihrer im Vergleich zur wilhelminischen Epoche liberaleren Sexualvorstellungen als positiven Referenzpunkt, verschloss jedoch keineswegs die Augen vor der Instabilität der ersten deutschen Demokratie. Des Weiteren weist Heineman darauf hin, dass Befürworter einer Sexualstrafrechtsreform sich in Frontstellung zu einem juristischen Regelwerk mit wilhelminischen, zunehmend anachronistisch anmutenden Ursprüngen begaben. Ihr Beitrag öffnet daher den Blick für die gleichzeitig in der bundesrepublikanischen Öffentlichkeit präsenten, häufig miteinander verschränkten Vergangenheitsvorstellungen. Insgesamt bleibt festzuhalten, wie schwierig es sich für Zeitgenossen gestaltete, uneingeschränkt positive Bezüge zur deutschen Nationalgeschichte vor 1933 herzustellen. Angesichts des katastrophalen Debakels von 1945 wurde das intellektuelle Erbe des 19. Jahrhunderts auf breiter Front einer kritischen Überprüfung unterzogen und insbesondere diejenigen Traditionsbestände verworfen, die sich mit nationalen Macht- und Herrschaftsvorstellungen befassten.41 Selbst die kulturelle Hinterlassenschaft einer vermeintlich unverfänglichen Größe wie Goethe sorgte in diesem Zusammenhang für zahlreiche Konflikte. Derartige Probleme historischer Sinnstiftung erklären sich allerdings nicht allein mit dem Dritten Reich sowie dem Zusammenbruch von 1945, die Traditionsstränge durchkreuzten. Vielmehr erschwerten auch die in diesem Band thematisierten Transformationsprozesse historische Brückenschläge. Da die Bundesrepublik in den fünfziger und sechziger Jahren vielgestaltigem Wandel aus41 Vgl. der Beitrag von Friedrich Kießling in diesem Band.
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gesetzt war, gewannen westdeutscher Staat, Gesellschaft und Wirtschaft erst allmählich distinkte historische Konturen. Lange Zeit mit dem Anschein eines Provisoriums versehen, bot die Bundesrepublik während des hier behandelten Untersuchungszeitraums nur wenige der Fluchtpunkte, auf die sich Traditionsbildungen in der Regel ausrichten.42 Trotz dieser Schwierigkeiten sollte man jedoch nicht übersehen, dass die bundesrepublikanische Gesellschaft in ihren ersten zwei Jahrzehnten durchaus die Fähigkeit zu sinnstiftenden Traditionsbildungen besaß. Gerade die selektive Verquickung des heimischen intellektuellen Erbes mit als „westlich“ deklarierten Bezugspunkten eröffnete Möglichkeiten in diese Richtung.
Wahrnehmung und Strategien des Wandels Insgesamt werfen Probleme wie die unterschiedlichen Vergangenheitsbezüge, die Frage nach der Funktion von Tradition und Kontinuität oder das komplizierte Mischungsverhältnis von nationalen und internationalen Bezügen die Frage auf, wie sich grundsätzlich das Bezugsgeflecht von Neuorientierung, Tradition und Transformation für die Bundesrepublik beschreiben lässt. Die hier versammelten Beiträge lassen es auf der einen Seite ratsam erscheinen, bei der Beschreibung der Wandlungsprozesse stärker als bisher Mischungen anzunehmen, auf mögliche Brüche zu achten und teleologische Festschreibungen zu vermeiden. Auf der anderen Seite sollte man sich auch bewusst machen, dass es sich bei dem Dreieck von Neuorientierung, Tradition und Transformation um ein dynamisches Wechselverhältnis handelt, in dem die jeweiligen Rollen nicht von vornherein festgelegt sind, und sich die Veränderungen eben auch aus einem produktiven Wechselspiel von „alt“ und „neu“ ergeben können. Die daraus resultierende, eigene Dynamik des Wandlungsprozesses gilt schließlich auch für dessen zeitgenössische Wahrnehmung. Wandel und Transformation waren selbst häufig Thema der zeitgenössischen Selbstverständigungsprozesse. Dabei definierten sich Zugehörigkeiten und Abgrenzungen vielfach über die Haltung zur „Modernisierung“ oder „Internationalisierung“ der westdeutschen Gesellschaft. Entscheidende Bedeutung erlangte damit, wie Akteure und Kommentatoren sich gegenüber Transformationsprozessen positionierten – um Wandel zu fördern, zu behindern oder auch schlicht zu bewerten. Die Debatten wurden durch entsprechende Funktionszuschreibungen strukturiert, Legitimität über die Haltung zum gesellschaftlichen Wandel erworben oder zumindest gesucht. Mit anderen Worten: die Thematisierung 42 Erst die mit dem 25-jährigen Jubiläum Mitte der siebziger Jahre verstärkt einsetzende Tendenz zur öffentlichen Bilanzierung der bundesrepublikanischen Geschichte markierte einen Schritt in eine andere Richtung. Richard Löwenthal/Hans-Peter Schwarz (Hg.): Die zweite Republik. 25 Jahre Bundesrepublik Deutschland – eine Bilanz. Stuttgart 1974. Neuorientierung, Tradition und Transformation
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von Wandel war selbst Teil der gesellschaftlichen Verständigungsprozesse in der alten Bundesrepublik. Eines der eindrücklichsten Beispiele ist die Geschichte der „Gruppe 47“, deren Erfolg nicht zuletzt darauf gründete, dass sich ihre Mitglieder als Vertreter eines neuen, von den Traditionen der ersten Jahrhunderthälfte strikt unterschiedenen literarischen Deutschland präsentierten, das sich auf diese Weise von den Belastungen der nationalsozialistischen Vergangenheit zu lösen versprach.43 Dass die historische und literaturwissenschaftliche Forschung längst ein sehr viel differenzierteres Bild zeichnet und die vielen Kontinuitäten über 1945 hinaus nachgewiesen hat, ändert nichts an der zeitgenössisch wichtigen Funktion dieser Anmutung des Neuen. Hier wie auch in vielen anderen Fällen muss zur Beschreibung der Transformationen die Beschreibung der zeitgenössischen Haltungen zu diesen kommen. Das gilt gerade für die Bundesrepublik, die angesichts ihrer Belastung durch den Nationalsozialismus besonders vor der Notwendigkeit eines Neuanfangs stand bzw. der (Selbst-)Verpflichtung zu einem historischen Neuanfang unterworfen war. Im Ergebnis lässt sich etwa im Bereich der Ideengeschichte ein ausgeprägtes „Traditionsverhalten“ beschreiben, das dafür sorgte, dass das Verhältnis zur heimischen Überlieferuung in den grundlegenden gesellschaftlichen Debatten von vornherein mitgedacht wurde, und das die Diskussionen so mit strukturierte.44 Entsprechende Inszenierungen von Einschnitten und Neuanfängen in der alten Bundesrepublik sind auch aus anderen Gegenstandsbereichen, etwa der politischen Geschichte, des Bonner Staates bekannt.45 Dass das hier zutage tretende Interpretationsproblem, bei dem es jeweils erst zu entscheiden gilt, wo die Grenze zwischen tatsächlichem Neuanfang und lediglich dessen Anmutung liegt, auch in anderen Bereichen auftritt, zeigt sich noch einmal am Beispiel der bundesdeutschen (Ess-) Kultur. So war es durchaus möglich, mit dem Besuch von ausländischen Gaststätten Modernität zu demonstrieren. Anderseits ist der Umkehrschluss, von der Zunahme der Gaststätten mit ausländischer Küche auf eine Öffnung der Gesellschaft insgesamt, aber kaum zulässig. Zum einen legten das deutsche Gaststättenrecht und dessen Praxis, wie gesehen, ausländischen Wirten erhebliche Steine in den Weg, zum anderen
43 Vgl. z. B. Frank Trommler: Die nachgeholte Résistance. Politik und Gruppenethos im historischen Zusammenhang. In: Justus Fetscher u. a. (Hg.): Die Gruppe 47 in der Geschichte der Bundesrepublik. Würzburg 1991, S. 9–22. 44 Vgl. der Beitrag von Friedrich Kießling in diesem Band. 45 So haben bundesdeutsche Politiker bekanntlich immer wieder das Ende der Nachkriegszeit ausgerufen. Vgl. etwa Ludwig Erhards erste Regierungserklärung als Bundeskanzler vom 18. Oktober 1963. In: Die großen Regierungserklärungen der deutschen Bundeskanzler von Adenauer bis Schmidt. Eingel. u. kom. von Klaus Beyme. München/Wien 1979, S. 153–190, hier S. 154.
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lässt sich der Genuss fremder Speisen durchaus auch als Ersatzhandlung interpretieren, der zunächst einmal wenig mit interkultureller Kompetenz zu tun hatte.46
Forschungsperspektiven Die in diesem Band versammelten Beiträge setzen sich methodisch und thematisch vielfältig mit der Frage auseinander, wie Akteure und Kommentatoren sich gegenüber den in der Bundesrepublik auftretenden Transformationsprozessen während der fünfziger und sechziger Jahre positionierten. Einen Schwerpunkt bilden ideengeschichtliche Ansätze, die den analytischen Blick auf das Bewertungsspektrum richten, das sich innerhalb der einflussreichen kulturellen und politischen Eliten gegenüber vielgestaltigen Wandlungsphänomenen herausbildete. Des Weiteren widmet sich eine Reihe der hier versammelten Autoren konsumhistorischen Themen, da der Aufbruch in die Überflussgesellschaft zweifellos eine der die Bundesrepublik am stärksten prägenden Veränderungen darstellte. Schließlich beinhaltet unser Band Beiträge, die im rechtshistorischen Umfeld anzusiedeln sind und somit auf für die Entwicklung der Bundesrepublik zwar zentrale, jedoch in der Forschung weitgehend ausgeblendete juristische Aspekte verweisen. Diese thematische Breite, die auch Bereiche zusammenführt, die sonst häufig getrennt betrachtet werden, öffnet den Blick auf die Heterogenität der in Westdeutschland zirkulierenden Wandlungsvorstellungen. Darüber hinaus lenkt sie die Aufmerksamkeit darauf, dass Außeneinflüsse sich in unterschiedlichen Kontexten zeitversetzt manifestierten. So bewahrten die westdeutschen kulturellen Eliten während der fünfziger Jahre gegenüber den USA ein erheblich distanzierteres Verhältnis als beispielsweise viele Unternehmer, die amerikanischen Wirtschaftspraktiken große Neugier entgegenbrachten. Mit Bedacht beziehen sich die Beiträge in ihrer Summe auf die gesamten fünfziger und sechziger Jahre der westdeutschen Geschichte. Damit werden die häufig bei der Beschreibung von Wandlungsprozessen vor allem untersuchten „langen sechziger Jahre“ zumindest in eine Richtung systematisch überschritten. Während die fünfziger Jahre häufig als Wandel unter konservativen Vorzeichen verstanden werden, sind die „langen sechziger Jahre“ vielfach als Gegenbild unter das Signum des progressiven Wandels gestellt worden. Indem die Beiträge über die vielfach konstatierte Zäsur am Ende der Fünfziger hinausgehen, trägt der Band auch über die Einteilung in einzelne Jahrzehnte hinaus zu der gerade neu einsetzenden Debatte über die Historisierung der alten Bundesrepublik bei. Die hier vorgestellten Differenzierungen betreffen damit zwar vor allem die fünfziger und sechziger Jahre. Sie sind darüber hinaus aber auch auf die gesamte Geschichte 46 Siehe den Beitrag von Maren Möhring in diesem Band. Neuorientierung, Tradition und Transformation
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der alten Bundesrepublik anwendbar. Im Sinne einer weiteren Bestandsaufnahme des Transformationsparadigmas wäre es zum Beispiel lohnend, die angedeuteten „Überhänge“ weiterzuverfolgen. Wenn heimische Traditionen und Kontinuitäten, wie hier argumentiert wird, auch in den „langen sechziger Jahren“ immer wieder substantiell zum Wandel der bundesdeutschen Gesellschaft beitrugen, wäre zu fragen, was in den immer stärker in den Blick der Historiker geratenen siebziger Jahren mit ihnen geschah. Auch die jüngst von Eckart Conze beschriebene Sicherheitskultur ließe sich in eine die gesamte Geschichte der alten Bundesrepublik umgreifende Beschreibung der Transformationsmechanismen einordnen. Die „Suche nach Sicherheit“ war dann vielleicht nur die andere Seite des zeitgenössisch vielfach präsenten und bewussten Transformationsgeschehens.47 Daran anknüpfend ließe sich die Frage nach den übergeordneten Zeitkonzepten in der alten Bundesrepublik stellen. Hier stand bisher ganz überwiegend der Umgang mit dem Nationalsozialismus im Zentrum der Forschung. Angesichts der tatsächlich sehr viel komplexeren Vergangenheitsbezüge wäre das daraus resultierende spezifische Epochenbewusstsein der alten Bundesrepublik, für das der Umgang mit dem Nationalsozialismus nur einen, allerdings natürlich sehr wichtigen Teil darstellt, genauer zu untersuchen. Fragen nach „Historischen Zeiten“ bzw. nach „Zeitsemantiken“, wie sie inzwischen beispielsweise für die Weimarer Republik gestellt werden, ließen sich auch an den Bonner Staat richten.48 Schließlich eröffnen auch die vorgestellten Problematisierungen der Transferprozesse weitere Forschungsperspektiven. Vor allem führen die vielgestaltigen, Westdeutschland prägenden Außeneinflüsse sowie Grenzziehungen, die die jüngere Forschung zutage gefördert hat, weit über das Phänomen der Verwestlichung hinaus. Sie werfen nicht nur Fragen auf, wie die unterschiedlichen Außeneinflüsse zu gewichten sind, sondern lassen auch grundsätzliche Konzepte von „innen“ und „außen“ hervortreten, die mit 47 Eckart Conze: Die Suche nach Sicherheit. Eine Geschichte der Bundesrepublik Deutschland von 1949 bis in die Gegenwart. München 2009. 48 Peter Fritzsche: Historical Time and Future Experience in Postwar Germany. In: Wolfgang Hardtwig (Hg.): Ordnungen in der Krise. Zur politischen Kulturgeschichte Deutschlands 1900–1933. München 2007, S. 141–164 und in demselben Band: Martin H. Geyer: „Die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“. Zeitsemantik und die Suche nach Gegenwart in der Weimarer Republik, S. 165–187. Für die Bundesrepublik ließe sich dabei vor allem an die vorliegenden Arbeiten zum Fortschrittsglauben bzw. der Planungseuphorie der 60er Jahre anschließen: Gabriele Metzler: Konzeptionen politischen Handelns von Adenauer bis Brandt. Politische Planung in der pluralistischen Gesellschaft. Paderborn u. a. 2005; Alexander Nützenadel: Stunde der Ökonomen. Wissenschaft, Politik und Expertenkultur in der Bundesrepublik, 1949–1974. Göttingen 2005. Zum für die Bundesrepublik noch kaum systematisch untersuchten Problem des „Epochenbewusstsein“ allgemein immer noch: Reinhart Herzog/ Reinhart Koselleck (Hg.): Epochenschwelle und Epochenbewußtsein. Poetik und Hermeneutik Bd. XII. München 1987.
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Gewinn auch für andere Abschnitte der bundesdeutschen Geschichte untersucht werden könnten.49 *** Der Band geht ursprünglich auf die Beiträge und Diskussionen einer Londoner Tagung zurück, die im September 2007 als Kooperation des University College London, der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg sowie des German Historical Institute London stattfand. Zu deren Gelingen trugen neben den hier versammelten Autoren auch Ralph Jessen, Martina Kessel, Holger Nehring, Johannes Paulmann, Dietmar Rothermund sowie Andreas Gestrich bei. Die Herausgeber danken zudem dem History Department des University College London, dem dortigen Centre for European Studies sowie der German History Society, United Kingdom, für die finanzielle Unterstützung der Konferenz. Die Gerda Henkel Stiftung hat nicht nur ebenfalls die Tagung gefördert, sondern mit einem Druckkostenzuschuss auch die Publikation der Ergebnisse ermöglicht. Ihr gilt unser besonderer Dank.
49 Vgl. z. B. die weit über die Verwestlichung hinausreichende, allgemeine Raumvorstellungen umgreifende Fragestellung in: Johannes Paulmann (Hg.): Auswärtige Repräsentationen. Deutsche Kulturdiplomatie nach 1945. Köln u. a. 2005. Neuorientierung, Tradition und Transformation
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Ein deutscher Weg in den Westen Soziale Marktwirtschaft und europäischer Neoliberalismus Es dürfte kaum einen Zweifel geben, dass die Nachkriegswirtschaft ein zentraler Faktor und Katalysator modernisierender Einflüsse in Westdeutschland war. Allen strukturellen Kontinuitäten etwa der Wirtschaftseliten oder des fortbestehenden und für die Nachkriegsrekonstruktion so bedeutsamen industriellen Potentials zum Trotz konnte die 1948 institutionalisierte und in wesentlichen Elementen auf Freizügigkeit, Privateigentum, Konsumbefriedigung und Marktwettbewerb bauende Wirtschaftsordnung durchaus als Gegenentwurf zur vorhergehenden nationalsozialistischen Zentralverwaltungs- und staatlich regulierten Kontrollwirtschaft wahrgenommen werden.1 Mit ihren Tendenzen zur Liberalisierung der Binnen- wie Außenbeziehungen und mit der Dynamik, mit der der (gesamteuropäische) Nachkriegsboom die materiellen Grundlagen für die „Modernisierung im Wiederaufbau“ legte, kam der Ökonomie überdies enorme Bedeutung in dem längerfristigen Prozess der Herausbildung einer neuen politischen Kultur zu.2 Nicht wenigen – Zeitgenossen wie Historikern – galt und gilt die Wirtschaft neben der politischen Verfassung der parlamentarischen Demokratie und neben der soziokulturellen Verfassung einer pluralistischen und auf Individualismus bauenden Zivilgesellschaft als das dritte Kernelement der „neu formierten“ und durch außenpolitische wie militärische Bündnisse gefestigten „westlichen Wertegemeinschaft“, als wesentliches Einfallstor von Normen, Verhaltensformen und Kulturmustern, die jenseits der bisher verfolgten und politisch belasteten nationalen Traditionen lagen. So identifizierte etwa einer der bekanntesten ordoliberalen Ökonomen der 1940er und 1950er Jahre, Wilhelm Röpke, unter den Auspizien seines 1
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Zur komplexen und auch unterschiedlich bewerteten Geschichte der westdeutschen Nachkriegswirtschaft und -wirtschaftsordnung vgl. mit weiteren Belegen Ludger Lindlar: Das mißverstandene Wirtschaftswunder. Westdeutschland und die westeuropäische Nachkriegsprosperität. Tübingen 1997; Werner Abelshauser: Deutsche Wirtschaftsgeschichte seit 1945. München 2004; zum Aspekt der Elitenkontinuität etwa Paul Erker/Toni Pierenkemper (Hg.): Deutsche Unternehmer zwischen Kriegswirtschaft und Wiederaufbau. Studien zur Erfahrungsbildung von Industrie-Eliten. München 1999. Vgl. Axel Schildt/Arnold Sywottek (Hg.): Modernisierung im Wiederaufbau. Die westdeutsche Gesellschaft im Wiederaufbau der 50er Jahre. Bonn 1993. Ein deutscher Weg in den Westen
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persönlichen Erfahrungen erwachsenen Antitotalitarismus das marktwirtschaftliche Regime als beinahe zwangsläufig-logisches Äquivalent zur demokratischen Verfassung der Bundesrepublik Deutschland, während er andererseits eine „unausweichliche Korrelation zwischen Kommandowirtschaft und totalitärer Diktatur“ sah;3 und jüngst wurde in einem Sammelband zur westdeutschen Ideentransfergeschichte nach 1945 pointiert formuliert, „Wirtschaftswunder“ und „Demokratiewunder“ seien in gewisser Weise Parallelerscheinungen.4 Analytisch hat man versucht, diese Vorgänge mit Begriffen wie „Modernisierung“, „Amerikanisierung“, „Westernisierung“ oder „Liberalisierung“ zu erfassen.5 Dabei wird als konzeptioneller Fluchtpunkt ganz vornehmlich ein während der 1950er Jahre diskutiertes und im Laufe der 1960er Jahre etabliertes gesellschafts- wie wirtschaftspolitisches Ordnungs- und Verhaltensmuster gesehen, das – angeregt nicht zuletzt 3
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So z. B. Wilhelm Röpke: Die Gesellschaftskrisis der Gegenwart. Erlenbach bei Zürich 1941, bes. S. 154ff.; ders.: Mass und Mitte. Erlenbach bei Zürich 1950; ders.: Jenseits von Angebot und Nachfrage. Erlenbach bei Zürich 1958. – Im Grunde findet man eine vergleichbare Parallelisierung von Wirtschafts- und politischer Ordnung bei allen Theoretikern der Sozialen Marktwirtschaft. Vgl. etwa Walter Eucken: Grundsätze der Wirtschaftspolitik. Tübingen 5 1975, S. 126ff., 369ff.; Alfred Müller-Armack: Wirtschaftslenkung und Marktwirtschaft. Hamburg 21948, S. 63; Alexander Rüstow: Ortsbestimmung der Gegenwart. Eine universalgeschichtliche Kulturkritik, Bd. 3. Erlenbach bei Zürich/Stuttgart 1957, S. 519. Arnd Bauerkämper/Konrad H. Jarausch/Marcus M. Payk (Hg.): Demokratiewunder. Transatlantische Mittler und die kulturelle Öffnung Westdeutschlands 1945–1970. Göttingen 2005, hier S. 11f. Im prägnanten Überblick Axel Schildt: Fünf Möglichkeiten, die Geschichte der Bundesrepublik zu erzählen. In: Blätter für deutsche und internationale Politik 10 (1999), S. 1234–1244; im Einzelnen vgl. Hans-Peter Schwarz: Modernisierung oder Restauration? Einige Vorfragen zur künftigen Sozialgeschichtsforschung über die Ära Adenauer. In: Kurt Düwell/ Wolfgang Köllmann (Hg.): Rheinland-Westfalen im Industriezeitalter, Bd. 3. Wuppertal 1984, S. 278–293; Axel Schildt: Moderne Zeiten. Freizeit, Massenmedien und „Zeitgeist“ in der Bundesrepublik der 50er Jahre. Hamburg 1995; ders./Sywottek (Hg.): Modernisierung im Wiederaufbau; Volker Berghahn: The Americanisation of West German Industry 1945–1973. Leamington Spa 1986; Alf Lüdtke/Inge Marßolek/Adelheid von Saldern (Hg.): Amerikanisierung. Traum und Alptraum im Deutschland des 20. Jahrhunderts. Stuttgart 1996; Konrad H. Jarausch/Hannes Siegrist (Hg.): Amerikanisierung und Sowjetisierung in Deutschland 1949–1970. Frankfurt am Main/New York 1997; Anselm Doering-Manteuffel: Dimensionen von Amerikanisierung in der deutschen Gesellschaft. In: Archiv für Sozialgeschichte 35 (1995), S. 1–34; ders: Wie westlich sind die Deutschen? Amerikanisierung und Westernisierung im 20. Jahrhundert. Göttingen 1999; ders.: Westernisierung. Politisch-ideeller und gesellschaftlicher Wandel in der Bundesrepublik bis zum Ende der 60er Jahre. In: Axel Schildt/Detlef Siegfried/Karl Christian Lammers (Hg.): Dynamische Zeiten. Die 60er Jahre in den beiden deutschen Gesellschaften. Hamburg 22003, S. 311–341; Ulrich Herbert (Hg.): Wandlungsprozesse in Westdeutschland. Belastung, Integration, Liberalisierung 1945–1980. Göttingen 2002.
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vom „Westernisierungs“-Projekt der Forschergruppe um Anselm Doering-Manteuffel – als „Konsensliberalismus“ bezeichnet wird. Darunter versteht man eine „westliche“, in erster Linie amerikanisch geprägte und durch die US-Marshallplan-Hilfe angestoßene, wenngleich in einem vielschichtigen Vorgang interkultureller Ideentransfers zwischen Westeuropa und den USA vermittelte, sozialdemokratisch – nicht sozialistisch – grundierte Spielart des Linksliberalismus. Er versuchte in ganz spezifischer Weise, Staat, Wirtschaft und Gesellschaft nach dem Zweiten Weltkrieg neu zu ordnen und zu restrukturieren. Als ideologischem Produkt des Kalten Krieges wohnte dieser Form von Liberalismus in normativer Hinsicht eine kompromisslose antikommunistische Spitze inne. Auf ökonomischem Feld zeichnete er sich – in Nachfolge des Rooseveltschen „New Deal“ der 1930er Jahre und dann vor allem inspiriert von der zeitgenössischen amerikanischen „New Left“ und den „New Economics“ um John Kenneth Galbraith und andere – durch pragmatisch-konsensualistische und keynesianische Handlungsmodelle aus. Mit ihnen sollte über Verfahren einer „gemäßigten Staatsplanung“ der Gegensatz zwischen „individualistischem Liberalismus“ und liberaler Marktwirtschaft einerseits und wohlfahrtsstaatlich-sozialpolitischer Reformtätigkeit und etatistisch-egalitären Gesellschaftsformen der „planification“ andererseits überwunden werden. Ziel war eine moderne Industrie- und Zivilgesellschaft im Rahmen eines „welfare capitalism“ oder „Konsenskapitalismus“ mit moderater staatsinterventionistischer Steuerungskompetenz, rationaler Gesellschaftsplanung und verstärkter Konjunkturpolitik (in der späteren deutschen Variante: „Globalsteuerung“) bei gleichzeitiger Akzeptanz der marktwirtschaftlichen Ordnung und der Sicherung von Wirtschaftswachstum und individueller Freiheit.6 Für meinen Beitrag, in dessen Mittelpunkt die Ideengeschichte der westdeutschen Wirtschaftskonzeption vor allem der 1950er und frühen 1960er Jahre steht, ergibt sich angesichts solcher Interpretationen allerdings eine paradoxe Ausgangskonstella6
Vgl. die bündige Darstellung in Doering-Manteuffel: Westernisierung, S. 321–327; ferner Michael Hochgeschwender: Was ist der Westen? Zur Ideengeschichte eines politischen Konstrukts. In: Historisch-politische Mitteilungen 11 (2004), S. 1–30; ders.: Freiheit in der Offensive? Der Kongreß für kulturelle Freiheit und die Deutschen. München 1998, hier bes. S. 68–86, 451ff., 466–479, 577–592, die folgenden Zitate S. 451, 577f. Hochgeschwender spricht von einer „bürgerlich-sozialdemokratischen Theoriebildung“ und formuliert, der „Anspruch des ‚consensus liberalism‘“ sei es, „das Aufklärungspathos des 18. Jahrhunderts, den liberalen Fortschrittsoptimismus des 19. Jahrhunderts und sozial-technische Modernisierungsbestrebungen des 20. Jahrhunderts auf einem hohen kulturell-geistigen Niveau miteinander zu verbinden“ sowie „altliberal individualistische Gedankengänge mit dem sozial motivierten, keynesianischen ‚social engineering‘ des US-amerikanischen Pragmatismus und dem Streben nach internationalistisch-kosmopolitischem Universalismus“ zu kombinieren. Zum konsensliberalen „Transmissionsriemen“ Marshall-Plan vgl. Michael J. Hogan: The Marshall Plan. America, Britain, and the Recontruction of Western Europe, 1947–1952. Cambridge 1987. Ein deutscher Weg in den Westen
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tion. Denn die nach 1948 gefundene Wirtschaftsordnung verband sich ja zunächst nicht unbedingt mit dem konsensliberalen Planungskonzept. Ihre Personifizierung waren nicht John Maynard Keynes oder John Kenneth Galbraith, es war vielmehr Ludwig Erhard (und ist es für viele bis heute); ihr werbeträchtiges Schlagwort, ihr zentrales und äußerst populäres Label lautete nicht „New Deal“ oder „Planung“, sondern „Soziale Marktwirtschaft“ (und auch das ist für viele bis heute so); und die prägenden wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Leitlinien, die dieses Begriffspaar und die damit verbundenen öffentlich-politischen Semantiken inhaltlich füllten, entstammten bei aller Uneindeutigkeit, Entwicklungsoffenheit und allen Bedeutungswandlungen von Konzeption wie Schlagwort zunächst weniger dem Keynesianismus (auch wenn es von Beginn an keynesianische Elemente gab), sondern weit mehr dem deutschen Ordo- und dem europäischen Neoliberalismus. Man könnte daher pointiert fragen: War all das dann nicht Teil oder nur der müde Auftakt des „richtigen“ westlichen Liberalismus und der „wirklich“ modernen liberalen „Westernisierung“? War es mehr die Fortführung eines nationalen sozioökonomischen Sonderwegs, denn das Einschwenken auf die „eigentlichen“ westlichen Ideenpfade? Oder sind es vielleicht die Interpretationskonzepte, die so eindeutig das konsensliberale Modell als (ökonomischen) Königsweg in den Westen akzentuieren, die zu kurz greifen? In diesem Problemrahmen bewegen sich die folgenden Ausführungen. Sie fragen danach, wie viel die wirtschaftspolitischen Konzepte von Ordo- und Neoliberalismus und die öffentlichkeitspolitischen Methoden zu deren Popularisierung transnational„westlichen“ Einflüssen, normativen Bezugsfeldern und Ideentransfers verdankten, und was davon in längeren nationalen Denkkontinuitäten stand, sich den Beharrungskräften nationaler Traditionsbestände und auch der Eigendynamik und dem Eigengewicht nationalspezifischer Transformations- und Anverwandlungsprozesse verdankte.7 Angesichts der prinzipiellen Bedeutung, die der Sozialen Marktwirtschaft als einem der einflussreichsten Ideenkonglomerate wie wirkmächtigsten Slogans im Nachkriegsdeutschland überhaupt und zumal unter den polarisierenden Bedingungen des „Kalten Krieges“ zukam, und angesichts der nachgerade identitätsstiftenden und staatslegitimierenden Funktion, die die boomende ökonomische Entwicklung in den 1950er und 1960er Jahren besaß8, lassen sich daraus wohl durchaus allgemeine 7
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Zum methodischen Rahmen übernationaler Transfer- und Ideengeschichte vgl. Johannes Paulmann: Internationaler Vergleich und interkultureller Transfer. Zwei Forschungsansätze zur europäischen Geschichte des 18. bis 20. Jahrhunderts. In: HZ 267 (1998), S. 649–685, bes. S. 673–681; sowie Anm. 70. Vgl. etwa die bekannte zugespitzte Formulierungen in Abelshauser: Wirtschaftsgeschichte, S. 11 (übernommen aus der Ausgabe von 1983): „Die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland ist vor allem ihre Wirtschaftsgeschichte. […] Die Bundesrepublik gleicht einer Wirtschaft auf der Suche nach ihrem politischen Daseinszweck.“ – Ferner z. B. Wolfgang J. Mommsen: Wandlungen der nationalen Identität. In: Werner Weidenfeld (Hg.): Die Identität
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und generalisierbare Schlüsse zur politischen Kultur der Bundesrepublik Deutschland und zu ihrem Weg in den politischen „Westen“ ableiten. Die Gabelungen und Markierungen dieses Wegverlaufs auf ökonomischem Terrain, aber in allgemeingesellschaftlichem und -politischem Umfeld können, so die Hypothese, auf die Existenz und langfristige Wirksamkeit von Formen und Modellen liberaler Westlichkeit aufmerksam machen, die deutlich jenseits des (keynesianischen) Konsensliberalismus lagen und die damit auch die Schlüssigkeit des „Westernisierungs“-Interpretaments kritisch hinterfragen, problematisieren und relativieren mögen.
1. Nationale Tradition und transnationale Einflüsse: Soziale Marktwirtschaft als ideengeschichtliches „Mischsystem“ und Werbelabel Weder die wirtschaftspolitische Konzeption des Ordo- und Neoliberalismus noch die dazugehörigen PR-Methoden, mit denen sie popularisiert wurde, waren eindeutige, monolithische Gebilde, sondern stellten ganz spezifische, komplexe Mischsysteme dar. Mit ihnen wurden schon in den ausgehenden 1940er und 1950er Jahren, also vor dem angeblichen Durchbruch via Konsensliberalismus, neue „westliche“ Gedanken und Praktiken adaptiert. Zugleich wurden diese aber aktiv in den festen Rahmen nationaler Traditionsbestände eingepasst. Ludwig Erhard und seiner Politik kam hierbei eine maßgebliche wirtschafts- wie symbolpolitische Vermittlungsfunktion zwischen alt und neu zu. Es dürfte bekannt sein, dass das von Erhard verfochtene, als Soziale Marktwirtschaft bezeichnete ökonomische Konzept in vielem in längeren deutschen Entwicklungs- und Erfahrungstraditionen stand.9 An erster Stelle ist hier das spezifische
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der Deutschen. München/Wien 1983, S. 170–192, hier S. 174ff.; Hartmut Kaelble (Hg.): Der Boom 1948–1973. Gesellschaftliche und wirtschaftliche Folgen in der Bundesrepublik Deutschland und in Europa. Opladen 1992, bes. S. 7–32; Michael Wildt: Am Beginn der „Konsumgesellschaft“. Mangelerfahrung, Lebenshaltung, Wohlstandshoffnung in Westdeutschland in den fünfziger Jahren. Hamburg 1994; Rainer Gries/Volker Ilgen/Dirk Schindelbeck: Gestylte Geschichte. Vom alltäglichen Umgang mit Geschichtsbildern. Münster 1989, S. 9, 67ff.; Rainer Gries/Volker Ilgen/Dirk Schindelbeck: „Ins Gehirn der Masse kriechen!“. Werbung und Mentalitätsgeschichte. Darmstadt 1995, S. 109ff. Zur verwickelten und oftmals widersprüchlichen Ideengeschichte der Wirtschaftsordnung, zur grundsätzlichen Problematik, die Werbeformel und rhetorische Figur „Soziale Marktwirtschaft“ inhaltlich-konzeptionell zu füllen, sowie zur öffentlichen Wahrnehmung Erhards und des „Wirtschaftswunders“ als eigendynamischer Politikgröße vgl. hier und in der Folge Bernhard Löffler: Soziale Marktwirtschaft und administrative Praxis. Das Bundeswirtschaftsministerium unter Ludwig Erhard. Stuttgart 2002, bes. S. 40–121, 252–295; ders.: Öffentliches Wirken und öffentliche Wirkung Ludwig Erhards. In: Jahrbuch des Historischen KolEin deutscher Weg in den Westen
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Staatsverständnis der deutschen Ordoliberalen um Walter Eucken und Franz Böhm oder auch von Alexander Rüstow, Wilhelm Röpke und Alfred Müller-Armack zu nennen. Ausgehend von den Erfahrungen der tiefen wirtschaftlichen und politischen Krisen der 1920er und 1930er Jahre lehnten diese zwar Formen direkten Staatsinterventionismus oder behördlich gelenkter Preis- und Lohnbildung ebenso ab wie ökonomische Monopole, Kartelle und Trusts, und die Diktaturerfahrungen während des „Dritten Reiches“, die bis zu einem gewissen Grad auch Erfahrungen einer Vereinnahmung und Instrumentalisierung der eigenen Positionen durch den Nationalsozialismus, zeitweise sogar von problematischen konzeptionellen „Teilidentitäten“ (etwa bei Müller-Armack) waren, haben hier auf lange Sicht die ordoliberale Kritik gegenüber zentralistischen „Kolossalgebilden“ auf staatlichem wie wirtschaftlichem Gebiet noch weiter gesteigert. Aber ein vitaler, über den Parteien stehender und relativ „starker Staat“ als marktkonformer Rahmengeber und als Sicherungsinstanz des „Gemeinwohls“ hat doch durchgehend und auch nach 1945 eine große Rolle gespielt, – eine weit größere jedenfalls als bei den angloamerikanischen Spielarten des Neoliberalismus oder bei den Vertretern der Österreichischen Grenznutzenschule um Ludwig von Mises und Friedrich August von Hayek.10 Auf lange Sicht versuchte man, diese Gratwanderung, den „Nachtwächterstaat“ und allzu starke Staatseingriffe gleichermaßen zu vermeiden, in der klassischen Unterscheidung Walter Euckens zwischen „marktkonformer Formenplanung“ und „marktwidriger Prozessplanung“ konzeptionell einzufangen und aufzulösen.11 In manchen Facetten spiegelte sich dieses Staatsverständnis aber auch in Programmentwürfen wie der 1965 von Ludwig Erhard propagierten Vision einer „Formierten Gesellschaft“, in der die Partei-, Interessen-
legs 2003, S. 121–161; Anthony J. Nicholls: Freedom with Responsibility. The Social Market Economy in Germany, 1918–1963. Oxford 1994; Keith Tribe: Strategies of economic order. German economic discourse, 1750–1950. Cambridge 1995, S. 203ff., 233ff.; Martin Wengeler: Vom Jedermann-Programm bis zur Vollbeschäftigung. Wirtschaftspolitische Leitvokabeln. In: Karin Böke/Frank Liedtke/Martin Wengeler (Hg.): Politische Leitvokabeln der Adenauer Ära. Berlin 1996, S. 379–434, bes. S. 388–400, 422ff., 431ff.; Dirk Schindelbeck/ Volker Ilgen: „Haste was, biste was!“. Werbung für die soziale Marktwirtschaft. Darmstadt 1999; Mark Spoerer: Wohlstand für alle? Soziale Marktwirtschaft. In: Thomas Hertfelder/ Andreas Rödder (Hg.): Modell Deutschland. Erfolgsgeschichte oder Illusion?. Göttingen 2007, S. 28–43. 10 Vgl. Löffler: Marktwirtschaft, S. 41–50; zu den Differenzierungen Näheres in Punkt II mit Anm. 67. 11 Walter Eucken: Die Wettbewerbsordnung und ihre Verwirklichung. In: Ordo 2 (1949), S. 1–99, hier S. 92f.: „Der Staat hat die Formen, das institutionelle Rahmenwerk, die Ordnung, in der gewirtschaftet wird, zu beeinflussen, und er hat die Bedingungen zu setzen, unter denen sich eine funktionsfähige und menschenwürdige Ordnung entwickelt. Aber er hat nicht den Wirtschaftsprozeß selbst zu führen.“
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und Klassengegegensätze durch eine „ganzheitliche Ordnung“ (was immer das sein mochte) überwunden werden sollten.12 Einen wichtigen mentalitätsgeschichtlichen Strang nationaler Kontinuität stellen sodann die ideellen Prägekräfte der besonderen deutschen Inflationserfahrungen dar. Sie standen an der Wiege ordoliberaler Diskussionen in den 1920er Jahren; sie wurden in der inflationären Phase 1945 bis 1948 ein weiteres Mal im kollektiven Bewusstsein der Nation verankert; und sie fanden ihren direkten Niederschlag in der speziellen Ausgestaltung der Wirtschaftskonzeption, in der den Fragen der Währungsordnung und -politik ein ganz besonderes Gewicht zugestanden wurde. Im „Primat der Währungspolitik“ sah Eucken gar den Ankerpunkt des gesamten erneuerten Wirtschaftssystems. An der Wahrung der Geldwertstabilität habe sich jede wettbewerbliche und freiheitliche Wirtschaftspolitik auszurichten, weil nur sie die Position der Verbraucher schützen und den freien Konsumfluss ermöglichen könne. Ihre langfristige Institutionalisierung fand diese Ideologie in der Konstruktion und der öffentlichen Reputation der unabhängigen, ganz auf das Preisstabilitätsziel fixierten deutschen Zentralbank sowie in dem enormen Ansehen der D-Mark als regelrechtem nationalen „Erinnerungsort“. Noch die Auseinandersetzungen im Zuge der Euro-Einführung wurden als Ausdruck und Ausfluss dieser nationalspezifischen „Währungs-“ und „Stabilitätskultur“ gedeutet.13 Ganz additiv (und ohne Anspruch auf Vollständigkeit) kann man schließlich noch auf einige weitere zentrale und äußerst langlebige Elemente spezifisch deutscher Unternehmens- und Wirtschaftstraditionen verweisen, die ebenfalls wie große Kontinuitätsschleusen wirkten: auf die vielen korporativistischen Traditionen der deutschen Sozial-, Wirtschafts- und Unternehmenspolitik etwa, die den Strukturbruch von 1948 überdauert haben und – vom Investitionshilfegesetz über das Mitbestimmungsrecht bis hin zur Konzertierten Aktion – den Einfluss korporativer intermediärer Interessenabstimmung auch zu einem essentiellen Teil der Wirtschaftsverfassung nach 1945/48 gemacht haben; auf die Struktur und Kultur der deutschen Geschäfts12 Vgl. Heinzgerd Schott: Die formierte Gesellschaft und das Deutsche Gemeinschaftswerk. Zwei gesellschaftspolitische Konzepte Ludwig Erhards. Bonn 1982; allgemeiner Paul Nolte: Die Ordnung der deutschen Gesellschaft. Selbstentwurf und Selbstbeschreibung im 20. Jahrhundert. München 2000, S. 386ff.; zur Problematik dieses Staatsverständnisses vgl. unten Punkt II mit Anm. 46. 13 Bernhard Löffler: Währungsrecht, Bundesbank und deutsche „Stabilitätskultur“ nach 1945. Überlegungen zu mentalitätsgeschichtlichen Dimensionen normativ-institutioneller Regelungen. In: Manfred Seifert/Winfried Helm (Hg.): Recht und Religion im Alltagsleben. Perspektiven der Kulturforschung. Passau 2005, S. 61–82; ders.: Marktwirtschaft, S. 43–47; ders. (Hg.): Die kulturelle Seite der Währung. Europäische Währungskulturen, Geldwerterfahrungen und Notenbanksysteme im 20. Jahrhundert (Beiheft zur Historischen Zeitschrift). München 2010; ferner Harold James: Die D-Mark. In: Etienne François/Hagen Schulze (Hg.): Deutsche Erinnerungsorte, Bd. 2. München 22002, S. 434–449. Ein deutscher Weg in den Westen
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banken mit ihren hohen Industrieanteilen, dem vergleichsweise geringen Engagement im Investmentbanking und der Ausrichtung am Universalbanksystem, die in der Rekonstruktion der großen Aktienbanken 1957 eine ausdrückliche Bestätigung fanden; oder auf die Traditionen der durchaus nationaltypischen Unternehmenskultur starker Familienunternehmen, die Harold James zu dem Resümee veranlassten, „Germany remained a land of family capitalism, despite some erosion after the 1970s“.14 Aber alle diese Kontinuitätselemente beschreiben nur die eine Seite der Wirklichkeit. Denn den skizzierten nationalen Traditionen wurde nach 1945 gleichzeitig eine stark veränderte strategische Generalausrichtung verliehen; sie wurden gebunden an neue Normen, Denk- und Handlungssysteme, die man als liberal, modern, „westlich“ charakterisieren kann; und eine maßgebliche Rolle in diesem Wandlungsvorgang spielte Ludwig Erhard als Promoter und politischer Patron der Sozialen Marktwirtschaft. An drei Punkten soll das illustriert werden. Zentral war an erster Stelle die von Erhard und seinen Gefolgsleuten betriebene Liberalisierung nach innen mit marktnaher Preisbildung (jedenfalls im Konsumgütersektor), wie sie mit dem sogenannten Leitsätzegesetz von 1948 ihren ersten programmatischen Ausdruck fand.15 Noch allgemeiner gesprochen und dahinter stehend, war es die zunehmende Orientierung der Wirtschaftskultur und „Produktionsideologie“ an den Maßgaben und Bedürfnissen einer beweglich-individualistischen Konsumgüter- und einer qualitätvollen Veredelungsindustrie, die zwar auf großindustrieller Fertigungstechnik basieren, aber doch entschieden den eingefahrenen Handlungsrahmen der traditionellen, großteiligeren Schwer-, Montan- und Investitionsgüterin14 Harold James: Continuities and Structural Breaks in German Economic History in the Twentieth Century. In: Anselm Doering-Manteuffel (Hg.): Strukturmerkmale der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts. München 2006, S. 121–131, Zitat S. 129; zum Korporativismus Abelshauser: Wirtschaftsgeschichte, S. 51–59, 162–174; Spoerer: Wohlstand, S. 39f.; insgesamt zum Thema auch Volker Berghahn/Sigurt Vitols (Hg.): Gibt es einen deutschen Kapitalismus? Tradition und globale Perspektiven der sozialen Marktwirtschaft. Frankfurt am Main/New York 2006, bes. S. 9ff., 16–21, 27–30, 44–59, 186–199. 15 Gesetz über Leitsätze für die Bewirtschaftung und Preispolitik nach der Geldreform vom 24.6.1948, in dem postuliert wurde, „das aus der Vergangenheit stammende, kaum noch wirksame Zwangssystem“ aufzulockern und den „Markt stärker zur Steigerung der Wirtschaftlichkeit in Erzeugung und Verteilung“ einzusetzen. Die beiden wichtigsten Leitsätze lauteten: „Der Freigabe aus der Bewirtschaftung ist vor ihrer Beibehaltung der Vorzug zu geben. […] Der Freigabe der Preise ist vor der behördlichen Festsetzung der Vorzug zu geben“. Die Debatten zum Leitsätzegesetz in: Wörtliche Berichte und Drucksachen des Wirtschaftsrates des Vereinigten Wirtschaftsgebietes 1947–1949, hg. v. Institut für Zeitgeschichte und dem Deutschen Bundestag, Wissenschaftliche Dienste, bearb. v. Christoph Weisz/Hans Woller, 6 Bände. München/Wien 1977, hier Bd. 3, S. 623–638, 652–667; Erörterung bei Gerold Ambrosius: Die Durchsetzung der Sozialen Marktwirtschaft in Westdeutschland 1945–1949. Stuttgart 1977.
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dustrie verlassen sollte. Michael Prinz spricht davon, „Atlantiker wie Ludwig Erhard“ hätten nach 1945 bewusst und ausdrücklich die „Idee des customer citizen“ aufgegriffen.16 Das hat zu einem gewissen Anteil wohl bereits zu tun mit Erhards persönlicher beruflicher Prägung, die in den 1920er und 1930er Jahren ihren Ausgang in einem Marktforschungsinstitut für Konsum- und Fertigwaren nahm und auch in der Folge ein stetes Interesse für Fragen des Marketings, der Markenwerbung und des Industriedesigns, von Verbrauchsforschung, Verbraucherschutz und dergleichen fundierte.17 Es zeigte sich dann in den hauptsächlich auf Währungssanierung zielenden Nachkriegsplanungen, die ja vor allem eines bezweckten: die Restituierung der Konsumgütermärkte, die Neubelebung des Konsumangebots (nicht zuletzt zur „Abschöpfung“ des währungspolitisch prekären „Kaufkraftüberhangs“) und die Stabilisierung der Verbraucherexistenzen.18 Und es verdeutlichte sich schließlich in dem eben erwähnten liberalen Reformschritt von 1948 und in der folgenden Wettbewerbspolitik der 1950er Jahre, deren konzeptionelle Mitte die Freigabe von Konsumgüterpreisen und die Sicherung des Konsumgüterangebots war.19 16 Michael Prinz: Die konsumgesellschaftliche Seite des „Rheinischen Kapitalismus“. In: Berghahn/Vitols (Hg.): Kapitalismus, S. 113–128, hier S. 124. Vgl. beispielhaft etwa Erhards Rede anlässlich der Eröffnung der Internationalen Messe in Frankfurt, 11.3.1951, in Ludwig Erhard: Deutsche Wirtschaftspolitik. Der Weg der Sozialen Marktwirtschaft. Düsseldorf/ Wien/Frankfurt am Main 1962, S. 153–162; ders.: Deutschlands Rückkehr zum Weltmarkt. Düsseldorf 1953, S. 25ff.; ferner Dieter Mertins: Veränderungen der industriellen Branchenstruktur in der Bundesrepublik 1950–1960. In: Heinz König (Hg.): Wandlungen der Wirtschaftsstruktur in der Bundesrepublik Deutschland. Berlin 1962, S. 439–468; Christian Kleinschmidt: Konsumgesellschaft, Verbraucherschutz und Soziale Marktwirtschaft. Verbraucherpolitische Aspekte des „Modells Deutschland“ (1947–1975). In: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 2006/I, S. 13–28; sowie die Beiträge in Berghahn/Vitols (Hg.): Kapitalismus, hier v. a. S. 16f., 37–41, 113–165 (wenig überzeugend darin allerdings die Einschätzung Berghahns, S. 37ff., der Erhard als Protagonisten der oligopolistisch organisierten Großindustrie charakterisiert und ihn damit in Gegensatz zur ordoliberalen Mittelstandsideologie selbständiger Verbraucher- und Unternehmerexistenzen zu stellen versucht). 17 Löffler: Wirken, S. 136ff., u. ö.; zu den Rahmenbedingungen der Institutstätigkeit Erhards siehe Georg Bergler: Die Entwicklung der Verbrauchsforschung in Deutschland und die Gesellschaft für Konsumforschung bis zum Jahre 1945. Kallmünz 1960; Erich Schäfer: Die Institutszeit in Nürnberg. In: Gerhard Schröder/Alfred Müller-Armack/Karl Hohmann/Johannes Gross/Rüdiger Altmann (Hg.): Ludwig Erhard. Beiträge zu seiner politischen Biographie. Festschrift zum 75. Geburtstag. Frankfurt am Main/Berlin/Wien 21972, S. 603–613; Volkhard Laitenberger: Ludwig Erhard. Der Nationalökonom als Politiker. Göttingen/Zürich 1986, S. 18–24. 18 Am berühmtesten ist hier Ludwig Erhard: Kriegsfinanzierung und Schuldenkonsolidierung. Faksimiledruck der Denkschrift 1943/44. Frankfurt am Main 1977; Erörterung mit weiteren Literaturangaben bei Löffler: Marktwirtschaft, S. 56ff. 19 Im Überblick etwa Laitenberger: Erhard, S. 62–73, 108–117. Ein deutscher Weg in den Westen
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Diese primäre Ausrichtung auf Branchen und Logiken der Konsumgüter- und Fertigwarenindustrie legte Erhard nicht nur eine stärker wettbewerblich akzentuierte ökonomische Ratio nahe, waren diese Wirtschaftszweige doch seit jeher weit weniger planungsintensiv und viel marktnäher organisiert als die Schwerindustrie mit ihren großen Produktionsverbünden und Kartellen. Sie waren auch immer auf besonders enge Außenhandelsverflechtung, flexiblen internationalen Austausch und eine weiträumige Arbeitsteilung angewiesen. Und mit dieser liberal-beweglichen und dezentral angelegten Branchenstruktur, auch mit der dahinter stehenden „human-zivilen“ Ästhetik, mit dem aufs Private und Häuslich-Familiäre, auf unspektakuläre Alltäglichkeit, das individuelle Konsumglück und das Leitbild des mündigen, informierten, zufriedenen Verbrauchers und Kunden bezogenen Charakter, konnte nicht zuletzt auf der ideologisch-normativen Ebene eine moderne, „westliche“ Wirtschaftskultur signalisiert werden, die sich dezidiert von der auf die uniforme Volksgemeinschaft zielenden Gigantomanie, der spektakulären Gewaltsamkeit und der brachialen öffentlichen Monumentalität der Kriegsökonomie vor 1945 und ihrer „produktionistischen Philosophie“ (M. J. Hogan) absetzte und die in der Tat als Äquivalent zur freien demokratischen Wahlkultur zu interpretieren war.20 Massenkonsum, Konsumfreiheit oder, wie es in dem Erhard-Bestseller von 1957 und im CDU-Wahlkampf desselben Jahres lautete: „Wohlstand für Alle“ waren, so gesehen, nicht nur Politpropaganda oder wirtschaftspolitisches Programm, sondern Mittel zum Zweck, freiheitliche Umgangsformen zu schulen, die westdeutsche Demokratie zu stabilisieren und – zumal in Kontrast zum wohlstands- und konsumarmen „Osten“ – politisches Vertrauen in das „westliche“ Verfassungssystem zu generieren.21 20 Michael J. Hogan zitiert bei Harold James: Rambouillet, 15. November 1975. Die Globalisierung der Wirtschaft. München 1997, S. 76; zur angedeuteten ideen- und kulturhistorischen Dimension vgl. v. a. die sehr instruktive Studie von Paul Betts: The Authority of Everyday Objects. A Cultural History of West German Industrial Design. Berkeley/Los Angeles/London 2004, bes. S. 8f., 14–17, 178–247; ferner Arnold Sywottek: From Starvation to Excess? Trends in the Consumer Society from the 1940s to the 1970s. In: Hanna Schissler (Ed.): The Miracle Years. A Cultural History of West Germany, 1949–1968. Princeton/Oxford 2001, S. 341–358. – Zum endgültigen „Abgesang“ der Schwerindustrie in den 1970er Jahren: Charles S. Maier: Consigning the Twentieth Century to History: Alternative Narratives for the Modern Era. In: American Historical Review 105 (2000) 3, S. 807–831; ders.: Two Sorts of Crisis? The „long“ 1970s in the West and the East. In: Hans Günter Hockerts (Hg.): Koordinaten deutscher Geschichte in der Epoche des Ost-West-Konflikts. München 2004, S. 49–62; Anselm Doering-Manteuffel/Lutz Raphael: Nach dem Boom. Perspektiven auf die Zeitgeschichte seit 1970. Göttingen 2008, bes. S. 34–56. – Zur expliziten Parallelisierung von ökonomischer Konsum- und politischer Wahlfreiheit etwa bei Erhard, Alexander Rüstow oder Wilhlem Röpke vgl. Löffler: Marktwirtschaft, S. 64–70; und oben Anm. 3. 21 Ludwig Erhard: Wohlstand für Alle. Düsseldorf 1957, hier S. 7–17, 199ff.; Volker R. Berghahn: Das „deutsche Kapitalismus-Modell“ in Geschichte und Geschichtswissenschaft. In:
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Es ist in diesem Zusammenhang auch ganz bezeichnend, dass den für die Wirtschaftswunder-Zeit phänotypisch charakteristischsten Industriellentypus „neue“ Unternehmerpersönlichkeiten wie Josef Neckermann, Max Grundig, Gustav Schickedanz, später Otto Beisheim oder Reinhard Mohn repräsentierten. Sie alle entstammten der Konsumgüterindustrie und innovativen Handelssegmenten wie dem Versandgeschäft oder einem kundennahen Haushaltselektronikgewerbe, und sie alle stellten sich bewusst der „demokratischen“ Konsumkonkurrenz auf dem Markt. Der sozialkritische Publizist Hans Magnus Enzensberger deutete den halbjährlich erscheinenden Neckermann-Katalog denn auch ganz entsprechend als weit über den wirtschaftlichen Verbrauch hinausgehendes Meinungsbarometer mit durchaus politischen Dimensionen: Der Katalog sei „unbestechlicher und genauer als jede demoskopische Untersuchung“, registriere er doch nicht „unverbindliche Antworten auf unverbindliche Umfragen“, sondern „Beschlüsse der kompakten Majorität, die in bar bezahlt werden“. Er müsse stets so beschaffen sein, „daß sich eine Mehrheit auf ihn einigen kann“. Er sei daher „mehr als das Resultat einer normalen kaufmännischen Kalkulation: er ist das Resultat eines unsichtbaren Plebiszits“.22 Sodann als zweiter Punkt und mit dem eben Gesagten ursächlich zusammenhängend: Die von Erhard verantwortete Wirtschaftspolitik fußte nicht nur auf einer Liberalisierung nach innen, sondern ebenso stark auf einer solchen nach außen. Konkret bedeutete das (jedenfalls als regulative Idee) die Durchsetzung eines multilateral ders./Vitols (Hg.): Kapitalismus, S. 25–43, hier S. 37, formuliert plastisch, für Erhard seien „eine lebendige demokratische Verfassung und eine prosperierende Wirtschaft, die dem Durchschnittsbürger einen höheren Lebensstandard bescherte, wie kommunizierende Röhren miteinander verbunden“ gewesen; Betts: Authority, S. 9, spricht von der „trinty of consumer satisfaction, social welfare, and political stability“; vgl. auch Horst F. Wünsche: Ludwig Erhards Gesellschafts- und Wirtschaftskonzeption. Soziale Marktwirtschaft als politische Ökonomie. Bonn 1986, S. 123–135; zum Element der Kontrastierung des „Ostens“ siehe M. Rainer Lepsius: Die Teilung Deutschlands und die deutsche Nation. In: Lothar Albertin/ Werner Link (Hg.): Politische Parteien auf dem Weg zur parlamentarischen Demokratie in Deutschland. Düsseldorf 1981, S. 417–449, hier S. 419ff. 22 Hans Magnus Enzensberger: Das Plebiszit der Verbraucher. Frankfurt am Main 1960, Nachdruck 1962, hier S. 137f.; davor James: Continuities, S. 130f., der ausdrücklich auf den Strukturbruch aufmerksam macht, der in dieser Akzentuierung liegt: „The cultivation of consumer markets required an ability quickly to respond to shifts in demand and fashion: and this could not be careful planned in the way that had been part of the traditional German industrial culture“. – Zur Wandlung des Unternehmensbildes und der Unternehmensstrategien vgl. ferner Susanne Hilger: „Amerikanisierung“ deutscher Unternehmen. Wettbewerbsstrategien und Unternehmenspolitik bei Henkel, Siemens und Daimler-Benz (1945/49–1975). Stuttgart 2004; Christian Kleinschmidt: Der produktive Blick. Wahrnehmung amerikanischer und japanischer Management- und Produktionsmethoden durch deutsche Unternehmer 1950–1985. Berlin 2002. Ein deutscher Weg in den Westen
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organisierten, möglichst freien Welthandels auf der Basis der allgemeinen „unbedingten Meistbegünstigung“, mit allzeit „einlöslichen Währungen“, einer starken transatlantischen Komponente und ohne Beschränkungen durch Kontingente, protektionistische Zölle oder regionale Diskriminierungen. Es ist kein Zufall, dass Erhards erstes Buch unter dem programmatischen Titel „Deutschlands Rückkehr zum Weltmarkt“ erschien; Weltmarktorientierung erklärte er darin zu „Kern und Voraussetzung unserer Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung schlechthin“. Unter seiner Ägide wurde die junge Bundesrepublik tatsächlich zu einem ausgesprochenen „pacemaker for liberalization“.23 Diese frühe „Weichenstellung für die Globalisierung“ (R. Neebe) besaß eine institutionelle Seite und verfestigte sich etwa im raschen Beitritt der Bundesrepublik zur World Trade Organization (WTO), zum General Agreement on Tariffs and Trade (GATT), zum Internationalen Währungsfonds (IWF) oder zur Weltbank. Zugleich aber spiegelten sich darin auch Vorstellungen eines tiefgreifenden gesellschaftlichen Wertewandels. Die ökonomische Außenliberalisierung wurde ausdrücklich als Teil einer „kulturell-politischen Mission“ und als Fundament einer neuen globalisierten Zivilgesellschaft verstanden. Sie sollte mit dem Protektionismus und den traditionellen Großraumvorstellungen auch viele Denkstrukturen des herkömmlichen Nationalismus aufbrechen und die Basis für ein tolerantes Auskommen der westlichen Staaten legen. Und sie sollte zugleich diesen politischen Westen im Zeichen des Kalten Krieges zusammenbinden und gegen die Einflüsse des „Ostens“ immunisieren.24 Zu beachten bleibt indes für die innere wie für die äußere Liberalisierung, dass sich dieser Modernisierungsprozess nicht im Sinne der Übertragung eines externen Mo23 Herbert Giersch/Karl-Heinz Paqué/Holger Schmieding: The fading miracle. Four decades of market economy in Germany. Cambridge 1992, S. 106; davor Erhard: Rückkehr, S. 7; zudem Christoph Buchheim: Die Wiedereingliederung Westdeutschlands in die Weltwirtschaft 1945–1958. München 1990; Reinhard Neebe: Weichenstellung für die Globalisierung. Deutsche Weltmarktpolitik, Europa und Amerika in der Ära Ludwig Erhard. Köln/Weimar/ Wien 2004; ders.: Ludwig Erhard und die Globalisierung. Konzeptionen und Kontroversen deutscher Weltmarktpolitik im 20. Jahrhundert. In: Berghahn/Vitols (Hg.): Kapitalismus, S. 169–185; sowie Bernhard Löffler: Globales Wirtschaftsdenken vor der Globalisierung. Weltwirtschaftliche Ordnungsvorstellungen bei Konrad Adenauer und Ludwig Erhard. In: Eckart Conze (Hg.): Die Herausforderung des Globalen in der Ära Adenauer (Rhöndorfer Gespräche, Bd. 24). Bonn 2010 [im Erscheinen]. 24 Vgl. etwa die bereits erwähnte Rede Erhards anlässlich der Eröffnung der Internationalen Messe in Frankfurt am Main, 1951: Erhard: Wirtschaftspolitik, bes. S. 155, 161f.; sowie ders.: Rückkehr, hier S. 5ff., 18, 272; Erörterung bei Neebe: Weichenstellung, S. 18, 297ff., 518, 523, u.ö.; Alfred C. Mierzejewski: Ludwig Erhard. Der Wegbereiter der Sozialen Marktwirtschaft. Biografie. München 2005, S. 66ff., 71ff.; Löffler: Marktwirtschaft, S. 68ff.; Anette Koch-Wegener: Apostle of the Free Market Economy. Ludwig Erhard und die Soziale Marktwirtschaft aus US-amerikanischer Perspektive, 1949–1955. Marburg 2005.
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dells, etwa des amerikanischen Marktmodells, vollzog. Erhard und seine Mitstreiter standen auch weiterhin und fortdauernd in den angedeuteten Traditionen nationaler ordnungspolitischer Vorstellungen (vom Staats- bis zum Währungsverständnis), und auch viele der nach 1945/48 in den Vordergrund tretenden Akzentuierungen, die Konsumausrichtung oder die Außenhandelsliberalisierung, besaßen durchaus ihre deutsche Vorgeschichte: von der „ersten“ Globalisierungsphase um 1900 über die Traditionen des Weimarer Konsumismus und Industriedesigns, das nach 1945 teilweise bewusst über die USA wieder re-importiert wurde („the Bauhaus idea come home“), bis hin zur eigentümlichen nationalsozialistischen Konsumkultur.25 Aber diese Traditionen wurden nun neu ausgerichtet und modifiziert durch äußere, vor allem amerikanische Einflüsse, durch innovative Konsum- und Werbepraktiken etwa oder die amerikanischen wettbewerbspolitischen Anti-Trust- und Freihandelsvorstellungen. Reinhard Neebe hat das Ergebnis als eine „industriekulturelle Synthese“ von amerikanischer Wirtschaftskultur und deutscher Wirtschaftsmentalität charakterisiert; die Ideengeber und Propagandisten der westdeutschen Wirtschaftsordnung selbst sprachen von einem „evolutiven“, flexiblen und entwicklungsoffenen System, in dem sich unterschiedliche Einflussstränge (nationale wie transnationale, wettbewerbliche wie korporative) verknüpften.26 Es ist vornehmlich die Fähigkeit, eine solche Kombination politisch zu ermöglichen, abzusichern und unter dem Label „Soziale Marktwirtschaft“ unter die Leute zu bringen, die die persönliche Bedeutung Erhards ausmacht (und weit weniger eine stringente Konzeptualisierung). Denn erst durch diesen Akt der ideengeschichtlichen Verbindung von Altem und Neuem, durch die 25 Vgl. Sebastian Conrad: Globalisierung und Nation im Deutschen Kaiserreich. München 2006; Betts: Authority, S. 11–14, 23–72, 109–138, 149ff., 169ff., Zitat zum Bauhaus S. 14; Hans Dieter Schäfer: Das gespaltete Bewußtsein. Vom Dritten Reich bis zu den langen Fünfziger Jahren. Erw. Neuauflage Göttingen 2009; Michael Prinz/Rainer Zitelmann (Hg.): Nationalsozialismus und Modernisierung. Darmstadt 21994. 26 Neebe: Weichenstellung, S. 507; zur „evolutiven Wirtschaftsordnung“ Soziale Marktwirtschaft vgl. etwa Alfred Müller-Armack: Wirtschaftslenkung und Marktwirtschaft [1946], Stil und Ordnung der Sozialen Marktwirtschaft [1952], Die Soziale Marktwirtschaft nach einem Jahrzehnt ihrer Erprobung [1959]. Alles in: ders.: Wirtschaftsordnung und Wirtschaftspolitik. Studien und Konzepte zur Sozialen Marktwirtschaft und zur europäischen Integration. Freiburg im Breisgau 1966, bes. S. 167ff., 235–242, 257–264; ferner Otto Schlecht: Die Genesis der Sozialen Marktwirtschaft. In: Otmar Issing (Hg.): Zukunftsprobleme der Sozialen Marktwirtschaft. Berlin 1981, S. 9–31; sowie die Überlegungen von Knut Borchardt: Die Konzeption der Sozialen Marktwirtschaft in heutiger Sicht. In: ebd., S. 33–52; Löffler: Marktwirtschaft, S. 119ff.; Günther Schulz: Soziale Marktwirtschaft in historischer Perspektive. In: Historisch-politische Mitteilungen 4 (1997), S. 169–174; Richard H. Tilly: Gab es und gibt es ein „deutsches Modell“ der Wirtschaftsentwicklung? In: Jürgen Osterhammel/ Dieter Langewiesche/Paul Nolte (Hg.): Wege der Gesellschaftsgeschichte (Geschichte und Gesellschaft, Sonderheft 22). Göttingen 2006, S. 219–237. Ein deutscher Weg in den Westen
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nationalspezifische Anverwandlung der Neuerungen und ihre Einbettung in den Rahmen nationaler Traditionen, verschaffte er dem Nachkriegssystem Akzeptanz und Vertrauen. Damit ist bereits eine dritte Dimension dieser national gebrochenen Form „westlicher“ Innovation angeklungen. Es war ja schon öfter die Rede davon, dass „Soziale Marktwirtschaft“ immer auch ein Vermarktungsprodukt und Teil eines öffentlichen Vermittlungsvorgangs war. Ludwig Erhard selbst hat seine Wirtschaftspolitik stets bewusst mit bemerkenswerten Formen von Öffentlichkeitspolitik, symbolischer Inszenierung und auch Selbstmarketing verwoben. Man mag dabei streiten, ob es wirklich angebracht ist, die „Soziale Marktwirtschaft“ und das „Wirtschaftswunder“ (samt dessen vermeintlichem „Vater“) auf reine „Leerformeln“, affirmative Politslogans, affektive „rhetorische Figuren“ und geniale Medienprodukte zu reduzieren, die nicht inhaltlich, sondern allein aufgrund der „integrativen Kraft ihrer politischen Semantik“ wirkten. Aber sie sind es jedenfalls auch. Oder anders gewendet: Die öffentliche „Meinungspflege“ war von Beginn an immanenter Bestandteil der Wirtschaftspolitik; beides, Wirtschaftspolitik und Symbolpolitik, bildeten zwei Seiten ein und derselben Medaille.27 Für unseren Kontext ist nun ganz entscheidend, dass auch auf dieser symbolpolitischen Ebene des Politmarketings eingespielte Traditionen und Imagestereotype mit neuen Public-Relations-Strategien und ausgesprochen modernen öffentlichkeitspolitischen Methoden kombiniert wurden. So hat Erhard in vielem Aktionsformen fortgeführt, deren Umfeld er selbst beruflich entstammte: die deutsche GemeinschaftsWerbung eines Hanns W. Brose beispielsweise oder die Techniken und Strategien zur Marktbeobachtung und Konsumanalyse, die er seit 1929 als Marktforscher und Unternehmensberater am Nürnberger „Institut für Wirtschaftsbeobachtung der deutschen Fertigware“ handfest erprobt oder von den finanzpsychologischen und betriebswirtschaftlichen Arbeiten Günter Schmölders oder Wilhelm Vershofens übernommen hatte. Überdies konnte er anknüpfen an einige spezifisch deutsche Theoriekonzepte 27 Vgl. dazu hier und in der Folge die Titel in Anm. 9, v.a. Löffler: Wirken; Spoerer: Wohlstand, hier S. 28f., 42 (der allerdings m. E. die „symbolisch-diskursive“ und „reale“ Seite zu stark gegeneinander ausspielt); Schindelbeck/Ilgen: Haste was; darüber hinaus Kurt W. Rothschild: Zur Leistungsfähigkeit eines wirtschaftspolitischen Slogans. In: Wolfram Fischer (Hg.): Währungsreform und Soziale Marktwirtschaft. Erfahrungen und Perspektiven nach 40 Jahren. Berlin 1989, S. 635–638; Mark E. Spicka: Selling the Economic Miracle. Economic Reconstruction and Politics in West Germany, 1949–1957. New York/Oxford 2007; insgesamt zur recht modernen und aktiven Öffentlichkeits- bzw. Kommunikationspolitik der Regierungen Adenauers Frank Bösch: Das Politische als Produkt. Selbstbeobachtungen und Modernisierungen in der politischen Kommunikation der frühen Bundesrepublik. In: Habbo Knoch/ Daniel Morat (Hg.): Kommunikation als Beobachtung. Medienwandel und Gesellschaftsbilder 1880–1960. München 2003, S. 229–248.
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zur Aktivierung von Öffentlichkeitspolitik, wie sie sich in den Veröffentlichungen von Hans Edgar Jahn, Albert Oeckl, Carl Hundhausen oder Ernst Vogel fanden.28 Aber auch hier kam es nach 1945 zu produktiven Neu-Aneignungen von vornehmlich amerikanischen PR-Theorien, Demoskopiemethoden und Studien zu Struktur und kommunikativer Beeinflussung der öffentlichen Meinung (auch zur Neu-Aneignung von Inszenierungsformen wie dem Comic-Strip oder dem Werbefilm im Kinovorprogramm); zu nennen ist besonders die Rezeption der Schriften von Edward L. Bernays, Paul Lazarsfeld, George Creel, Eric W. Stoetzner und Walter Lippmann. Diese Mischung ist nicht zuletzt deshalb so interessant, weil sie hohe normativ-politische Qualität besaß. Zum einen sicherte sie der diskreditierten deutschen Politwerbung die Legitimität und Würde demokratischer Werbung. Aus der NS-kontaminierten Propaganda wurden so die diskursive Öffentlichkeitspolitik und die sanfte, persuasive „Meinungspflege“, die nicht weiter als Indoktrination galten, sondern jetzt als unerlässliches Instrument demokratischer Information für mündige Staatsbürger und Wähler wie für marktnahe Konsumenten und Produzenten angesehen wurden. Zum anderen konnte diese öffentlichkeitspolitische „Meinungspflege“ im Kontext des Kalten Krieges und der zeitgenössischen Totalitarismustheorien ideologisch aufgeladen und in den Rang einer „gesellschaftsethischen Therapeutik“ (C. Hundhausen) erhoben werden. Wie man die Methode einer freien marktwirtschaftlichen Konsumentscheidung parallelisierte mit derjenigen der demokratischen Wahlentscheidung und wie man das Konzept der Sozialen Marktwirtschaft als entsprechenden wirtschafts- und allgemeinpolitischen Entwurf betrachtete, so sollten auch die Instrumentarien von Werbung und Demoskopie über rein ökonomische Zusammenhänge hinausweisen: Als Fundament zur Gewährleistung einer freiwilligen Zustimmung in einer von selbstverantwortlichen Individuen bestimmten Gesellschaft stellte Werbung das Gegenprinzip dar zu dirigistischen, totalitären und kollektivisti28 Die Werbung galt Erhard dabei als zentrales, „aus der Entfaltung des Marktes heraus zu begreifendes Mittel zur Erleichterung der Marktübersicht“ und damit als Grundvoraussetzung jeder Unternehmens- und Konsumentscheidung im Wettbewerb. Vgl. Ludwig Erhard: Werbewirtschaft und Werbegestaltung. In: Die deutsche Fertigware, 1937/III, Teil A, S. 51–60; ders.: Marktverbände und Gemeinschaftswerbung. In: ebd. 1935/IV, Teil A, S. 65–69; ders.: Werbung und Konsumforschung. In: ebd. 1936/III, Teil A, S. 41–48; ders.: Marktordnung und Konsumforschung. In: Der Konfektionär 48 (1935), S. 20ff.; ders., Verbrauchsforschung, ihr ökonomischer Ort, ihre wissenschaftliche Begründung und ihre wirtschaftspolitische Zielsetzung. In: Absatzforschung und Absatzpraxis in Deutschland (Schriftenreihe der Forschungsstelle für den Handel beim Reichskuratorium für Wirtschaftlichkeit N.F. 2). Stuttgart 1937, S. 124–133; ders.: Fragen an die Meinungsforschung. Allensbach/Bonn 1962. – Erörterung bei Löffler: Wirken, S. 136–139 (mit weiteren Angaben zu den genannten Autoren); Dirk Schindelbeck: „Asbach Uralt“ und „Soziale Marktwirtschaft“. Zur Kulturgeschichte der Werbeagentur in Deutschland am Beispiel von Hanns W. Brose (1899–1971). In: Zeitschrift für Unternehmensgeschichte 40 (1995), S. 235–252; ders./Ilgen: Haste was, S. 23ff., 81–90. Ein deutscher Weg in den Westen
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schen Lenkungsmaßnahmen, und die Meinungsforschung wurde nachgerade als aus Amerika importierte „Demokratiewissenschaft“ betrachtet.29 Damit war freilich nicht gesagt, dass in der Praxis nicht weiterhin vieles auf bewährten Einrichtungen und Denkmustern aufbaute.30 Denn auch im Rahmen der neuen PR-Offensiven blieben zentrale Stilelemente und Mitteilungscodes weiterhin nationalkulturell geprägt: die beruhigende Vaterfigur etwa, mit der Erhard operierte; sein Image und Habitus als professoraler Fachmann; oder der damit verbundene Gestus und die Semantik von Sachlichkeit und Überparteilichkeit, die Thomas Mergel kürzlich bei allen langfristigen Trends zur „Amerikanisierung“ und „Medialisierung“ der bundesdeutschen Wahlkampfpropaganda als sehr beharrliche, in einer spezifi-
29 Zeitgenössisch reflektiert bei Ludwig Erhard: Marktwirtschaft und Werbung gehören untrennbar zusammen. In: Wirtschaft und Werbung 6 (Dezember 1952), S. 327f. (Archiv der Ludwig-Erhard-Stiftung Bonn, Nachlass Erhard, NE 1527); ders.: Vortrag „Ich bin mein eigener Werbeleiter. Möglichkeiten und Grenzen der Werbung in der Marktwirtschaft“, 7.10.1955 (ebd., NE 1520); Protokoll einer Pressekonferenz Erhards am 10.12.1953 (ebd., NE 1566); ders., Verständnis wecken für die Wirtschaftspolitik. In: Wirtschaftsordnung und Menschenbild. Geburtstagsgabe für Alexander Rüstow. Köln 1960, S. 21ff.; zu den erwähnten amerikanischen Gewährsmänner vgl. beispielhaft Edward L. Bernays: Public Relations. Boston 1965; Paul F. Lazarsfeld/Elihu Katz: Persönlicher Einfluß und Meinungsbildung. München 1962; Walter Lippmann: Public Opinion. New York 1922, dt. München 1964; sowie die Analysen bei Löffler: Wirken, S. 138–143; Schindelbeck/Ilgen: Haste was, S. 15–26; Gries/Ilgen/ Schindelbeck: Gehirn, S. 45–73, 106–124; Michael Kunczik: Public Relations. Konzepte und Theorien. Köln/Weimar/Wien 1996, S. 3–28, 90–121; Klaus Schönberger: „Hier half der Marshallplan“. Werbung für das europäische Wiederaufbauprogramm zwischen Propaganda und Public Relations. In: Gerald Diesener/Rainer Gries (Hg.): Propaganda in Deutschland. Darmstadt 1996, S. 193–212, hier S.194–201, 205ff.; Matthias Weiss: Öffentlichkeit als Therapie. Die Medien- und Informationspolitik der Regierung Adenauer zwischen Propaganda und kritischer Aufklärung. In: Frank Bösch/Norbert Frei (Hg.): Medialisierung und Demokratie im 20. Jahrhundert. Göttingen 2006, S. 73–120; Anja Kruke: „Responsivität“ und Medialisierung. Meinungsforschung für Parteien in den sechziger Jahren. In: ebd., S. 145–178; dies.: Demoskopie in der Bundesrepublik Deutschland. Meinungsforschung, Parteien und Medien 1949–1990. Düsseldorf 2006; Hartmut Berghoff (Hg.): Marketinggeschichte. Die Genese einer modernen Sozialtechnik. Frankfurt am Main/New York 2007, hier S. 53–58. 30 Vgl. dazu auch Thomas Mergel: Politischer Journalismus und Politik in der Bundesrepublik. In: Clemens Zimmermann (Hg.): Politischer Journalismus, Öffentlichkeit und Medien im 19. und 20. Jahrhundert. Ostfildern 2006, S. 193–211; Christina von Hodenberg: Konsens und Krise. Eine Geschichte der westdeutschen Medienöffentlichkeit 1945–1973. Göttingen 2006, bes. S. 101–182, die für die fünfziger Jahre eine verzögerte Modernisierung konstatiert und weitgehend von einer Zeit „eingehegter Kritik“ und einer „Politik der Mediensteuerung“ spricht, die erst im letzten Drittel des Jahrzehnts langsam liberalisiert und „dynamisiert“ worden sei.
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schen und dauerhaften „politischen Kultur“ wurzelnde Komponenten deutscher Parteiwerbung identifiziert hat.31 Wie für das wirtschaftspolitische Konzept so kann man daher auch für diesen öffentlichkeitspolitischen Bereich drei Punkte als Zwischenfazit festhalten. Erstens: Der Aneignungsvorgang neuer „westlicher“ Methoden und Werte bedurfte aktiver personaler Transmissionsriemen und Vertrauensgaranten. Ludwig Erhard war ein solcher Vermittler zwischen den politischen Kulturen, und er war nicht zuletzt als personifizierter Vertrauensspender von Bedeutung, weil er die Deutschen zugleich mit Facetten des modernen Amerikanismus versöhnte und diese an nationale Traditionen anband. Damit, so hat Christian Schwaabe zugespitzt geurteilt, verkörpere weit mehr „Erhard, und nicht der politisch so wichtige Patriarch Adenauer, […] Geist und Gestalt der neuen Bundesrepublik in ihren ersten beiden Jahrzehnten“.32 Zweitens: Die deutschen wirtschafts- wie öffentlichkeitspolitischen Traditionen wurden unter dem Einfluss externer, „westlicher“ Modelle verändert, wirkten jedoch auch unter dem neuen „West“-Label nachhaltig weiter. Das Ergebnis war ein ideologisches Mischsystem mit unterschiedlichen Provenienzen und von ganz eigener Prägung. Und drittens: Nicht selten dienten diese auswärtigen Ideen als Filter und Legitimationsinstanz, um sich die fortbestehenden nationalen Traditionen in einem eigendynamischen und zweiseitigen Transferprozess neu „anzuverwandeln“ und diesen gleichsam die Dignität einer politisch korrekten und ideologisch stabilisierenden „West-Identität“ zu verleihen.
2. Weder „1789“ noch „1914“: Soziale Marktwirtschaft im Kontext des europäischen Neoliberalismus Im Folgenden sollen die Mischungsverhältnisse des Wirtschaftssystems bzw. Wirtschaftsdenkens noch etwas näher bestimmt werden. Dabei wird postuliert, dass nicht wenige derjenigen konzeptionellen Komponenten, die hier tatsächlich als neuartig 31 Thomas Mergel: Der mediale Stil der „Sachlichkeit“. Die gebremste Amerikanisierung des Wahlkampfs in der alten Bundesrepublik. In: Bernd Weisbrod (Hg.): Die Politik der Öffentlichkeit – die Öffentlichkeit der Politik. Politische Medialisierung in der Geschichte der Bundesrepublik. Göttingen 2003, S. 29–53; ferner zu Stilelementen und Mitteilungscodes speziell der Erhardschen „Meinungspflege“ Löffler: Wirken, S. 143–161. Bezeichnend für diese Grenzen der Modernisierung sind etwa auch die Probleme Erhards und vieler seiner Altersgenossen im Umgang mit dem neuen Medium Fernsehen bzw. allgemein mit dem technisch bedingten Modernisierungsschub in den 1960er Jahren (vgl. Weiss: Öffentlichkeit, S. 113ff.; Daniela Münkel: Politik als Unterhaltung? Zur Wahlkampfkultur in der Bundesrepublik seit den sechziger Jahren. In: Zimmermann [Hg.]: Politischer Journalismus, S. 213–227). 32 Christian Schwaabe: Antiamerikanismus. Wandlungen eines Feindbildes. München 2003, S. 136. Ein deutscher Weg in den Westen
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„westlich“ oder „liberal“ verfochten wurden oder wahrgenommen werden konnten, ihrerseits in längeren (nationalen) Kontinuitäten standen. Diese repräsentierten einen liberal-westlichen Diskussionskontext spezifischer Art, der gleichermaßen jenseits des Linksliberalismus bzw. Konsensliberalismus wie jenseits des „deutschen Sonderwegs“ lag. Die These zielt in erster Linie auf die Wurzeln des europäischen Neoliberalismus von den 1920er bis zur Mitte der 1960er Jahre, der die deutsche Wirtschaftspolitik maßgeblich ideell fundierte und die nach 1945 gefundene Wirtschaftsordnung als Produkt einer langfristigen krisenhaften Erfahrungsgeschichte von politischen Intellektuellen erscheinen lässt. Mit drei Hinweisen soll die These untermauert werden. Erstens ein organisationsgeschichtlicher Punkt: Die Vorstellungen des Neoliberalismus entsprangen von Beginn an einem größeren europäisch-transatlantischen Intellektuellenzirkel. Deutsche Protagonisten wie Walter Eucken, Wilhelm Röpke oder Alexander Rüstow spielten darin immer eine große Rolle, aber sie waren stets eingebunden in eine ausgesprochen internationale Erfahrungs- wie Gesinnungsgemeinschaft und Diskussionskultur. Als institutionelle Keimzelle kann man wohl ein Kolloquium des bereits im Zusammenhang sich modernisierender Öffentlichkeitspolitik erwähnten amerikanischen Publizisten Walter Lippmann ansehen, das anlässlich des Erscheinens von dessen Buch „The Good Society“ im August 1938 in Paris stattfand.33 Auf ihm verständigten sich knapp 30 Liberale aus Frankreich, Großbritannien, den USA, Österreich, der Schweiz, Polen, Belgien und Spanien auf die Leitlinien und Erfordernisse einer grundlegenden „rénovation du libéralisme“. Fortgeführt wurde dieser Zirkel nach dem Zweiten Weltkrieg in der Mont-Pèlerin-Society, die im April 1947 als eine Art „Liberaler Internationale“ auf Initiative Friedrich August von Hayeks gegründet wurde. Deren Teilnehmerkreis, der bei der Gründung knapp 40 Mitglieder umfasste, dann bis 1968 auf rund 350 Mitglieder anstieg, aber durchgehend auf elitäre Exklusivität achtete, gehörten neben den eben Genannten beispielsweise Jacques Rueff, Luigi Einaudi, Lionel Robbins, die England- bzw. USA33 Lippmann war zunächst Kolumnist der republikanischen New York Herald Tribune, danach der Washington Post und von Newsweek. Bekannt wurde er vor allem als Publizist des erwähnten Buchs „The Good Society“ (New York 1936, 21937, dt. unter dem Titel: Die Gesellschaft freier Menschen. Mit einer Einführung von Wilhelm Röpke. Bern 1945). Vgl. zum „Colloque Lippmann“ Milène Wegmann: Früher Neoliberalismus und europäische Integration. Interdependenzen der nationalen, supranationalen und internationalen Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft (1932–1965). Baden-Baden 2002, S. 14, 40ff., 102–146; Hans Jörg Hennecke: Friedrich August von Hayek. Die Tradition der Freiheit. Düsseldorf 2000, S. 137ff., 151ff.; Max Ronald Hartwell: A History of the Mont Pelerin Society. Indianapolis 1995, S. 17–21; Bernhard Walpen: Die offenen Feinde und ihre Gesellschaft. Eine hegemonietheoretische Studie zur Mont Pèlerin Society. Hamburg 2004, S. 51–83; Protokoll der Pariser Konferenz: Compte-rendu des séances du Colloque Walter Lippmann. 26–30 août 1938. Travaux du Centre international d’études pour la rénovation du libéralisme. Cahier No. 1. Paris 1939.
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Exilanten Karl Popper und Ludwig von Mises, als dessen Schüler der junge Milton Friedman und Fritz Machlup und seit 1950 auch Ludwig Erhard an.34 Ihnen allen ging es zu keiner Zeit allein um liberale Wirtschaftspolitik, sondern immer um ganzheitliche gesellschaftsphilosophische Probleme und um sozialethische Fragen nach den Möglichkeiten und Bindungen individueller Freiheit in einer antikollektivistischen und antitotalitären Gesellschaft. Bereits Lippmann hatte 1938/39 geschrieben, er bezwecke eine „philosophie universelle qui, par son humanité totale, puisse maintenir la tradition de la civilisation en dépit d’un ennemi totalement inhumain“.35 Hayek definierte die Mont-Pèlerin-Society als „International Academy of Political Philosophy“, die weit über das Verhandeln ökonomischer Sachfragen ausgreifen sollte.36 Und Röpke und Eucken betonten, man ziele nicht primär auf einen wirtschaftlichen Liberalismus. Zur Debatte stehe vielmehr, so Röpke, eine „bürgerliche Gesamtordnung“, die den „freien Menschen das Leben nach ethischen Prinzipien“ ermöglichen und die „Ideale der christlich-abendländischen Kultur“ wahren sollte. „Die Renaissance des Liberalismus […] entspringt einem ganz elementaren Bedürfnis nach Freiheit und Wiederherstellung des individuellen Menschentums. Es ist ein Liberalismus, der durchaus nicht in erster Linie als ein wirtschaftlicher verstanden werden darf. […] Der politisch-kulturelle Liberalismus (in dem weiten und ewigen Sinne des die Kulturhöhe bestimmenden Gleichgewichts zwischen Individualität und Kollektivität) ist das Primäre und der wirtschaftliche Liberalismus, der nun einmal daraus folgt, etwas Sekundäres. Der Liberalismus, zu dem wir so gelangen, könnte als ein soziologischer bezeichnet werden.“ Andere Formeln lauteten „ökonomisch-moralischer Humanismus“, „humanitär-anthropologischer Liberalismus“ oder „Wirtschaftshumanismus“.37 Manche sprachen auch von einem „tiers chemin“, einem 34 Vgl. zur Mont-Pèlerin-Society im Folgenden Walpen: Feinde, hier bes. S. 84–117 (sicher die anregendste Studie zum Thema, jedoch in dem übertriebenen hegemonietheoretischen Ansatz in der Gesamtbewertung nicht immer überzeugend); Hartwell: History, bes. S. 26–99; Dieter Plehwe: Quellen des Neoliberalismus. Die Mont Pèlerin Society und die internationalen Think Tank-Netzwerke. In: Wissenschaftszentrum Berlin. Mitteilungen 110 (Dezember 2005), S. 25ff.; Wegmann: Neoliberalismus, S. 106–110; Hennecke: Hayek, S. 212–224, 259– 268; Alan Ebenstein: Friedrich Hayek. A Biography. Chicago/London 2003, S. 140–146; interessant, aber in seiner pauschalen Kritik übers Ziel hinausschießend: Karl Heinz Roth: Klienten des Leviathan: Die Mont Pèlerin Society und das Bundeswirtschaftsministerium in den fünfziger Jahren. In: 1999. Zeitschrift für Sozialgeschichte des 20. und 21. Jahrhunderts 18 (2001), S. 13–41. 35 Compte-rendu des séances du Colloque Walter Lippmann, S. 26; zu den entsprechenden Diskussionen im Umkreis Lippmanns siehe Wegmann: Neoliberalismus, S. 141–146, 227ff. 36 Hennecke: Hayek, S. 213. 37 Wilhelm Röpke: Civitas humana. Grundlagen der Gesellschafts- und Wirtschaftsreform. Erlenbach bei Zürich 1944, S. 50; ders.: Gesellschaftskrisis, S. 43; Walter Eucken: Die Gesamtordnung sollte so sein, dass sie den Menschen das Leben nach ethischen Prinzipien ermöglicht, Ein deutscher Weg in den Westen
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„Dritten Weg“, der allerdings weniger als ein kompromisshaftes Mixtum aus Kapitalismus und Kommunismus oder als Mittelding zwischen diesen beiden Extremen verstanden wurde, sondern als eigengewichtige „Synthese“ zur These des Altliberalismus und zur „Antithese“ des Kollektivismus, als „tertium“ auf grundsätzlich anderer und höherer Ebene.38 Dieser aufs Prinzipielle zielende Anspruch einer moralisch-ethischen Fundierung des Liberalismus „jenseits von Angebot und Nachfrage“ ist deshalb so essentiell, weil er den ursprünglichen Neoliberalismus vom alten Manchesterliberalismus ebenso unterscheidet wie von seinen seit Mitte der sechziger Jahre zunehmenden und bis in die heutige Zeit tonangebenden marktradikalen und ökonomistisch verengten Derivation. Diese terminologischen Differenzierungen verweisen also auf die Notwendigkeit, das Phänomen Neoliberalismus selbst zu historisieren und nicht eine Variante aus der ex-post-Sicht als allein repräsentativ zu betrachten und die Bewertung dann ausschließlich den anachronistisch-aktualistischen kapitalismuskritischen Interpretationen unserer Tage zu überlassen (so notwendig und berechtigt diese auch sind).39 Damit sind wir schon beim zweiten, einem ideengeschichtlichen Hinweis: Ihre praktische Basis sahen die frühen Neoliberalen in einer modernen rechts- und verfassungsstaatlichen Ordnung. Den entscheidenden größeren geistigen Rahmen dieses regenerierten Liberalismus aber bildete die Idee der subsidiären Bürgergesellschaft mit eigenverantwortlichen „mittleren Existenzen“, einer Zivilgesellschaft mit starken zitiert bei Wegmann: Neoliberalismus, S. 236; vgl. auch die eingehende Erörterung bei Josef Mooser: Liberalismus und Gesellschaft nach 1945. Soziale Marktwirtschaft und Neoliberalismus am Beispiel von Wilhelm Röpke. In: Manfred Hettling/Bernd Ulrich (Hg.): Bürgertum nach 1945. Hamburg 2005, S. 134–163. 38 Klassisch etwa Alexander Rüstow: Zwischen Kapitalismus und Kommunismus. Godesberg 1949. Vgl. zum Kontext Wegmann: Neoliberalismus, S. 103, 146–156, 161ff.; Hans Jörg Hennecke: Wilhelm Röpke. Ein Leben in der Brandung. Stuttgart 2005, S. 117f., 139f., 147ff., 197f. 39 Es handelt sich beim Neoliberalismus ursprünglich eben gerade nicht um radikalökonomistische „Klienten des Leviathan“, und es war auch keine „Revitalisierung der Doktrin des homo oeconomicus“ und keine „säkularisierte Religion“ zur Errichtung eines „dynamisch-kontingenten Marktradikalismus“ mit hegemonialem Anspruch angestrebt, wie das Roth: Klienten, S. 17, 22, 24f., formuliert. Auch die Charakterisierung Walpens, „esoterische Intellektuelle“ hätten einen säkular-sektiererischen „Klub“ gegründet, der dann transnationale hegemoniale Ansprüche entfaltet habe, erscheint, jedenfalls in unserem zeitlichen und sachlichen Kontext, einseitig und überzogen (Walpen: Feinde, S. 98ff., 108ff.). In eine ähnliche vereinfachende Richtung weisen Anselm Doering-Manteuffel: Nach dem Boom. Brüche und Kontinuitäten der Industriemoderne seit 1970. In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 55 (2007), S. 559–581, hier S. 576ff., und ders./Raphael: Boom, S. 31f., 47ff., 76ff., wo die Neoliberalen ausschließlich auf die jüngere Chicago-Schule um Friedman verengt und hier unbesehen den amerikanischen „Neokonservativen“ zugerechnet werden. Zu den Differenzierungen siehe auch die Bemerkungen in der Folge mit Anm. 67.
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intermediären Gewalten moderater Größe, eines Rechtsstaates mit dezentralisierten (föderalen, kommunalen, lokalen) Struktureinheiten sowie einer prozessual verlaufenden und nicht planbaren Ökonomie.40 Manche Facetten dieser neoliberalen Ideengeschichte lassen sich dabei einordnen in den breiten Strom des „Abendlanddiskurses“ nach 1945 – verstanden als eine (sozial)konservativ-kulturpessimistische, mitunter auch elitär-dünkelhafte, gegen die Gefahren von „Vermassung“, Massengesellschaft und die „Tyrannei der Mehrheit“ gewandte Identifikationsform von „Westlichkeit“ oder besser: ein nationsübergreifender, paneuropäischer Versuch der Selbstvergewisserung im „Geist christlich-abendländischer Kultur“, die sich im Zuge des Kalten Krieges nicht zuletzt als strikter Antikommunismus zeigte.41 Besonders deutlich klang das bei Wilhelm Röpke an, etwa wenn dieser Marktwirtschaft, privaten Wettbewerb und liberalen Außenhandel als Errungenschaften des „Abendlandes“ klassifizierte und als antitotalitäre Kraft „im Dienste der höchsten Ideale der abendländischen Kultur“ bezeichnete; sie stünden gleichermaßen in Gegensatz zum vermeintlich autarken, planwirtschaftlich-mechanistischen und entpersönlichenden, uniformierenden „Termitenstaat“ totalitärer Prägung wie zum materialistischen „Kolossalkapitalismus“ amerikanischer Prägung mit seiner „vulgären Gigantolatrie und Technolatrie“.42 Dergleichen Anschauungen waren eingebettet in eine tiefgründige Antike-Reflexion der Platonischen und Aristotelischen Ethik mit ihrer zentralen Stellung der „Gerechtigkeit“ und der maßvol40 Vgl. Wegmann: Neoliberalismus, S. 190–204, 231ff., 459ff.; ferner Manfred Hettling: Bürgerlichkeit im Nachkriegsdeutschland. In: ders./ Ulrich (Hg.): Bürgertum, S. 17–37, hier S. 31f., 36f.; Mooser: Liberalismus, S. 143ff., 149–153; zum klassischen liberalen Verständnis einer Bürgergesellschaft: Lothar Gall: Liberalismus und „bürgerliche Gesellschaft“. Zu Charakter und Entwicklung der liberalen Bewegung in Deutschland. In: HZ 220 (1975), S. 324–356; Dieter Langewiesche: Liberalismus in Deutschland. Frankfurt am Main 1988, S. 192ff. 41 Philipp Gassert: Die Bundesrepublik, Europa und der Westen. Zu Verwestlichung, Demokratisierung und einigen komparatistischen Defiziten der zeithistorischen Forschung. In: Jörg Baberowski u. a.: Geschichte ist immer Gegenwart. Vier Thesen zur Zeitgeschichte. Stuttgart/München 2001, S. 79–82; Axel Schildt: Westlich, demokratisch. Deutschland und die westlichen Demokratien im 20. Jahrhundert. In: Doering-Manteuffel (Hg.): Strukturmerkmale, S. 225–239, hier S. 230–236; ders.: Zwischen Abendland und Amerika. Studien zur westdeutschen Ideenlandschaft der 50er Jahre. München 1999, S. 21–81; Guido Müller/ Vanessa Plichta: Zwischen Rhein und Donau. Abendländisches Denken zwischen deutschfranzösischen Verständigungsmodellen und konservativ-katholischen Integrationsmodellen (1923–1957). In: Journal of European Integration History 5/2 (1999), S. 17–47; Heinz Hürten: Der Topos vom christlichen Abendland in Literatur und Publizistik nach den beiden Weltkriegen. In: Albrecht Langner (Hg.): Katholizismus, nationaler Gedanke und Europa seit 1800. Paderborn u. a. 1985, S. 131–154. 42 Vgl. z. B. Wilhelm Röpke: European Economic Integration and Its Problem. In: Modern Age 1964, S. 231–244, hier S. 244; ferner Wegmann. Neoliberalismus, S. 317–321, 326ff., 443ff.; Hennecke: Röpke, S. 79f., 82ff., 102–107. Ein deutscher Weg in den Westen
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len Mitte zwischen den Extremen, erweitert um die Rezeption christlicher, genauer: scholastisch-thomistischer Denktraditionen, die vornehmlich der Pariser Philosoph Louis Rougier, aktiver Mitinitiator des Colloque Lippmann, aufbereitet hatte.43 Viele Protagonisten, besonders etwa Röpke oder Müller-Armack, zeigten sich überdies in bemerkenswerter Weise inspiriert durch die katholische Subsidiaritäts- und Soziallehre in Nachfolge der Enzyklika „Quadragesimo Anno“ von 1931.44 Wohl nirgendwo kommen diese Zusammenhänge verdichteter und terminologisch konzentrierter zum Ausdruck, als in dem von Wilhelm Röpke 1944/45 initiierten Zeitschriftenprojekt mit dem (Arbeits-)Titel „Occident“. Röpke hatte sich darüber auch mit Hayek, Benedetto Croce, Luigi Einaudi, William E. Rappard, Walter Lippmann und Albert Hunold abgestimmt und dachte sich die Publikation als „kongeniale“ publizistische Ergänzung und Flankierung der Mont-Pèlerin-Society. Das Zeitschriftenprogramm sollte „liberal-humanistisch“ akzentuiert sein, dezidiert gegen Traditionsverlust wirken und stattdessen aufzeigen, dass „die letzten Ursachen der Krise tiefer liegen und in der Erschütterung der geistigen, moralischen und sozialphilosophischen Grundlagen des Abendlandes zu suchen sind“. Das Projekt ist gescheitert. Spuren davon lassen sich aber in zwei anderen Organen erkennen: in dem von Edgar Salin herausgegebenen „Kyklos“ und dem von Walter Eucken und Franz Böhm begründeten ordoliberalen Flaggschiff „Ordo. Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft“, in dem sich die thomistische Denktradition begrifflich besonders exponiert spiegelte.45 Niederschlag fand dieser Gedankenstrang aber auch noch in späteren Konzepten wie der zu Mitte der 1960er Jahre von Erhard propagierten „Formierten Gesellschaft“, von der schon die Rede war. Nicht wenige dieser Ansätze – und das gilt für Intellektuelle wie Röpke oder Rüstow sicher noch weit mehr als für Erhard – können grundsätzlich darauf verweisen, wie schmal der Grad war zwischen der moralisch-ideologischen Gemeinwohlverpflichtung einer intellektuellen „Wertelite“ einerseits und antipluralistischer Parteien- oder Demokratieskepsis 43 Louis Rougier: La scolastique et le Thomisme. Paris 1925; vgl. Wegmann: Neoliberalismus, S. 164f., 204–214. 44 Vgl. Mooser: Liberalismus, S. 134ff., 144–149; Wegmann: Neoliberalismus, S. 160f., 164f.; Hennecke: Röpke, S. 108f.; siehe auch Bernhard Löffler: Religiöses Weltbild und Wirtschaftsordnung. Zum Einfluss christlicher Werte auf die Soziale Marktwirtschaft. In: Hans Zehetmair (Hg.): Politik aus christlicher Verantwortung. Wiesbaden 2007, S. 110–124; zeitgenössisch zu den Zusammenhängen etwa Oswald von Nell-Breuning: Neoliberalismus und katholische Soziallehre. In: ders.: Wirtschaft und Gesellschaft heute, 3 Bde. Freiburg im Breisgau 1960, hier Bd. 3, S. 81–102; Patrick M. Boarman (Hg.): Der Christ und die soziale Marktwirtschaft. Stuttgart 1955; Alfred Müller-Armack: Religion und Wirtschaft. Geistesgeschichtliche Hintergründe unserer europäischen Lebensform. Bern/Stuttgart 31981. 45 Vgl. dazu schon Franz Böhm: Die Ordnung der Wirtschaft als geschichtliche Aufgabe und rechtsschöpferische Leistung. Stuttgart/Berlin 1937; ferner die Analysen bei Löffler: Marktwirtschaft, S. 63ff.; Hennecke: Röpke, S. 159f., 163f.; ders.: Hayek, S. 217–220.
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andererseits, die in erheblichem Maße auf problematische rechtshegelianische Denkstereotype (Diskreditierung von Parteien oder Verbänden als partikularistische Störer des Staatsganzen und des Gemeinwohls) rekurrierte oder den Antagonismus von lebendiger und „organisch“ gewachsener (Volks-)„Gemeinschaft“ versus „unnatürlich“artifizieller „Gesellschaft“ aufwärmte.46 Allerdings würde man die neoliberale Ideengeschichte erheblich verkürzen, wenn man sie nur im Spiegel dieses Abendlanddiskurses sehen würde. Denn ihren zentralen ideellen Referenzpunkt fanden die meisten Neoliberalen weniger in einer konservativen oder „abendländisch-mitteleuropäischen“, sondern in einer explizit liberal-angelsächsischen Denktradition: Es waren die Werke der anglo-schottischen Aufklärung und der frühliberalen Moralphilosophie, wie sie mit Adam Smith47 und Adam Ferguson48, später auch John Stuart Mill49 sowie deren Rezeption und Weiterverarbeitung durch Lord Acton50 und Alexis de Tocqueville51 gekennzeichnet sind. Deren Ansätze hat man intensiv rezipiert. Man hat sie als ethisch fundierten Gegenentwurf zu den späteren Deformierungen im laissez-faire-Kapitalismus interpretiert. Und man hat sie 46 Klassisch etwa Ferdinand Tönnies: Gemeinschaft und Gesellschaft. Grundbegriffe der reinen Soziologie. 11885, Nachdruck 81935 Darmstadt 1991; Erörterung bei Manfred Riedel: Gesellschaft, Gemeinschaft. In: Otto Brunner/Werner Conze/Reinhart Koselleck (Hg.): Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 2. Stuttgart 1975, S. 801–872; zum Problemhorizont auch Löffler: Marktwirtschaft, S. 50, 64f., 462ff.; Nolte: Ordnung, S. 187–207, 289–298, 305–309, 383–388; Wegmann: Neoliberalismus, S. 197ff., 220f., 224f., 303–312, 344; Hans-Peter Schwarz: Wilhelm Röpkes Neuordnungsideen für Deutschland (1942–1948). In: Ordo 50 (1999), S. 37–46; Michael Stolleis: Gemeinwohlformeln im nationalsozialistischen Recht. Berlin 1974, hier bes. S. 147–197. 47 Rekurs vor allem auf Adam Smith: Theory of the Moral Sentiments. London 1759, die den engen Konnex zwischen Moralphilosophie und Wirtschaftslehre betonte und die Einheit von Ökonomie, rechtlich-politischer Konstitution und menschlicher Selbstverantwortung im Sinne des „allgemeinen Wohles“ und eines stoisch-deistischen „virtue“-Ideals postulierte, das weit über die Wahrung bloßer „propriety“ hinauszugehen habe. Vgl. Wegmann: Neoliberalismus, S. 163f.; zu Smiths Gesellschaftstheorie der „moralischen Gefühle“, zu deren Wurzeln und zur komplizierten Wirkungsgeschichte im guten Überblick Karl Graf Ballestrem: Adam Smith. München 2001, bes. S. 10–31, 57–94, 135–161, 195–203. 48 Adam Ferguson: An Essay on the History of Civil Society. London 1767. 49 John Stuart Mill: On Liberty. London 1859. Vgl. Wegmann: Neoliberalismus, S. 175ff.; Jörn Leonhard: Liberalismus. Zur historischen Semantik eines europäischen Deutungsmusters. München 2001, S. 406–412. 50 John Emerich Edward Dalberg-Acton: The History of Liberty [zunächst unter den Vorlesungstiteln: The History of Freedom in Antiquity und The History of Freedom in Christianity]. London 1877; ders.: Lectures on the French Revolution [1895–99]. London 1910; ders.: Essays in Religion, Politics, and Writings [Review von Thomas Erskine May’s Democracy in Europe. A History]. London 1877; vgl. auch Wegmann: Neoliberalismus, S. 165ff. 51 Alexis de Tocqueville: De la Démocratie en Amérique. Paris 1835. Ein deutscher Weg in den Westen
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gleichzeitig durch den Filter der zeitgenössischen Totalitarismustheorie gesehen und unter den Bedingungen des Kalten Krieges umgedeutet, was Richard Bernstein zu der Formulierung veranlasste, die Gruppe um Popper, Hayek und Michael Oakeshott seien „cold war liberals“.52 Bezeichnenderweise lautete der erste Namensvorschlag für die Mont-Pèlerin-Gesellschaft „Acton-de Tocqueville-Society“.53 Für Hayek verkörperte diese Denktradition die „wahren Formen“ von Liberalismus, von „echtem Individualismus“ und verantwortlicher personaler Freiheit; Röpke, Rüstow oder Louis Marlio sprachen von „Personalismus“, um die moralisch-naturrechtlichen Dimensionen freier individueller Existenz zu betonen. Dem wird der „falsche Liberalismus und Individualismus“ perfektionistischer politischer Utopien aller Art gegenübergestellt: angefangen mit dem technokratischen Rationalismus Descartes’ und der Enzyklopädisten, dem mechanistischen Weltbild der Physiokraten und dem egalitär-doktrinären Aufklärungspathos Rousseaus über den Determinismus, Positivismus und Kathedersozialismus der Historischen Schule der deutschen Nationalökonomie eines Gustav von Schmoller und Lujo Brentano oder die utopisch-sozialreformerischen Gedanken Henri de Saint-Simons (nach Hayek der „fleischgewordenen Karikatur des rationalistischen Wahns“) bis hin zu den Planungs- und Machbarkeitsideen der amerikanischen „New Dealer“ oder zu den social engineering-Vorstellungen der fortschrittsoptimistischen Planungsexperten der ausgehenden 1960er und beginnenden 1970er Jahre. In eine ähnliche Richtung weist die Smith-Interpretation, die Röpke propagierte: Smith wird als deistischer Moralist und liberaler humanistischer Geist angesehen, der ein Gegenprinzip repräsentiere zum positivistischen Szientismus eines John Maynard Keynes; dessen neuer politischer Patron John F. Kennedy und seine wirtschaftswissenschaftlichen Adepten um Walt Rostow oder John Kenneth Galbraith zeugten nur vom Ende des Zersetzungs- und Krisenprozesses der rationalistischen Gesellschaft.54 52 Jens Hacke: Philosophie der Bürgerlichkeit. Die liberalkonservative Begründung der Bundesrepublik. Göttingen 2006, S. 21; Hochgeschwender: Westen, S. 23–28; ders.: Freiheit, 18ff., 253–264, 577ff., u. ö. 53 Walpen: Feinde, S. 98ff.; Hennecke: Hayek, S. 213. 54 Vgl. zum Kontext schon die Beiträge Rüstows und Marlios in Compte-rendu des séances du Colloque Walter Lippmann, S. 31, 78; Röpke: Mass, S. 19, 28, 33; ders.: Jenseits, S. 95, 225; Friedrich August von Hayek: Wahrer und falscher Individualismus. Vorlesung, gehalten in Dublin, 17.12.1945. In: ders. (Hg.): Individualismus und wirtschaftliche Ordnung. Salzburg 2 1976, S. 9–48. Vgl. hier und in der Folge auch die Analysen bei Wegmann: Neoliberalismus, S. 156–180, 224–240; Mooser: Liberalismus, S.147ff.; Hacke: Philosophie, S. 20ff., 293–299; Hochgeschwender: Westen, S. 9–13, 16ff.; und, mit zahlreichen weiteren Quellenbelegen, Hennecke: Hayek, S. 155–196, 208–211, 263ff., 285–292, 386–390, Zitat zu Saint-Simon S. 162; ferner Friedrich-Wilhelm Dörge: Menschenbild und Institution in der Idee des Wirtschaftsliberalismus bei A. Smith, L. v. Mises, W. Eucken und F. A. v. Hayek. In: Hamburger Jahrbuch für Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 4 (1959), S. 82–99; zu Hayeks Person und
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Für die Bindungen an Konventionen, Normen, Rechtsvorstellungen, „Sitten“, denen das Individuum natürlich und gerade auch in den neoliberalen Gesellschaftsvorstellungen unterworfen war, bedeutete das, dass diese eben nicht auf konstruktivistischen Planungsideen, einer „physikalistischen Deutung der Welt“ und einem „technizistischen Organisationskult“ basieren dürften; darin erkannte man stets eine totalitäre Gefahr. Vielmehr war der normativ-institutionelle Rahmen des Neoliberalismus geprägt durch, wie das Hayek formulierte, „spontan“ gebildete, klein strukturierte Einheiten (wie Familie, Nachbarschaft, Kommune und lokale Selbstverwaltungsorgane, Genossenschaften, Vereine, mittelständische Unternehmen etc.), die sich flexibel und evolutiv, pragmatisch und prozedural zu entfalten hätten, in der englischen Whig-Tradition und nicht in der französisch-cartesianischen mit ihrem hohen Grad an Formalisierung, Zentralisierung und Planung. Gesellschaft und Wirtschaft, so noch einmal Hayek, hätten das „Ergebnis menschlichen Handelns, aber nicht menschlichen Entwurfs“ zu sein. Die Planung und die dahinter stehende „positivistisch-rationalistische ‚Logik des Wählens‘“, eine starre „Rechtsordnung“ und die Vorstellung von Gesellschaft „als Produkt bewußter Anordnung für voraussehbare konkrete Zwecke“ wurde so kontrastiert mit der Idee dezentralisierten Wissens, „kultureller Evolution“ und anpassungsfähiger „spontaner Ordnung“, einer „Handelnsordnung“ auf der Basis eines „anthropologischen Realismus“ (mitunter auch Pessimismus): „Es ist ein Gesellschaftssystem, dessen Wirkungsweise nicht davon abhängt, daß wir gute Menschen finden, die es handhaben, oder davon, daß alle Menschen besser werden, als sie jetzt sind, sondern ein System, das aus allen Menschen in all ihrer Verschiedenheit und Kompliziertheit Nutzen zieht, die manchmal gut und manchmal schlecht, oft gescheit, aber noch öfter dumm sind. Ziel ist ein System, in dem es möglich ist, die Gewähr der Freiheit allen zu geben und nicht, wie die französischen Zeitgenossen es wollten, die Freiheit auf die ‚Guten und Weisen‘ zu beschränken“. Hayeks bekannte und pointierte ökonomische Formel hierfür lautete, den Wettbewerb als „Entdeckungsverfahren“ zu akzeptieren.55 In manchen Facetten ist eine solche Grundhaltung durchaus vergleichbar mit den Denkformen liberalkonservativer Bürgerlichkeit, wie sie im Kreis der Münsteraner Philosophie„schule“ um Joachim Ritter entwickelt wurden (mit Protagonisten wie Johannes Gross schuf diese im übrigen auch direkte personelle Verbindungslinien zu den neo- bzw. ordoliberalen Denkfabriken um Ludwig Erhard). Auch die „Münsteraner“ besaßen einen antiutopischen und totalitarismustheoretischen Ausgangspunkt, profilierten sich – eingebunden in einen „skeptischen Modernitätstraditionalismus“ (O. Marquard) mit christlich-humanistischem Hintergrund – in scharfer Kritik geIdeen außerdem Ebenstein: Hayek; Ingo Pies/Martin Leschke (Hg.): Friedrich August von Hayeks konstitutioneller Liberalismus. Tübingen 2003. 55 Vgl. Hayek: Individualismus, passim; Hennecke: Hayek, Zitate S. 209, 291f., 390. Ein deutscher Weg in den Westen
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genüber der technischen Planungs-Moderne und ihrem reformerischen Machbarkeitseifer und postulierten als Leitlinien Dezentralität, Flexibilität, Eigenverantwortung mit Augenmaß sowie die „adaptive Transformation konservativer Theoreme an liberale Verfassungsrealitäten“.56 Hier wie dort wurden Formen bürgerlicher Selbstvergewisserung erprobt, die durchaus zukunftsfähige und innovative Anschlussfähigkeiten zum modernen, liberalen, zivilgesellschaftlichen Denken von „Staatsbürgerlichkeit“ im angelsächsischen Sinn eröffneten: nicht nur hinsichtlich von deren Grundlagen im ökonomischen Bereich (mit einer rechtlich geregelten Marktwirtschaft und Leistungskonkurrenz), sondern auch prinzipiell-politisch mit der Beschränkung von Staatsmacht und der Forderung nach politischer Mündigkeit der Bürger.57 Wie die liberalkonservativen „Münsteraner“ so kann man daher auch den Neoliberalismus als eine bedeutende Akzeptanzschleuse bezeichnen, die staatsbürgerlich-demokratische Werte auch für bürgerlich-konservative Kreise eröffnete, grundsätzlich-konzeptionell, aber auch ganz handfest institutionell und personenbezogen. Ludwig Erhard etwa war der Türöffner und Wahlmagnet, der (bei all seiner inneren Distanz zum Parteiwesen) der Union mit seinen wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Konzeptionen und unterstützt von Zirkeln wie dem Kronberger Kreis eine Wähler- wie Abgeordnetenklientel aus dem liberalkonservativen (und protestantischen) Bürgertum erschloss – wie etwa Gerd Bucerius oder Otto A. Friedrich –, die dem Zentrum ehedem völlig verschlossen geblieben war.58 Eingebettet war dies in ein markantes westeuropäisch-transatlantisches Selbstverständnis. Der Neoliberalismus verstand sich expressis verbis als Verbindung von „liberalem Internationalismus und liberalem Kosmopolitismus“, als (mit den Worten Hayeks) Fundament einer „internationalen Rechtsordnung“ und der zu revitalisierenden „westlichen Zivilisation“, zu der auch Deutschland gehöre, ebenso wie die deutschen Ordoliberalen seit jeher „Teil der internationalen Wissensgemeinschaft“ des Neoliberalismus gewesen seien.59 Zwar verfochten die Neoliberalen eine ent56 Siehe zu den „Münsteranern“ bzw. „Ritterianern“ eingehend Hacke: Philosophie, passim, zu Gross S. 20f., Zitat S. 293. 57 Vgl. auch Eckart Conze: Eine bürgerliche Republik? Bürgertum und Bürgerlichkeit in der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft. In: Geschichte und Gesellschaft 30 (2004), S. 527–542, bes. S. 528ff., 535ff., 540f. 58 Löffler: Marktwirtschaft, S. 473–482, 503ff.; Thomas Sauer: Westorientierung im deutschen Protestantismus? Vorstellungen und Tätigkeit des Kronberger Kreises. München 1999, S. 201–238. 59 Vgl. hier und in der Folge Hennecke: Hayek, S. 141f., 213, 341–382; Horst Hegmann: Der Ordoliberalismus und die europäische Integration. [Konstanz] 2002. Unter http://www.fhvie.ac.at/files/Zusammenfassung_Europa.pdf (19.2.2009), S. 53–73, Zitat S. 69; Wilhelm Röpke: Die deutsche Frage. Erlenbach bei Zürich 1945, Zitat S. 250 („Atlantic Community“); daneben etwa Walter Lippmann: Die Außenpolitik der Vereinigten Staaten. Zürich 1944; ders.: U.S. War Aims. London 1944; ders.: Western Unity and the Common Market.
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schieden föderative Ordnung Europas, zeigten sich durchgehend reserviert gegenüber zu engen institutionellen Lösungen, verbanden ihr Europabild außerdem mit Vorstellungen einer kulturellen, christlich unterfütterten Identitätsgemeinschaft und akzentuierten dies in manchen Schattierungen – besonders stark bei Röpke – auch mit einem entsprechend kulturkritischen Zungenschlag gegenüber amerikanischem Materialismus und amerikanischer „Oberflächlichkeit“.60 Aber letztlich sah man es stets als unabdingbar an, Westeuropa in äußerst enger politisch-ökonomischer Anbindung an Großbritannien und die USA zu integrieren und als Konföderation im festen Rahmen der „Atlantic Community“ (W. Röpke) zu bauen. Westeuropa galt immer als genuiner Bestandteil – und nicht als (gaullistische) Alternative – der transatlantischen Kooperation, freilich ohne dass man den Planungsgeist des New Deal und den „korporativen Neokapitalismus“ übernehmen wollte, wie sie sich etwa in der Marshallplanverwaltung niederschlugen.61 Als Zwischenfazit kann daher stehen: Der deutsche und frühe europäische Neoliberalismus folgte der spezifischen Rezeption und Perzeption eines westlichen Liberalismus eigener Prägung, der tief in der angelsächsischen Aufklärung wurzelte. Er war das „Ergebnis eines internationalen Transfers von Ideen“62, wobei die zentralen Vorstellungen von „Liberalität“, „Westlichkeit“ oder bürgerlich-„zivilgesellschaftlichem Engagement“ nicht verstanden wurden als von außen oder nachträglich adaptiertes Ideengut, sondern als immanenter Teil einer längeren gemeineuropäischen Denk- und Diskussionstradition, an der stets auch Deutschland bzw. deutsche Intellektuelle partizipierten. Diese Traditionen entsprachen weder der Gleichsetzung von modernem „Westen“ und keynesianischem „Konsensliberalismus“ und sind daher auch nicht allein mit den Interpretamenten von „Amerikanisierung“ oder „Westernisierung“ zu erfassen, wie sie derzeit benutzt werden. Noch deckten sie sich einfach mit dem konservativen Abendland-Modell oder „rechten“ Ideologien eines christlich-konservativen „Mitteleuropa“. Pointiert formuliert: Es war ein westlicher, angelsächsisch geprägter
Boston/Toronto 1962; Alexander Rüstow: Paneuropa? [Typoskript Istanbul 1944/45]. In: Bundesarchiv Koblenz, Nachlass Rüstow, 290; ferner mit dem Verweis auf zahlreiche Publikationen Röpkes, Hunolds, Müller-Armacks, Robbins‘, Heilperins oder Allais‘ Wegmann: Neoliberalismus, S. 241–350, 461–467, bes. S. 303–329, Zitat S. 261. 60 Röpke: Integration, S. 244; ders.: Europa als geistige, politische und wirtschaftliche Aufgabe. Erlenbach bei Zürich 1951, S. 480f.; zum Thema ferner Schwaabe: Antiamerikanismus; Schildt: Westlich, S. 234f.; Alexander Stephan (Ed.): Americanization and Anti-Americanism. The German Encounter with American Culture after 1945. NewYork/Oxford 2005. Vgl. auch oben Anm. 42. 61 Hogan: Marshall Plan, S. 22f., 55, 293f. 62 Wegmann: Neoliberalismus, S. 457. Ein deutscher Weg in den Westen
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bürgerlicher Liberalismus „jenseits von Links und Rechts“63, man könnte auch sagen: jenseits der „Ideen von 1789“ – als chronologische Metapher für mechanistisches, rational-planendes, egalitäres Aufklärungsdenken –, aber natürlich ebenso stark jenseits der „Ideen von 1914“ – als chronologische Metapher für den idealistisch-romantischen, gegenaufklärerischen „deutschen Sonderweg“ in Ablehnung des westlichen Demokratie-, Verfassungs- und Zivilisationstypus.64 Oder noch einmal anders gewendet: Das „Diktum“ von Westernisierung oder Verwestlichung und Liberalisierung braucht mehr Differenzierung und historische Tiefenschärfe. Es braucht die Rückbindung an „gemeineuropäische, wenn nicht atlantische, durch Aufklärung und frühen Liberalismus generierte Traditionsbestände“ von (Welt)Bürgerlichkeit und Westlichkeit (mit samt ihrer Kulturmuster und Strukturprinzipien vom Bildungs- und Leistungsethos über die Markt- und Eigentumsfixiertheit bis hin zu bestimmten unternehmerischen oder beruflichen Rollenbildern), in die sich die Referenzmuster einer modernen „civil society“ mindestens ebenso stark einordnen lassen, wie das beim in der gängigen Interpretation oft so privilegierten Konsensliberalismus der Fall ist.65 Zuletzt noch ein dritter Hinweis, ein kurzer wirkungsgeschichtlicher Epilog: Die Neoliberalen hatten Einfluss vor allem in den 1950er Jahren. Im Laufe der 1960er 63 So Hacke: Philosophie, S. 20, mit dem Hinweis auf die Formulierung von Anthony Giddens: Jenseits von Links und Rechts. Die Zukunft radikaler Demokratie. Frankfurt am Main 1997. 64 Mit der zugespitzten Gegenüberstellung „1789“ versus „1914“ opierend etwa Doering-Manteuffel: Wie westlich, bes. S. 15–19, 33f., u. ö.; ders. (zusammen mit Dietrich Beyrau und Lutz Raphael): Vorwort. In: Hochgeschwender: Freiheit, hier S. 10f.; vgl. auch Schildt: Westlich, S. 228f.; Hacke: Philosophie, S. 13f., 296; Gassert: Bundesrepublik, S. 84f., 88; Hochgeschwender: Westen, S. 23ff. 65 Zitat Conze: Republik, S. 537. Vgl. daneben etwa auch Hettling: Bürgerlichkeit, S. 19–24, der zu Recht betont, auch die Liberalisierungs- und Wandlungsprozesse der Nachkriegsgesellschaft ließen sich nicht hinreichend erklären „ohne diese fortdauernden Fragmente vergangener Bürgerlichkeit“, wobei die Prägekraft von Bürgerlichkeit nicht durch Duplizierung oder einfache Wiederbelebung alter Modelle bestehe, sondern in einem Neuschöpfungsakt, in dem wichtige „Teilsegmente“ des „politischen Ordnungsmodells bürgerlicher Gesellschaft“ fortwirkten (S. 19), fortentwickelt und transformiert würden. Traditionen von Bürgerlichkeit würden weiter verarbeitet und mit neuen politischen Werten ergänzt bzw. unterfüttert, in einen neuen politischen Normenrahmen (Bedingungen der politisch-demokratischen Institutionen, Marktwirtschaft, individualisierte, zivile Konsumbürgerschaft) eingepasst und dabei umgedeutet und neu anverwandelt. – Zum in letzter Zeit wieder forcierten Diskurs über Bürgerlichkeit nach 1945 vgl. neben Conze und Hettling auch Volker R. Berghahn: Recasting Bourgeois Germany. In: Schissler (Ed.): Miracle Years, S. 326–430; Hannes Siegrist: Ende der Bürgerlichkeit? Die Kategorien „Bürgertum“ und „Bürgerlichkeit“ in der westdeutschen Gesellschaft und Geschichtswissenschaft der Nachkriegsperiode. In: Geschichte und Gesellschaft 20 (1994), S. 549–583; Hans-Ulrich Wehler: Deutsches Bürgertum nach 1945: Exitus oder Phönix aus der Asche?. In: Geschichte und Gesellschaft 27 (2001), S. 617–634.
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Jahre wurden dann in der Tat das keynesianische Paradigma und mit ihm die konsensliberalen Vorstellungen einer planvollen Globalsteuerung europaweit handlungs- und diskursprägend. Gleichzeitig kam es zu bemerkenswerten Friktionen innerhalb des neoliberalen Lagers. So spaltete sich etwa die Mont-Pèlerin-Gesellschaft als zentraler neoliberaler Think Tank zunehmend in zwei Gruppen: Die eine und à la longue tonangebende Fraktion bildete der sich radikalisierende, von Hayek, Friedman und Ludwig von Mises angeführte, später dann von George J. Stigler, Gary S. Becker oder Fritz Machlup verkörperte amerikanische Flügel (die sogenannte jüngere ChicagoGruppe), mit dem der Pfad zum heutigen Neoliberalismus einer „adjektivlosen Marktwirtschaft“ und eines weitgehend deregulierten globalen Wettbewerbs ohne Staatseingriffe beschritten wurde. Ihm gegenüber stand ein vornehmlich von Röpke, Rüstow und Müller-Armack repräsentierter deutscher Flügel, der für eine aktivere Verantwortung des Staates, für das Verständnis von Neoliberalismus als umfassender „Sozial-, Vital- und Gesellschaftspolitik“66 eintrat und sich zunehmend näher bei Russell Kirk oder Ortega y Gasset sah denn beim „paläo- und nicht mehr neoliberalen Hayek-Klüngel“ (W. Röpke). Hier zeigten sich tatsächlich Umrisse eines nationalen ideengeschichtlichen Sonderwegs, den Hayek seinerseits stets als diffus und sozialromantisch empfand.67 Wir können damit jedenfalls die Beharrungskräfte unterschiedlicher nationaler Traditionen auch innerhalb des Neoliberalismus feststellen. Wenn wir freilich auf die längerfristige Wirkungsgeschichte des Neoliberalismus blicken, müssen wir unsere Feststellung eines zeitlich beschränkten Einflusses relativieren oder zumindest ergänzen. Und das meint nicht nur, dass sich – mit dem Scheitern der Globalsteuerung im Laufe der strukturellen wie konjunkturellen ökonomi66 So eine Formulierung von Alfred Müller-Armack: Auf dem Weg nach Europa. Erinnerungen und Ausblicke. Tübingen/Stuttgart 1971, S. 44f. 67 Schon in seiner Rezeption von Röpkes „Gesellschaftskrisis der Gegenwart“ kritisierte Hayek um 1942 heftig die Diffusheit des Begriffs „Vermassung“ und allgemeiner den religiös-romantischen Sozialkonservativismus Röpkes, seine Sympathien für die katholische Soziallehre, auch für die Formel vom „dritten Weg“, die Hayek als problematisch äquidistant zu Liberalismus und Sozialismus erschien. Auf der anderen Seite stellten sich Röpke, Rüstow oder MüllerArmack vermehrt in Gegensatz zu den „liberalistischen Ultras“ um Mises und die „US-Fraktion“ von Hayek, warfen diesen den Verrat an den eigentlichen Zielen des Neoliberalismus vor und betonten die Gefahren eines moralisch „abgestumpften und nackten Ökonomismus“. Vgl. Müller-Armack an Mises, 30.9.1961, und Antwort Mises‘ vom 14.11.1961 (Archiv für Christlich-demokratische Politik St. Augustin, Nachlass Müller-Armack, 22/2); ferner Löffler: Marktwirtschaft, S. 47 mit Anm. 27; Hennecke: Röpke, S. 139f., 207ff., 219–225; ders.: Hayek, S. 154f., 210, 221ff., 263–282; speziell zu den (auch mit persönlichen Aversionen verbundenen) Differenzen in der Mont-Pèlerin-Gesellschaft (eskalierend mit den Rücktritten Hayeks und Röpkes in der sogenannten Hunold-Affäre zu Beginn der 1960er Jahre): Wegmann: Neoliberalismus, S. 12f., 102, 184–190; Roth: Klienten, S. 19–25, 36–41; Hartwell: History, S. 100–142; Walpen: Feinde, S. 118–159. Ein deutscher Weg in den Westen
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schen Krisen der 1970er Jahre – das amerikanische Neoliberalismusmodell seit den 1980er Jahren in Form des weltweiten wirtschafts- und währungspolitischen Systems eines „digitalen Finanzmarkt-Kapitalismus“ (jedenfalls bis zum Crash des Jahres 2008) durchgesetzt zu haben schien, besonders manifest etwa im Einfluss der „monetaristischen“ Schule Hayeks und Friedmans auf die Politik Thatchers, Reagans oder auch der Deutschen Bundesbank.68 Mit der gegenwärtigen fundamentalen Systemkrise und den Überlegungen bzw. Notwendigkeiten zur Revitalisierung staatlicher Interventionen kann man vielleicht auch das als vorübergehend klassifizieren. Was aber dauerhaft und auch über die aktuellen Krisenphänomene hinaus (oder gerade durch sie noch stärker angestoßen) fortwirkte und fortgeführt wurde, das waren und sind manche der gesellschaftsethischen Denklinien eines erneuerten und selbstkritischen bürgerlichen Liberalismus. Zu erwähnen sind da etwa die kommunitaristischen Theorien, die ambitionierte Theorie der Gerechtigkeit von John Rawls oder die allgemeinen Diskussionen zur (Re)Aktivierung einer Bürgergesellschaft, die allesamt im ökonomischen Bereich weiterhin der Konkurrenzwirtschaft vertrauen, aber verstärkt auch wieder die Bedeutung individueller moralischer Verantwortung für das Gemeinwesen (und nicht nur der überforderten staatlichen Instanzen) betonen. Und das bedeutet in erster Linie: Sie treten ein für eine Aufwertung der dezentral-subsidiären gesellschaftlichen Organisationsformen und fordern die politische Mündigkeit – und das heißt: die gesellschaftliche Verantwortlichkeit – der Bürger in der liberalen Zivilgesellschaft.69 Der – frühe – Neoliberalismus kann hier womöglich durchaus Ideen mit langfristiger Kohäsionskraft bereitstellen: Indem er manche Bürgertums-Vorstellungen vom Frühliberalismus bis in die heutige Zeit transportierte und transponierte, in eine antitotalitäre Integrationsideologie einband, die nach 1945 hohe Attraktivität besaß und Akzeptanz generierte, und auch in Zeiten der „postindustriellen“ Moderne auf Möglichkeiten und Bedeutung zivilgesellschaftlichen Engagements und staatsbürgerlicher Verantwortlichkeit verweist.
68 Vgl. Doering-Manteuffel/Raphael: Boom, S. 8f., 47–56, 76–85; Ivan T. Berend: Markt und Wirtschaft. Ökonomische Ordnungen und wirtschaftliche Entwicklung in Europa seit dem 18. Jahrhundert. Göttingen 2007, S. 22–27, 198–203; ferner als beispielhafte Studie Dominik Geppert: Thatchers konservative Revolution. Der Richtungswandel der britischen Tories 1975–1979. München 2002, bes. S. 227–317. 69 Vgl. Walter Reese-Schäfer: Grenzgötter der Moral. Der neuere europäisch-amerikanische Diskurs zur politischen Ethik. Frankfurt am Main 1997; Axel Honneth (Hg.): Kommunitarismus. Eine Debatte über die moralischen Grundlagen moderner Gesellschaften. Frankfurt am Main 1995; Ottfried Höffe: John Rawls. Eine Theorie der Gerechtigkeit. Berlin 22006; Hacke: Philosophie, S. 256–289; Hochgeschwender: Westen, S. 8f.
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3. Fazit: „Westlichkeit“ und „Liberalität“ jenseits von Keynesianismus und Konsensliberalismus Wenn man die 1950er und 1960er Jahre unter dem Modernisierungs- und Westernisierungspostulat fassen will, empfiehlt es sich, aus wirtschaftshistorischer Perspektive vorsichtig zu sein. Denn zum einen können wir noch viele beharrliche und sehr vitale nationale Traditionsbestände greifen. Sie werden umgedeutet, mischen sich mit externen Einflüssen, werden neu legitimiert. Aber sie besitzen doch weiterhin hohe Relevanz und Prägekraft, führen zu Formen einer sehr aktiven, produktiven Ideenaneignung und modifizieren ihrerseits diejenigen Ideenbestände, die neu von außen hinzukommen. Es ist zu überlegen, ob nicht das Eigengewicht dieser Wechselwirkungen an sich stärker zu beachten wäre als die jeweiligen Einzelkomponenten des Mischsystems.70 Und zum anderen haben wir ganz unterschiedliche Vorstellungen dessen, was liberal und westlich ist. Es gibt offenbar auch nach 1945 ganz verschiedene Konstruktionen „liberaler Westlichkeit“, und man muss aufpassen, nicht eine Variante, den keynesianisch inspirierten sog. Konsensliberalismus, zur allein gültigen zu erklären. Damit soll gar nicht bezweifelt werden, dass sich dieses konsensliberale Modell und allgemeiner die im anglo-atlantischen Kontext generierten Ordnungskategorien einer säkular-individualistischen Zivilgesellschaft im Laufe der 1960er Jahre nicht tatsächlich verstärkt in den Vordergrund geschoben hätten; ohne Frage wurde der Keynesianismus zu dieser Zeit prägender Bestandteil der wirtschaftspolitischen 70 Vgl. auch Johannes Paulmann: Vergleich, S. 674, 678, der ganz grundsätzlich betont, jeder Kulturtransfer, bedeute „einen Prozeß der produktiven Aneignung“, der Umwertungen, der Bedeutungsveränderungen, der Neuerfindungen im Rahmen nationalspezifischer soziopolitischer Selbstvergewisserung – und „nicht etwa eine originalgetreue Übertragung fremder Ideen und Einrichtungen“; dementsprechend bezeichneten Begriffe wie „interkultureller Transfer“ auch „nicht den Transfer von Kultur, sondern denjenigen zwischen Kulturen“. In eine ähnliche Richtung weist Matthias Middell: Kulturtransfer und Historische Komparatistik. Thesen zu ihrem Verhältnis. In: ders. (Hg.): Kulturtransfer und Vergleich. Leipzig 2000, S. 7–41, hier S. 17–23, mit seinem Plädoyer, bei Transferprozessen vor allem die „Formen der métissage“ in den Vordergrund zu rücken, die „Vermischungen“ zu suchen und dabei die Eigengewichtigkeit der Rezeptionsbedürfnisse und Inkorporationsvorgänge zu beachten. Siehe ferner Bauerkämper/Jarausch/Payk (Hg.): Demokratiewunder, S. 16–23, über die Schwierigkeiten, die „Prozesse der Adaption, Akkulturation und Anverwandlung“ bei „transnationalen Wechselwirkungen“ angemessen und differenziert zu erfassen; Sebastian Lorenz/Marcel Machill: Nicht Amerikanisierung, sondern Transfer. Ein interdisziplinärer Forschungsansatz zur Analyse der transatlantischen Beziehungen. In: dies. (Hg.): Transatlantik. Transfer von Politik, Wirtschaft und Kultur. Opladen 1999, S. 14–22; Schwaabe: Antiamerikanismus, S. 130–145; Diethelm Prowe: The „Miracle“ of the Political-Culture Shift: Democratization between Americanization and Conservative Reintegration. In: Schissler (Ed.): Miracle Years, S. 451–458. Ein deutscher Weg in den Westen
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Staatsräson Westdeutschlands und diente überdies der bis dahin weithin absenten deutschen Sozialdemokratie als innovatives konzeptionelles Eintrittsbillet auf die Bühne der Wirtschaftspolitik; zugleich verlor die traditionelle konservative Integrationsideologie vom „christlichen Abendland“ deutlich an Einfluss und Strahlkraft. Aber erstens war diese Adaption des Konsensliberalismus nur möglich, weil auch im zunächst ordo- oder neoliberal bestimmten Modell der Sozialen Marktwirtschaft von Beginn an gewisse keynesianische und konsensuale Elemente eingelassen waren und sich dieses System gerade in planungs- und konjunkturpolitischer Hinsicht als ziemlich offenes, evolutives und anpassungsfähiges System zeigte; die Übergänge waren also viel fließender, als dies die emphatische Innvovations- und Reformeuphorie der ausgehenden 1960er Jahre vermuten ließe.71 Zweitens zeigten sich auch die keynesianischen Wirtschaftsvorstellungen nur für relativ kurze Zeit als wirklich tonangebend und wurden bereits in den 1980er schon wieder abgelöst durch den neoliberalen Monetarismus als neuer globaler Referenzordnung (jedenfalls bis ins Jahr 2008). Und zum dritten und prinzipieller noch würde eine Gleichung „ökonomische Westlichkeit = Konsensliberalismus/Keynesianismus“ dem „Westen“ durchgehend eine normative innere Kohärenz und Konsistenz unterstellen, wie sie dieser zu keiner Zeit besessen hat. Oder schärfer gefasst: Ein solche Interpretation wäre weniger eine historiographische Analysekategorie denn selbst ein politisches Ideologem mit durchaus missionarischem Impetus und ausgesprochen teleologischen Qualitäten.72 Philipp Gassert hat in diesem Zusammenhang zu Recht darauf hingewiesen, die „linksliberale“ oder „liberaldemokratische“ Vereinnahmung und „monolithische Vorstellung“ von „Verwestlichung“ seien nichts anderes als das „zeitgeschichtliche Pendant zur alten Sonderwegsthese“ und angesichts der dezidiert „postnationalen“ Identität Westdeutschlands eine gerade im westeuropäischen Vergleich ziemlich singuläre (und keineswegs im Rahmen der westlichen Verfassungsnormalität liegende) „politische Legitimationsideologie der Berliner Republik“.73 71 Vgl. dazu mit Hinweisen etwa auf die konjunktur- und europapolitischen Initiativen Alfred Müller-Armacks, auf dessen Idee einer „zweiten Phase der Sozialen Marktwirtschaft“ oder auf die Vorgeschichte von Sachverständigenrat und Stabilitäts- und Wachstumsgesetz: Löffler: Marktwirtschaft, S. 110–121; Alexander Nützenadel: Stunde der Ökonomen. Wissenschaft, Politik und Expertenkultur in der Bundesrepublik 1949–1974. Göttingen 2005, hier S. 205–231, 283–295; ders.: Die Bundesrepublik Deutschland, Frankreich und die Debatte über eine europäische Wirtschaftspolitik 1958–65. In: Francia 30/3 (2003), S. 73–98; Gabriele Metzler: Konzeptionen politischen Handelns von Adenauer bis Brandt. Politische Planung in der pluralistischen Gesellschaft. Paderborn u. a. 2005, S. 232–259. 72 Vgl. dafür stellvertretend die „Meistererzählung“ von Heinrich August Winkler: Der lange Weg nach Westen, 2 Bände. München 2000/01; daneben etwa auch Axel Schildt: Ankunft im Westen. Ein Essay zur Erfolgsgeschichte der Bundesrepublik. Frankfurt am Main 1999. 73 Gassert: Bundesrepublik, S. 68–72, 77, 84f., 88f.
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Insgesamt wird man also noch viel intensiver die Ambivalenz, Konstrukthaftigkeit und Wandelbarkeit von Interprationsmustern wie „Westernisierung“, „Modernisierung“ oder „Liberalisierung“ zu reflektieren und zu problematisieren haben, wenn man damit historische Phänomene wie „Westlichkeit“, „Moderne“ oder „Liberalismus“ terminologisch und analytisch in den Griff bekommen will. Gerade das von uns traktierte ökonomische bzw. wirtschaftspolitische und wirtschaftsideengeschichtliche Untersuchungsfeld legt diesen Schluss nahe und vermag den Forderungen nach differenzierender Historisierung auch der Begriffs- und Analysemodelle westdeutscher Geschichte nicht zuletzt deshalb größere Dimensionen zu verleihen, weil dem sozialmarktwirtschaftlichen Konzept mit seiner identitätsstiftenden Wirk- und Werbemächtigkeit eine prinzipielle Relevanz für die westdeutsche Geschichte der 1950er/60er Jahre und darüber hinaus zukommt und die ideelle Erschließung und Anverwandlung der – westlichen – Welt zu einem großen Teil eben über diesen ökonomischen Diskurs verlief. Eine Ideengeschichte der Sozialen Marktwirtschaft kann also wie unter dem Brennglas darauf verweisen, dass „Liberalität“ und „Westlichkeit“ komplexe und außerordentlich vieldeutige ideologische „Mischprodukte“ mit zahlreichen „binnenwestlichen“ Differenzierungen und internen Brechungen waren und sind. Sie entwickelten sich von Anfang an „polyzentrisch“. Und sie verliefen und verlaufen in unterschiedlichen Bahnen politischen Denkens. Auch für Westdeutschland kennt der Weg „zu westlichem Freiheitsverständnis, zu Liberalität und Bürgerlichkeit“ (U. Herbert) verschiedene Pfade und Strömungen politischer Selbstvergewisserung.74 Wir haben mit dem europäischen Neoliberalismus einen spezifischen Entwicklungsstrang westlicher Liberalität, Bürgerlichkeit und (sozialer) Zivilität kennengelernt, an dem von Beginn an auch deutsche politische Intellektuelle teilhatten und der deutlich jenseits des amerikanischen konsensliberalen bzw. keynesianischen Modells lag. Er repräsentierte deshalb noch lange kein „Sonderweg“, sondern war ebenfalls Teil eines ausgesprochen transnationalen, gemeineuropäischen und nicht zuletzt angelsächsisch inspirierten Entwicklungsprozesses.75 All dies markierte vielleicht nicht den Weg der Deutschen in den Westen, sehr wohl aber einen Weg dorthin. Auch er ist Teil der Geschichte einer zivilbürgerlichen „liberalkonservativen Begründung der Bundesrepublik“76. 74 Wegmann: Neoliberalismus, S. 103; Hochgeschwender: Westen, S. 2ff., 13ff.; Gassert: Bundesrepublik, S. 74f.; Mooser: Liberalismus, S. 159ff. mit Anm. 62; Schildt: Westlich, S. 239. 75 Das kann auch grundsätzlich darauf verweisen, dass substantielle (ökonomische) Transnationalität bzw. entsprechende nationale Anverwandlungsvorgänge keineswegs ein exklusives Moment von („amerikanisierenden“ oder „westernisierenden“) Einflussnahmen nach 1945 waren. Vgl. auch Sigrid Quack: Die transnationalen Ursprünge des „deutschen Kapitalismus“. In: Berghahn/Vitols (Hg.): Kapitalismus, S. 63–85. 76 Hacke: Philosophie. Ein deutscher Weg in den Westen
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Prosperität und Krisenangst Die zögerliche Versöhnung der Bundesbürger mit dem neuen Wohlstand Als neu geschaffenes Staatswesen legitimierte sich die Bundesrepublik Deutschland besonders über ihre wirtschaftliche Leistungsfähigkeit, vermittelt über den Konsum, der das „Wirtschaftswunder“ im Alltag der Bürger verkörperte. Als kulturelle Deutungsmuster des neuen Wohlstands und seiner Sozialpraxis vermischten sich Impulse aus den USA, den europäischen Nachbarn und nationale Traditionen. Schon als Ergebnis einer vergleichenden Studie von 1971, die die USA und einige europäische Länder in den Blick nahm, sahen George Katona, Burkhard Strümpel und Ernest Zahn „zwei Wege der Prosperität“, heute spricht Victoria de Grazia präziser von einem „fordistischen“ und einem „europäischen“ Konsummodell.1 Hier soll die Frage nach den Unterschieden zwischen den europäischen Ländern im Mittelpunkt stehen, insbesondere die Frage, inwieweit sich die deutsche Ausprägung der Konsumgesellschaft von der der anderen Länder unterschied. Als Hintergrund und Einflussfaktor spielten dabei das amerikanische Modell und die Impulse aus den USA eine zentrale Rolle, zumal in den 50er und 60er Jahren, wo „fordistische“ Elemente wie Massenproduktion, Supermärkte und moderne Marketingmethoden auch im Wirtschaftsleben der Bundesrepublik Einzug hielten und unter dem Stichwort der „Amerikanisierung“ kulturkritisch diskutiert wurden.2 Bei der Ausformung nationalspezifischer Konsumstile spielten wirtschaftspsychologische Aspekte eine bedeutende Rolle, die aus nationalspezifischen Kontexten entstanden. Die im Folgenden zu beantwortenden Fragen 1
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George Katona/Burkhard Strümpel/Ernest Zahn: Zwei Wege zur Prosperität. Konsumverhalten, Leistungsmentalität und Bildungsbereitschaft in Amerika und Europa. Düsseldorf/ Wien 1971; Victoria de Grazia: Irresistible Empire. America‘s Advance through 20th-Century Europe. Cambridge/London 2005. Kaspar Maase: Amerikanisierung von unten. Demonstrative Vulgarität und kulturelle Hegemonie in der Bundesrepublik der 50er Jahre. In: Alf Lüdtke/Inge Marßolek/Adelheid von Saldern (Hg.): Amerikanisierung. Traum und Alptraum im Deutschland des 20. Jahrhunderts. Stuttgart 1996, S. 291–314; Philipp Gassert: Amerikanismus, Antiamerikanismus, Amerikanisierung. Neue Literatur zur Sozial-, Wirtschafts- und Kulturgeschichte des amerikanischen Einflusses in Deutschland und Europa. In: Archiv für Sozialgeschichte 39 (1999), S. 531–579. Prosperität und Krisenangst
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lauten: Inwiefern gab es nach 1945 „nationale“ und „europäische“ Muster in der Konsumtion, in den Deutungen des Konsums, in der Kommunikation über Waren? Und zweitens: Inwiefern bilden hier die 50er und 60er Jahre eine Zäsur? Inwieweit veränderten die gewachsenen konsumtiven Möglichkeiten das kulturelle Selbstverständnis der Westdeutschen, inwieweit führten sie zu einer Angleichung im Sinne eines „europäischen Konsums“ (Hartmut Kaelble)? Und wie reagierten die Bundesbürger auf den plötzlichen wirtschaftlichen Wohlstand? Wie nahmen sie Güter und kulturelle Impulse auf, die aus anderen Ländern kamen? Bearbeitet werden diese Fragen in drei Schritten: Erstens werden die „harten“, materiellen Aspekte der frühen westdeutschen Massenkonsumgesellschaft erörtert; zweitens werden Wahrnehmungen und Deutungen des Wohlstands durch die Konsumenten untersucht; und drittens wird die Spannung zwischen nationalen Traditionen und internationalen Einflüssen im Massenkonsum als Kulturkampf beschrieben, in dem über das erwünschte Mischungsverhältnis verhandelt wurde.
1. Durchbruch der Massenkonsumgesellschaft und sozialer Wandel Zunächst einmal bildeten die 50er und 60er Jahre zwar die formativen Dekaden in der Geschichte der Bundesrepublik, aber sie waren keine einheitliche Transformationsperiode, sondern zeigen sehr unterschiedliche Dynamiken. Betrachtet man den wirtschaftlichen Wohlstand, dann waren die materiellen Spielräume der Westdeutschen bis in das zweite Drittel der 50er Jahre noch eng, und sie verengten sich nach einer Phase der enormen Erweiterung erneut in der Mitte der 70er Jahre, allerdings auf höherer Stufe.3 Es war der Prosperitätsschub der dazwischen liegenden Dekade, der scheinbar unbegrenzte Horizonte eröffnete, so dass schon die Zeitgenossen von „goldenen Jahren“ sprachen und Machbarkeitsutopien aller Art Hochkonjunktur hatten.4 Als „golden“ wurden diese Jahre auch empfunden, weil Waren und Dienstleistungen über die Existenzsicherung hinaus konsumiert werden konnten. In keiner anderen Zeitspanne nahmen die Reallöhne so stark zu, niemals sonst wurde Vollbeschäftigung erreicht. In der Bundesrepublik ebenso wie in den meisten anderen westeuropäischen Ländern setzte sich der Massenkonsum in den 50er und „vollends“ in den 60er Jahren durch, mit etwa zwanzigjähriger Zeitverzögerung gegenüber den USA.5 Zu den 3 4 5
Anselm Döring-Manteuffel/Lutz Raphael (Hg.): Nach dem Boom. Perspektiven auf die Zeitgeschichte seit 1970. Göttingen 2008. Das Zitat in Elisabeth Noelle/Erich Peter Neumann (Hg.): Jahrbuch der öffentlichen Meinung 1968–1973. Allensbach/Bonn 1974, S. 209. Vgl. George Katona: Der Massenkonsum. Eine Psychologie der neuen Käuferschichten. Wien/Düsseldorf 1965. (amerikanische Erstveröffentlichung 1964); Jean Baudrillard: The Consumer Society. Myths and Structures. London 2003. (französische Erstausgabe 1970);
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Rahmenbedingungen für die Entfaltung der Massenkonsumgesellschaft in den 60er Jahren gehörten verbesserte Produktionsmethoden, eine diversifizierte Produktpalette, zunehmende internationale Konkurrenz, die sinkende Preise nach sich zog, der Ausbau der staatlichen Sicherungssysteme, ein normatives Bild des Staatsbürgers als selbstständig handelndes Individuum und der Konkurrenzkampf mit dem Staatssozialismus, in dem der Massenkonsum eine immer wichtigere Rolle spielte.6 Ihre Merkmale bestehen in der Dominanz industriell gefertigter Massenprodukte, einer breiten Schicht von Abnehmern – den „Konsumenten“ –, die sich auf eine erheblich verbesserte finanzielle Ausstattung der privaten Haushalte und die Expansion des Freizeitsektors stützen können, dem zielgerichteten Aufbau differenzierter Märkte durch Produktgestaltung und Marketing, einer Verfeinerung der sozialen Unterschiede unter den Konsumenten und der medienvermittelten Organisation des Diskurses über die Bedeutung von Waren.7 Dass die materielle Grundversorgung gesichert war und die Geldmittel der Bürger nun für andere als unbedingt lebenserhaltende Waren und Dienstleistungen ausgegeben werden konnten, zeigte sich daran, dass die Aus-
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Der Titel der amerikanischen Erstausgabe von Katonas Standardwerk sprach bereits von einer „Massenkonsumgesellschaft“, die nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges entstand und sich von den seit dem späten 19. Jahrhundert entstehenden europäischen „Konsumgesellschaften“ unterschied. Vgl. Heinz-Gerhard Haupt: Konsum und Handel. Europa im 19. und 20. Jahrhundert. Göttingen 2003 (das obige Zitat S. 117). Zur Begriffsgeschichte Ulrich Wyrwa: Consumption, Konsum, Konsumgesellschaft. Ein Beitrag zur Begriffsgeschichte. In: Hannes Siegrist/Hartmut Kaelble/Jürgen Kocka (Hg.): Europäische Konsumgeschichte. Zur Gesellschafts- und Kulturgeschichte des Konsums (18. bis 20. Jahrhundert). Frankfurt am Main/New York 1997, S. 747–762, hier S. 756. Zu den europäischen Ausformungen des Massenkonsums im Verhältnis zu den USA vgl. neben de Grazia: Empire, Siegrist/Kaelble/ Kocka (Hg.): Konsumgeschichte, sowie Susan Strasser/Charles McGovern/Matthias Judt (Hg.): Getting and Spending. European and American Consumer Societies in the Twentieth Century. Cambridge 1998 und jetzt Sabine Haustein: Vom Mangel zum Massenkonsum. Deutschland, Frankreich und Großbritannien im Vergleich 1945–1970. Frankfurt am Main/ New York 2007. Die Grundzüge der Entwicklung umreißt treffend Hartmut Kaelble: Sozialgeschichte Europas 1945 bis zur Gegenwart. München 2007, S. 87ff. Mary Douglas/Baron Isherwood: The World of Goods. Towards an Anthropology of Consumption. New York 1979; Michael Wildt: Am Beginn der „Konsumgesellschaft“. Mangelerfahrung, Lebenshaltung, Wohlstandshoffnung in Westdeutschland in den fünfziger Jahren. Hamburg 1994. Hartmut Kaelble: Europäische Besonderheiten des Massenkonsums 1950–1990. In: Siegrist/ Kaelble/Kocka (Hg.): Konsumgeschichte, S. 169–203, hier S. 172ff.; John Brewer: Was können wir aus der Geschichte der frühen Neuzeit für die moderne Konsumgeschichte lernen? In: Siegrist/Kaelble/Kocka (Hg.): Konsumgeschichte, S. 51–74, hier S. 52ff.; Victoria de Grazia: Amerikanisierung und wechselnde Leitbilder der Konsum-Moderne (consumer-modernity) in Europa. In: Siegrist/Kaelble/Kocka (Hg.): Konsumgeschichte, S. 109–137, hier S. 114ff.; Haupt: Konsum, S. 118ff. Prosperität und Krisenangst
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gaben für Ernährung im Untersuchungszeitraum prozentual abnahmen, diejenigen für Transport, Kommunikation und Freizeit hingegen anstiegen. Konsumgüter trugen dazu bei, Ideale wie sozialen Ausgleich und Gerechtigkeit, Individualismus und Partizipation zumindest teilweise zu verwirklichen. Zwar blieben markante Unterschiede zwischen den Klassen und Schichten erhalten, doch verlagerten sie sich auf ein höheres Niveau, so dass auch benachteiligte Gruppen in den Genuss wirtschaftlicher Besserstellung und kultureller Kompetenzerweiterung kamen – insbesondere Arbeiter und Frauen. Nicht mehr Ausschluss von Konsum, sondern grundsätzliche Einbeziehung in die große Masse der Konsumenten brachte einen qualitativen Schub bei der Verbesserung ihrer Lebensbedingungen.8 Dieser Vorgang war grundsätzlich in allen europäischen Gesellschaften zu beobachten – allerdings in unterschiedlichen Ausprägungen und zeitlichen Dynamiken, die von jeweils nationalen Traditionen, Problemlagen und Potenzialen bestimmt wurden. In der Bundesrepublik lösten Marshallplan, Währungsreform, die frühe Expansion der Konsumgüterindustrie, der Ausbau der Sozialsysteme und die Einbettung in das westeuropäische Wirtschaftssystem einen Besserstellungsschub aus, der 1950 begann und mit der Ölkrise von 1973 endete.9 Der Wiederaufbau der 50er Jahre knüpfte an Modernisierungsschübe an, die schon im späten Kaiserreich, der Weimarer Republik und im Dritten Reich angelegt waren, sich aber wegen der kriegsbedingten Konzentration der Ressourcen und der nachfolgenden Krise nur begrenzt entfalten konnten – sei es im Hinblick auf die Massenmedialisierung, die Automobilisierung oder den Massentourismus. In vielerlei Hinsicht blieben die materielle Kultur, die milieuhaft gebundene Sozialkultur und die Vorlieben der Deutschen in Sachen Literatur, Musik und Kunst der ersten Jahrhunderthälfte verhaftet. Erst im letzten Drittel der 50er Jahre ging der Wiederaufbau in einen Modernisierungsschub über, der insbesondere deshalb eine Zäsur markierte, weil er der großen Masse der Bevölkerung die 8
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Zu schichtenspezifischen Transformationen vgl. Josef Mooser: Arbeiterleben in Deutschland 1900–1970. Klassenlagen, Kultur und Politik. Frankfurt am Main 1984; Kaspar Maase: Lebensweise der Lohnarbeiter in der Freizeit. Empirische Materialien und theoretische Analyse. Frankfurt am Main 1984; Ditmar Brock: Der schwierige Weg in die Moderne. Umwälzungen in der Lebensführung der deutschen Arbeiter zwischen 1850 und 1980. Frankfurt am Main/ New York 1991. Vgl. Werner Abelshauser: Die Langen Fünfziger Jahre. Wirtschaft und Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland 1949–1966. Düsseldorf 1987; Werner Abelshauser: Wirtschaftsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland 1945–1980. Frankfurt am Main 71993; Burkart Lutz: Der kurze Traum immerwährender Prosperität. Eine Neuinterpretation der industriell-kapitalistischen Entwicklung im Europa des 20. Jahrhunderts. Frankfurt am Main 1984; Hartmut Kaelble (Hg.): Der Boom 1948–1973. Gesellschaftliche und wirtschaftliche Folgen in der Bundesrepublik Deutschland und in Europa. Opladen 1992; Philipp Heldmann: Das „Wirtschaftswunder“ in Westdeutschland. Überlegungen zu Periodisierung und Ursachen. In: Archiv für Sozialgeschichte 36 (1996), S. 323–344.
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Möglichkeit verschaffte, über das unbedingt Lebensnotwendige hinaus sicher über zusätzliche, frei verfügbare Mittel zu gebieten.10 Die schon im späten 19. Jahrhundert sichtbaren konsumgesellschaftlichen Züge verdichteten sich nun zu einer Massenkonsumgesellschaft, die, insbesondere im Zusammenspiel mit der zunehmenden Freizeit und der Bildungsreform die Enttraditionalisierung und Individualisierung vorantrieb. Das lange Wochenende und der lange Jahresurlaub, schließlich auch die Möglichkeit für einen größer werdenden Anteil der Nachwachsenden, über den Besuch weiterführender Schulen und Hochschulen erst in der Mitte der 20er Lebensjahre in den Arbeitsprozess einzusteigen – all dies verbesserte die Selbstentfaltungsmöglichkeiten enorm.11 Die weitgehend selbstbestimmte Freizeit war gleichzeitig Konsumzeit. Hier wurde nicht mehr nur die Arbeitskraft reproduziert, sondern es entstand ein ganz eigenständiger Sektor des Alltags, der nicht nur Regeneration, sondern Entfaltung nach individuellem Gusto ermöglichte. Häufig ist der wirtschaftliche Aufstieg mit Ulrich Beck als „Fahrstuhleffekt“ beschrieben worden, der insbesondere benachteiligten Schichten zugute kam. Und tatsächlich zeigt die Angleichung in den Besitzständen vieler Gebrauchsgüter, wie sich insbesondere für Arbeiter die Zugänge zu kulturellen Gütern erweiterten. Während etwa 1962 22 Prozent der Arbeiter einen PKW besaßen, waren es 1973 66 Prozent, bei den Angestellten betrugen die Werte 40 Prozent im Jahre 1962 und 73 Prozent elf Jahre später.12 Einen Kühlschrank besaßen 1962 54 Prozent der Arbeiter und 70 Prozent der Angestellten, 1973 waren es 95 und 96 Prozent. Dass die Besitzstände dennoch nach kulturellen Präferenzen und Erfordernissen variierten, demonstriert etwa die Tatsache, dass sich im selben Zeitraum der Besitz eines Telefons bei den Angestellten von 23 auf 69 Prozent erhöhte, während bei den Arbeitern nur ein geringer Anstieg von 22 auf 34 Prozent zu verzeichnen ist. Auch der Massentourismus entfaltete sich schichtenspezifisch, seinen eigentlichen Boom erlebte er erst in den frühen 70er Jahren. Während 1960 lediglich ein Drittel der Westdeutschen verreisten – davon nur 10 Prozent jenseits der deutschen Grenzen –, waren es Ende der
10 Vgl. insgesamt Axel Schildt/Arnold Sywottek (Hg.): Modernisierung im Wiederaufbau. Die westdeutsche Gesellschaft der 50er Jahre. Bonn 1993; Axel Schildt/Detlef Siegfried/Karl Christian Lammers (Hg.): Dynamische Zeiten. Die 60er Jahre in den beiden deutschen Gesellschaften. Hamburg 22003; Ulrich Herbert (Hg.): Wandlungsprozesse in Westdeutschland. Belastung, Integration, Liberalisierung 1945–1980. Göttingen 2002. 11 Vgl. Axel Schildt: Moderne Zeiten. Freizeit, Massenmedien und „Zeitgeist“ in der Bundesrepublik der 50er Jahre. Hamburg 1995, S. 73ff.; Detlef Siegfried: Time Is on My Side. Konsum und Politik in der westdeutschen Jugendkultur der 60er Jahre. Göttingen 22008, S. 33ff. 12 Roland Ermrich: Basisdaten zur sozio-ökonomischen Entwicklung der Bundesrepublik Deutschland. Bonn/Bad Godesberg 1974, S. 559. Prosperität und Krisenangst
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70er Jahre 60 Prozent, von denen wiederum 60 Prozent andere Länder besuchten.13 Und schließlich zeigen sich soziale Diskrepanzen auch an einer zentralen Ikone des „Wirtschaftswunders“, dem Automobil, das seinen Aufstieg in den „goldenen Jahren“ erlebte – allerdings erst mit erheblicher Verzögerung für Arbeiterhaushalte, die Mitte der 60er Jahre erst zu einem Drittel über einen PKW verfügten.14 Ohne Zweifel hat der Besserstellungsschub der 50er und 60er Jahre die sozialen Unterschiede abgeschliffen und sozialen Aufstieg in einem bisher nicht da gewesenen Maße ermöglicht. Nicht nur Arbeiter, sondern auch Frauen und Jugendliche eroberten mit Führerschein und Lenkrad den Zugang zu Mobilitätspotenzialen, die ihnen bis dahin verschlossen gewesen waren. Die breite Öffnung für die Masse der bis dahin Ausgeschlossenen unterscheidet die „goldenen Jahre“ von der noch nach Klassengrenzen scharf geschiedenen Zwischenkriegszeit. Auch wenn sich die Kohärenz der Klassen gelockert hatte, bestand die Klassengesellschaft nach 1945 zunächst noch fort. Die Homogenisierungsmaßnahmen des Nationalsozialismus und der Krieg hatten sie nicht grundsätzlich aufgebrochen. Vergleicht man die Verhältnisse in der Bundesrepublik mit denen in anderen europäischen Ländern, so ging der Wandel hier z.T. deutlich zögerlicher vonstatten. Sicherlich setzte sich der Massenkonsum in Westdeutschland schneller und breiter durch als in den sozialkulturell rückständigen südeuropäischen und in den teils schon zuvor strukturell benachteiligten, aber seit 1945 noch zusätzlich politisch restringierten osteuropäischen Ländern. Vergleicht man die Bundesrepublik jedoch mit den anderen nordwesteuropäischen Ländern, so wird deutlich, dass sie in Tempo und Ausmaß des Wandels z.T. übertroffen wurde. Im Hinblick auf die Besitzstände von Automobilen hatte die Bundesrepublik den Stand Frankreichs, Großbritanniens oder Dänemarks, die wie manche andere westeuropäischen Länder schon seit den 20er Jahren im Pro-Kopf-Anteil weit vor Deutschland lagen, erst Anfang der 70er Jahre erreicht – freilich bei enormen Steigerungsraten in den 60er Jahren. Bis zum Ende der 70er Jahre ließ sie die Nachbarn dann allesamt hinter sich.15 Auch die Versorgung mit Telefonen war in der Bundesrepublik 1950 schlechter als in den meisten anderen westeuropäischen Ländern. Sie erreichte noch 1980 nicht den Stand von Großbritannien oder den Niederlanden, ganz zu schweigen von den europäischen Speerspitzen der Prosperität, den skandinavischen Ländern
13 Axel Schildt: Across the Border. West German Youth Travel to Western Europe. In: Axel Schildt/Detlef Siegfried (Hg.): Between Marx and Coca-Cola. Youth Cultures in Changing European Societies. New York/Oxford 2006, S. 149–160, hier S. 150. 14 Werner Polster/Klaus Voy: Eigenheim und Automobil – Materielle Fundamente der Lebensweise. In: Klaus Voy u. a. (Hg.): Gesellschaftliche Transformationsprozesse und materielle Lebensweise. Beiträge zur Wirtschafts- und Gesellschaftsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland (1949–1989). Marburg 1991, S. 263–320, hier S. 300f. 15 Tabelle bei Kaelble: Besonderheiten, S. 197. Vgl. Kaelble: Sozialgeschichte, S. 106.
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und der Schweiz.16 Alles in allem freilich näherten sich die europäischen Länder im gemeinsamen Aufschwung und seit 1957 forciert durch die Entstehung eines gemeinsamen Wirtschaftsraums einander an, in den 60er Jahren insbesondere die Kernländer Frankreich, Großbritannien und die Bundesrepublik Deutschland. Nimmt man also die wirtschaftliche Entwicklung und den Massenkonsum, so sind ihre positiven materiellen, politisch integrativen und sozial differenzierenden Effekte kaum zu bezweifeln. Dass der Wirtschaftskrise von 1974/75 nicht die stets befürchtete politische Destabilisierung folgte, ist nicht zuletzt der Tatsache zu verdanken, dass sich im materiellen Sicherheitskokon der Prosperitätsphase auch die außerökonomische Legitimität der Bundesrepublik festigte. Dennoch bleibt offen, wie genau sich ökonomischer Erfolg und politische Legitimität zueinander verhielten.
2. Dem „Wunder“ trauen? Westdeutsche Wahrnehmungen der Prosperität Dass und wie die gewachsenen konsumptiven Möglichkeiten den Alltag der Bundesbürger veränderten, ist empirisch nachweisbar. Schwerer zu beantworten ist die Frage, wie sie den plötzlichen Wohlstand bewerteten und wie diese Wertungen ihre Konsumpraxis beeinflussten. Hier setzte das amerikanisch-europäische Soziologenteam Katona, Strümpel und Zahn an. Sie wollten das ökonomische Denkmodell des rational agierenden Homo oeconomicus überwinden und machten sich auf die Suche nach den Erfahrungen, Motiven, Wahrnehmungen und Deutungen, die die Entscheidungen der Konsumenten wesentlich beeinflussten. In ihrer vergleichenden Studie von 1971 kamen sie zu dem bemerkenswerten Ergebnis: „The German and the American responses to affluence stand in the sharpest contrast to each other. In Germany there is a gap between the reality of a rapidly developing mass-consumption society and its perception by the people.“17 Im Vergleich zu den anderen Europäern waren die Deutschen am wenigsten bereit, dem wachsenden Reichtum zu vertrauen und ihr Handeln danach auszurichten. Sie fürchteten eine neue Wirtschaftskrise, „which fear apparently grows stronger with rising prosperity!“ – und zwar schon in den frühen 60er Jahren, noch bevor die kurze wirtschaftliche Turbulenz von 1966/67 die Krisenängste kurzzeitig noch potenzierte. Es war dieser „Cultural lag“, das Moment der Verzögerung in der mentalen Anpassung der Deutschen an die rasche Verbesserung der materiellen Lage, in dem noch einmal besonders pointiert traditionalistische und moderne Haltungen kollidierten und öffentlich gegeneinander ausgetragen wurden. 16 Kaelble: Besonderheiten, S. 199. 17 George Katona/Burkhard Strumpel/Ernest Zahn: Aspirations and Affluence. Comparative Studies in the United States and Europe. New York u. a. 1971, S. 173. Prosperität und Krisenangst
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Insbesondere die Konflikte der mittleren 60er Jahre waren geprägt von Versuchen, die mit der Ausbreitung des Konsums einhergehende kulturelle Liberalisierung einzugrenzen oder zu stoppen. Die 1964 gestartete „Aktion Saubere Leinwand“ des CDUAbgeordneten Adolf Süsterhenn, die 150 Bundestagsabgeordnete mobilisierte und eine Million Unterschriften sammelte, Ludwig Erhards Ideal einer „formierten Gesellschaft“ oder der Aufstieg der NPD bei den Landtagswahlen seit 1966 waren Elemente dieses Rollbacks, das wiederum starke Gegenreaktionen auslöste. Der frühe und erst in den 70er Jahren teilweise gelungene Versuch, eine „Tendenzwende“ herbeizuführen, richtete sich direkt gegen die vermuteten kulturellen Folgen des Massenkonsums, der eine, wie es in einer konsumkritischen Quelle heißt, „Verbrauchergemeinschaft mit halber Moral“ erzeugt habe.18 Die negative Bewertung der immateriellen Folgen der „Konsumgesellschaft“ war in der Bundesrepublik stärker ausgeprägt als in anderen westeuropäischen Ländern, die die deutschen Befürworter und Nutznießer der kulturellen Liberalisierung wiederum als Vorbilder betrachteten – allen voran Skandinavien, aber auch Großbritannien, das insbesondere Jugendlichen als „promised land“ erschien.19 Katona, Strümpel und Zahn kamen schon zeitgenössisch zu dem Ergebnis, dass nichtökonomische Variablen wie Einstellungen und Erwartungen für nationale Stile des Prosperitätsverhaltens entscheidend seien. So waren die Hoffnung auf Aufstieg durch Bildung, die Bereitschaft von Frauen, eine Erwerbstätigkeit aufzunehmen und eine optimistische Sicht der eigenen Lage in den USA sehr viel ausgeprägter als in den europäischen Ländern. Während etwa ein Drittel aller amerikanischen Haushaltsvorstände sich selbst in einem Kontinuum des Fortschritts sah – es ginge besser als vier Jahre zuvor, und in weiteren vier Jahren würde es noch besser gehen – nahmen nur jeder vierte Brite, jeder fünfte Franzose und jeder sechste Niederländer seine Situation ebenso wahr. Am pessimistischsten waren die Deutschen – nur jeder Achte sah seine Lage derart positiv, dies alles 1968, noch einige Jahre vor dem Ende der Prosperitätsphase. Nahezu überall befand sich die Bundesrepublik im stärksten Kontrast zu den USA, denn die Deutschen standen ihrem neuen Reichtum sehr viel skeptischer gegenüber und agierten deshalb vorsichtiger. Je kontinuierlicher die wirtschaftliche Entwicklung aufwärts ging, desto mehr verstärkten sich ihre Krisenängste. Auch in den Diskursen lässt sich aufspüren, wie lebendig die Erfahrung der Krise von 1929 war, wie stark die Furcht vor dem baldigen Ende des Aufschwungs und des Zusam18 Herbert Schäfer: Weiße-Kragen-Kriminalität und Jugendgefährdung. Ein Pinselstrich am Bild des professionellen Jugendgefährders. In: ders. (Hg.): Grundlagen der Kriminalistik, Bd. 1: Jugendkriminalität. Hamburg 1965, S. 347–380, hier S. 380. Vgl. Axel Schildt: „Die Kräfte der Gegenreform sind auf breiter Front angetreten“. Zur konservativen Tendenzwende in den Siebzigerjahren. In: Archiv für Sozialgeschichte 44 (2004), S. 449–478. 19 Klaus Plaumann: The BeatAge. Die frühen Tage des Rock in Deutschland und Großbritannien. Frankfurt am Main 1978, o.Pag.
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menbruchs der „Schönwetterdemokratie“. Gleichzeitig war in der Bundesrepublik die Bildungsbereitschaft von allen Ländern am geringsten entwickelt. In Großbritannien waren hingegen der Optimismus, die konsumtive Risikobereitschaft stärker ausgeprägt und das Bildungsniveau höher als auf dem Kontinent – trotz zum Teil schlechterer Strukturbedingungen. Auf der Basis demoskopischer Erhebungen lässt sich einigermaßen zuverlässig rekonstruieren, wie sich die Haltung der Deutschen zum wachsenden Wohlstand veränderte. Demnach nahm das Misstrauen in den „goldenen Jahren“ bis 1966 stetig zu, erreichte einen Höhepunkt während der Konjunkturdelle von 1966/67, wich in der darauffolgenden wirtschaftlichen Erholung aber einem zunehmenden Sicherheitsgefühl. Seit 1958 befragte das Meinungsforschungsinstitut Emnid die Bundesbürger, ob sie den gegenwärtigen Lebensstil der Gesellschaft für „zu anspruchslos“, „zu anspruchsvoll“ oder „gerade richtig“ hielten. 1969 kamen die Meinungsforscher zu dem Ergebnis, „dass erstmals überhaupt im gesamten Verlauf dieser Befragung seit mehr als einem Jahrzehnt die Gruppe überwiegt, die mit der Wohlstandsentwicklung ,versöhnt‘ ist“.20 Wie die Differenzierung nach Alter und Beruf ergab, waren Jugendliche, Arbeiter und Angestellte besonders zufrieden, Selbständige und Landwirte skeptisch, wobei grundsätzlich die Kritik mit dem Bildungsstand wuchs. Untersuchungen zum Wertewandel haben ergeben, dass die Abkehr von traditionellen Werten wie Subordinationsbereitschaft und die Wertschätzung von Selbstständigkeit und Selbstverwirklichung bereits 1964 schubartig einsetzte.21 Dies korrespondierte mit der allmählich positiver werdenden Haltung zur Konsumgesellschaft. Bei einer europaweit vergleichenden Befragung von 1975 hoben sich die Deutschen trotz der bereits einsetzenden Wirtschaftskrise von den anderen Europäern nun sogar eher positiv als negativ ab. So standen sie etwa der Werbung freundlicher gegenüber als ihre Nachbarn, und von den acht Typen des europäischen Konsumenten, die die Sozialwissenschaftler konstruierten, um die unterschiedlichen Verhaltensweisen typologisch zu fassen, waren die drei Typen der ausgesprochenen Skeptiker und Konsumgegner in der Bundesrepublik deutlich weniger verbreitet als in anderen Ländern.22 Während in Italien 64 Prozent, in Frankreich 52 Prozent der Konsumenten diesen Gruppen zugeordnet wurden, waren es in Westdeutschland nur 39 Prozent, am Ende der Skala der Konsumskeptiker rangierte Dänemark mit 29 Prozent. 20 Emnid-Informationen, 4/5/1969, S. 3. 21 Helmut Klages: Verlaufsanalyse eines Traditionsbruchs. Untersuchungen zum Einsetzen des Wertewandels in der Bundesrepublik Deutschland in den 60er Jahren. In: Karl Dietrich Bracher u. a. (Hg.): Staat und Parteien. Festschrift für Rudolf Morsey zum 65. Geburtstag. Berlin 1992, S. 517–544. 22 European Consumers: their interests, aspirations and knowledge on consumer affairs. Results and analyses of a sample survey carried out in the nine countries of the European Economic Community. Brussels 1976, S. 65ff. u. 155. Prosperität und Krisenangst
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So waren die 50er und 60er Jahre zwar Dekaden des unvorhergesehenen wirtschaftlichen Aufschwungs, der aber nur mit Zurückhaltung aufgenommen und daher nur zögerlich von unten forciert und eigenständig vorangetrieben wurde. Bereitschaft zum Risiko des Berufswechsels, zur Überwindung traditionaler Rollenmuster (etwa im Hinblick auf die Frauenerwerbstätigkeit), zur vermehrten Bildungsinvestition – dies vermissten Katona, Strümpel und Zahn bei den Deutschen, während ihre Skepsis gegenüber der ökonomischen Entwicklung einen „consumer conservatism“23 im Handeln erzeugt habe, der der konservativen politischen Kultur entsprach.24 Hier, im „Cultural lag“ zwischen den Möglichkeiten der gesellschaftlichen Entwicklung und ihrer begrenzten Umsetzung, lag auch ein zentrales Motiv der Protestbewegung am Ende der 60er Jahre, die sich keineswegs nur gegen politische Missstände richtete, sondern die Entwicklung der Gesellschaft als Ganzes kritisierte. Im Oktober 1969, als in der Bevölkerung Selbstbewusstsein und Optimismus eben dabei waren, Traditionalismus und Subalternität zu verdrängen, legte der SDS-Vordenker Hans-Jürgen Krahl eine Stellungnahme vor, die in eben diesem „Cultural lag“ das eigentliche Motiv der antiautoritären Bewegung ausmachte. Die Menschen seien „ängstlich an die materielle Sicherheit und Bedürfnisbefriedigung gebunden, obwohl wir einen Stand materieller Sicherheit haben, der längst eine Entfaltung der Menschen ermöglichte, die weit darüber hinausgehen könnte. Das ist die eigentliche Knechtschaft im Kapitalismus. Das ist das Moment sozialer Unterdrückung, das wir als diejenigen, die privilegiert sind zu studieren, auch einsehen konnten. Und dieses Privileg wollen wir durchbrechen.“ Dass der Wertewandel am Ende der 60er Jahre bereits in vollem Gange war, konnten viele Zeitgenossen nicht überschauen. Für Krahl und Genossen stellte der „Cultural lag“ der 60er Jahre nicht ein Übergangsphänomen dar, sondern ein Strukturmerkmal des „Spätkapitalismus“, der nur durch den revolutionären Sprung zu überwinden war.
3. Zwischen „Kultur“ und „Zivilisation“. Internationalisierung als Kulturkampf Im Laufe der 60er Jahre internationalisierte sich das Angebot an Waren und Dienstleistungen zusehends. Allerdings ging dieser Vorgang alles andere als konfliktfrei vonstatten. Im Tourismus, der Automobilindustrie, der Unterhaltungsgeräteindustrie und in vielen anderen Branchen sahen sich deutsche Anbieter vor allem im Laufe der 23 Katona/Strumpel/Zahn: Aspirations, S. 176. 24 Vgl. dazu Gabriel A. Almond/Sidney Verba: The Civic Culture. Political Attitudes and Democracy in Five Nations. Boston 1965; Gabriel A. Almond/Sidney Verba (Hg.): The Civic Culture Revisited. An Analytic Study. Boston 1980.
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60er Jahre immer stärker ausländischer Konkurrenz ausgesetzt. Abstrakt gewollt und z.T. politisch forciert – insbesondere durch die Schaffung eines gemeinsamen europäischen Wirtschaftsraums – wurde doch die Internationalisierung des Konsums häufig als Kulturkampf ausgefochten, in dem traditionelle Vorstellungen von deutscher „Qualität“ gegenüber ausländischer Massenproduktion häufig nur allmählich und keineswegs vollständig überlagert wurden.25 An diesem Machtkampf waren vor allem drei Akteure beteiligt – die Konsumgüterindustrie, der Staat und die Konsumenten – die jedoch nicht einheitlich, sondern widersprüchlich, zum Teil gegensätzlich und in zeitlich verschobenen Dynamiken agierten. Zwar wurde die Vorherrschaft des Traditionalismus teilweise schon Ende der 50er Jahre hart bedrängt, aber das bedeutet nicht, dass im Vordringen des Massenkonsums traditionelle Vorstellungen von deutscher „Kultur“ kampflos aufgegeben wurden. Teils forcierten politische Parteien, der Staat und die Judikative eine Internationalisierung auf diesem Gebiet – insbesondere im europäischen Einigungsprozess. Staatlich ermuntert und gelenkt wurde etwa der Jugendtourismus nach Frankreich durch die Förderung des Jugendaustauschs, die das 1963 gegründete Deutsch-Französische Jugendwerk mit sich brachte. 1961 wurde mit staatlicher und politischer Unterstützung die Arbeitsgemeinschaft „Jugend photographiert“ gegründet, die das Fotografieren als Anregung für „sinnvolle“ Freizeitgestaltung propagieren und ein Gegengewicht zur Massenmedialisierung schaffen sollte. Derartige Initiativen wurden von oben lanciert, um das Verhalten des Verbrauchers zu lenken, der der bedeutendste Akteur der Massenkonsumgesellschaft war und sich im Laufe der 60er Jahre immer stärker artikulierte.26 Insbesondere am Übergang zu den 70er Jahren boomten Initiativen von unten, die den Interessen der Verbraucher zum Durchbruch verhelfen wollten. Während in den soziologischen Debatten noch häufig die manipulative Macht der Konsumindustrie beklagt wurde, demonstrierte das Aufkommen und Wachstum dieser Initiativen tatsächlich das genaue Gegenteil: Konsumenten waren keineswegs der Macht der Industrie hilflos ausgeliefert, sondern konsumierten kritisch und verlangten häufig erfolgreich die Verwirklichung ihrer Interessen auf der politischen Ebene.27 Die Stimme der Verbraucher erhob sich in vielerlei Form – als Hausfraueninitiativen, Bürgerinitiativen, die insbesondere den Umweltschutz zu einem herausragenden Thema machten. Verbot von Dosen und Einwegflaschen, 25 Christian Kleinschmidt: Der produktive Blick. Wahrnehmung amerikanischer Produktionsund Managementmethoden durch deutsche Unternehmen. Berlin 2001. 26 Heinz-Gerhard Haupt: Der Konsument. In: Ute Frevert/Heinz-Gerhard Haupt (Hg.): Der Mensch des 20. Jahrhunderts. Frankfurt am Main 1999, S. 301–323. 27 Vgl. im komparatistischen Zugriff: Martin Daunton/Matthew Hilton (Hg.): The Politics of Consumption. Material Culture and Citizenship in Europe and America. Oxford/New York 2001; Gunnar Trumbull: Consumer Capitalism. Politics, Product Markets, and Firm Strategy in France and Germany. Ithaka/London 2006. Vgl. außerdem Hartmut Berghoff (Hg.): Konsumpolitik. Die Regulierung des privaten Verbrauchs im 20. Jahrhundert. Göttingen 1999. Prosperität und Krisenangst
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Reduzierung des Kraftstoffverbrauchs waren Themen, die schon in den frühen 70er Jahren breit kommuniziert wurden.28 Derartige Aktivitäten waren so häufig zu beobachten, dass die Nürnberger Gesellschaft für Konsumforschung von einer „Verbraucher-APO“ sprach und fragte: „Kommt es zum Aufstand der Konsumenten?“29 Die Entscheidungen der Konsumenten für oder gegen bestimmte Waren wurden von ihrem sich wandelnden Selbstbild, von Schichtzugehörigkeit und kultureller Selbstzuordnung beeinflusst – Wahrnehmungen und Deutungen, die die Konsumgüterindustrie in ihren Marketingkonzepten häufig aufnahm oder verstärkte, um ihren Marktanteil auszubauen. So transportierten etwa französische Automobile wie der 2 CV und der Renault 4 für junge Bundesbürger nicht nur ein Flair von linksrheinischer Liberté, sie boten auch eine preisgünstige Kombination von minimalistischem Materialaufwand, hoher Flexibilität im Innenraum und umweltfreundlichem Kraftstoffverbrauch. Diese Präferenz fügte sich in die Internationalisierung des westdeutschen Automarktes ein, auf dem die Neuzulassungen für ausländische Marken zwischen 1960 und 1971 von 9,7 Prozent auf 25,2 Prozent empor schnellten.30 Skepsis gegenüber dem Automobilismus der Bundesbürger drückte sich bei Abiturienten und Studierenden aus dem Umfeld der Jugend- und Studentenbewegung weniger in Verzicht aus, sondern in der Wahl von Fahrzeugen oder Fahrzeugvarianten, die dem Geschmack der Mehrheit nicht entsprachen – flankiert von der politischen Forderung nach Verbilligung und Ausweitung des Öffentlichen Personennahverkehrs. Weil junge Leute, wie sich durch die Demoskopie nachvollziehen lässt, sehr viel weniger als ältere Bundesbürger stolz auf ihre nationale Zugehörigkeit waren und sehr viel mehr Wert auf Internationalität legten, waren bei ihnen Produkte ausländischer Herkunft besonders beliebt, was die deutsche Konsumgüterindustrie unter Druck setzte.31 Be28 Jens Ivo Engels: Naturpolitik in der Bundesrepublik. Ideenwelt und politische Verhaltensstile in Naturschutz und Umweltbewegung 1950–1980. Paderborn u. a. 2006. 29 Gerhard Selter: Idee und Organisation des Konsumerismus. Eine empirische Untersuchung der Konsumerismusbewegung in den USA. In: Soziale Welt 24 (1973) 2, S. 185–205, hier S. 189. 30 Wolfgang Sachs: Die Liebe zum Automobil. Ein Rückblick in die Geschichte unserer Wünsche. Reinbek 1990, S. 99. Zur Sensibilisierung für die Folgen eines hohen Schadstoffausstoßes am Ende der 60er Jahre vgl. Dietmar Klenke: Bundesdeutsche Verkehrspolitik und Umwelt. Von der Motorisierungseuphorie zur ökologischen Katerstimmung. In: Werner Abelshauser (Hg.): Umweltgeschichte. Umweltverträgliches Wirtschaften in historischer Perspektive. Göttingen 1994, S. 163–190, hier S. 177ff. Aus der zeitgenössisch verbreiteten kapitalismuskritischen Perspektive vgl. Thomas Krämer-Badoni/Herbert Grymer/Marianne Rodenstein: Zur sozio-ökonomischen Bedeutung des Automobils. Frankfurt am Main 1971. 31 Elisabeth Noelle/Erich Peter Neumann (Hg.): Jahrbuch der öffentlichen Meinung 1965–1967. Allensbach/Bonn 1967, S. 156; Institut für Demoskopie Allensbach, Junge Käufer, Februar 1967, Bundesarchiv Koblenz (BAK), Zsg. 132/1391. Zwar standen auch in Deutschland die jüngsten Altersgruppen der Konsumgesellschaft am aufgeschlossensten gegenüber und
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sonders markant zeigte sich diese generationell aufgeladene Konkurrenzsituation in der Unterhaltungsmusik. Die Schallplattenindustrie florierte in der zweiten Hälfte der 60er Jahre vor allem wegen des massiven Booms englischsprachiger Popmusik, der auch auf den deutschsprachigen Markt ausstrahlte. Es waren nicht deutsche Schallplattenfirmen, sondern die schwedische Metronome und die US-amerikanischen CBS und Liberty Records als Newcomer, die in der Bundesrepublik den Jugendmarkt erschlossen, der am Ende der 50er Jahre noch kaum existiert hatte. Innerhalb der deutschen Schallplattenindustrie schlug englischsprachiger Unterhaltungsmusik erheblicher Widerstand entgegen, weil die Manager allein den deutschsprachigen Sektor als sicheres Geschäft betrachteten.32 Der Markt für Populärmusik wurde als dezidiert nationales Territorium betrachtet, das gegen fremde Begehrlichkeiten zu verteidigen sei. Auch im Laufe der 60er Jahre gab die deutsche Musikindustrie den Kampf um die nationale Präferenz nicht auf. Ganz im Gegenteil, in den späten 60er Jahren intensivierte sich der Kampf für den deutschsprachigen Schlager in Radio und Fernsehen wieder, als der Anteil der von deutschen Komponisten geschriebenen Werke unter 25 Prozent fiel.33 Die Präferenz für englischsprachige Popmusik einte Jugendliche vieler europäischer Länder, allerdings in unterschiedlicher nationaler Ausprägung. Wie sehr die 60er Jahre noch eine Dekade der kulturellen Eigenständigkeit war, die sich im Laufe des Jahrzehnts abschliff, aber nicht verschwand, lässt sich am Beispiel eines anderen Konsumguts nachvollziehen – des Make-up, das Geschlechterstereotypen widerspiegelte und besonders stark nationalspezifisch kontrastierte.34 Geschminkte Augen und Lippen, lackierte Fingernägel galten als Signalement der sexuellen Verführung, als Statement gegen die Ideologie des Aufsparens, an ihnen machte sich in einer spezifisch deutschen Optik die Differenz von „Kultur“ und „Zivilisation“ fest. Wie Vergleichsuntersuchungen aus den frühen 60er Jahren zeigen, benutzten die Bürgerinnen trieben den Mentalitätswandel der Gesellschaft entscheidend voran. Allerdings zeigt sich im internationalen Vergleich auch, wie Katona, Strümpel und Zahn konstatierten: „Younger Germans appear to be less dynamic than younger Englishmen and much less dynamic than younger Americans.“ (Katona/Strumpel/Zahn: Aspirations, S. 201.) 32 Detlef Siegfried: „Underground“. Counter-Culture and the Record Industry in the 1960s. In: Karl Christian Führer/Corey Ross (Hg.): Mass Media, Culture and Society in TwentiethCentury Germany. Basingstoke/New York 2006, S. 44–60. 33 Der Musikmarkt 9 (1967) 11, S. 10. 34 Zu den Folgen der „Konsumrevolutionen“ des 20. Jahrhunderts für die Geschlechterverhältnisse vgl. für vieles Victoria de Grazia (Hg.) mit Ellen Furlough: The Sex of Things. Gender and Consumption in Historical Perspective. Berkeley 1996; Monika Bernold/Andrea Ellmeier: Konsum, Politik und Geschlecht. Zur „Feminisierung“ von Öffentlichkeit als Strategie und Paradox. In: Siegrist/Kaelble/Kocka (Hg.): Konsumgeschichte, S. 441–466; Erica Carter: How German Is She? Postwar West German Reconstruction and the Consuming Woman. Ann Arbor 1997. Prosperität und Krisenangst
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der Bundesrepublik deutlich weniger Kosmetika als ihre Geschlechtsgenossinnen in den meisten anderen westeuropäischen Ländern. Lippenstift verwendeten 1962 zum Beispiel 73 Prozent der Engländerinnen und 58 Prozent der Französinnen, aber nur 38 Prozent der westdeutschen Frauen, die lediglich von den materiell besonders benachteiligten Italienerinnen mit 25 Prozent noch unterboten wurden.35 Erst seit der Mitte der 60er Jahre wurde das Natürlichkeitsideal ernsthaft in Frage gestellt – vor allem durch den erfolgreichen Emanzipationskampf junger Frauen, der an dieser Stelle auf stärksten Widerstand stieß. Neben Musik war Kosmetik noch vor der Bekleidung das wichtigste Terrain für die Herausbildung eines spezifisch jugendlichen Stils, aber im Gegensatz zur Musik fochten junge Frauen auf diesem Gebiet nahezu allein.36 Die Kosmetikindustrie stellte sich auf den jungen Markt ein, indem sie spezielle Produkte für junge Frauen anbot – leicht parfümierte und in sehr hellen Farben gehaltene Lippenstifte etwa, die Jugendlichkeit betonten und sexuelle Konnotationen zurücknahmen.37 Gut zehn Jahre später war der Gebrauch von Kosmetika auch unter ganz jungen Frauen selbstverständlicher geworden. 1974 verwendeten 83 Prozent der 14und 15jährigen Mädchen Lippenstift, im Alter von 20 bis 22 Jahren lag der Anteil bei 91,8 Prozent.38 Dennoch blieb die Skepsis nicht nur in den älteren Jahrgängen, sondern auch unter jungen Frauen im europäischen Vergleich nach wie vor stark. Wie eine Vergleichsuntersuchung vom Ende der 60er Jahre erbrachte, lehnten deutsche Mädchen Make-up häufig ab und forderten „Natürlichkeit“.39 Aus diesem kulturellen Fundus speiste sich auch die Alternativbewegung, die in der darauf folgenden Dekade 35 Das Beste aus Reader’s Digest (Hg.): Sieben-Länder-Untersuchung. Eine vergleichende Marktuntersuchung in Belgien, Frankreich, Großbritannien, Holland, Italien, Luxemburg und der Bundesrepublik Deutschland. O.O. 1963, S. 5. 36 Vgl. schon Manfred Hambitzer: Jugendliche und Konsumverhalten. In: Reinhold Bergler (Hg.): Psychologische Marktanalyse. Bern/Stuttgart 1965, S. 61–85, hier S. 79f. Sieht man einmal von der Aussteuer ab, waren Kosmetik und Kleidung exakt diejenigen Marktsegmente, auf denen Mädchen höhere Anteile ihrer Finanzmittel investierten als Jungen (BRAVO-Einkaufs-Panel. Jahresband 1968/69. [München 1969], S. 11). Bei einer Umfrage im Auftrag der Bravo von 1967 zeigte sich, dass 72 Prozent der weiblichen Jugendlichen meinten, sie verstünden von „Schönheitspflege, Lippenstift, Augenkosmetik“ mehr als ihre Eltern – ein Spitzenwert, der in seiner generationellen Spezifik gleichauf lag mit der Aussage zu Beat-Musik (Institut für Demoskopie Allensbach, Junge Käufer, Februar 1967, BAK, Zsg. 132/1391). 37 Joachim Heinig: Teenager als Verbraucher, Diss. Nürnberg 1962, S. 120. 38 Ähnlich hoch waren die Zahlen beim Gebrauch von Augen-Make-up, wo allerdings der Anteil derer, die Eyeliner und Wimperntusche täglich auftrugen, deutlich höher lag, bei 45,5 Prozent der 14- und 15jährigen und 74,2 Prozent der 20- bis 22jährigen (Institut für Jugendforschung, Bravo Jugend-Panel. Langzeituntersuchung. Ergebnisse einer Marktuntersuchung, Bd. 1. [München 1974], S. 23ff.). 39 Gérard Lutte/F. Mönks/S. Sarti/H. Preun: Leitbilder und Ideale der europäischen Jugend. Ratingen u. a. 1970, S. 134ff.
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die Präferenzen eines erheblichen Teils westdeutscher Jugendlicher prägte. Dass sich das Konsumverhalten „europäisierte“, bedeutete nicht, dass nicht weiterhin nationalspezifische Vorstellungen von Kultur fortexistierten – insbesondere auf dem Gebiet der Geschlechterverhältnisse, das einem Wandel besonders hartnäckig widerstand.
Fazit Folgt man Victoria de Grazias These von den zwei Konsummodellen – einem „fordistischen“, von Massenproduktion und Standardisierung gekennzeichneten Modell in den USA, und einem „bürgerlichen“, eher handwerklichen und von Individualität geprägten Konsummodell in Europa, dann lässt sich für die 50er und 60er Jahre eine Öffnung der Westdeutschen gegenüber fordistischen Grundmustern kaum bestreiten. Massenmedialisierung, Automobilisierung, Tourismus, Technisierung der Küche – die großen und kulturell weitreichenden Veränderungen wären ohne Massenfertigung und Kommerzialisierung des Konsums undenkbar gewesen. Gleichzeitig blieb die öffentliche Debatte stark beeinflusst vom Ideal des individuellen Konsums. Darin setzten sich spezifisch deutsche Vorstellungen von Gediegenheit, Fleiß, Verlässlichkeit und fachlicher Kreativität fort. Wie derartige Vorstellungen in die „postmaterialistische“ Reaktion auf den Einzug des Fordismus eingingen, lässt sich schon in den frühen 70er Jahren im entstehenden alternativen Milieu beobachten, in dem ethische Kriterien wie Produktionsbedingungen, Umweltverträglichkeit und Individualität einer Ware einen besonders wichtigen Stellenwert hatten.40 Das frühe Aufkommen der Umweltschutzbewegung, die frühe Gründung und die Stärke der grünen Partei – auch dies sind nationalspezifische Ausprägungen der politischen Kultur in der Bundesrepublik, die sehr viel mit den Bedeutungen zu tun haben, die die Bundesbürger dem Massenkonsum zumaßen. Sie zeigen auch, dass die Genese des Konsumbürgers als selbständig handelndem wirtschaftlichen Akteur mit der Genese des Citoyen als selbständig eingreifendem politischen Akteur Hand in Hand ging.41 Allerdings geschah dies erst am Ende der 60er Jahre, mit einer erheblichen Verzögerung nicht nur gegenüber den USA, sondern auch gegenüber anderen europäischen Ländern. Insgesamt ist die Massenkultur der Bundesrepublik nicht zu verstehen ohne die Internationalisierung des Konsums, die in den 50er und 60er Jahren ein spezifisch 40 Detlef Siegfried: Agencies of a Post-Industrial Society. The Alternative Milieu in West Germany in the 1970s. In: Ralph Jessen (Hg.): West German Modernity. New York/Oxford (im Erscheinen). Vgl. Stephan Malinowski/Alexander Sedlmaier: „1968“ als Katalysator der Konsumgesellschaft. Performative Regelverstöße, kommerzielle Adaptionen und ihre gegenseitige Durchdringung. In: Geschichte und Gesellschaft 32 (2006) 2, S. 238–267. 41 Michael Wildt: Konsumbürger. Das Politische als Optionsfreiheit und Distinktion. In: Manfred Hettling/Bernd Ullrich (Hg.): Bürgertum nach 1945. Hamburg 2005, S. 255–283. Prosperität und Krisenangst
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westdeutsches Muster entstehen ließ – eine Mischung aus deutschen Traditionen und westlichen Einflüssen, wobei die „Westernization“ der Bundesrepublik nicht als Überformung von außen zu verstehen ist, sondern auch aus der westdeutschen Gesellschaft heraus entstand.42 Nicht nur Einflüsse aus den USA spielten dabei eine Rolle, sondern auch Impulse aus Großbritannien, Frankreich, Italien und den skandinavischen Ländern – etwa im Hinblick auf Unterhaltungsmusik, Automobile, Esskultur, Design und Mobiliar.43 Unverkennbar verbesserten sich die Lebensverhältnisse der großen Masse der Bürger erheblich, was freilich nicht bedeutet, dass die soziale Ungleichheit verschwunden wäre. An die Stelle der groben traten feine Unterschiede, die über die soziale Position entschieden. Genauer fixieren lassen sich kulturelle Mischungsverhältnisse sowie soziale und kulturelle Wandlungen durch den Vergleich mit anderen europäischen Gesellschaften, aber auch mit der DDR. Im Vergleich tritt die hohe soziale und soziokulturelle Dynamik der westdeutschen Entwicklung hervor, während mit dem Blick auf Wahrnehmungen und Deutungen kulturelle Kontinuitäten ebenso sichtbar werden wie ihre Anfechtungen durch internationale Einflüsse, denen insbesondere junge Bundesbürger einen Weg bahnten.
42 Anselm Doering-Manteuffel: Westernisierung. Politisch-ideeller und gesellschaftlicher Wandel in der Bundesrepublik bis zum Ende der 60er Jahre. In: Schildt/Siegfried/Lammers (Hg.): Dynamische Zeiten, S. 311–341. 43 Vgl. exemplarisch Patrick Bernhard: Die Pizza am Rhein. Zur Italienisierung der deutschen Küche und Gastronomie im 20. Jahrhundert. In: Jörg Calließ (Hg.): Die Geschichte des Erfolgsmodells BRD im internationalen Vergleich. Rehburg-Loccum 2006, S. 211–230; Petra Eisele: Do-it-yourself-Design: Die IKEA-Regale IVAR und BILLY. In: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History, Online-Ausgabe, 3 (2006) 3, URL: .
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Bedenkliche Einzelerscheinungen oder antiliberale Gesinnung des Durchschnittsbürgers? Bundesbürger und -bürgerinnen äußern sich zu Strafen, Rechtsstaat und Demokratie im Fall des Sexualmörders Jürgen Bartsch, 1966–1971
Als die Demokratie Eingang in das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland fand, war man „sich mehr oder weniger bewußt darüber einig, daß unter Demokratie der in den westlichen Nationen entwickelte, in der eigenen Tradition von 1848 und 1919 stehende parlamentarisch-repräsentative Volksstaat, die ‚Nicht-Diktatur‘ zu verstehen sei“.1 Werner Conze, der diese Vermutung in den Geschichtlichen Grundbegriffen im Jahr 1972 äußerte, hielt es für „verständlich“, dass der Demokratiebegriff nach 1945 „erfüllt mit den Werten der Freiheit (freiheitlichen Ordnung) und des Rechts (Rechtsstaat) zum Gegenbegriff gegen Faschismus bzw. totalitäre Diktatur wurde“.2 Nicht zuletzt in Anbetracht der anderen Verwendung des Begriffs in der Deutschen Demokratischen Republik kam Conze allerdings zu dem Schluss, dass Demokratie zu einem All-Begriff und damit potentiell zu einer Leerformel geworden sei.3 Was also bedeutete Demokratie in der Bundesrepublik Deutschland am Ende der 1960er bzw. zu Beginn der 1970er? Eine Möglichkeit, die Frage zu beantworten, ist der Blick auf normative, demokratietheoretische Annahmen und ihre Diskussionen, ein anderer der auf Institutionen und Demokratisierungsprozesse, ihre Traditionen, Kontinuitäten und Brüche nach 1945.4 Aufgrund der bisherigen Forschung wird man sich vermutlich 1
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Werner Conze: Demokratie. In: Otto Brunner/Werner Conze/Reinhart Koselleck (Hg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 1. Stuttgart 1972, S. 821–899, hier S. 897–898. Ebd., S. 897. Vgl. ebd., S. 898. Mit dem Begriff der Leerformel bezieht sich Conze auf Ernst Topitsch. Aus der stetig wachsenden Zahl der Studien und Sammelbände siehe stellvertretend: Ulrich Herbert (Hg.): Wandlungsprozesse in Westdeutschland. Belastung, Integration, Liberalisierung 1945–1980. Göttingen 2002. Thomas Schlemmer/Hans Woller (Hg.): Die Erschließung des Landes 1949–1973. München 2002. Dies. (Hg.): Gesellschaft im Wandel 1949–1973. München 2002. Axel Schild/Detlef Siegfried/Karl Christian Lammers (Hg.): Einzelerscheinungen oder antiliberale Gesinnung des Durchschnittsbürgers?
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schnell einig werden, dass zum Beispiel die Organisation der Justiz sowie der lokalen und regionalen Selbstverwaltung, die Förderung der Parteienlandschaft und die Garantie von Grundrechten sich an westlich-demokratischen Vorbildern orientierten. Aber lässt sich daraus sogleich auf eine „verinnerlichte Demokratie“5 der Bürgerinnen und Bürger schließen? Bestand wirklich „mehr oder weniger bewußt“ darüber Einigkeit, dass unter Demokratie die in den westlichen Nationen entwickelte, auf eigene Traditionen vor 1933 beruhende Form zu verstehen sei, wie Werner Conze vermutete? Diese Frage könnte zum Beispiel mit Meinungsumfragen beantwortet werden. Allerdings ist diese Herangehensweise zugleich eine westlich geprägte, da Meinungsumfragen durch die Alliierten in die (Nach-)Kriegszeit und die frühe Bundesrepublik getragen wurden.6 Von Umfragetechniken, die im Rahmen psychologischer Kriegsführung als Instrument der Informationsbeschaffung eingesetzt wurden, über die Ent-
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Dynamische Zeiten. Die 60er Jahre in den beiden deutschen Gesellschaften. Hamburg 2000. Matthias Frese/Julia Paulus/Karl Teppe (Hg.): Demokratisierung und gesellschaftlicher Aufbruch. Die sechziger Jahre als Wendezeit der Bundesrepublik. Paderborn u. a. 2003. HeinzGerhard Haupt/Jörg Requate (Hg.): Aufbruch in die Zukunft. Die 1960er Jahre zwischen Planungseuphorie und kulturellem Wandel. DDR, CSSR und Bundesrepublik Deutschland im Vergleich. Weilerswist 2004. Hans Günter Hockerts (Hg.): Bundesrepublik Deutschland 1966–1974. Eine Zeit vielfältigen Aufbruchs (Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945, Bd. 5). Baden-Baden 2006. Weiterhin: Anselm Doering-Manteuffel: Wie westlich sind die Deutschen? Amerikanisierung und Westernisierung im 20. Jahrhundert. Göttingen 1999. Ders./Lutz Raphael: Nach dem Boom. Perspektiven auf die Zeitgeschichte seit 1970. Göttingen 2008. Explizit zur Demokratie siehe z. B. auch: Axel Schildt: Westlich, demokratisch. Deutschland und die westlichen Demokratien im 20. Jahrhundert. In: Anselm Doering-Manteuffel (Hg.): Strukturmerkmale der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts. München 2006, S. 225–239. Detlef Siegfried: Demokratie und Alltag. Neuere Literatur zur Politisierung des Privaten in der Bundesrepublik Deutschland. In: Archiv für Sozialgeschichte 46 (2006), S. 737–753. Der Begriff lehnt sich an Konrad Jarauschs „Verinnerlichung von Demokratie“ an: Konrad Jarausch: Die Umkehr. Deutsche Wandlungen 1945–1995. Bonn 2004, S. 182. Für Diskussionen über Demokratie unter Intellektuellen und Journalisten und zur kritischen Öffentlichkeit siehe z. B. Marcus M. Payk: Der Geist der Demokratie. Intellektuelle Orientierungsversuche im Feuilleton der frühen Bundesrepublik (Ordnungssysteme. Studien zur Ideengeschichte der Neuzeit, Bd. 23.). München 2008. Christina von Hodenberg: Konsens und Krise. Eine Geschichte der westdeutschen Medienöffentlichkeit 1945–1973 (Moderne Zeiten, Bd. 12.). Göttingen 2006. Moritz Scheibe: Auf der Suche nach der demokratischen Gesellschaft. In: Ulrich Herbert (Hg.): Wandlungsprozesse, S. 245–277. Umfragetechniken waren in Deutschland auch schon vor dem Krieg präsent (vgl. die Gesellschaft für Konsumforschung GfK), aber Meinungsumfragen zu politischen Themen wurden in der Bundesrepublik erst nach 1945 signifikant genutzt. Für einen allgemeinen Überblick siehe Anja Kruke: Demoskopie in der Bundesrepublik Deutschland. Meinungsforschung, Parteien und Medien 1949–1990. Düsseldorf 2007, S. 31–57. In vergleichender Perspektive
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nazifizierungsfragebögen bis hin zum Einsatz dieser Technik in den sich formierenden Parteien der Bundesrepublik – die Meinungsforschung wurde als eine amerikanische Wissenschaft verstanden. Bei Meinungsumfragen zu bedenken ist zudem die Frage, welche Schlussfolgerungen aus Bevölkerungsumfragen für demokratietheoretische Probleme gezogen werden könnten.7 Was hieß es also, wenn im Oktober 1967 die Frage „Glauben Sie, daß die Demokratie für Deutschland die beste Staatsform ist?“ von 74 % der Befragten bejaht wurde?8 Eine mögliche Interpretation wäre, dass die Demokratie zu diesem Zeitpunkt gefestigt war; eine andere würde auf Umfrageeffekte wie erwünschte Antworten verweisen und das Ergebnis kritischer deuten. Sicher ist, dass Umfragen vielerorts auftauchen: in politik- oder geschichtswissenschaftlichen Abhandlungen ebenso wie alltäglich in Zeitungen, Zeitschriften und Illustrierten. Ein Beispiel ist die 1968 im Magazin Stern veröffentlichte Meinungsumfrage, wonach 11% der Bundesbürger Hitler für einen aufregenden Mann und nur 21% für den größten Verbrecher des 20. Jahrhunderts hielten.9 Während Hitler bei den männlichen Befragten auf Platz Eins der Verbrecherliste landete, hielten die befragten Frauen und die Altersgruppe der 14- bis 29-Jährigen den Kindermörder Jürgen Bartsch für einen noch größeren Verbrecher. Dies Ergebnis könnte einfach mit einem Verweis auf den Kontext beiseite geschoben werden und dies tat der Stern auch: „Solche Urteile sind oft zeitbedingt: Ein länger zurückliegendes Verbrechen gerät allmählich in Vergessenheit.“10 Nur bezeichneten die Bundesbürger im Jahr 1968 ebenso den hannoverschen Sexualtäter Friedrich Haarmann, der in der Weimarer Republik mordete, als größeren Verbrecher als etwa Adolf Eichmann oder Heinrich Himmler. Eine gängige Argumentationsstrategie, um nicht ins Bild passende Ergebnisse zu diskreditieren, ist der Verweis auf „bedenkliche Einzelerscheinungen“11 – aber traf das zu? siehe Kerstin Brückweh (Hg.): The voice of the citizen consumer. A history of market research, consumer movements and the political public sphere, Oxford [im Erscheinen]. 7 Vgl. Max Kaase: Politische Meinungsforschung in der Bundesrepublik Deutschland. In: Politische Vierteljahresschrift 18 (1977) 2/3, S. 452–475, hier S. 452. Allgemein zur Geschichte der empirischen Sozialforschung in Deutschland siehe Christoph Weischer: Das Unternehmen ‚Empirische Sozialforschung‘. Strukturen, Praktiken und Leitbilder der Sozialforschung in der Bundesrepublik Deutschland (Ordnungssysteme. Studien zur Ideengeschichte der Neuzeit, Bd. 14.). München 2004. 8 Die Frage enthielt noch einen zweiten Teil „…oder könnten Sie sich eine bessere vorstellen?“ Elisabeth Noelle/ Erich Peter Neumann (Hg.): Jahrbuch der öffentlichen Meinung 1968–1973, Bd. V. Allensbach/ Bonn 1974, S. 223. 9 Die Lieblinge der Nation. Das Meinungsforschungsinstitut Infratest befragte für den STERN die Bundesbürger: Wen liebt ihr? Wen haßt ihr? Wen bewundert ihr?. In: Stern 50 (15.12.1968), S. 52–58, hier S. 54. 10 Ebd. 11 Oscar W. Gabriel: Demokratiezufriedenheit und demokratische Einstellungen in der Bundesrepublik Deutschland. In: Aus Politik und Zeitgeschichte 22 (1987), S. 32–45, hier S. 45. Einzelerscheinungen oder antiliberale Gesinnung des Durchschnittsbürgers?
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Möglich wäre auch die entgegengesetzte Interpretation als „bedenklich antiliberale Gesinnung des ‚Durchschnittsbürgers‘“.12 Im Folgenden soll am Beispiel des Rechtsstaats als einer der grundlegenden Säulen der bundesdeutschen Demokratie nach dem Zusammenhang von Gerichtsprozess, Medien und Öffentlichkeit gefragt werden. Als Fallbeispiel dienen die Prozesse um den Kindermörder Jürgen Bartsch, der den Bundesbürgern laut Stern-Umfrage als einer der größten Verbrecher des 20. Jahrhunderts erschien. Die Eckdaten des Falles lassen sich wie folgt umreißen: In der Zeit von 1962 bis 1966 wurden vier Jungen in der Nähe von Wuppertal von dem damals noch jugendlichen Jürgen Bartsch (geboren 1946) in einen alten Luftschutzstollen gelockt, sexuell missbraucht und brutal ermordet. Sein fünftes Opfer konnte entkommen und Bartsch wurde kurz darauf festgenommen. 1967 verurteilte das Wuppertaler Landgericht unter dem Applaus des Publikums Bartsch zu lebenslänglicher Gefängnisstrafe. Das Gericht hielt ihn für voll schuldfähig und verurteilte ihn als Erwachsenen, obwohl er zum Zeitpunkt des ersten Mordes noch nicht volljährig war.13 1969 hob der Bundesgerichtshof das Urteil auf. Bei der erneuten Verhandlung vor der Jugendkammer des Düsseldorfer Landgerichts ging es um die Frage, ob der Angeklagte für die gestandenen Taten strafrechtlich verantwortlich oder vermindert schuldfähig sei. Und das Urteil fiel diesmal anders aus: Am 6. April 1971 wurde Bartsch zu zehn Jahren Jugendstrafe und zur Unterbringung in einer Heil- und Pflegeanstalt verurteilt. Am 15. November 1972 kam Bartsch in die geschlossene Abteilung des Landeskrankenhauses Eickelborn. Dort heiratete er 1974 eine Brieffreundin und starb am 28. April 1976. Knapp zehn Jahre später stellte der Journalist Michael Förster fest, dass, wer die beiden Urteile vergleiche, nicht an dem Schluss vorbeikomme, „daß hier zwei Welten über denselben Fall und denselben Täter richteten, oder besser, zwei Zeiten, das 19. und das 20. Jahrhundert“.14 In ähnlicher Weise urteilte 1990 der Rechtswissenschaftler Dieter Simon, dass sich am Fall Bartsch erstmals großflächig die Kritik an einer Justiz gezeigt habe, „die nicht bereit war die Pathologie eines Täters anders als mit strafender Eliminierung zur Kenntnis zu nehmen“.15 Simon folgerte, dass die Mo12 Eckhard Jesse: Die Demokratie der Bundesrepublik Deutschland. Eine Einführung in das politische System. Berlin 1978, hier S. 109. 13 Die Entscheidung hängt von der Beurteilung der sittlichen und geistigen Reife des Täters ab, demnach kann auch ein dem Alter nach Minderjähriger juristisch als Erwachsener verurteilt werden. 14 Michael Förster (Hg.): Jürgen Bartsch – Nachruf auf eine „Bestie“. Dokumente – Bilder – Interviews. Das Buch zum Film von Rolf Schübel. Essen 1984, S. 28. 15 Dieter Simon: Zäsuren im Rechtsdenken. In: Broszat, Martin (Hg.): Zäsuren nach 1945. Essays zur Periodisierung der deutschen Nachkriegsgeschichte. München 1990, S. 153–167, hier S. 158.
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derne die Richterschaft im ersten Bartsch-Prozess 1967 noch nicht erreicht hatte, und machte dies an dem viel zitierten Satz des Vorsitzenden während der mündlichen Urteilsverkündung fest: „Und der Herrgott möge Ihnen helfen, daß auch Sie Ihre Triebe beherrschen lernen.“16 Die beiden Urteile können als Ergebnisse der „dynamischen“17 1960er gesehen werden, die auch durch Diskussionen um Resozialisierung und Therapie von Straftätern, die sich ab 1969 zudem in Gesetzesänderungen niederschlugen, geprägt waren. Zudem prägten die allmähliche Abschaffung des § 175 in den Jahren 1969 und 1973 prägten die Prozesse um Jürgen Bartsch. Die Geschichte des Falles Bartsch18 kann als Paradebeispiel für die Ankunft im Westen19 bzw. für die moderne Bundesrepublik gesehen werden. Auch die Liberalisierungsthese scheint im Hinblick auf einen nach demokratischen Prinzipien funktionierenden Rechtsstaat bestätigt zu werden.20 Deutlich ist ein Wandel vom ersten zum zweiten Bartsch-Prozess zu erkennen. Allerdings sollte bei dieser Sicht der Dinge ein Aspekt nicht vergessen werden: die konstant vorhandene Vergeltungslogik, die in ungebrochener Vehemenz in zahlreichen Briefen Unbeteiligter aus den Jahren 1966 bis 1971 zu finden ist. Anders als die überlebenden Opfer, ihre Angehörigen, Richter, Polizisten etc. waren die Briefschreiber nicht direkt in den Fall involviert, deshalb werden sie Unbeteiligte benannt.21 Wie steht es um die verinnerlichte Demokratie, 16 Ebd. 17 Schildt/Siegfried/Lammers (Hg.): Dynamische Zeiten. 18 Für eine genaue Analyse der Bartsch-Prozesse und weiterer Fälle aus der Weimarer Republik, dem Nationalsozialismus und der DDR siehe Kerstin Brückweh: Mordlust. Serienmorde, Gewalt und Emotionen im 20. Jahrhundert. Frankfurt/New York 2006. 19 Axel Schildt: Ankunft im Westen. Essays zur Erfolgsgeschichte der Bundesrepublik. Frankfurt am Main 1999. Siehe dagegen die vorsichtigere Frageformulierung bei Doering-Manteuffel: Wie westlich sind die Deutschen? 20 Siehe dazu Ulrich Herbert: Liberalisierung als Lernprozeß. Die Bundesrepublik in der deutschen Geschichte – eine Skizze. In: ders. (Hg.): Wandlungsprozesse in Westdeutschland. Belastung, Integration, Liberalisierung 1945–1980. Göttingen 2002, S. 7–49. 21 Unter der Bezeichnung „Unbeteiligte“ wurden ihre Briefe auch von den zuständigen Stellen abgeheftet. Die Medienberichte und Briefe, die hier als Grundlage gewählt wurden, basieren in erster Linie auf dem Aktenbestand des Nordrhein-Westfälischen Hauptstaatsarchivs Düsseldorf (jetzt Landesarchiv Nordrhein-Westfalen), Staatsanwaltschaft Wuppertal (Elberfeld), Gerichte Rep. 240 (hiernach: NRW HStA): Nr. 205, Hauptakten Bd. 10: 1966–1968 Briefe von Nichtbeteiligten; Nr. 215, Hauptakten Bd. 18b: Briefe Unbeteiligter (ohne Blattangaben); Nr. 229: Hauptakten Bd. 29d: Presseberichte etc.; Nr. 243–44: Presseberichte etc. Alle Briefe wurden anonymisiert, die Rechtschreib- und Zeichensetzungsfehler sowie die Hervorhebungen wurden möglichst aus den Originalbriefen übernommen. Die Sammlung erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit, so liegen im Hauptstaatsarchiv Düsseldorf z. B. kaum Briefe an die Verteidiger vor. Zum Urteil des Bundesgerichtshofs im Jahr 1969 gibt es ebenfalls nur wenige Presseberichte und gleichsam wenige Briefe, was u. a. daran liegen kann, dass diese direkt an das Gericht in Karlsruhe geschickt wurden. Einzelerscheinungen oder antiliberale Gesinnung des Durchschnittsbürgers?
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wie um mentale und kulturelle Dispositionen dieser Bundesbürger und -bürgerinnen, wenn es um mehrfache Sexualmorde an Kindern geht? Im Folgenden wird diese Frage ebenso wie die nach dem Zusammenspiel von Prozess, Medien und Briefen an einem extremen Beispiel untersucht, denn Serienmörder haben keine kriminalstatistische Relevanz. Vielmehr faszinieren sie durch ihre extreme Grenzüberschreitung und werden so zum Thema in Wissenschaft, Kriminalistik, Recht, Medien, Alltag oder Kunst. Außeralltägliche Kriminalgeschichten können deshalb tiefe Einblicke in eine alltägliche „Normalität“, also in Vorstellungswelten, Normgefüge und Beziehungsnetze, gewähren.22 Bundesbürger und -bürgerinnen haben – überspitzt gesagt – gelernt, wie sie sich unter „normalen“, alltäglichen Umständen verhalten sollen – nämlich der Demokratie gegenüber aufgeschlossen und dem Nationalsozialismus gegenüber ablehnend. Im Extremfall des mehrfachen Sexualmordes aber scheinen sie sich auf sicherem Terrain zu wähnen bzw. als allgemeinen Konsens anzunehmen, dass Sexualmörder verdammenswert sind – deshalb trauen sie sich, in diesen Fällen auch Meinungen zu äußern, die durchaus demokratie- und rechtsstaatskritisch oder gar -ablehnend sein können. Unter den Sexualverbrechen haben Morde an Kindern, wie die von Jürgen Bartsch, eine besondere Stellung und riefen im 20. Jahrhundert enorme Empörung hervor, die sich zum Beispiel in Briefen von Bundesbürgern an Gerichts- und Polizeistellen äußerte. Nicht die westlich geprägten und gelabelten Meinungsumfragen, sondern freiwillig formulierte und verschickte Briefe stehen im Folgenden im Zentrum. Von 1966 bis 1971 schrieben Bundesbürger und -bürgerinnen, die durch Medien vom Fall Bartsch erfahren hatten, ungefähr 250 Briefe: von 1966 bis 1968 vor allem an die Strafverfolgungsbehörden, in den folgenden Jahren zumeist an das Gericht oder persönlich an den Vorsitzenden Richter. Die Motivation war vielfältig und reichte von Todesdrohungen an Richter, Verteidiger und Opfer bis zu Liebesbriefen an Jürgen Bartsch.23 Einige Briefe waren hilfreich (z. B. die von Bartschs ehemaligen Mitschülern, die den Vorwurf des sexuellen Missbrauchs bestätigten), manche waren nutzlos (etwa wenn die Polizei darauf hingewiesen wurde, dass der Mörder eine Perücke getragen haben könnte). Alle Briefe offenbaren die Faszination, die ein Serien 22 Vgl. Gerd Schwerhoff: Aktenkundig und gerichtsnotorisch. Einführung in die Historische Kriminalitätsforschung. Tübingen 1999, hier S. 10. Die Überlegung, von der Außergewöhnlichkeit auf die angebliche gesellschaftliche Normalität zu schließen, ist durch Foucault geprägt. Siehe auch die Arbeiten von Christoph Nonn und Helmut Walser Smith, die einen einzigen Mordfall ins Zentrum rücken und daraus Aussagen über den Zusammenhang von Mentalitäten, Gerüchten und Antisemitismus treffen können. Christoph Nonn: Eine Stadt sucht einen Mörder. Gerücht, Gewalt und Antisemitismus im Kaiserreich. Göttingen 2002. Helmut Walser Smith: Die Geschichte des Schlachters. Mord und Antisemitismus in einer deutschen Kleinstadt. Göttingen 2002. 23 Zu den Liebesbriefschreibern und -schreiberinnen, die in diesem Aufsatz nicht thematisiert werden, siehe Brückweh: Mordlust, S. 283–286.
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mörder auf seine Mitmenschen ausüben kann. Sie kann sich in (Gewalt-)Fantasien ausdrücken oder im Willen, bei der Auflösung des Falles helfen zu wollen. Andere wiederum nutzten den Fall, um ihre eigene Lebensgeschichte zu erzählen. Aufgrund der unterschiedlichen Ausrichtung der Prozesse gegen Bartsch können zwei Zeitabschnitte unterschieden werden: die Jahre 1966 bis 1968, in denen über die Verhaftung und den ersten Prozess in Wuppertal in den Medien berichtet wurde; die Jahre also, in denen gleichsam auf personeller Ebene24 wie in Denkmustern und Überlegungen zu Strafpraktiken Kontinuitäten aus dem Nationalsozialismus erkennbar waren. Der zweite Abschnitt umfasst dann die Jahre 1969 bis 1971, die das Revisionsurteil und den zweiten Prozess in Düsseldorf umfassen, und die als Ankunft im 20. Jahrhundert bezeichnet wurden. Diese Schablone wird im Folgenden auf zwei Themenbereiche angewandt: den Zusammenhang von Öffentlichkeit und Strafprozess (II.) sowie von Strafvorstellungen und Rechtsstaatsverständnis (III.). Zuvor wird es um eine sozialhistorische Verortung der Briefschreiber und um eine Einordnung der Briefe als historische Quelle gehen (I.). Der Aufsatz endet mit einer Betrachtung möglicher Auswirkungen der Briefe auf den Prozessverlauf (IV.) und einer Kontextualisierung des Bartsch-Falles im Vergleich zu anderen Sexualmordfällen aus der Weimarer Republik (V.).
I. Der heuristische Wert der Zuschriften ist in der weiten räumlichen und sozialen Verteilung der Schreiber zu sehen. Zudem demonstrieren die unkonventionelle Form der Briefe (unleserliche Handschrift, durchgestrichene Wörter, Zeichnungen, Urlaubspostkarten oder wahllos herausgerissene Notizblätter) ebenso wie zahlreiche Schimpfwörter die Motivation und die Freiwilligkeit. Zugleich zeigen sie – anders als veröffentlichte Leserbriefe – unredigierte und somit ungefilterte Äußerungen. Trotz anderer Studien, die mit ähnlichem Quellenmaterial gearbeitet haben,25 ließe 24 So z. B. der psychiatrische Gutachter Friedrich Panse. Siehe dazu Uwe Heyll: Friedrich Panse und die psychiatrische Erbforschung. In: Michael G. Esch u. a. (Hg.): Die Medizinische Akademie Düsseldorf im Nationalsozialismus. Essen 1997, S. 318–340. Konkret auf Panses Tätigkeit im Bartsch-Prozess bezogen siehe S. 215–219. 25 Die Bedeutung dieser Quellenart wird auch in anderen Studien deutlich: So haben Boltanski/ Darré/Schiltz Leserbriefe, die in den Jahren 1979 bis 1981 an die Zeitung Le Monde geschickt wurden, analysiert. (Luc Boltanski/Yann Darré/Marie-Ange Schiltz: La dénonciation. In: Actes de la recherche en science sociales 51 (März 1984), S. 3–40.) Siehe auch die Veröffentlichung von ca. 50 Briefen, die an die zuständigen Behörden im Fall eines Kindermörders 1907 geschickt wurden: Jean-Marc Berlière: Le crime de Soleilland (1907). Les journalistes et l’assassin. Paris 2003. Studien zu Leserbriefen haben gezeigt, dass zwar von Zeitungen mit Einzelerscheinungen oder antiliberale Gesinnung des Durchschnittsbürgers?
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sich das Argument vorbringen, dass es sich lediglich um irrelevante Äußerungen von Einzelnen handele. Sicherlich sind die Briefe Unbeteiligter nicht repräsentativ für die gesamte Gesellschaft, aber trotzdem hatten sie eine Wirkung (siehe dazu Abschnitt IV) und eine spezifische Funktion: Nach der Zeitungs-, Zeitschriften- oder Illustriertenlektüre, dem Konsum einer Fernsehsendung oder eines Hörfunkberichts entschieden sich die Unbeteiligten, ihre Meinung und ihren Ärger in Briefen an die Beteiligten des Falles kundzutun. Dadurch wurde eine Möglichkeit der Kommunikation geschaffen, die eine Verbindung zwischen dem Gericht, den Medien und Bürgern herstellte. Briefe, die direkt an die Beteiligten des Falles gesandt wurden, waren für die Empfänger konkreter und weniger leicht zu ignorieren als Medienberichte. Dies gilt umso mehr, wenn die Briefe Drohungen enthielten. Briefschreiber sahen ihr Schreiben als eine Form der Partizipation im demokratischen Staat. Eine wichtige Strategie der Briefschreiber war es deshalb, auf die Bedeutung des Volkes in der Demokratie hinzuweisen. Dies taten sie durch Floskeln und Selbstbezeichnungen wie „i. A. vieler Millionen Bürger“26, „Einer aus dem Volk“27. Darin fand sich implizit oder explizit der Anspruch, dass die Briefe „die Öffentlichkeit“ repräsentierten bzw. dass „im Namen des Volkes“ Recht gesprochen werden solle.28 Die Adressaten wiederum nahmen die Briefe durchaus wahr und standen zudem vor dem permanenten Problem, dass sie zum einen die Relevanz der Briefe einschätzen mussten, da darunter auch wichtige Hinweise sein konnten. Zum anderen passten die Briefschreiber nicht in eine einfach zu bestimmende Kategorie. Teilweise wurde versucht, sie als pathologisch darzustellen („Nach dem hier vorliegenden Ermittlungsergebnis über K[…] wird er als geis tesschwach geschildert und ausserdem leide er unter Verfolgungswahn.“29). Je mehr Briefe beim Gericht ankamen, desto weniger wurde auf sie reagiert. Zu Beginn finden sich auf mehrere Briefe Antwortschreiben, sehr bald wurden dann nur noch formale, sachliche Anfragen beantwortet. Obwohl im ersten Zeitraum von 1966 bis 1968 etwa ein Viertel und von 1969 bis 1971 ein Drittel anonym blieb, lassen sich aufgrund der Selbstauskünfte (z. B. über Berufe), der Orthographie und Syntax sowie anhand der zitierten Zeitungen
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dem Abdrucken von Leserbriefen oftmals pauschal ein demokratischer Anspruch verbunden wird, dieser aber selten begründet wird. Siehe z. B. Sabine Loreck: Leserbriefe als Nische öffentlicher Kommunikation. Eine Untersuchung in lerntheoretischer Perspektive. Münster 1982. NRW HStA, 215, Betr. Bestialisches Schwein Bartsch, 29.3.1971. NRW HStA, 205, Einer aus dem Volk, An die Bild-Reporterin Gallmeister, 1967, Bl. 202. Zur Geschichte dieser Formel siehe Peter-Christian Müller-Graf: Zur Geschichte der Formel ‚Im Namen des Volkes‘. In: Zeitschrift für den Zivilprozeß (1975), S. 442–450. NRW HStA, 205, Kater, Rainer, An den Regierungspräsidenten in Düss., Berlin/ Düss., August 1966, Bl. 1–5.
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Aufschlüsse über die Herkunft der Briefschreiber erhalten.30 Demnach schrieben im ersten Zeitraum nahezu gleich viele Männer und Frauen, wohingegen von 1969 bis 1971 deutlich mehr Briefe von Männern verfasst wurden. Hinsichtlich der spezifischen Alterszuordnungen können keine Angaben gemacht werden, vielmehr schien das Thema Bürger jeglichen Alters zum Briefschreiben anzuregen. Wendet man zudem Forschungen zu linguistischen Codes auf die Briefe an, so sind von 1966 bis 1968 ca. 20% von Akademikern bzw. Personen mit höherem Bildungsabschluss geschrieben worden, im zweiten Zeitraum waren dies etwa 30%. Während rund um die Verhaftung und den ersten Prozess vor allem Briefe aus der Region Wuppertal kamen, veränderte sich diese Struktur im Laufe der Zeit; mit dem Wandel vom lokalen zum nationalen Medienereignis wurden Briefe ab 1969 aus allen Teilen der Republik verschickt. Unabhängig von dieser Zuordnung enthalten zahlreiche Briefe Behauptungen, die nicht begründet wurden. Dasselbe gilt auch für die Verwendung von Schimpfwörtern wie „Dreckschwein“,31 „Bestie“ und „Mißgeburt“.32 Während das erste in einem Brief mit kurzen Sätzen und Rechtschreibfehlern zu finden war, entstammen die letzten einem elaborierteren Brief. Es scheint unzulässig, vom Gebrauch von Schimpfwörtern und kurzen Sätzen auf den Bildungsstand zu schließen, vielmehr deutet dies auf die zugrunde liegenden Gefühle während des Schreibens hin. Offenbar hatten die Schreiber Probleme, ihre Emotionen in Worte zu fassen.33 Daraus und aus den zahlreichen orthographischen Fehlern ist zu schließen, dass das Briefschreiben Unbeteiligter eine Ad-hoc-Maßnahme war. Diese Annahme wird zudem durch die unkonventionelle äußere Form der Briefe gestützt. Festzuhalten bleibt, dass sich die Briefschreiber als Teil oder sogar als Repräsentanten des Volkes verstanden und darstellten, dass sie mit ihren Briefen am Prozess partizipieren wollten und durchaus auch als Teil der Öffentlichkeit von den Prozessbetei30 31 32 33
Für eine detaillierte Analyse siehe Brückweh: Mordlust, S. 306–310. NRW HStA, 215, Betr. Bestialisches Schwein Bartsch, 29.3.1971. NRW HStA, 215, Dr. F., Sehr verehrter Herr Direktor, München, März 1971. Aus der zunehmen wachsenden Zahl der Literatur zu Emotionen siehe z. B. die folgenden Übersichtsartikel: Ute Frevert: Angst vor Gefühlen? Die Geschichtsmächtigkeit von Emotionen im 20. Jahrhundert. In: Paul Nolte u. a. (Hg.): Perspektiven der Gesellschaftsgeschichte. München 2000, S. 95–111. Frank Bösch/Manuel Borutta: Medien und Emotionen in der Moderne. Historische Perspektiven. In: dies. (Hg.): Die Massen bewegen. Medien und Emotionen in der Moderne. Frankfurt/New York 2006, S. 13–41. Alf Lüdtke: Macht der Emotionen – Gefühle als Produktivkraft. Bemerkungen zu einer schwierigen Geschichte. In: Árpád von Klimó/Malte Rolf (Hg.): Rausch und Diktatur. Inszenierung, Mobilisierung und Kontrolle in totalitären Systemen. Frankfurt/New York 2006, S. 44–55. Daniela Saxer: Mit Gefühl handeln. Ansätze der Emotionsgeschichte. In: Traverse. Zeitschrift für Geschichte – Revue d’histoire (2007) 2, S. 15–29. Einzelerscheinungen oder antiliberale Gesinnung des Durchschnittsbürgers?
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ligten wahrgenommen wurden. Die Öffentlichkeit wiederum hatte eine spezifische, historisch entwickelte Bedeutung im Strafprozess.
II. Im Kampf um die Öffentlichkeit des Gerichtsverfahrens und damit der Kontrolle der Dritten Gewalt wurde in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Untrennbarkeit von Demokratie und Öffentlichkeit anerkannt.34 Aus demokratietheoretischer Sicht besteht weniger die Notwendigkeit, die Anwesenheit von Öffentlichkeit im Prozess zu erläutern als vielmehr ihren Ausschluss.35 Diesen Anspruch hatten einige Briefschreiber besonders verinnerlicht, wie der in den Briefen vorhandene Bezug auf das Volk bzw. die Öffentlichkeit zeigt. Und tatsächlich wurden die Briefe als ein Ausschnitt der Öffentlichkeit von Prozessbeteiligten wahrgenommen.36 Da für Gerichtsprozesse in medial geprägten Massengesellschaften Öffentlichkeit in erster Linie durch Medienöffentlichkeit hergestellt wird, gewährten die Briefe Unbeteiligter den Prozessbeteiligten einen Einblick in eine weitere Teilöffentlichkeit, die zudem verstärkt wurde durch die Menschenmengen, die sich vor den Polizeigebäuden, vor und im Gerichtssaal drängten.37 34 Vgl. Jörg Hennig: Gerichtsberichterstattung in deutschen Tageszeitungen 1850–1890. In: Jörg Schönert u. a. (Hg.): Erzählte Kriminalität. Zur Typologie und Funktion von narrativen Darstellungen in Strafrechtspflege, Publizistik und Literatur zwischen 1770 und 1920. Tübingen 1991, S. 349–367, hier S. 364. Siehe auch Peter-Paul Alber: Die Geschichte der Öffentlichkeit im deutschen Strafverfahren. Berlin 1974. 35 Vgl. Hennig: Gerichtsberichterstattung, S. 364. 36 Siehe z. B. die Ausführungen des Vorsitzenden Richters in der mündlichen Urteilsverkündung 1971: NRW HStA, 229, Fischer, Urteil: Mdl. Begründung, Düss., 6.4.1971, Bl. 112 und S. 138–139. 37 Zu den Menschenmengen vor dem Gerichtssaal siehe z. B. die Abbildung in: „Vier Jahre suchte die Kripo den Mörder“. In: NRZ (22.5.1966). Dort lautetet die Bildunterschrift zur Menschenmenge: „Gestern Nachmittag vor der Polizeistation in Langenberg. Dichtgedrängt standen die Menschen und warteten darauf, dass der vierfache Mörder Jürgen Bartsch nach den Verhören auf die Straße kam. Die Polizei brachte den Täter durch ein Fenster ins Freie“. Aus der Vielzahl der Literatur zu Öffentlichkeit siehe z. B.: Bernd Weisbrod: Medien als symbolische Form der Massengesellschaft. Die medialen Bedingungen von Öffentlichkeit im 20. Jahrhundert. In: Historische Anthropologie 9 (2001) 2, S. 270–283. Jörg Requate: Öffentlichkeit und Medien als Gegenstände historischer Analyse. In: Geschichte und Gesellschaft 25 (1999), S. 5–32. Nancy Fraser: Rethinking the Public Sphere. A Contibution to the Critique of Actually Existing Democracy. In: Social Text 25/26 (1990), S. 56–80. Peter Uwe Hohendahl u. a.: Öffentlichkeit. Geschichte eines kritischen Begriffs. Stuttgart/Weimar 2000. Und natürlich: Jürgen Habermas: Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft. am Main 61990.
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Die Medienöffentlichkeit und die Teilöffentlichkeit der Briefschreiber stehen durchaus in Zusammenhang zueinander, denn die Aufmerksamkeit der Briefschreiber wurde durch Medienberichte auf den Fall gelenkt. Quantitativer Indikator dafür ist, dass die Anzahl der Briefe den Wellen der Medienberichte folgte. Sowohl zum Zeitpunkt der Verhaftung 1966 als auch während des ersten Prozesses 1967 und während des zweiten Prozesses 1971 wurde in großem Umfang über den Fall berichtet, die Anzahl der Medienberichte korreliert mit der Anzahl der geschriebenen Briefe. Dieses Ergebnis entspricht der Hypothese der Agenda-Setting-Forschung, dass Rezipienten das aus der Vielfalt der Ereignisse durch Definition, Selektion und Gewichtung in den Medien konstruierte Themenuniversum ihrerseits für wichtig halten.38 Medienberichte stellen aber nur den Ausgangspunkt dar, denn sie können bei den Rezipienten Fantasien und Assoziationen verschiedener Art wecken und somit verschiedene Aneignungsprozesse anregen. Eine Übernahme von Pressedarstellungen durch die Briefschreiber im Sinne einfacher Stimulus-Response-Mechanismen ist nicht zu beobachten, wohl aber eine Verwendung von Erklärungsansätzen, die aus dem Gericht in die Presse gelangen und dann von den Briefschreibern aufgenommen wurden.39 Die massenmediale Berichterstattung bringt häufig eine Begleiterscheinung mit sich: die Beeinträchtigung der Privatsphäre von Beteiligten. Zur Verurteilung durch das Gericht kann die „soziale Schädigung durch die öffentliche Prangerwirkung“, die Stigmatisierung des Angeklagten, treten.40 Der Historiker Jörg Requate stellte deshalb fest, dass die bis ins 19. Jahrhundert zurückreichende Gerichtsberichterstattung „vielleicht eine der sensibelsten Nahtstellen zwischen Öffentlichkeit und Privatheit, zwischen der für demokratisch verfaßte Gesellschaften notwendigen öffentlichen Kontrolle juristischer Verfahren und dem als ebenso notwendig erachteten Schutz der Privatsphäre ist“.41 Signifikant seit den 1950ern war zudem die Sensationsbericht38 Renate Ehlers: Themenstrukturierung durch Massenmedien. Zum Stand der Agenda-settingForschung. In: Publizistik 28 (1983), S. 167–186. Heinz Bonfadelli: Medienwirkungsforschung I. Grundlagen und theoretische Perspektiven. Konstanz 22001. Maxwell McCombs/ Tamara Bell: The Agenda Setting Role of Mass Communication. In: Michael Salwen/Don Stacks (Hg.): An Integrated Approach to Communcation Theory and Research. Mahwah/ New Jersey 1996, S. 93–110. Gerald M. Kosicki: Problems and Opportunities in AgendaSetting Research. In: Journal of Communication 43 (1993) 2, S. 92–119. 39 Brückweh: Mordlust, S.322–331. 40 Hennig: Gerichtsberichterstattung, S. 364. Zum Stigma siehe z. B. Erving Goffman: Stigma. Über Techniken der Bewältigung beschädigter Identität. Frankfurt am Main 1967. 41 Jörg Requate: Die Lebedame und der Querulant. Zu Grenzverschiebungen zwischen Öffentlichem und Privatem in der Gerichtsberichterstattung der 60er Jahre. In: Kurt Imhof/Peter Schulz (Hg.): Die Veröffentlichung des Privaten. Die Privatisierung des Öffentlichen. Opladen/Wiesbaden 1998, S. 55–66, hier S. 55. Zur Gerichtsberichterstattung im Kaiserreich siehe z. B. Philipp Müller: Auf der Suche nach dem Täter. Die öffentliche Dramatisierung von Verbrechen im Berlin des Kaiserreichs. Frankfurt/New York 2005. Einzelerscheinungen oder antiliberale Gesinnung des Durchschnittsbürgers?
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erstattung über Gerichtsprozesse in Illustrierten, die über das bloße Berichten weit hinausgeht.42 Die Nennung von Namen und Wohnorten der Prozessbeteiligten und Zeugen in Medienberichten verdeutlicht, dass nicht nur die Privatsphäre des Angeklagten, sondern auch die der Opfer und der Prozessbeteiligten von Presse und Briefschreibern nicht immer beachtet wurde. Dies nahm extreme Formen wie Todesdrohungen gegen Opfer, Richter und weitere Prozessbeteiligte an, über die dann wiederum in den Medien berichtet wurde. Beispielsweise wurde das letzte Opfer Bartschs erwähnt, das sich befreien konnte, woraufhin auch er Drohbriefe erhielt.43 Dies kann als eine typische Form der sekundären Viktimisierung angesehen werden, womit ein erneutes Opferwerden nach dem eigentlichen Verbrechen gemeint ist.44 Insbesondere in Fällen sexueller Gewalt fühlen sich Opfer häufig nach der eigentlichen physischen Verletzung erneut durch Medienberichte in ihrer Privatsphäre verletzt und stigmatisiert.45 Ein weiteres Beispiel für sekundäre Viktimisierung, aber vor allem für das Zusammenspiel von Medien, Prozess und Briefschreibern sowie die Relevanz der Briefe für den Prozess: Schon 1967 hatte ein ehemaliger Mitschüler von Bartsch das Gericht in Wuppertal darüber informiert, dass er selbst von einem Priester des Internats sexuell missbraucht worden sei und darüber auch – unter Ausschluss der Öffentlichkeit – im Prozess aussagen würde.46 Die äußere Form des Briefes (maschinengeschrieben, Name und Adresse sowie Stempel des aktuellen Arbeitgebers) sprach dafür, dass dem Brief42 Siehe dazu z. B. den bereits genannten Aufsatz von Jörg Requate (Requate, Lebedame) oder die Arbeiten von Inge Weiler, z. B. Inge Weiler: Die Sensationsberichterstattung der Illustrierten in den fünfziger und sechziger Jahren. Der Fall Christa Lehmann. In: Joachim Linder/ Claus-Michael Ort (Hg.): Verbrechen – Justiz – Medien. Konstellationen in Deutschland von1900 bis zur Gegenwart (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur, Bd. 70). Tübingen 1999, S. 193–214. 43 So wurde der Mörder überführt. In: General-Anzeiger (22.6.1966). Klaus-Peter Helms: Christian Hinrichs [Name geändert, KB] quälen nachts furchtbare Angstträume. In: NRZ (23.6.1966). Ernst-Andreas Ziegler: ,Er sieht nicht aus wie ein Mörder‘. In: General-Anzeiger (22.6.1966). NRW HStA, 202, Anonym, Mein lieber …, 12.7.1966, 124. Siehe auch: NRW HStA, 205, Anonym, An die Langenberger Kriminalpolizei, Frankfurt, 26.6.1966, Bl. 84. 44 Heike Jung: Viktimologie. In: Günther Kaiser u. a. (Hg.): Kleines Kriminologisches Wörterbuch. Heidelberg 1993, S. 582–588. K.Weis: Die Vergewaltigung und ihre Opfer. Eine viktimologische Untersuchung zur gesellschaftlichen Bewertung und individuellen Betroffenheit. Stuttgart 1982. Michael C. Baurmann: Sexualität, Gewalt und psychische Folgen. Eine Längsschnittuntersuchung bei Opfern sexueller Gewalt und sexuellen Normverletzungen anhand von angezeigten Sexualkontakten (BKA-Forschungsreihe, Bd. 15.). Wiesbaden 1983, hier S. 40. Brückweh: Mordlust, S. 35–90. 45 Ulrich Baumann: Das Verbrechensopfer in Kriminalitätsdarstellungen der Presse. Eine empirische Untersuchung der Printmedien. Freiburg 2000, hier S. 44–45. 46 NRW HStA, 205, Müller, Heinrich, In der Strafsache gegen Jürgen Bartsch, Kassel, 7.2.1967, S.174.
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schreiber die Angelegenheit wichtig war. Trotzdem wurde der Brief 1967 nicht weiter berücksichtigt. Erst im zweiten Prozess wurden solche Schreiben ernst genommen und ehemalige Schüler als Zeugen bestellt. Dieser Umgang mit Opfern sexueller Gewalt ging konform mit dem Nicht-Sprechen und somit dem nicht vorhanden öffentlichen Diskurs zu diesem Thema. 1967 schrieb der Gerichtsreporter Gerhard Mauz im Spiegel: „Die Heime haben zuwenig Personal, da ist der übliche Terror der Kinder untereinander, das Regiment der älteren über die jüngeren. Da ist ein Erzieher, der Jürgen Bartsch ins Bett nimmt, wenn auch nichts passiert‘.“47 Während diese Passage als Versuch der Normalisierung gewertet werden kann, druckte der Spiegel vier Jahre später einen Artikel über denselben Erzieher, einen Priester, gegen den nun auch ein Verfahren eröffnet wurde.48 Auch hier ist wieder der Wandel vom ersten zum zweiten Prozess deutlich zu erkennen und damit eine Bestätigung der Liberalisierungsthese im gerichtlichen, gutachterlichen und medialen Zusammenhang. Auffällig ist in diesem Spiegel-Artikel die Freizügigkeit, mit der Namen und Daten von Zeugen genannt wurden. Dieses Vorgehen war umso brisanter, da trotz des Versuches, ausgewogen zu berichten, die betroffenen Schüler dennoch in zweifelhaftem Licht dargestellt wurden: Der Zahl von sechs missbrauchten Jungen wurde die von 60 ehemaligen, nicht betroffenen Schülern gegenübergestellt. Damit wurden in quantitativer Hinsicht die Aussagen der Opfer diskreditiert. Außerdem zitierte der Artikel die Behauptung des Verteidigers des Priesters, dass die erwähnten Missbrauchsopfer sich in fragwürdigen Lebensumständen befänden. Die Glaubwürdigkeit von Opfern in Zweifel zu ziehen, war ein vielfach anzutreffender Umgang mit sexueller Gewalt, insbesondere wenn sie sich gegen Jungen richtete.49 Dabei handelt es sich wiederum um eine Form der sekundären Viktimisierung, was die betroffenen ehemaligen Internatsschüler aber nicht davon abhielt, im Kontext des Bartsch-Falles ihre eigenen Erfahrungen mitzu47 Gerhard Mauz: Wohin mit ihm? Spiegel-Reporter Gerhard Mauz im Prozeß gegen Jürgen Bartsch. In: Der Spiegel (11.12.1967), S. 49–51. 48 Affären. Puppe im Strauch. Den einen erscheint er als ,Satan im geistlichen Gewand‘, den anderen ,weich wie Butter‘: der Erzieher des Kindermörders Jürgen Bartsch, Pater P[…]. In: Der Spiegel (1971), S. 57–58. Die Wut der Briefschreiber bezog sich zudem auf einen anderen Priester, dem Bartsch seinen ersten Mord gebeichtet hatte, der sich aber an sein Beichtgeheim nis hielt und Bartsch lediglich vorschlug, sich den weltlichen Behörden zu stellen. Siehe z. B. NRW HStA, 205, Niemand, E., Herrn Oberstaatsanwalt Dr. Klein, Velbert, 5.12.1967, Bl. 210. NRW HStA, 205, Pumpe, A., P.P. betr. Prozess Bartsch, Hamburg, 30.11.1967, Bl. 185. Briefe ähnlichen Inhalts veröffentlichte die Bild-Zeitung in ihrer Ausgabe vom 11. Dezember 1967: Nur seinem Gott verantwortlich (Leserbriefe). In: Bild-Zeitung (11.12.1967). Siehe zahlreiche weitere Leserbriefe zu diesem Thema in der Bild-Zeitung vom 6. Dezember 1967. 49 Jungen wurden häufig der Homosexualität verdächtigt, deren Straffreiheit sich erst während des Untersuchungszeitraums durchsetzte. Siehe zu Thema Homosexualität und Gesetz Michael Kandora: Homosexualität und Sittengesetz. In: Herbert (Hg.): Wandlungsprozesse, S. 379–401. Einzelerscheinungen oder antiliberale Gesinnung des Durchschnittsbürgers?
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teilen.50 In mehreren Briefen werden die Gewalttätigkeiten des Paters betont: „Ich selbst wurde einmal bei den Chorproben so geschlagen, daß ich für Minuten regungslos liegenblieb und mit Mühe wieder Luft bekam.“51 In einem zweiten Brief hieß es: „Jürgen Bartsch ist nur einst[!] der grausamen Produkte die dieses Heim erwirkt hat. Ich selber leide heute an seelischen Krankheiten und muß damit weiterleben.“52 Obwohl der eine der beiden Briefe an das Landgericht Düsseldorf, die Redaktionen der Zeitungen Die Welt und Bild-Zeitung sowie an den Verteidiger Bossi adressiert war, endete der Schreiber mit den Worten: „Ich möchte nicht, daß der Inhalt des Briefes der Öffentlichkeit bekannt wird, mir reicht die Gewissheit, daß ich hoffen darf den Jungen die noch heute im Internat leben müssen indirekt geholfen zu haben.“53 Die Integrität ihrer Person war den Opfern der Gewalthandlungen demnach sehr wichtig, die gleichzeitige namentliche Nennung von Zeugen in der Presse verdeutlicht die Schwierigkeit zwischen der Öffentlichkeit des Prozesses zur Kontrolle der Dritten Gewalt und dem Schutz der Privatsphäre der Opfer.
III. Ein Großteil der Briefe war nicht mit dem Grundgesetz, insbesondere der Unantastbarkeit der Menschenwürde und dem Rechtsstaatsprinzip, vereinbar, da die Verfasser ihren Gewaltfantasien und Strafvorstellungen freien Lauf ließen. Von den Briefen, die sich auf Strafe bezogen – das waren etwa ein Drittel –, verlangten neun im Zeit raum von 1966 bis 1968 die Todesstrafe, in den folgenden drei Jahren beinhalteten 26 Briefe diesen Wunsch; abgesehen von der Quantität ist ein Unterschied in der Qualität der Briefe für den gesamten Zeitraum nicht zu beobachten. Zwar zeigt die Durchführung der Todesstrafe in anderen westlich-demokratisch geprägten Ländern, dass die Forderung nicht per se als antidemokratisch oder vielmehr antirechtsstaatlich zu verstehen war, wohl aber widersprach sie dem bundesdeutschen Grundgesetz. Dass die Briefschreiber von der Rechtmäßigkeit ihrer Strafforderung jedoch sehr überzeugt waren, zeigt sich nicht zuletzt daran, dass sie ihre Namen und zum Teil sogar komplette Adressen in den Briefen mitteilten. Nicht nur der Wunsch nach der 50 NRW HStA, 215, Karl H. (Deckname), An das LG Düss., An die Redaktion Die Welt, An die Bild Zeitung, Herrn RA Bossi, Mainz, 25.3.1971. NRW HStA, 215, Schneider, Hans, Geehrter Herr Amtgerichtsrat, Bamberg, 21.3.1971. NRW HStA, 215, Schäfer, Ingemar, StA LG-Jugendstrafkammer Düss., Betr.: Bartsch, Berlin, 21.3.1971. NRW HStA, 215, Schneider, Hans, Geehrter Herr Amtgerichtsrat, Bamberg, 21.3.1971. 51 NRW HStA, 215, Karl H. (Deckname), An das LG Düsseldorf , Mainz, 25.3.1971. 52 NRW HStA, 215, Schäfer, StA LG-Jugendstrafkammer Düss., Betr.: Bartsch, Berlin, 21.3.1971. 53 NRW HStA, 215, Karl H. (Deckname), An das LG Düss., Mainz, 25.3.1971.
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Todesstrafe wurde geäußert, sondern auch Vorstellungen über deren Durchführung preisgegeben. So schrieb ein „Ostflüchtling und Rentner“ 1967: „Ein Strick um den Hals und an den nächsten Baum mit dem Halunken Bartsch, wo er eine Woche lang baumeln kann.“54 In einigen Zuschriften wurde die Tötung durch Ertrinken oder den elektrischen Stuhl gefordert. Andere forderten „Kopf ab!“55 Weitere Briefschreiber verwiesen auf die nicht vorhandene Todesstrafe in der Bundesrepublik und forderten Bartschs Freilassung, damit das Volk sein Urteil durch Lynchjustiz vollstrecken könne.56 Andere wiederum imaginierten den Strafvollzug gemäß dem Grundsatz ,Auge um Auge, Zahn um Zahn‘: „Man sollte ihn steinigen, so zerstückeln u. lynchen, wie er es mit den armen Kindern gemacht hat.“57 Einige Bundesbürger wollten die Todesstrafe als Unfall tarnen58 oder ihn nicht mehr aus der Narkose aufwachen lassen,59 was fünf Jahre später tatsächlich zu Bartschs Tod führte. Alle bisher genannten Briefe hatten einen kurzen abgehackten Schreibstil, der durch Ausrufungszeichen, Schimpfwörter und Hervorhebungen charakterisiert war. Diese Art zu schreiben weist eine große Ähnlichkeit zur gesprochenen Sprache auf, sodass Ärger und Wut für den Leser nahezu hörbar wurden. Im Vergleich dazu waren veröffentlichte Leserbriefe in Zeitungen sachlicher formuliert, obwohl auch sie Todesstrafenforderungen und Emotionen enthielten, die durch Ausrufungszeichen sowie vergleichsweise milde Schimpfwörter deutlich wurden: „Wie kann man einen Teufel und Wüstling wie den Jürgen Bartsch begnadigen wollen, weil er nicht normal ist!“60 Zwar gibt es aufgrund der redaktionellen Bearbeitung keine Rechtschreib- und Zeichensetzungs-, dafür aber sachliche Fehler, denn von einer „Begnadigung“ Bartschs war nie die Rede. Außer der abgeschwächten Wortwahl enthielten veröffentlichte Leserbriefe und die Briefe Unbeteiligter ähnliche Inhalte. Außerdem wurden Todesstrafenforderungen zumeist einfach gestellt und nicht begründet. Wenn dennoch versucht wurde, die Meinung durch Argumente zu stärken, so wurde auf die Sicherheit für Kinder und die Kosten des Prozesses und des Strafvollzugs für die Steuerzahler verwiesen. Gewalthafte Strafvorstellungen waren auch ohne Referenzen auf die Todesstrafe in den Briefen zu finden: „Man sollte ihn Fesseln, Geiseln und Quälen“ schrieb Ma54 NRW HStA, 205, Niemann, Eckhard, Herrn Oberstaatsanwalt, Velbert, 5.12.1967, Bl. 210. 55 NRW HStA, 215, Rahm, Hinnerk, Bartsch-Prozeß, 16.3.1971. NRW HStA, 215, Müller, Richard, Betr. Bartsch-Prozeß, Homberg, 19.3.1971. NRW HStA, 215, Weiler, Peter, An das Landgericht Düsseldorf, 5.4.1971. 56 NRW HStA, 205, Deutsche Väter u. Mütter, An die StA Velbert, Oberhausen, 21.6.1967, Bl. 179. 57 NRW HStA, 215, Dr. F., Sehr verehrter Herr Direktor, München, März 1971. 58 NRW HStA, 205, Falter, W., Telegramm, Bad Oeynhausen, 21.6.1966, Bl. 112. 59 NRW HStA, 215, Anonym, Herrn Landgerichtsdirektor Fischer, April 1971. 60 Berta Z., Antwort an J. G. Schmidt (Leserbrief ). In: Mannheimer Morgen (24.1.1970). Einzelerscheinungen oder antiliberale Gesinnung des Durchschnittsbürgers?
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rion Acker in fehlerhafter Rechtschreibung auf einer Urlaubspostkarte.61 Sie wollte mit dieser Maßnahme eine Abschreckung für potentielle Sexualtäter erreichen. Eine andere Briefschreiberin schlug vor, Sexualtätern vor ihrer Entlassung aus dem Strafvollzug ein Ohr abzuschneiden, sodass potentielle Rückfalltäter an dieser Markierung zu erkennen wären.62 Mehrfach wurde harte Strafarbeit gefordert.63 Andere Briefschreiber sprachen sich für eine Kastration Bartschs aus, allerdings mit verschiedenen Zielsetzungen: als Strafe, als präventive Maßnahme für potentielle Rückfalltäter oder als Heilung. Der Körper des Sexualmörders stand zur Disposition, auch wenn etwa im Artikel 104 des Grundgesetzes klar vermerkt war, dass festgehaltene Personen „weder seelisch noch körperlich mißhandelt werden“ dürfen. Dass der Einsatz von Folter und Forderungen nach einem kurzen Prozess weder mit rechtsstaatlichen Grundsätzen noch mit der Menschenwürde in Einklang zu bringen waren, stellte auch der Richter des zweiten Prozesses in der mündlichen Urteilsbegründung klar.64 Neben der Forderung der Todesstrafe enthielten viele dieser Schreiben eindeutig Äußerungen, die nicht mit den Vorstellungen eines rechtsstaatlichen Strafprozesses harmonisierten: Beispielsweise schrieb Rosemarie H., die sich für die Gaskammer als Tötungsart einsetzte, auf dem Umschlag ihres Briefes: „Kein Prozess, sofort aufhängen.“65 Nach Meinung eines anderen Briefschreibers sollte das Grundgesetz geändert werden, damit das Volk in Fällen wie Bartsch über die Strafe entscheiden könne.66 Er forderte „sofortige Kastrierung“ oder „Kopf runter“. Zahlreiche Briefe offenbaren zudem Unkenntnis über die Einrichtungen und das Funktionieren des Rechtsstaats. So schrieb Emil R. 1967 an das Präsidium des Deutschen Bundestages, das Bundesjustizministerium, die Staatsanwaltschaft in Wuppertal und die Redaktion der Neuen Westfälischen, dass der Bartsch-Fall so außergewöhnlich sei, dass er die Aussetzung der bestehenden Gesetze und die Wiedereinführung der Todesstrafe beantrage.67 Obwohl er seinem Brief die offizielle Form eines Antrags gab, wusste er offensichtlich nicht, an wen er den Brief schicken sollte; zudem bat er darum, seinen Namen auszulassen. Die eingangs genannte These, dass Briefschreiber sich im Extremfall des Serienmordes auf sicherem Terrain wähnten und deshalb ermutigt waren, ihrerseits extreme Meinungen zu äußern, bestätigen auch zahlreiche Briefe, die eine signifikante Dichotomie offenbaren: Die Autoren stellen sich selbst als „normaler Mensch“68 oder 61 62 63 64 65 66 67 68
NRW HStA, 205, Acker, Marion, Man soll ihn Fesseln, Geiseln…, 23.6.1966, Bl. 118–119. NRW HStA, 205, Da Deutschland nicht für die Todesstrafe ist…, 22.6.1966, Bl. 113. Siehe z. B. NRW HStA, 215, Betr. Bestialisches Schwein Bartsch, 29.3.1971. NRW HStA, 229, Fischer, Urteil: Mdl. Begründung, Düss., 6.4.1971, Bl. 138–139. NRW HStA, 215, Huf, Rosemarie, An die Jugendstrafkammer, Oberhausen, 4.9.1970. NRW HStA, 205, Hammel, H., Herrn Staatsanwalt, BESTIE, München, 22.6.1966, Bl. 67. NRW HStA, 205, Retter, Emil, Eilt!, Senne, 2.12.1967, Bl. 197. NRW HStA, 205, Deutsche Väter u. Mütter, An die StA Velbert, Oberhausen, 21.6.1967, Bl. 179.
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„vernünftig Denkende“69 und Bartsch dagegen als „Bestie“,70 „Massenmörder“71 oder „Monster“72 dar. Diesen Briefen zufolge war aber nicht nur Bartsch das personifizierte Böse, sondern auch alle, die mit ihm in Kontakt standen. Ein Resultat waren Todesdrohungen an Prozessbeteiligte,73 über die wiederum in Zeitungen berichtet wurde.74 Aus einem psychoanalytischen Blickwinkel verweisen diese Briefe auch auf Projekti onen und andere Abwehrmechanismen.75 Schon in den 1960er- und 1970er-Jahren wurde dieses Phänomen unter dem Stichwort Sündenbockprojektion diskutiert,76 was allerdings auf die meisten Briefschreiber keinen Einfluss hatte; sie formulierten völlig unreflektiert ihre Meinungen: „Die Männer die mit Bartsch zutun haben sind Warme Brüder.“77 Am häufigsten wurden harte Strafen in den Briefen gefordert, einige Briefschrei ber plädierten aber auch für weniger gewaltgeprägte Bestrafung und für eine Aufklärung der Ursachen von Bartschs Taten. Diese Briefe sind nur im Umfeld des zweiten Prozesses zu finden und vermutlich durch gewandelte Ursachenerklärungen im Pro69 NRW HStA, 215, Hacke, Leopold, An den 3. Strafsenat des BGH, Berlin, 22.11.1969. 70 NRW HStA, 205, Knobloch, Friedrich, An Oberstaatsanwalt Klein, Bayern, 1967, Bl. 198. 71 NRW HStA, 215, Eder, Eckhard, An die Düsseldorfer Jugendkammer!, Wanne-Eickel, 17.3.1971. NRW HStA, 215, Dr. F., Sehr verehrter Herr Direktor, München, März 1971. NRW HStA, 215, Für viele, Betr. Kindermassenmörder Bartsch, Frankfurt/M., 25.2.1970. 72 NRW HStA, 205, Anonym, Wissen diese Mannsbilder nicht…, 1967, Bl.187–188. NRW HStA, 215, Schulz, Edith, An das Bundesgericht in 4 Düsseldorf, Frankfurt, 1971. 73 Siehe z. B. NRW HStA, 215, Eine Gesellschaft für Ordnung und Anständigkeit!, An den Landgerichtsrat Fischer, Krefeld, 13.3.1971: „In den Prozess aber erwarten wir klare Sachen, wenn nicht, dann hast Du unmittelbar danach eine Axt auf deinen Dickschädel, du dreckicher Hund!“ 74 Vgl. Tochter des Bartsch-Verteidigers bedroht. In: NRZ (26.3.1968). Oder: Polizeischutz für die Familie des Bartsch-Verteidigers. Drohbriefe und anonyme Anrufe: Sie sollten sich schämen! In: Bild-Zeitung (6.12.1967). 75 Während Sexualserienmörder kriminalstatistisch keine Relevanz haben, werden Sexualdelikte im sozialen Nahraum (z. B. in der Familie) als kriminalpolitisches Zentralproblem des 20. Jahrhunderts angesehen. Siehe z. B. Hans Joachim Schneider: Kriminologie für das 21. Jahrhundert. Schwerpunkte und Fortschritte der internationalen Kriminologie. Überblick und Diskussion. Münster u. a. 2001, S. 421. 76 Siehe z. B. Helmut Ostermeyer: Die Sündenbockprojektion in der Rechtssprechung. In: Zeitschrift für Rechtspolitik 3 (1970) 11, S. 241–244. Eduard Naegeli: Die Gesellschaft und die Kriminellen. Ausstoßung des Sündenbocks. In: Wilhelm Bitter (Hg.): Verbrechen – Schuld oder Schicksal? Zur Reform des Strafwesens. Ein Tagungsbericht. Stuttgart 1969, S. 40–72. Achim Mechler: Der Verbrecher als Sündenbock der Gesellschaft. In: Zeitschrift für Rechtspolitik 4 (1971) 1, S. 1–3. 77 NRW HStA, 215, eine 4 Hitler, Meine Herren sind die alle krank…,1971. Herv. im Original. In diesem Brief zeigten sich zum einen wieder die häufig zu findenden (Komma-)Fehler, zum anderen erweiterte sich die Projektionsfläche von Bartsch auf weitere Prozessbeteiligte. Einzelerscheinungen oder antiliberale Gesinnung des Durchschnittsbürgers?
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zess bedingt, über die wiederum in den Medien berichtet wurde. „Im Falle Juergen Bartsch sollten Rache, Vergeltung und Strafe geringer wiegen als moderne Erkenntnis, Fortschritt und humanitäre Gerechtigkeit. […] Geben sie dem Opfer Bartsch und der modernen Psychiatrie und Psychologie eine Chance fuer den Fortschritt.“78 In diesem Telegramm aus dem Jahr 1971 wurde Bartsch vom Täter zum Opfer.79 Eine ehemalige Lehrerin schlug für Bartsch eine Behandlung mit Bad, Einlauf, Fastenkur und Vollwertkost vor, um seine innere Reinigung zu erlangen: „Nach dem Motto ,Richtet nicht zugrunde, sondern richtet auf !‘“80 Andere Briefschreiber bezogen sich auf christliche Nächstenliebe und forderten Bartschs Unterbringung in kirchlichen Einrichtungen, damit er sein miserables Leben nicht weiterleben müsse. Auch hier deutet sich also eine Sichtweise an, die Bartsch als Opfer äußerer Umstände sah. Die Anzahl dieser Briefe, die vor allem von Frauen geschrieben wurden, war insgesamt gering. Einige Briefschreiber wandten sich nicht generell gegen Rechtsstaat und Demokratie, sondern kritisierten, dass diese in einem schlechten Zustand sei. So fürchtete ein Bürger, dass die bundesdeutsche Demokratie nicht gefestigt genug sei, um dem Kalten Krieg zu widerstehen. „Lieber Herr Bundespräsident“, schrieb Johannes F. 1971, „es ist etwas faul im Staate des halben Deutschland, ein Geburtsfehler aus dem Jahre 1949.“ 81 In ähnlicher Weise stellte ein anonymer Schreiber fest, „die Zersetzung unserer gut gemeinten Demokratie ist bereits im Gange und wollen wir nur hoffen, dass es nicht so weit kommt, dass ein frischer Wind, der ja leider nur vom Osten kommen kann, alles hinwegfegt“.82 Zur Abwehr dieser Gefahr schlug er eine harte Bestrafung vor, um dadurch die Stärke der bundesdeutschen Demokratie unter Beweis zu stellen. Das Gerichtsverfahren um Jürgen Bartsch wurde somit in den deutsch-deutschen Kontext nach 1945 eingeordnet. Ein typische (rhetorische) Strategie bestand zudem darin, mit Bezug auf die NSVergangenheit darauf zu verwiesen, dass etwas in der Bundesrepublik fehl laufe. So fragte 1971 eine Frau die Staatsanwaltschaft:
78 NRW HStA, 215, Gustav Meier (Eine Stimme aus dem Volke), Telegramm: Jugendkammer des Landgerichtes Düsseldorf, Esslingen am Neckar, 1971. 79 In einigen Diskussionen der Bundesrepublik der 60er- und 70er-Jahre galt der Täter (aller dings nur selten auch der Sexualtäter) als Opfer staatlicher Vergeltungsmaßnahmen, der zu schützen sei (Winfried Hassemer/Jan Philipp Reemtsma: Verbrechensopfer. Gesetz und Gerechtigkeit. München 2002, hier S. 15). Einige Rechtswissenschaftler, Philosophen, Soziologen und Journalisten forderten die Abschaffung des Strafrechts (siehe z. B. Arno Plack: Plädoyer für die Abschaffung des Strafrechts. München 1974.). 80 NRW HStA, 215, Kaiser, Sieglinde, Stellungnahme zu Berichten, Bückeburg, 24.3.1971. 81 NRW HStA, 231, Fichte, Joh., Lieber Herr Bundespräsident, Darmstadt, 1971, S. 158–159. 82 NRW HStA, 215, H. P., Präsidenten des LG Düsseldorf, Fürth, 25.3.1971.
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„Sind wir eine Demokratie, die Anrecht darauf hat, zu erfahren, was in dem Prozess gemacht oder nicht gemacht wird. […] Oder sind wir in die Nazi-Zeit versetzt, wo die Gerichte selbständig urteilten und die Bevölkerung für dumm verkauft wurde? Ich möchte über die Aussagen, die in diesem Prozess gemacht werden, als Deutsche freie Bundesbürgerin genau orientiert werden.“83
Während der Nationalsozialismus hier als negative Referenz eingesetzt wurde, gab es auch zahlreiche Briefe, die das Dritte Reich und seine Maßnahmen der Verbrechensbekämpfung rühmten. Ist Demokratie im Anschluss an das Eingangszitat von Werner Conze nach 1945 „zum Gegenbegriff gegen Faschismus bzw. totalitäre Diktatur“84 geworden, so sind positive Referenzen auf den Nationalsozialismus unter den Briefschreibern als demokratiefeindlich zu bewerten. Fünf Prozent aller Briefe zeigten eine positive Bewertung der NS-Zeit, entweder um ihr Unverständnis über die bundesdeutsche Rechtssprechung auszudrücken oder um zu provozieren: „So etwas hat es bei Adolf Hitler nicht gegeben.“85 Mit Hinweis auf Hitler wurde ein kurzer Prozess gefordert: „Und sowas, gehört Hitler her, der stellte ihn an die Wand. Soll denn das so weiter gehen? Umbringen so ein elenden Auswurf.“86 Andere Briefschreiber bevorzugten nationalsozialistische Einrichtungen und Maßnahmen für Bartschs Strafvollzug, so das Konzentrationslager,87 lebenslange Sicherheitsverwahrung bei strammer Arbeit88 oder Arbeitsdienst.89 Weitere fünf Prozent der Briefe zeigten ein unreflektiertes Verständnis des Nationalsozialismus, so wurden „Gaskammer“90 oder eine „starke Macht, die diesem Spuk eine Ende bereitet und das Volk von diesen Blöden und Untermenschen befreit“,91 gefordert. Ein anderer Briefschreiber verharmloste die nationalsozialistischen Verbrechen mit dem Hinweis: „Ich war 8 Jahre Soldat und in 4 Kriegsschauplätzen aber solch ein sadistischen Kindermörder habe ich noch gelesen noch erlebt.“92 Über die Hälfte derjenigen, die sich auf das Dritte Reich bezogen, gaben ihren Namen und zum Teil ihre vollstän83 NRW HStA, 215, Frau Dinges, An die StA Düsseldorf, 18.3.1971. 84 Ebd. 85 NRW HStA, 205, Macke, Gisela, So etwas …, Bl. 180. Siehe auch: NRW HStA, 215, Ano nym, An Landesgerichtsdirektor Fischer, 8.4.1971: „Höchste Zeit, daß ein zweiter Hitler kommt“. NRW HStA, 215, Weiler, Peter, An das LG Düss., 5.4.1971: „Das wäre ein Fall für Hitler!“ 86 NRW HStA, 205, An StA Strafgericht. Bedenken Sie, wenn es Ihrem Kind passiert, München 1967, Bl. 204. 87 NRW HStA, 215, Anonym, Meine Herren! Vor mir liegt die Bild-Zeitung, 17.3.1971. 88 NRW HStA, 205, Hauptmann, Corinna, Wir Mütter bitten und fordern, Köln, 1966, Bl. 71. 89 NRW HStA, 205, Hammel, H., Herrn Staatsanwalt, BESTIE, München, 22.6.1966, Bl. 67. 90 NRW HStA, 215, Huf, Rosemarie, An die Jugendstrafkammer, Oberhausen, 4.9.1970. 91 NRW HStA, 215, Anonym, Heiliger Bimbam!!, Kassel, 1971. 92 NRW HStA, 205, Knobloch, Friedrich, An Oberstaatsanwalt Klein, Bayern, 1967, Bl. 198. Einzelerscheinungen oder antiliberale Gesinnung des Durchschnittsbürgers?
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dige Adresse an. Ob sich hinter dem Hinweis auf den Nationalsozialismus mehr als eine rhetorische Strategie verbarg, ist allein aus den Briefen nicht eindeutig abzuleiten. Eindeutig nachzuweisen ist dagegen die Verbindung, die die Briefschreiber zwischen dem Fall Bartsch und anderen medienpräsenten Ereignissen der Zeit herstellten: Sowohl veröffentlichte Leserbriefe als auch die Briefe Unbeteiligter stellten einen Bezug zum in Nürnberg zu lebenslanger Haft verurteilten Kriegsverbrecher Rudolf Heß her. 1969 schrieb z. B. Leopold H. an den Bundesgerichtshof in Karlsruhe folgende Zeilen: „Es ist unglaublich, welchen unverständlichen Eifer Sie für die Schonung eines abscheulichen Verbrechers entwickeln. – Warum können sich die höchsten deutschen Justizbeamten nicht dazu aufraffen, sich für die Freilassung des sogenannten deutschen Kriegsverbrechers Rudolf Hess einzusetzen?“93 Dieser Brief muss im Kontext der 1967 initiierten (Medien-)Kampagne zur Freilassung von Rudolf Heß gesehen werden, die davon ausging, dass dieser in zwanzig Jahren Gefängnis genug gelitten hätte, und deshalb seine Freilassung forderte. Unter den Unterzeichnern waren Vertreter jeder politischer Couleur. Während einige Mitglieder die Freilassung aus humanitären Gründen forderten, ohne damit eine Aussage über seine Schuld zu treffen, sah Leopold H. in Heß offenbar einen unschuldig Verhafteten wie das Wort „sogenannt“ signalisiert. Viele Zeitungen und Zeitschriften berichteten über die Initiative, so druckte das politische Magazin Der Spiegel ein Interview mit Heß’ Ehefrau94 und rief dadurch Leserbriefe hervor: „R. Heß ist dem Angeklagten J. Bartsch gleichzusetzen, aus diesem Grunde verdient er auch keine andere Behandlung, als bis zum bitteren Ende zu büßen.“95 Der sich am positivsten über Heß äußernde SpiegelLeserbrief befand, dass kein Sterblicher mehr für den Frieden getan habe als Rudolf Heß.96 Hier zeigt sich wie schon in der eingangs genannten Stern-Umfrage, welche Bedeutung den Medien bei der Auswahl von Ereignissen und der Ausrichtung der Leseraufmerksamkeit zukam. Während die bisherigen Briefe Strafvorstellungen und Rachegelüste offenbaren, bezog sich ein zweites Set – ebenfalls etwa ein Drittel der gesamten Briefe – stärker auf die Erklärungsansätze, die im Gerichtssaal verhandelt und in den Medien verbreitet wurden. Einige Briefschreiber äußerten im zweiten Prozess mehr Verständnis für die Entwicklung des Kindes Bartsch zum Kindermörder, aber ein grundsätzlicher
93 NRW HStA, 215, Hacke, Leopold, An den Dritten Strafsenat des BGH, Berlin, 22.11.1969. 94 Ina Heckel/Wolfgang Malanowski: ‚Er spielte wieder mal den Toten‘. Spiegel-Gespräch mit Ilse Heß über Spandau-Häftling Rudolf Heß. In: Der Spiegel (20.11.1967), S. 52–60. 95 Hans D. (Weiler i. Allgäu): Gnade u. Ungnade (Leserbriefe). In: Der Spiegel (11.12.1967), S. 12. 96 Karl H. (Bayreuth): Gnade u. Ungnade (Leserbriefe). In: Der Spiegel (11.12.1967), S. 2.
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Einstellungswandel fand deshalb nicht statt, denn die Forderungen nach Vergeltung waren im ersten und im zweiten Prozess ungebrochen vorhanden.97
IV. Zwar kann kein einfacher Ursache-Wirkungszusammenhang der Briefe auf den Prozessverlauf angenommen werden, aber trotzdem lassen sich einige Wechselwirkungen feststellen. Im Namen von Jürgen Bartsch hatten sein erster Verteidiger, der unbekannte Wuppertaler Heinz Möller, und sein neuer Verteidiger, der Münchener Star-Anwalt Rolf Bossi, beim Bundesgerichtshof Revision eingelegt.98 In der Begründung bezogen sie sich auch auf die vermeintlichen Wirkungen „der Öffentlichkeit“ auf den ersten Prozess. Möller und Bossi verfolgten vier Argumentationslinien: Erstens bezogen sie sich auf den besonderen Schutz von Jugendlichen durch das Jugendgerichtsgesetz, demzufolge die Verhandlung einschließlich der Verkündung des Urteils nicht öffentlich sein darf. Zweitens kritisierten sie, dass die Presse und „die Öffentlichkeit“ nur bei einigen Teilen des Prozesses ausgeschlossen worden seien, sodass Bartsch sich in seiner Redefreiheit eingeschränkt gefühlt habe. Zum dritten sei Bartsch durch die Beifallsbekundungen der Zuhörer während der Urteilsverkündung daran gehindert worden, weitere Beweisanträge zu stellen. Viertens seien Fernseh- und Rundfunkaufnahmen ein Revisionsgrund. Auch wenn der Bundesgerichtshof diese Argumente nicht für überzeugend befand, waren sie nicht vollständig aus der Luft gegriffen. Immerhin befanden sich 53 Journalisten auf der Anwesenheitsliste des ersten Prozesses, darunter Vertreter der großen überregionalen Zeitungen und Nachrichtenagenturen, Journalisten von Lokalzeitungen, Radio- und Fernsehanstalten.99 Zudem ließen die protokollierten Prozessmitschriften erkennen, dass oftmals, wenn „die Öffentlichkeit“ aus Gründen der sittlichen Gefährdung aus dem Gerichtssaal ausgeschlossen wurde, die Pressevertreter im Saal bleiben durften.100 Es waren somit tatsächlich zahlreiche Bartsch unbekannte Personen im Gerichtssaal anwesend. Dass Bartsch sich in seiner Redefreiheit eingeschränkt gefühlt haben könnte, erscheint unverständlich im Hinblick auf den ersten Prozess: Denn Heinz Möller, der 97 Zu einem ähnlichen Ergebnis kam Michael C. Baurmann in seiner Langzeitstudie über Opfer sexueller Gewalt, die auf der Grundlage von polizeilich registrierten Fällen entstand. Baurmann: Sexualität, S. 47–52. 98 NRW HStA, 211, Bossi/Möller, Revisionsschrift u. -begründung, München/Wuppertal, 6.5.1968. 99 NRW HStA, 209, Protokollband, Anwesenheitsliste, Wuppertal, 1967. 100 Siehe z. B. NRW HStA, 209, Öffentliche Sitzung der Jugendkammer, Wuppertal, Bl. 98–99 oder 102. Einzelerscheinungen oder antiliberale Gesinnung des Durchschnittsbürgers?
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im ersten Prozess der einzige Verteidiger war, erklärte damals, dass sein Mandant ihn darum gebeten habe, kein Plädoyer zu halten, und er sich diesem Wunsch fügen wolle. Dass dies ein im Rechtsstaat ungewöhnliches Vorgehen war, zeigt sich auch an der Reaktion des Vorsitzenden Richters. Er bat den Verteidiger aufgrund standesrechtlicher Bedenken und der Konsequenzen für ihn selbst und für seinen Mandanten, diese Entscheidung noch einmal zu überdenken, und unterbrach die Verhandlung für eine halbe Stunde.101 Aber auch danach blieb Möller bei seiner Entscheidung.102 Aufgrund dieser außergewöhnlichen Situation bat der Richter Bartsch, selbst etwas zu seiner Verteidigung zu sagen, da er doch intelligent genug dafür sei. Bartsch lehnte ab. Dass die Verteidiger nun eine eingeschränkte Redefreiheit als Revisionsgrund anführten, war somit zweifelhaft. Es könnte eingewendet werden, dass Bartsch durch seinen Verteidiger Möller im ersten Prozess schlecht beraten wurde, denn Möller schien mit dem Prozess überfordert: Er hatte den Fall auf Anfrage von Bartschs Vater übernommen, dem Möller zuvor in einem kleinen Verkehrsdelikt geholfen hatte.103 Der psychologische Einfluss, den der überfüllte Gerichtssaal und die große Medienpräsenz in Kombination mit Todesdrohungen gegen den Verteidiger ausübten, kann nur vermutet werden. Eine Folge könnte die Ablehnung des Plädoyers gewesen sein. „Star-Anwalt“104 Bossi stellte von vornherein klar, niemals auf ein Plädoyer zu verzichten.105 In einem Brief an seinen Brieffreund, den amerikanischen Journalisten Paul Moor, schrieb Bartsch am 25. Juni 1968, dass Bossi ihn schon bei seinem ersten Besuch um eine Vertragsunterzeichnung gebeten habe. Demnach überließ Bartsch alle Persönlichkeitsrechte und etwaige Honorare bis 1975 dem Journalisten Friedhelm Werremeier, der im Gegenzug dafür die Anwaltskosten übernahm.106 Werremeier schrieb unter anderem Artikel für die Illustrierte Neue Revue und Drehbücher für die populäre westdeutsche Fernsehserie Tatort. An diesem Zusammenschluss zwischen Journalist, Anwalt und Täter zeigt sich die signifikante Dynamik eines sich ausbreitenden Medienmarktes. Auch ein Blick auf die Seite der Staatsanwaltschaft zeigt, dass hier die Popularität des Bartsch-Falles ihre Spuren hinterließ. Der Staatsanwalt plädierte auch im zweiten Prozess noch für Verurteilung als Erwachsenem zu lebenslanger Haft, obwohl der 101 Ebd., Bl. 233–234. 102 Ebd., Bl. 240. 103 So die Darstellung von Paul Moor, einem US-amerikanischen Journalisten, der 1967 für das Magazin Time im Prozess anwesend war und später mit Bartsch intensiven Briefwechsel führte. Paul Moor: Jürgen Bartsch. Das Selbstbildnis eines Kindermörders. Reinbek 1991, S. 14. 104 Anwälte: Was herausschlagen. In: Der Spiegel 23 (1971), S.70–71. 105 Ursula Bayer: Bartsch gibt sich keine Chance. Er will Abschluß. Interview mit Anwalt Bossi zum Prozeß-Beginn. In: Düsseldorfer Nachrichten (16.3.1971). 106 Moor: Bartsch, S. 134.
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Bundesgerichtshof dies schon in seinem Urteil 1969 für ein unangemessenes Strafmaß erklärt hatte. In der mündlichen Begründung des Urteils vom 6. April 1971 wandte sich der Vorsitzende Richter Fischer kritisch an Verteidigung und Staatsanwaltschaft, indem er sich auf das Urteil des Bundesgerichtshofes107 berief und feststellte, dass es verfehlt sei, „bei dem mühsam, aber mit Erfolg in dieser Hauptverhandlung gewonnenen völlig klaren und eindeutigen Beweisergebnis einen Appell an die Kammer zu richten, ein mutiges Urteil zu fällen, wozu uns der Verteidiger aufrief, oder ein Urteil, wie es der Oberstaatsanwalt meinte“.108 Fischer betonte weiterhin, dass das Gericht „der guten richterlichen Tradition der freien, unabhängigen und unbestechlichen Entscheidung zu sehr verbunden [sei], als daß wir aus Furcht vor einer etwa übersteigerten öffentlichen Meinung nicht allein dem Beweisergebnis der Hauptverhandlung folgen würden“.109 Auch am Ende der mündlichen Urteilsverkündung bezog er sich erneut auf „die öffentliche Meinung“: „Wer nach der Todesstrafe ruft, die es nicht mehr gibt und auch nicht mehr geben wird, oder nach der lebenslangen Freiheitsstrafe, die wider das Gesetz wäre, weil sie dem Beweisergebnis widerspräche, verkennt die Grundlagen unseres Strafrechts, welches sich ausschließlich an der Schuld des Täters, an dem Grad seiner Verantwortung, bei Jugendlichen und Heranwachsenden auch an ihrer Verantwortungsreife und Entwicklungsstufe zu orientieren hat und nicht an Zweckmäßigkeitserwägungen oder gar dem Rachedurst einiger aufgebrachter und uneinsichtiger Zeitgenossen.“110
In diesem Satz wird nicht nur dem Rachbedürfnis eine Absage erteilt, es wird auch explizit und optimistisch gegen die Todesstrafe plädiert. Zudem wird deutlich, dass der Vorsitzende Richter im zweiten Prozess in hohem Maße für „die“ öffentliche Stimmung sowie die Fronten in den durch die Gutachter repräsentierten Wissenschaften sensibilisiert war.
V. Handelte es sich nun im Fall der Briefe Unbeteiligter um bedenkliche Einzelerscheinungen oder um eine antiliberale Gesinnung des Durchschnittsbürgers? Für beide Interpretationen finden sich Argumente im bisher Dargestellten, für keine der bei107 108 109 110
NRW HStA, 212, BGH, Revisionsurteil, Karlsruhe, 21.11.1969, Bl. 133. NRW HStA, 229, Fischer, Urteil: Mdl. Begründung, Düss., 6.4.1971, Bl. 112. Ebd. Ebd., Bl. 138–139. Einzelerscheinungen oder antiliberale Gesinnung des Durchschnittsbürgers?
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den repräsentative Aussagen. Und das war auch nicht das Ziel des Aufsatzes, vielmehr sollte es um die Art und Weise des Zusammenspiels von Prozess, Medien und Briefschreibern im demokratischen Rechtsstaat gehen. Die Briefe Unbeteiligter erhalten ihre Relevanz dadurch, dass sie eben nicht repräsentativ sind, sondern für die Prozessbeteiligten einen Einblick in eine weitere Teilöffentlichkeit geben. Je nach Bedarf können diese Briefe dann in die Argumentation eingebaut werden, so wendet sich der oben zitierte Vorsitzende Richter Fischer zum Beispiel explizit gegen die geäußerten Rachegefühle. Vergleicht man den Fall Bartsch mit anderen Fällen im 20. Jahrhundert, so fällt auf, dass Sexualmörder sich aufgrund ihrer zumeist brutalen Morde an Kindern und Jugendlichen nur selten das Mitgefühl ihrer Zeitgenossen erwerben konnten. Sie sind zudem nicht nur in den Worten Howard S. Beckers die „wahren Außenseiter“111 der Gesellschaft, sondern auch Außenseiter unter den Straftätern. Gerade an ihnen zeigt sich aber die Stabilität und das Funktionieren eines Rechtsstaates. So kann man die Revision und das zweite Urteil gegen Jürgen Bartsch als Indiz für den funktio nierenden Rechtsstaat Bundesrepublik werten, in dem durch öffentliche und recht sprechungsinterne Kritik dem Rachebedürfnis entgegengetreten wurde. Allerdings ist dieses Bild vereinfacht. Denn die Revision des ersten Bartsch-Prozesses kam nicht allein durch diese Kritik in Gang, sondern durch Initiative eines medienkompetenten Verteidigers und eines Journalisten. Durch die exklusive Bindung Bartschs an den Journalisten, verpflichtete sich der Journalist, für die Kosten des prominenten Verteidigers aufzukommen. Neben den funktionierenden Rechtsstaat trat somit der nicht zuletzt auch materielle Gewinne bringende Medienmarkt. Insbesondere durch die Medienöffentlichkeit wurde die Basis für den zweiten Bartsch-Prozess geschaffen. Am zweiten Bartsch-Prozess zeigt sich somit das Verhältnis von Rechtssystem und kritischer sowie kommerzieller Medienöffentlichkeit. Wird er Bartsch-Fall mit dem Prozess gegen den mehrfachen Sexualmörder Friedrich Haarmann, der 1924 in Hannover verurteilt wurde, verglichen, so fällt auf, dass auch er im Licht der Medienöffentlichkeit stand, dass sich bei ihm aber keine Allianzen wie später bei Bartsch bildeten. Haarmann wurde 1925 hingerichtet. Kontakte und Freundschaften zwischen Journalisten und Strafverteidigern waren zumin dest kein Phänomen, das erst den 1960ern und 1970ern vorbehalten war. So zeigte sich in dem Vorwort des Berliner Strafverteidigers Erich Frey zum Buch des Berliner Kriminalschriftstellers Hans Hyan,112 dass die beiden sich gut kannten. Außerdem war Erich Frey – wie später Rolf Bossi – durchaus medienpräsent, da er in zahlrei chen bekannten Fällen die Verteidigung übernommen hatte, darunter mit Friedrich 111 Howard S. Becker: Außenseiter. Zur Soziologie abweichenden Verhaltens. Frankfurt am Main 1973, S. 2. 112 Hans Hyan: Massenmörder Haarmann. Eine kriminalistische Studie. Berlin 1924.
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Schumann und Carl Grossmann auch Serienmörder-Fälle der Weimarer Zeit.113 In seinen Ende der 1950er erschienenen Erinnerungen gibt Frey an, dass der Kontakt zu Haarmann über seinen Freund Hans Hyan zustande gekommen sei, er die Verteidigung aber ablehnte und nicht an der Wiederaufnahme des Verfahrens interessiert war.114 Denkbar für den anderen Verlauf des Haarmann-Falles ist auch die verschiede nen Orts zu findende Interpretation, dass sich in diesem Prozess bereits die Krise der Weimarer Republik zeigte.115 Neben diesen Gründen kann ein anders strukturierter Medienmarkt der Weimarer Zeit eine weitere Erklärung dafür sein, dass es zwar bei Bartsch nicht aber bei Haarmann zu einer Revision durch einen Staranwalt und ei nen Journalisten kam. Lange Zeit waren Pitavalgeschichten die gängige Form der Gerichtsberichterstattung gewesen, durch die „Alltagswissen von Kriminalität und Strafrechtspflege“ geprägt wurde.116 Dies änderte sich um 1870, als die Tagespresse vielfach diese Funktion übernahm. Schon um die Jahrhundertwende traten verstärkt Illustrierte in Konkurrenz zu den Tageszeitungen. Ihren wahren Boom, vor allem in kommerzieller Hinsicht, erlangten die Illustrierten aber erst nach dem Zweiten Weltkrieg. So stand Jürgen Bartsch schon seit der Verhaftung im Fokus einer Serie der Neuen Revue. Autor war eben der Journalist, der später die Exklusivrechte erwarb und den Verteidiger für den zweiten Prozess bezahlte. Die ausführliche und früh beginnende Berichterstattung über Bartsch wird nicht zuletzt kommerzielle Gründe gehabt haben, denn der Illustrierten-Markt war stark umkämpft. Insbesondere die Illustrierten Hör zu, Quick, Stern und Revue erlebten zwischen 1954 und 1960 einen wahren Auflagenboom, der sie die Millionengrenze überschreiten ließ. Insgesamt sollen Ende 113 So wird Freys Leben in einer Wanderausstellung Anwalt ohne Recht – Schicksale jüdischer Rechtsanwälte in Deutschland nach 1933 der Bundesrechtsanwaltskammer durch die Überschrift „Staranwalt u. Medienliebling – Flucht – Überleben in Chile“ charakterisiert. 114 Seine Erinnerungen „Ich beantrage Freispruch“ erschienen in Buchform und als Serie: Quick Nr. 6–14 (1958). Siehe Auszug in Pozsár/Farin: Erich Frey: Fritz Haarmann. Aus den Erinnerungen eines Strafverteidigers (1959). In: Christine Poszsár/Michael Farin (Hg.): Die Haarmann Protokolle. Reinbek 1995, S. 27–47, hier S. 28. 115 Siehe auf den Haarmann-Prozess bezogen die Ausführungen zum Ausschluss Theodor Lessings aus dem Gericht: Brückweh: Mordlust, S. 129–147. 116 Joachim Linder/Jörg Schönert: Literarische Verständigung über ‚Kriminalität‘ in der deutschen Literatur 1850 – 1880. Vermittelnde Medien, leitende Normen, exemplarische Fälle. In: Jörg Schönert (Hg.): Literatur und Kriminalität. Die gesellschaftliche Erfahrung von Verbrechen und Strafverfolgung als Gegenstand des Erzählens. Deutschland, England und Frankreich. 1850–1880. Tübingen 1983, S. 184–238, hier S. 197. Siehe auch Joachim Linder: Deutsche Pitavalgeschichten in der Mitte des 19. Jahrhunderts. Konkurrierende Formen der Wissensvermittlung und der Verbrechensdeutung bei W. Häring und W.L. Demme. In: Jörg Schönert u. a. (Hg.): Erzählte Kriminalität. Zur Typologie und Funktion von narrativen Darstellungen in Strafrechtspflege, Publizistik und Literatur zwischen 1770 und 1920. Tübingen 1991, S. 313–348. Einzelerscheinungen oder antiliberale Gesinnung des Durchschnittsbürgers?
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der fünfziger Jahre in Deutschland etwa 30 Millionen Menschen wöchentlich eine Illustrierte gelesen haben.117 Noch wichtiger als die Leser waren für den finanziellen Gewinn allerdings die Anzeigen, die die Illustrierten zu etwa 50 bis 60 % finanziert haben sollen. Der Anteil des Anzeigengeschäfts am Gesamterlös stieg bis 1970 sogar auf bis zu 82 % an.118 Nicht zuletzt durch ihre Mischung aus Unterhaltung für ein breites Publikum und Simplifizierungen der Verbrechenswelt schöpften die Illustrier ten ihre Anziehungskraft. Insbesondere bei brutalen Sexualmördern ist das Bedürfnis nach einfachen Urteilen und Deutungen zu beobachten. Die vielfachen Bezugspunkte zwischen Prozess, Medien und Briefschreibern und ihre Wirkung auf den gesamten Verlauf des Bartsch-Falles können als funktionierende Kontrolle der Dritten Gewalt interpretiert werden: Da der erste Prozess zu stark durch Vergeltungsdenken bei Briefschreibern und vor allem Prozessbeteiligten geleitet wurde, hatte er keinen Bestand, vielmehr griffen – nicht zuletzt durch einen spezifischen Medienmarkt – die Funktionssysteme des Rechtsstaats, und der Prozess wurde wieder aufgerollt. Dieses optimistische Ergebnis sollte allerdings nicht den Blick auf die relative Kurzlebigkeit dieser liberalen und kritischen Gedanken verstellen, die – wie in heutigen Prozessen um Kindermörder bzw. um Vergewaltiger zu sehen ist – durchaus mit dem Einsperr- und Vergeltungsdenken in Konkurrenz stehen. Auch das Düsseldorfer Urteil konnte nicht uneingeschränkt in eine kritische Rechtsprechung eingeordnet werden. So urteilte Wilfried Rasch, selbst Gutachter im zweiten Bartsch-Prozess, rückblickend im Jahr 1984, dass durch das „strafprozessuale Hickhack“ die Chance vergeben wurde, „für die psychiatrisch-psychologische Begutachtung in Strafverfahren Maßstäbe zu setzen, hinter die man in Zukunft nicht zurückgehen durfte, ohne Rügen vom Gericht erwarten zu müssen.“119 1971 schien das Urteil des Düsseldorfer Gerichts allerdings alle direkt in den Prozess involvierten Personen, die die Möglichkeit zu erneuter Revision gehabt hätten, zufrieden gestellt zu haben. Zwar legte der leitende Oberstaatsanwalt im April 1971 117 Werner Meffert: Beziehungen zwischen der Entwicklung des redaktionellen Angebots und der Entwicklung der Auflage von vier großen deutschen Illustrierten: 1954 bis 1960, Diss. Berlin 1967, S. 63. 118 Siehe Weiler: Sensationsberichterstattung, S. 197, Fn. 16. Die Serie zu Jürgen Bartsch in der Neuen Revue zeigt, dass die Zusammensetzung von Inhalt und Anzeige dabei durchaus zweifel hafte Allianzen bildeten: Gleich neben Fotos und Text über den Kindermörder Bartsch boten der Lido-Versand »Praktiken der Liebeskunst«, der Hebu-Buchversand »99 Liebesspiele«, der Becker Versand KG den »Sittenspiegel« und die Imex GmbH die »Schreckschuß-Pistole Browning Jaguar« an. Werremeier, Friedhelm/Paul Mevissen (Fotos), Herr Kaplan, ich bin ein Mörder! Briefe aus der Zelle enthüllen das Unfaßbare: Der vierfache Kindermörder Jürgen Bartsch gestand im Beichtstuhl seinen ersten Mord – u. tötete weiter! In: Neue Revue (19.3.1967), S. 104–113. 119 Rasch: Vorwort. In: Michael Förster (Hg.): Jürgen Bartsch. Essen 1984, S. 9–17, hier S. 12.
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Berufung ein,120 nahm diese aber sechs Monate später wieder zurück. Das Urteil wurde somit am 14. Oktober 1971 rechtskräftig. Weniger als fünf Jahre später war Bartsch tot – Todesursache war die falsch dosierte Narkose bei seiner Kastrationsoperation. Dies veranlasste den Spiegel-Reporter Gerhard Mauz zu der provokanten Feststellung: „Das Grundgesetz hat die Todesstrafe abgeschafft, aber es geht ja auch anders.“121
120 NRW HStA, Nr. 231, Oberstaatsanwalt Warneck, Berufung, Düss., 7.4.1971, Bl. 139–141. 121 Gerhard Mauz: „Manchmal geht es extrem aus“. Gerhard Mauz zum Tod von Jürgen Bartsch im Landeskrankenhaus Eickelborn. In: Der Spiegel Nr. 20/21 (1976), S. 70–72. Zur Einordnung dieser Aussage in den Strafvollzug siehe auch: Kerstin Brückweh: Ein Sexualstraftäter in Medien, Gesellschaft und Strafvollzug. Das Beispiel Jürgen Bartsch. In: Ansgar Weißer (Hg.): Psychiatrie – Geschichte – Gesellschaft. Das Beispiel Eickelborn im 20. Jahrhundert. Bonn 2009, S. 125–144. Einzelerscheinungen oder antiliberale Gesinnung des Durchschnittsbürgers?
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Heimat, Europe, and the German Expellees National Traditions and International Trends in the Consolidation of the German Federal Republic’s Westpolitik The history of West Germany has often been told as a narrative of discontinuity and reorientation, a success story whose key ingredient was a profound rupture vis-à-vis the recent past. Starting from the total defeat of the Third Reich in 1945 and accelerating through the 1950s and 1960s – the crucial early decades of the new country’s consolidation – West Germans allegedly turned away from discredited national traditions, such as aggressive nationalism and authoritarianism, and embraced a new set of values typically described as ‘western’ or ‘modern’, including a commitment to the post-national project of European integration and to western-style democracy. One prominent expert, for example, has described this post–1945 shift in the Federal Republic as a ‘deep political, societal and moral caesura’ with the past that put an end to Germany’s ‘anti-western Sonderweg’, thereby paving the way to a better, ‘post-national’ future.1 Numerous other authors have advanced broadly similar interpretations, even if their details and nuances do of course vary.2 The thesis of a profound rupture in the early Federal Republic between bad old national traditions and new, forward-looking international trends has arguably been particularly prominent in the scholarship on the country’s external orientation and foreign policy. The prevailing view has remained largely unchanged during the last few decades. According to a standard work of the late 1970s, the West German government broke decisively with the discredited traditions of hard-line nationalism, territorial revisionism, and ruthless great power politics under the leadership of its first chancellor, Konrad Adenauer. During his fourteen-year reign between 1949 and 1963, Adenauer introduced a revolutionary ‘new look’ to German foreign policy, transcending outdated ‘calculations of nation state interest’ by placing ‘internationalism’ and ‘Europe’ – in the sense of a close West German participation in West European inte1 2
Heinrich August Winkler: Der lange Weg nach Westen II. Deutsche Geschichte 1933–1990 (Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung Bd. 463), Bonn 2005, S. 651–652. See, for example, Edgar Wolfrum: Die geglückte Demokratie. Geschichte der Bundesrepublik von ihren Anfängen bis zur Gegenwart. Stuttgart 2006; Axel Schildt: Ankunft im Westen. Ein Essay zur Erfolgsgeschichte der Bundesrepublik. Frankfurt am Main 1999. Heimat, Europe, and the German Expellees
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gration – at the centre of his programme. Along the way, Adenauer had to ward off a series of challenges from various backward-looking opponents who remained stuck in old ‘national conservative positions’ of different kinds, but in the end he triumphed, steering the Federal Republic onto a new, westward-leading road that soon came to be accepted as the ‘new tradition’ of West German foreign policy.3 Thirty years on, the predominant interpretation remains very similar. Writing in 2008, a leading authority on Germany’s foreign relations concluded that Konrad Adenauer placed the Federal Republic’s policies ‘on a revolutionary path’. By combining a western orientation abroad with successful democratization at home, West Germany’s Grűndungskanzler laid an unprecedented basis for constructive interaction between Germany and the wider world. Prevailing over his more conservatively minded domestic critics, he created ‘a new line of legitimization and tradition’ in German foreign affairs by leading his country from ‘its old geopolitical position in the centre of Europe [politische Mittellage] to the political modernity of the Atlantic democracies’.4 In other words, most experts agree that a profound reorientation of German foreign policy took place in the early Federal Republic, largely under the leadership of Konrad Adenauer and his political allies, involving a fundamental break with the German past in which new principles rooted in European and broader western thought replaced old, tarnished German traditions reflective of aggressive, unreformed nationalism. This line of argumentation does make sense, up to a point. In the course of the 1950s and particularly the 1960s, West Germany did indeed develop into a polity that differed from its predecessors in increasingly fundamental ways, and these far-reaching changes were certainly evident in the country’s external posture and behaviour. The Federal Republic’s consistent pursuit of a lasting Westbindung, its determined participation in the process of West European integration, and the many new accents evident in the declaratory and symbolic actions of Bonn’s leaders all testified to a profound shift in the country’s approach to foreign policy. By the end of the period covered in this volume, that shift had become particularly evident, as a new SocialLiberal coalition took over the reins in Bonn in 1969, continuing the essence of the previous governments’ foreign affairs programme, primarily towards the West, while complementing it with the previously largely overlooked element of normalization and reconciliation vis-à-vis Eastern Europe. Some 20 years after the founding of the Federal Republic, the new West German foreign policy line was thus firmly established and stable. 3 4
Hans-Peter Schwarz: Adenauer und Europa. In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 27 (1979), S. 471–523. Christian Hacke: 60 Jahre Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland. In: Hans-Peter Schwarz (Hg.): Die Bundesrepublik Deutschland. Eine Bilanz nach 60 Jahren. Köln 2008, S. 487–510.
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But the road to that point of stabilization was a lot more bumpy and winding than most analysts have acknowledged. That road did not look like a modern autobahn, straight and smooth, built with the latest materials and techniques. Instead, it bore a much closer resemblance to a patchy Landstraße that snaked through the province on its way towards its westerly terminus, mixing brand-new surfaces with recycled bits of old pavement. The objective of this chapter is to argue that very point. I aim to show that old national traditions and new international trends were by no means clear-cut and mutually exclusive categories in the early Federal Republic. On the contrary, they were closely intertwined entities, particularly in the 1950s but to a large extent during the following decade as well, and it was precisely the complex mixing and intermingling of the two that paved the way for the triumph of a new kind of trajectory for the West German state. This chapter provides a case study of these dynamics, focusing on the domestic mooring of West German foreign policy during the 1950s and the 1960s. It analyzes the emergence of an increasingly solid domestic support base for the country’s reoriented foreign policy by honing in on the behaviour of two sets of actors from opposing ends of the Federal Republic’s political spectrum. One is the federal government itself, particularly Chancellor Adenauer and his inner circle of allies and advisors, a group generally portrayed as particularly forward-leaning and non-traditional in its internationalist, West European outlook. The other consists of the population groups that have been typically perceived as especially backward-looking and drawn to old, national traditions and whose conversion to new, more modern and westernized values was therefore an exceptionally urgent task if serious domestic obstacles to the emerging Westpolitik were to be avoided. This latter camp – which will receive the bulk of the attention in this chapter – was a large and heterogeneous entity in the early Federal Republic. Several population groups were widely considered to be drawn to old-style nationalism, at least in some of its manifestations. Many of the more than three million refugees who had fled westward from the GDR by the early 1960s were suspected of such sympathies, and so were large numbers of other West Germans, including a wide variety of people who at least initially prioritized certain national issues, typically German reunification, over broader West European or trans-Atlantic projects. But the largest easily identifiable group of potential nationalistically minded opponents to Adenauer’s Westpolitik comprised the German expellees – or Vertriebenen – who had been forcibly uprooted from their homes in Eastern and East Central Europe during and after the Second World War. The expellees were very significant in numerical terms, with some eight million of them residing in West Germany by the early 1950s. But their high societal importance was not just a function of numbers; much of it also derived from their prominence in the public life of the early Federal Republic, as reflected in politics, the mass media, culture, and other fields. That high Heimat, Europe, and the German Expellees
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visibility, in turn, was in good part a function of the extensive public activity put on by the various Vertriebenenverbände, or expellee organizations – a panoply of pressure groups that purported to act in the name of the expellees and to represent their interests. Although the various organizations were frequently at loggerheads with each other, particularly behind the scenes, on a wide variety of grounds, ranging from personal rivalries to clashing organizational principles and competing political philosophies, they did manage to draw high levels of public attention to what they defined to be the expellees’ chief concerns and interests. As many of these causes had a profoundly conservative and nationalistic ring, best exemplified by the expellee lobby’s persistent calls for a German unification encompassing not only the GDR but also the territories that the Reich had lost at the end of the Second World War and from which mass expulsions had taken place, the Vertriebenenverbände promptly evolved into the leading torch bearers of a backward-looking, territorially defined nationalism in the early Federal Republic. In the process, they also constituted the most obvious domestic counter-point to the westward-leaning new foreign policy line being implemented by the West German government. The following pages will provide some observations about two particular concepts – or tropes – that played a prominent role in the public interaction between the advocates and potential or actual opponents of West Germany’s emerging Westpolitik during the 1950s and the 1960s. The first – Heimat – was closely associated with backward-looking national traditions in general and the expellees in particular. The second – Europe – stood at the opposite end of the scale, being the slogan of the hour for the advocates of a foreign policy orientation along the lines favoured by Chancellor Adenauer and his allies. On the face of it, these two concepts could therefore be seen to represent the dualism between the bad, nationalistic past and the good, European future highlighted in much of the relevant literature. Upon closer inspection, however, matters turn out to have been much more complicated. Neither concept was as clear-cut and one-dimensional as superficial analysis might suggest. Both were in fact highly flexible notions, open to a variety of interpretations and uses, and the debates surrounding them illustrate how national traditions and international trends interacted in complex and sometimes surprising ways in the early Federal Republic, yielding some unanticipated consequences that ultimately worked in favour of consolidating the country’s new European orientation.
Heimat The concept of Heimat has a long pedigree, of course, rooted as it is in German traditions reaching back into past centuries. The word’s core meaning of home as a particular geographical place to which an individual is linked through a strong emotional 110
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bond had obvious potential appeal in the post–1945 context, at a time of massive upheaval and disorientation for most Germans, most obviously expellees and refugees of different kinds, but also many others who found themselves in a world of rubble and ruin that bore only a vague resemblance to the communities they had known prior to the war hitting the home front with full force. Even more importantly, the notion of Heimat could also serve important collective functions. It had done so before, as important studies have shown, for example by providing a mediating link between the immediate locality and the imagined national community in the process of German nation-building from the nineteenth century onwards.5 In this respect, too, Heimat was of obvious potential value in the post–1945 setting as well. If it could function as a sort of emotional glue among disoriented people, their present-day domiciles, and the evolving project of West Germany – an untested new state being built out of the rubble of the defeated and disgraced Reich, in no-holds-barred competition over legitimacy and prestige with another state within a divided nation – the benefits for the new polity would be obvious. In the words of Celia Applegate, Heimat could ‘embody the political and social community that could be salvaged from the Nazi ruins’.6 It was therefore hardly surprising that representations of Heimat were widely present in the Federal Republic’s public sphere, particularly in the 1950s, typically in an idealized form, as something consoling and reassuring, something that would promote West German identity-building by offering ‘an affirmative representation of the German nation and at the same time jettison[ing] the unsavoury aspects of the German past,’ to quote Heide Fehrenbach’s apt formulation.7 The mass media paid extensive attention to the topic. A characteristic newspaper article from the latter half of the 1950s, for example, portrayed one particular lost Heimat – East Prussia – in very emotional, nostalgic terms, evoking its ‘warmth and expanse, its joyfulness and melancholy’ while also singing the praises of the Federal Republic and stressing the need for East Prussians to ‘stand up for each other in their new Heimat, to help one another in a neighbourly spirit’.8 Even more widely circulated Heimat imagery issued from the entertainment industry in general and West German film studios in particular. The so-called Heimat films – sentimental melodramas set amidst the beauty of small communities in the West German countryside – enjoyed very high popularity, particularly in the early-tomid 1950s, accounting for more than twenty per cent of all German film production 5
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See, for example, Celia Applegate: A Nation of Provincials. The German Idea of Heimat. Berkeley 1990; Alon Confino: The Nation as a Local Metaphor. Württemberg, Imperial Germany and National Memory, 1871–1918. Chapel Hill 1997. Applegate: Nation, p. 243–244. Heide Fehrenbach: Cinema in Democratizing Germany. Reconstructing National Identity after Hitler. Chapel Hill 1995, S. 151. Brücke zwischen alter und neuer Heimat. In: Bremer Nachrichten (23 August 1958). Heimat, Europe, and the German Expellees
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and enticing millions of viewers into the cinema each year.9 With their portrayal of harmonious social relations between different population groups, including expellees and long-standing local residents, and of continued conservative social and gender norms in the midst of the rapid social changes brought about by West Germany’s accelerating Wirtschaftswunder, these films helped to provide hopeful vistas for the present and the future while eliding problematic questions about the recent past, thereby suggesting that ‘traditional values and modernity could happily join hands’ in the new Heimat of the Federal Republic, as Robert G. Moeller has argued.10 But West German public discourses about Heimat also possessed another, less reconciliatory dimension, a dimension that was prominent from the beginning but grew increasingly predominant by the latter half of the 1950s, as intellectual tides began to turn. When Heimat films and other similar representations came under escalating attack for their simplistic and unproblematized portrayal of the past and the present and consequently began to fade from the public realm, a different vision of Heimat consolidated its position. This was a vision identified primarily with the expellees in general and their self-proclaimed organizational representatives in particular, and its content was much more aggressive, backward-looking, and openly politicized than the sentimental universe of Heimat films. To be sure, the expellee narrative also painted a highly idealized picture of the beloved Heimat, but the green pastures of longing were located a long way from the Federal Republic of the present, in the lost paradise of the so-called German East (Deutscher Osten) whose gates had been slammed shut by the large-scale expulsions. Time and again, expellee spokesmen sang the praises of the old homelands in the east, extolling their supreme beauty and charm, underscoring the unique, irreplaceable connection that had allegedly linked their German residents to the native soil, and rejecting the suggestion that the Federal Republic could ever really replace the old Heimat.11 To bolster the near-mythical image of the lost homelands further, expellee representatives also promoted a peculiar historical narrative about the longer-term development of the areas of expulsion, most of which had historically been multiethnic communities rather than areas of exclusive ethnic German settlement. In this vision, relations among Germans, Slavs, and others in previous centuries had been characterized by a harmonious Gemeinschaft. The Germans had been the dominant party in this community; they had ‘cleared the forests, established the cities, villages, mines, Robert G. Moeller: War Stories. The Search for a Usable Past in the Federal Republic. Berkeley 2001, S. 128. 10 Moeller: War Stories, p. 129. On Heimat films, see also Willi Höfig: Der deutsche Heimatfilm, 1947–1960. Stuttgart 1973; Fehrenbach: Cinema, S. 148- 164; Elizabeth Boa//Rachel Palfreyman: Heimat. A German Dream. Oxford 2000, S. 86–143. 11 For some very critical commentary, see Samuel Salzborn: Grenzenlose Heimat. Geschichte, Gegenwart und Zukunft der Vertriebenenverbände. Berlin 2000. 9
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and factories, built cultural monuments, and created the basis for a thriving trading system’.12 All involved parties had accepted their natural roles and flourished – until the arrival of petty nationalisms in the late nineteenth century had poisoned the atmosphere and turned the subordinate partners against their benefactors. According to the expellee activists, such irrational anti-German resentments had culminated in the disastrous Diktat of the Paris Peace treaties, which had destroyed the stability of the European state system and caused grave injustices, including the unfair relegation of large numbers of ethnic Germans to minority status in newly established East European states. Therefore ‘all the misfortunes that subsequently befell Europe, including the Second World War,’ could ultimately be traced to the post-World War I peace settlement.13 This was also true of the Third Reich, which was present in the expellee narrative only peripherally, as an aberration in German history that could be blamed on a small clique of psychopathic Nazis. Predictably, therefore, German crimes of the Nazi era featured in this story only in a vague and marginal fashion, as ‘violent acts’ that the expellees condemned, in the same way that they denounced the transgressions committed by ‘all totalitarian regimes in the world’, including, of course, West Germany’s Cold War nemesis, the Soviet Union.14 In contrast to this consistent relativization of the Third Reich and its crimes, the expellee lobby’s historical narrative elevated another set of events into the central cataclysm of the twentieth century: the expulsions of Germans at the end of the Second World War. The expulsions constituted not only a ‘crime against humanity and a violation of the basic ethical principles of our civilization’.15 Because of their indiscriminate brutality and sweeping scope, they amounted to something even worse: ‘the greatest collective crime in history’, which could ‘not be justified with reference to the transgressions of the Hitler regime’.16 According to the expellee activists, these grave injustices had left a fateful legacy: boundless suffering for the expelled Germans and tragic consequences for the areas from which the mass evictions had taken place. The sudden end of the German presence had opened the gates for the imposition of Communist rule and allegedly triggered a general collapse of civilization in the east. With 12 Sudentendeutsche Landsmannschaft, ‘Die tschechoslowakische Frage’, September 1952, Sudetendeutsches Archiv, Munich (SDA): NL Lodgman, XII/1. 13 Rudolf Lodgman von Auen’s March 1959 essay ‘Der 4. März 1919 als Menetekel’, SDA: NL Lodgman, VIII/1:1. 14 The pamphlet ‘Die tschechoslowakische Frage’, as in note 12; ‘Überbewältigendes Treuebekenntnis zu Volk und Heimat’, Sudetendeutsche Zeitung, 4 June 1955. See also Landsmannschaft Schlesien, ‘Erwägungen zu dem deutsch-polnischen Verhältnis’, Bundesarchiv Koblenz (BAK): B 136, 6791. 15 The pamphlet ‘Die tschechoslowakische Frage’, as in note 12. 16 Walter Rinke’s address at a Silesian rally, 18 July 1954, reprinted in: Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung (21 July 1954). Heimat, Europe, and the German Expellees
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strong anti-Slavic overtones, expellee activists dwelled on the chaos and decay that supposedly reigned in the old Heimat in the absence of its former masters, asserting that ‘the cities are now dead [and] the once blooming farms lie in ruins’.17 The expellee leaders’ proposed solution to all these problems was simple: a return of the lost homelands to Germany and the German expellees. This demand for a sweeping revision of the post-war political and territorial status quo promptly established itself as the expellee lobby’s overriding object of desire. In the early post-war years, the revisionism was often expressed quite openly, as when the top leader (Sprecher) of the Silesian Homeland Society (Landsmannschaft Schlesien) publicly declared in the summer of 1950 that ‘the German Eastern provinces absolutely must be removed from Polish administration and returned under German rule’.18 But by the mid–1950s and thereafter, the same agenda was normally couched in much less aggressive, legalistic terms. The first step in the argumentation was to drawn on the Potsdam Agreement and a number of post-war statements by the Western Allies in insisting that, pending a peace treaty, Germany continued to exist within its 1937 borders and that these boundaries would have to form the basis for future negotiations about territorial matters. In a further move that opened the door to potentially more extensive border revisions, the expellee groups condemned the ‘expulsion of peoples or of ethnic, racial, or religious groups’ as a ‘flagrant violation of the right to self-determination’ and demanded ‘compensation’ for the victims, ideally in the form of ‘permission to return’ to the area from which they had been forcibly uprooted.19 The real centrepiece of the revisionist expellee programme, however, was the concept of Heimatrecht – or the right to one’s homeland, a new and rather vague legal precept, which expellee scholars ultimately defined as ‘the principle … that an individual has, or should have, the right to live undisturbed in his homeland (Heimat) as long as he wants and that any violation of this right, be it in the form of a forcible transfer of individual people or of an ethnic group from their homeland, or in the form of preventing their return to the homeland, is an injustice’.20 Heimatrecht had the advantage of being suitably vague to be potentially applicable to expellee groups and geographical areas from beyond the Reich’s 1937 boundaries while also sounding appealingly high-minded, even idealistic. But its true function as the presentable façade for territorial revisionism was evident in the way in which it was linked to 17 Brücke zwischen alter und neuer Heimat. In: Bremer Nachrichten (23 August 1958). 18 Walter Rinke, Schlesien meldet sich zu Wort , hvp, 24 August 1950, SDA: NL Lodgman, V/4. 19 Bund der Vertriebenen, press release about an ‘Expertentagung’ of its Ausschuss fűr gesamtdeutsche Fragen, 31 October 1961, BAK: B 137, 1254. 20 F.H.E.W. du Buy: Das Recht auf die Heimat im historisch-politischen Prozess. Euskirchen 1974; BdV (Hg.): Das Recht auf die Heimat. Eine Dokumentation zum Ergebnis einer völkerwissenschaftlichen Tagung in Bonn am 28. und 29. 1961. Bonn 1961.
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another coveted right – that of self-determination – by the expellee functionaries, who insisted that the expellees be granted both in conjunction. The point was that a return to the old Heimat as a tolerated minority under foreign rule would not suffice. The expellees would instead have to receive the right to determine the modalities of their own return, including, by implication, the national affiliation of the territory in which they would live.21 The expellee narrative of Heimat as an unjustly lost paradise to be reclaimed as soon as possible found extensive circulation in the early Federal Republic. It echoed in the political realm, promoted by expellee functionaries active in party politics. It also reverberated in the wider public sphere, particularly through the mass media, which were largely supportive of the expellees and their causes during most of the 1950s. Much of the media coverage, in turn, drew on the main arena in which the revisionist Heimat rhetoric thrived: the broader social and cultural milieu of the expellees, especially as orchestrated by the expellee lobby. Although the various organizations put on a panoply of activities, ranging from cultural circles and youth groups to numerous newspapers and other publishing ventures, the best-publicized staging grounds for their vision of the Heimat and its reacquisition were the large-scale membership rallies (Heimattreffen) that they fielded on a regular basis, normally on summer weekends. The rallies featured abundant political rhetoric, with evocations of Heimatrecht and self-determination typically in the foreground, although more direct calls for a return to the old homelands also often cropped up in the speeches, particularly in the early 1950s. Another notable feature of many of the Heimattreffen was their retrograde iconography: provincial and national flags flying in numbers rarely seen anywhere else in the Federal Republic; parades whose tone seemed vaguely martial; youth groups posing in uniforms that often looked eerily reminiscent of those of the Hitlerjugend or the Freie Deutsche Jugend of the GDR.22 In terms of their public self-presentation and their objectives, the expellee organizations were therefore closely linked to some of the more questionable aspects of German national traditions, such as inward-looking nationalism and political and territorial revisionism, particularly towards Eastern Europe. Their actions and underlying goals displayed a good deal of continuity with some of the principles and practices that had governed German foreign policy in the pre–1945 period, including even in 21 See, for example, Die aussenpolitische Linie der Sudetendeutschen Landsmannschaft. In: VdL-Informationen (10 May 1954), p. 3; resolution of the Landsmannschaft Westpreussen, 17 October 1953, BA: B 136, 6790. 22 On these rallies, see, for example, Matthias Stickler: Ostdeutsch heißt gesamtdeutsch. Organisation, Selbstverständnis und heimatpolitische Zielsetzungen der deutschen Vertriebenenverbände, 1949–1972. Düsseldorf 2004, esp. p. 155–172. For some critical press commentary, see Der Zorn der Schlesier. In: Welt (10 June 1963); Fanfaren vor dem Torso der Nazi-Kongresshalle. In: Frankfurter Rundschau (19 May 1964). Heimat, Europe, and the German Expellees
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the Nazi era, although there were important differences too, and the expellee activists and their programmes are of course not be equated with the National Socialist elites and their genocidal projects. But on the face of it, the expellees in general and the political expellee lobby in particular appeared to be prime advocates of backwardlooking, nationalistic traditions in the Federal Republic, in opposition to the new, European orientation championed by top governmental elites. The concept of Heimat, in turn, in the various manifestations adopted by the expellee spokesmen, seemed to be the chief weapon in the rhetorical arsenal employed by those who wanted to uphold the traditions of revisionist policies vis-à-vis Eastern Europe in the new, post-war Germany. Despite the undeniable continuities across the divide of the post-World War II settlement evident in many of the expellee lobby’s practices, the onward march of national traditions was by no means the whole story in this area. The activities of the expellee organizations were more complicated entities than that, not only in their content but also in their broader impact, and the complex mixing of old and new, national and international that gradually took place ultimately served to facilitate the building of an increasingly strong domestic support base for the reoriented foreign policy being promoted by the West German government. These trends were embodied in the rhetoric of Heimat and in the wider impact of that rhetoric, in the expellee sector and beyond. The language used by the expellee activists in promoting their Heimat agenda was itself highly significant and reflective of these ongoing changes. The shift that took place from the open calls for border revisions that had been common in the early postwar years to the much more abstract and legalistic rhetoric of Heimatrecht and selfdetermination that dominated by the mid–1950s showed that the times were changing – and dragging the advocates of old-style, territorially defined nationalism with them. Legal arguments are often weapons of the weak in international politics; actors who lack the power to use more forceful means to pursue their objectives can draw on the law books to keep their interests and claims in the public eye. Unsurprisingly, therefore, legal argumentation waxed very prominent in the semi-sovereign early Federal Republic, setting a precedent that was to endure even as the new state gradually acquired more stature and power. The most obvious case in point was the official West German attitude towards the GDR and the problem of reunification, where legal wrangling about obscure points of status, recognition, and citizenship predominated in the absence of any realistic prospect of actual political advances.23 With their legalistic Heimatrecht argumentation, expellee activists were adjusting to these prevailing
23 See, for example, Werner Killian: Die Hallstein-Doktrin. Der diplomatische Krieg zwischen der BRD und der DDR 1953–1973. Berlin 2001.
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conditions, mixing national traditions with emerging post-war trends and gradually falling more in line with the broader political culture of the Federal Republic. More importantly, over time the widespread legalism in the West German public sphere, including that espoused by the expellee lobby, facilitated popular acceptance and internalization of the principles and norms that underpinned the relevant legal frameworks. Many had strongly universalist implications whose long-term effect was to undermine the kind of territorially defined nationalism that expellee activists still dreamed of pursuing. The ongoing discussions about Heimatrecht served such functions, at least in part. As the years passed, critics began to raise difficult questions about the concept. How long would a particular person’s or population group’s right to a given Heimat endure, even if the people in question no longer lived in that area? Even more challengingly, at what point would the new residents of a given territory acquire a Heimatrecht of their own?24 Once such questions had proved difficult to answer, the favoured rhetorical strategy of the expellee activists began to undermine itself; the modern-day means were subverting the backward-looking ends, thereby blunting the edge of underlying revisionist intent. As a consequence, by the 1960s expellee leaders had to try address some of the contradictions in their own argumentation, primarily through reluctantly issued statements which admitted that at least some of the current-day residents of former German lands also had the right to stay in their homes. But as these pronouncements typically also insisted that the German expellees, too, nevertheless retained their Heimatrecht, the end result was to exacerbate the existing rhetorical contradictions and to undermine the credibility of the revisionist cause.25 The expellee lobby’s ongoing Heimat rhetoric was also subverting itself and its underlying objectives in another, more fundamental way. Ever since their founding in the early post-war period, the expellee organizations had been operating simultaneously on two fronts. The main sustained thrust of their campaigns had been directed eastwards, towards the ‘long-term objective’ of ‘a return to the old homelands’.26 But at the same time the pressure groups had also pursued more immediate engagements further west, clamouring for equal rights and various assistance programmes for the expellees in the Federal Republic. In theory, the two objectives were supposed to be complementary. The expellees would re-establish their existence in West Germany, but only 24 For trenchant critiques, see Europa und die Vertriebenen. In: Handelsblatt (9 June 1965); or Jűrgen Neven DuMont’s TV documentary ‘Polen in Breslau – Porträt einer Stadt’, aired on NDR, 7 May 1963. 25 See, for example, the ‘Sprachregelung’ agreed by the Bundesvorstand of the Landsmannschaft der Oberschlesier, 14 December 1965, Archiv der Landsmannschaft der Oberschlesier, Ratingen (LdO), Korrespondenz mit Parteien und Abgeordneten, 1951–31.5.1966. 26 Walter Rinke to Josef Műller, 5 May 1949, Archiv fűr Christlich Soziale Politik, Munich (ACSP): NL Műller, 344. Heimat, Europe, and the German Expellees
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temporarily, for the time being, in anticipation of the chance to reclaim their true homelands. Their proverbial suitcases were supposed to remain at least half-packed. To reflect the distinction between the expellee lobby’s short and long-term aims, some important semantic distinctions were made in the activists’ rhetoric. The lost lands in the east allegedly remained the Heimat of the expellees, while their new residences in the Federal Republic could only reach the status of a Zuhause, a home in the sense of a domicile, without the deep emotional connotations of Heimat.27 In reality, these distinctions and claims soon grew increasingly tenuous, indeed imaginary. Thanks to the various social and economic programmes introduced by the West German authorities and the rapidly expanding opportunities available in the Federal Republic of the economic miracle era, the severe deprivation that the bulk of the expellees had faced in the immediate post-war years became a thing of the past for most during the 1950s. Although the newcomers still typically lagged behind longerstanding residents of western Germany in their living standards, the relative normalization of their material conditions had broader implications. Everyday routines began to take over; a process of adjustment to the new circumstances advanced a little bit further each year. As the provisional was gradually becoming permanent, dreams of the old Heimat grew steadily paler in most expellees’ minds. Generational differences were crucial to this process. Although social and attitudinal adjustments took place in all age groups, different age cohorts predictably responded to their West German surroundings in contrasting ways. The ‘old generation’, which had grown up in the old Heimat and faced the full horror of the expulsions, typically found successful readjustment to the Federal Republic much more difficult than the ‘middle generation’, whose members could remember the expulsions and the preceding years only from the perspective of a child, if at all, with the result that many of them began to distance themselves from the expellee organizations by the 1960s. But it was the young ‘post-war generation’ – which lacked first-hand exposure to the expulsion traumas and had known only the Federal Republic as its home – that found it easiest to view West Germany as its actual Heimat and to cut its ties to the expellee lobby.28 Even in the early 1950s, observers noted how expellee youth seemed much more at home in the present than in the backward-looking rituals of the various Heimattreffen, and by the following decade the young generation was typically most notable by its absence from the expellee organizations.29 A survey of various local branches of the Sudeten German Homeland Society conducted in the mid–1960s, for exam27 See, for example, Rainer Schulze (Hg.): Zwischen Heimat und Zuhause: Deutsche Flűchtlinge und Vertriebene in (West-)Deutschland 1945–2000. Osnabrück 2001. 28 For good insights, see Lutz Niethammer: Traditionen und Perspektiven der Nationalstaatlichkeit für die BRD. In: Außenpolitische Perspektiven des westdeutschen Staates, Bd. 2. Das Vordringen neuer Kräfte. Munich 1972, S. 76–81. 29 Es hätte gemütlicher sein können. In: Süddeutsche Zeitung (10 June 1954).
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ple, showed that only one percent of the members were less than 25 years old, while a similar local-level analysis of the Silesian Homeland Society, carried out a few years earlier, revealed a total absence of anyone under 30.30 By the mid-to-late 1960s, the expellee organizations were thus shrivelling into increasingly narrow and unrepresentative conglomerations of professional functionaries whose ageing followers were typically poorly integrated and economically disadvantaged in West German society. Membership levels were shrinking, also beyond the youngest age cohorts. A clear majority of the expellees in West Germany rejected the prospect of a return to the old Heimat in the east, even in the abstract, preferring to continue their lives in the Federal Republic. Most strikingly perhaps, even among the rank-and-file members of the pressure organizations, a majority regarded social and cultural activities, such as the maintenance of personal friendship networks, as more important than the pursuit of broader political objectives.31 The expellee lobby’s ambitious project of sustaining the revisionist zeal of its members as a counterpoint to the broader western orientation of the Federal Republic’s foreign policy had failed. The passage of time, the particular economic and social trajectory of the early Federal Republic, and generational developments among the expellees go a long way towards explaining this outcome, as suggested above. Other broad trends, such as the manifold social, generational, and attitudinal changes in West German society between the 1950s and the 1960s also contributed in important ways. But the activities of the expellee organizations in general, and their rhetoric of Heimat in particular, were another major factor in the process through which the expellees adjusted to their new surroundings and eventually discarded dreams of a return to the old homelands in the east. In two different contexts, the actions and statements of the Vertriebenenverbände facilitated the societal integration of expellees in ways that ultimately defanged their revisionist potential and severely undermined the cause of traditional, territorially defined nationalism in the Federal Republic, thereby highlighting the propensity of the expellee lobby’s Heimat rhetoric to subvert its own underlying goals and to yield important unanticipated consequences. The first of these contexts was the early post-war period, a time when the emerging West German state still lacked sovereignty, and worries about a mass radicalization among the expellees were widespread. As millions of impoverished, demoralised and homesick expellees eked out a precarious existence in West Germany, typically facing 30 ‘Sudetendeutsche Landsmannschaft, ‘Altersgliederung der Mitglieder – Stand 31.12.1965’, SDA: NL Becher, 227; Patrick von zur Műhlen/Bernhard Műller/Kurt Thomas Schmitz: Vertriebenenverbände und deutsch-polnische Beziehungen nach 1945. In: Carl Christoph Schweitzer/Hubert Feger (Hg.): Das deutsch-polnische Konfliktverhältnis seit dem Zweiten Weltkrieg. Boppard am Rhein 1975, S. 131. 31 Pertti Ahonen: After the Expulsion. West Germany and Eastern Europe, 1945–1990. Oxford 2003, esp. S. 223–226. Heimat, Europe, and the German Expellees
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prejudice and discrimination from the native population at every turn, the expellee lobby’s peculiar rhetoric arguably provided important psychological succour for the uprooted newcomers. To be sure, the claims about the traditional superiority of Germans over Slavs and about the continued pre-eminence of Germans in general and the expellees in particular as guardians of justice had an offensive ring in view of the moral record of the Third Reich. But in many cases such sentiments also helped average expellees to maintain a sense of self-worth amidst their threadbare existence on the bottom rung of the Federal Republic’s social ladder. The prospect of an eventual return to the old homelands, fostered by the expellee leadership’s revisionist proclamations, provided another source of hope and motivation for large numbers of German expellees. In a statement typical of the late 1940s and very early 1950s, a Silesian woman gave expression to the strength and inspiration which this vision of a better future could provide. ‘One day we’ll return to our land’, she assured an interviewer. ‘We all firmly believe that. Until then we don’t let ourselves get down-hearted – there’s no point in that.’32 As the hope of a mass exodus of the expellees also appealed to many native West Germans, who would have been only too happy to see the backs of unloved strangers in overcrowded conditions of general scarcity, the rhetoric of the expellee activists defused social tensions and thereby served the broad interests of post-war reconstruction in western Germany. But in the longer term that rhetoric also redounded against the concrete, revisionist objectives that it was supposed to promote. By building the lost Heimat into an idealised, mythical entity and the return to it into a near-millenarian solution that would supposedly fix all imaginable ills, expellee functionaries helped to create a dualistic mindset among their followers. The increasingly distant paradise of the lost old homeland contrasted sharply with the concrete reality of daily existence in the Federal Republic, and as the years passed, a compartmentalized outlook grew ever more evident among the expellees. While many, at least among the old and middle generations, continued to pay limited, highly ritualised homage to the beloved old Heimat at expellee rallies and other ghettoized events, in their everyday lives a growing majority increasingly accommodated themselves to their new surroundings, in the process accepting West Germany as a de facto new Heimat.33 The unrealistic rhetoric of the expellee elites contributed significantly to that outcome. The second context in which the excessive oratory of the expellee functionaries backfired with similar consequences was the wider West German public discourse 32 Rainer Schulze: Growing Discontent: Relations Between Native and Refugee Populations in a Rural District in West Germany after the Second World War. In: Robert G. Moeller (Hg.): West Germany under Construction. Politics, Society and Culture in the Adenauer Era. Ann Arbour 1997, S. 65. 33 For interesting observations, see Wer möchte zurückkehren. In: Badische Zeitung (20 June 1953).
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about the expellee lobby’s foreign policy demands. By the early 1950s, the expelleedriven language of Heimatrecht and self-determination, with all its revisionist implications, had permeated the Federal Republic’s political arena, a situation that was to continue through most of the 1960s. All the main political forces in the country cultivated the impression of far-reaching congruence of interests between themselves and the expellee movement on these issues – but for overwhelmingly instrumental motives. Although the vast majority of Bonn’s mainstream politicians had realised early on that the border changes advocated by the expellee lobby were neither viable nor even desirable in the post-World War II conditions, they nevertheless paid lip service to many of the activists’ demands, primarily because of electoral considerations. Most of the rhetoric emanating from top politicians was carefully calibrated and vague, low on specifics, high on platitudes, and mindful of not upsetting the country’s key allies. But it nevertheless locked the political elites into seemingly revanchist stances towards Eastern Europe, which they were loath to readjust, largely for fear of electoral retribution from the millions of expellee and other nationalistically minded voters whose desires the expellee organizations were long assumed to represent.34 By the second half of the 1960s the situation changed, however. The revisionist dogmas around Heimatrecht and related concepts came under sustained attack in the West German public sphere, initially primarily by journalists and intellectuals, but gradually also by growing numbers of politicians. Popular attitudes also moved in a similar direction quite rapidly, even among rank-and-file expellees, only 29 percent of whom still expressed any interest in returning to their old homelands by the end of the decade.35 In this volatile setting, the expellee activists again made an unintended contribution to both expellee integration and broader social stability in the Federal Republic in a paradoxical fashion: by alienating the majority of their own presumed followers. Even in the face of the increasingly evident transformations around them, they refused to budge from their traditional stances. Instead, they added increasingly radical-sounding accents to their rhetorical repertoire, attacking journalists, politicians, and other critics with derogatory epithets reminiscent of the dangerously polarized political debates of the Weimar years. The ominous-sounding term Verzichtpolitiker (abandonment politician) gained particular notoriety as a pejorative employed by expellee activists against politicians deemed hostile to their revisionist causes, and one prominent Silesian activist even demanded ‘prison sentences’ to those who publicly advocated the ‘abandonment (Verzicht) of pieces of German soil’.36
34 For more detail, see Ahonen: Expulsion. 35 Elisabeth Noelle/Erich P. Neumann (Hg.): Jahrbuch der öffentlichen Meinung, 1968–1973. Allensbach 1974, S. 526. 36 Gefängnis für Verzichtpolitiker. In: Süddeutsche Zeitung (3 July 1962). Heimat, Europe, and the German Expellees
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In response to such recalcitrance, a growing number of expellees rejected the legitimacy of their self-proclaimed representatives in the course of the 1960s, publicly accusing the activists of ‘fanaticism’ and ‘dangerous illusions’.37 Many others walked away from the expellee lobby with less fanfare. The trend had become evident by middecade at the latest, as exemplified by developments within the Silesian Homeland Society, one of the biggest and most prominent expellee organizations. By that point, ‘the mass of the Silesians [did] not belong or no longer belong[ed] to the Landsmannschaft’, as a leading activists admitted in private, and the organization’s official newspaper attracted only 25,800 subscriptions from among the more than 1.5 million Silesians in the Federal Republic.38 The expellee lobby had lost the bulk of its popular base, as a growing majority of rank-and-file expellees, increasingly secure and well-integrated in their post-war lives, preferred the reality of the new Heimat in the here and now to the chimera of a lost homeland whose continued pursuit appeared not only hopeless but also potentially dangerous and destabilizing to West Germany. In the long term, then, the rhetorics of Heimat and Heimatrecht in the Federal Republic rather paradoxically served to dull the sting of the territorially defined, backward-looking nationalism that was inherent in them. Both concepts lost their revisionist edge in the course of the 1950s and particularly the 1960s, partly because of their internal contradictions and partly because of the contrasting uses to which they were put by different actors. In the case of Heimatrecht in particular, the underlying objectives of the expellee lobby on the one hand and West Germany’s governing elites on the other were incompatible. Once the genuine revisionism pursued by the expellee activists became enshrouded in the broader, heavily instrumentalised rhetoric of Bonn’s leading politicians, the former was gradually sapped of its venom, becoming incorporated into a vague mainstream discourse that ultimately reduced the revisionist desiderata into a ritualized mantra whose very repetition underscored its futility. Through these processes the concept of Heimat – a notion rooted in German national traditions and at first sight strongly associated with backward-looking, nationalistically minded causes – helped to undermine real and potential domestic resistance to the Federal Republic’s reorientation towards a new, western-oriented foreign policy. National traditions and international trends interacted and combined in complicated ways in the West German politics of Heimat, thereby ultimately promoting the interests of the most powerful political actors in the land.
37 Sprechen nicht für uns. In: Die Zeit (29 May 1964). 38 Walter Rinke to Willi Rasner, 23 November 1964, Archiv fűr Christlich-Demokratische Politik, Sankt Augustin (ACDP): I–294-076/2; Kempe in the Schlesiche Landesversammlung, 9 October 1965, BAK: B 234/596.
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Europe Europe was the magic slogan of the early post-World War II years, at least on the western half of the continent. To its true believers, it denoted progress and renewal, a glittering avenue into a much better future. Through greater co-operation and integration, the argument went, Europeans could overcome the petty, aggressive nationalisms and other violent divisions that had wreaked such havoc in the past, most disastrously of all during the first half of the twentieth century, and start building a cooperative, trans-national community of states and peoples. At first sight at least, the notion of Europe thus lay at the opposite end of the conceptual scale from Heimat, representing internationalism, cross-border interaction, and idealistic western traditions rather than more traditional German nationalism, defined in territorial and in part revisionist terms. Just like Heimat, however, Europe, too, was a highly flexible rhetorical vessel that could be filled with a wide range of different content to serve a variety of underlying causes. The idealist promotion of European unity as an aim in its own right was one of the agendas that the advocacy of Europe could – and did – serve, but that was never the sole set of goals, nor even the dominant one. Rather, the concept of Europe was instrumentalized to promote a variety of objectives by numerous different actors. That multiplicity of intentions was certainly highly evident in the West German milieu under examination here. Both the Bonn government, embodied by the closely knit circle around Chancellor Adenauer, and the organized expellee movement sought to harness the progressive notion of the hour to serve their particular ends, mixing national traditions and international influences in contrasting combinations. In the process, they generated strands of public rhetoric whose overall effect was to facilitate the stabilization of the new West German foreign policy line promoted by the Adenauer government and its successors. Europe played an integral part in the West German government’s foreign policy programme throughout the Adenauer era – and the rest of the period covered in this essay. The values of European civilization, the ideal of European unity, and particularly the concrete project of European integration, as launched and developed on the western half of the continent after the Second World War, were key staples of Bonn’s official pronouncements. Nor was the frequent evocation of Europe and its integration mere lip service; the Federal Republic’s enthusiastic participation in the European Economic Community (EEC) and in a wide range of other, multilateral institutions of the West European and North Atlantic variety also testified to the country’s extensive concrete engagement. Genuine sympathy and support for the cause of (West) European integration as such did contribute to the government’s stances. Adenauer himself was a long-standing champion of transnational European causes, and many others in Bonn’s high Heimat, Europe, and the German Expellees
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places shared his general views. But as Hans-Peter Schwarz and others have shown, ultimately the advocacy of Europe was not just an end in itself for the Federal Republic’s Grűndungskanzler. In Adenauer’s vision, much of which was subsequently passed on to his successors, Europe’s primary function was to facilitate the pursuit of other, broader aims in the profoundly transformed post-war political context. Most fundamentally, Europe – which essentially meant West European integration – could provide a bulwark of security against the Communist danger looming in the east by linking the defence of West Germany to that of Western Europe and the United States. It could also safeguard against a further threat, which Adenauer sometimes described as his ‘nightmare’ of ‘Potsdam’: the possibility of another great power deal at Germany’s expense. But the European connection also promised more far-reaching benefits for the fledgling West German state. It offered the prospect of reacquiring national sovereignty from the ashes of defeat and ignominy, of building the Federal Republic into a sovereign, powerful state as a part of the anti-Communist West – and possibly of achieving German unification as a long-term prize, reachable after the collapse of Communism, at least in the form of a merger of the Federal Republic and the GDR, even if territories further eastwards were not really on the agenda.39 The concept of Europe, as adopted by Adenauer and other key architects of West German foreign policy, was thus not devoid of national accents and ambitions. It did not reject nationally defined goals, such as the acquisition of sovereignty and state power for the Federal Republic or the pursuit of unification with the other German state. Rather, it sought to embed such objectives within a new, trans-national, westward-looking framework, built around West European integration and trans-Atlantic cooperation. The result was a merger of the national and the international rather than a simple supplanting of the former by the latter. But this new synthesis nevertheless amounted to a highly significant recasting of previously prevailing German foreign policy paradigms. It transcended the long-dominant precept that political interests were to be pursued overwhelmingly for and through the nation state, as defined in exclusive, territorial terms. Its prevailing vision was instead that of ‘European nationalism’, a framework in which national and broader (West) European interests were to be reconciled as much as possible so that Europe itself could eventually be built up into a major player in international politics, perhaps even a ‘third force’ of sorts between the two new superpowers.40 In the usage of Adenauer and Bonn’s other key foreign-policy formulators, the concept of Europe featured primarily in this sense, as a rallying call and a symbol for a foreign policy orientation that implicitly challenged many of the
39 See, for example, Schwarz: Adenauer und Europa. The quotations are from p. 480. 40 Ebd., p. 507. See also Timothy Garton Ash: In Europe’s Name. Germany and the Divided Continent. New York 1993.
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backward-looking continuities inherent in the language of Heimat employed by the national-conservative circles around the expellee activists. That was not the only underlying objective that the rhetoric of Europe was harnessed to serve in the early Federal Republic, however. Much like the terms Heimat and Heimatrecht, Europe, too, was used very extensively for different purposes by different actors from all across the political spectrum. The expellees in general and their self-appointed organizational representatives in particular were prominent among these actors. From the first days of the Federal Republic, the main expellee organizations explicitly endorsed the idea of European integration. In the ‘Charter of the German Expellees’, for example – a statement of principles issued by key activists with considerable fanfare in August 1950 – the signatories vowed to ‘support with all their strength every endeavour directed towards the establishment of a united Europe’.41 Similar proclamations remained standard throughout the 1950s and the 1960s. As a top functionary declared in the latter half of the 1960s, the German expellees continued to be ‘advocates of German-French reconciliation, champions of the idea of Europe, and reliable allies of the American people’.42 With such rhetoric, expellee leaders were, in part, simply parroting Bonn’s key slogans because they lacked choice in the matter. West European integration was such a prominent ideal in the early Federal Republic that a failure to espouse it would have excluded the expellee lobby from the political mainstream. But there were also areas of substantive agreement between the European visions of the governmental elites and of the expellee activists. Anti-Communism provided the most obvious uniting bond, as expellee functionaries, too, vociferously endorsed the objective of building a powerful dam against what they denounced as ‘Asiatic Bolshevism’, starting from the exposed front line of the Federal Republic, with the expectation that Western Europe’s strength and dynamism would eventually precipitate the collapse of Communist rule in the east.43 Ultimately, however, such commonalities were outweighed by the fundamental differences that separated the expellee activists’ visions of Europe from those espoused by Bonn’s governmental elites. Although the expellee leaders, too, proceeded from the assumption that the anti-Communist western half of the continent was the base around which the new Europe would be constructed, they expended much more energy on sketching scenarios for future transformations beyond the Iron Curtain than did the federal government, particularly under the rather western-fixated Ade41 Charta der deutschen Heimatvertriebenen. In: Werner Blumenthal/Bardo Fassbender (Hg.): Erklärungen zur Deutschlandpolitik I: 1949–1972. Bonn 1984, S. 17–18. 42 BdV President Wenzel Jakcsh’s address at the BdV’s Deutschlandkundgebung in Bonn, 14 May 1966, SDA: NL Jaksch, SB 206. 43 Hans-Christoph Seebohm: Die politische Aufgabe der Sudetendeutschen. In: Sudetendeutsche Zeitung (23 May 1953). Heimat, Europe, and the German Expellees
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nauer. From early on, the expellee lobby insisted that the Europe of the future would stop ‘at neither the Elbe, nor the Oder, nor the Weichsel’ but would extend much further east, at least to the western borders of the Soviet Union.44 To achieve this pan-European outcome, a fundamental precondition had to be fulfilled: the ‘liberation’ of the East European peoples ‘enslaved by Bolshevism’.45 Although the expellee activists never managed to explain convincingly just how that extremely high hurdle was to be cleared, they painted a highly optimistic, indeed utopian, picture of the post-liberation era on the continent. Once freed of the Communist yoke, the East European peoples would quickly become converts to the ‘European ideas’ originally disseminated from the West.46 They would realize that their true interests ran ‘parallel’ to those of Germany’s expellee millions and that earlier discord had been the result of Communist machinations.47 The truly unified continent would become a genuine community of peoples in which human rights – including, of course, the German expellees’ rights to their homelands and to self-determination – would receive the respect they deserved. Although the expellee lobby’s rhetoric about Europe possessed a highly idealistic, even naïve, ring, the underlying objectives remained firmly in the realm of territorially defined German nationalism, even at the end of the 1960s. A good illustration of this fact was the ‘Peace Manifesto’ which the Bund der Vertriebenen, the prominent umbrella organization of the various expellee pressure groups, released in the spring of 1969, in the run-up to that year’s Bundestag elections. This statement of general principles did, once again, underscore the significance of European integration. In a nod to the rising tide of East-West détente, it also highlighted the desirability of a vaguely defined European ‘peace order’ (Friedensordnung), to be achieved through negotiations across the Iron Curtain rather than an outright overthrow of the Communist regimes. But it also set very traditional-sounding preconditions for such negotiations: no recognition of Germany’s post-war borders by the Federal Republic as well as strict observance of the ‘principles of progressive international law’, including the granting of an ‘individual and collective Heimatrecht’ and of ‘the right to self-determination’ to the German expellees.48 Territorial revisions in Eastern Europe remained central to the expellee lobby’s agenda, even if they were increasingly couched in language that 44 Walter Rinke’s address at the 1953 Bundestreffen of the Landsmannschaft Schlesien, 26 July 1953, BAK: B 137, 1248. 45 Rudolf Lodgman von Auen’s address at the Sudetendeutscher Tag, 24 May 1953, in A.K. Simon (Hg.): Rudolf Lodgman von Auen. Reden und Aufsätze. Munich 1954, S. 131. 46 Alfred Gille at the GB/BHE party conference, 8 May 1954, BAK: NL 267/29, p. 22/7. 47 Rudolf Lodgman von Auen’s address at the Sudetendeutscher Tag, 1 June 1952, in A.K. Simon (Hg.): Lodgman von Auen, S. 113. 48 ‘Friedensmanifest des Bundes der Vertriebenen’, 21 April 1969, Archiv des Bundes der Vertriebenen, Bonn (ABdV): Sitzungen des Präsidiums.
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drew very heavily on the diction of Europe – and, to a lesser degree, of détente – which the government in Bonn employed with a different set of underlying priorities. Much like Heimat and Heimatrecht, therefore, the concept of Europe, too, was a complicated entity in the political-rhetorical landscape of the Federal Republic of the 1950s and the 1960s, in which the national and the international, the traditional and the innovative intermingled in complicated ways. Another parallel between the two rhetorical entities lay in their broader political impact. Much like Heimat and its applications, Europe, too, served to facilitate the domestic mooring of the new foreign policy line introduced by the Adenauer government. Most obviously, the persistent public oratory of Europe and (West) European integration promulgated by the government helped to promote the popularity of those ideals and to foster support for a West German foreign policy oriented in that direction. This became apparent once Adenauer’s policies began to yield increasingly evident benefits from the mid–1950s onwards, in the form of enhanced sovereignty, prosperity, and international respectability for the Federal Republic. Popular support for the country’s external orientation grew steadily, particularly among population groups that had initially been sceptical of the chancellor’s intentions and eager to prioritize German national causes, especially unification, over trans-national European projects. As early as February 1958, two thirds of the West German population agreed that ‘European unity’ was a ‘significant’ political objective, on par with that of German unification, and such views magnified further in subsequent years.49 At the same time, the widespread public rhetoric of Europe by other societal actors, even those with very different underlying agendas, such as the expellee lobby, also contributed significantly to the consolidation of a domestic support base for the government’s external policies. The expellee activists performed a vital service by complementing the message put out by leading politicians and governmental spokesmen. They added to the scope and intensity of the ongoing discussion, helping to keep the key issues in the limelight, even in arenas where the government’s direct reach might otherwise have been restricted, such as particular expellee audiences. They also acted as mediating figures between the centres of power on the one had and expellees and other potential champions of traditional nationalistic causes on the other. Hearing about the importance of Western Europe amidst their longing for the old Heimat in the east from figures who claimed to be their political representatives made it easier for expellees to reconcile the two concepts and to accept the new policies being implemented in the Federal Republic. To be sure, the broader agenda that expellee activists hoped to pursue with their rhetoric of Europe differed sharply from that of the federal government. But the un49 Elisabeth Noelle/Erich Peter Naumann (Hg.): Jahrbuch der öffentlichen Meinung, 1958–1964. Allensbach 1965, S. 488. Heimat, Europe, and the German Expellees
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derlying discord left few lasting traces. It was the government’s views and intentions that ultimately became accepted, even internalized, by the West German population, including a clear majority of the expellees. In large part, that outcome reflected the basic dynamics of success and power. The European concepts and goals promulgated by the expellee activists simply did not work. Their vision of a post-Communist, pan-European idyll stretching from the Atlantic to the Soviet frontier in which Heimatrecht would prevail made no noticeable headway and began to seem grossly unrealistic to most observers by the 1960s at the very latest. The government’s blueprints and actions, by contrast, yielded concrete successes from early on, as indicated above, and continued to do so through the 1950s and the 1960s, with the prospect of additional advances in the future. In the end, therefore, the foreign policy conception that received the most popular backing turned out to be the one with the most success and power to back it up. The Federal Republic’s reorientation to a stance that combined extensive, institutionalized links to the Cold War West with limited revisionist aims towards the east – restricted, in the national German sense, only to unification between the two existing German states within their post–1945 borders – became widely accepted and stabilized during the 1950s and the 1960s while rival visions gradually withered away. This outcome did not represent a straightforward triumph of new and forwardlooking international influences over backward, conservative national traditions, however. As the twists and turns of the two key concepts of Heimat and Europe illustrate, the old and the new, the national and the international were closely intertwined entities in the Federal Republic of the 1950s and the 1960s. It was the complex and sometimes paradoxical interaction between them that paved the way for the consolidation of the country’s reorientation in foreign affairs – as indeed for many other key developments in West German politics, society, and culture.
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Goethe und der amerikanische Militärpolizist „National“ und „international“ in der intellektuellen Geschichte Westdeutschlands nach 1945 Die Frage nach nationalen oder internationalen Bezügen, wie sie in diesem Sammelband gestellt wird, kann für den Bereich der intellektuellen Geschichte rasch in die Irre führen. Mag etwa der moderne europäische Sozialstaat von vornherein (und bis heute) als nationale Institution angelegt sein, in der die eigene Nation als grundsätzlich abgeschlossener Solidaritätsraum gestaltet wird, der durch äußere Eingriffe schnell aus dem Gleichgewicht gerät, ist Ähnliches für den Bereich der intellektuellen Geschichte kaum zu behaupten. Ideen machen nicht an Grenzen halt. Der Intellektuellen- wie der Ideengeschichte1 haftet damit von vornherein ein stark internationaler bzw. transnationaler Zug an. Das gilt selbst für Zeiten des Hochnationalismus. Auch am Anfang des 20. Jahrhunderts, so eine vergleichende Studie über die internationale Zeitschriftenlandschaft um 1900, enthielten die führenden europäischen Kulturzeitschriften einen hohen Anteil von Artikeln fremdsprachiger Autoren bzw. Beiträge, die ausländischen Themen gewidmet waren.2 „National oder international“ scheint kaum das richtige, geschweige denn das zentrale Kriterium zu sein, um die intellektuelle Geschichte eines Landes zu beschreiben. Stattdessen muss diese ganz offensichtlich als Produkt zahlreicher Kontexte verstanden werden, in der es weniger um den Ursprung der Inhalte als um deren Brauchbarkeit für die eigene Argumentation, um die Passform für den jeweiligen Diskurs geht. Und was für die Zeitschriftenliteratur 1
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Zur Begrifflichkeit zwischen „Ideengeschichte“, „Intellektuellengeschichte“ oder „Sozialgeschichte der Ideen“ vgl. den guten, auch methodisch ausgerichteten Überblick von Daniel Morat: Intellektuelle in Deutschland. Neue Literatur zur ‚intellectual history‘ des 20. Jahrhunderts. In: Archiv für Sozialgeschichte 41 (2001), S. 593–607. Wenn hier von „intellektueller Geschichte“ gesprochen wird, lehnt sich das an den relativ weiten englischen Sprachgebrauch der „intellectual history“ an. Damit ist auch gesagt, dass Ideen im klassischen Sinne nur einen, wenn auch einen natürlich sehr wichtigen Teil des Untersuchungsgegenstandes einer solchen intellektuellen Geschichte ausmachen. Ulrich Mölk (Hg.): Europäische Kulturzeitschriften um 1900 als Medien transnationaler und transdisziplinärer Wahrnehmung. Bericht über das Zweite Kolloquium der Kommission „Europäische Jahrhundertwende – Literatur, Künste, Wissenschaften um 1900 in grenzüberschreitender Wahrnehmung“ (Göttingen, Oktober 2004). Göttingen 2006, z. B. Vorwort, S. 8f. Goethe und der amerikanische Militärpolizist
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am Anfang des 20. Jahrhunderts gilt, trifft erst recht für die großen Texte der kulturellen Überlieferung zu. In Kants „Kritik der reinen Vernunft“ von 1781 etwa findet sich der erste Verweis auf einen Autor, der in eine deutsche Tradition eingeordnet werden könnte (wenn auch nicht ohne Schwierigkeiten), auf Seite 16. Es ist Nikolaus Kopernikus. Bis dahin hat Kant längst zahlreiche antike Philosophen erwähnt, den in Pisa geborenen Galileo Galilei oder den Engländer Francis Bacon.3 Für die intellektuelle Geschichte der alten Bundesrepublik sind die transnationalen Züge gut beschrieben. Die Etablierung einer neuen politischen Kultur, von veränderten Werten, von einer neuen Gesellschaftsordnung und deren Ideen geschah im engen internationalen Austausch, der sich vor allem im (west)europäisch-atlantischen Raum vollzog und der häufig im Rahmen von „Amerikanisierung“ oder „Westernisierung“ gedeutet worden ist.4 Vor dem Hintergrund des eingangs angedeuteten Charakters von Ideengeschichte wird dabei die bloße Übernahme von Ideenbeständen und Normen (wie im Übrigen auch Fälle von nationaler Verengung) die Ausnahme sein. Im Normalfall wird man bei entsprechenden Prozessen von Amalgamierungen oder „Anverwandlungen“5 ausgehen, an deren Ende zwar jeweils spezifische Ausprägungen oder Diskussionszusammenhänge stehen mögen, bei denen sich aber die schlichte Alternative von national oder international längst in vielfältigen Verschränkungsprozessen aufgelöst hat.6 Über die Mechanismen, die dabei im Spiel sind, ist einiges gesagt worden. Im Falle der westdeutschen Ideengeschichte nach 1945 waren die veränderte außenpolitische Lage und natürlich der beginnende Kalte Krieg von Bedeutung. Hinzu kamen Institutionen – Zeitschriften, Gesprächsforen, intellektuelle Organisationen – sowie einzelne Personen, die die Funktion von Vermittlern übernahmen.7 Man kann diese Faktoren die institutionell-strukturellen Bedingungen von ideengeschichtlichem 3 4
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Vgl. die Vorrede zur 2. Auflage von 1787. Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft. 2. Aufl. 1787. Vorrede zur zweiten Auflage. Akademie Textausgabe Bd. III. Berlin 1968, S. 7–26. Eine kompakte Darstellung der verschiedenen Ebenen der „Hinwendung zum Westen“ bei: Konrad Jarausch: Die Umkehr. Deutsche Wandlungen 1945–1995. München 2004, S. 133–170. Als Überblick auch: Friedrich Kießling: Westernisierung, Internationalisierung, Bürgerlichkeit? Zu einigen jüngeren Arbeiten der Ideengeschichte der alten Bundesrepublik. In: Historische Zeitschrift 287 (2008), S. 363–389. Anselm Doering-Manteuffel: Wie westlich sind die Deutschen? Amerikanisierung und Westernisierung im 20. Jahrhundert. Göttingen 1999, z. B. S. 102. Diese Auflösung des Nationalen ist das eigentliche Anliegen der aus dem Kulturtransfer entwickelten „Histoire croisée“: Michael Werner/Bénédicte Zimmermann: Vergleich, Transfer, Verflechtung. Der Ansatz der Histoire croisée und die Herausforderung des Transnationalen. In: Geschichte und Gesellschaft 28 (2002), S. 607–636. Vgl. die kurze Zusammenstellung bei Michel Espagne: Jenseits der Komparatistik: Zur Methode der Erforschung von Kulturtransfers. In: Europäische Kulturzeitschriften um 1900, S. 13–32.
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Transfer nennen. Sie stellen Strukturen dar, innerhalb derer und durch die sich der Austausch vollzieht. Über eine andere Voraussetzung ist weniger gesagt worden. Die Frage des internationalen Ideentransfers, nach „national oder international“, war selbst Gegenstand der Texte, die in der Ideengeschichte wie der Intellektuellengeschichte untersucht werden. Und nicht nur das: Die Vorstellungen und Konzepte, mit denen die zeitgenössischen Autoren arbeiteten, können selbst grundlegende Annahmen über das Verhältnis der eigenen Kultur und intellektuellen Tradition zur Außenwelt enthalten. Darum soll es hier gehen, um die in den zeitgenössischen Texten zu Kultur und Gegenwartsanalyse selbst zum Ausdruck kommenden Haltungen und Einstellungen zu „national und international“, zu „innen und außen“. Solche intellektuellen Raumvorstellungen, wie man sie mit der aktuellen Forschung nennen kann,8 sind bisher für die Ideengeschichte kaum systematisch untersucht worden. Insofern verstehe ich meine Überlegungen auch als einen ersten, skizzenhaften Versuch, diese für die Geschichte Westdeutschlands nach 1945 zu erfassen und damit die existierenden Arbeiten zum Ideentransfer um einen wichtigen Aspekt zu ergänzen. Dabei sei vorneweg gleich auf eine zentrale Unterscheidung hingewiesen. Transfer in der intellektuellen Geschichte der alten Bundesrepublik passierte nicht einfach. Er wurde zeitgenössisch thematisiert, diskutiert und durch grundlegende – mal bewusste, mal unbewusste – Annahmen mit geprägt. Für die Interpretation der intellektuellen Geschichte Westdeutschlands nach 1945 hat das wichtige Konsequenzen. Zum einen entscheiden solche Raumvorstellungen sicherlich mit über die Aufnahmebereitschaft sowie die Art der Aneignungsprozesse. Zum anderen erfüllen sie zeitgenössisch aber auch eine „soziale“ Funktion. Jedes Verhalten gegenüber als „fremd“ wahrnehmbaren Ideen impliziert bereits eine zeitgenössisch deutbare Haltung, mit der man sich in der intellektuellen Debatte positioniert. Wenn dem aber so ist, dann ist es sinnvoll bei der Analyse die Unterscheidung zwischen impliziten und expliziten Bezügen zum Problem von „national und international“, „innen und außen“, im Auge zu behalten. Explizite Aussagen, die auf diese soziale Funktion gerichtet sind, können dann gegebenenfalls von Vorstellungen desselben Autors abweichen, die in einem literarischen oder wissenschaftlichen Kontext stehen. Das muss sich selbstverständlich nicht so verhalten. Meine Überlegungen werden am Ende dennoch nahe legen, dass genau das in der intellektuellen Geschichte der alten Bundesrepublik immer wieder geschehen ist. Sie verstehen sich insofern als ein Plädoyer dafür, nicht nur die Rolle der vorhandenen intellektuellen Raumvorstellungen als eine Voraussetzung von Aneignungsprozessen in den Blick zu nehmen, sondern auch dafür, die angesprochene Unterscheidung und mithin die soziale Dimension von Transfer bei der Analyse der 8
Für viele: Alexander Mejstrik: Raumvorstellungen in den Geschichts-, Sozial- und Kulturwissenschaften. Epistemologische Profile. In: C. T. Alexander Geppert (Hg.): Ortsgespräche. Raum und Kommunikation im 19. und 20. Jahrhundert. Bielefeld 2005, S. 53–77. Goethe und der amerikanische Militärpolizist
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westdeutschen ideengeschichtlichen Wandlungen zwischen „Liberalisierung“, „Amerikanisierung“ oder „Westernisierung“ stärker zu beachten. Bei der konkreten Analyse der Raumvorstellungen lasse ich mich von drei Grundannahmen leiten: Die Jahre und Jahrzehnte nach 1945 schließen erstens mit dem Nationalsozialismus an eine Epoche an, in der Internationalität auch für den intellektuellen Bereich diskreditiert worden war. Für die Neuausrichtung der intellektuellen Raumvorstellungen nach 1945 bedeutete das eine wichtige historische Voraussetzung. Vorstellungen zu „innen und außen“, „national und international“, sind zweitens eng mit der Frage nach der vergangenen und zukünftigen Rolle der eigenen kulturellen Tradition verknüpft. Insofern sind die Raumkonzepte häufig mit Aussagen zum nach dem Zweiten Weltkrieg so häufig verhandelten Verhältnis von „alt und neu“ verbunden. Drittens ist aber auch klar, dass es – jenseits der NS-Ideologie – entsprechende intellektuelle Raumvorstellungen nicht erst seit 1945 gab. Vielmehr lag ein Set von Vorstellungen bereit, an die angeknüpft werden konnte, die zu modifizieren waren oder von denen es sich zu lösen galt. Mit diesem Aspekt soll begonnen werden.
Goethe und der amerikanische MP: Grundlegende intellektuelle Raumvorstellungen im 19. und frühen 20. Jahrhundert „Bis die Ampel uns den Straßenübergang erlaubte, sahen wir dem amerikanischen Mi litärpolizisten zu, wie er den Verkehr regelte. Ein langer Bursche, die Trillerpfeife im Mund, schwingt die Arme und treibt mit seinen Fingern die Mammutfahrzeuge zur Eile an. Er ist ganz und gar in Bewegung, springt vor und zurück, winkt ungeduldig herbei und weist mit dem Daumen über die Achsel. Wie locker und lässig sind diese Gebärden bei allem ungeheuren Eifer! Nichts von der steifen Würde, wie wir sie früher an unseren weißgekleideten Verkehrsschutzleuten bemerken konnten. Nichts von jenem automatenhaften Klipp-Klapp, mit dem sie ihren Tribut an das Gesetz der Technik zu entrichten schienen, und das doch nur eine andere Form des ‚Griffe-Klopfens‘ war. […] Auf die Gebärde kommt es an. Dies hier ist die amerikanische Gebärde, frei und bequem noch bei schärfster Aufmerksamkeit. ,Bequem‘ war übrigens ein Lieblingswort des rei fen Goethe und bedeutet ihm das physische Einverständnis mit sich selbst, das Gegenteil von allem Krampf, der ja aus der Selbstentzweiung stammt, das Gegenteil auch von ‚strammer Haltung‘. Man kann es von Goethe lernen, man kann es aber auch von diesen amerikanischen Polizisten lernen.“9
Dolf Sternberger hat die Schilderung seiner Begegnung mit einem amerikanischen Militärpolizisten im zerstörten Frankfurt am Main, die 1945 im ersten Heft der von 9
Dolf Sternberger: Tagebuch. In: Wandlung 1 (1945/46), S. 12.
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ihm mit begründeten Zeitschrift „Die Wandlung“ erschien, sorgfältig gestaltet. Das Thema ist zunächst der Umgang mit der modernen Technik und die mögliche Veränderung des Menschen durch diese. Vorderhand scheint es dabei um „Lernen von Amerika“ zu gehen. Doch dann bringt Sternberger mit dem Verweis auf Goethe die eigene kulturelle Überlieferung ins Spiel. Was schließlich zur Sprache kommt, und darauf kommt es an dieser Stelle an, ist das Verhältnis der eigenen intellektuellen Tradition zu einer vermeintlich fremden Welt, hier die auf den ersten Blick ganz anders geartete Haltung des amerikanischen Militärpolizisten. Man darf davon ausgehen, dass einem Autor wie Dolf Sternberger, literarisch ambitioniert und mit großer journalistischer Erfahrung ausgestattet,10 der Vergleich nicht einfach passiert ist. Sternberger rückt den Militärpolizisten bewusst in die Nähe zu Goethe. Er verhält sich mit seinem Text damit bereits zum Problem von „innen und außen“. Es ist wohl ebenfalls nicht überinterpretiert, wenn man davon ausgeht, dass dies nicht zufällig am Beispiel von Goethe geschieht. Sternberger bringt vielmehr das Herzstück der von vielen als bewahrenswert begriffenen eigenen kulturellen Überlieferung mit einem der Symbole für die Konfrontation mit dem Neuen und Fremden in Verbindung.11 Die an der Sprechakttheorie orientierte Ideengeschichte würde darin ein Musterbeispiel für eine durch den Text vollzogene und im zeitgenössischen Kontext zu entschlüsselnde „Handlung“ sehen.12 Im Falle der Situation von 1945 und der damaligen intellektuellen Debatte ist es überdies eine Provokation: An keinem anderen Thema (wie an „Goethe“) ist nach 1945 so heftig über die Frage von notwendiger Bewahrung oder zwangsläufiger Aufgabe der deutschen kulturellen Tradition gestritten worden. Sternberger macht die in diesen Debatten enthaltene Frage nach dem Verhältnis von nationaler Überlieferung und internationalem Anschluss aber auch explizit. Und sein Ergebnis ist eine weitere Provokation. Er setzt beides gleich: „Man kann es von Goethe lernen, man kann es aber auch von diesen amerikanischen Polizisten lernen.“ Die Position, die Sternberger damit im Umfeld der intellektuellen Debatten der Nachkriegsjahre bezieht, möchte ich als ein bestimmtes grundlegendes Konzept zum Problem von „innen und außen“ beschreiben, in dem gleichzeitig auch die Verbindung zur Frage nach der Rolle der eigenen Traditionen im Verhältnis zu anderen berührt wird. Grundlegend ist es, weil es dabei nicht um konkrete Raumvorstellungen geht, mit denen man sich etwa ein Bild von Frankreich, Großbritannien oder den 10 Eine wissenschaftliche Biographie von Sternberger liegt nicht vor. Biographische Informationen z. B. bei: Claudia Kinkela: Die Rehabilitierung des Bürgerlichen im Werk Dolf Sternbergers. Würzburg 2001. 11 Der amerikanische Soldat als „Topos“ des Fremden und Neuen: Doering-Manteuffel: Wie westlich sind die Deutschen?, S. 37f. 12 Siehe z. B. Quentin Skinner: The Foundations of Modern Political Thought. Vol. 1. The Renaissance. Cambridge u. a. 1978, S. XIV. Goethe und der amerikanische Militärpolizist
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USA machte, sondern in denen allgemeine Haltungen zur Außenwelt zur Sprache kamen. In der Frage, ob Goethe mit einem amerikanischen MP verglichen werden kann, liegt die nach dem grundsätzlichen Verhältnis der eigenen Überlieferung zu der der Außenwelt. Insofern sie Aufnahmebereitschaft begründen oder signalisieren, können solche Vorstellungen und Konzepte auch zu einer Grundlage von Transfer werden. Sternbergers Text signalisiert im zeitgenössischen Kontext zumindest Offenheit gegenüber als „fremd“ wahrnehmbaren Werten und Verhaltensweisen. Blickt man auf das 19. und frühe 20. Jahrhundert bis 1933/45 insgesamt, seien versuchsweise drei solcher grundlegenden Konzepte zu „innen und außen“ in der intellektuellen Geschichte Deutschlands hervorgehoben.13 Während im 18. Jahrhundert in literarischen, wissenschaftlichen bzw. philosophischen Schriften im deutschsprachigen Raum immer wieder ein Inferioritätsgefühl zu spüren ist, entwickelten deutsche Intellektuelle im 19. Jahrhundert erstens ein zunehmend robustes kulturelles Selbstbewusstsein. Insbesondere in den Feldern von Philosophie, Kultur- und Gesellschaftswissenschaften sowie den Naturwissenschaften schien Deutschland den Vergleich mit keiner anderen Nation scheuen zu müssen. Selbst im Bereich der Literatur verschwand das Unterlegenheitsgefühl mit Blick auf die Autoren der „Goethezeit“ weitgehend. Dieses kulturelle Selbstbewusstsein überlebte den Ersten Weltkrieg und blieb so auch während der Zwischenkriegszeit intakt. Nachlesen lässt sich dieses Selbstbewusstsein (und die wahrgenommene Entwicklung seit dem 18. Jahrhundert) zum Beispiel in Rankes berühmtem Essay „Die großen Mächte“ aus dem Jahr 1833. Das „deutsche[n] Vaterland[es]“ habe, so heißt es da zum Aufstieg Preußens unter Friedrich II., bis dahin noch „keine Literatur, keine Kunst und eigene Bildung gehabt“, die es „dem Übergewichte der Nachbarn hätte entgegensetzen können“.14 Was dann Ranke schildert, ist nicht nur die politische, sondern eben auch die kulturelle Emanzipation. Der „deutsche Geist“ erhob sich und entwickelte eine eigenständige, wie Ranke immer wieder hervorhebt, „nationale“ Philosophie, Literatur, „Kritik und Altertumskunde“. Erst dadurch habe die durch Preußens Aufstieg begonnene Entwicklung ihre „volle Bedeutung“ gewonnen, und Deutschland als gleichberechtigte „große Macht“ etabliert.15 Es ist hier nicht der Ort die Varianten und Brüche dieses Selbstbewusstseins im Detail nachzuzeichnen. Neben der Literatur der Goethezeit gehörten der deutsche Ide13 Eine Einführung in entsprechende Basiskonzepte in einem anderen Bereich, nämlich dem der Geographie, bietet Hans-Dietrich Schultz: Raumkonstrukte der klassischen deutschsprachigen Geographie des 19./20. Jahrhunderts im Kontext ihrer Zeit. Ein Überblick. In: Geschichte und Gesellschaft (2002), S. 343–377. 14 Leopold von Ranke: Die großen Mächte. In: ders.: Die großen Mächte. Politisches Gespräch. Hgg., kommentiert u. mit einem Nachwort versehen von Ulrich Muhlack. Frankfurt am Main/Leipzig 1995, S. 36f. 15 Ebd., S. 45–48, Zitate S. 46f.
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alismus, bestimmte Aspekte der mittelalterlichen Geschichte, die „deutsche Musik“ oder eine spezifische Vorstellung von „Kultur und Bildung“ selbst zu den Kernelementen dieser Sicht auf die eigene kulturelle Überlieferung.16 Zu den Brüchen zählen die Verfallsdiagnosen, die seit dem späten 19. Jahrhundert immer wieder gestellt wurden und die, gemessen an den Auflagezahlen, Julius Langbehn in seiner Schrift „Rembrandt als Erzieher“ besonders wirkungsvoll beschwor.17 Doch grundsätzlich ist das kulturelle Selbstbewusstsein durch das gesamte 19. Jahrhundert und die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts hindurch zu verfolgen. Es wurde direkt nach der Niederlage von 1918 als eine der Hoffnungen auf einen nationalen Wiederaufstieg aufgerufen, ist aber auch in systematischen Werken der Zwischenkriegszeit, wie in Friedrich Meineckes „Die Entstehung des Historismus“, präsent.18 Und so besteht das entscheidende Argument für unseren Zusammenhang darin, dass entsprechende Vorstellungen zu den Ausgangspunkten gehören konnten, mit denen sich Intellektuelle auch 1945 daran machten, den eigenen Ort zu bestimmen. Ein zweites Konzept gehört zur intellektuellen Ausstattung, und das ist das einer besonderen Aufnahmefähigkeit der Deutschen bzw. einer intellektuellen Position des „Dazwischen“. Wie bereits beim ersten Bereich sind auch hier Bezüge zu außenpolitischen Vorstellungen zu erkennen. In diesem Fall ist es die deutsche „Mittellage“, wie sie wiederholt etwa von Otto Hintze formuliert worden ist.19 Danach bestehe Deutschlands spezifische geografische Lage darin, dem „Druck“ besonders vieler Nachbarländer ausgesetzt zu sein – mit entsprechenden Auswirkungen auf die Außenpolitik sowie die innere Verfasstheit des Staates. Die intellektuelle Version schließt daraus zum einen, dass Deutschland seit jeher besonders stark fremden Einflüssen ausgesetzt 16 Im ersten Band der „Deutschen Erinnerungsorte“ sind unter der Überschrift „Dichter und Denker“ folgende Einträge versammelt: „Das Nibelungenlied“, „Deutscher Idealismus“, „Goethe“, „Weimar“, „Theodor Fontane“, „Die Familie Mann“, sowie der auch die Außensicht umgreifende Beitrag: „,De l’Allemagne‘“. Etienne François/Hagen Schulze (Hg.): Deutsche Erinnerungsorte Bd. 1. München 42002. Das Standardwerk zum Konzept der „Kultur“ in der deutschen intellektuellen Geschichte ist: Georg Bollenbeck: Bildung und Kultur. Glanz und Elend eines deutschen Deutungsmusters. Frankfurt am Main/Leipzig 1994. 17 Das Buch erlebte in den ersten beiden Jahren nach seinem Erscheinen 1890 fast 40 Auflagen. Von der Kritik wurde es allerdings sehr gemischt aufgenommen und manchmal wurde es selbst zum Symptom des Verfalls erklärt. Vgl. Johannes Heinßen: Historismus und Kulturkritik. Studien zur deutschen Geschichtskultur im späten 19. Jahrhundert. Göttingen 2003, S. 456–463. 18 Vgl. z. B. Heinrich Haller: Von Tod und Auferstehung der deutschen Nation. In: ders.: Reden und Aufsätze zur Geschichte und Politik. Stuttgart/Berlin 1934, S. 328–343 und die „beigegebene“ Ranke-Gedächtnisrede von Meinecke aus dem Jahr 1936 in: Friedrich Meinecke: Die Entstehung des Historismus. München ²1946, S. 614–631. 19 Z.B. in: Otto Hintze: Das monarchische Prinzip und die konstitutionelle Verfassung. In: Preußische Jahrbücher 144 (1911), S. 381–412. Goethe und der amerikanische Militärpolizist
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ist, und zum anderen auf eine besondere Fähigkeit der Deutschen, diese Einflüsse zu übernehmen und weiterzuverarbeiten. Auch hier gibt es zahlreiche Varianten. Entsprechende Vorstellungen finden sich um 1800 zum Beispiel bei Friedrich Hölderlin und Georg Wilhelm Friedrich Hegel. Hegel etwa spricht den germanischen Völkern in seinen „Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte“ insgesamt eine höhere Prägefähigkeit als den romanischen Völkern zu, die stärker auf einen „festen Zweck“ festgelegt seien.20 In Hölderlins Lyrik wird Deutschland mehrmals mit der Mitte Europas assoziiert, die gibt bzw. der genommen wird.21 Aufnahme- wie Vermittlungsfähigkeit der Deutschen sind im Zusammenhang mit der besonderen Rolle der Deutschen bei der Verbindung von Antike und Moderne ein Motiv, das zum Beispiel in Hölderlins „Rheinhymne“ im Richtungswechsel des Rheins – zuerst nach Ost, dann nach Nord – ein Bild erhält.22 Im späteren 19. Jahrhundert findet sich die Vorstellung – nun ganz deutlich mit der politischen „Mittellage“-Idee verbunden – in den Texten der politischen Geographie. „An geistiger Aufnahmefähigkeit übertrifft kein Volk das unsre“, es sei fast noch mehr das „Volk der Übersetzer als das Volk der Denker und Dichter“, schrieb Friedrich Ratzel in seiner populären „Einführung in die Heimatkunde“, die 1898 zuerst erschien und bis 1943 insgesamt acht Mal aufgelegt wurde.23 Die zunächst geografische Mittellage ist so nicht nur historisch und politisch relevant, sondern erhält explizit auch für die intellektuell-kulturelle Entwicklung Bedeutung. „Auch im geistigen Wechselverkehr der Völker“, führt Ratzel nach allgemeinen Bemerkungen über die Wirkung der „Lage“ aus, „ist Deutschland ein geistiger Markt, wo Nord und Süd, Ost und West ihre Ideen tauschen, wohin Anregungen zusammenfließen und von wo Impulse ausströmen.“ Der „Gedanke der Weltliteratur und die Würdigung der Völkerstimmen“ sei deswegen von hier ausgegangen, fügt Ratzel hinzu24 – und benutzt damit ein weiteres, häufiger zu findendes Element innerhalb dieser Vorstellungen einer „geistigen Mittellage“. Eine deutlich aggressivere Version davon, die allerdings auch immer wieder mit sehr spezifischen Europa-Vorstellungen durchsetzt ist, findet sich dann in Thomas Manns 20 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte. Georg Wilhelm Friedrich Hegel Werke Bd. 12. Frankfurt am Main 1986, S. 423f. u. 500f. Zitat S. 501. 21 Friedrich Hölderlin: „Gesang der Deutschen“ und „Germanien“, in: ders.: Sämtliche Werke und Briefe. Hgg. v. Günter Mieth. Bd. 1. München 51989, S. 247–249 u. S. 361–364. 22 „Der Rhein“, in: ebd. S. 354–361. Hölderlin und „Mittellage“ z. B.: Rainer Schmidt: Die Wiedergeburt der Mitte Europas. Politisches Denken jenseits von Ost und West. Berlin 2001, S. 45f. 23 Friedrich Ratzel: Deutschland. Einführung in die Heimatkunde. Leipzig 1898. Hier zitiert nach der Auflage Berlin/Leipzig 41920, S. 209. 24 Ebd., S. 12f.
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„Betrachtungen eines Unpolitischen“ aus dem Jahr 1918. Die Ähnlichkeiten mit Ratzel sind durchaus eindrucksvoll und machen deutlich, wie stark entsprechende Ideen zum intellektuellen Gemeingut der Zeit gehörten. Aus dem „Markt“ der Ideen von Ratzel ist bei Mann in seinen im Ersten Weltkrieg verfassten „Betrachtungen“ allerdings ein „[S]eelischer Kampfplatz“, ein „geistig[es] […] Schlachtfeld Europas“ geworden. „In Deutschlands Seele“, so Mann, „werden die geistigen Gegensätze Europas ausgetragen“.25 Ähnlich wie bei Ratzel begründet das ein spezifisches Kosmopolitentum der Deutschen als „Mensch der geographischen, sozialen und seelischen ‚Mitte‘“.26 In Manns Figur des „Zivilisationsliteraten“, der die „Zivilisation“ Frankreichs übernimmt, scheint wiederum die vermeintliche Fähigkeit der Deutschen auf, sich andere Kulturen, in diesem Fall sogar vollständig, anzueignen. Die darin liegende Verleugnung der eigenen Nation ist aber nur eine scheinbare, denn die Fähigkeit dazu wird bei Mann ja gerade zu einer deutschen Charaktereigenschaft erklärt.27 Das dritte Konzept muss nur ganz kurz angesprochen werden. Es ist das eines eigenen deutschen Weges in die Moderne, der sich fundamental von dem britischen, französischen oder amerikanischen unterscheidet, und dem besondere Qualitäten zugeschrieben werden. Das notorische Beispiel sind die mit Thomas Manns „Betrachtungen“ schon berührten „Ideen von 1914“, in denen viele Intellektuelle in dem Versuch zusammenfanden, die Besonderheiten der deutschen Kultur zu bestimmen. Indem sie das taten, formten sie einen spezifisch deutschen intellektuellen Weg von der „Goethezeit“ an, der sich in Konkurrenz insbesondere zu den Ideen der französischen Revolution entwickelt habe und der – ebenso wichtig – ein alternatives Model gebildet habe, grundsätzlich für den Rest der Welt, zumindest aber für die Kleinund Mittelstaaten des übrigen Europa. Die Bestimmung der „deutschen Freiheit“, die Unterscheidung von „Kultur“ und „Zivilisation“, die Ablehnung der westlichen Demokratie – beides auch in Thomas Manns „Betrachtungen einen Unpolitischen“ wortreich begründete Positionen – oder die Differenz von Gemeinschaft und Gesellschaft, deutscher Innerlichkeit und westlicher Äußerlichkeit, gehören zu den wichtigen Elementen.28 Die „Ideen von 1914“ sind aber keineswegs ein Produkt lediglich der Konfrontation des Ersten Weltkriegs, sie haben eine Vor- wie eine Nachgeschichte. Unter den 25 Thomas Mann: Betrachtungen eines Unpolitischen. In: ders.: Stockholmer Gesamtausgabe, Frankfurt am Main 1956, S. 46. 26 Ebd., S. 23. 27 „Zivilisationsliterat“: ebd., u. a. S. 45ff. 28 Aus der umfangreichen Literatur: Steffen Bruendel: Volksgemeinschaft oder Volksstaat. Die „Ideen von 1914“ und die Neuordnung Deutschlands im Ersten Weltkrieg. Berlin 2003; Kurt Flasch: Die geistige Mobilmachung. Die deutschen Intellektuellen und der Erste Weltkrieg. Berlin 2000; Jeffrey Verhey: Der „Geist von 1914“ und die Erfindung der Volksgemeinschaft. Hamburg 2000. Goethe und der amerikanische Militärpolizist
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bisher zitierten Autoren spielen „Gemüt“ und „Innerlichkeit“ selbst bei den, natürlich primär im Kontext seines philosophischen Systems zu deutenden, Beschreibungen der „germanischen“ Nationen durch Friedrich Hegel eine Rolle.29 Für Fortsetzungen in der Zwischenkriegszeit wären die Texte der „konservativen Revolution“ zu nennen, zentrale Begriffe wie „Gemeinschaft“ und „deutsche Freiheit“ blieben aber auch darüber hinaus in Politik wie Publizistik präsent.30 Vor allem aber lässt sich in vielen intellektuellen Bestandsaufnahmen der Zwischenkriegszeit weiter jene Vorstellung einer substanzhaften Verbindung zwischen Nation, Volk, Geist und Macht erkennen, die den „Ideen von 1914“ zugrunde lag, die aber ebenso in den anderen skizzierten Vorstellungen zu finden ist. Insofern ist hier ein übergreifendes Konzept zu erkennen, das auch für Leopold Ranke in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts oder für Johannes Haller und Friedrich Meinecke in der Zwischenkriegszeit beschrieben werden kann. Nationen besitzen demnach einen geistigen Kern, und dieser muss, soll die Gegenwart gelingen, freigelegt und mit dem politischen und gesellschaftlichen Leben in Übereinstimmung gebracht werden. Wichtig daran ist zum einen, dass dieser Kern als ein jeweils eigener, ein (bei allem zugestandenen europäischen Kontext) letztlich autonomer Raum verstanden wird, und zum anderen, dass gerade in Krisenzeiten für die notwendige Erneuerung eben auf diesen eigenen intellektuellen Raum zurückgegriffen werden muss.31 Ein zentrales Beispiel für diese Idee eines „autonomen Kulturraums“ aus der Zwischenkriegszeit ist Hugo von Hofmannsthals Vortrag „Das Schrifttum als geistiger Raum der Nation“ von 1927. Die Nation wird von Hofmannsthal darin als ein je eigener geistiger Zusammenhang begriffen. Der Raum der Nation ist durch den geistigen Raum bestimmt, der alle anderen Lebensbereiche, Politik, Alltag und Gesellschaft, prägt. Besichtigt werden kann dieser Zusammenhang laut Hofmannsthal seit Jahrhunderten in Frankreich. In Deutschland ist er bisher nur ein Versprechen. Vor allem in der zerrissenen Gegenwart sind es nur Einzelne, die den „Fahnenwagen ihrer Na29 Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, z. B. S. 423f. Zur Vorgeschichte der „Ideen vor 1914“: Barbara Beßlich: Wege in den Kulturkrieg. Zivilisationskritik in Deutschland 1890–1914. Darmstadt 2000. 30 Zur Nachgeschichte vor allem der „Gemeinschafts“-Vorstellungen in den verschiedenen Lagern der Weimarer Republik, Verhey: Der „Geist von 1914“, S. 335–384. Allgemein zur Kontinuität konservativ-rechter Ideengebäude vom Kaiserreich bis Weimar: Stefan Breuer: Ordnungen der Ungleichheit – die deutsche Rechte im Widerstreit ihrer Ideen. 1871–1945. Darmstadt 2001. 31 Dabei mag im deutschen Fall auch die spezifische Idee der Kulturnation eine Rolle spielen, in der viele Intellektuelle seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert die „ideelle Grundlage für die Begründung eines deutschen Nationalstaats“ sahen. Wolfgang J. Mommsen: Kultur als In strument der Legitimierung bürgerlicher Hegemonie im Nationalstaat. In: ders.: Bürgerliche Kultur und politische Ordnung. Künstler, Schriftsteller und Intellektuelle in der deutschen Geschichte 1830–1933. Frankfurt am Main 2000, S. 59–75, hier S. 59. (Zuerst 1998)
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tion in ihrer Mitte führen“, die den „Geist der Nation“ bewahren und aus der Vergangenheit in die Zukunft tragen. Dort, so das Versprechen, kann er dann irgendwann zur Wirkung kommen. Das Ziel ist, so Hofmannsthal am Ende seines Vortrags, eine auf diesem Geist beruhende „neue deutsche Wirklichkeit“, an der „die ganze Nation teilnehmen könne.“32 Die Therapie, die Hofmannsthal in seinem Vortrag von 1927 für Krisenzeiten vorschlug, bestand, so lässt sich zusammenfassen, in der geistigen Reinigung und im damit verbundenen Rückgriff auf die der eigenen Nation substantiell zugeschriebene kulturelle Überlieferung. Hofmannsthals Vortrag ist ideengeschichtlich sehr wichtig. Nicht nur fällt dort das Wort von der „konservativen Revolution“, auch in der Besinnungsliteratur nach dem Zweiten Weltkrieg ist gerade Hofmannsthals publizistisches Werk der Zwischenkriegszeit ein häufiger Bezugspunkt.33 Man wird die bei ihm noch einmal angeklungenen, grundlegenden intellektuellen Raumvorstellungen also auch für die ersten Jahre nach 1945 im Kopf behalten müssen.
Wiederaufnahme und Veränderungen nach 1945 Der Verlust des „autonomen Kulturraums“
Es gibt in der Ideengeschichte das Konzept des „moment“. Gemeint sind herausgehobene historische Konstellationen bzw. Situationen, in denen gewohnte Vorstellungswelten in Bewegung geraten. Am einfachsten gesagt, stellen sie einen Anschub für Überprüfungen dar, aus denen sich dann Veränderungen ergeben können.34 In der deutschen Ideengeschichte war 1945 zweifellos ein solcher Moment. Das Ende von Krieg und Nationalsozialismus bildete Anlass, Bilanz zu ziehen, alte Wege zu überprüfen oder neue auszuprobieren. Zu den Vorstellungen, die auf den Prüfstand kamen, gehörten angesichts der Niederlage, teilweise wegen der nun offensichtlich werdenden Verbrechen des Dritten Reichs, vor allem aber auch aufgrund des Endes der bisherigen staatlichen Organisation Deutschlands auch die grundlegenden Vorstellungen von „innen und außen“. Ähnlich wie 1918/19 standen 1945 gewohnte
32 Hugo von Hofmannsthal: Das Schrifttum als geistiger Raum der Nation. In: ders.: Gesammelte Werke in Einzelausgaben. Prosa IV. Frankfurt am Main 1955, S. 390–413, hier S. 390, 400 u. 413. 33 Mit positivem Bezug zur Münchner Rede von 1927: Joachim Moras: Hofmannsthals frühe Prosa. In: Merkur 5 (1951), S. 993–995, hier S. 995. Kritisch: Hermann Broch: Hugo von Hofmannsthals Prosaschriften. In: Neue Rundschau 62 (1951), S. 1–30. 34 Jacques Juillard/Michel Winock (Hg.): Dictionnaire des intellectuels français. Les personnes, les lieux, les moments. Paris 1996, z. B. S. 15f. und 21f. Goethe und der amerikanische Militärpolizist
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„Raumbilder“ und „Raumhierarchien“ in Frage.35 Kulturelles Selbstbewusstsein, „geistige“ Mittellage-Konzepte, der positive Sonderweg, die Liste der hierbei zur Verfügung stehenden und nun zu überprüfenden Basiskonzepte ließe sich verlängern und differenzieren.36 Entscheidend ist, dass diese und andere zu den 1945 zunächst vorfindlichen Möglichkeiten zählten, die eigene Tradition mit der Außenwelt in Beziehung zu setzen. Und das geschah auch: Der erste Befund ist, dass sich eine ganze Reihe der beschriebenen Elemente auch nach 1945 wieder finden lassen. Es zeigten sich aber auch ziemlich schnell gewichtige Veränderungen. Zu den Autoren, bei denen sich die beschriebenen Vorstellungen auch nach 1945 finden lassen, gehört zum Beispiel Leopold Ziegler. Der in den ersten Jahren nach 1945 sehr prominente, dann aber schnell in Vergessenheit geratene Kulturphilosoph, schlug etwa 1947 in einem Zeitschriftenbeitrag vor, dass Deutschland sich als Mittler zwischen Ost und West in einer letzten heroischen Tat für die Vereinigung Europas aufopfern solle (was auch immer das meinte).37 Die darin jedenfalls anklingende Mittellage-Konzeption beschwor in ihrer geistigen Variante noch zehn Jahre später der erste Bundespräsident Theodor Heuss. In einem an verschiedenen Orten publizierten Artikel beschrieb er eine besondere Rezeptionsfähigkeit als hervorstechende Eigenschaft seiner Landsleute. Die Deutschen seien nie „weltfremd“ gewesen. Vielmehr sah er eine spezielle deutsche „Konsumkraft“ in intellektuellen Fragen. Diese Fähigkeit zeige, so Heuss, die besondere „Weltneugier“ und das „Anreicherungsbedürfnis“ der Deutschen. Nirgendwo auf der Welt, so Heuss fast 60 Jahre nach Friedrich Ratzel, würden mehr Übersetzungen aus fremden Sprachen als in Deutschland publiziert.38 Groß war innerhalb der nach 1945 entstandenen Besinnungsliteratur bekanntlich auch die Zahl derjenigen, die bei der Erneuerung auf die große deutsche kulturelle Überlieferung setzten, an die nun wieder angeknüpft werden müsse. Die in zahllosen Texten erhobene Forderung, dass die Erneuerung nur aus dem „Geistigen“ kommen 35 Um Missverständnissen vorzubeugen, sei gesagt, dass dies nicht bedeutet, die Zäsur auf das Jahr 1945 festzulegen oder Kontinuitäten darüber hinweg zu übersehen. Zur Verwirrung der Raumbilder nach 1918 z. B.: Dirk van Laak: Afrika vor den Toren. Deutsche Raum- und Ordnungsvorstellungen nach der erzwungenen „Dekolonisation“. In: Wolfgang Hardtwig (Hg.): Ordnungen in der Krise. Zur politischen Kulturgeschichte Deutschlands 1900–1933. München 2007, S. 95–112. Im Vergleich mit den Jahren nach 1945 würde ich für die erste Nachkriegszeit am Ende dennoch die Stabilität der Raumvorstellungen betonen. 36 Wichtig, aber da kommt man schnell in den Bereich der inhaltlichen Fremd- und Eigenwahrnehmungen, wäre zum Beispiel die Ausdifferenzierung der verschiedenen Vorstellungen eines einheitlichen europäischen Kulturraums. Allgemein zu den Europakonzeptionen vor und nach 1945: Vanessa Conze: Das Europa der Deutschen. Ideen von Europa in Deutschland zwischen Reichstradierung und Westorientierung (1920–1970). München 2005. 37 Leopold Ziegler: Imperium Europaeum? In: Merkur 2 (1948), S. 115–120. 38 Theodor Heuss: Deutscher Geist und deutsche Geschichte. In: Merkur 11 (1957), S. 505– 519, Zitate S. 515f. Zuerst: Atlantic Monthly 192 (1957), Märzausgabe.
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könne, meinte in vielen Fällen eben nicht die Öffnung gegenüber anderen Denktraditionen, sondern beruhte zuallererst auf einer selbstbewussten Wahrnehmung der eigenen Kultur, die vom Nationalsozialismus „verraten“ worden war und an die nun (wieder) angeknüpft werden sollte. Die beschriebene Tradition eines nationalen geistigen Raums wirkte bei diesen Rufen nach geistiger „Reinigung“ und „Besinnung“ nach.39 Dabei fehlte auch nicht der explizite Hinweis auf die bedeutende Rolle, die Deutschland kulturell in der Vergangenheit gespielt habe. Sobald das Kulturleben von den „Schlacken des nationalsozialistischen Ungeistes“ gereinigt sei, schrieb zum Beispiel der Berliner Juraprofessor Hans Peters in einem der vielen Besinnungsbücher, „können wir wieder mit Stolz auf frühere Leistungen deutschen Geistes hinweisen, die im In- und Ausland als fruchtbringend für die ganze Menschheit anerkannt“ sei. Gerade Deutschland habe der „Welt und sich am meisten gegeben, als es seine kulturellen Höchstleistungen vollbrachte.“40 Solche Fortsetzungen waren vor allem in der Publizistik der ersten Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg weit verbreitet. Abgesehen von Kontinuitäten sind aber auch Änderungen bei den skizzierten Basiskonzepten offensichtlich: Zum einen gab es sehr wohl Autoren, bei denen der Verlust des kulturellen Selbstbewusstseins auszumachen ist, zum anderen lässt sich das beginnende „re-reading“ des Sonderwegkonzeptes ausmachen. Beides kann ebenfalls unmittelbar nach 1945 beobachtet werden und dann durchgängig durch die 50er und 60er Jahre, und beides führte letztendlich zur Schwächung der Vorstellung eines autonomen Kulturraumes. Wieder sind Verbindungen zu allgemeinen Raumvorstellungen bzw. Elementen des außenpolitischen Denkens zu erkennen: Die Geschwindigkeit, mit der westdeutsche Eliten Vorstellungen von nationaler Macht und Herrschaft aufgaben, ist sicher eines der stärksten Beispiele dafür, wie tief die Zeitgenossen den Bruch von 1945 wahrnahmen. Direkt nach Kriegsende fand dies in der Debatte über Deutschland als neuem „Objekt“ der Weltpolitik seinen Ausdruck. Bis dahin hatte man sich selbstverständlich als „Subjekt“ gesehen. Daran hatten auch die Niederlage im Ersten Weltkrieg sowie der als demütigend wahrgenommene 39 Das gilt auch für Intellektuelle, die ansonsten nicht an Kritik ihrer eigenen „Kollegen“ sparten, und ihnen vorwarfen, in der Mehrzahl den Nationalsozialisten auf dem falschen Weg gefolgt zu sein. Vgl. z. B. Johannes Hessen: Der geistige Wiederaufbau Deutschlands. Reden über die Erneuerung des deutschen Geisteslebens. Stuttgart 1946, z. B. S. 24ff. „Klarheit“ und „Reinigung“, Anknüpfen an eine „wahre“ Tradition waren zum Beispiel im Erneuerungsprogramm des „Merkur“ häufig verwendete Vorstellungen. Z.B. Hans Paeschke: Die Verantwortlichkeit des Geistes. In: Merkur 1 (1947), S. 100–110; An unsere Leser. In: Merkur 2 (1948), S. 481–484 oder Ernst Robert Curtius: Goethe als Kritiker. In: Merkur 2 (1948), S. 333–355. 40 Hans Peters: Zwischen Gestern und Morgen. Betrachtungen zur heutigen Kulturlage. Berlin 1946, Zitate S. 16 bzw. 15. Hervorhebung im Original. Goethe und der amerikanische Militärpolizist
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Versailler Vertrag nichts ändern können. Im Gegensatz zu damals wurde die neue Rolle als Objekt nun aber schnell und weithin akzeptiert.41 Im intellektuellen Feld gingen solche Vorstellungen mit der Erschütterung des kulturellen Selbstbewusstseins einher. Das Bild von einer mehr oder weniger kontinuierlichen kulturellen Tradition, auf die man zurecht Stolz sein könne, kam bei zahlreichen Intellektuellen ins Wanken. Wichtig ist hierbei, dass nicht nur linke oder linksliberale, sondern ebenso konservative bzw. liberalkonservative Autoren das Bild einer kontinuierlichen und heroischen kulturellen Vergangenheit, das seit dem späten 19. Jahrhundert so häufig gezeichnet worden war, nun ernsthaft in Frage stellten. Unabhängig von den Folgerungen, die sie letztendlich daraus zogen, problematisierten nun auch Intellektuelle wie Ludwig Dehio oder Gerhard Ritter die eigene Überlieferung bzw. die eigene Geschichte.42 Die dabei zu Tage tretende Emphase zeigt, wie schmerzlich entsprechende Einsichten waren. Der Verlust der kulturellen Selbstgewissheit schwächte gleichzeitig die Hoffnung, dass das Heil der Nation mit Hilfe der kulturellen Rückbesinnung zu finden war, eine Hoffnung, die, wie gesehen, in vielen anderen Bestandsaufnahmen der ersten Nachkriegsjahre durchaus enthalten war. In dieser Hinsicht sprechend ist der mit Beiträgen prominenter Autoren bestückte Sammelband „Deutscher Geist zwischen Gestern und Morgen“ aus dem Jahr 1954, der die Bilanz der ersten Aufbaujahre zu ziehen versuchte.43 Kaum einer der ganz überwiegend den konservativen Intellektuellen zuzurechnenden Beiträger verwies auf die kulturelle Tradition als Richtschnur für die Zukunft. Mitherausgeber Joachim Moras rief in seinem Nachwort nichts weniger als das Ende der nationalen Identitäten aus. Vom „nationalen Bewusstsein[s]“ sei, so Moras, ein „echter Mutationssprung“ in weltweite Zusammenhänge verlangt. Sein Herausgeberkollege Hans Paeschke sprach von einem umfassenden „Bruch in der Zeit“ – und nahm das im Unterschied zu früheren Beiträgen nun nicht mehr zu41 Die beste Beschreibung dieser Entwicklung direkt nach 1945, auch im Vergleich zur Situation nach 1918/19, bietet: Jost Dülffer: Supranationalität und Machtpolitik im Denken deutscher politischer Eliten nach den beiden Weltkriegen. In: ders.: Im Zeichen der Gewalt. Frieden und Krieg im 19. und 20. Jahrhundert. Köln u. a. 2003, S. 154–166. (Zuerst 1992) 42 „Aber wo wir einen festen Standort suchen, finden wir den Boden wanken, erschüttert bis weit zurück in die Jahrhunderte von derselben Katastrophe, die uns gegenwärtig erschüttert. Unsere Geschichte ist zweideutig, vieldeutig […] die Deutung aber, die uns anvertraut und uns vertraut geworden, sie ist in sich zusammengestürzt.“ Ludwig Dehio: Gleichgewicht oder Hegemonie. Betrachtungen über ein Grundproblem der neueren Staatengeschichte. 3. Aufl. Krefeld. o.J., S. 10. (Zuerst 1948) Vgl. Gerhard Ritters, im Ergebnis letztlich abwägendes Bemühen „um eine nüchterne, gründliche, nach beiden Seiten vorurteilslose Revision des herkömmlichen deutschen Geschichtsbildes“, das er als „unmittelbar politische[n] Pflicht“ bezeichnet. Gerhard Ritter: Europa und die deutsche Frage. Betrachtungen über die geschichtliche Eigenart des deutschen Staatsdenkens. München 1948, Zitate S. 8. 43 Joachim Moras/Hans Paeschke (Hg.): Deutscher Geist zwischen Gestern und Morgen. Bilanz der kulturellen Entwicklung seit 1945. Stuttgart 1954.
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rück.44 Dieser Verlust einer von vielen bis dahin selbstevident erscheinenden „großen“ kulturellen Tradition als nationalem Rückzugsraum muss als eine der fundamentalen Bedingungen begriffen werden, wenn man die Haltungen zu „national und international“ in der westdeutschen intellektuellen Geschichte untersucht. Auch in den späten 60er und frühen 70er Jahren, als einige konservative Intellektuelle einen neuen Konservatismus ausriefen, fehlte selten der Hinweis, wie problematisch die kulturelle Tradition in Deutschland grundsätzlich sei.45 Die zweite deutliche Veränderung, die diesen Prozess förderte und das Konzept des autonomen Kulturraums schwächte, betraf die Abwandlung der Sonderweg vorstellungen. Verschiedene Autoren wendeten den einstmals als positiven deutschen Exzeptionalismus verstandenen Sonderweg nun ins Negative. Ich bin nicht sicher, dass Thomas Welskopp und andere mit ihrer These Recht haben, dass die von Historikern seit den 1960er Jahren entwickelte Sonderwegsthese sich grundsätzlich von ähnlichen Vorstellungen direkt nach dem Zweiten Weltkrieg unterschied.46 Vielmehr denke ich, dass hier doch einige Übereinstimmungen auszumachen sind. Zwar fehlten die Bezüge zu bestimmten Modernetheorien, aber auch ein Autor wie der Soziologe Alfred Weber sprach in den späten 40er und frühen 50er Jahren davon, dass Deutschland sich seit den Jahrzehnten um 1800 von bis dahin gemeinsamen westlichen Entwicklungen getrennt und einen schließlich in die Katastrophe führenden Weg eingeschlagen habe. Eigens auf die Ideengeschichte bezogen, kritisierte er das deutsche Verlangen nach einer harmonischen Gesellschaft oder die Vorstellung der „deutschen Freiheit“, die sich ausdrücklich von „westlichen“ Normen der Rationalität und Humanität abwandte und in Wahrheit „gewollte politische Unfreiheit“ bedeutet habe. Seit dem ersten Drittel des 19. Jahrhunderts, so Weber, habe Deutschland „die Fähigkeit des Mitgehens mit der im Westen in Gestalt zunehmender Demokratisierung vor sich gehenden Ausführung der allgemein-menschlichen Grunderfahrungen 44 Joachim Moras: Die Mitte Europas. In: Moras/Paeschke (Hg.): Deutscher Geist zwischen Gestern und Morgen, S. 441–449, hier S. 449 u. ebd. Jaochim Paeschke: Der Januskopf, S. 450–466, hier S. 450. 45 Zur sogenannten „Tendenzwende“ der 70er Jahre: Axel Schildt: „Die Kräfte der Gegenreform sind auf breiter Front angetreten“. Zur konservativen Tendenzwende in den Siebzigerjahren. In: Archiv für Sozialgeschichte 44 (2004), S. 449–478. 46 Thomas Welskopp: Identität ex negativo. Der „deutsche Sonderweg“ als Metaerzählung in der bundesdeutschen Geschichtswissenschaft der siebziger und achtziger Jahre. In: Jarausch/Sabrow (Hg.): Die historische Meistererzählung, S. 109–139, hier S. 112. Mehr Übergänge lässt zu: Winfried Schulze: Vom ‚Sonderweg‘ bis zur ‚Ankunft im Westen‘. Deutschlands Stellung in Europa. In: GWU 53 (2002), S. 226–240. Vgl. auch Ansätze, die die deutsche Geschichte stärker als Variante innerhalb verschiedener „Modernen“ interpretieren, z. B. Christof Mauch/ Kiran Klaus Patel (Hg.): Wettlauf um die Moderne. Die USA und Deutschland 1890 bis heute. Mit einem Nachwort von Joschka Fischer. München 2008. Goethe und der amerikanische Militärpolizist
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des 18. Jahrhundert“, die also ursprünglich auch eine deutsche Erfahrung gewesen waren, verloren.47 Es lohnt vor diesem Hintergrund, auch noch einmal Texte wie die von Friedrich Meinecke anzusehen. In seinem Besinnungsbuch von 1946 „Die deutsche Katastrophe“ universalisierte Meinecke zwar, wie so viele, den Nationalsozialismus und brachte ihn ursächlich mit Entwicklungen der europäischen Moderne in Verbindung. In der deutschen Geschichte diagnostizierte er seit dem Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert dennoch eine spezifische „Umbiegung der bis dahin verlaufenden Hauptentwicklungslinie“, wie sie so in Frankreich und England (aber auch in Russland) nicht stattgefunden habe.48 Bei der Kritik blieb er dann keineswegs beim preußischen Militarismus und einem besonderen „Untertanengeist“ der Deutschen stehen, sondern sprach im Kern von einem politischen Versagen der deutschen Eliten. Diese hätten es versäumt, eine der modernen (von Meinecke als industrielle Massengesellschaft verstandenen) Welt angemessene politische Form zu finden. Das „naturgemäße Vorwalten der Besitzenden“ artete, so Meinecke, in „Klassenherrschaft“ aus. Es gelang nicht, die „bestehenden Machtverhältnisse zwischen Arbeiterschaft, Arbeitgebern und Staatsbehörden […] in freiem und humanen Geist umzubilden“.49 Im Zentrum der Argumentation stand damit eine sozialhistorische Analyse. Die Diskrepanz zwischen den in der Moderne herausgebildeten Sozialstrukturen und dem im Kaiserreich ausgebildeten politischen System habe die der modernen Welt inhärenten Spannungen nicht lösen können und dann zur Katastrophe des Dritten Reichs geführt.50 Parallel zu Veränderungen etwa im außenpolitischen Denken kam es auch hier zur Schwächung der kulturellen Traditionsgewissheit. Doch am Ende von Meineckes Buch steht bekanntlich wiederum Goethe, die Bildung von „Goethegemeinden“51 und damit die Hinwendung zur eigenen kulturellen Überlieferung. Bei der Beschreibung der Anknüpfungen und Neuorientierungen, von Öffnung und vermeintlich erneuernder Rückbesinnung wird man also noch etwas näher hinsehen müssen. Thematisierungen
Untersucht man entsprechende Vorstellungen von „innen und außen“, „alt und neu“ genauer, ist nämlich zunächst Eines besonders wichtig: In vielen Fällen handelte es 47 Alfred Weber: Deutschland und Europa. Zugleich eine Betrachtung des Ruhrstatus. In: Wandlung 4 (1949), S. 99–111, hier S. 100. 48 Friedrich Meinecke: Die deutsche Katastrophe. Betrachtungen und Erinnerungen. Wiesbaden 1946, z. B. S. 9 u. 22, Zitat S. 9. 49 Ebd., S. 37 u. 39. 50 Der Referenzautor bei solchen Überlegungen ist Friedrich Naumann. Z.B. ebd., S. 33ff. 51 Ebd., S. 174ff.
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sich um explizite Äußerungen. Das Verhältnis zur eigenen Tradition, die Frage der Öffnung wurden reflektiert und es wurde darüber gestritten. Zeigen lässt sich das noch einmal an Goethe, an den beiden berühmten Auseinandersetzungen über den Wiederaufbau des Frankfurter Goethehauses sowie um die Goethepreisrede von Karl Jaspers aus dem Jahr 1947. Das Goethehaus in Frankfurt war bei einem Luftangriff 1944 völlig zerstört worden. Nach Kriegsende bildete sich schnell eine Initiative, die den Wiederaufbau betrieb, der dann auch 1947 als detailgenaue Rekonstruktion begann. Kernpunkt der Auseinandersetzung wurde schnell die Frage, ob man nach 1933/45 an die deutsche kulturelle Überlieferung anknüpfen konnte bzw. inwieweit eine grundsätzliche Erneuerung notwendig war.52 Der linkskatholische Journalist und Publizist Walter Dirks forderte in den von ihm mit herausgegebenen „Frankfurter Heften“ den „Mut zum Abschied“, die Rekonstruktion wurde ihm zum Symbol der Restauration.53 Rudolf Alexander Schroeder dagegen schrieb nach Fertigstellung des Baus dankbar von „Wiedergeburten auch in gnadenloser Zeit“, an die man sich halten dürfe.54 Im Streit um die Goethepreisrede von Karl Jaspers lagen die Fronten ganz ähnlich. Dabei hatte Jaspers lediglich gesagt, dass Goethe als Vorbild für die Gegenwart nicht tauge und damit Fragen der ganz konkreten Lebensbewältigung gemeint.55 Doch das war manchem schon zuviel. Zum Hauptgegner avancierte der Bonner Romanist Ernst Robert Curtius. In einer ganzen Reihe von Artikeln und Aufsätzen attackierte er den Philosophen und verbat sich eine solche, in seinem Verständnis unqualifizierte Kritik an Goethe. Curtius beharrte darauf, dass Goethes Leben und Werk weiterhin die maßgebenden Lehren für die Kultur der Gegenwart bereithielten.56 Curtius behauptete damit eine kulturelle Überlieferung, an die auch nach 1945 sinnvoll angeknüpft werden konnte bzw. – in seinem Fall – musste. Während Karl Jaspers die eigene Tradition problematisierte, trat Curtius für deren Gültigkeit ein. 52 Zum Wiederaufbau des Goethehauses und der Kontroverse: Michael Falser: Der „Deutsche Geist“ und die Rekonstruktion des Frankfurter Goethehauses – die Trümmer des Geistes. In: ders.: Zwischen Identität und Authentizität. Zur politischen Geschichte der Denkmalpflege in Deutschland. Dresden 2008, S. 82–87; Christian Welzbacher: Der Wiederaufbau des Frankfurter Goethehauses. Altstadtsanierung, schöpferische Rekonstruktion, Kulturpessimismus, Symbolpolitik. In: Alte Stadt 33 (2006), S. 317–330. 53 Walter Dirks: Mut zum Abschied. Zur Wiederherstellung des Frankfurter Goethehauses. In: Frankfurter Hefte 2 (1947), S. 819–828, hier S. 826ff. 54 Rudolf Alexander Schröder: Gruß an Ernst Robert Curtius. In: Merkur 5 (1951), S. 674–680, hier S. 679. 55 Karl Jaspers: Unsere Zukunft und Goethe. In: Wandlung 2 (1947), S. 559–578, S. 566. (Text der Goethepreisrede Jaspers‘ vom 28. August 1947) 56 Zum Streit und insbesondere zu Curtius’ Position u. a.: Helmut Fuhrmann: Karl Jaspers’ Goethe-Rezeption und die Polemik von Ernst Robert Curtius. In: ders.: Sechs Studien zur Goetherezeption. Würzburg 2002, S. 83–122. Goethe und der amerikanische Militärpolizist
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Insofern wurde die Auseinandersetzung von Curtius auch als Streit um „innen und außen“ geführt. In mehreren Einwürfen gegen Jaspers warf er diesem ausdrücklich vor, das Ansehen des „deutschen“ Geistes zu beschädigen.57 Entsprechende grundlegende intellektuelle Raumvorstellungen wurden auch anhand von anderen Themen Gegenstand von Reflexion und Diskussion. Instruktiv ist wiederum die nach 1945 so wichtige Zeitschriftenliteratur. Im von Dolf Sternberger, Gerhard Storz und Wilhelm Emanuel Süskind verfassten sprachkritischen „Wörterbuch des Unmenschen“, das zuerst in der „Wandlung“ erschien, erhielt der nationalsozialistische Raum-Begriff einen der glänzendsten Einträge und wurde als pseudo-substantialistische Grundkategorie des „Unmenschen“ entlarvt.58 Um innen und außen rankten sich auch die verschiedenen Debatten über die Emigration bzw. die Emigranten. Während Sternbergers und Jaspers’ „Wandlung“ im maßgebenden Streit um Thomas Mann regelmäßig Partei für den emigrierten Schriftsteller ergriff, ging der eng mit Ernst Robert Curtius verbundene „Merkur“ auf Distanz und zog trotz aller Bekenntnisse zur Öffnung, die sich auch in dieser Zeitschrift finden lassen, eine klare Trennlinie zwischen innen und außen. Walter Boehlich war es, der in einer ganz offenbar von seinem Lehrer Curtius beeinflussten, wenn nicht gar von diesem teilweise verfassten,59 Rezension von Manns „Doktor Faustus“ diese Scheidung vornahm – und zwar von beiden Seiten aus. Es sei das Buch eines Mannes, so Boehlich, „der seiner Heimat entfremdet wurde.“ Er habe seine Heimat „verlassen müssen“, diese habe sich aber auch „von ihm abgekehrt.“ Nun habe er Bilanz gezogen „und merkt, er könne nicht mehr zurück.“60 Doch ganz so einfach liegen die Dinge wiederum nicht. Curtius war ein international hoch angesehener Wissenschaftler. Seine Kontakte zum europäischen Ausland waren nicht nur glänzend, sie waren und blieben auch nach 1945 intakt. Auch seine Haltung entpuppt sich als eine Mischung zwischen dem Anknüpfen an ein europäisch verstandenes Erbe und dem gleichzeitigen Beharren auf einen darin je eigenen geistigen Raum, auf eine eigene substanzhafte Nationalkultur – eine Haltung, die sich im Übrigen ziemlich genau in der zwiespältigen Bewertung von Curtius in der Forschung widerspiegelt.61 Umgekehrt ist es nun nicht so, dass sich Karl Jaspers, Dolf 57 Vgl. ebd., S. 107f. 58 Aus dem Wörterbuch des Unmenschen. XVI. Raum. In: Wandlung 2 (1947), S. 721–725. 59 Das vermuteten jedenfalls die beiden Herausgeber Joachim Moras und Hans Paeschke, Briefe Moras an Paeschke vom 18., 23. u. 28. 4. 1948. DLA Marbach, A: Merkur/Paeschke, Briefe an ihn. 60 Walter Boehlich: Thomas Manns „Doktor Faustus“. In: Merkur 2 (1948), S. 588–603, hier S. 603. 61 Während zum Beispiel das „Biographische Lexikon zur Weimarer Republik“ die europäische Orientierung von Curtius betont, zeichnen die Arbeiten von Hans Manfred Bock und Dirk Hoeges stärker das Bild eines in kulturkritischen Bildern und auch nationalen Abgrenzun-
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Sternberger, der erwähnte Walter Dirks oder Alexander Mitscherlich (um noch einen anderen für die frühe Bundesrepublik wichtigen Intellektuellen aus dem Heidelberger Kreis zu nennen)62 von der eigenen Tradition vollständig verabschiedet hätten. Liest man etwa Jaspers’ zeitkritische Publikationen nach 1945, wird ziemlich schnell klar, dass die Ratschläge, die er seinen Landsleuten zur Entwicklung einer funktionierenden Demokratie an die Hand gab, keineswegs am westlichen Vorbild entwickelt waren. Jaspers begründete seine Demokratievorstellungen nach 1945 vielmehr aus der eigenen Existenzphilosophie der Zwischenkriegszeit heraus.63 Während Curtius Denken viele internationale Anschlüsse enthielt, setzten Karl Jaspers’ Arbeiten auch nach 1945 sehr deutlich eigene Kontinuitätslinien fort.64 Traditionsverhalten, implizite und explizite Raumvorstellungen
Die Bedeutung des Hinweises auf die zeitgenössischen Thematisierungen liegt darin, dass damit der teilweise sehr bewusste Umgang mit internationalen bzw. nationalen Bezügen kenntlich wird. Es drängt sich hier die Parallele zu dem auf, was vor allem in der Literaturwissenschaft als „Traditionsverhalten“ bezeichnet worden ist. Traditionsverhalten meint dabei zunächst das Phänomen, dass jeder Vergangenheitsbezug bereits mit einer bestimmten Haltung verbunden ist. Indem man sich in die Tradition einbindet (oder sie verlässt), positioniert man sich immer schon in einem literarischen oder eben auch kulturell-intellektuellen Kontext, in einem zeitgenössischen intellektuellen „Feld“.65 Parallelen zur Internationalität liegen auf der Hand. Wenn Sternberger in seinem Bericht aus Frankfurt Goethe aufrief, positionierte er sich in
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gen verharrenden Intellektuellen. Biographisches Lexikon zur Weimarer Republik. Hgg. von Wolfgang Benz und Hermann Graml. München 1988, S. 55; Hans Manfred Bock: Ernst Robert Curtius und die Aporien des „unpolitischen“ Intellektuellen. In: Manfred Gangl/ Gérard Raulet (Hg.): Intellektuellendiskurse in der Weimarer Republik. Darmstadt 1994, S. 233–244; Dirk Hoeges: Kontroverse am Abgrund. Ernst Robert Curtius und Karl Mannheim. Intellektuelle und „freischwebende Intelligenz“ in der Weimarer Republik. Frankfurt am Main 1994. Mitscherlich wurden in den letzten Jahren einige Biographien gewidmet: Martin Dehli: Leben als Konflikt. Zur Biographie Alexander Mitscherlichs. Göttingen 2007; Tobias Freimüller: Alexander Mitscherlich. Gesellschaftsdiagnosen und Psychoanalyse nach Hitler. Göttingen 2007; Timo Hoyer: Im Getümmel der Welt. Alexander Mitscherlich. Ein Porträt. Göttingen 2008. Vgl. Alexander Schwan: Existentielle und politische Freiheit. In: GWU 35 (1984), S. 569– 585. Untersucht sind solche Kontinuitäten wiederum auch für das Denken Alexander Mitscherlichs. Siehe Insbesondere Freimüller: Alexander Mitscherlich. Dirk Niefanger: Traditionsverhalten, literarisches. In: Ansgar Nünning (Hg.): Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Stuttgart/Weimar 42008, S. 724f. Goethe und der amerikanische Militärpolizist
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der zeitgenössischen Debatte um Tradition und Öffnung. Indem Ernst Robert Curtius Jaspers dessen Kritik an Goethe vorhielt, stritt er für eine Tradition, die er wie kaum ein anderer repräsentierte, und wenn er die entscheidende Kritik an Thomas Mann tatsächlich von Walter Boehlich hat formulieren lassen, zeigte das das taktische Moment um so deutlicher, von dem die beiden Herausgeber des „Merkur“, wo die Besprechung erschien, jedenfalls fest ausgingen. Die Thematisierung von „innen und außen“ in den zeitgenössischen intellektuellen Debatten, die z. B. in den Auseinandersetzungen um die Emigration bzw. die Emigranten nachvollzogen werden kann, ist also das eine. Das heutige Konstatieren von Verschränkungen zwischen nationalen und internationalen, „alten“ und „neuen“ Bezügen ist das andere. Dabei ist dann die Unterscheidung von impliziten und expliziten Vorstellungen von Nutzen, die ebenfalls in Anlehnung an das Konzept des Traditionsverhaltens formuliert werden kann. Dem programmatischen Aufbruch der Zeitgenossen, deren Konstruktion einer Wende, steht dann der historisch-analytische Befund gegenüber, dem „gedachten Programm“ das „rekonstruierbare ‚Resultat‘“.66 Ein Beispiel aus dem Bereich der Raumvorstellungen ist der erwähnte Umgang mit deren Zentralkategorie des „Raumes“ nach 1945. Während im in der „Wandlung“ erscheinenden „Wörterbuch des Unmenschen“ der nationalsozialistische Raumbegriff entlarvt wurde, schrieb Mitherausgeber Alfred Weber beinahe zeitgleich in derselben Zeitschrift davon, dass die Menschen in Deutschland „zusammgepreßt“ seien „zwischen halbleeren Gebieten in dem jetzt polnischen Osten und dem etwa nur zwei Fünftel so dicht besiedelten französischen Westen“.67 Ein anderes Beispiel sind die weit verbreiteten Appelle zur internationalen Öffnung nach 1945. Wieder ist die Analyse der Zeitschriftenliteratur nach 1945 interessant: Der Appell zur Öffnung, die Freude über die Möglichkeit, nun wieder Zugang zum intellektuellen Leben der Welt zu erhalten, gehörte zum Standardbekenntnis beinahe aller kulturpolitischen Zeitschriften nach dem Zweiten Weltkrieg. Ob es um den Wiederaufbau der Universitäten ging, den Anschluss an die Weltliteratur, die Kenntnis des 66 Auch für das literarische „,Nullpunktdenken‘“ nach 1945: Wilfried Barner: Über das Negieren von Tradition. Zur Typologie literaturprogrammatischer Epochenwenden in Deutschland. In: Reinhart Herzog/Reinhart Koselleck (Hg.): Epochenschwelle und Epochenbewusstsein. München 1987, S. 3–51, z. B. S. 15 u. 38, Zitat S. 41. Dirk Niefanger spricht mit Bourdieu neben dem programmatischen Charakter von Traditionsverhalten z. B. von einem bestimmten Habitus, der durch das Traditionsverhalten charakterisiert ist. Niefanger: Traditionsverhalten, S. 725. 67 Alfred Weber: Deutschland und Europa. In: Wandlung 4 (1949), S. 99–111, hier S. 105. In anderen Publikationen blieb die geopolitische Verbindung von Charakter, „Stamm“ und Landschaft auch zu Beginn der 50er Jahre noch präsent. Zu dieser Präsenz von geopolitischen Vorstellungen und dem entsprechenden Vokabular im Nachkriegsdeutschland: Annette Gümbel: „Volk ohne Raum“. Der Schriftsteller Hans Grimm zwischen nationalkonservativem Denken und völkischer Ideologie. Darmstadt/Marburg 2003, z. B. S. 283–287.
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französischen Existentialismus oder die Grundlegung einer neuen politischen Kultur, überall wurde Öffnung zur einer Voraussetzung des kulturellen wie des politischen Neuaufbaus gemacht. Die Allgegenwart dieser Bekenntnisse lässt die Aussage zu, dass wir es hier mit einem weit verbreiteten intellektuellen Bedürfnis der Nachkriegszeit zu tun haben. Stellvertretend sei ein Zitat Erich Kubys über die Wiederbegegnung mit der Außenwelt in der amerikanischen Kriegsgefangenschaft zitiert: „Dort also, hinter Stacheldraht, begegneten wir zum ersten Mal wieder der ‚Welt‘, der ‚Zeit‘, und erfuhren, wie die Erschütterung durch den Krieg in allen Ländern mit Ausnahme von Deutschland die Schöpferkraft der geistigen Eliten erneuert hatte. Wir begegneten Namen, die jedermann außer uns vertraut zu sein schienen, und wir beschlossen, die Werke, die diesen Namen Glanz gaben, uns anzueignen, wenn wir wieder zu Hause wären.“68 Auch hier lohnt es sich allerdings genau hinzusehen. Im „Merkur“ zum Beispiel, der ebenso die Öffnung propagierte, ist bereits interessant, wem die Emphase galt. Es waren nämlich weniger der französische Existentialismus oder die internationalen Klassiker des modernen Romans, sondern Autoren, die sich leicht in jenen kulturkritisch gestimmten, freilich gemeineuropäisch verstandenen Diskurs einordnen ließen, wie ihn Curtius vor und nach 1945 repräsentierte und in den die eigene Tradition wiederum einen herausgehobenen Platz einnehmen konnte.69 Das mag in jener Zeitschrift nicht weiter überraschen, aber Ähnliches lässt sich eben auch am mit Erich Kuby gerade zitierten „Ruf “ zeigen. Auch hier wurde die Hinwendung zur „Welt“ ausgerufen und zur Bedingung des Wandels gemacht. Es schrieben Exilautoren wie Hans Sahl, zahlreiche Artikel informierten über die intellektuellen Entwicklungen in anderen Ländern. Aber schließlich gab es ebenso Vorbehalte. In einem bezeichnenderweise „Die fremden Stimmen“ überschriebenen Beitrag konstatierte Hanns Witte das „Trennende und Fremde“ zwischen „ihnen“ (den Emigranten) und „uns“.70 An anderer Stelle wurde davor gewarnt, beim demokratischen Aufbau allein auf die Erfahrung der anderen zu vertrauen. Nicht die russische, die amerikanische, englische oder französische Demokratie sei das Ziel, diese müsse sich vielmehr „bei uns entwickeln aus den besonderen Gegebenheiten unserer Mentalität, unserer geographischen Lage und des vollständigen Chaos, in dem sich Land und Volk befinden.“71 Und die Mischung gilt letztlich auch für die beiden Herausgeber des „Ruf “ und späteren Gründer der „Gruppe 47“, Hans Werner Richter und Alfred Andersch. In ihren poe68 Alexander Parlach [i.e. Erich Kuby]: In unserem eigenen Saft. In: Der Ruf 1 (1946), Nr. 1. 69 Dazu gehörten T. S. Eliot, José Ortega y Gasset oder auch Arnold J. Toynbee. Vgl. Tangye Lean: Ein Studie über Toynbee. In: Merkur 2 (1947), S. 71–93 u. S. 239–253; Ernst Robert Curtius: Ortega. In: Merkur 3 (1948), 417–430 u. ders.: T. S. Eliot. In: Merkur 3 (1949), S. 1–23. 70 Hanns Witte: Die fremden Stimmen. In: Der Ruf 1 (1947), Nr. 12. 71 Dietrich Warnesius: Bekenntnis eines jungen Deutschen. In: Der Ruf 1 (1947), Nr. 15. Goethe und der amerikanische Militärpolizist
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tologischen Entwürfen für eine neue literarische Sprache betonten sie zwar, wie wichtig die Begegnung mit der fremdsprachigen Literatur sei, in ihre Versuche über eine neue deutsche Literatur schob sich aber schnell das „Wir“, die notwendige authentische Erfahrung in einer national verstandenen Gruppe und Geschichte, die nicht zu ersetzen sei. Die Begegnung mit dem „Außen“ wurde zum wiederherzustellenden Normalfall, der Innenraum aber blieb für das Gelingen des geforderten „Realismus“ entscheidend. Die Exilliteratur, so Andersch, müsse zurückkehren, erst dann könne sie wieder wirken.72 Ganz ähnlich bei Richter, auch dessen literarisches Programm beruhte auf der authentischen „Erfahrung“ als wichtigem Schlüsselbegriff – einer Erfahrung, die jeweils lediglich begrenzten und vor allem auf generationellen sowie nationalen Erfahrungen beruhenden Gruppen zugänglich war.73 Rettungsversuche
Die in Diktatur und Krieg gemachte Erfahrung, auf die sich Richter und Andersch beriefen, war eine exklusive, die anderen nicht zugänglich war. Ihrer Zeitschrift „Der Ruf “ hat dies von Seiten der amerikanischen Besatzungsbehörden den Vorwurf des Nationalismus eingebracht.74 Der Vorwurf scheint heute wie damals übertrieben. Was sich findet, ist eher so etwas wie die Rettung des Nationalen im Rückzug auf einen eigenen Erfahrungsraum. Historiker haben für die Jahre nach 1945 und die frühe Bundesrepublik seit längerem auf den nationalen Solidaritätsdiskurs aufmerksam gemacht, der das Nachkriegsdeutschland durchzog und besonders in den Debatten um die deutschen Opfer ihren Ausdruck fand.75 Der nationale Raum wurde damit sozusagen defensiv bewahrt. Entsprechendes lässt sich auch in den intellektuellen Raumvorstellungen erkennen. 72 Alfred Andersch: Deutsche Literatur in der Entscheidung. Karlsruhe 1948, S. 17. 73 Vgl. Hans Werner Richter: Literatur im Interregnum. In: Der Ruf 1 (1947), Nr. 15. Entsprechend zeichnen verschiedene Arbeiten das Bild der „Gruppe 47“ als einem mehr oder weniger abgeschlossenen Zirkel, dessen Mitglieder vor allem damit beschäftigt waren, „außen“ und „innen“ zu markieren. Kontakte zu fremdsprachigen Autoren blieben selten und brachen häufig nach kurzer Zeit wieder ab. Zur „Gruppe 47“: Stephan Braese (Hg.): Bestandsaufnahme. Studien zur Gruppe 47. Berlin 1999; Justus Fetscher u. a. (Hg.): Die Gruppe 47 in der Geschichte der Bundesrepublik. Würzburg 1991; Stuart Parkes /John J. White (Hg.): The Gruppe 47 Fifty Years on a Re-appraisal of its Literary and Political Significance. Amsterdam/ Atlanta 1999. 74 Zur Diskussion über die Gründe Jérôme Vaillant: Der Ruf. Unabhängige Blätter der jungen Generation (1945–1949). Eine Zeitschrift zwischen Illusion und Anpassung. München u. a. 1978, z. B. S. 106. 75 Z.B. Robert G. Moeller: Deutsche Opfer, Opfer der Deutschen. Kriegsgefangene, Vertriebene, NS-Verfolgte. Opferausgleich als Identitätspolitik. In: Klaus Naumann (Hg.): Nachkrieg in Deutschland. Hamburg 2001, S. 29–58.
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Man kann in entsprechenden Texten aber nicht nur eine Art von nationalem Solidaritätsdiskurs nach der Diskreditierung der Nationsidee durch den Nationalsozialismus erkennen, sondern ebenso eine neue Art von Exzeptionalitätsdenken und damit eine weitere mögliche Form der Rettung des Nationalen. Neben Anderschs und Richters Arbeiten zeigen z. B. die frühen Texte von Luise Kaschnitz nach dem Zweiten Weltkrieg entsprechende Strukturen – und damit nun wiederum eine Autorin, die in der „Wandlung“ publizierte und nach dem Ausscheiden von Werner Krauss seit dem Frühjahr 1948 auch als Mitherausgeberin fungierte. In ihrem im ersten Jahrgang der Zeitschrift veröffentlichten Schuldessay sprach sie den Deutschen aufgrund ihrer Geschichte eine besondere Erfahrung innerhalb eines allgemein-modernen Phänomens zu. Deutschland, so Kaschnitz, trage „vornehmlich“ die „Last einer menschheitsumspannenden Epoche“.76 Der sozialdemokratische Rechtspolitiker Adolf Arndt stellte in derselben Zeitschrift die Frage, ob die Erfahrung des Nationalsozialismus sich letztendlich nicht als historisch-politischer Vorsprung entpuppen könne. „Was uns Menschen“, so Arndt im März 1948, „die wir aus der fascistischen [!] Hölle kommen, von den Zuschauern [sic, F.K.] unterscheidet, die sich oft in so beängstigender Weise des ‚Hitler in uns‘ noch nicht bewußt sind, – das ist weniger die Rückständigkeit der Menschen, die seit 1933 im ‚Großkäfig Deutschland‘ von der Welt abgeschlossen leben, als die Tatsache, daß wir von einem ‚Glauben an den Menschen‘ geheilt sind und wieder wissen, daß das Recht […] ‚mühsam‘ ist.“ Nach Arndt könne so „das Mißtrauen unserer Jugend“, dieser „zeitliche Unterschied zwischen einem nachfascistischen Denken und einem nicht in der Hölle Hitlers durchglühten Geist“ das „größte Aktivum werden, das wir besitzen.“77 Ähnlich argumentierten auch Joachim Moras und Hans Paeschke in „Deutscher Geist zwischen Gestern und Morgen“. Gemäß ihrer Analyse zeigten sich die Spannungen der Gegenwart bzw. der Verlust der nationalen Identität in Deutschland in besonderer Weise und waren gleichzeitig durch die historische Erfahrung speziell beglaubigt.78 Interessanterweise war bei ihnen darüber hinaus die deutsche Exzeptionalität zumindest teilweise mit der Vorstellung einer deutschen „Mittlerstellung“79 verknüpft, und damit mit dem wohl defensivsten der traditionellen intellektuellen Raumkonzepte. Man sollte solche Rettungsversuche des nationalen Raums nun allerdings auch nicht einseitig interpretieren. Denn auch in diesen Fällen wurden nationale Orientierungen von ganz anderen Elementen und Haltungen ausbalanciert. Auch diese Beispiele waren letztendlich durch ein deutlich zurückgenommenes nationales Argu76 77 78 79
Luise Kaschnitz: Von der Schuld. In: Wandlung 1 (1945/46), S. 143–147, hier S. 147. Adolf Arndt: Die Krise des Rechts. In: Wandlung 3 (1948), S. 421–440, hier S. 425. Moras: Die Mitte Europas, S. 448; Paeschke: Der Januskopf, S. 451 u. 465. Ebd., S. 465. Goethe und der amerikanische Militärpolizist
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ment gekennzeichnet. Der Exzeptionalismus, der bei Kaschnitz, Moras und Paeschke oder – und noch deutlicher – bei Adolf Arndt zum Ausdruck kam, schien eine gereinigte Form von Sonderbewusstsein zu sein. Er sollte ein „humanes“80 Beispiel geben, war von vornherein internationalisiert und europäisiert. Innerhalb der „Gruppe 47“ oder im „Ruf “ schließlich ging das ausgestellte Bewusstsein der Exklusivität mit demonstrativen Bekenntnissen zu einer neuen, transformierten und an internationale Entwicklungen herangeführten deutschen Kultur einher, die sich grundsätzlich von der vor 1945 bzw. 1933 unterscheiden sollte. Und dennoch, man sollte auch in diesem Fall „Programm“ und „Resultat“ nicht verwechseln, und obwohl man nicht alles glauben sollte, was Historiker und Literaturwissenschaftler in letzter Zeit über den Geist aus In- und Exklusion geschrieben haben, der die „Gruppe 47“ bestimmte,81 oder über die hier herrschende Ablehnung der Emigranten (und deren Gründe), eines bleibt doch richtig: Zum Beispiel am Beginn von Westdeutschlands führendem Intellektuellenclub der 50er und 60er Jahre stand bei allem Bekenntnis zu Europa und zur Internationalität auch das Bewusstsein einer besonderen deutschen Erfahrung von Diktatur, Krieg und Niederlage sowie eine gehörige Portion Skepsis, inwieweit der (neue) Anschluss an den kulturellen internationalen Austausch den notwendigen Wandel in Deutschland tragen könne.
Schluss Aufnahmebereitschaft und Transfermechanismen in der Ideengeschichte hängen nicht allein von impliziten oder expliziten intellektuellen Raumvorstellungen ab. Weitere Faktoren, die jüngere Forschung zur „Sozialgeschichte der Ideen“ oder zur „intellectual history“ hat das gezeigt, sind zu berücksichtigen. Die Frage wie, ob und in welcher Form Ideenangebote aufgenommen wurden, ist eng verknüpft mit der nach den zeithistorischen Bedingungen. Zu vorhandenen Normen kommen die außenpolitisch vorfindlichen Voraussetzungen oder historischen Erfahrungen. Für 1945 und die folgenden Jahre gilt z. B., dass das „Außen“ in einer neuen und bis dahin unbekannten Weise auf die Deutschen einströmte; militärisch und politisch durch Besetzung und alliierte Verwaltung, im persönlichen Bereich durch den Kontakt zu fremden Soldaten oder durch die Erfahrungen, die viele Männer als Kriegsgefangene gemacht hatten. Die Intellektuellengeschichte war davon ebenso berührt. Die alliier80 Zu den Forderungen nach einer „humanen“ Wendung nach 1945, hier im Kontext der Vergangenheitsbewältigung: Aleida Assmann/Ute Frevert: Geschichtsvergessenheit. Geschichtsversessenheit. Vom Umgang mit deutschen Vergangenheiten nach 1945. Stuttgart 1999, S. 104ff. 81 S.o., Anm. 73.
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ten Umerziehungsbemühungen zielten zudem insbesondere auch auf das kulturelle Leben und wurden in den verschiedenen Austauschprogrammen der 50er und 60er Jahre fortgesetzt.82 Emigranten und Remigranten, obwohl, wie wir wissen, keineswegs immer positiv aufgenommen und ebenso nicht immer mit „neuen“ Ideen im Gepäck, spielten doch eine häufig unterschätzte Rolle beim intellektuellen Wiederaufbau.83 Schließlich begannen bald der aufkommende Kalte Krieg und die sich zusehends verfestigende Westbindung der frühen Bundesrepublik ihren Einfluss auf die intellektuellen Debatten auszuüben. Die beiden Zeitschriften „Wandlung“ und „Ruf “ sind im Übrigen gute Beispiele für diese recht schnell einsetzende Wirkung.84 Über solche Kontextualisierungen hinaus wäre nach der sozialen Reichweite oder auch nach der Relevanz der vorgestellten Konzepte für weitere Ideenbestände der alten Bundesrepublik zu fragen. Im außenpolitischen Bereich ließe sich an die verschiedenen Dritte-Weg-Konzepte denken, die periodisch in der Geschichte der alten Bundesrepublik wiederzukehren scheinen,85 oder auch an die seit den späten 60er Jahren immer häufiger anzutreffenden Vorstellungen, wonach die Bundesrepublik Europa und der Welt mit einer spezifischen nicht-nationalen Außenpolitik ein Beispiel geben könne.86
82 Tatsächlich scheinen die größten Erfolge im Fall der Radio- und Fernsehanstalten erreicht worden zu sein, die selbstverständlich großen Einfluss auf das intellektuelle Leben hatten: Muriel Favre: „Faire d’un champ de ruines une démocratie“. La radio allemande entre rééducation et propagande (1945–1949). In: Marie-Bénédicte Vincent (Hg.): La dénazification. Paris 2008, S. 175–188; Florian Huber: Re-education durch Rundfunk. Die Umerziehungspolitik der britischen Besatzungsmacht in Deutschland am Beispiel des NWDR 1945–1948. Hamburg 2006; allgemein: Christina von Hodenberg: Konsens und Krise. Eine Geschichte der westdeutschen Medienöffentlichkeit 1945–1973. Göttingen 2006, S. 103–144. 83 Vgl. die Zusammenfassung des Forschungsstandes bei Marita Krauss: Heimkehr in ein fremdes Land. Geschichte der Remigration nach 1945. München 2001. 84 Für die „Wandlung“ zeigt sich das am Herausgeberwechsel vom Frühjahr 1948. Mitherausgeber Werner Krauss war 1947 an die Universität Leipzig gewechselt. Der schon zuvor nicht einfache Kontakt zu Sternberger, Jaspers und Alfred Weber brach damit vollends ab, so dass Krauss schließlich ausschied. Der „Ruf “ nahm nach dem Ausscheiden von Andersch und Richter als Herausgeber im April 1947 nach und nach eine immer stärker antikommunistische Haltung ein. Vgl. Vaillant: Der Ruf. Unabhängige Blätter der jungen Generation (1945– 1949) u. Monika Waldmüller: Die Wandlung. Eine Monatsschrift. Hgg. von Dolf Sternberger unter Mitwirkung von Karl Jaspers, Werner Krauss und Alfred Weber 1945–1949. Ein Bericht. Marbach a. Neckar 1988. 85 Dominik Geppert/Udo Wengst (Hg.): Neutralität – Chance oder Chimäre? Konzepte des Dritten Weges für Deutschland und die Welt 1945–1990. München 2005. 86 Dies ist weniger erforscht. Entsprechend argumentierte z. B. der Publizist Ralf Schroers 1967 im „Merkur“. Schroers: Herausforderungen eines Deutschen. In: Merkur 21 (1967), S. 321–331. Goethe und der amerikanische Militärpolizist
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Bleibt man auf kulturellem Terrain, bewegt sich aber von den Intellektuellen im engeren Sinne weg, sind ähnliche wie die hier konstatierten Phänomene etwa bei den Ergebnissen der zahlreichen deutsch-amerikanischen Austauschprogramme zu erkennen. Zwar lobten viele Lehrer, die in den 50er und 60er Jahren in die USA gekommen waren, die politische Kultur ihres Gastlandes und den partnerschaftlichen Umgang, den sie an den amerikanischen Schulen erlebt hatten, gleichzeitig glaubten aber nicht wenige von ihnen, dass das amerikanische Erziehungssystem keineswegs als ein Modell für Deutschland dienen solle oder könne. Das „Amerika-Erlebnis“, so fasste eine 1961 erschienene Studie die Eindrücke deutscher Austauschlehrer zusammen, habe „ebenso die grundsätzliche Richtigkeit der deutschen Schule unterstrichen“.87 Am Ende der hier unternommenen Analyse der grundlegenden intellektuellen Raumvorstellungen nach 1945 bleibt festzuhalten, dass bei allem Anknüpfen an vorhandene Konzepte die Erschütterung der Vorstellung eines autonomen nationalen Kulturraumes die Aufnahmebereitschaft in der westdeutschen intellektuellen Geschichte zweifellos gefördert hat. Darin lag eine wichtige Voraussetzung für das spezifische Transfergeschehen in der Bundesrepublik. Gleichzeitig muss aber der „soziale Aspekt“ bei den häufigen Bekundungen zur internationalen Öffnung beachtet werden. Mit diesen ließen sich auch bestimmte Positionen innerhalb des intellektuellen Feldes besetzen, und zwar unabhängig vom tatsächlichen inhaltlichen Ideentransfer. Die sich daraus ergebenden Mischungen lassen sich noch einmal an Dolf Sternberger verdeutlichen. Auch Dolf Sternberger, der 1945 Goethe und den amerikanischen MP zusammengebracht hatte, hielt sich nach dem Zweiten Weltkrieg mehrmals für längere Zeit in den USA auf. Zum ersten Mal hatte er 1948 an einem Besuchsprogramm für Journalisten teilgenommen. 1964 verbrachte er dann auf Vermittlung von Hannah Arendt ein Gastsemester an der University of Chicago. Folgt man seinen Briefen, konnte sich auch Sternberger kaum vorstellen, das amerikanische Universitätssystem nach Deutschland zu übertragen. In einem Briefwechsel mit seinem langjährigen Freund Gerhard Storz, von 1958 bis 1964 Kultusminister von Baden-Württemberg, stimmte er 1965 dessen Einschätzung zu, dass die Massenuniversität, wie sie sie beide in den USA erlebt hätten, kein Vorbild für die deutsche Universitätsreform sein könne. Er fügte aber auch schnell hinzu, dass er das bisher nicht zu sagen „gewagt“ habe, „jedenfalls öffentlich“ nicht.88 87 Gerhard Neumann/Gerhard Schellenberg (Hg.): Begegnung mit dem Erziehungswesen der USA. Erfahrungsbericht über den deutsch-amerikanischen Lehreraustausch 1952–1959. München 1961, S. 268. Zu einem bei aller Vorsicht doch ambivalenten Befund, was die Wirkung der verschiedenen Austauschprogramme anbelangt, kommt auch: Ellen Latzin: Lernen von Amerika? Das US-Kulturaustauschprogramm für Bayern und seine Absolventen. Stuttgart 2005, S. 119f. u. 334. 88 DLA Marbach, A: Sternberger, Briefe an ihn von Gerhard Storz, 25.3.1965 u. ebd., Briefe von ihn an Gerhard Storz, 13.4.1965.
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Die in diesem Zitat aus dem Jahr 1965 vorgenommene Differenzierung zwischen öffentlichem und privatem Sprechen verweist noch einmal auf die Unterscheidung zwischen inhaltlichen Ideenbeständen und den darin zum Ausdruck kommenden Beziehungen zwischen „national und international“ auf der einen Seite und der Haltung zu solchen Bezügen auf der anderen. In anderen Zusammenhängen wäre die ostentative Abgrenzung vielleicht als das nach außen Gegebene erschienen. Sternberger gibt im Jahr 1965 an, sie besser zu vermeiden. Wenn er über die Übertragbarkeit des amerikanischen Modells auf die Bundesrepublik spricht, geht es unabhängig vom jeweiligen Resultat um die üblichen Diffusions- oder Anverwandlungsprozesse, die die Ideen- und Intellektuellengeschichte in hohem Maße auszeichnen. Bei Sternbergers öffentlichem Schweigen geht es um Positionierungen im intellektuellen bzw. publizistischen Feld. Übergänge zwischen beidem sollen hier gar nicht bestritten werden, es sei aber zum Schluss noch einmal vor einer Verwechslung dieser Aspekte gewarnt. Die Analyse der Transferprozesse bedarf der Ergänzung durch die Untersuchung der impliziten wie expliziten Haltungen zu „innen“ und „außen“. Sowohl aus Sternbergers „Tagebuch“ von 1945 mit der Schilderung der Reise nach Frankfurt als auch seinen brieflichen Bemerkungen von 1965 über das westdeutsche Universitätssystem und sein vermeintliches Vorbild in den USA spricht ein sehr bewusster Umgang mit dem Nationalen bzw. Internationalen. In seinen Feuilletons und Leitartikeln war der Westen auch inhaltlich häufig präsent. Hier arbeitete Sternberger regelmäßig mit Beispielen aus der amerikanischen oder britischen Geschichte und Gegenwart.89 Sieht man in sein philosophisch-politologisches Werk stellt sich die Lage wiederum anders dar. Die zentralen Texte des „westlich“-angelsächsischen politischen Denkens zitierte er überraschend selten. Um Missverständnisse zu vermeiden: Verweise auf eine besondere „deutsche“ Tradition finden sich ebenso wenig. Seine nach 1945 vorgelegte politische Theorie basierte ganz überwiegend auf den Werken der griechischen Philosophie. Sein politisches Konzept entwickelte er fast vollständig in Auseinandersetzung mit Aristoteles.90
89 Michaela Hoenicke Moore: Heimat und Fremde. Das Verhältnis zu Amerika im journalistischen Werk von Margret Boveri und Dolf Sternberger. In: Arndt Bauerkämper u. a. (Hg.): Demokratiewunder. Transatlantische Mittler und die kulturelle Öffnung Westdeutschlands 1945–1970. Göttingen 2005, S. 218–250. 90 Vgl. z. B. Dolf Sternberger: Drei Wurzeln der Politik. In: ders.: Gesammelte Schriften Bd. 2. Frankfurt am Main 1978 u. Jörg Pannier: Das Vexierbild des Politischen. Dolf Sternberger als politischer Aristoteliker. Berlin 1996.
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Veränderungen der bundesdeutschen (Ess-)Kultur durch Migration und Tourismus Das Beispiel der ausländischen Gastronomie Zwei Formen von Mobilität haben das 20. Jahrhundert nachhaltig geprägt: Migrationsbewegungen und Massentourismus. Auch wenn sie sich im Hinblick auf ihre Dauer und die ihnen zugrunde liegenden Motivationen in vielerlei Hinsicht unterscheiden, so implizieren beide Mobilitätsformen doch einen transregionalen, oftmals transnationalen und auch reziproken Transfer von Menschen, Wissen, Produkten sowie Bildern und Narrationen. Arjun Appadurai spricht daher zusammenfassend von „ethnoscapes“, wenn er die Rolle von Touristen, Migranten und Flüchtlingen in einer globalisierten Welt thematisiert.1 Im bundesdeutschen Fall haben sich seit den späten 1950er Jahren der über die so genannten Gastarbeiter erfolgte „Import von fremder Kultur“ und der „Export von [westdeutschen] Touristen in fremde Kulturen“ mehr oder weniger zeitgleich vollzogen, wie der Philosoph Odo Marquardt herausgestellt hat. Ohne auf diesen Punkt weiter einzugehen, sieht er zwischen beiden Bewegungen eine deutliche Verbindung.2 Der vorliegende Aufsatz beschäftigt sich nun mit einem Gebiet der bundesdeutschen Kultur, das definitiv von (Arbeits-)Migration und Tourismus geprägt wurde, nämlich die westdeutsche Esskultur. Die Bundesbürger lernten ‚fremdes‘ Essen zum einen im Auslandsurlaub kennen, zum anderen in ausländischen Spezialitätenrestaurants und -imbissen, die in großer Zahl von den vornehmlich aus Südeuropa stammenden Migranten in der Bundesrepublik eröffnet wurden. Der Erfolg der ausländischen Gastronomie und des Tourismus verstärkten sich dabei wechselseitig. Die Touristen, die das ganze Jahr über auf ihren Urlaub hinfieberten oder 1
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Arjun Appadurai: Disjuncture and Difference in the Global Cultural Economy. In: Mike Featherstone (Hg.): Global Culture. Nationalism, Globalization and Modernity. A Theory. London/Newbury Park/New Delhi 1990, S. 295–310. Zum Ansatz der mobility studies siehe John Urry: Mobilities and Social Theory. In: Bryan S. Turner (Hg.): The New Blackwell Companion to Social Theory. Malden/Oxford 2009, S. 477–495. – Die weibliche Form ist bei allen Akteuren immer mit gemeint. „Das sind die geborenen Dolmetscher. Ein Gespräch mit Odo Marquardt.“ In: Claus Leggewie: Multi Kulti. Spielregeln für die Vielvölkerrepublik. Berlin 1999, S. 110–119, hier S. 111. Der Nexus von Migration und Tourismus wird ausformuliert in Tom Holert/Mark Terkessidis: Fliehkraft. Gesellschaft in Bewegung – von Migranten und Touristen. Köln 2006. Veränderungen der bundesdeutschen (Ess-)Kultur
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nostalgisch an ihn zurückdachten, suchten „in gewissen Abständen Urlaubserinnerungen über den Magen zu tanken“ – so Marquard, der nicht nur seinen Urlaub oft in Jugoslawien verbrachte, sondern auch regelmäßig und mit großer Begeisterung jugoslawische Restaurants aufsuchte.3 In einem ausländischen Spezialitätenrestaurant essen zu gehen, kann daher als Substitut, aber auch als Anreiz für eine Reise interpretiert werden, und die Gäste eines solchen Lokals lassen sich als ‚gastronomische Touristen‘ beschreiben.4 Die Geschichte des Nachkriegstourismus und die Geschichte der ausländischen Gastronomie in Westdeutschland sind demnach auf vielfältige Weise miteinander verwoben.5 Betrachtet man die Forschung zur bundesdeutschen Migrations- und Konsumgeschichte, so erstaunt, dass zum einen bisher nur wenige Studien zur Ernährung und zum Ernährungswandel in der Bundesrepublik vorliegen. Dies gilt in besonderem Maße für die Internationalisierung des Nahrungskonsums und deren Effekte auf und Interdependenzen mit umfassenderen kulturellen Mustern und Veränderungen. Zum anderen fragt auch die deutsche Migrationsforschung noch immer zu wenig nach den kulturellen Auswirkungen, welche die Gegenwart von Millionen von Migranten in Deutschland hatte und hat. In ihrer Studie zur deutschen Geschichte, Shattered Past, haben Konrad Jarausch und Michael Geyer nachdrücklich auf dieses Forschungsdesiderat hingewiesen und Untersuchungen angeregt, welche die durch die Präsenz von Migranten bewirkten Transformationen der bundesdeutschen Gesellschaft beleuchten6 – eine Präsenz, die bis heute eine der zentralen soziokulturellen Differenzen zwischen West- und Ostdeutschland darstellt.7 Mein Interesse für die ausländische Gastronomie und die Internationalisierung der kulinarischen Kultur der Bundesrepublik ist unter anderem von der Fragestellung geleitet, auf welche Weise kulturelle Differenzen in Westdeutschland nach 1945 re3 4
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„Das sind die geborenen Dolmetscher“. Vgl. Rebecca Spang: All the World’s a Restaurant. On the Gastronomics of Tourism and Travel. In: Raymond Grew (Hg.): Food in Global History. Boulder 1999, S. 79–91, hier S. 80. Zum „gastronomic tourist“ siehe Wilbur Zelinsky: You Are Where You Eat. In: Barbara G. Shortridge/James R. Shortridge (Hg.): The Taste of American Place. A Reader on Regional and Ethnic Food. Lanham u. a. 1998, S. 243–250, hier S. 243. Unter anderem auch deshalb, weil viele ,Gastarbeiter‘ für Arbeiten im Hotel- und Gaststättengewerbe angeworben wurden, was letztlich wiederum zu einem Arbeitskräftemangel in diesem Sektor in den Anwerbeländern wie z. B. Griechenland führte, das sich in den späten 1960er Jahren zu einem beliebten Ferienziel entwickelte. Vgl. Tony Judt: Post-war. A History of Europe since 1945. London 2005, S. 334, Anm. 9. Konrad R. Jarausch/Michael Geyer: Shattered Past. Reconstructing German Histories. Princeton/Oxford 2003, S. 219. Vgl. Axel Schildt: Ankunft im Westen. Ein Essay zur Erfolgsgeschichte der Bundesrepublik. Frankfurt am Main 1999, S. 60.
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formuliert worden sind.8 Die Ernährung ist ein machtvolles Mittel der Identitätsformierung, des Ausdrucks wie der Performanz nationaler, ethnischer, geschlechtlicher und anderer sozialer Identitäten. Sowohl bei der Praxis, ‚fremde‘ Speisen zu essen, als auch in den Diskursen über ‚fremde‘ Nahrungsmittel werden explizit und implizit Fragen der Zugehörigkeit verhandelt und abgesteckt, was jeweils als ‚das Eigene‘ und ‚das Fremde‘ – oder beides zugleich – gilt. In diesem Sinne stellt die kulinarische Kultur eine „particularly powerful lens“ dar, um kulturelle Differenzen und kulturelle Hybridität im Alltag zu untersuchen.9 Gerade die materielle Einverleibung von etwas ‚Fremdem‘ macht die Ernährung zu einem Feld, auf dem sich zentrale Selbstverständigungsprozesse einer Gesellschaft oder sozialen Gruppe vollziehen. In den food studies, die in Deutschland noch immer ein Schattendasein führen, wird dabei die Frage, was der Konsum von ethnic food bedeutet, überaus kontrovers diskutiert. Die Interpretationen reichen von der optimistischen Ansicht, er symbolisiere die liberale „acceptance of each group and its culture“10, über die Meinung, der Konsum ethnisierter Nahrungsmittel vermittele zumindest „some minimal lessons in cultural relativity“11 bis hin zur Einschätzung, dass „eating the other“ eine hegemoniale Aneignung des Anderen und historisch meist mit Ausbeutung und Unterdrückung verknüpft war und noch immer ist.12 Der Konsum ‚des Anderen‘ (bzw. der Phantasmen über diesen) ist demnach ein durch und durch ambivalenter Prozess, der offen für unterschiedliche Resignifizierungen und politische Instrumentalisierungen ist. Inwiefern die kulinarische Kultur in der Bundesrepublik der 1950er und 1960er Jahre im Umgang mit ‚dem Anderen‘ und ,den Anderen‘ Zeichen der Öffnung und Liberalisierung erkennen lässt, ist Gegenstand dieses Beitrags. In einem ersten Teil möchte ich einen kurzen Überblick über die Entwicklung der ausländischen Gastronomie in der Bundesrepublik geben, um dann auf die deutschen Gäste ausländischer Lokale und die Frage nach sich verändernden Einstellungen im 8
Die Geschichte der (transnationalen) Reformulierungen von ,Rasse‘ bzw. Ethnizität im Nachkriegsdeutschland stellt noch immer ein Forschungsdesiderat dar. Vgl. Rita Chin/Geoff Eley/ Heide Fehrenbach/Atina Grossmann: After the Nazi Racial State. Difference and Democracy in Germany and Europa. Ann Arbor 2009. 9 Peter Jackson: The Transnational Spaces of Contemporary Commodity Culture. A Cultural Politics of Curry. In: Ulrike Lindner/Maren Möhring/Mark Stein/Silke Stroh (Hg.): Hybrid Cultures – Nervous States. Britain and Germany in a (Post-)Colonial World. Amsterdam/ New York (im Erscheinen begriffen). 10 Susan Kalcik: Ethnic Foodways in America. Symbol and Performance of Identity. In: Linda Keller Brown/Kay Mussell (Hg.): Ethnic and Regional Foodways in the United States. The Performance of Group Identity. Knoxville 1984, S. 37–65, hier S. 61. 11 Roger Abrahams: Equal Opportunity Eating. A Structural Excursus on Things of the Mouth. In: Keller Brown/Mussell: Ethnic and Regional Foodways, S. 19–36, hier S. 23. 12 Vgl. bell hooks: Eating the Other. In: dies. (Hg.): Black Looks. Race and Representation. Boston 1992, S. 21–39. Veränderungen der bundesdeutschen (Ess-)Kultur
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Nachkriegsdeutschland (den viel diskutierten ,Wertewandel‘) zu sprechen zu kommen, die das Aufsuchen ausländischer Spezialitätenrestaurants für so viele Menschen attraktiv machten. Damit liegt der Fokus zunächst auf der Konsumentenseite und den ökonomischen wie soziokulturellen Transformationen vor allem der 1960er und 1970er Jahre, welche zu einer Internationalisierung der bundesdeutschen Kultur und der Esskultur im Besonderen beitrugen. Der zweite Teil dieses Beitrags wendet sich dann der Produzentenseite zu, d. h. den migrantischen Gastronomen. Im Zentrum stehen hier die ökonomischen und vor allem die rechtlichen Rahmenbedingungen einer Betriebsgründung und damit die Schwierigkeiten, auf die Nicht-Deutsche angesichts der restriktiven bundesdeutschen Ausländerpolitik stießen, wenn sie sich selbständig machen wollten. Der dritte Teil des Beitrags widmet sich den italienischen Eisdielen und Restaurants in der Bundesrepublik, deren materielle und imaginäre Aspekte insbesondere im Hinblick auf die Bedeutung touristischer Bilder und Narrationen herausgearbeitet werden, um die enge Verbindung von migrantischer Gastronomie und bundesdeutschem Tourismus am konkreten Beispiel zu verdeutlichen. In diesem Zusammenhang wird auch der Frage nachgegangen, inwiefern in den 1950er Jahren eine Italianisierung des Ernährungsverhaltens in der Bundesrepublik einsetzte. Im Fazit werden dann die erörterten Dimensionen der Internationalisierung der bundesdeutschen Gastronomie zusammenfassend diskutiert, um die auf diesem Feld zu konstatierende Gemengelage von Neuorientierungen, aber auch Kontinuitäten, von liberalisierenden, aber auch antiliberalen Momenten in der frühen Bundesrepublik zu skizzieren.
Der Erfolg der ausländischen Gastronomie in der Bundesrepublik – ein Effekt des Bedürfnis- und Wertewandels? Industrialisierung und Urbanisierung haben die Konsummuster und insbesondere die Ernährungsweise von großen Teilen der Bevölkerung massiv verändert. Die zunehmende Distanz zwischen Arbeitsplatz und Wohnort, die verkürzten Mittagspausen wie auch die sich ausweitende weibliche Erwerbstätigkeit haben die Nachfrage nach preiswerter Außerhausverpflegung drastisch erhöht. Abgesehen von Schnellrestaurants wie den 1892 in Berlin eröffneten Aschinger-Betrieben, in denen vor allem regionale, nämlich bayerische Spezialitäten serviert wurden13, existierten in den Großstädten wie Berlin oder Hamburg auch einige Lokale, die ausländische Speisen anboten, vor allem österreichische, russische, polnische, italienische und skandinavische, aber
13 Vgl. Keith Allen: Hungrige Metropole. Essen, Wohlfahrt und Kommerz in Berlin. Hamburg 2002.
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auch chinesische Küche.14 Während diese Gaststätten anfangs vornehmlich Landsleute versorgten, die sich im Ausland nach ‚ihrer‘ Küche sehnten, wurden sie nach und nach auch von der nicht-migrantischen deutschen Bevölkerung aufgesucht. Für die Diffusion der ausländischen Gastronomie von den urbanen Zentren in ländlichere Regionen Deutschlands fungierte die italienische Küche als Wegbereiterin.15 Den italienischen Eisdielen, die sich im späten 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts über Zentral- und Westeuropa verbreiteten, folgten die italienischen Restaurants. Zudem war Deutschland bereits um 1900 der Hauptimporteur italienischer Produkte, bevor der deutsch-italienische Nahrungsmittelhandel während des Nationalsozialismus einen neuerlichen Aufschwung nahm.16 Trotz gewisser Kontinuitäten durch das 20. Jahrhundert hindurch lässt sich von einem tatsächlichen Durchbruch der ausländischen Gastronomie erst für die Zeit der Bundesrepublik sprechen, und hier im Grunde erst für die späten 1960er Jahren. Wie bereits zu Beginn des Jahrhunderts war die Etablierung ausländischer Restaurants im Nachkriegsdeutschland zunächst an die Präsenz von Migranten aus anderen Ländern gekoppelt – eine Verbindung, die sich in den letzten Jahren zunehmend gelockert hat.17 Entsprechend war die Küche, die in den meisten ausländischen Spezialitätenrestaurants in der frühen Bundesrepublik angeboten wurde, eine mediterrane, stammte doch das Gros der zwischen 1955 und 1973 angeworbenen Arbeitsmigranten aus dem Mittelmeerraum. Die Konzentration einzelner Ausländergruppen in bestimmten Regionen der Bundesrepublik führte zu korrespondierenden Schwerpunkten auch in der Gastronomielandschaft: Während sich die portugiesische Küche im Grunde nur in Hamburg fest etablieren konnte, wurde und wird die Münchner Restaurantlandschaft weit stärker von italienischen Gaststätten dominiert, nicht zuletzt 14 Walter Tiedemann: Die Italiener in Berlin. In: Die Woche 8 (1906), S. 1492–1495, hier S. 1492. Zu den chinesischen Restaurants in Hamburg siehe Lars Amenda: Fremde – Hafen – Stadt. Chinesische Migration und ihre Wahrnehmung in Hamburg 1897–1972. München/ Hamburg 2006. 15 Zur Entwicklung der ausländischen Gastronomie in (West-)Deutschland siehe Maren Möhring: Ausländische Gastronomie. Migrantische Unternehmensgründungen, neue Konsumorte und die Internationalisierung der Ernährung in der Bundesrepublik Deutschland, unveröff. Habilschrift Köln 2010. 16 Patrick Bernhard: L’Italia nel Piatto. Per una Storia della Cucina e della Gastronomia Italiane in Germania nel XX Secolo. In: Gustoavo Corni and Christof Dipper (Hg.): Italiani in Germania tra Ottocento e Novecento. Spostamenti, Rapporti, Immagini, Influenze. Bologna 2006, S. 263–287, hier S. 264 und S. 271. 17 Zur Debatte, inwieweit die Verbreitung ausländischer Gaststätten direkt mit Migrationsbewegungen gekoppelt war oder nicht, siehe Ulrike Thoms: Sehnsucht nach dem guten Leben. Italienische Küche in Deutschland. In: Ruth E. Mohrmann (Hg.): Essen und Trinken in der Moderne (Beiträge zur Volkskultur in Nordwestdeutschland, Bd. 108). Münster 2006, S. 23– 61, hier S. 47. Veränderungen der bundesdeutschen (Ess-)Kultur
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aufgrund der geographischen Nähe Bayerns zu Italien.18 In Berlin mit seinem hohen Prozentsatz an türkischen Einwohnern lässt sich klar das Zentrum des Dönergewerbes lokalisieren.19 Der anhaltende Boom ausländischer Küche stellt keinen spezifisch bundesdeutschen Trend dar, sondern ist vielmehr ein Merkmal, das alle westlichen Gesellschaften einschließlich Japans kennzeichnet.20 Internationalisierung auf dem Gebiet der Ernährung bezeichnet dabei nicht allein kulinarische Transfers, sondern ist auch als Prozess der quantitativen wie qualitativen Angleichung der Ernährungsgewohnheiten in verschiedenen Ländern zu verstehen.21 In diesem doppelten Sinne lässt sich die Internationalisierung der Ernährung als ein wirtschaftshistorisch wie alltagskulturell relevantes Element der „Westernisierung“22 verstehen, wobei die Kombinationen aus den jeweiligen einheimischen und importierten Küchen zu oftmals nationalspezifischen Hybridgerichten führten. Nationale Differenzen blieben also auch im Prozess der Angleichung der Konsummuster durchaus erhalten.23 18 Zur italienischen Gastronomie in München siehe Patrick Bernhard: La Pizza sul Reno. Per una Storia della Cucina e della Gastronomia Italiane in Germania nel XX Secolo. In: Memoria e Ricerca. Rivista di Storia Contemporanea 23 (2006), S. 62–72. 19 Vgl. Hedwig Rudolph/Felicitas Hillmann: Döner kontra Boulette – Döner und Boulette. Berliner türkischer Herkunft als Arbeitskräfte und Unternehmer im Nahrungsgütersektor. In: Hartmut Häußermann/Ingrid Oswald (Hg.): Zuwanderung und Stadtentwicklung (Leviathan Sonderheft, Bd. 17). Opladen/Wiesbaden 1997, S. 85–105; Maren Möhring: TransLokal. Ausländische Gaststätten in der Bundesrepublik Deutschland. In: traverse 14 (2007) 3, S. 85–96. 20 Zur Geschichte des Außerhausverzehrs in verschiedenen europäischen Ländern siehe Marc Jacobs/Peter Scholliers (Hg.): Eating Out in Europe. Picnics, Gourmet Dining and Snacks since the Late Eighteenth Century. Oxford/New York 2003. Zu den Wachstumsraten im Hotel- und Gaststättengewerbe in der Bundesrepublik siehe DEHOGA (Hg.): Angebots- und Nachfrageveränderungen im Gastgewerbe. Veränderte und differenzierte Betriebsformen als Antwort auf Konsumgewohnheiten (Gastgewerbliche Schriftenreihe, Bd. 50). Bonn-Bad Godesberg 1984. Ein Vergleich des ausländischen Spezialitätenrestaurants in der Bundesrepublik mit den so genannten Nationalitätengaststätten in der DDR wäre aufschlussreich, kann hier aber nicht vorgenommen werden. 21 Vgl. Susanne Köhler: Internationalisierung der Verzehrsgewohnheiten in ausgewählten europäischen Ländern. (Abschlußbericht zum Forschungsvorhaben der DFG). Frankfurt am Main 1993, S. 12. 22 Anselm Doering-Manteuffel: Wie westlich sind die Deutschen? Amerikanisierung und Westernisierung im 20. Jahrhundert. Göttingen 1999. 23 Dies gilt auch für die Häufigkeit des Restaurantbesuchs. Konsumenten in Skandinavien essen generell weniger häufig außer Haus als Westeuropäer, wobei in Schweden deutlich mehr Menschen Restaurants aufsuchen als in Norwegen. Vgl. Virginie Amilien: The Rise of Restaurants in Norway in the Twentieth Century. In: Jacobs/Scholliers: Eating Out, S. 179–193, hier S. 185.
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Wer aber waren die (nicht-migrantischen) Gäste in den ausländischen Spezialitätenrestaurants? Welche Motive bewogen Bundesbürger, ein Restaurant mit ausländischer anstelle deutscher bzw. gutbürgerlicher Küche auszuwählen? Die vornehmlich sozialwissenschaftliche Konsumforschung zur Außerhausverpflegung hat herausgestellt, dass es vor allem städtische und relativ junge Menschen mit oftmals hohen Bildungsabschlüssen waren und sind, die in besonderem Maße ausländische Gastronomieangebote nutzten. Nicht allein die steigenden Realeinkommen, sondern vor allem auch der Wohnort sowie soziokulturelle Faktoren zeichnen für den Erfolg der ausländischen Gastronomie verantwortlich. In ihrer soziologischen Studie über den Restaurantbesuch in Großbritannien haben Alan Warde und Lydia Martens Studierende als eine der wichtigsten Kundengruppen in ausländischen Restaurants ausgemacht. Für diese Gruppe sind vermutlich nicht nur die oftmals niedrigeren Preise in ausländischen Lokalen attraktiv, sondern auch die Vorstellung, kulinarische Abenteuer zu unternehmen und sich selbst als offen und kosmopolitisch zu präsentieren24 – Motive, die von nicht geringer Bedeutung zu sein scheinen, wenn es um den Konsum ‚fremder‘ Speisen geht. Der Besuch in einem ausländischen Spezialitätenrestaurant wie auch das Kochen ‚fremder‘ Gerichte zu Hause entwickelte sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu einem Medium sozialer Distinktion, zu einem effektiven Mittel, um Kultiviertheit, savoir-vivre und eine kosmopolitische Haltung zu demonstrieren. Im Nachkriegsdeutschland mag der Wille, weltoffen zu erscheinen und wieder Teil einer internationalen (Ess-)Kultur zu werden, besonders ausgeprägt gewesen sein.25 Dieter Richter hat in seinem Aufsatz Wie die Deutschen gelernt haben, italienisch zu essen herausgestellt, dass es vielen der bundesdeutschen Konsumenten, die in den italienischen Lokalen der 1960er und 1970er Jahre verkehrten und bei denen es sich zu großen Teilen um der Neuen Linken zuzurechnende Studierende und Intellektuelle
24 Alan Warde/Lydia Martens: Eating Out. Social Differentiation, Consumption and Pleasure. New York 2000. 25 Zu den neuen kosmopolitischen Konsumentenidentitäten im Nachkriegsdeutschland, diskutiert am Beispiel der Rezeption von Coca-Cola, siehe Jeff R. Schutts: Born Again in the Gospel of Refreshment? Coca-Colonization and the Re-Making of Post-war German Identity. In: David Crew (Hg.): Consuming Germany in the Cold War. Oxford/New York 2003, S. 121–150. Vermutlich war auch die Rolle des Konsums in Westdeutschland eine spezifische: Sheryl Kroen etwa unterscheidet zwischen dem britischen Nachkriegskonzept eines „austere, self-abnegating consumer“ und der Idee des „consumer-citizen“ in Westdeutschland, einem Konsumenten also, der als „the basis for a stable and democratic political order on the front line of the Cold War“ fungierte (Sheryl Kroen: Negotiations with the American Way. The Consumer and the Social Contract in Post-war Europe. In: John Brewer/Frank Trentmann (Hg.): Consuming Cultures, Global Perspectives. Historical Trajectories, Transnational Exchanges. Oxford/New York 2006, S. 263). Veränderungen der bundesdeutschen (Ess-)Kultur
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gehandelt habe, sowohl um politische als auch um kulinarische Alternativen ging.26 Diese Konsumentengruppe begriff das eigene Ernährungsverhalten zunehmend als politische Handlung und vollzog mit ihrem Gang zum Italiener (auch) eine kulinarische und alltagskulturelle Abgrenzung von der Elterngeneration, die vielfach am ‚deutschen Sonntagsbraten‘ im familiären Heim oder der gutbürgerlichen Gaststätte festhielt. Eine ähnlich ausführliche Studie über Restaurantbesucher wie diejenige von Martens und Warde liegt für Deutschland nicht vor, aber auch hierzulande sind laut aktuellen Konsumentenbefragungen mehr als 40% aller Gäste in ausländischen Spezialitätenrestaurants (und -imbissen) jünger als 35 Jahre.27 Für die 1950er und 1960er Jahre können derartige Aussagen aufgrund fehlenden Quellenmaterials nicht getroffen werden. Anhand der vom Statistischen Bundesamt vorgenommenen Erhebungen über den privaten Verbrauch lässt sich lediglich zeigen, dass seit den 1950er Jahren zwar der Anteil des für Nahrungsmittel aufgewendeten Einkommens in der Bundesrepublik bei allen erfassten Haushaltstypen kontinuierlich gesunken ist, dass sich gleichzeitig aber der Anteil der Ausgaben für gastronomische Leistungen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts deutlich erhöht hat. Im Zeitraum vom Ende der 1960er bis Ende der 1970er Jahre wuchsen die Ausgaben für die Außerhausverpflegung sogar schneller als die Einkünfte.28 Nachfrageanalysen auf Basis der vom Statistischen Bundesamt durchgeführten Einkommens- und Verbrauchsstichproben, die ab 1973 den Außerhausverzehr gesondert und zunehmend differenziert erfassten, weisen für diesen Bereich 1978 einen Anteil von 21% an allen Ausgaben für Nahrungs- und Genussmittel aus.29 Der entscheidende Durchbruch, der nicht nur den Imbiss-, sondern auch den Restaurantbesuch zur Normalität für breite Schichten der Bevölkerung werden ließ, scheint also erst am Übergang zu den 1970er Jahre erfolgt zu sein. 1957 26 Dieter Richter: Reisen und Schmecken. Wie die Deutschen gelernt haben, italienisch zu essen. In: Voyage. Jahrbuch für Reise- & Tourismusforschung (2002), S. 17–29, hier S. 27. 27 Zentrale Markt- und Preisberichtstelle für Erzeugnisse der Land-, Forst- und Ernährungswirtschaft (ZMP) (Hg.): Essen außer Haus 2000. Bonn 2001, S. 22. 28 Vgl. Alfred Reckendrees: Konsummuster im Wandel. Haushaltsbudgets und Privater Verbrauch in der Bundesrepublik 1952–98. In: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte/Economic History Yearbook 2 (2007), S. 29–61, hier S. 43. 29 Vgl. Ulrich Schückhaus: Die systematisierte Gastronomie. Ein Vergleich der Entwicklung in den USA und in der Bundesrepublik Deutschland (Sonderhefte der Mitteilungen des Instituts für Handelsforschung an der Universität zu Köln; 34). Göttingen 1987, S. 71. In den USA war bereits 1948 schätzungsweise etwa ein Viertel dieser Ausgaben für die Außerhausverpflegung aufgewendet worden, so William Foote Whyte: Human Relations in the Restaurant Industry. New York/Toronto/London 1948, S. 5. Zum Aufbau, den Veränderungen und Problemen der Einkommens- und Verbraucherstichproben siehe Kurt Gedrich/Monika Albrecht: Datenrecherche der Entwicklung der Haushaltsausgaben für Ernährung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts (Materialienband; 3). Freising-Weihenstephan 2003, S. 13f.
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hatten bei einer Umfrage des Allensbacher Instituts für Meinungsforschung nur 17% der befragten Männer und Frauen angegeben, dass sie am Wochenende bzw. in ihrer Freizeit ein Café, Restaurant oder Weinlokal aufsuchten; der Gang ins Kino rangierte mit 37% noch deutlich vor dem Gaststättenbesuch.30 Das Interesse am Restaurantbesuch als einer bedeutsamen sozialen und kulturellen Praxis und an der ausländischen Gastronomie im Besonderen lässt sich als Teil eines gesellschaftlichen Trends verstehen, der in den Sozial- wie den Geschichtswissenschaften als zunehmende Orientierung am Konsum einerseits und an postmateriellen Werten wie Selbstverwirklichung und Genuss andererseits beschrieben worden ist. Nachdem die Kargheit der unmittelbaren Nachkriegsjahre in Westdeutschland überwunden war, verbesserte der wirtschaftliche Aufschwung die materielle Situation aller sozialen Schichten in einem zuvor unbekannten Ausmaß. Begleitet wurde diese Entwicklung – so die These vom postindustriellen „Bedürfnis- und Wertewandel“31 – von einem soziokulturellen Transformationsprozess, der in den späten 1950er Jahren einsetzte, aber in vollem Umfang erst in den 1960er und 1970er Jahren zu spüren war, als „die Gesellschaft als Ganzes die gewandelten materiellen Verhältnisse wahrnahm, ihre Bedeutungen aushandelte und allmählich Konventionen für ihre sprachliche und praktische Handhabung fand“, wie Detlef Siegfried in seiner Studie über Jugendkultur, Politik und Konsum in der Bundesrepublik herausgestellt hat.32 Mit besagtem Wandel der Einstellungen und Werte haben sich die Sozialwissenschaften schon frühzeitig beschäftigt und ihn auf unterschiedliche Weise interpretiert. Während der US-amerikanische Soziologe Ronald Inglehart 1977 eine kontinuierliche, lineare Verschiebung hin zu postmateriellen Werten als positive Entwicklung charakterisierte, sprach die deutsche Meinungsforscherin Elisabeth Noelle-Neumann 1978 von einem Niedergang bürgerlicher Werte und Tugenden und einem beklagenswerten Trend hin zum Hedonismus.33 Der deutsche Soziologe Helmut Klages ging davon aus, dass es vor allem junge Menschen und insbesondere die gut ausgebildeten unter ihnen waren, die diese Transformationen anstießen.34 Anstatt nun diese zeitgenössischen sozialwissenschaftlichen Diagnosen als historische Tatsachen zu betrachten und sie als solche zur Strukturierung des historio30 Vgl. Jahrbuch der öffentlichen Meinung, 1958–1964. Allensbach 1965, S. 387. 31 Hans Günter Hockerts: Einführung. In: ders. (Hg.): Koordinaten deutscher Geschichte in der Epoche des Ost-West-Konflikts. München 2004, S. VII-XV, hier S. XI. 32 Detlef Siegfried: Time is on My Side. Konsum und Politik in der westdeutschen Jugendkultur der 60er Jahre. Göttingen 2006, S. 53. Siehe auch seinen Beitrag in diesem Band. 33 Ronald Inglehart: The Silent Revolution. Changing Values and Political Styles Among Western Publics. Princeton 1977; Elisabeth Noelle-Neumann: Werden wir alle Proletarier? Wertewandel in unserer Gesellschaft. Zürich 1978. 34 Vgl. Helmut Klages: Traditionsbruch als Herausforderung. Perspektiven der Wertewandels gesellschaft. Frankfurt am Main 1993. Veränderungen der bundesdeutschen (Ess-)Kultur
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graphischen Narrativs zu nutzen – wie es angesichts noch fehlender zeithistorischer Deutungsmuster vielfach geschieht35 – erscheint es mir sinnvoll, die entsprechenden soziologischen Konzeptualisierungen vor allem als Quellentexte zu lesen, die uns viel über die Selbstverständigungsversuche (nicht nur) in der Bundesrepublik in den 1960er und 1970er Jahren sagen können. Begriffe wie Wertewandel und Lebensstilrevolution sind demnach als reflexive Beschreibungen eines erlebten Transformationsprozesses zu verstehen, der benannt und damit sichtbar gemacht wurde und dessen Emergenz von seiner Konzeptualisierung nur schwer zu trennen ist – zumal aus der Perspektive der Geschichtswissenschaft.36 Bereits 1970 wurde die zunehmende Außerhausverpflegung als „neuer Lebensstil“ verhandelt, der sich in den USA längst durchgesetzt habe und nun auch in der Bundesrepublik Fuß fasse.37 Derartige Feststellungen wie auch die in den 1970er Jahren verstärkt einsetzenden Umfragen zur Freizeitgestaltung im Allgemeinen und zur Gaststättennutzung im Besonderen verschafften einer Praxis wie dem Restaurantbesuch zunehmende mediale Aufmerksamkeit, boten Anlass für entsprechende Selbststilisierungen und fungierten letztlich als Verstärker für eben jene Praktiken, die als wünschenswert präsentiert wurden. Erhebungen über Häufigkeit und Art des Restaurantbesuchs setzten Normalitätsstandards im Hinblick auf diese Praxis, denen die Befragten aus unterschiedlichen – und nicht ermittelten – Gründen (nicht) nachkommen wollten. Gerade die Marktforschung, die Daten über den Außerhausverzehr sammelt, um Orientierungshilfen für die kommerziellen Entscheidungen der Anbieter zu generieren, hat einen bedeutenden Anteil nicht nur an der Bekanntmachung, sondern auch an der Produktion neuer Konsumtrends. Diese Dimension gilt es im Blick zu behalten, wenn von einem umfassenden Bedürfniswandel die Rede ist. Neben dem Besuch eines (ausländischen) Restaurants lässt sich der Tourismus als weiteres Feld herausgreifen, das sowohl vom Wohlstand der westdeutschen Bevölkerung als auch von den skizzierten Konsumwünschen und -erwartungen erheblich profitierte. Interessanterweise wurde das Wachstum der Tourismusindustrie nicht einmal durch die ökonomische Rezession im Gefolge der Ölkrise signifikant gedrosselt. Nach einem kurzfristigen Rückgang der Touristenzahlen aufgrund der erhöhten 35 Auf diese Problematik weisen Anselm Doering-Manteuffel/Lutz Raphael: Nach dem Boom. Perspektiven auf die Zeitgeschichte seit 1970. Göttingen 2008, S. 131, Anm. 18, hin. 36 Aus den genannten Gründen wäre eine diskursanalytische Perspektive auf den Wertewandel angezeigt, der eher als Analysegegenstand denn als Analyseinstrument zu behandeln wäre, wie bereits Pascal Eitler herausgestellt hat. Vgl. Pascal Eitler: Körper − Kosmos − Kybernetik. Transformationen der Religion im „New Age“ (Westdeutschland 1970−1990). In: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History, Online-Ausgabe, 4/1–2 (2007), URL: http://www.zeithistorische-forschungen.de/16126041-Eitler–2–2007. 37 Ein neuer Lebensstil. Die Verpflegung außer Haus. In: Neue Gastronomische Zeitschrift 23 (1970) 22, S. 24.
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Ölpreise reisten die Westdeutschen mehr als je zuvor: Von 1970 bis 1979 steigerte sich die Zahl der Urlaubsreisen um 50%. Dieser Vorgang, der vielfach als Demokratisierung des Reisens beschrieben worden ist, spiegele, so Anselm Doering-Manteuffel, die strukturellen Wandlungen des Arbeitsmarktes und zeige den Tod des traditionellen Typs des „Malochers“ an.38 Es ist jedoch alles andere als klar, ob ‚der traditionelle Arbeiter‘ wirklich völlig verschwand oder ob er nicht vielmehr ersetzt wurde vom migrantischen Arbeiter, der nun die schmutzigen und gefährlichen Tätigkeiten übernahm. Inwiefern eine migrantische Perspektive nicht nur auf die ökonomischen, sondern auch die soziokulturellen Transformationen in der Bundesrepublik lediglich zu einer weiteren, das Bild vervollständigenden Geschichte dieser gesellschaftlichen Wandlungsprozesse führt oder ob dieser Blickwechsel nicht vielmehr eine grundsätzliche Problematisierung der bisherigen Narrative zur bundesdeutschen Geschichte impliziert, stellt eine noch offene Forschungsfrage dar. Im Folgenden möchte ich einen Aspekt der Migrationsgeschichte aufgreifen, der in den öffentlichen wie wissenschaftlichen Debatten kaum diskutiert, aber für die ausländische Gastronomie in der Bundesrepublik von größter Bedeutung war, nämlich die Bedürfnisprüfung im Gastgewerbe. Diese beinhaltet, dass eine Gaststätte nur dann eröffnet werden darf, wenn ein besonderes örtliches Bedürfnis der lokalen Bevölkerung für ein neues Restaurant oder einen neuen Imbiss von behördlicher Seite anerkannt wird. Das wirtschaftspolitische Kontrollinstrument der Bedürfnisprüfung, mittels derer sich die Entwicklung des Gastgewerbes regulieren lässt, war für deutsche Gastronomen entweder 1945 (in der US-amerikanischen Besatzungszone) oder spätestens 1958 abgeschafft worden, fand aber über den Umweg des Aufenthaltsrechts noch Anwendung bei Ausländern, die als ,Gastarbeiter‘ und damit abhängig Beschäftigte in die Bundesrepublik gekommen waren, folglich nur über einen entsprechenden Aufenthaltstitel verfügten und sich dennoch im Gastgewerbe selbständig machen wollten.
Migrantische Unternehmen im Gastgewerbe der Bundesrepublik: Illiberale Kontinuitäten im Ausländerrecht Die wirtschaftliche Restrukturierung im Zuge der Ölkrise hatte besonders negative Auswirkungen für die ,Gastarbeiter‘, deren Arbeitslosenquote überproportional in die Höhe schnellte. Die Ausländer aus den so genannten Drittstaaten – und das heißt bis in die 1980er Jahre hinein alle Arbeitsmigranten mit Ausnahme der Italiener – liefen Gefahr, ihre Aufenthaltsgenehmigungen nicht verlängern zu können, sollten 38 Anselm Doering-Manteuffel: Nach dem Boom. Brüche und Kontinuitäten der Industriemoderne seit 1970. In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 4 (2007), S. 359–381, hier S. 371. Veränderungen der bundesdeutschen (Ess-)Kultur
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sie nach Auslaufen ihrer Arbeitslosenunterstützung auf Sozialhilfe angewiesen sein. Ein eigenes Geschäft oder ein eigenes Lokal zu eröffnen, stellte oftmals die einzige Möglichkeit dar, den Lebensunterhalt zu sichern, und zwar nicht nur für sich selbst, sondern auch für nachziehende Angehörige, die im Zuge der Familienzusammenführung in die Bundesrepublik kamen – neben dem Asylgesuch die einzig verbliebene legale Möglichkeit der Einreise nach dem Anwerbestopp vom November 1973.39 In dieser besonderen ökonomischen und rechtlichen Situation mag einer der Hauptgründe für den Auftrieb der migrantischen Ökonomie in den 1970er und besonders den 1980er Jahren gelegen haben, als die Suche der ,Gastarbeiter‘ nach neuen Formen der (selbständigen) Beschäftigung auf die skizzierten neuen Konsumtrends in der nicht-migrantischen deutschen Bevölkerung stieß. Die Migranten gründeten ihre Unternehmen oft in innerstädtischen Quartieren, die für deutsche Gewerbetreibende nicht (mehr) attraktiv waren, und die meisten dieser Unternehmen waren in der Lebensmittelbranche angesiedelt, also in einem konjunkturabhängigen und arbeitsintensiven Sektor, der eine hohe Fluktuation aufweist.40 Während in Ländern wie den USA die Selbständigkeit von Migranten durch die Ideologie des freien Unternehmertums und den Mythos des self-made man Unterstützung erfährt, ist in der Bundesrepublik, die sich bis vor kurzem dezidiert nicht als Einwanderungsland verstand, die Geschichte der migrantischen Ökonomie eine vollkommen andere.41 Der prekäre legale Status von Migranten und wirtschaftliche Lenkungsinstrumente wie die Bedürfnisprüfung haben hierzulande die selbständige Erwerbstätigkeit gerade von Ausländern stark behindert. Bis 2005 benötigten Migranten, die sich nicht seit mindestens acht bzw. fünf Jahren (wenn sie mit einem oder einer Deutschen verheiratet waren) in der Bundesrepublik aufhielten, so genannte Strohmänner, um sich selbständig zu machen. Erst nach fünf bzw. acht Jahren konnten Ausländer eine Aufenthaltsberechtigung erhalten, die sie rechtlich mit deutschen 39 Zur Geschichte des Anwerbestopps siehe Karen Schönwälder: The Difficult Task of Managing Migration. The 1973 Recruitment Stop. In: Neil Gregor/Nils Roemer/Mark Roseman (Hg.): German History from the Margins. Bloomington/Indianapolis 2006, S. 252–267; Ulrich Herbert: Geschichte der Ausländerpolitik in Deutschland. Saisonarbeiter, Zwangsarbeiter, Gastarbeiter, Flüchtlinge. München 2001, S. 223ff. 40 Darüber hinaus waren die meisten dieser Betriebe sehr klein und verfügten neben dem Besitzer lediglich über eine oder keine weitere Arbeitskraft. Vgl. Felicitas Hillmann/Hedwig Rudolph: Redistributing the Cake? Ethnicisation Processes in the Berlin Food Sector (Discussion Paper FS I 97–101). Berlin 1997, S. 96f. 41 Vgl. Dorothea Schmidt: Unternehmertum und Ethnizität – ein seltsames Paar. In: Prokla. Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaft 30 (2000) 3, S. 335–362, hier S. 339. Migrantische Unternehmen werden häufig als ethnic business charakterisiert – ein Begriff, der nur mit Vorsicht zu benutzen ist (vgl. Maren Möhring: Foreign Cuisine in West Germany. A Research Report. In: Bulletin of the GHI Washington 41 (2007), S. 79–99, hier S. 82f.).
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Staatsbürgern weitgehend gleichstellte.42 Den ,Gastarbeitern‘ wurde aber, wenn sie in die Bundesrepublik kamen, in der Regel nur eine befristete Aufenthaltserlaubnis erteilt, die explizit eine selbständige Erwerbstätigkeit verbot. Wollten sie ein Unternehmen gründen, mussten sie diesen Vermerk aus ihren Aufenthaltspapieren entfernen lassen. Die Entscheidung darüber lag bei der Ausländerbehörde, die über einen weiten Ermessensspielraum verfügte.43 In ihre Entscheidungsfindung bezog die Ausländerbehörde die Meinung des zuständigen Gewerbeamtes ein, das wiederum mit der Industrie- und Handelskammer sowie den Organisationen des Hotel- und Gaststättengewerbes kooperierte. Wenn diese Institutionen ein Bedürfnis für ein neues Lokal anerkannten, konnte der ausländische Antragsteller die Erlaubnis erhalten, ein Restaurant oder einen Imbiss selbständig zu betreiben. Die Bedürfnisprüfung stellt damit ein Steuerungsinstrument dar, mit dem seit den späten 1950er Jahren lediglich noch die Entwicklung des ausländischen Gastgewerbes in der Bundesrepublik reguliert werden kann, das aber auf eine lange Geschichte in Deutschland zurückblickt und sich in die Tradition der zünftigen Wahrung des so genannten Nahrungsstandes stellen lässt. Mit der Einführung der Gewerbefreiheit nach der Reichsgründung 1871 wurde eine Bedürfnisprüfung zunächst nur noch im Falle von Branntweinschenken durchgeführt. Nach dem Ersten Weltkrieg jedoch wurde sie mit dem Notgesetz von 1923 wieder eingeführt, um auf diese Weise die Zahl der Alkohol ausschenkenden Gaststätten zu beschränken.44 Im nationalsozialistischen Deutschland schließlich wurde die Bedürfnisprüfung als explizit wirtschaftspolitisches Steuerungsinstrument angewandt, um das Gastgewerbe nach politischen Maßgaben zu regulieren. 1945 wurde in der amerikanisch besetzten Zone dann die völlige Gewerbefreiheit verkündet45, in der britischen Zone hingegen wurden einige Zulassungsbeschränkungen beibehalten. Alles in allem war die rechtliche Situation (nicht nur) im Gastgewerbe in den ersten Nachkriegsjahren und der frühen Bundesrepublik uneinheitlich und vielfach unklar. 42 Zu Beginn der 1980er Jahre lebte ein großer Teil der Migranten seit acht oder mehr Jahren in der Bundesrepublik und benötigte daher keinen Strohmann mehr. Vgl. Jochen Blaschke/ Ahmet Ersöz: The Turkish Economy in West Berlin. In: International Small Business Journal 4 (1985) 3, S. 38–45, hier S. 40. 43 Die im Ausländergesetz eingeräumten weiten Ermessensspielräume trugen ihm im Laufe der späten 1960er und 1970er Jahre zunehmend den „Ruf der Unberechenbarkeit“ ein (Maria Borris: Ausländische Arbeiter in einer Großstadt. Eine empirische Untersuchung am Beispiel Frankfurt. Unter Mitarb. v. Peter Raschke u. Gerhard Hofmann. Frankfurt am Main 21974, S. 249). 44 Notgesetz v. 24.2.1923 (RGBl. I S. 147). 45 Vgl. Wilhelm Reuss: Die Gewerbefreiheit. Eine kritische Studie über deutsche und amerikanische Auffassungen zur Neuregelung, mit Text-Abdruck der wichtigsten US-Direktiven und der deutschen Gesetzesvorlagen, Stuttgart 1949. Veränderungen der bundesdeutschen (Ess-)Kultur
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Umstritten war etwa, welche Teile des Gaststättengesetzes noch Gültigkeit beanspruchen konnten und welche dem Paragraphen 12 des Grundgesetzes, der die Berufsfreiheit garantiert, widersprachen. In Hamburg beispielsweise kam die Bedürfnisprüfung seit Anfang der 1950er Jahre nicht mehr zur Anwendung, während sie in anderen Ländern der britischen Besatzungszone noch durchgeführt wurde. Erst mit dem (zweiten) Grundsatzurteil des Bundesverfassungsgerichts im Jahre 1958 wurde die Bedürfnisprüfung endgültig für unvereinbar mit dem Grundgesetz erklärt.46 Das neue Gaststättengesetz vom Mai 197047 schließlich schaffte die Bedürfnisprüfung auch für Ausländer ab. Als ,Gastarbeiter‘ in die Bundesrepublik gekommene Migranten mussten sich jedoch, wenn sie einen Antrag auf Löschung des in ihren Aufenthaltspapieren enthaltenen Verbots einer selbständigen Tätigkeit stellten, weiterhin ein besonderes lokales Bedürfnis oder aber ein übergeordnetes wirtschaftliches Interesse (der Bundesrepublik) für den geplanten Gaststättenbetrieb bestätigen lassen, durchliefen also eine Bedürfnisprüfung, die nun jedoch nicht mehr nach dem Gaststätten-, sondern nach dem Ausländerrecht erfolgte. Die ausländischen Antragsteller erhielten meist dann eine Genehmigung, wenn z. B. ein Migrant aus Jugoslawien ein Restaurant mit jugoslawischen Spezialitäten eröffnen wollte. In solchen Fällen wurde ein besonderes örtliches Bedürfnis aufgrund der Annahme anerkannt, dass der Betreiber seinen Landsleuten die ihnen vertraute Küche bot, was man den in der Bundesrepublik lebenden Ausländern als gerechtfertigte Fortführung kultureller Traditionen zugestand. Ein solches örtliches Bedürfnis hing also von der Zahl der Migranten aus einem bestimmten Land in der für den Betrieb anvisierten Gegend ab, ließ sich aber auch mit dem Interesse der deutschen Bevölkerung sowie mit der Zahl der Touristen begründen, die die Gegend frequentierten und denen eine breite Palette an unterschiedlichen Gastronomieangeboten zur Verfügung stehen sollte.48 In anderen Fällen hingegen, in denen jugoslawische Migranten Restaurants mit deutscher oder nicht näher spezifizierter Küche eröffnen wollten, konnte ein Bedürfnis mit der Begründung verneint werden, dass kein Bedarf an einer neuen Gaststätte bestünde.49 Migrantischen Gastronomen standen also nur bestimmte Nischen offen; sie wurden von behördlicher Seite mehr oder weniger auf ihre ‚Heimatküchen‘ festgelegt, so dass man von einer Ethnisierung des Gastgewerbes 46 Lothar Müller: Das neue Gaststättenrecht. In: Gewerbearchiv 16 (1970) 11, S. 241–244, hier S. 242. 47 Gaststättengesetz v. 5.5.1970 (BGBl. I S. 465). 48 Beziehungen bestanden damit auch zwischen der ausländischen Gastronomie und dem Fremdenverkehr nach bzw. innerhalb Deutschlands, wurde die ausländische Gastronomie doch zunehmend als touristisch relevanter Standortfaktor begriffen. 49 Siehe „Erteilung oder Versagung der Aufenthaltserlaubnis zur selbständigen Gewerbeausübung durch Ausländer im Gaststättengewerbe, 1974“, Landesarchiv Berlin B Rep. 010, Nr. 1896/2, Bd. 1–2.
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qua Bedürfnisprüfung sprechen kann. Doch auch wenn Migranten eine Gaststätte mit ‚ihrer‘ Küche betreiben wollten, lag die Entscheidung darüber allein im behördlichen Ermessen. 1968 etwa wollte ein seit sechs Jahren in der Bundesrepublik lebender Inder ein indisches Restaurant in Konstanz aufmachen; er begründete sein Anliegen damit, dass auf diese Weise „die Kette der Spezialitäten-Restaurants in Konstanz eine interessante Bereicherung“ erführe.50 Das Ordnungsamt teilte ihm jedoch mit, dass „ein Bedürfnis für ein derartiges Spezialitätenrestaurant“ nicht bestehe und Konstanz mit Gaststätten „weit übersetzt“ sei.51 Während der Antragsteller seine wirtschaftlichen Interessen mit einem Bedürfnis nach kulinarischer Vielfalt zu legitimieren suchte und dabei auf die ‚exotische‘ Nische und die Kommerzialisierung kultureller Differenz setzte, wies die Behörde ein solches Bedürfnis mit Blick auf die Interessen der Hotel- und Gaststättenverbände und ihrer Mitglieder zurück. Dass es nicht zuletzt die Angst vor zunehmender ausländischer Konkurrenz war, die viele behördliche Entscheidungen bestimmte, machen Äußerungen wie diejenige des Konstanzer Gewerbeamtes 1973 deutlich, dass angesichts der „Übersetzung“ des örtlichen Gastgewerbes „außer Personen aus EWG-Staaten nicht auch andere Ausländer noch Berücksichtigung finden sollten“.52 Konnten italienische Staatsangehörige dank der im November 1968 in Kraft getretenen Freizügigkeit innerhalb der europäischen Wirtschaftsgemeinschaft53 zu diesem Zeitpunkt bereits völlig problemlos Gaststättenbetriebe eröffnen, so lassen die Akten über Gewerbeanträge anderer Migrantengruppen die verbreitete Sorge erkennen, bei einer großzügigeren Handhabung dieser Anträge zahllose neue ausländische Gaststätten entstehen zu sehen. Ausdrücklich formuliert ist diese Angst in einem Schreiben des Stadtsyndikus von Pforzheim an das Rechtsamt der Stadt Konstanz vom Mai 1970, in dem es um die gerichtliche Auseinandersetzung im Zusammenhang mit dem Antrag eines 49-jährigen Spaniers geht, der seit fast zehn Jahren in und bei Pforzheim gearbeitet hatte. Der Antragsteller war ein knappes Jahr als Betreuer in dem von der Caritas betriebenen Centro für (spanische) Arbeitsmigranten tätig gewesen, bevor ihm der Mietvertrag 50 Shyamal Mukerjee an den Oberbürgermeister der Stadt Konstanz, 13.8.1968, Stadtarchiv Konstanz StAK Abt. S XI/3117. 51 Amt für öffentliche Ordnung, 4.9.1968, StAK Abt. S XI/3117. Die Übersetzung, welche die „Überfüllung“ eines Gewerbezweiges bezeichnet, die zu einem „übermäßig scharfen Wettbewerb“ der einzelnen Unternehmen führe (Der große Brockhaus. Bd. 11. Wiesbaden 161957, S. 714), ist ein durchaus widersprüchliches Konzept und kommentiert sowohl die Angebotswie die Nachfrageseite. Es verweist auf ein ‚übersteigertes‘ Angebot und rekurriert damit immer auf eine – implizit bleibende – Norm, d. h. ein als ‚normal‘ erachtetes Angebot, das erfahrungsgemäß nachgefragt wird. 52 Stadt Konstanz, Rechts- und Ordnungsamt (Gewerbeabteilung), an das Landratsamt (Ausländeramt), 17.9.1973, StAK Abt. S XI, Fasc. 3117. 53 EWG-Verordnung Nr. 1612/68 v. 15.10.1968. Veränderungen der bundesdeutschen (Ess-)Kultur
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gekündigt worden war, und wollte nun ein spanisches Lokal eröffnen, das „in erster Linie den Bedürfnissen seiner spanischen Landsleute in Pforzheim dienen“, „aber auch deutschen Gästen offen stehen“ sollte.54 Das zuständige Amt für öffentliche Ordnung hatte seinen Antrag abgelehnt, war aber vom Verwaltungsgericht Karlsruhe im März 1970 dazu verpflichtet worden, die notwendige Aufenthaltserlaubnis zur Eröffnung einer Gaststätte auszustellen. Gegen dieses Urteil, so der Stadtsyndikus, wolle man nun Berufung einlegen. Denn: „Falls das Urteil rechtskräftig werden sollte, müssen wir damit rechnen, dass auch zahlreiche andere Gastarbeiter, die nicht EWGStaatsangehörige sind, Anträge auf Errichtung eines selbständigen Gewerbebetriebs stellen werden.“55 Die im Zuge des europäischen Einigungsprozesses notwendig gewordenen rechtlichen Erleichterungen für Ausländer aus EWG-Staaten, die nun weitgehend ungehindert unselbständigen wie selbständigen Tätigkeiten in der Bundesrepublik nachgehen konnten, führten mitunter zu umso massiveren Gegenreaktionen seitens der Gaststättenverbände und vieler Gewerbe- und Ordnungsämter, wenn sie Anträge von Drittstaaten-Ausländern begutachteten. Die mit der Freizügigkeit innerhalb der EWG verbundene Liberalisierung bei der Zulassung zum Gastgewerbe stieß keineswegs auf einhellige Zustimmung; vielmehr wurde mit den verbleibenden Mitteln versucht, zumindest die übrige ausländische Konkurrenz einzudämmen. Die Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung war eines der zu diesem Zwecke häufig vorgetragenen Argumente, sei in ausländischen Gaststätten doch „die ordnungsgemäße Führung durch Sprachschwierigkeiten und mangelnde Kenntnisse auf dem Gebiete der Lebensmittelhygiene nicht gewährleistet“.56 Anders als in anderen Bereichen der bundesdeutschen Gesellschaft blieb auf dem Gebiet der Gewerbeerlaubnis für Ausländer auch noch in den 1970er Jahren das individuelle Interesse des Antragstellers dem ‚Schutz der Gesellschaft‘ untergeordnet. Diese sicherheitspolitischen Leitlinien dienten gemeinsam mit den im engeren Sinne wirtschaftspolitischen Maximen als Orientierungshilfe bei der Begutachtung der Gewerbeanträge von Migranten. So flankierte das Gewerbeamt Konstanz seine ablehnende Haltung 1970 mit der Begründung, dass in der Bundesrepublik generell nur ein Bedarf an unselbständigen ausländischen Ar54 Stadtsyndikus Rauch, Rechtsamt Pforzheim, an die Stadt Konstanz, Rechtsamt/Ordnungsamt, 14.5.1970, Bezug: Urteil Verwaltungsgericht Karlsruhe v. 12.3.1970, StAK Abt. S XI, Fasc. 3117. 55 Genau dieser Einschätzung hatte das Karlsruher Urteil widersprochen, würden die „Erfahrungen nach Herstellung der Freizügigkeit für Staatsangehörige der Mitgliedsstaaten der EWG“ doch lehren, dass eine drastische Zunahme der Anzahl an ausländischen Gaststätten nicht zu erwarten sei: „[N]ur ein kleiner Teil der in Deutschland lebenden Italiener“ würde eine selbständige Erwerbstätigkeit ausüben. Vgl. ebd. 56 Vgl. Rechts- und Ordnungsamt (Gewerbeabteilung) an das Landratsamt (Ausländeramt), 17.9.1973, StAK Abt. S XI, Fasc. 3117.
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beitskräften bestehe und ein „Überwechseln ausländischer Arbeitnehmer in selbständige Erwerbstätigkeiten“ daher „fremdenpolitisch unerwünscht“ sei.57 Diese Ansicht, die auch den entsprechenden Urteilen des Bundesverwaltungsgerichts zum Sperrvermerk in den Aufenthaltspapieren von ,Gastarbeitern‘ zugrunde lag und festschrieb, dass ein öffentliches Interesse der Bundesrepublik existiere, den langfristigen Aufenthalt von Ausländern im Land möglichst zu verhindern, blieb jedoch nicht unumstritten. Anfang der 1970er Jahre mehrten sich die Stimmen von Juristen, die befanden, dass diese Haltung im Widerspruch zu der seitens der Bundesregierung als liberal deklarierten Ausländergesetzgebung stehe. Sie forderten eine verstärkte Berücksichtigung der von Ausländern für die bundesdeutsche Wirtschaft erbrachten Leistungen und ihrer hierzulande eingegangenen menschlichen Bindungen, insbesondere nach langjährigem Aufenthalt in der Bundesrepublik, sowie eine (stärkere) Entkopplung der Fragen von Immigration und Sicherheit.58 Für konservative Juristen und Politiker hingegen gründete die Ausländergesetzgebung auch weiterhin prinzipiell auf dem Vorrang der „eigenen“ Interessen vor „Ausländer-Interessen“59 und damit auf einem umfassenden Inländerprimat. Statt eine Begrenzung des Ermessensspielraums der Behörden zu fordern, betrachteten die Vertreter dieser zweiten Position die Ansicht, dass die Verwaltung einen großen Spielraum benötige, damit das Ausländergesetz als „Instrument zur Regulierung des Ausländerstroms“ tauglich bliebe.60 Auch wenn sich seit Ende der 1960er Jahre langsam ein Umdenken in der bundesdeutschen Ausländerpolitik abzuzeichnen begann und zudem erhebliche regionale Differenzen bei der Umsetzung des Ausländerrechts bestanden, so hielten Bund und Länder im Hinblick auf die selbständige Erwerbstätigkeit von Drittstaaten-Ausländern an einem weitgehend restriktiven Kurs fest. Noch 1989 wurde im Falle eines Inders, der in Hamburg-Altona eine Gaststätte leiten wollte, als „ermessenssteuernde Richtlinie“ das Ziel genannt, „die nicht unbegrenzten Möglichkeiten selbständiger Erwerbstätigkeit außer den Deutschen weitgehend solchen Ausländern vorzubehalten, denen gegenüber die Bundesrepublik verpflichtet ist, die Ausübung einer selb-
57 Rechtsamt der Stadtverwaltung Pforzheim an das Rechtsamt/Ordnungsamt der Stadt Konstanz, 14.5.1970. StAK Abt. S XI/3117. 58 Vgl. etwa Helmut Rittstieg: Grenzen ausländerbehördlichen Ermessens. In: Juristenzeitung 26 (1971), S. 113–118, hier S. 115f. Kritisiert wurde in diesem Zusammenhang auch, dass in einigen Bundesländern (wie Berlin) noch immer die Behörden der Exekutivpolizei für die ausländerrechtlichen Entscheidungen zuständig waren; auf diese Weise würde der Eindruck entstehen, dass Ausländer generell eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung darstellten. Vgl. ebd., S. 118. 59 Hans-Joachim Rose: Ausländerrecht in Grenzen oder grenzenloses Ausländerrecht? In: Juristenzeitung 26 (1971), S. 721–725, hier S. 723. 60 Rose: Ausländerrecht, S. 722f. Veränderungen der bundesdeutschen (Ess-)Kultur
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ständigen Erwerbstätigkeit zu gestatten oder zu erleichtern.“61 Gegen ablehnende Bescheide wie diese protestierten viele der nicht-deutschen Antragsteller; sie waren vor Gericht allerdings nur selten erfolgreich.62 Im Folgenden wird es nun um die in rechtlicher Hinsicht privilegierten Migranten aus Italien gehen, die nicht zuletzt aufgrund der ihnen im Rahmen ihrer EWG-Mitgliedschaft zustehenden Freizügigkeit (und der vielfach großzügigeren Behandlung von Anträgen italienischer Staatsangehöriger bereits im Vorfeld dieser Regelung) das ausländische Gastgewerbe in der Bundesrepublik frühzeitig zu dominieren begannen, zumal es sich bei ihnen um die erste und bis Anfang der 1970er Jahre größte Gruppe unter den angeworbenen Arbeitsmigranten handelte. Diese herausgehobene Stellung verdankten die italienischen Gastronomen darüber hinaus auch dem Umstand, dass die italienische Küche im Vergleich zu anderen ,Gastarbeiterküchen‘ bereits auf eine längere Tradition in Deutschland zurückblicken konnte, und italienische Restaurateure zudem zwischen 1933 und 1943 im Gegensatz zu anderen ausländischen (und vor allem jüdischen) Gaststättenbetreibern kaum Verfolgungsmaßnahmen ausgesetzt waren.
Das italienische Gastgewerbe in der Bundesrepublik: Italianisierung des Konsums und der Konsumenten? Wenn man von der italienischen Gastronomie in den ersten Nachkriegsjahren spricht, kann man dies im Grunde nur unter Einbeziehung der italienischen Eisdielen tun. Viele von diesen waren, wie gesagt, bereits am Ende des 19. Jahrhunderts oder in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts errichtet worden, und insbesondere die 1930er Jahre erwiesen sich aufgrund der faschistisch-nationalsozialistischen Wirtschaftskoopera61 Vorlage vom 8.11.1989, Staatsarchiv Hamburg, 445–1 Bezirksamt Altona, Ablieferung 4.11.99, lfd. Nr. 98/99 Paket 22, AZ: 70.80–2 Band 2. Der indische Staatsangehörige war erst seit März 1987 im Besitz einer auf drei Jahre befristeten Aufenthaltserlaubnis, die ihm nach seiner Eheschließung mit einer Deutschen erteilt worden war. 62 Die meisten Ausländer, die vor Gericht gingen, versuchten, auf der Basis zwischenstaatlicher Verträge zwischen ihren Herkunftsländern und der Bundesrepublik einen Rechtsanspruch auf eine auflagenfreie Aufenthaltserlaubnis einzuklagen. Die Verwaltungsgerichte und schließlich das Bundesverwaltungsgericht entschieden jedoch, dass sich ein solcher Rechtsanspruch aus den jeweiligen Niederlassungsabkommen nicht ableiten lasse. Vgl. etwa Urteil des BVerwG vom 18.12.1969 (GewArch 1970/113); Beschluss des BVerwG vom 16.6.1970 (GewArch 1971/141); Urteil des BVerwG vom 20.8.1970 (GewArch 1971/19); Urteil des BVerwG vom 27.9.1978 (BVerwGE 56/254; DVBL. 1979/585). Zur insgesamt restriktiven Auslegung der zwischenstaatlichen Niederlassungsverträge in der internationalen Rechtspraxis siehe Kay Heilbronner: Ausländerrecht. Ein Handbuch. Heidelberg 1984, A II 45, 37.
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tion als günstig für das italienische Eisgewerbe in Deutschland.63 Im Gegensatz zu anderen Italienern blieb zahlreichen gelatieri nach dem Zusammenbruch des faschistischen Regimes 1943 die Internierung erspart. Viele der in Deutschland ansässigen Eismacher gingen entsprechend erst kurz vor Kriegsende nach Italien zurück, um bereits in den späten 1940er und frühen 1950er Jahren ihre zuvor betriebenen Eiscafés wieder in Betrieb zu nehmen. Mario Vittorio beispielsweise, der die erste italienische Eisdiele in Landau im Jahre 1939 errichtet hatte, verließ Deutschland erst im Januar 1945, um im Frühjahr 1950 sein Eiscafé wieder zu eröffnen.64 Die Eisproduzenten aus Italien stießen kaum auf Widerstände, wenn sie sich in der Bundesrepublik (erneut) selbständig machen wollten. Eine Ausnahme bildete ein gelatiere in Bamberg, dem 1960 die benötigte besondere Aufenthaltserlaubnis wegen Übersetzung des Eisgewerbes versagt blieb, obwohl er geltend machen konnte, dass er in Breslau im Zuge der Kriegsereignisse eine dreizehn Jahre lang betriebene Eisdiele verloren hatte, und sich in diesem Sinne in einer Art ‚Opfergemeinschaft‘ mit den Deutschen aus den ehemaligen Ostgebieten wähnte.65 Die italienische Eisdiele entwickelte sich im Laufe der 1950er Jahre zu einem für die frühe Bundesrepublik markanten Konsumort, der in der Nachkriegszeit zum Inbegriff ‚modernen Lebens‘ werden sollte.66 Während ein Großteil der deutschen Cafés in der frühen Bundesrepublik das Interieur wenig geändert hatte, sich weiterhin durch ein üppiges Kuchenangebot für eine tendenziell ältere Klientel auszeichnete und deshalb gerade auf jüngere Leute oftmals einen antiquierten Eindruck machte, zogen die italienischen Eisdielen neue Konsumentengruppen wie die Teenager an. Mit der Erweiterung der Produktpalette in Richtung ‚Milchbar‘ und dem Aufstellen einer Musikbox wurde das italienische Eiscafé zu einem bevorzugten Treffpunkt von Jugendlichen. Nicht zufällig kam diesem neuen bzw. auf neue Weise angeeigneten Konsumort eine prominente Rolle in Filmen wie etwa Horst Buchholz’ Die Halbstarken von 1956 zu.67 Mit der 1991 erfolgten Integration der aus dem Jahre 1955 63 Einige italienische Eismacher verdeutschten in dieser Zeit ihre Namen; so wurde aus dem Kölner gelatiere Ernesto Leon 1933 Ernst Leon. Vgl. Greven’s Adressbuch der Stadt Köln 1933. 64 Vgl. Helga Leiprecht: Hunger macht Eis. In: du. Die Zeitschrift der Kultur 737 (2003), S. 65– 69, hier S. 66–68. 65 Graziano Dell’Andrea an das Bundesministerium für Wirtschaft, Bamberg, 3.6.1960, BArch Koblenz, B 102/141014. 66 Daran, dass italienische Eiscafés zu dieser Zeit als „la cosa più moderna“ and als „ritrovo di giovani“ galten, erinnert sich ein kürzlich befragter Frankfurter gelatiere (zit. nach Luca Storti: Imprese per la gola. Una ricerca sugli imprenditori della gastronomia italiana in Germania (Studi economici e sociali Carocci; 4). Rom 2007, S. 175). Zur zeitgenössischen Charakterisierung des Eiscafés als moderner Ort siehe: Die venezianische Eisdiele im Bamberg. In: Die Eisdiele 3 (1951) 5, S. 2. 67 Laf Überland: Wo sich die Halbstarken trafen – Die Eisdiele. MerkMal, 3.6.2003, DeutschlandRadioBerlin (www.dradio.de/cgi-bin/es/neu-merkmal/192.html, 10.7.2003). Veränderungen der bundesdeutschen (Ess-)Kultur
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stammenden Eisdiele von Angelo Giacomel aus Hamburg in das Haus der Geschichte in Bonn ist die italienische Eisdiele retrospektiv dann auch offiziell zu einem zentralen Symbol des ,Wirtschaftswunders‘ erklärt worden – ein Sachverhalt, der sich aus konsumhistorischer Perspektive als Anfang einer Italianisierung der Gastronomie und des Nahrungskonsums in der Bundesrepublik interpretieren lässt, die es neben der in der Forschung bereits vielfach thematisierten Amerikanisierung genauer zu untersuchen gälte. Vor allem aber sollte das Augenmerk auch auf die Verflechtungen zwischen diesen unterschiedlichen Transferprozessen gerichtet werden, verband doch gerade die italienische Eisdiele in ihrer Aneignung durch Jugendliche als italienisch und amerikanisch empfundene Elemente, versprach Modernität und Coolness und erfüllte in der Bundesrepublik für junge Leute möglicherweise ganz ähnliche Funktionen wie die Hamburger joints in den USA.68 Eine weitere, wenn auch anders gelagerte Verquickung von Italianisierung und Amerikanisierung lässt sich im Falle der Einführung der Pizza in der Bundesrepublik beobachten. Hier waren es vielfach italienische Gastronomen, die in der Nähe US-amerikanischer Stützpunkte die seitens der GIs stark nachgefragte Pizza anboten.69 Forciert wurde die Verbreitung italienischer Pizzerias – bzw. der in der Bundesrepublik überaus erfolgreichen gastronomischen Hybridform Pizzeria-Ristorante – aber dann letztlich durch die enorme Popularität, die Italien als Urlaubsland bei den Bundesbürgern genoss. Statistisches Material über den Italientourismus und die wachsende Nachfrage nach italienischen Spezialitäten in Westdeutschland scheint den engen Zusammenhang von Reiseverhalten bzw. Reisewünschen und der Internationalisierung bzw. Italianisierung der bundesdeutschen Ernährung zu stützen. Nachdem die „Kraft durch Freude“-Reisen in den späten 1930er Jahren den Italienurlaub zwar nicht zur Wirklichkeit für das Gros der Bevölkerung hatten werden lassen,70 ihn aber erfolgreich in den Erwartungshorizont breiter Schichten gerückt und nicht zuletzt auch viele deutsche Soldaten Italien im Zweiten Weltkrieg kennen gelernt hatten, verbrachten 1955 bereits wieder etwa 2,3 Millionen Bundesdeutsche ihren Urlaub in Italien. 1958 war ihre Zahl schon auf vier Millionen gestiegen, und 68 Zur Popularität der Hamburger-Restaurants als Treffpunkte für Jugendliche in den USA der 1950er Jahre siehe Josh Ozersky: The Hamburger. A History. New Haven/London 2008, Kap. 4. – Die erste McDonald’s-Filiale der Bundesrepublik wurde erst im Jahre 1971 in München eröffnet. 69 Vgl. Johanna Angela Gebhardt: Wie die Deutschen zur Pizza kamen oder „Capri, die älteste Pizzeria Deutschlands und die Blaue Grotte“. In: Frankenland 53 (2001) 5, S. 397–402. Zum Einzug der Pizza in den kulinarischen mainstream in den USA sowie generell zur italo-amerikanischen Küche siehe Donna Gabaccia: We Are What We Eat. Ethnic Food and the Making of Americans. Cambridge/London 1998. 70 Vgl. Hasso Spode: Die NS-Gemeinschaft „Kraft durch Freude“ – ein Volk auf Reisen? In: ders. (Hg.): Zur Sonne, zur Freiheit! Beiträge zur Tourismusgeschichte. Berlin 1991, S. 79–94.
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Italien, abgesehen vom deutschsprachigen Österreich, zum beliebtesten Reiseland avanciert.71 Das Reisen nach und in Italien war nicht nur relativ preiswert, sondern auch verhältnismäßig unproblematisch für Deutsche, existierte doch in beiden Ländern ein „schweigende[r] Konsens“, die Vergangenheit Vergangenheit sein zu lassen.72 Die Bundesdeutschen suchten sich, so Georg Seeßlen, aus dem „Osten der Niederlage und der Schuld“ in den „Süden der Liebe und der Erlösung“ zu retten.73 Mag also die Verdrängung der unmittelbaren Vergangenheit eine nicht unbedeutende Motivation für die Italienreise in den 1950er Jahren dargestellt haben, so lässt sie sich zugleich auch als ein (bewusstes) Wiederanknüpfen an die klassische Bildungsreise verstehen, die in Goethes Italienischer Reise ihren paradigmatischen und für das deutsche Bürgertum prägenden Ausdruck gefunden hatte. Die auch auf anderen Gebieten der Kultur oftmals im Anschluss an Goethe stattfindende Reaktivierung klassischer Bildungsideale nach 1945 bildete dabei einen zentralen Aspekt der Suche nach deutschen Traditionen, die (vermeintlich) nicht durch den Nationalsozialismus korrumpiert worden waren. In jedem Falle wurde Italien abermals zum Ort deutscher Selbstverständigung.74 Es diente in den 1950er und 1960er Jahren 71 Vgl. Tammo Luther: Die Italienreise im 20. Jahrhundert. In: Harald Siebenmorgen (Hg.): Wenn bei Capri die rote Sonne… Die Italiensehnsucht der Deutschen im 20. Jahrhundert. Karlsruhe 1997, S. 82–93, hier S. 91. Ein schichtenübergreifender Massentourismus, zumal ins Ausland, setzte aber erst in den 1970er Jahren ein. Vgl. Axel Schildt: Across the Border. West German Youth Travel to Western Europe. In: ders./Detlef Siegfried (Hg.): Between Marx and Coca-Cola. Youth Cultures in Changing European Societies. New York/Oxford 2006, S. 149–160, hier S. 150. 72 Jens Petersen: Das deutschsprachige Italienbild nach 1945. In: DHI Rom (Hg.): Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven und Bibliotheken (QFIAB) 76 (1996), S. 455–495, hier S. 460. Auch der in den späten 1960er Jahren verstärkt einsetzende Spanienurlaub wäre im Hinblick auf bundesdeutsche Haltungen zum Franco-Regime einer genaueren Betrachtung wert. 73 Georg Seeßlen: Durch die Heimat und so weiter. Heimatfilme, Schlagerfilme und Ferienfilme der fünfziger Jahre. In: Hilmar Hoffmann/Walter Schobert (Hg.): Zwischen Gestern und Morgen. Westdeutscher Nachkriegsfilm 1946–1962. Ausstellung/Filme v. 25.5.–30.8.1989 (Katalog). Frankfurt am Main 1989, S. 136–161, hier S. 155. Diese These gälte es allerdings im Hinblick auf den großen Erfolg des so genannten Balkan-Grills in der Bundesrepublik kritisch zu überprüfen. 74 Dass Italien bereits bei Goethe und bis in die heutigen Bildungs- bzw. Studienreisen hinein von den Deutschen als „nationales Bildungsgut“ vereinnahmt wird und dabei auch der Versicherung der eigenen nationalen Identität dient(e), betont Linda Maria Pütter: Reisen durchs Museum. Bildungserlebnisse deutscher Schriftsteller in Italien (1770–1830) (Germanistische Texte und Studien; 60). Hildesheim/Zürich/New York 1998, zugl. Diss. Bonn 1998, S. 151. Zur Bedeutung der Italienbegeisterung für die deutsche Nationalstaatsbildung siehe auch Barbara Wolbring: „Auch ich in Arkadien!“ Die bürgerliche Kunst- und Bildungsreise im 19. Jahrhundert. In: Dieter Hein/Andreas Schulz (Hg.): Bürgerkultur im 19. Jahrhundert. BilVeränderungen der bundesdeutschen (Ess-)Kultur
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vor allem als Folie, um sich einerseits (inter)nationaler Bildungstraditionen zu versichern und andererseits die Auswirkungen der neuen Massenkonsumgesellschaft nicht nur auf dem Gebiet des Tourismus zu erörtern. Italien – und zwar in Form des Reiselandes selbst wie auch des italienischen Restaurants in der Bundesrepublik, das für die deutsche Bevölkerung ein Stück Italien im eigenen Land repräsentierte – wurde zum Austragungsort, um sich mit als traditionell deutsch begriffenen Normen, allen voran dem Arbeitsethos, auseinanderzusetzen. Besonders in den ersten Jahrzehnten nach Kriegsende stand italienisches dolce vita für eine attraktive Alternative zur deutschen Arbeitsobsession im Zuge des Wiederaufbaus und des ,Wirtschaftswunders‘. Italien bzw. die in der Bundesrepublik zirkulierenden Bilder und Narrationen über Italien fungierten in diesem Sinne als Katalysator für die unter anderem von Rolf Dahrendorf beobachtete Abkehr von einer „heroischen, gemeinschaftsbetonten, arbeitsamen Vergangenheit“ und die Hinwendung zu einer neuen Freizeit- und Konsumorientierung.75 Gerade das in den 1950er und 1960er Jahren überaus populäre Genre des Italienreisefilms lässt sich als aufschlussreiche Quelle heranziehen, um die zeitgenössischen Debatten über Massenkonsum, über Werte und Wertewandel nachzuvollziehen. Meist favorisierten diese Filme eine ‚maßvolle‘ Einübung in einen stärker auf Genuss ausgerichteten Lebensstil (zumindest im Urlaub), ohne jedoch jemals die deutsche Arbeitsdisziplin grundsätzlich in Frage zu stellen oder gar eine Überlegenheit der als italienisch präsentierten Lebensweise zu propagieren.76 Die realen und virtuellen Italientouristen der frühen Bundesrepublik suchten nun Eisdielen und italienische Restaurants auf, um ihre Urlaubserinnerungen wieder aufleben zu lassen oder um an diesen Orten ersatzweise am ‚Erlebnis Italien‘ zu partizipieren. In beiden Fällen waren die Erwartungen der nicht-migrantischen Gäste von touristischen Bildern geleitet, die um den Meeresstrand, mittelalterliche Städte oder römische Monumente kreisten. Diese imaginären Aspekte materialisierten sich sowohl in den Namen italienischer Gaststätten, die auf bekannte Reiseziele referierten (Eiscafé Venezia, Pizzeria Roma), als auch in den bis in die 1980er Jahre hinein üblichen Dekorationen, die oftmals aus Fotografien von Sehenswürdigkeiten sowie obligatorischen Fischernetzen und Bast umflochtenen Chiantiflaschen bestanden. dung, Kunst und Lebenswelt. Lothar Gall zum 60. Geburtstag. München 1996, S. 82–101, hier S. 94. 75 Rolf Dahrendorf: Die neue Gesellschaft. Soziale Strukturwandlungen der Nachkriegszeit. In: Hans Werner Richter (Hg.): Eine deutsche Bilanz 1962. München 1962, S. 203–220, hier S. 215. 76 Für eine konsumhistorische Analyse bundesdeutscher Italienreisefilme der 1950er und 1960er Jahre siehe Maren Möhring: Working Girl Not Working. Liebe, Freizeit und Konsum in Italienfilmen der frühen Bundesrepublik. In: Sabine Biebl/Verena Mund/Heide Volkening (Hg.): Working Girls. Zur Ökonomie von Liebe und Arbeit. Berlin 2007, S. 249–274.
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Die Durchsicht von in der bundesdeutschen Presse erschienenen Restaurantkritiken der 1950er bis 1970er Jahre macht deutlich, dass die Journalisten dazu tendierten, italienische Restaurants auf eine sehr stereotype Art und Weise zu charakterisieren. In den meisten Besprechungen erfährt der Leser viel über den Gastronomen, den padrone, und nur sehr wenig über das angebotene Essen. So wird der italienische Wirt z. B. als „der charmante Venezianer“ oder aber als „Original“ bezeichnet, dessen Restaurantdekor ebenso „verspielt“ wie er selbst sei.77 Letztlich ist es eine Form von ethnic performance – mit dem Speisesaal als theatralem Ort –, die vom padrone und seinem Bedienungspersonal erwartet wird. Die Angestellten eines italienischen Restaurants sind damit nicht nur die Produzenten und Lieferanten der Speisen, sondern werden selbst zu einem Bestandteil des von den Gästen konsumierten Produkts.78 Die Restaurantkritiken suggerieren, dass man durch den Besuch eines italienischen Restaurants an dem vermeintlich unbekümmerteren italienischen Lebensstil partizipieren, dass man jemand Anderes werden könne – zumindest temporär. Während das Bild eines leichtlebigeren italienischen Lebensstils in allen Massenmedien, vom Reiseführer über das Kochbuch bis zum Spielfilm, reproduziert wurde, fungierte das italienische Essen als privilegiertes Erfahrungsmedium, um diese andere Welt kennen zu lernen. Als sinnliches Medium eröffneten italienische Speisen und insbesondere das Essen in einem italienischen Restaurant die Möglichkeit, tatsächlich etwas aufregend Anderes zu riechen, zu schmecken, sich einzuverleiben und auf diese Weise daheim zum ‚kulinarischen Touristen‘ zu werden.79 Als transnationaler bzw. translokaler Ort, der durch vielfältige Transfers von Nahrungsmitteln, Technologien und Informationen charakterisiert war, bot das italienische Restaurant in der Bundesrepublik einen Raum, an dem es trotz bzw. im Rahmen stereotyper Wahrnehmungen zu neuen Erfahrungen und zu unterschiedlichen Formen der Begegnung zwischen migrantischen und nicht-migrantischen Restaurantbetreibern, Kellnern und Gästen kommen konnte. Gemeinsam partizipierten diese – wenn auch in unterschiedlichem Maße – an der Transnationalität dieses Konsumortes,80 die sich auch auf das Essen erstreckte. 77 Walter Stahl/Dieter Wien: Hamburg von 7–7. Hamburg 131979, S. 30; Dieter Thoma: Reisen geht durch den Magen. In: Köln. Vierteljahrschrift für die Freunde der Stadt 1 (1970), S. 34–40, hier S. 35f. 78 Vgl. Philip Crang: Displacement, Consumption, and Identity. In: Environment and Planning A 28 (1996), S. 47–67, hier S. 56. Richtet man den Blick auf ethnic performances in ausländischen Spezialitätenrestaurants, so lassen sich auch viele Beispiele einer ethnic mimicry entdecken: Mittlerweile gehören viele italienische Pizzerias in Deutschland türkischen bzw. kurdischen Betreibern – ähnlich den größtenteils von Migranten aus Bangladesh geführten indischen Restaurants in Großbritannien. 79 Lucy M. Long (Hg.): Culinary Tourism. Lexington 2003. 80 „They may occupy its spaces momentarily (during the consumption of a meal, for example) or for a lifetime (as members of ethnically defined transnational communities)“ (Peter JackVeränderungen der bundesdeutschen (Ess-)Kultur
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Durch die Anpassung der italienischen Gerichte an ‚den‘ deutschen Geschmack und die Verwendung von auch in der Bundesrepublik leicht erhältlichen Zutaten wie holländischem Gouda anstelle von Mozarella als Pizzabelag entstanden neue Varianten von Gerichten und mit diesen eine neue Küche, die sich weder als eindeutig italienisch noch deutsch kategorisieren ließ. Das italienische Restaurant in der Bundesrepublik stellte demnach einen hybriden Ort dar, der zwar durch oftmals stereotype ethnic performances, Wahrnehmungen und Einordnungsversuche permanent reterritorialisiert wurde, aber in seiner Uneindeutigkeit bisweilen auch eine Irritation und Offenheit erzeugt haben mag, die zu Veränderungen nicht nur der angebotenen Küche führte, sondern auch das Potential besaß, die Konsumenten (und Produzenten) dieser Küche auf neuartige Weise zu affizieren. Inwiefern diese im alltäglichen Umfeld gemachten Erfahrungen mit ‚fremden‘ Speisen und Menschen zu umfassenderen Transformationen der bundesdeutschen Gesellschaft beigetragen oder einige dieser Transformationen gar angestoßen haben, stellt eine weitere noch offene Forschungsfrage dar, zu deren Beantwortung migrantische und nicht-migrantische Perspektiven auf die im ausländischen Restaurant stattfindenden Interaktionen einbezogen werden müssten.
Fazit Die in diesem Beitrag skizzierten Veränderungen der deutschen Esskultur durch Migration und Tourismus setzten nicht erst nach 1945 ein, erreichten aber in der Bundesrepublik ein bisher unbekanntes Ausmaß. Erstmals lernten nun größere Teile der Bevölkerung ‚fremde‘ Speisen im Auslandsurlaub und/oder im ausländischen Restaurant kennen, auch wenn gerade auf diesem Gebiet deutliche soziale und regionale Differenzen bestehen blieben. Der enorme Erfolg ausländischer Küchen war dabei kein Spezifikum der bundesdeutschen Konsumgesellschaft, sondern ein in allen westlichen Ländern zu beobachtender Trend, der einen zentralen Aspekt der Angleichung des Konsumverhaltens innerhalb (West-)Europas darstellt. Die Internationalisierung der Ernährung lässt sich demnach als eine nicht zu vernachlässigende alltagskulturelle Dimension der für politische Entwicklungen bereits vielfach herausgearbeiteten Westernisierung verstehen, zu der die Selbststilisierung als weltoffen und aufgeschlossen in zunehmendem Maße gehörte. Dass die Aneignung ausländischer Speisen und Esskulturen dabei vielfach im Rahmen transnationaler stereotyper Wahrnehmungen ‚des Anderen‘ und oftmals auch rassistischer Traditionen erfolgte, stellt keinen Widerspruch zur These der Westernisierung dar, sondern bestätigt gerade die Entstehung eines länderübergreifenden Repertoires an Wertungen und Verhaltensweisen. son/Philip Crang/Claire Dwyer: Introduction. The Spaces of Transnationality. In: dies. (Hg.): Transnational Spaces. London 2004, S. 3).
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Denn nicht nur bei Migration und Tourismus handelt es sich um transnationale Bewegungen, welche die westdeutsche Gesellschaft nachhaltig prägten; auch die nach 1945 zögerlich einsetzende Neuformulierung kultureller Differenzen (nicht nur) auf dem Gebiet der Ernährung überschritt nationale Grenzen und wird daher nur in transnationaler Perspektive in ihrer ganzen Tragweite begreiflich. Diese Dimension zu betonen heißt nicht, weiterhin wirksame deutsche und auch nationalsozialistische Traditionen gerade im Umgang mit Nicht-Deutschen und anderen Minderheiten außer Acht zu lassen; die Behandlung von Roma und Sinti etwa, die sich um eine selbständige Tätigkeit in der Bundesrepublik bemühten, legt ein beredtes Zeugnis über die Kontinuität der im Nationalsozialismus (endgültig) durchgesetzten rassistischen Muster ab.81 Für die Bundesrepublik und insbesondere die 1950er und 1960er Jahre lässt sich im Hinblick auf die ausländische Gastronomie eine deutliche Dominanz der italienischen Küche ausmachen. Ohne den Vorbildcharakter der USA auf dem Feld des Konsums herunterspielen zu wollen, sind für die bundesdeutsche Esskultur deutliche Tendenzen einer sich bis in die Gegenwart fortsetzenden Italianisierung zu beobachten, die, wie gezeigt, sich gerade in der frühen Bundesrepublik in vielerlei Hinsicht mit Amerikanisierungsprozessen verband. Der Begeisterung für die italienische Küche wie für Italien als Reiseland konnten dabei sehr unterschiedliche Motivationen zugrunde liegen, die sich schwerlich einer klaren Scheidung in alte und neue, liberale oder antiliberale Orientierungsmuster unterziehen lassen. Fest steht allein, dass Italien als eine bevorzugte Folie gerade für die Artikulation neuer Konsumwünsche und eher hedonistischer Lebensstile fungierte, die auch einen Beweggrund für das Aufsuchen italienischer Restaurants und Eisdielen darstellten. Der außerordentliche Erfolg der italienischen Gastronomie lag zudem darin begründet, dass sie bereits auf eine längere Tradition in Deutschland zurückblicken konnte, die in der Zeit des Nationalsozialismus, in der ausländische Einflüsse auch auf dem Gebiet der Esskultur massiv zurückgedrängt wurden, keinen Abbruch erlitt, sondern im Gegenteil aus politischen Gründen gefördert wurde. Darüber hinaus kamen italienische Gastronomen bereits im Vorfeld der Regelungen zur Freizügigkeit innerhalb der EWG in den Genuss einer rechtlichen Besserstellung, die ihnen einen Vorsprung vor anderen migrantischen Gastronomen verschaffte. Die Entstehung nicht nur einer ausländischen Gastronomie, sondern generell einer migrantischen Ökonomie in der Bundesrepublik ist aufgrund der restriktiven Auslän81 So wurden (auch) in der administrativen Praxis nach 1945 rassentheoretische Klassifizierungen wie „Zigeuner-Mischling“ weiterhin vorgenommen (vgl. etwa Stadt Köln, Oberstadtdirektor, an die IHK Köln, 18.5.1961, Rheinisch-Westfälisches Wirtschaftsarchiv Abt. 1, Nr. 477, Fasz. 3). Noch 1963 vertraten 34,5% der bei einer Umfrage Interviewten die Ansicht, bei „Zigeunern“ handele es sich um eine „andere Rasse“ (Lukrezia Jochimsen: Zigeuner heute. Untersuchung einer Außenseitergruppe in einer deutschen Mittelstadt. Stuttgart 1963, S. 87). Veränderungen der bundesdeutschen (Ess-)Kultur
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derpolitik nicht nur der 1950er und 1960er Jahre, sondern weit darüber hinaus massiv behindert worden. Es war keine grundsätzliche Liberalisierung auf dem Gebiet des Ausländerrechts, sondern die mittlerweile langjährige Aufenthaltsdauer vieler Migranten, welche die sukzessive Zunahme selbständig erwerbstätiger Ausländer seit den frühen 1980er Jahren bewirkt hat. Das Ausländerrecht, ohne das eine Betrachtung der ausländischen Gastronomie unvollständig bliebe, ist sicherlich eines derjenigen Gebiete, für das illiberale Kontinuitäten und nicht Öffnungsprozesse charakteristisch sind – trotz der seit den 1970er Jahren verstärkt einsetzenden kritischen Debatten über die rechtliche Diskriminierung Nicht-Deutscher. Bis zum neuen Ausländergesetz von 1965 blieb in der Bundesrepublik die 1938 erlassene Ausländerpolizeiverordnung maßgeblich, in der unter anderem auch das zukünftig wirksame Inländerprimat formuliert war.82 Anders als in den USA oder Großbritannien erfuhren migrantische Gastronomen in der Bundesrepublik keine Gleichbehandlung; ihre Gewerbeanträge wurden weiterhin einer für deutsche Gaststättenbetreiber spätestens 1958 abgeschafften Bedürfnisprüfung unterzogen, die, wie gezeigt, vielfach als Instrument zur Abwehr ausländischer Konkurrenz eingesetzt wurde. Die auf Ausländer beschränkte Bedürfnisprüfung bildete eine bundesdeutsche Besonderheit, die ein prägnantes Beispiel für die Ethnisierung der westdeutschen Ökonomie bzw. die Diskriminierung aufgrund nationaler Zugehörigkeit darstellt.83 Allen ökonomischen, sozialen und kulturellen Transformationen im Zuge des ,Wirtschaftswunders‘ wie der nachfolgenden Jahrzehnte zum Trotz blieb die ‚ethnische‘ Grundordnung der bundesdeutschen Gesellschaft in großen Teilen unverändert. In diesem Sinne stellt die oft als „Erfolgsgeschichte“ charakterisierte Historie der Bundesrepublik84 einen Erfolg nur aus einem spezifischen Blickwinkel dar; aus migrantischer Perspektive müsste diese Geschichte anders geschrieben werden. Was die Praxis wie die Debatten über die Bedürfnisprüfung darüber hinaus deutlich machen, ist die große Bedeutung des überaus schillernden Konzepts des Bedürfnisses. Das Bedürfnis kann sowohl ein materielles Interesse, den Bedarf als ökonomischen Faktor, wie auch ein soziokulturelles Bedürfnis oder Begehren und damit auch eine transformative Kraft bezeichnen. Insofern sich das Bedürfnis nicht eindeutig fassen lässt, bot es zum einen einen weiten Spielraum für das behördliche Ermessen; zum anderen wurde es zum Gegenstand wie Motor historischer Transformationen, wie 82 Vgl. Ausländergesetz vom 28.4.1965 (BGBl. I 353); AuslPVO v. 22.8.1938 (RGBl. I 1053). 83 Für die unselbständige Erwerbstätigkeit von Ausländern ist dieser Aspekt bereits vielfach beschrieben worden, implizierte das Gastarbeitersystem doch eine ethnische Segmentierung der westdeutschen Ökonomie und Gesellschaft, welche die migrantischen Arbeiter als distinkte ,Unterklasse‘ platzierte und die Westdeutschen als „rather homogeneously ‚middle class‘“ erscheinen ließ (Mary Fulbrook: History of Germany 1918–2000. The Divided Nation. Oxford 22002, S. 182). 84 Vgl. etwa Schildt: Ankunft im Westen.
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das Beispiel des neuen Konsumtrends zur Außerhausverpflegung zeigt. Der zeitgenössisch wie in der geschichtswissenschaftlichen Forschung vielfach konstatierte Bedürfnis- und Wertewandel wird im Falle der Bedürfnisprüfung als ein bereits zeitgenössisch angewandtes Wissen kenntlich, das in die administrative Praxis einfloss und mit Hilfe dessen neue Standards im Hinblick auf das Konsumangebot gesetzt oder verhindert werden konnten. Das Bedürfnis lässt sich in diesem Sinne als Scharnierbegriff zwischen Kultur und Ökonomie verstehen und macht die Interdependenzen, die Verflechtungen und letztlich die Untrennbarkeit beider Bereiche sichtbar. Das Bedürfnis bzw. der Bedürfniswandel stellen aus dieser Perspektive jedoch keine letztgültigen Erklärungsmuster für Veränderungen der bundesdeutschen Gesellschaft zur Verfügung, sondern sollten in ihrer Historizität selbst zum Gegenstand der Analyse gemacht werden. Die Bedeutung der Konsumgeschichte für gesellschaftliche Transformationen in der Bundesrepublik ließe sich auf diese Weise stärker profilieren und spezifizieren.
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Schulden der Vergangenheit? Der Mammutprozess der Volkswagensparer, 1949–19611
„Überraschender Vergleich zwischen VW-Sparern und Wolfsburg,“ titelte die Süddeutsche Zeitung am 17. Oktober 1961.2 Das allgemeine Erstaunen, das sich in der westdeutschen Presse an diesem Tag manifestierte, bezog sich auf die Einigung, durch die der Bundesgerichtshof in Karlsruhe den bislang größten Zivilrechtsstreit der jungen Republik zum Abschluss gebracht hatte. In dem Verfahren waren zwei Parteien aufeinander getroffen, die sich im Prozessesverlauf zu Schwergewichten ausgewachsen hatten. Den Kläger gab der „Hilfsverein ehemaliger Volkswagen-Sparer“ (HEV) mit seinen mehr als 30.000 Mitgliedern, die auf der Lieferung von Automobilen bestanden, die sie im Dritten Reich per Sparvertrag im Voraus bezahlt hatten. Mit dem Volkswagenwerk setzte sich ein Unternehmen gegen diese Forderung zur Wehr, das als einer der prominentesten westdeutschen Konzerne mit dem VW-Käfer ein Symbol des „Wirtschaftwunders“ produzierte. Der Konflikt zwischen dem Hilfsverein und Volkswagen wuchs sich rasch zur von Presse und Öffentlichkeit aufmerksam verfolgten cause célèbre aus. Zwischen 1949 und 1961 führte diese rechtliche Auseinandersetzung zu nicht weniger als acht Urteilen auf allen drei Instanzebenen der Zivilgerichtsbarkeit und häufte dabei einen „Aktenberg“ an, für dessen Transport, wie ein Beobachter anmerkte, „ein VW-Bus … nötig“ gewesen wäre.3 Jenseits aller rechtlichen Finessen entsprang das Publikumsinteresse an diesem Prozess einer vordergründig einfachen Frage: Hatte das Volkswagenwerk gegenüber den VW-Sparern Schulden aus der Vergangenheit? Da nach dem Ende des Dritten Reiches eine Vielzahl zivilrechtlicher Vertragsangelegenheiten in der Schwebe verblieben, konnten die Gerichte die Klage der VWSparer nicht als trivial abweisen. Im Fall des Volkswagenkonzerns war die rechtliche Grauzone sogar besonders groß. Bekanntermaßen verdankte das Volkswagenwerk im heutigen Wolfsburg seine Existenz einer Parteiinitiative aus dem Jahr 1937 mit dem utopischen Ziel, ein Massenmotorisierungsprogramm unter nationalsozialistischen 1 2 3
Ich danke Herrn Achim Bade für die Anregungen zu diesem Artikel. Süddeutsche Zeitung (17. 10. 1961). Frankfurter Rundschau (17. 10. 1961). Ähnlich äußerte sich auch die Süddeutsche Zeitung (7. 10. 1959). Schulden der Vergangenheit?
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Vorzeichen voranzutreiben. Für den Bau der hierfür notwendigen Autofabrik sowie das groß angelegte Ratensparprogramm, durch das Interessenten Anspruch auf einen Wagen erwarben, zeichnete die „Kraft-durch-Freude“-Organisation verantwortlich.4 Aufgrund dieser Entstehungsgeschichte war nach 1945 nicht nur zu klären, welche Verpflichtungen das Werk gegenüber den sog. „Volkswagensparern“ besaß. Vielmehr sorgten auch die das Werk betreffenden Eigentumsverhältnisse für politische Verwirrung und Konflikte, die erst mit dem Inkrafttreten eines Bundesgesetzes aus dem Jahr 1961 beigelegt wurden. Die vielschichtige, das Volkswagenwerk umgebende Rechtsunsicherheit wirft ein Schlaglicht auf das verworrene Verhältnis zwischen der Bundesrepublik und dem Dritten Reich und verweist somit auf einen Problemkomplex, der westdeutsche historische Ordnungsvorstellungen maßgeblich prägte. Der Rechtsstreit der VW-Sparer warf die Frage danach auf, wie das Rechtssystem mit Personen umgehen sollte, die nach dem katastrophalen Zusammenbruch des Nationalsozialismus auf der Erfüllung von Versprechen aus der Zeit zwischen 1933 und 1945 pochten. Aus juristischer Sicht berührte der Prozess das Grundsatzproblem, eine unter den Bedingungen der nationalsozialistischen Diktatur geschaffene, höchst undurchsichtige und illiberal Rechtslage in die Kategorien des liberalen Rechtsstaats zu überführen, für den der rechtliche Schutz der Einzelperson kennzeichnend ist.5 Hierbei zwang die Auseinandersetzung vor Gericht Sparer und Werk, auf das Dritte Reich bezogene, ihrer Interessenlage dienliche Positionen im öffentlichen Raum zu artikulieren und zu verteidigen. Die Gerichte und die Öffentlichkeit bewerteten diese Positionen. Da es sich bei Volkswagen um ein bundesrepublikanisches Vorzeigeunternehmen handelte, gewann dieser Prozess hohen Symbolgehalt, zumal das Verfahren den Konzern angesichts des hohen Streitwerts einer existentiellen Bedrohung aussetzte. Damit kam der Frage nach dem Verhältnis zwischen Vergangenheit und Gegenwart eine ausgesprochen handfeste Bedeutung zu. Der Prozessverlauf rückte wiederholt zentrale Aspekte des Dritten Reichs ins Licht der Öffentlichkeit, wobei Behauptungen und Gegenbehauptungen dermaßen „komplizierte“ Sachverhalte zutage förderten, dass mancher Journalist vor einer detaillierten Schilderung letztendlich kapitulierte.6 Die historische Forschung hat sich in den letzten Jahren intensiv mit dem Umgang mit der NS-Vergangenheit in der Bundesrepublik auseinandergesetzt.7 So haben Un4 5
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Wolfgang Mommsen/Manfred Grieger: Das Volkswagenwerk und seine Arbeiter im Dritten Reich. Düsseldorf 1997. Die juristische Illiberalität des „Volkswagen“-Projektes im Dritten Reich zeigt sich beispielsweise in der Tatsache, dass jüdischen Deutschen die Teilnahme am Sparprogramm untersagt war. Frankfurter Neue Presse (10. 11. 1959). Einen exzellenten, komprimierten Überblick gibt Wolfgang Hardtwig: Von der ‚Vergangenheitsbewältigung‘ zur Erinnerungskultur. In: Thomas Hertfelder/Andreas Rödder (Hg.): Modell Deutschland. Erfolgsgeschichte oder Illusion? Göttingen 2006, S. 171–188.
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tersuchungen gezeigt, wie weitreichende Amnestien zahlreiche deutsche Täter in den fünfziger Jahren vor rechtlicher Verfolgung schützten und somit den Weg zur sozialen Integration belasteter Personen in der jungen Republik ebneten.8 Diese Amnestien waren in der westdeutschen Erinnerungslandschaft mit der weitgehenden Marginalisierung derjenigen Opfergruppen verbunden, die im Dritten Reich und im Zweiten Weltkrieg Verfolgung bis hin zum Massenmord durch Nationalsozialisten und andere Deutsche erlitten hatten.9 Dass die Aufmerksamkeit, die die westdeutsche Öffentlichkeit den Vertriebenen, den im Luftkrieg Ausgebombten und den Spätheimkehrern entgegenbrachte, ein Geschichtsbild zementierte, das der deutschen Bevölkerung eine Opferrolle zuwies, haben mehrere Studien ebenfalls eindrucksvoll unterstrichen.10 Es bestand in der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft ein öffentlicher Diskurs, der die Gewaltausübung seitens Deutscher an den Rand drängte und gleichzeitig Deutsche als Gewaltopfer ins Zentrum rückte. Die Erinnerung an den Nationalsozialismus war also keineswegs, wie ab den späten sechziger Jahren immer wieder behauptet, verdrängt, sondern nahm hochselektive Formen an. Das zeitgenössische Geschichtsverständnis erschöpfte sich allerdings nicht in zutiefst partieller Erinnerung an die Gewalt, die die unmittelbare Vergangenheit geprägt hatte. Das breite Interesse am Prozess der VW-Sparer weist darauf hin, dass von den Nationalsozialisten zunächst geschürte, dann aber enttäuschte Erwartungen über die Privatsphäre hinaus auch in öffentlichen Räumen der frühen Bundesrepublik weiterlebten und auf Erfüllung drängten.11 Dieser Rechtsstreit schien sich aus zeitgenössischer Perspektive nicht primär um moralische Schuld, sondern um konkrete finanzielle Schulden zu drehen, auf deren Erstattung die VW-Sparer lautstark pochten. Norbert Frei: Vergangenheitspolitik. Die Anfänge der Bundesrepublik und die NS-Vergangenheit. München 1999. Peter Reichel: Vergangenheitsbewältigung in Deutschland. Die Auseinandersetzung mit der NS-Diktatur von 1945 bis heute. München 2001, S. 13–72. 9 Frank Stern: Film in the 1950s. Passing Images of Guilt and Responsibility. In: Hanna Schissler (Hg.): The Miracle Years. A Cultural History of West Germany, 1949–1968. Princeton 2001, S. 266–280; Alf Lüdtke: ‘Coming to Terms with the Past’. Illusions of Remembering, Ways of Forgetting Nazism in West Germany. In: Journal of Modern History 65 (1993), S. 542–572. Hartmut Berghoff: Zwischen Verdrängung und Aufarbeitung. Die bundesdeutsche Gesellschaft und ihre nationalsozialistische Vergangenheit in den fünfziger Jahren. In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 49 (1998), S. 96–114. 10 Eine hervorragende Lokalstudie ist Neil Gregor: Haunted City: Nuremberg and the Nazi Past. New Haven 2008. Robert Moeller: War Stories. The Search for a Usable Past in the Federal Republic of Germany. Berkeley 2001; Mary Nolan: Germans as Victims During the Second World War. In: Central European History 38 (2005), S. 7–40. Tendenziös ist Jörg Friedrich: Der Brand. Deutschland im Bombenkrieg, 1940–1945. München 2002. 11 Lutz Niethammer: ‚Normalization‘ in the West. Traces of Memory Leading Back into the 1950s. In: Hanna Schissler (Hg.): The Miracle Years. A Cultural History of West Germany, 1949–1968. Princeton 2001, S. 237–265. 8
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Auch wenn die Prozessteilnehmer selten explizit moralisch argumentierten, warf der Prozess der VW-Sparer indirekt zutiefst moralische, mit der Entstehungsgeschichte des Volkswagenwerkes zusammenhängende Fragen auf. Erstens besaß der Volkswagenkonzern aufgrund seiner historischen Ursprünge und der Misshandlung tausender Zwangsarbeiter im Werk während des Krieges – wie zahlreiche Unternehmen – eine zutiefst kompromittierte Vergangenheit, die vor Gericht weitgehend ausgeblendet blieb.12 Zweitens war der Volkswagen als Prestigeprojekt mit großem Propagandaaufwand in den dreißiger Jahren ins Leben gerufen worden und hatte vor allem dazu gedient, der deutschen Bevölkerung die nationalsozialistische „Volksgemeinschaft“ als verlockende Konsumgesellschaft vor Augen zu führen.13 Damit lassen sich mittels des VW-Sparerprozesses zwei bislang weitgehend getrennt behandelte Sachverhalte untersuchen. Neben dem Verhältnis der westdeutschen Gesellschaft zur unmittelbaren Vergangenheit wirft dieser Prozess auch ein Schlaglicht auf den historischen Weg, der einen erheblichen Teil der bundesrepublikanischen Gesellschaft in die Konsumgesellschaft führte. *** Die Volkswagensparer erhoben schon bald nach Kriegsende Forderungen gegenüber dem Werk in Wolfsburg und schlossen sich damit den zahllosen Deutschen an, die in den späten vierziger Jahren mit Ansprüchen auf finanzielle Kompensation bzw. Unterstützung in die Öffentlichkeit gingen. Das Spektrum derjenigen, die auf finanzielle Hilfen für materielle Kriegsverluste drängten, war ebenso breit wie heterogen. Angefangen bei den kriegsversehrten Veteranen, denen die Westalliierten die Unterhaltszahlungen drastisch kürzten, reichte es über die Ausgebombten bis zu den Vertriebenen, die häufig ohne das Notwendigste im Westen angekommen waren.14 Nach 1948 erhoben zusätzlich die Inhaber von Sparguthaben ihre Stimme, deren Sparbücher und Privatkonten im Zuge der Währungsreform 93,5% ihres Nominalwertes eingebüßt hatten.15 Unter diesen Interessengruppen nahmen die Volkwagensparer in mehrfacher Hinsicht eine Sonderstellung ein. Erstens leiteten sie ihre materiellen Ansprüche nicht wie die Mehrzahl der oben Genannten direkt aus Kriegsfolgen, son12 S. Jonathan Wiesen: West German Industry and the Challenge of the Nazi Past, 1945–1955. Chapel Hill 2001. 13 Shelley Baranowski: Strength Through Joy. Consumerism and Mass Tourism in the Third Reich. Cambridge 2004. 14 Zur Kriegsopferversorgung und der Entwicklung der Interessenverbände, siehe James M. Diehl: The Thanks of the Fatherland. German Veterans after the Second World War. Chapel Hill 1993, S. 72–86. 15 Zu den Folgen der Währungsreform für Inhaber von Sparguthaben, siehe Michael L. Hughes: Shouldering the Burdens of Defeat. West Germany and the Reconstruction of Social Justice. Chapel Hill 1999, S. 60–63.
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dern aus einer vor dem Krieg aufgelegten Sparaktion her. Zweitens richteten sie ihre Forderungen nicht an den Staat, sondern an ein privatwirtschaftliches Unternehmen. Und drittens ging es den VW-Sparern nicht um den Ersatz zerstörten bzw. verlorenen Eigentums, sondern um die Lieferung eines dauerhaften Konsumguts in Form eines Automobils. Bis Juni 1949 hatten Volkswagensparer mehrere sog. „Interessengemeinschaften“ in Bad Tölz, Memmingen, Kempten und Sonthofen gebildet, unter denen sich der „Hilfsverein ehemaliger Volkswagensparer“ (HEV), den der ehemalige Parteigenosse und pensionierte Brauereikaufmann Karl Stolz 1948 im niedersächsischen Niedermarsberg gegründet hatte, als schlagkräftigster Zusammenschluss entpuppte.16 Von einem tief sitzenden Unrechtsgefühl angetrieben, entwickelte Stolz ein beträchtliches Organisationstalent und sicherte dem HEV Prominenz in der Öffentlichkeit. Um dem Vereinsanliegen Bekanntheit zu verschaffen, bombardierte Stolz in den unmittelbaren Nachkriegsjahren Politiker sowie Sachverständige jeglicher Couleur mit Briefen und Broschüren.17 Demselben Ziel dienten die ab Anfang der fünfziger Jahre effektvoll inszenierten Pressekonferenzen, mit denen Stolz sich und seinen Anhängern überregional Gehör verschaffte. Darüber hinaus verwandte der Vereinsvorsitzende große Ausdauer auf die Mitgliederwerbung und unternahm mehrmonatige Vortragsreisen kreuz und quer durch Westdeutschland. Stolz zufolge zählte der HEV im Jahr 1954 32.000 Beitragszahler.18 All dies imponierte Außenstehenden. Besucher, die Stolz in Niedermarsberg interviewten, zeigten sich beeindruckt von der dortigen „Massenorganisation der kleinen Leute,“ die immerhin einen „Bürochef, fünf Schreibmaschinen, sieben Angestellte, Ausschnittbüro und Haustelefon“ umfasste.19 Stolz‘ Prominenz in der frühen Bundesrepublik beruhte jedoch weniger auf dessen Fähigkeiten zur Selbstdarstellung als auf dem Musterprozess, den er als Vereinsvorsitzender seit Mai 1949 gegen das Volkswagenwerk anstrengte. Stolz hatte im Dritten Reich den vollen Sparbetrag von 1000 Reichsmark bei der KdF eingezahlt. Nachdem Volkswagen Stolz‘ Forderung nach unentgeltlicher Lieferung eines Wagens abschlägig behandelt hatte, reichte dieser Klage ein, um die Erfüllung seiner „vertragsmäßigen
16 Zu den Vereinsgründungen, siehe Faltblatt „Prozess Volkswagenwerk G.m.b.H,“ Poststempel 18.6.1949 (Kopie in Besitz des Verfassers). Werksarchiv Volkswagen AG, Wolfsburg (VWA), 69/2, Brief Eduard Rauh an Herrn Hahn, 14.9.1951; Bremer Nachrichten, 14.10.1951. 17 Bundesarchiv Koblenz (BAK), B133/10, Brief Karl Stolz an Werner Jacobi, 11.9.1948. B133/2–4, Postkarte Josef Keller an Karl Stolz, 21.1.1949; Brief Herr Keil an Karl Stolz 7.1.1949. Josef Keller und Keil fungierten als Länderabgeordnete der CDU bzw. KPD. 18 BAK, B133/10, Artikel, unbekannte Zeitung, 21.11.1954. 19 BAK, B133/10, Artikel, unbekannte Zeitung, 27.11.1952. Josef Schmidt, der Autor dieses Artikels, schrieb regelmäßig für die Süddeutsche Zeitung und die Stuttgarter Zeitung. Schulden der Vergangenheit?
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Ansprüche“ zu erreichen.20 Vor Gericht wiederholte er sein Ansinnen und bemühte sich um den Nachweis, dass das weiterhin existierende Volkswagenwerk – und nicht die mittlerweile aufgelöste nationalsozialistische Organisation „Kraft durch Freude“ – der „Vertragspartner“ der Sparer gewesen sei. Somit suchte Stolz geltend zu machen, dass das Unternehmen über die politische Zäsur von 1945 hinweg konkrete Schulden bei den Klägern habe. Nachdem 1954 der Bundesgerichtshof entschieden hatte, dass die VW-Sparer vor 1945 keine herkömmlichen „schuldrechtlichen Individualverträge“ abgeschlossen hätten, schwenkte der HEV auf einen modifizierten Argumentationskurs um.21 Auch wenn man anerkenne, dass zwischen den Sparern und dem Volkswagenwerk keine konventionellen Kaufverträge bestanden hätten, bliebe laut Stolz ein Rechtsanspruch erhalten. „Mit Unrecht,“ so Stolz 1958 in einem ausführlichen Leserbrief, übergehe man „stillschweigend die unleugbare Tatsache, dass die Volkswagensparer es waren, die bereits ab 1938 durch ihren persönlichen und finanziellen Einsatz … die Grundlage dafür schufen, dass das Volkswagenwerk überhaupt erst entstehen konnte.“ Diese hätten nicht nur durch ihre kollektiven Spareinlagen in Höhe von 264 Millionen Reichsmark erheblich zur Finanzierung des Werkes beigetragen, sondern durch ihre Beteiligung am Sparplan vielfach geäußerte Zweifel an der Existenz eines breiten Marktes für ein erschwingliches Automobil entkräftet. Daher, so Stolz weiter, hätten die VW-Sparer in doppelter Hinsicht direkten Anteil an der Entstehung des Werkes gehabt.22 Der HEV charakterisierte also die Ratenzahler als die übergangenen Geburtshelfer des in der Nachkriegszeit prosperierenden Volkswagenkonzerns. Zwar gab Stolz seine ursprüngliche Maximalforderung nach Lieferung eines Wagens ohne Zuzahlung auf, doch beharrte er auf dem Standpunkt, dass Volkswagen unmittelbar aus der Vergangenheit herrührende Verpflichtungen gegenüber den Sparern besaß. Um der Klage Nachdruck zu verleihen, betonte der Verein hartnäckig, dass die Teilnahme an dem von einer Parteiorganisation durchgeführten Sparplan keine politisch motivierte Handlung dargestellt habe und man daher den HEV nicht als Sammelbecken renitenter Altnazis abqualifizieren könne. Der Verein erklärte mehrfach, dass sich unter den VW-Sparern „in bunter Reihenfolge“ Deutsche mit und ohne Parteibuch befunden hätten.23 Diese Behauptung implizierte, dass die finanziellen Forderungen des Vereins über den Zusammenbruch der nationalsozialistischen Dik20 BAK, B133/2–4, Klage (Urschrift), Rechtsanwalt Pfeiffer an Landgericht Hildesheim, 5.5.1949. 21 Niedersächsisches Hauptstaatsarchiv, Hannover (NHH), Nds 720 Hildesheim, acc.61/79, 200, Bundesgerichtshof Karlsruhe, Urteil, 21.12.1954, 21. 22 Deutsche Zeitung, 19.2.1958. 23 BAK, B133/2–4, Rudolf Meichsner, Rundschreiben, Kopie (Berlin: ohne Datum), 1; Hannoversche Allgemeine Zeitung, 8.10.1949; BAK, B133/11, HEV, Rundschreiben, 25.7.1952. Stuttgarter Zeitung, 22.9.1955.
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tatur hinaus Gültigkeit besäßen, da das Sparprogramm unpolitischer Natur gewesen sei. Dieses Motiv unterstrich Stolz wiederholt, indem er seine Klientel als einfache Durchschnittsbürger charakterisierte. Bei den meisten Volkswagensparern, schrieb der Vereinsvorsitzende, handele es sich um „arbeitsame, strebsame und sparsame Menschen“ aus „minderbemittelten Kreisen,“ die durch die Zeitläufte „ihr schwer verdientes Geld“ verloren hätten.24 Das Gewand des bescheidenen Durchschnittssparers verlieh den Vereinsmitgliedern nicht allein eine unpolitische Erscheinung. Vielmehr diente es in einer Zeit allgemeinen materiellen Mangels auch dem Schutz gegen Vorwürfe, der Verein verfolge mit seinem Beharren auf Lieferung eines Automobils ein Luxusanliegen. Nicht als enttäuschte Konsumenten, sondern als geprellte Sparer traten Stolz und dessen Anhänger in Erscheinung, transportierte doch die Figur des Sparers die zur Mangelwirtschaft passende Assoziation vom tugendhaften, disziplinierten Konsumverzicht.25 Dass es sich bei diesen Sparern vorwiegend um Angehörige mittlerer bis gehobener Gesellschaftsschichten handeln musste, da nur diese die Anschaffungs- und Unterhaltskosten für ein Automobil ins Auge fassen konnten, wurde von Stolz und dessen Mitstreitern bezeichnenderweise nie thematisiert. Eigenen Angaben zufolge bestand der HEV aus politisch unverfänglichen Durchschnittsdeutschen, die „aufs Gröblichste irregeführt“ worden waren.26 Derartige Selbststilisierungen zur verfolgten Unschuld gingen mit einem überaus robusten Aktionssinn einher, wobei an die öffentliche Kultur des Dritten Reiches gemahnende Verhaltensweisen Stil und Auftreten des Vereins prägten. Nachdem Stolz 1952 kleine, runde, in schwarz, rot und silber gehaltene Anstecknadeln verteilt hatte, richtete er die Aufforderung an seine Anhänger, diese Abzeichen sichtbar am Revers zu tragen, um „der Öffentlichkeit und dem Gegner eindrucksvoll vor Augen zu führen, welch große Zahl von Volkswagensparern hinter dem … Volkswagenprozess stehen.“27 Dass dieses Accessoire in Form, Farbgebung und Funktion unübersehbare Parallelen zum von NSDAP-Mitgliedern getragenen „Parteibonbon“ aufwies, fand Stolz offensichtlich unproblematisch. Darüber hinaus bediente sich der Verein im Requisitenkabinett völkisch-antikapitalistischer Rhetorik, wenn er den Widerstand des Volkswagenwerkes als Indiz der „zusammengeballte[n] Macht des Kapitals“ wertete.28 Im Rückgriff auf den ökonomischen Populismus der politischen Rechten 24 BAK, B133/10, Brief Karl Stolz an Werner Jacobi, 11.9.1948. BAK, B133/2–4, Karl Stolz: Unser Volkswagen-Prozeß: wichtige Aufklärungen für Volkswagen-Sparer. Niedermarsberg 1949, S. 17. Deutsche Zeitung (19.2.1958). 25 Zum „Sparwillen“ als prägendem Mentalitätszug, siehe Axel Schildt: Ankunft im Westen. Ein Essay zur Erfolgsgeschichte der Bundesrepublik. Frankfurt 1999, S. 61–62. 26 BAK, B133/10, Anlage zu Brief Karl Stolz an Werner Jacobi, 11.9.1948. 27 BAK, B133/10, HEV, Rundschreiben Nr. 61, Erlinghausen, 5.11.1952. 28 BAK, B133/2–4, Rudolf Meichsner, Rundschreiben, Kopie, Berlin ohne Datum, 1. Siehe auch BAK, B133/10, HEV, Rundschreiben Nr. 61, Erlinghausen, 5.11.1952. Schulden der Vergangenheit?
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dämonisierte Stolz das Volkswagenwerk als übermächtigen Gegner der sogenannten „kleinen Leute.“29 Schließlich durchzogen politische Versatzstücke nationalsozialistischer Kampfrhetorik Stolz‘ öffentliche Verlautbarungen. So bekam ein Journalist 1953 auf die Frage nach der Anzahl der Vereinsmitglieder folgende Antwort: „Wir sind im Krieg und können die Stärke unserer Bataillone nicht verraten.“30 Auch gab der Vereinsvorsitzende zu Protokoll, dass er und sein Verein sich in einem „uns aufgezwungenen Kampfe“ nicht „niederknüppeln“ ließen.31 HEV, so sicherte Stolz seinen Mitstreitern per Rundschreiben zu, werde sich dem „Diktat des Volkswagenwerkes“ nicht beugen, sondern standhaft bis zum „Endsieg“ weiter kämpfen.32 Mochte der Hilfsverein für sich öffentlich unpolitischen Charakter reklamieren, verriet die von Freund-Feind Schemata geprägte Rhetorik die ideologische Herkunft der federführenden Verantwortlichen. Es waren daher primär prozesstaktische Überlegungen, die Stolz und seine Anhänger dazu veranlassten, das von der NSDAP koordinierte Volkswagenprojekt vor Gericht als unpolitische Initiative darzustellen. Angesichts des Nachhalls von NS-Gedankengut in der Vereinskultur war es nur schlüssig, dass der Vereinsvorsitzende eine direkte, rechtswirksame Kontinuitätslinie aus der unmittelbaren Vergangenheit in die historische Gegenwart postulierte. Letztendlich ging es Stolz um die Rehabilitierung des Sparerprojektes über die politische Epochengrenze von 1945 hinweg. *** Der HEV traf mit dem Volkswagenwerk auf einen Gegner, der sich im Prozessverlauf zu einem prominenten Unternehmen entwickelte.33 Von den britischen Besatzern 1948 auf den Posten als Generaldirektor berufen, baute der erfahrene Automanager Heinrich Nordhoff das Werk zu einer Weltfirma aus. In den fünfziger Jahren richtete sich die öffentliche Aufmerksamkeit nicht allein auf den in Wolfsburg millionenfach produzierten VW, der wie kein anderes Produkt den wachsenden Nachkriegswohlstand symbolisierte. Auch die Stadt Wolfsburg – bei Kriegsende eine teilweise zerstörte Barackensiedlung – mauserte sich zu einem Ort, der Besuchern die Aufbauleis29 Michael Hughes verweist auf die personellen Kontinuitäten der Sparervertreter der Zwischen- und Nachkriegszeit in Hughes: Shouldering the Burdens of Defeat, S. 32. 30 BAK, B133/10, Artikel, unbekannte Zeitung, 27.11.1952. 31 BAK, B133/10, HEV, Rundschreiben Nr. 65 (März 1953); Redemanuskript (Abschrift) „Vortrag des Vorsitzenden Karl Stolz … in der Pressekonferenz am 12. Februar 1952 in Bonn im Stern-Hotel,“ S. 1. 32 BAK, B133, HEV Rundschreiben, ohne Datum [1949]; HEV, Rundschreiben Nr. 65 (März 1953); HEV Rundschreiben, ohne Datum [Sommer 1954]. 33 Zu VW als Nachkriegssymbol, siehe Bernhard Rieger: The ‚Good German‘ Goes Global. The Volkswagen Beetle as an Icon in the Federal Republic. In: History Workshop Journal 69 (2009) S. 3–26.
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tungen des „Wirtschaftwunders“ erheblich früher als anderswo in der Bundesrepublik vor Augen führte. Während andernorts noch Kriegszerstörungen das Stadtbild dominierten, präsentierte sich Wolfsburg bereits um 1955 infolge eines von den Gewerbesteuern des Volkswagenwerkes finanzierten Baubooms als rasch wachsende und prosperierende Mittelstadt, deren ca. 50.000 Einwohner von zeitgemäßer Infrastruktur, neuen Wohnungsbauten, Schulen und anderen öffentlichen Einrichtungen profitierten. Das Volkswagenwerk selbst stand ebenfalls häufig im Rampenlicht, verkörperte es doch mit seiner bis 1962 auf 78 000 Beschäftigte expandierenden Belegschaft ein Beschäftigungswunder, das den VW-Arbeitern ab 1950 obendrein die bundesweit höchsten Löhne und Sozialleistungen bescherte. Unterstützt von energischer Öffentlichkeitsarbeit, sorgte Nordhoff dafür, dass Wagen und Werk in den fünfziger Jahren zu einem vielschichtigen Statussymbol des Wirtschaftwunders wurden. Die Volkswagensparer attackierten also kein x-beliebiges Unternehmen. Vielmehr griffen sie den Konzern an, der, folgt man dem Nachrichtenmagazin Der Spiegel, „des deutschen Wunders liebstes Kind“ produzierte und somit die Ikonographie des Wirtschaftwunders samt seiner Wohlstandverheißungen entscheidend prägte.34 Dass sich der Konzern wegen des Sparplanes aus dem Dritten Reich vor Gericht wiederfand, kann nicht sonderlich verwundern, da, wie eingangs erwähnt, undurchsichtige Rechtsverhältnisse den Unternehmensalltag bei Volkswagen in den fünfziger Jahren über den Sparerprozess hinaus prägten. Hatte Nordhoff den Forderungen des Hilfsvereins zunächst kaum Beachtung geschenkt, sah er sich mit Fortdauer des Prozesses zunehmend gezwungen, die Kläger aufgrund des potentiellen Streitwertes als Gefahr für sein Unternehmen ernst zu nehmen. Das Unternehmen verpflichtete daher ebenso prominente wie teure Rechtsbeistände einschließlich des arbeitgeberfreundlichen Kölner Wirtschaftsjuristen Hans-Carl Nipperdey. Auch verwandte der Betrieb erhebliche Energie auf Recherchen von Beweismaterial, das Licht in die verworrene Rechtslage bringen sollte, und sammelte zu diesem Zweck eine Vielzahl von Dokumenten aus dem Dritten Reich. Besondere Bedeutung erlangten Kontakte, die das Unternehmen zu ehemaligen Parteifunktionären knüpfte. „Da die Herren, die bei Volkswagen den Prozessstoff zu bearbeiten hatten,“ hieß es 1952 in einem internen Vermerk, „erst nach dem Krieg zum Volkswagenwerk“ kamen, suchten sie „den Sachverhalt soweit wie möglich zu klären.“ „Wiederholte Besprechungen“ fanden beispielsweise mit Bodo Lafferentz statt, der in den späten dreißiger Jahren in leitender Funktion bei KdF mit dem Volkswagenprojekt befasst gewesen war.35 Dass es sich bei derartigen Zusammenkünften nicht um reine Informationsgespräche, sondern auch 34 Der Spiegel (18.2.1959), S. 47. 35 VWA, 69/13, Protokoll „Vortrag des Herrn Dr. Knott zum Thema Volkswagensparer-Prozess“ während der „Sitzung Rechtsausschuß d. Beirates vom 29.4.1952 in Köln“, 1. Siehe auch VWA, 69/22, Brief (Durchschlag), Dr. Knoll an Herr v. Baer, 17.3.1952. Schulden der Vergangenheit?
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um verhandlungsstrategische Besprechungen handelte, zeigt die Enttäuschung seitens der VW-Rechtsabteilung über das „Umfallen“ von Zeugen während der gerichtlichen Beweisaufnahme.36 Ausgesprochen eng und kooperativ entwickelten sich die Beziehungen zwischen Konzernzentrale und den in Österreich ansässigen Familien Porsche und Piëch. Im Dritten Reich hatten der 1951 verstorbene Ferdinand Porsche, dessen Sohn Ferry sowie der in die Familie eingeheiratete Anton Piëch leitende Aufgaben in Wolfsburg inne gehabt. Die Geschäftsverbindung zwischen dem Porscheclan und VW riss 1945 nicht ab. So besorgte ein von den Porsches geleitetes, in Salzburg ansässiges Unternehmen den Generalvertrieb von Volkswagen in Österreich. Beide Seiten verband daher ein unmittelbares wirtschaftliches Interesse, die von den Volkswagensparern geforderten Haftungsansprüche soweit als möglich zu entkräften. Als in Piëchs Keller 1952 zwei Kisten mit Korrespondenz zur Frage der Spargelder auftauchten, bat das Werk dringend darum, diese Akten genau zu überprüfen, da sie „wertvolle Aufschlüsse geben [könnten] über Dinge, die wir jetzt nicht wissen.“37 Über die Höhe der zu erwartenden Entschädigungszahlungen durchzog nagende Unsicherheit die interne Unternehmenskorrespondenz bis zum Prozessende.38 In den ersten Jahren zielte die Verteidigungsstrategie des Konzerns primär auf die moralische und politische Diskreditierung der Volkswagensparer. Im ersten, 1949 geführten Prozess warf das Werk den Mitgliedern des Hilfsvereins verantwortungslosen Egoismus vor und behauptete, Stolz gefährde durch die Verfolgung eines Sonderinteresses leichtfertig ein sich erholendes Unternehmen mit 9.000 wertvollen Arbeitsplätzen.39 Darüber hinaus erklärten die Werksanwälte im gleichen Jahr hinsichtlich Stolzens Forderung auf Lieferung eines Wagens ohne Aufpreis, es verstoße „gegen das Anstandsgefühl aller Billig- und Gerechtdenkenden,“ dass „die Kläger einen Wagen für DM 1.000 erwerben wollen, der DM 4.800 [dies war der 1949 übliche Handelspreis, B.R.] wert“ sei. Der Hinwies auf die Diskrepanz zwischen dem von den Sparern im Dritten Reich eingezahlten Betrag und der in der Nachkriegszeit handelsüblichen Summe sollte Stolz und seine Anhänger als habgierige Schnäppchenjäger entlarven.40 Auch bemühten sich die Vertreter des Werkes, die von Stolz erhobene Behauptung, die Vereinsmitglieder hätten sich die Ratenbeträge buchstäblich vom 36 VWA, 69/22, Brief G. Brechlin an Dr. Piëch, 1.7.1952. 37 VWA, 69/22, Brief G. Brechlin an Dr. Piëch, 1.7.1952. Brief, Anton Piëch an Dr. Knott, 26.6.1952. 38 VWA, 69/13, interne Mitteilung, Dr. Knott an Dr. Nordhoff, 11.1.1952. Noch kurz vor dem Vergleich von 1961 erinnerte der Richter beide Seiten, dass es „hier um eine Entscheidung geht, die durchaus offen ist.“ VWA, 69/14, „Schlussausführungen in dem gestrigen Termin vor dem Bundesgerichtshof in Karlsruhe, 1.6.1961,“ Abschrift, S. 1. 39 BAK, B133, 2–4, Dr. jur C. Köhler und A. Funke, Rechtsanwalt Schoefer an Landgericht Hildesheim, Erwiderung auf Klageschrift, 10.8.1949, S. 19. 40 Ebd., S. 20.
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Mund abgespart, mit dem Hinweis zu entkräften, dass die VW-Sparer lediglich einen durch eingeschränkte Konsummöglichkeiten, im Krieg entstandenen „Geldüberhang abgeschöpft“ hätten. Diese Argumentationslinie attackierte die Sparer in zweierlei Hinsicht. Sie wandte sich erstens gegen deren Selbstdarstellung als Verkörperung bürgerlicher Tugendhaftigkeit, deren Ansprüche auf Konsumverzicht beruhten. Sparen im Krieg, so das Werk, habe angesichts eingeschränkten Warenangebots keinen Verzicht bedeutet.41 Den Werksanwälten zufolge erhob Stolz einen vernachlässigenswerten Anspruch, da er lediglich totes Kapital verloren habe. Eine zweite, erheblich radikalere Stoßrichtung erklärte Stolz kurzerhand zum gewissenlosen Kriegsgewinnler. Vor Gericht gaben die Anwälte des Werkes zu bedenken, dass die VW-Sparer ihren „Traum, Autobesitzer werden zu können“ unter den vermeintlich günstigen Bedingungen „einer unsoliden Kriegskonjunktur“ verfolgt hätten, „während ihre Brüder und Söhne im Felde verbluteten.“42 Das Volkswagenwerk konfrontierte Stolz also vor Gericht mit der gezielten Provokation, sein Anliegen entehre das Andenken der Gefallenen, und sprach ihm somit jeglichen Sinn für Pietät ab. Zusätzlich zu den eben skizzierten moralischen Angriffen startete der Konzern in der Frühphase des Prozesses politische Attacken und brandmarkte die Gegenseite als Sympathisanten des Nationalsozialismus, die sich den materiellen Konsequenzen des Regimezusammenbruches zu entziehen trachteten. Hierauf lief die Erklärung des Wolfsburger Rechtsbeistands aus dem Jahr 1949 hinaus. Dieser gab zu bedenken, dass es sich bei der „Volkswagenaktion“ um eine „in allen ihren Teilen … hochpolitische Aktion“ gehandelt habe, da die Initiative für den Bau des Werkes sowie für die Durchführung des Sparplanes vom NS-Regime ausgegangen sei. Die VW-Sparer hätten durch ihre Teilnahme der nationalsozialistischen Diktatur „besonderes Vertrauen“ erwiesen. Unter den grundsätzlich veränderten Bedingungen der Nachkriegszeit könne man allerdings nicht vom Volkswagenwerk die Erfüllung von Versprechen einer untergegangenen Regierung erwarten, schloss die Argumentation der Wolfsburger Autobauer. Dieser Gedankengang wurde auch als Argumentationshilfe für Auseinandersetzungen mit VW-Sparern an Vertragshändler weiter geleitet.43 In seiner Funktion als von Volkswagen bestellter Gutachter ging Nipperdey 1952 noch einen Schritt weiter. Er riet dem Gericht, die Anzahlungen aus dem Dritten Reich als gegenstandslos zu erachten, da die „Volkswagensparer …, was den erstrebten Wagen betrifft, sich ‚auf Gedeih und Verderb‘ … mit der nationalsozialistischen Diktatur“ verbunden hätten. Die Kläger seien ein „Risiko eingegangen“ indem sie darauf bauten, dass „‘alles gut ging‘ [und] … die Diktatur am Ruder blieb.“ Mit dem Zusammenbruch 41 Ebd., S. 21. 42 Ebd., S. 21. 43 Ebd., S. 21–22. VWA, 69/19, Dr. Knott an Dr. Nordhoff, „Rundschreiben zur ‚Unterrichtung der Volkswagenhändler,‘“ 13.11.1949. Schulden der Vergangenheit?
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des Dritten Reiches seien völlig neue Bedingungen entstanden, die den unter nationalsozialistischen Umständen zustande gekommenen Vereinbarungen die Grundlage entzögen, folgerte Nipperdey.44 Auch wenn die VW-Sparer nicht explizit zu Nazis erklärt wurden, betonten die vom Werk angeheuerten Anwälte, dass es sich bei den Klägern mehrheitlich um eine regimenahe Gruppe handele, die sich weigere, die materiellen Konsequenzen ihrer politischen Niederlage zu tragen und die Vergangenheit als abgeschlossen zu betrachten. Mitte der fünfziger Jahre schwenkte VW allerdings auf eine neue Linie ein, die auf die moralische und politische Diskreditierung der Gegner weitgehend verzichtete. Nachdem die Richter 1954 in zwei Urteilen festgestellt hatten, dass die VW-Sparer unwiderlegbare, wenn auch im Detail noch zu bestimmende Lieferansprüche besäßen, verlegte sich das Werk auf finanzielle Schadensbegrenzung.45 Die Konzernseite schob nun den Einwand in den Vordergrund, dass sich das in Wolfsburg produzierte Nachkriegsmodell technisch erheblich von der Ursprungskonstruktion aus dem Dritten Reich unterscheide. Da die Weiterentwicklung das Automobil verteuert habe, sei es unrealistisch, die im Dritten Reich erbrachte Sparleistung zur Grundlage eines substantiellen Rabatts zu machen, da sich das Nachkriegsprodukt fundamental von dem von den Nationalsozialisten in Auftrag gegebenen Gefährt unterscheide.46 Selbstverständlich ließ sich über diese Behauptung trefflich streiten, stammten doch wichtige technische Merkmale des Wagens einschließlich des luftgekühlten Heckmotors und der Drehstabfederung aus der Zeit vor 1945. Dieser Strategiewechsel seitens des Konzerns hatte erhebliche Konsequenzen für das öffentliche Erscheinungsbild des VW-Prozesses. Zwar hatte die Kritik an der Regimenähe der VW-Sparer der Firma Möglichkeiten zur politischen und moralischen Stigmatisierung des Hilfsvereins eröffnet, doch barg diese Taktik eine doppelte Gefahr. Im gleichen Zug, in dem Volkswagen die Volkswagensparer zu Sympathisanten des Nationalsozialismus stempelte, zerrte das Unternehmen unweigerlich seine eigene Vorgeschichte ins Rampenlicht. Ein Verzicht auf dieses Argument vermied es hingegen, öffentliches Interesse auf dieses heikle Thema zu lenken. Selbstverständlich wusste die westdeutsche Öffentlichkeit in den fünfziger Jahren von Hitlers maßgeblicher Beteiligung an der Werksgründung, doch bemühte sich das Unternehmen darum, die eigene Geschichte vor 1945 durch Beschweigen zur bedeutungslosen Epi44 NHH, Nds 710/100/83, Nr.1, Dr. H.C. Nipperdey: Rechtsgutachten in Sachen Rudolf Meichsner und Karl Stolz gegen Volkswagenwerk GmbH, 1.10.1952, S. 41. 45 Vgl. NHH, Nds 720 Hildesheim, acc.61/79, Teilurteil Oberlandesgericht Celle, 4.1.1954; Teil-Urteil des Bundesgerichts in Karlsruhe im Volkswagen-Prozess vom 21. Dezember 1954. Niedermarsberg 1955. 46 VWA, 69/14, Protokoll, Vergleichsverhandlungen vor dem Bundesgerichtshof in Karlsruhe am 14. Oktober 1961, S. 1.
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sode zu erklären.47 Außerdem lief die Firma Gefahr, durch Angriffe auf Stolz‘ politische Vergangenheit Teile der Kundschaft zu vergraulen. Schließlich erklärten sich in der zweiten Hälfte der Fünfziger breite Teile der westdeutschen Gesellschaft nicht nur mit ehemaligen Nationalsozialisten, sondern auch mit verurteilten Kriegsverbrechern und ehemaligen Mitgliedern der Waffen-SS solidarisch.48 In einem derartigen Klima gerieten vergangenheitspolitische Polemiken für ein Unternehmen schnell zum Betriebsrisiko. Trotz ihrer diametral entgegengesetzten Interessen ergab sich ab Mitte der fünfziger Jahre zwischen den Streitparteien ein merkwürdiges Übereinkommen im Hinblick auf den politischen Charakter des VW-Projektes im Dritten Reich. Während die VW-Sparer sich ins Gewand des unpolitischen Durchschnittsbürgers hüllten und das Werk die Gründungsepoche des Unternehmens mit Schweigen belegte, verwischten beide Seiten die ideologischen Umrisse des Volkswagenprojektes im Nationalsozialismus. Somit leisteten beide Prozessparteien einem Geschichtsbild Vorschub, das dem VW-Käfer eine entpolitisierte Geschichte zuschrieb. Zur Begrenzung der Ansprüche der Sparer zog sich das Werk gleichzeitig darüber hinaus auf den Standpunkt zurück, dass der Volkswagen der fünfziger Jahre nur wenig mit dem im Dritten Reich entworfenen Wagen gemein habe. Dieser Gedankengang bildete die Grundlage für die Behauptung, dass der Sparplan der KdF einem ganz anderen Gefährt gegolten habe. Das Unternehmen beschuldigte also Stolz und seine Anhänger, auf Entschädigung durch ein völlig neues Produkt zu drängen. Aus der Perspektive des Werkes entbehrte die NS-Vergangenheit jeder Relevanz für die Gegenwart – eine ausgesprochen paradoxe Interpretation in Anbetracht der Tatsache, dass die Existenz des Unternehmens direkt auf Hitlers Initiative zurückging. *** Die mit dieser Zivilsache befassten Gerichte sahen sich einer ausgesprochen vertrackten Rechtsfrage gegenüber. Zunächst ist festzuhalten, dass die Richter zu keinem Zeitpunkt des zwölf Jahre dauernden Prozesses die Angelegenheit als rechtlich trivial erachteten. Vielmehr verdeutlichen die sich einander wiederholt revidierenden Urteile, dass einer juristisch gesicherten Bestimmung des Verhältnisses zwischen Gegenwart und Vergangenheit erhebliche Schwierigkeiten im Wege standen. Anhaltende Unklarheit darüber, ob und in welchem Umfang Volkswagen aus dem Dritten Reich herrührende finanzielle Verpflichtungen erfüllen müsse, war nicht zuletzt der unüber47 Dies wird besonders deutlich in den Prospekten für den Käfer aus dieser Zeit. Eine Auswahl findet sich im Archiv des Deutschen Museums, München, Firmenschriftensammlung, Prospekt Volkswagen. ohne Datum, ca.1955, S. 3; Prospekt Volkswagen 34 PS. 1960, S. 3. 48 Frei: Vergangenheitspolitik; Karsten Wilke: Organisierte Veteranen der Waffen-SS zwischen Systemopposition und Integration. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 53 (2005) 2, S. 149–166. Schulden der Vergangenheit?
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sichtlichen Sachlage geschuldet. Dass die Tatsachenfeststellung erhebliche Probleme aufwarf, lag nicht an mangelnder Sorgfalt der Gerichte. Der Bundesgerichtshof veranlasste zur Feststellung der finanziellen Tragweite seiner Entscheidung neben einer Plakataktion in 23.700 Gemeinden Anfang 1953 bundesweit Aufrufe in 62 Tageszeitungen, auf die sich 134 045 VW-Sparer mit einem Gesamtguthaben von RM 137 083 337 meldeten.49 Auch bemühten sich die Richter angesichts des Streitwerts um gesicherte Informationen über die wirtschaftliche Situation des Volkswagenwerkes, dessen Existenz das Urteil nicht bedrohen sollte. Da VW einem gerichtlich bestellten Gutachter Einblick in die Unternehmensbuchführung verwehrte, blieb die für die Bemessung von Kompensationsansprüchen zentrale Frage nach den Herstellungskosten des VW-Käfers unbeantwortet.50 Ein Grundproblem bestand also darin, dass die Gerichte keine Handhabe besaßen, um die Belastbarkeit des Unternehmens zu bestimmen. Das größte Hindernis bei der Entscheidungsfindung bildete allerdings der Umstand, dass das Dritte Reich die Verantwortlichkeiten zwischen der federführenden KdF und dem für die Automobilproduktion zuständigen Volkswagenwerk im Vagen gelassen hatte. Da das Verhältnis zwischen diesen Hauptakteuren bereits vor 1945 von Spannungen geprägt gewesen war und viele Akten verschollen blieben, ordneten die Gerichte 1952 und 1959 die Befragung leitender Funktionäre und Manager aus der NS-Zeit an. Deren Aussagen waren selbstverständlich mit Vorsicht zu genießen, spiegelten sie doch unterschiedliche, aus der Nachkriegssituation herrührende Interessenlagen. Bodo Lafferentz, ehemaliger Leiter der KdF-Vertriebsorganisation, nutzte zum Beispiel seine Vorladung, um sich als Interessenwalter der VW-Sparer in Szene zu setzen, der vor 1945 den Zugriff des Werkes auf die eingegangenen Sparbeträge verhindert habe. Lafferentz gerierte sich also als Vertreter der „kleinen Leute.“51 Dass das Werk ein Auge auf die Spareinzahlungen geworfen hatte, stellte Anton Piëch, von 1941 bis 1945 Werksleiter, gar nicht in Abrede. Als Schwiegersohn Ferdinand Porsches und nunmehriger Geschäftsführer von Volkswagens österreichischem Generalimporteur hatte Piëch allerdings ein offenkundiges Interesse daran, die Frage, ob die Sparer Kaufverträge mit dem Werk abgeschlossen hatten, zu verneinen.52 Eine anders lautende Aussage hätte die Firma, mit der Piëchs Arbeitgeber enge und lukrative geschäftliche Verbindungen unterhielt, hohen finanziellen Forderungen ausgesetzt. 49 NHH, Nds 710/100/83, Bericht der Deutschen Revisions- und Treuhand-Aktiengesellschaft, 31.10.1953. 50 BAK, B133/17, Professor Dr. Theodor Beste: Gutachten in dem Rechtsstreit Meichsner und Stolz gegen Volkswagen GmbH (Abschrift). Köln, 15.8.1953, S. 12, S. 21. 51 NHH, Nds 710/100/83, Protokoll der Beweisaufnahme (Abschrift), Oberlandesgericht Celle, 1. Zivilkammer, verhandelt in Stuttgart, 16.6.1952, S. 36–39. Andere Parteifunktionäre verhielten sich ähnlich. Siehe Ebd., S. 22. 52 Ebd., S. 12, 13.
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Während Altnazis die Beweisaufnahme primär als reputationssicherndes Schaulaufen verstanden, konzentrierten sich die dem Werk verbundenen Manager auf die Verteidigung materieller Besitzstände. Daher konnten auch die Zeugenaussagen die rechtliche Grauzone, in der der VW-Prozess geführt wurde, nicht ausleuchten. Angesichts der den Fall umgebenden Rechtsunsicherheit bereiteten zwei Fragen den Richtern besonderes Kopfzerbrechen. Erstens bestand Unklarheit über den Charakter der Verträge, die die VW-Sparer im Dritten Reich abgeschlossen hatten. Zweitens mussten die Richter entscheiden, ob die finanziellen Ansprüche der VW-Sparer mit dem Untergang des NS-Regimes ihre Wirksamkeit verloren hatten. Im Januar 1950 kam das Landgericht Hildesheim in einem ersten Urteil zu der Auffassung, dass die „Grundlagen“ der Sparverträge „nach dem totalen Verlust des Krieges [und] nach Beseitigung der nationalsozialistischen Diktatur … völlig und grundlegend verändert“ seien. Daher seien die Verträge gegenstandslos. Das Gericht mochte jedoch die Existenz „formale[r] Rechtsansprüche“ der VW-Sparer nicht ausschließen. Gleichzeitig gab es aber zu bedenken, dass es „heute und in noch absehbarer Zeit … aber im Interesse jedes einzelnen deutschen Menschen darum [geht], die uns trotz Krieg und Demontage verbliebenen Reste unseres Volksvermögens zu erhalten und wieder aufzubauen, statt sie noch weiter niederzureißen.“ Auf Letzteres liefe eine Erfüllung der Sparverträge zum damaligen Zeitpunkt hinaus, so die Hildesheimer Richter. Wie „alle sonstigen ‚Sparer,‘“ die „infolge von Krieg und Währungsreform … Opfer“ gebracht hätten, müssten sich jetzt auch die VW-Sparer mit Verlusten abfinden, so das Landgericht Hildesheim.53 Dass Stolz nach diesem Urteil vor die nächste Instanz zog, ist kaum verwunderlich. Schließlich stellte das Urteil einen formalen Rechtsanspruch der Sparer fest, verneinte aber dessen Relevanz aus pragmatischen Gründen. Anders gewendet: die Richter hatten keineswegs eindeutig entschieden, dass die Vergangenheit keine rechtliche Bedeutung mehr für die Gegenwart besaß. Ende 1954 hatte sich der Nebel immer noch nicht gelichtet. In diesem Jahr entschied der Bundesgerichtshof, dass die Sparpläne für den KdF-Wagen nicht als „Einzelverträge“ anzusehen seien. Derartige Verträge, führten die Karlsruher Richter aus, seien im Dritten Reich nicht notwendig gewesen, solange das Regime die Gültigkeit des Massenmotorisierungsprogramms garantiert habe.54 Der Umstand, dass die Teilnehmer „ein nicht unbeträchtliches Vertrauen in die Macht- und Finanzmittel“ der Deutschen Arbeitsfront bewiesen hätten, machte jedoch nach Ansicht des Gerichts deren gegenwärtige Ansprüche keineswegs automatisch hinfällig. Der „Geist“ der „Gesamtaktion…, der … durch den Machtanspruch der politischen Dienststellen des damaligen Staates seine besondere Note erhielt,“ habe ja, so der Karlsruher Senat, 53 NHH, Nds 720/Hild/Acc.61/79, Landgericht Hildesheim, Urteil, 19.1.1950, S. 8, 13. 54 NHH, Nds 720 Hildesheim/acc.61/79, 200, Bundesgerichtshof Karlsruhe, Urteil, 21.12.1954, S. 15. Schulden der Vergangenheit?
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den Abschluss von Einzelverträgen überflüssig gemacht.55 Daher könnten, so schloss das Urteil, die Sparer auch ohne Einzelverträge geltende Kompensationsansprüche besitzen.56 Die Richter wiesen also auf die politischen Besonderheiten des Dritten Reiches und deren Konsequenzen für die Sparaktion hin. Was diese Faktenlage für aus der Vergangenheit in die Gegenwart hineinreichende finanzielle Forderungen bedeutete, ließen sie allerdings offen. Trotz mehrerer Folgeurteile blieb die Frage bis 1961 umkämpft, welche Ansprüche die Sparer gegenüber dem Werk besaßen. Da das Unternehmen in diesem Jahr in eine Aktiengesellschaft umgewandelt wurde, lag die Beendigung der Sache im Konzerninteresse.57 Ein sich weiter in die Länge ziehender Prozess hätte die börsennotierte Firma Unwägbarkeiten ausgesetzt. Daher handelte Nordhoff Mitte Juni einen Vergleich aus, der VW dazu verpflichtete, ehemaligen Sparern einen Rabatt von DM 600 zu gewähren. Stolz konnte dieses Ergebnis seinen Anhängern als Prestigeerfolg verkaufen, da die Sparer, die im Dritten Reich 1000 Reichsmark eingezahlt hatten, nun eine 60%ige Entschädigung erhielten. Diese Quote lag deutlich über den 6,5%, mit denen Sparguthaben im Rahmen der Währungsreform umgestellt worden waren. Für Volkswagen war der Vergleich insofern attraktiv, als das Unternehmen den Rabatt nicht aus eigenen Rücklagen finanzieren musste. Vielmehr sprach der Bundesgerichtshof dem Werk DM 17 Millionen aus dem gesperrten Konto zu, auf dem die von Kraft durch Freude im Dritten Reich eingesammelten Sparguthaben lagen.58 Da sich bis Mitte 1962 lediglich 25.000 Sparer mit der Bitte um Auslieferung eines verbilligten Wagens gemeldet hatten, rechnete das Werk ein Jahr nach Abschluss des Vergleichs mit einer „verlustfreien“ Abwicklung der Angelegenheit.59 Mit diesem Schiedsspruch erkannte das Gericht die aus der Vergangenheit herrührenden Kompensationsansprüche der VW-Sparer an und sorgte gleichzeitig durch die Zuweisung der KdF-Sparguthaben an Volkswagen für ein Entschädigungsverfahren, das dem Unternehmen keine größeren finanziellen Bürden auferlegte. Insofern verfügte der BGH eine Begleichung der Schulden der Vergangenheit, ohne die Gegenwart materiell zu belasten. Die Form des Vergleichs war für alle Seiten weit über die getroffenen finanziellen Regelungen hinaus attraktiv. Aufgrund seines Kompromisscharakters ermöglichte es der Vergleich den Richtern, auf eine detaillierte Urteilsbegründung zu verzichten. Daher sah sich 55 Ebd., S. 19–20. 56 Ebd., S. 39. 57 Heidrun Edelmann: Heinz Nordhoff und Volkswagen: ein deutscher Unternehmer im amerikanischen Jahrhundert. Göttingen 2003, S. 206–225; Steven Tolliday: Enterprise and State in the West German Wirtschaftswunder. Volkswagen and the Automobile Industry, 1939–1962. In: Business History Review 69 (1995), S. 275–350, S. 340–345. 58 VWA, 69/14, Protokoll, Vergleichsverhandlungen vor dem Bundesgerichtshof in Karlsruhe, 14.10.1961. 59 VWA, 69/5, interne Mitteilung, Dr. Knott an Dr. Nordhoff, 21.6.1962.
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der BGH auch nicht der Notwendigkeit ausgesetzt, die rechtlichen Beziehung zwischen unmittelbarer Vergangenheit und Gegenwart abschließend klären zu müssen. Aus diesem Blickwinkel blieb das Verhältnis zwischen Vergangenheit und Gegenwart, zwischen Drittem Reich und Bundesrepublik, ebenso unklar wie die unübersichtliche Rechtslage. Der Vergleich schaffte Tatsachen, ohne die ihnen zugrunde liegenden Prinzipien zu artikulieren. *** In der westdeutschen Öffentlichkeit stieß der Mammutprozess von Beginn an auf reges Interesse, da er einen Sachverhalt berührte, der in anderen zeitgenössischen Auseinandersetzungen über die unmittelbare Vergangenheit keine Beachtung fand. Weite Gesellschaftskreise zeigten sich zwar im Übergang von den vierziger zu den fünfziger Jahren unzufrieden mit der Entnazifizierung und verweigerten sich einer breit angelegten moralischen Diskussion über deutsche Schuld an Kriegsverbrechen und Holocaust, verfolgten aber Debatten, die sich mit der Kompensation kriegsbedingter Verluste seitens der deutschen Bevölkerung beschäftigten, mit umso größerer Aufmerksamkeit. Hier trat das deutsche Volk nicht als Täter-, sondern als Opfergemeinschaft auf. Dieses Interpretationsmuster war im Umfeld des sog. Lastenausgleichs besonders ausgeprägt, der die Entschädigung von Verlusten durch Luftangriffe und Vertreibungen regelte.60 Ging es beim Lastenausgleich um Kompensation von Einbußen, die direkt von alliierten Kriegshandlungen herrührten, war der VW-Prozess anders gelagert. Hier stellte sich die Frage nach der Gültigkeit nationalsozialistischer Versprechungen in der Bundesrepublik. Dieser Unterschied tat dem öffentlichen Interesse ebensowenig Abbruch wie die Tatsache, dass sich die juristischen Feinheiten dieses Rechtsstreits dem Verständnis der meisten Bundesbürger entzogen. Mitte Januar 1950 erhob die Süddeutsche Zeitung die Angelegenheit zum „interessantesten Rechtsstreit nach dem Kriege,“ dem „alle Attribute einer Sensation“ anhafteten. Anlässlich der ersten Urteilsverkündung in Hildesheim drängten sich daher auch „Rundfunk, Presse, Photoreporter und Volkswagensparer aus dem ganzen Bundesgebiet“ im Gerichtssaal.61 Klageführer Karl Stolz wurde im Lauf des Prozesses zu einer republikweit bekannten Persönlichkeit, wobei, abgesehen von kommentarlosen Verweisen auf dessen Parteimitgliedschaft sowie seine vormalige Anstellung bei einer Dortmunder Brauerei, nur spärliche Informationen über dessen Vita vor 1945 in die Öffentlichkeit drangen. Stolz‘ Hartnäckigkeit, 60 Zum Lastenausgleich, siehe Hughes: Shouldering the Burdens of Defeat. Peter Paul Nahm: Lastenausgleich und Integration der Vertriebenen und Geflüchteten. In: Richard Löwenthal/ Hans-Peter Schwarz (Hg.): Die zweite Republik. 25 Jahre Bundesrepublik Deutschland – eine Bilanz. Stuttgart 1974, S. 817–841. 61 Süddeutsche Zeitung (21./22.1.1950). Siehe auch Bremer Nachrichten (20.1.1950). Schulden der Vergangenheit?
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organisatorische Emsigkeit und Courage riefen jedoch vielfach Bewunderung hervor. Im Einklang mit den Verlautbarungen des Sparervereins erblickten Pressevertreter in ihm einen Streiter für die Sache der „kleinen Leute,“ der sich als „David“ mit einem unternehmerischen „Goliath“ messe.62 Trotz des Respekts für Stolz folgten nur Teile der Öffentlichkeit dessen Argumentation, dass es sich beim Volkswagenprojekt um eine unpolitische Initiative des NSRegimes gehandelt habe. Die Süddeutsche Zeitung bezeichnete mit Bezug auf den umfangreichen Propagandaaufwand im Dritten Reich den Volkswagen als einstmaligen „Goebbelsschlager.“63 Die Einschätzung, der Volkswagen gehe auf nationalsozialistische Impulse zurück, war über Parteigrenzen hinweg verbreitet, wenn auch im Einzelfall unterschiedliche Belege für diesen Befund herangezogen wurden. Ein sozialdemokratisches Blatt machte beispielsweise geltend, dass es sich beim Volkswagenwerk um ein rüstungspolitisches Unterfangen gehandelt habe, worauf die Kriegsproduktion des an den Käfer angelehnten Kübelwagen während des Krieges verweise.64 Die durch und durch bürgerliche Stuttgarter Zeitung kritisierte Stolz ihrerseits dafür, „den Volkswagen nachträglich entnazifizieren“ zu wollen, bestimmte aber das NS-Erbe des Käfers nicht weiter.65 Dass der erste Volkswagen nicht zufälligerweise zeitgleich mit dem Dritten Reich entstanden war, sondern seine Existenz dem Nationalsozialismus kausal verdankte, war der bundesrepublikanischen Gesellschaft weithin bekannt und wurde von ihr auch offen akzeptiert. In diesem Punkt gab es keinerlei politische Geheimniskrämerei. Die politischen Wurzeln des Volkswagens stellten jedoch keineswegs die Legitimität des von den VW-Sparern verfolgten Anliegens in den Augen der Öffentlichkeit in Frage. Vielmehr wurden die im Verein um Stolz Organisierten den zahlreichen Opfergruppen in der Bundesrepublik zugeschlagen. „Die um ihre Wagen Betrogenen tragen das gleiche Schicksal wie die, die ihr Haus und ihre Heimat verloren haben. Den Krieg haben wir alle verloren,“ erklärte im Dezember 1954 eine sozialdemokratische Tageszeitung in Köln.66 Der Unterscheidung, dass Vertriebene und Ausgebombte unter Kriegsverlusten litten, während die VW-Sparer finanzielle Einbußen als Folge einer gescheiterten Parteiinitiative beklagten, maß die öffentliche Diskussion keine prinzipielle Bedeutung zu. Hier offenbarte sich die Nachkriegsgesellschaft als Opferge62 Saarländische Volkszeitung (13.3.1956); Neuer Vorwärts (8.1.1954); Neue Rhein-Zeitung (17.10.1961); Westfälische Rundschau (17.10.1961). 63 Süddeutsche Zeitung (21./22.1.1950). 64 Neuer Vorwärts (8.1.1954). Richard Overy hat bereits vor langer Zeit darauf hingewiesen, dass rüstungspolitische Aspekte beim VW-Projekt eine ursprünglich untergeordnete Rolle spielten. Richard Overy: Transportation and Rearmament in the Third Reich. In: Historical Journal 16 (1973) 2, S. 389–409. 65 Stuttgarter Zeitung (26.9.1955). 66 Neue Rhein-Zeitung (22.12.1954).
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meinschaft, der sich Deutsche unterschiedlichster Couleur zurechnen konnten. Dass die Sparer in ihrem Bemühen um Kompensation von den Gerichten ernst genommen wurden, beruhigte vor diesem Hintergrund das „gesunde Rechtsempfinden“ mehr als eines Beobachters.67 Allerdings sahen selbst wohlgesonnene Zeitgenossen in Stolz zeitweise einen „modernen Michael Kohlhaas,“ wenn dieser bei seiner Suche nach Gerechtigkeit, der Kleistschen Figur ähnlich, Maß und Ziel vermissen zu lassen schien.68 So fehlte es nicht an Ermahnungen, dass nicht die Gerichte, sondern die Nationalsozialisten für die Probleme der VW-Sparer verantwortlich waren. In diesem Sinne argumentierte der Pressedienst der SPD, dass diese Gerichtssache den Deutschen „noch einmal“ in Erinnerung rufe, „mit welch‘ betrügerischen Methoden ihnen im Regime der ‚1000 Jahre‘ Wohlstand und Möglichkeiten vorgegaukelt“ worden waren.69 Unabhängig davon, dass die Öffentlichkeit die Ansprüche der VW-Sparer als gerechtfertigt betrachtete, wurden im Laufe der fünfziger Jahre zunehmend Rufe an Stolz‘ Adresse laut, sich mit den Verlusten zu arrangieren. Die Mehrzahl der deutschen Opfergruppen, so lautete der Tenor der Gazetten, hätten sich schließlich auch zu diesem Schritt durchringen müssen. Nach einem für Stolz ungünstigen Teilurteil mutmaßte ein Prozessbeobachter 1958: „Die Sparer werden sich wohl damit abfinden müssen, dass es auch ihnen nicht besser ergeht als Millionen anderer Bürger, die vergebens darauf warten, aus der Konkursmasse des Dritten Reiches wenigstens einen Bruchteil ihres Verlustes wieder herauszubekommen.“70 Während eine Minderheit Stolz als Egoisten an den Pranger stellte, der durch seine Schadensersatzansprüche ein florierendes Unternehmen bedrohte, forderten andere ein Ende des Beharrens auf einer vermeintlichen Sonderbehandlung: „Der kleine Mann …, der in der Nazizeit seine Volkswagen-Sparkarte vollklebte, hat nichts anderes getan als sein Nachbar, der … sein Geld zur Sparkasse brachte,“ schrieb ein sozialdemokratisches Blatt. Die Sparkassenkunden hätten im Rahmen der Währungsumstellung harte Verluste hinnehmen müssen, und „wir können nicht einsehen, warum die ehemaligen Volkswagensparer nachträglich besser als die übrige Bevölkerung“ gestellt werden sollten.71 Gegen Ende der fünfziger Jahre prägten zusehends Überdruss und Desinteresse die Berichterstattung. „Der VW-Sparer-Prozeß ist grauhaarig geworden,“ titelte 1959 die Stuttgarter Zeitung nicht zuletzt deshalb, weil, so konnte man andernorts lesen, Stolz den Prozess mit der Ablehnung eines Vergleichsangebots aus Wolfsburg verschleppt 67 Hessische Nachrichten (6.1.1954); Deutsches Wort (1.5.1960). 68 BAK, B133/10, Artikel, unbekannte Zeitung, 27.11.1952. 69 Bundespresseamt, Berlin, Pressedokumentation, Mikrofilm 3483, SPD-Pressedienst. Die Gretchenfrage im VW-Prozess. 24.11.1958, S. 6. Siehe auch Mikrofilm 3484, Der Spiegel 42 (1959); Frankfurter Allgemeine Zeitung (8.10.1959). 70 Süddeutsche Zeitung (10.11.1958). 71 Neuer Vorwärts (8.1.1954). Der Vorwurf des Egoismus wurde erhoben in Mittag (5.1.1954). Schulden der Vergangenheit?
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habe.72 Ende der fünfziger Jahre mutete der VW-Prozess die Zeitgenossen als zunehmend unzeitgemäß an. Auf den ersten Blick überrascht daher das positive Pressecho auf den für beide Gegner vorteilhaften Vergleich aus dem Jahr 1961. Stolz, hieß es, habe nun seine „moralisch“ unanfechtbaren „Ansprüche“ durchgesetzt und Anerkennung durch einen Abschluss erhalten, den die deutsche Presselandschaft nahezu unisono als „vernünftig“ und „gerecht“ begrüßte.73 Das Nebeneinander von Kritik an Stolz‘ Beharrlichkeit in der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre und die positive Reaktion auf dessen Teilerfolg verweist auf zwei Grundmerkmale frühbundesrepublikanischer Vergangenheitskultur. Einerseits erwartete die Öffentlichkeit nach Ablauf des ersten Nachkriegsjahrzehnts von Gruppen, die Kriegsverluste beklagten, zunehmend, sich prinzipiell mit ihrem Los – sei es Vertreibung, sei es Eigentumsverlust – abzufinden. Dieses Motiv schwang deutlich im schwindenden öffentlichen Verständnis für Stolz‘ Klage mit, wenn Zeitgenossen diesen beschuldigten, im Vergleich mit anderen Geschädigten einen Sonderstatus für sich und seine Anhänger zu reklamieren. Die wachsende gesellschaftliche Ungeduld über Stolz wird vor allem dann verständlich, wenn man sich vor Augen hält, dass umfassende Kompensation für Kriegsverluste eine Ausnahme in der frühen Bundesrepublik blieb. Dem Lastenausgleich ging es weniger um den Ersatz von Eigentum, denn um Starthilfen für vom Kriegsausgang besonders hart betroffene Personen wie Vertriebene und Ausgebombte. Bezeichnenderweise sah das Lastenausgleichsgesetz keine Kompensation für währungsreformbedingte Einbußen vor, da diese nicht als existentiell gewertet wurden.74 Mit dem aufkommenden „Wirtschaftswunder“ setzte sich parallel das Konzept der Bundesrepublik als „Leistungsgesellschaft“ durch, die materiellen Wohlstand und gesellschaftliches Ansehen an beruflichen Erfolg und nicht an Ansprüche aus der Vergangenheit koppelte.75 In diesem Klima konnte eine Person wie Stolz, der unbeirrt Ansprüche aus dem Dritten Reich verfolgte, leicht als vergangenheitsfixierter Querulant erscheinen. All dies bedeutet andererseits nicht, dass die Bundesdeutschen die Frage grundsätzlich danach verneinten, ob vielen ihrer Mitbürger in Krieg Ungerechtigkeit widerfahren sei. Die wohlwollende Resonanz auf den Vergleich, der Stolz‘ Kompensationsansprüche bestä72 Stuttgarter Zeitung (8.10.1959). Überdruss prägte auch den Bericht in Neue Frankfurter Presse (10.11.1959). 73 Neue Rhein-Zeitung (3.6.1961); Mannheimer Morgen (17.10.1961); Frankfurter Rundschau (17.10.1961); Frankfurter Allgemeine Zeitung (17.10.1961). 74 Hughes: Shouldering the Burdens, S. 163. Erst auf erheblichen Druck von Sparerverbänden verabschiedete der Bundestag 1953 ein Sondergesetz, das für Sparbeträge aus der Zeit vor 1940 bis zu 20%ige Kompensation vorsah. Ebd., S. 177–178. 75 Zum Leistungsgedanken, siehe Richard Löwenthal: Prolog: Dauer und Verwandlung. In: Richard Löwenthal/ Hans-Peter Schwarz (Hg.): Die zweite Republik. 25 Jahre Bundesrepublik Deutschland – eine Bilanz. Stuttgart 1974, S. 9–23, hier S. 13–14.
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tigte, verdeutlicht dies. Indem er seine auf die Vergangenheit bezogenen Forderungen durchsetzte, gelang dem Hilfsverein ein Unterfangen, das vielen anderen Opferstatus reklamierenden Gruppen in ähnlichem Umfang verwährt blieb. Aus diesem Umstand bezog der Prozess seine symbolische Energie. Der Erfolg der Sparer erreichte in aller Öffentlichkeit eine substantielle Entschädigung für eine Einbuße, die anderen aus der unmittelbaren Vergangenheit herrührenden materiellen Verlusten, mit denen sich viele Bundesbürger arrangieren mussten, zu ähneln schien.
Schluss Der Prozess der Volkswagensparer verdeutlicht, auf welch vielfältige und widersprüchliche Weise sich die Bundesbürger zwischen Kriegsende und Anfang der sechziger Jahre gegenüber der unmittelbaren Vergangenheit positionierten. Dass die Mitglieder des Hilfsvereins eine direkte Kontinuität ihrer finanziellen Ansprüche aus dem Dritten Reich postulierten, kann in Anbetracht ihrer materiellen Interessen ebenso wenig überraschen wie die Zurückweisung dieses Arguments seitens des VW-Werkes. Trotz erbitterter Gegnerschaft ergab sich jedoch in einem zentralen Punkt eine wichtige Übereinstimmung zwischen Volkswagensparern und Konzern. Nachdem das Werk ab Mitte der Fünfziger von Versuchen absah, die Regimenähe der Kläger für politische Diffamierungsversuche zu instrumentalisieren, spielten beide Prozessparteien die ideologischen Wurzeln des VW-Projekts im Dritten Reich herunter und leisteten so einer entpolitisierten Sicht auf die Geschichte des VW-Käfers Vorschub. Wie die zahlreichen Urteile andeuten, fanden sich die Gerichte außerstande, das Verhältnis zwischen Vergangenheit und Gegenwart auf rechtlicher Ebene abschließend zu klären. Indem es einen für beide Seiten günstigen Vergleich herbeiführte, erkannte das Gericht die in die Gegenwart hineinreichenden finanziellen Ansprüche aus dem Dritten Reich faktisch an, ersparte sich aber die Aufgabe, eine dezidierte Haltung zur unmittelbaren Vergangenheit in einer schriftlichen Urteilsbegründung zu artikulieren. Somit besaß der Schiedsspruch sowohl in materieller als auch in vergangenheitspolitischer Hinsicht Kompromisscharakter, da Brüche und Verbindungslinien zwischen Gegenwart und Vergangenheit unbestimmt blieben. Ähnliche Skrupel trieben die Öffentlichkeit, die den Prozess voller Interesse verfolgte, nicht um. Sie bejahte die Frage nach der Legitimität der von den Volkswagensparern aufgestellten Forderungen, da diese unter die zahlreichen Opfergruppen der Nachkriegszeit zu zählen seien. Daran änderte auch eine gewisse, ab Mitte der fünfziger Jahre bemerkbare Ungeduld über die VW-Sparer nichts, wie die positive Reaktion auf den Ausgang des Prozesses verdeutlicht. Das sich im Volkswagenprozess manifestierende Meinungsspektrum verdeutlicht zum einen, wie ungeklärt bzw. ungeordnet das Verhältnis zur unmittelbaren VerganSchulden der Vergangenheit?
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genheit in der frühen Bundesrepublik war. Zum anderen führt die Auseinandersetzung um die VW-Sparer vor Augen, dass das Dritte Reich im öffentlichen Bewusstsein ausgesprochene Präsenz beanspruchte. Wenn man daher nicht behaupten kann, dass die fünfziger Jahre das Dritte Reich verdrängten, ist es ebenso abwegig, von einer Aufarbeitung oder gar Bewältigung der Vergangenheit zu jener Zeit zu sprechen.76 Bei aller Uneinheitlichkeit beruhten die vom VW-Prozess aufgeworfenen Debatten auf einem weithin akzeptierten Grundkonsens, der der deutschen Bevölkerung eine Opferhaltung zuwies. Dass die zeitgenössische Publizistik die VW-Sparer trotz ihrer geringen Einbußen fast einstimmig anderen, viel größere Verluste beklagenden Gruppen wie den Vertriebenen zurechnete, wirft ein Schlaglicht darauf, wie umfassend die Kategorie des „Opfers“ in den fünfziger Jahren angelegt war. Dieser auf die deutsche Bevölkerung fixierte Opferdiskurs beruhte selbstverständlich auf einem stillschweigenden Konsens, an bestimmten Tabuthemen nicht zu rühren. Die Frage nach deutschen Tätern blieb bezeichnenderweise völlig ausgeklammert. So erhob niemand den nahe liegenden Einwand, dass die im Dritten Reich bei Volkswagen beschäftigten Zwangsarbeiter verglichen mit den VW-Sparern ein ganz anders gelagertes Anrecht auf Entschädigung besaßen. Zur Opferhaltung der VWSparer passt auch, dass diese trotz ihrer Nähe zum Nationalsozialismus nicht in öffentliche Nostalgie für das Dritte Reich verfielen. Einem Regime, das Versprechen wie den Bau eines erschwinglichen Automobils gebrochen hatte, weinten selbst ehemals enge Anhänger keine Träne nach. Die Interessengruppe um Stolz zeichnete sich durch eine besondere Hartnäckigkeit bei der Verfolgung ihrer Interessen aus. Dass die Öffentlichkeit ab der zweiten Hälfte der Fünfziger zunehmend ungeduldig auf die VW-Sparer reagierte, deutet auf einen Mentalitätswandel in der breiteren Bevölkerung hin. Während sich die Republik stabilisierte, wuchs die Erwartung an Opfergruppen, sich mit ihrer Vergangenheit zu arrangieren, die persönlichen Konsequenzen des Kriegsausgangs zu akzeptieren und sich in der neuen Ordnung dauerhaft einzurichten. Hier fielen die VW-Sparer aus dem Rahmen. Die öffentliche Überraschung über den Prozessausgang, der den Klägern vergleichsweise großzügige Kompensation sicherte, zeigt, dass sich die Opfermentalität zu Beginn der sechziger Jahre keineswegs auflöste. Vielmehr hatten breite Teile der Bevölkerung begonnen, sich mit den erlittenen Verlusten abzufinden, und zogen im Laufe der fünfziger Jahre einen Schlussstrich unter die Vergangenheit. Auch wenn sich der Hilfsverein für die Lieferung eines dauerhaften Konsumguts einsetzte, kann man diese Organisation nur mit Schwierigkeiten den Konsumentenbewegungen, die während der fünfziger Jahre in Großbritannien und den USA Zulauf erhielten, zuschlagen. Dies liegt nicht nur an am Selbstverständnis des Vereins, 76 Manfred Kittel: Die Legende von der ‚zweiten Schuld‘. Vergangenheitsbewältigung in der Ära Adenauer. Frankfurt 1993.
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das den Sparer als Verkörperung ökonomischer Rationalität und Disziplin in den Vordergrund rückte und sich zu Konsumangelegenheiten weitgehend ausschwieg. Stolz unterschied sich auch in ideologischer Hinsicht grundsätzlich von westlichen Konsumkritikern. Zwar kam die auf Volkswagen bezogene Kritik an der Machtfülle von Großunternehmen seitens Stolz einer auf Konsumentenschutz abzielenden Position auf den ersten Blick nahe, doch gehörten Polemiken gegen die „zusammengeballte Macht des Kapitals“ zum argumentatorischen Altbestand der radikalen Rechten. Mit den liberalen, an kritische Verbraucher gerichteten Aufrufen zum selektiven Konsum hochqualitativer Güter eines Vance Packard, Ralph Nader oder auch eines John Kenneth Galbraith hatten Stolz Überzeugungen nichts gemein.77 Auch wenn im Jahr 1964 in der Bundesrepublik mit der „Stiftung Warentest“ eine Verbraucherbewegung einsetzte, die explizit Impulse US-amerikanischer Modelle kritischen Konsums aufnahm, verdeutlicht die allgemeine Sympathie, die Stolz noch im Jahr 1961 genoss, dass viele Bundesbürger aufgrund der unmittelbaren Vergangenheit ein für das Wirtschaftswunder so zentrales Konsumgut wie den VW-Käfer in ganz andere Zusammenhänge einordneten. Die Konsum- und Wohlstandsversprechen der Nationalsozialisten waren mit dem Untergang des Dritten Reiches keineswegs in Vergessenheit geraten. Vielmehr lebten sie in der kollektiven Erinnerung weiter, und diejenigen, die wie die Volkswagensparer auf Erfüllung pochten, konnten in der frühen Bundesrepublik mit breiter gesellschaftlicher Zustimmung rechnen. Somit verweist der Volkswagenprozess auf einen dezidiert nicht-westlichen Weg, den Teile der bundesrepublikanischen Gesellschaft in die Konsumgesellschaft nahmen und dessen Ausgangspunkt in während des Dritten Reichs geschürten Erwartungen zu suchen ist. Selbstverständlich wäre es unsinnig, in diesem Zusammenhang einer direkten Kontinuität zwischen Drittem Reich und Bundesrepublik das Wort zu reden, da die Nachkriegsgesellschaft Konsumwünsche innerhalb eines grundlegend veränderten kulturellen und politischen Rahmens erfüllte. Indem sie von den Nationalsozialisten enttäuschte Aspirationen Wirklichkeit werden ließ, bewies die Bundesrepublik ihre Überlegenheit und gewann Legitimität. Aus dieser Perspektive wäre also eine soziale Brucherfahrung zu konstatieren, die sich aus der Befriedigung lang gehegter Verbraucherwünsche ergab. Trotz des elementaren Einschnitts, den das Heraufziehen der Konsumgesellschaft bedeutete, sollte man allerdings deutliche Kontinuitätsmotive nicht aus dem Auge verlieren. Wenn die Bundesrepublik die Verwirklichung von Verbraucherträumen, die bereits in der nationalsozialistischen Gesellschaft zirkuliert hatten, gewährleistete, musste diese 77 Die zeitgenössische amerikanische und britische Konsumkritik behandeln Daniel Horowitz: The Anxieties of Affluence. Critiques of American Consumer Culture, 1939–1979. Amherst 2004, S. 101–162; Mathew Hilton: Consumerism in Twentieth-Century Britain. The Search for a Historical Movement. Cambridge 2003, S. 194–218. Schulden der Vergangenheit?
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Entwicklung zumindest in Teilen der Bevölkerung auch eine partielle, rückwirkende Legitimation von alten, mit dem Dritten Reich verknüpften Aspirationen bewirken. Und somit blieben Bruch- und Kontinuitätserfahrung während der Entstehung der bundesrepublikanischen Konsumgesellschaft genauso unauflöslich wie im Prozess der VW-Sparer miteinander verwoben.
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Nationale Traditionen und politische Öffnung nach Westen Dolf Sternberger und Theodor Eschenburg als Nestoren der deutschen Politikwissenschaft*
Zur Ideengeschichte der Bundesrepublik gehört ganz wesentlich, sich mit dem Neuaufbau der Geistes- und Sozialwissenschaften nach 1945/49 zu beschäftigen. Überblickt man die in den letzten Jahren expandierende Forschung zur Kontinuität intellektueller Eliten, so wäre es naiv, von einem unbelasteten Neubeginn auszugehen. Schon in Anbetracht der personellen Kontinuitäten in vielen Fachbereichen verbietet sich die Annahme einer „Stunde Null“, denn allein aus praktischen Erwägungen wäre eine konsequente Auswechslung aller NS-belasteten Wissenschaftler nicht durchführbar gewesen. Darüber hinaus bestand die begründete Hoffnung, durch die Statuierung einiger besonders prominenter Exempel zumindest einen moralischen Neuanfang zu signalisieren: Die Fälle Carl Schmitt, Martin Heidegger oder Ernst-Rudolf Huber belegen eine solche Politik der Besatzungsmächte, die in der Bundesrepublik zunächst fortgeführt und späterhin durch die Regelung des Paragraphen 131 im Sinne der Rentenansprüche abgemildert worden ist.1 In vielen Fällen, insbesondere bei jüngeren Wissenschaftlern, kam es zu nachsichtigen Beurteilungen. Eine ganze Reihe von Akademikern, die während des „Dritten Reiches“ Karriere machten und deren Ordinariat oft vom Kriegsdienst unterbrochen, wenn nicht verhindert wurde, rückte nach 1945 in die neuen Universitäten. Sie gehörten der von Michael Wildt so apostrophierten „Generation des Unbedingten“ an, hatten also durchaus eine politische Vergangenheit meist rechtsnationaler oder nationalsozialistischer Provenienz, auch wenn sie nicht dem Prototyp des SS-Intellektuellen entsprechen mussten.2 Desillusioniert von der totalen Kriegsniederlage waren sie vielfach bereit, sich dem Neuaufbau zu widmen und unter den Bedingungen des liberalen Staates in freien Universitäten gestalterisch
* 1 2
Udo Bermbach und Herfried Münkler danke ich für ihre Gesprächsbereitschaft und ihre Anregungen. Vgl. Norbert Frei: Vergangenheitspolitik. Die Anfänge der Bundesrepublik und die NS-Vergangenheit. München 1996, S. 69–100. Michael Wildt: Generation des Unbedingten. Das Führungskorps des Reichssicherheitshauptamtes. Hamburg 2002. Nationale Traditionen und politische Öffnung nach Westen
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zu wirken. Dass hinter dieser Neuorientierung – einem „lebensgeschichtlich motivierten Lernprozess“, wie es Hans-Ulrich Wehler mit Blick auf seinen Lehrer Theodor Schieder genannt hat – eigene Schuld und Verstrickung lange verborgen blieben bzw. nicht thematisiert wurden, mag sich unter den Bedingungen eines „kommunikativen Beschweigens“ (Hermann Lübbe) pragmatisch erklären lassen.3 Nichtsdestotrotz sorgt die Entdeckung von politischem Engagement und breit gestreutem Mitläufertum für nachhaltige Verunsicherung, wenn es um die Evaluation der geistes- und sozialwissenschaftlichen Neuformierung in der westdeutschen Demokratie geht. Die Selbstthematisierung der Geschichtswissenschaften nach dem Historikertag 1998 in Frankfurt hat dies ebenso gezeigt wie diejenigen Auseinandersetzungen, die in der Germanistik spätestens seit dem Fall Schneider/Schwerte oder auch in der Philosophie über die geistigen und personellen Kontinuitätslinien geführt worden sind. Man muss nicht gleich den Generalverdacht gegenüber den „braunen Wurzeln“ dieser Fächer äußern, aber in vielerlei Hinsicht finden sich – trotz aller Liberalisierung in den 1950er Jahren – thematisch und ideell noch länger Anknüpfungspunkte an die Zeit des Nationalsozialismus und an jene diversen antidemokratischen Ideenströmungen, die die Zwischenkriegszeit prägten.4 Ein Fach, das relativ unbelastet in diesen neuen Staat ging und in enger Beziehung zur politischen Kultur der jungen Bundesrepublik stand, war die „politische Wissenschaft“ bzw. die „Wissenschaft von der Politik“ oder Politikwissenschaft, um die Bezeichnung zu verwenden, die sich schließlich durchgesetzt hat. Politikwissenschaft als Demokratiewissenschaft lautete bekanntlich die Formel, um die Ursprünge dieses Faches aus dem Geist der Reeducation zu beschreiben. Selbstredend war auch dieses Fach nicht völlig ohne Vergangenheit. Auf seine Ursprünge in der Kameralistik, in den Staatswissenschaften, im Staatsrecht, der Nationalökonomie sowie späterhin der „Deutschen Hochschule für Politik“ zu Zeiten der Weimarer Republik kann an dieser Stelle nur ebenso kursorisch verwiesen wie auf seine Nähe zu Teilbereichen der Philosophie, der Soziologie oder der Geschichtswissenschaften respektive der Zeit3
4
Vgl. Hans-Ulrich Wehler: Nationalsozialismus und Historiker. In: Winfried Schulze/Otto Gerhard Oexle (Hg.): Deutsche Historiker im Nationalsozialismus. Frankfurt am Main 1999, S. 306–339, hier S. 334, sowie Hermann Lübbe: Der Nationalsozialismus im deutschen Nachkriegsbewusstsein. In: Historische Zeitschrift 236 (1983), S. 579–599. Vgl. etwa Helmut König/Wolfgang Kuhlmann/Klaus Schwabe (Hg.): Vertuschte Vergangenheit. Der Fall Schwerte und die NS-Vergangenheit der deutschen Hochschulen. München 1997; Winfried Schulze: Deutsche Geschichtswissenschaft nach 1945. München 1989; Martina Plümacher: Philosophie nach 1945 in der Bundesrepublik Deutschland. Reinbek 1996; Bernd Weisbrod (Hg.): Akademische Vergangenheitspolitik. Beiträge zur Wissenschaftskultur der Nachkriegszeit. Göttingen 2002; Eva Schumann (Hg.): Kontinuitäten und Zäsuren. Rechtswissenschaft und Justiz im „Dritten Reich“ und in der Nachkriegszeit. Göttingen 2008.
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geschichte. Zumeist wird die deutsche Politikwissenschaft als ein Produkt der eben genannten Traditionslinien etikettiert.5 So richtig dies ist: Institutionell bedeutete die Einrichtung der Politikwissenschaft einen Neuanfang, sie wurde zum Zeichen der Modernisierung und einer notwendigen normativen Festlegung auf Demokratie und liberale Werte. Diese Neueinrichtung stand vor mehreren Problemen: Wie war dieses Fach als Universitätsdisziplin zu etablieren? Wie war das Personal für ein Fach, das vorher nicht existierte, zu rekrutieren? In diesem Kontext lohnt die Beschäftigung mit zwei Nestoren der bundesrepublikanischen Politikwissenschaft, die als fachbegründende Universitätslehrer in Tübingen und Heidelberg sowie als bedeutende politische Intellektuelle die Bonner Republik über Jahrzehnte geprägt haben.6 Theodor Eschenburg und Dolf Sternberger übten als wirkungsmächtige Publizisten und Politikberater großen Einfluss aus – wenn nicht auf das politische Geschehen selbst, so doch auf die politische Meinungsbildung. Dass diesen – im eigenen Selbstverständnis – politischen Erziehern in der heutigen szientifizierten Politikwissenschaft kaum mehr Bedeutung zugesprochen wird und sie langsam der Vergessenheit anheim fallen, ist eine erklärungsbedürftige Entwicklung.7 Beide Persönlichkeiten nahmen nämlich – neben den Remigranten Arnold Bergstraesser, Ernst Fraenkel, Eric Voegelin (um nur einige zu nennen) – eine herausgehobene Stellung in der Geschichte ihres Faches ein und sorgten für wichtige Weichenstellungen. Darum gibt es Anlass, sie als prägende Figuren ihrer Zeit noch einmal genauer in den Blick zu nehmen. Dies soll konventionell in drei Schritten erfolgen: 1. Bürgerlichkeit in Zeiten von Diktatur und Krieg: Die Erfahrung von Weimar und die innere Emigration; 2. Quereinstieg in die Politikwissenschaft: Freiheitliche Institutionen und demokratisches Bewusstsein; 3. Regierungslehre und politische Theorie in der Bundesrepublik: Sternberger und Eschenburg in historischer Perspektive. 5 6
7
Vgl. als allgemeinen Überblick Wilhelm Bleek: Geschichte der Politikwissenschaft in Deutschland. München 2001, insbesondere S. 265–307. Vgl. dazu auch die Porträts der beiden (neben Neumann, Fraenkel, Flechtheim, Abendroth, Kogon, Schmid, Bergstraesser, Vögelin) in Hans Karl Rupp/Thomas Noetzel: Macht, Freiheit, Demokratie. Anfänge der westdeutschen Politikwissenschaft. Marburg 1991, S. 97–120. Auch im Fall von Sternberger, der sicherlich als systematischer Denker und auch als Autor den höheren Rang besitzt, wird man einen Bedeutungsverlust konstatieren müssen. Die Erinnerung an seinen exzeptionellen Rang hat dann schon nostalgische Züge, wie anlässlich seines 100. Geburtstages zu erkennen war. Vgl. etwa Günther Nonnenmacher: Zu den Sachen. Meister im Drehen und Wenden: Sternberger als Lehrer. In: FAZ (28.07.2007), S. 37; Frank Schirrmacher: Dies wählerische Verhältnis. Snobismus der Kulturpolitik: Sternberger als Journalist. In: ebd.; Henning Ritter: Für heute. Nichts weiter, nichts weniger: Sternberger als Bürger. In: ebd.; Jens Hacke: Der Wunsch, ein Bürger zu sein. Zum 100. Geburtstag des Philosophen und Politikwissenschaftlers Dolf Sternberger. In: Berliner Zeitung (28.07.2007), S. 29; Alexander Cammann: Das verstandene Leben: Eine Marbacher Tagung zum Nachlass Dolf Sternbergers. In: FAZ (19.07.2007), S. 34. Nationale Traditionen und politische Öffnung nach Westen
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1. Bürgerlichkeit in Zeiten von Diktatur und Krieg Theodor Eschenburg (1904–1999) und Dolf Sternberger (1907–1989) gehören – wie eingangs erwähnt – einer schwierigen Generationenkohorte an. Die Historiographen des „Dritten Reiches“ haben sie die „Generation der Sachlichkeit“ (Herbert) bzw. des Unbedingten (Wildt) genannt und herausgearbeitet, wie viele kalte ideologische Gesinnungstäter in den Reihen der zwischen 1900–1910 Geborenen agierten8 – Heydrich und Best sind die bekanntesten Figuren. Wenn man das akademischintellektuelle Personal dieser Jahrgänge insgesamt sichtet, hilft diese Kategorie nicht viel weiter. Nicht einmal der zeitweilige NS-Aktivist Arnold Gehlen ließe sich so klassifizieren, seine Philosophenkollegen Joachim Ritter und Hans-Georg Gadamer sicherlich ebenfalls nicht. Sie überwinterten allesamt im Nationalsozialismus – mit verschiedenen Anpassungsleistungen – und konnten ihre Universitätskarrieren in der jungen Bundesrepublik fortsetzen. Fast jeder der in Frage stehenden Generationsangehörigen konnte für sich in Anspruch nehmen, zu einem bestimmten Zeitpunkt eine Distanzierung zum Nationalsozialismus vollzogen zu haben. Diese folgte allerdings zumeist erst nach der Erfahrung, die „nationale Revolution“ eben doch nicht intellektuell mit gestalten zu können. Eine solche Erfahrung der Desillusionierung lag auch darin begründet, dass sich eine intellektuelle Legitimation des Regimes zusehends als undurchführbar erwies und sich angesichts des von den NS-Eliten vorgegebenen indiskutablen Niveaus auch kaum bewerkstelligen ließ. So scheiterten Ernst-Rudolf Huber und Ernst Forsthoff mit ihren Versuchen, eine nationalsozialistische Staatslehre zu entwickeln ebenso wie Arnold Gehlen, dessen angestrebte Philosophie des Nationalsozialismus nie über einige Manuskriptseiten hinaus gelangte.9 Gleichwohl richteten sich diese langjährigen Sympathisanten des Nationalsozialismus auch nach ihrem politischen Rückzug unter den Bedingungen des totalitären Staates ein, und die im Zuge der Entnazifizierungsverfahren bemühten Nachweise einer widerständigen Haltung blieben im Vergleich zu den Anpassungsleistungen und den offensichtlichen Karrierevorteilen stets blass, wenn nicht unglaubwürdig. Bei Eschenburg und Sternberger lag der Fall noch einmal anders. Für sie trifft der freilich schwierige Begriff der „inneren Emigration“ in einem gewissen Maße zu, denn sie hatten – bis auf den jeweils erworbenen Doktortitel – keine akademische Karri8
9
Vgl. Ulrich Herbert: „Generation der Sachlichkeit“. Die völkische Studentenbewegung der frühen zwanziger Jahre. In: ders.: Arbeit, Volkstum, Weltanschauung. Über Fremde und Deutsche im 20. Jahrhundert. Frankfurt am Main 1995, S. 31–58. Vgl Lothar Samson: Nachwort. In: Arnold Gehlen: Philosophische Schriften (1933–1938). Gesamtausgabe Bd. 2. Frankfurt am Main 1980, S. 409–418, hier S. 414f. sowie die ergänzende Anmerkung S. 425; Ewald Grothe: „Strengste Zurückhaltung und unbedingter Takt“. Der Verfassungshistoriker Ernst Rudolf Huber und die NS-Vergangenheit. In: Eva Schumann (Hg.): Kontinuitäten und Zäsuren, S. 327–348.
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ere gemacht und wurden nach 1945 zu Quereinsteigern ohne belastende akademische Vergangenheit. Eschenburg und Sternberger repräsentierten das deutsche Bürgertum in unterschiedlich akzentuierten Traditionslinien und zeigten, dass sich aufgrund dieser bürgerlichen Prägungen auch eine weitgehende Distanz zum NS-Regime wahren ließ. Darin zeigt sich, dass es Residuen des Rückzugs gab und dass das Bürgertum nicht in toto kapitulierte oder an ein Ende gelangt war. Bestimmte bürgerliche Tugenden und altliberale Prägungen ließen sich nach 1945 in legitimer Weise reaktivieren.10 Eschenburgs Herkunft aus einer konservativen Lübecker Patrizierfamilie ließ ihn als standesbewussten nationalliberalen Burschenschaftler heranwachsen, zu dessen politischem Initiationserlebnis die Begegnung mit Gustav Stresemann wurde.11 Obgleich sicherlich ein Demokratie-Skeptiker entdeckte er frühzeitig seine Passion für die regelgeleitete Regierungstechnik in staatlichen Institutionen. Nicht umsonst hieß sein letzter Sammelband im Jahr 1987 Spielregeln der Politik12; sie waren es, die den Historiker Eschenburg faszinierten. Er zeigte schon früh „Freude an kombinatorischer Rekonstruktion von Handlungsintentionen und strategischen Kalkülen“, wie es sein Schüler Gerhard Lehmbruch ausdrückt.13 Davon zeugt seine politikgeschichtlich orientierte Dissertation Das Kaiserreich am Scheideweg: Bassermann, Bülow und der Block (1929). Seine rechtsliberale Ausrichtung drückte sich im Engagement für die DVP aus, für die er in der Schöneberger Bezirksverordnetenversammlung saß. Später beteiligte er sich als Vertreter der Jungliberalen an der Gründung der „Deutschen Staatspartei“, die einen letzten verzweifelten Versuch darstellte, die Stimme des Liberalismus in der Weimarer Republik zu Gehör zu bringen. Wenn Eschenburg späterhin so nachdrücklich die Lehren aus der Weimarer Republik beschwor, die zwar „nicht eine Demokratie ohne Demokraten, aber eine Demokratie mit einer demokratischen
10 Auch in den Geschichtswissenschaften wird die ehemals vorherrschende These vom Ende des Bürgertums mittlerweile derart modifiziert, dass abseits der Diskussion um das Bürgertum als Sozialformation durchaus von einer Kontinuität bzw. Wiederaufnahme bürgerlicher Wertvorstellungen im Sinne einer Reaktivierung liberalen Gedankenguts auszugehen ist. Vgl. dazu Hannes Siegrist: Ende der Bürgerlichkeit? Die Kategorien „Bürgertum“ und „Bürgerlichkeit“ in der westdeutschen Gesellschaft und Geschichtswissenschaft der Nachkriegsepoche. In: Geschichte und Gesellschaft 20 (1994), S. 549–583; Eckart Conze: Eine bürgerliche Republik? Bürgertum und Bürgerlichkeit in der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft. In: Geschichte und Gesellschaft 30 (2004), S. 527–542; Manfred Hettling: Bürgerlichkeit im Nachkriegsdeutschland. In: ders./Bernd Ullrich (Hg.): Bürgertum nach 1945. Hamburg 2005, S. 7–37. 11 Vor allem dargestellt in Theodor Eschenburg: Also hören Sie mal zu. Geschichte und Geschichten 1904 bis 1933. Berlin 1995, S. 187–190, 197f., 203–209. 12 Theodor Eschenburg: Spielregeln der Politik. Beiträge und Kommentare zur Verfassung der Republik. Stuttgart 1987. 13 Siehe Gerhard Lehmbruch: Theodor Eschenburg und die Anfänge der westdeutschen Politikwissenschaft. In: Politische Vierteljahresschrift 40 (1999), S. 641–652, hier S. 649. Nationale Traditionen und politische Öffnung nach Westen
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Minderheit“ war,14 dann spielten die persönlichen Erfahrungen und Versäumnisse gewiss eine Rolle. Auch in seiner im – manchmal unangemessenen – Plauderton gehaltenen Autobiographie bleibt seine eigene politische Haltung in dieser Zeit erstaunlich konturlos und offenbart die in großbürgerlichen Kreisen verbreitete Unterschätzung des Nationalsozialismus. All dies zusammen legt die Vermutung nahe, dass er sich erst nach 1945 zu einer vorbehaltlosen Zustimmung zur demokratischen Regierungsform durchrang. Mit seinem nüchternen Demokratiebegriff – er definierte Demokratie fortan als „diejenige Herrschaftsform, in der Regierungsbildung und Gesetzgebung von periodisch wiederkehrenden Wahlen abhängig sind“15 – brachte er allerdings weiterhin die Priorität des Rechtsstaates vor der Demokratie zum Ausdruck. Eschenburg war nie ein Anhänger des NS-Regimes, aber seine elitäre großbürgerliche Attitüde führte ihn zumindest einige Monate in die Reiter-SS, die er allerdings noch vor dem sogenannten „Röhm-Putsch“ wieder verließ.16 Dass er als Verbandsfunktionär der Knopf- und Reißverschlusshersteller in vergleichsweise politikferner Rolle, finanziell gut ausgepolstert und ohne persönliche Not durch die NS-Jahre kam, belegt zumindest seine Fähigkeit zur Anpassung. Er war sicherlich kein Widerständler, sondern jemand, der sich auch dank eines einflussreichen Netzwerkes sehr geschickt seinen Weg bahnte. Erwähnenswert bleibt allerdings, dass Eschenburg der Versuchung widerstand, seine Biographie nicht im Nachhinein in irgendeiner Weise zu heroisieren. „Nicht aufzufallen und schon gar nicht provozieren, wurde zu meiner Devise. Ich bin mit ihr gut gefahren“, erklärte Eschenburg seine Verhaltensmaxime im Nachhinein und ergänzte mit Blick auf sein weit verzweigtes gesellschaftliches Leben in Berlin: „Wir waren alle Gegner des Regimes, mussten aber um unseres Berufes und des Überlebens willen unser Auskommen mit den Machthabern und ihren Funktionären suchen.“17 Wie Eschenburg eingestand, war er ängstlicher und vorsichtiger als andere. Dies unterstreicht die von ihm selbst kolportierte Episode aus dem Jahr 1944 14 Theodor Eschenburg: Die improvisierte Demokratie. Gesammelte Aufsätze zur Weimarer Republik. München 1963, S. 59. 15 Theodor Eschenburg: Über das Funktionieren der parlamentarischen Demokratie. In: Die politische Verantwortung der Nichtpolitiker. 10 Beiträge. Eine Sendereihe des Süddeutschen Rundfunks. München 1964, S. 29–40, hier S. 32. 16 Auch wenn die autobiographische Darstellung etwas beschönigend und verharmlosend klingt, scheint sie in den Grundzügen wohl zu stimmen. Vgl. Theodor Eschenburg: Letzten Endes meine ich doch. Erinnerungen 1933–1999. Berlin 2000, S. 21–27. Siehe dazu auch Gerhard Lehmbruch: Theodor Eschenburg und die Anfänge der westdeutschen Politikwissenschaft. In: Politische Vierteljahresschrift 40 (1999), S. 641–652, hier S. 643. – Ralf Dahrendorf, der Eschenburg ansonsten sehr zugetan ist, sieht allerdings im zweiten Band von Eschenburgs Autobiographie „geradezu ein Lehrbuch der Anpassung, wenn nicht des Mitläufertums“ (Ralf Dahrendorf: Versuchungen der Unfreiheit. Die Intellektuellen in Zeiten der Prüfung. München 2006, S. 107). 17 Eschenburg: Letzten Endes, S. 39, 70.
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(kurz nach dem 20. Juli) um eine brisante Denkschrift zur Wirtschaftspolitik nach dem Kriege. Das Manuskript brachte der aufgeregte Eschenburg dem Verfasser Ludwig Erhard aus Furcht vor Entdeckung mitten in der Nacht zurück. Erhard hatte darin bereits Wirtschaftspläne für die Zeit nach der Niederlage ausgearbeitet, besaß aber offensichtlich weitaus bessere Nerven als sein Leser.18 Immerhin knüpfte Eschenburg in den Kriegsjahren Verbindungen zu gleichgesinnten Liberalen und hatte zumindest Kontakte, die in Widerstandskreise hineinreichten und sich auf die ordoliberalen Vordenker der freien Marktwirtschaft erstreckten. Hier entstand ein Beziehungsnetz, das ihm den Neuanfang nach 1945 erleichterte. Sternberger war dezidiert bürgerlicher Herkunft, in Wiesbaden als Sohn eines Wirtschaftsprüfers geboren, und folgte bei der Studienwahl ausschließlich seinen intellektuellen Interessen, ursprünglich mit dem Ziel Theaterregisseur zu werden, schließlich sich der Philosophie zuwendend. Geprägt durch seine Studienjahre in Heidelberg und Marburg, d. h. durch Karl Jaspers und Martin Heidegger, führte er – wie er späterhin selbstkritisch äußerte – ein weitgehend unpolitisches Leben. In einer Würdigung seines Lehrers Jaspers schrieb er, dass in dessen Philosophie „alles Licht auf den einzelnen und seine Entscheidung“ fiele, um die individuelle Existenz kreise und das „öffentliche Dasein im Schatten“ bliebe.19 Vor allem Jaspers’ kulturkritische Diagnose Die geistige Situation der Zeit in ihrem „Vokabular von Schicksal, Gefahr, Kampf, Herrschaft und Entscheidung, welches hier alles gegen Masse, Nivellierung, Anonymität, Kompromiß und Anpassung ausgespielt war“, widerstrebte Sternberger und führte Anfang der 1930er Jahre zu einer zeitweiligen Entfremdung von seinem Lehrer.20 Er fühlte sich eher zum linken Milieu hingezogen und sympathisierte zeitweilig mit dem religiösen Sozialismus von Paul Tillich, der schließlich sein Doktorvater wurde und seine Arbeit Der verstandene Tod. Eine Untersuchung zu Martin Hei deggers Existential-Ontologie betreute. Auch weil die Heirat mit einer Jüdin im Jahr 1931 (die Studienfreundin Hannah Arendt war Trauzeugin) eine akademische Karriere ohnehin unmöglich erscheinen ließ, führte Sternbergers Weg in den Journalismus. Bei der liberalen Frankfurter Zeitung avancierte er vom freien Mitarbeiter zum fest angestellten Feuilletonredakteur, als der er zumindest bis 1943 tätig bleiben konnte. Seine Suche nach entlegenen Themen, seinen Rückzug in die Welt des 19. Jahrhunderts und ins Reich der Fabel dokumentieren seine aufrechte politische Haltung in der – trotz vieler Kompromisse 18 Vgl. den autobiographischen Bericht in Theodor Eschenburg: Ludwig Erhard im Dritten Reich (1977). In: ders.: Spielregeln der Politik, S. 195–205. 19 Dolf Sternberger: Jaspers und der Staat (1963). In: ders.: Staatsfreundschaft. Schriften IV. Frankfurt am Main 1980, S. 159–170, hier S. 161. 20 Vgl. die Selbstauskunft in Dolf Sternberger: Karl Jaspers. Blicke in seine Existenz und seine Philosophie (1983)., In: ders.: Gang zwischen Meistern. Schriften VIII. Frankfurt am Main 1987, S. 132–149, hier S. 141f. Nationale Traditionen und politische Öffnung nach Westen
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– „letzten Heimat der Liberalität“ (Günther Gilessen), als welche die Frankfurter Zeitung zur Zeit der NS-Diktatur galt.21 Sternberger übte hier die Kunst des Zwischenden-Zeilen-Schreibens, indem er – um das berühmteste Exempel zu nennen – einen Leitartikel zum 50. Geburtstag Hitlers ohne dessen namentliche Nennung schrieb. Stattdessen reflektierte er auf abgründige Weise über das Wesen geschichtlicher Umwälzungen, nicht ohne auf deren Gefahren hinzuweisen und die Leser zur Wachsamkeit aufzurufen.22 Als die Frankfurter Zeitung 1943 eingestellt wurde, tauchte Sternberger bis zum Ende des „Dritten Reiches“ in einem Heidelberger Industrieunternehmen unter, und auch seine Frau überlebte die Zeiten der Verfolgung, in denen das Ehepaar am Ende stets Giftkapseln bei sich trug.
2. Quereinstieg in die Politikwissenschaft: Freiheitliche Institutionen und demokratisches Bewusstsein Für Eschenburg und Sternberger bedeutete die neue Situation nach dem Ende der NS-Diktatur eine Hinwendung zur Politik, aus sehr verschiedenen Ausgangspositionen. Für Eschenburg war dies gewissermaßen eine Rückkehr, schloss er doch an seine rechtsliberale Parteiarbeit und seine früheren Forschungsinteressen an; er schlug zunächst den unmittelbaren praktischen Weg in die Politik ein, der ihn in die württembergische Landesverwaltung führte. Dort spielte er als Ministerialbeamter eine treibende Rolle bei der Entstehung des Südweststaates Baden-Württemberg; dazu nahm er bereits im Wintersemester 1946/47 auf Vorschlag von Carlo Schmid seine Tätigkeit als Dozent für Zeitgeschichte an der Universität Tübingen auf und las über die Geschichte der Weimarer Republik.23 Für Sternberger war die Beschäftigung mit Politik gleichsam die unausweichliche Lehre aus der Erfahrung des Gewaltregimes. Für ihn stellte sich die eigene Aufgabe in aller Klarheit: „Ich muß mich um Politik kümmern, in irgendeiner Weise. Nicht mehr bloß ums Theater und um schöne Literatur, sondern um Politik.“24 Oder wie es sein Schüler Udo Bermbach formulierte: „Durch die Unmittelbarkeit totalitärer Erfahrung wurde Sternbergers Interesse auf Politik zentriert, verband sich mit dem Wunsch, jene Bedingungen zu erforschen, die die Rückkehr des Erlebten unmöglich machten, die Festigung der beginnenden demokratisch-parlamentarischen Entwick21 Vgl. insgesamt Günther Gillessen: Auf verlorenem Posten. Die Frankfurter Zeitung im Dritten Reich. Berlin 1986. 22 Wieder abgedruckt in Claudia Kinkela: Die Rehabilitierung des Bürgerlichen im Werk Dolf Sternbergers. Würzburg 2001, S. 299f. 23 Vgl. die ausführliche Darstellung in Eschenburg: Letzten Endes, S. 83–151. 24 So Sternberger rückblickend in einem Interview des NDR im Oktober 1987, zitiert nach Kinkela: Die Rehabilitierung des Bürgerlichen, S. 43.
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lung bewirken helfen sollten.“25 Während Eschenburg zunächst an der institutionellen Befestigung demokratischer Strukturen gelegen war, machte sich Sternberger die intellektuelle Verbreitung demokratischen Gedankengutes zur Aufgabe. Mit Karl Jaspers zusammen gründete er bereits im Oktober 1945 die einflussreiche Monatsschrift Die Wandlung. Als umtriebiger Beiträger und Redakteur dieser Zeitschrift entwickelte er dort sowie in zahlreichen Rundfunkreden gleichsam im Selbststudium die ersten Grundzüge einer liberalen politischen Theorie. Ebenfalls auf Vermittlung von Jaspers trat er 1947 einen Lehrauftrag an der Universität Heidelberg an. Eschenburg und Sternberger setzten sich fast gleichzeitig – und sie zählten damit zu den ersten – für die Einführung der Politischen Wissenschaften als Universitätsfach ein. Sie waren von der Dringlichkeit politischer Pädagogik überzeugt und sahen darin eine entscheidende Aufgabe, um zur Stabilität eines neuen demokratischen Gemeinwesens beizutragen. Dolf Sternberger forderte bereits 1946, dass die Politik an die Hochschule müsse – „als eine Wissenschaft, mit einer großen Tradition übrigens“, und auch Eschenburg hatte frühzeitig auf die Notwendigkeit politischer Bildung hingewiesen.26 In diesem Bemühen repräsentierten beide – so könnte man thesenhaft zuspitzen – gewissermaßen die beiden wichtigen Flügel der klassischen politischen Wissenschaften als Lehre vom Staat: Eschenburg praktizierte eine Regierungs- und Institutionenlehre, die sich auf das Funktionieren des Staates und seiner Organe konzentrierte; Sternberger hingegen machte frühzeitig die normativen Grundlagen des liberalen Verfassungsstaates zum Thema – für ihn konnte Politikwissenschaft nicht allein auf Empirie beruhen, sondern bedurfte moralischer Orientierung. Es lohnt sich, einen Blick auf zwei frühe Texte der beiden Autoren zu werfen, die (in den Jahren 1945/46 geschrieben) Auskunft über die politikwissenschaftliche Orientierung geben. Theodor Eschenburg verfasste im Herbst 1945 eine bis 1985 unpublizierte Denkschrift des Titels „Gedanken zum Staatsneubau“, die bereits die wesentlichen Linien seiner Regierungslehre und seines politischen Denkens deutlich werden lässt. Vieles, was zu diesem Zeitpunkt als praktischer Vorschlag argumentativ verstärkt wird, erhält später Eingang in sein rund ein Jahrzehnt später erschienenes Standardwerk Staat und Gesellschaft in Deutschland.27 In seinen ersten Nachkriegsüberlegungen finden sich neben mancher weitsichtiger Überlegung zur Zukunft eines deutschen Weststaates auch die Überzeugung, dass der „große demokratische Umwandlungsprozeß […] zu einem langsamen und bedächtigen Vorgehen im Neuausbau 25 Udo Bermbach: Dolf Sternberger. Zur Erinnerung an seinen 80. Geburtstag. In: Politische Vierteljahresschrift 29 (1988), S. 85–89, hier S. 85f. 26 Dolf Sternberger: Herrschaft der Freiheit (1946). In: ders.: Verfassungspatriotismus. Schriften X. Frankfurt am Main 1990, S. 58–80, hier S. 77; Theodor Eschenburg: Gedanken zum Staatsneubau vom Herbst 1945. In: ders.: Spielregeln der Politik, S. 353. 27 Eschenburg: Gedanken zum Staatsneubau; ders.: Staat und Gesellschaft in Deutschland. Stuttgart 51962. (zuerst erschienen 1956) Nationale Traditionen und politische Öffnung nach Westen
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der eigenen Inneneinrichtung“ zwinge. Der Neuanfang wird hier als Chance begriffen und soll sich zunächst vor allem auf die kommunale Ebene stützen. „Die junge deutsche Demokratie in ihrer Traditionsarmut muß sich entwickeln und ausrichten an den sachlichen Aufgaben des kleinen Bezirks“, weiß Eschenburg. Im Vielparteiensystem einerseits, einer größeren Anzahl von ungefähr gleichgroßen Ländern andererseits sieht er die „institutionelle Friedensgarantie“. Im Hinblick auf das antidemokratische Erbe des Nationalsozialismus empfiehlt Eschenburg anstelle strenger Reglementierung und Ahndung verfassungsfeindlicher Ziele das Primat der praktischen Politik und politischen Pädagogik, die „eine innere Lösung und Absage der Deutschen von Hitler auf die Dauer“ eher bewirken. Schon in dieser ersten „politikwissenschaftlichen“ Schrift streicht Eschenburg die Bedeutung der Institutionen heraus, die zur Einübung und zum Funktionieren der Demokratie beitragen: „Die Institution ist Subjekt und Objekt der Politik zugleich in ständiger Wechselwirkung. […] Gute Konstruktion und Ausführung der politischen Institutionen sind die Voraussetzung für eine bessere politische Entwicklung, nicht ihre Garanten.“28 Eschenburgs Beharren auf der Dignität der Institutionen drückt einen Primat des Staatlichen aus; der Staat hat dann über seine vernünftig eingerichtete politische Ordnung auf die Gesellschaft einzuwirken; und es liegt bei den Bürgern, die Spielregeln der Politik zu verinnerlichen und die politische Praxis der rechtstaatlichen parlamentarischen Demokratie einzuüben. Ebenso klar entwickelte Dolf Sternberger bereits im Mai 1946 die Grundlagen seiner politischen Philosophie, die er anlässlich eines öffentlichen Vortrags über die „Herrschaft der Freiheit“ und anschließend in einer Serie von Radioansprachen vorstellte.29 Neben der Forderung, dass Politik als eine Wissenschaft an die Universität müsse – auch um eine Politisierung der Wissenschaften insgesamt zu verhüten, definierte er die wichtigsten Elemente einer demokratischen Kultur: „die Lehre und Übung des Betragens von Mensch zu Mensch“ sei „der Anfangsgrund der Politik“. Zu einer „Herrschaft der Freiheit“, wie der Titel seines öffentlichen Heidelberger Vortrags lautete, gehörte für ihn Staatstreue und der Geist einer „wehrhaften Demokratie“: „Keine Freiheit für die Feinde der Freiheit!“ „Keine Duldung also für die Feinde der Duldung!“ „Kein Kompromiß mit den Feinden des Kompromisses!“, so lautete sein kämpferisches Credo, das er nicht beschloss, ohne die öffentliche Aufgabe zu unterstreichen, den Mensch zur Freiheit und zum bürgerschaftlichen Miteinander zu bilden.30 Hier finden sich bereits die wichtigsten Motive, die Sternberger in den kom28 Eschenburg: Gedanken zum Staatsneubau vom Herbst 1945, S. 319–380, hier S. 325, 350, 352f., 379f. 29 Siehe Dolf Sternberger: Herrschaft der Freiheit; ders.: Dreizehn politische Radio-Reden. Heidelberg 1947. 30 Sternberger: Herrschaft der Freiheit, S. 75.
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menden vier Jahrzehnten in seiner politischen Philosophie ausarbeiten wird. Zwar spielen in seinen frühen Schriften auch schon der Staat und die Verfassung eine herausgehobene Rolle, aber es ist doch auffällig, dass es ihm vor allem darum geht, ein neues Verständnis von Politik als einem gemeinschaftlichen bürgerlichen Handeln im Modus der Vereinbarung zu etablieren. Es war ihm darum zu tun, mit einer deutschen Tradition aufzuräumen, in der Politik als etwas Unschickliches und Verwerfliches galt, von dem man sich fernzuhalten hatte. Pluralismus, öffentliche Meinung, unbedingte Herrschaft der Spielregeln in einer gemischten Verfassung – das waren die Leitlinien, die Sternberger späterhin auch in seinen beiden politiktheoretischen Hauptwerken Grund und Abgrund der Macht und Drei Wurzeln der Politik meisterhaft ausarbeiten sollte.31 Der Quereinstieg des Philosophen und Journalisten Sternberger und des Verbandsfunktionärs und Ministerialbeamten Eschenburg in die Politikwissenschaften verdankte sich einer besonderen Situation: der Gründungssituation eines institutionellen Neuanfangs sowie dem Bedürfnis nach fähigen Persönlichkeiten, die für diese Aufgabe qualifiziert und geeignet erschienen. Nicht nur gehören beide institutionell zu den Gründervätern der bundesdeutschen Geschichtswissenschaft an den Universitäten, sie bauten auch deren wissenschaftliche Organe mit auf – Sternberger gehörte zu den Herausgebern der Politischen Vierteljahresschrift, Eschenburg begründete zusammen mit seinem Tübinger Kollegen Hans Rothfels das „Institut für Zeitgeschichte“ und fungierte als Herausgeber der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte. In der Öffentlichkeit erlangten sie als Buchautoren und Publizisten Bekanntheit, und ihre Kontakte reichten weit in das Feld des politischen und kulturellen Lebens. Es bedarf kaum näherer Ausführung, dass der heutige Zustand des Fachs – nach seiner wissenschaftlichen Ausdifferenzierung in viele kleine Teilbereiche – einen respektvoll an die Zeit denken lässt, als mit Eschenburg und Sternberger zwei Politikwissenschaftler nicht nur gefragte Leitartikler bei den führenden deutschen Meinungsblättern (Die Zeit, FAZ) waren, sondern auch von Bundeskanzlern und Bundespräsidenten um
31 Dolf Sternberger: Grund und Abgrund der Macht. Kritik der Rechtmäßigkeit heutiger Regierungen. Frankfurt/M. 1962; ders.: Drei Wurzeln der Politik. Frankfurt am Main 1978. – Die Literatur zu Sternbergers umfangreichem Werk ist besonders mit Blick auf seine politische Philosophie vielfältig, wenn auch das Interesse an ihm eigentlich größer sein müsste (es ist erstaunlich, dass im Buchhandel keine Ausgaben seiner klassischen Texte und Aufsätze mehr erhältlich sind). Zu den wichtigsten Arbeiten über Sternberger zählen Kinkela: Die Rehabilitierung des Bürgerlichen; Thomas Gutschker: Aristotelische Diskurs. Aristoteles in der politischen Philosophie des 20. Jahrhunderts. Stuttgart/Weimar 2002, S. 293–340; Jörg Pannier: Das Vexierbild des Politischen. Dolf Sternberger als politischer Aristoteliker. Berlin 1996. Nationale Traditionen und politische Öffnung nach Westen
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Rat gebeten wurden32; die Anfangsauflagen ihrer Bücher betrugen über Zehntausend und erschienen in der damals Modernität verheißenden edition suhrkamp.33 Es geht freilich nicht darum, kulturkritisch elegisch vergangene „goldene Zeiten“ zu betrauern, als vielmehr nach den Umständen dieser Wirk- und Einflussmöglichkeiten zu fragen. In einem kleinen Fach, das an den Universitäten der 1950er Jahre allenfalls mit einem Lehrstuhl vertreten war, war das Personaltableau noch sehr übersichtlich – und damit auch der Kampf um Aufmerksamkeitsressourcen noch nicht so kräftezehrend. Hinzu kam das Renommee dieser beiden Quereinsteiger, die an ihren Universitäten Respekt und große Freiheiten genossen. Der noch sehr allgemein gehaltene Zustand des Faches vor seiner empirischen Wende in den 1960/70er Jahren begünstigte eine eher pädagogisch-anleitende, an den Grundlagen der politischen Theorie orientierte Herangehensweise. Diese besaß angesichts der Verhältnisse in einer nachtotalitären Gesellschaft eine hohe Dringlichkeit. Anders gewendet: Das Fach Politikwissenschaft entwickelte sich zusammen mit der Bonner Demokratie; es war nicht nur zeitgeschichtlich ausgerichtet – mit ständig vergleichendem Blick zur Weimarer Republik, sondern sah sich in dem Auftrag die beginnende institutionellen und gesellschaftlichen Entwicklungen im politischen Bereich umfassend zu analysieren, zu kommentieren und mit Handlungsanweisungen für die politische Praxis zu versehen. Das konnte man auf zweierlei Weise tun. Für Eschenburg fand das politisch Relevante im Rahmen der staatlichen Institutionen statt. Gewählte Politiker und Amtsträger, verantwortliche Beamten beraten und entscheiden im von der Verfassung vorgesehenen Rahmen. Das Kriterium für gute Politik bleiben Effizienz, institutionell abgesicherte und legitimierte Entscheidungsfindung, amtsgemäße Einhaltung von Rechten und Pflichten. Eschenburgs Abhandlungen zur politischen Praxis in der Bundesrepublik verstanden sich aus diesen Prämissen von selbst: Es ging ihm darum, die Verfassungswirklichkeit am Buchstaben der Verfassung zu messen und von dieser Warte aus, Zensuren an die Handelnden zu verteilen. Dafür ist ihm – halb respektvoll, halb ironisch – schon der Titel des „politischen Kunstrichters“ verliehen worden.34 Die Kritik des Politikwissenschaftlers richtete sich wesentlich auf zwei Bereiche: zum einen auf die Funktionslogik und Vernünftigkeit der institutionellen Ordnung (was konnte hier verbessert werden? welche Fehlentwicklungen drohen?); 32 Bundespräsident Richard von Weizsäcker betonte jedenfalls zu verschiedenen Anlässen sowohl Respekt als auch intellektuelle Dankesschuld gegenüber beiden. Vgl. Richard von Weizsäcker: Reden und Interviews, Bd. 4. Bonn 1988, S. 127–138; sowie ders.: Mentor einer ganzen Generation. In: Rudolph (Hg.): Den Staat denken, S. 15–18. 33 Theodor Eschenburg: Über Autorität. Frankfurt am Main 1965; Dolf Sternberger: „Ich wünschte ein Bürger zu sein“. Neun Versuche über den Staat. Frankfurt am Main 1967. 34 Siehe Thomas Noetzel: Theodor Eschenburg. Stilkritik aus Sorge um die Institutionen. In: ders./Rupp: Macht, Freiheit, Demokratie, S. 109f.
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zum anderen auf die politischen Akteure (agierten sie verfassungsgemäß? kamen sie ihren Amtspflichten in ausreichender Weise nach?). Wie ernst Eschenburg die politische Erziehung nahm, belegt sein Engagement in der politischen Bildung, z. B. seine Durchsetzung der Staatsbürger-/Gemeinschaftskunde als Schulfach in Baden-Württemberg. Sein umfangreiches Standardwerk Staat und Gesellschaft in Deutschland aus dem Jahr 1956 dokumentiert dieses pädagogische Bemühen auf eindrucksvolle Weise und fungierte als Lehrbuch. Es befestigte seinen Ruf als „großer alter Mann der Verfassungskunde“ (wie ihn Ralf Dahrendorf einmal apostrophierte) und als jemand, der sich stets „institutionelle Sorgen“ machte.35 Auch der kulturbeflissene Schöngeist Sternberger nahm sich der politischen Verfassungsrealitäten an und förderte in seinen ersten akademischen Jahren eine Forschungsgruppe zur Politik, die sich vor allem der Parteiendemokratie annahm. Als Verfechter der Personen- und Mehrheitswahl war er Gründer und Vorsitzender der Deutschen Wählergesellschaft; diese Vorliebe für das angelsächsische Wahlsystem und für eine ausgewogene Form der Mischverfassung teilte er eine Zeit lang mit Eschenburg. Auch als Kommentator der Bonner Republik konnte man ihn ähnlich häufig wie Eschenburg lesen, seit den 1950er Jahren als regelmäßigen Beiträger der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. In vielen Streitfragen vertraten die beiden Liberalkonservativen ähnliche Positionen: ob in der Kritik der letzten Kanzlerjahre Adenauers, ob in der Spiegelaffäre, ob im vorsichtigen Plädoyer für die Ostpolitik. Beide vermieden dabei allerdings jedes dauerhafte parteiliche Engagement. Man wird Sternberger kaum Unrecht tun, wenn man seine Beiträge zum aktuellen Tagesgeschehen und zum politischen System zugunsten seiner politischen Philosophie vernachlässigt. Er ging weniger von den Institutionen als vielmehr vom Bürger und vom republikanischen Geist der Verfassung aus, die er als „lebendige Verfassung“ begriff. Sein wesentliches Ziel war es, den Westdeutschen den Zugewinn an bürgerlicher Freiheit zu erklären und ihnen den Mehrwert des demokratischen Miteinanders als Gewinn an politischer Kultur und Zivilität zu verdeutlichen. Er zieht den Begriff der Vereinbarung demjenigen der Herrschaft vor und hat von seinen ersten Nachkriegsschriften an den Geist der aristotelischen Polis beschworen. „Lebende Verfassung“, „Staatsfreundschaft“, „Verfassungspatriotismus“ – diese von Sternberger geprägten Begriffe drücken stets die aktive politische Teilnahme und die notwendige Identifikation des Bürgers mit seinem Gemeinwesen aus. Dabei erteilte er jeder idealistischen Demokratietheorie eine Absage. Das Prinzip der repräsentativen Demokratie ginge nicht 35 Ralf Dahrendorf: Mahner, Wächter, oft auch Donnerer. Zum 80. Geburtstag von Theodor Eschenburg. In: Die Zeit vom 26.10.1984. – Vgl. auch die Sammlungen seiner tagesaktuellen Analysen in: Theodor Eschenburg: Zur politischen Praxis in der Bundesrepublik. Bd. 1: Kritische Betrachtungen 1957 bis 1961; Bd. 2: Kritische Betrachtungen 1961 bis 1965. München 1964/1966. Nationale Traditionen und politische Öffnung nach Westen
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in der unmittelbaren Volkssouveränität auf, wie sie Rousseau vorschwebte, sondern Repräsentation sei allenfalls als „Identitätsfiktion“ denkbar. Der gewählte Amtsträger erfülle kein imperatives Mandat; vielmehr sei er seinem Gewissen verpflichtet und habe im Sinne des Gemeinwohls zu handeln, wie Sternberger nicht müde wurde im Anschluss an Edmund Burke zu erläutern.36 Sternbergers politische Philosophie – man zögert sie als eine politische Theorie zu verstehen: zu grundlegend, allgemein und überzeitlich orientiert sind seine Prämissen – scheint sich bewusst an den Klassikern des politischen Denkens zu orientieren, um der Werteordnung des bundesrepublikanischen Staates eine höhere, von den Zeitläufen unabhängige Legitimation zu verschaffen, um die allgemeine Gültigkeit demokratisch-republikanischer Grundsätze zu betonen. Wie Eschenburg betont er die Gewachsenheit einer konstitutionellen Ordnung, die sich nicht allein aus demokratischen Prinzipien herleiten lasse, sondern vielfältige Wurzeln hat: „Diese Züge, Einrichtungen, Prozeduren und Maximen sind nicht aus einem einzigen Prinzip deduzierbar, vielmehr zusammengewachsen aus unterschiedlichen geschichtlichen Wurzeln.“ Als Vertreter einer Mischverfassungstheorie betont er ebenfalls das monarchische und ständestaatliche Erbe, das in die parlamentarische Demokratie eingegangen ist. „Die neue Politie“, so schrieb er in einer seiner letzten Arbeiten, „ist eine Mischung von Demokratie und Oligarchie, eine strenge Verknüpfung und wechselseitige Abhängigkeit einer politischen Klasse und einer allgemeinen Bürgerschaft, besonders in der Gestalt der politischen Parteien und der Wählerschaft. Auf dieser Zweiheit beruht ihr Wesen, ihre Lebendigkeit, auch ihre Beständigkeit. […] Der moderne Verfassungsstaat ist auch nicht allein durch das System der Ämter und Mandate gekennzeichnet, welche von der politischen Klasse auf Grund unmittelbarer oder mittelbarer Wahl, das heißt bürgerlicher Anvertrauung auf Zeit, besetzt werden. Vielmehr gehört zu diesen Merkmalen die Achtung und tätige Bewahrung von fundamentalen persönlichen und kollektiven Freiheiten, woraus eine Bürgerschaft sich allererst konstituiert.“37 Die Gemeinsamkeiten von Eschenburg und Sternberger im Bemühen um eine Erziehung der Bürger zur parlamentarischen Demokratie sind sicherlich in vielerlei Hinsicht greifbar. Interessant sind auch einige weitere Überkreuzbeziehungen. Vermutlich hätte der womöglich liberalere Sternberger zu Zeiten besser zur Hamburger Wochenzeitung gepasst als der konservativere Eschenburg (der aber immerhin Hanseat war). Und beide haben mit Karl Friedrich Fromme (von Eschenburg) und Günther Nonnenmacher (von Sternberger her kommend) Schüler, die zu bedeuten36 Vgl. etwa Dolf Sternberger: Edmund Burkes Verteidigung der Repräsentation gegen die Demokratie (1967). In: ders.: Herrschaft und Vereinbarung. Schriften III. Frankfurt am Main 1980, S. 227–259. 37 Dolf Sternberger: Die neue Politie. Vorschläge zu einer Revision der Lehre vom Verfassungsstaat (1985). In: ders.: Verfassungspatriotismus, S. 156–231, hier S. 229f.
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den Journalisten der FAZ avancierten. Die räumliche Nähe zwischen Tübingen und Heidelberg und die Universitätspolitik im Bundesland Baden-Württemberg schufen weitere gemeinsame Anknüpfungspunkte, wenn sich daraus auch keine freundschaftliche Beziehung ergeben hat. Dazu ist es angesichts der Wesensunterschiede und vermutlich auch angesichts des fachlichen Konkurrenzverhältnisses nicht gekommen.38 Überdies sollte eine Parallelbetrachtung dieser beiden Persönlichkeiten auch die Differenzen berücksichtigen, die zwischen den beiden geherrscht haben. Zu einem Unterschied in den Anschauungen führt die unterschiedliche Rezeption von Max Webers Herrschaftssoziologie. Eschenburg glaubte ohne Frage „an die rationale, die legale Herrschaft im Weberschen Sinn“ (Dahrendorf ), und seine Definition der Politik als „machtgerechtes, machtorientiertes Verhalten in öffentlichen Angelegenheiten“ unterstreicht diese Perspektive, in der Politik wesentlich als Führungshandeln begriffen wird und Wahlen einzig der Legitimationsbeschaffung dienen.39 Es ist kaum zufällig, dass er sich stets auf Schumpeters realistische, auf Auswahl von Führungseliten fixierte und nach der Logik der Werbung funktionierende Demokratietheorie beruft, die wesentlich auf Webers Vorstellungen aufbaut. Sternberger hingegen sah in den Weberschen Kategorien eine machtzentrierte Verengung; ein Herrschaftsmodell, das lediglich auf traditionaler, charismatischer oder legaler Legitimität beruhe, genüge kaum den Anforderungen der liberalen parlamentarischen Demokratie, in der es nicht allein um die Anerkennung von Herrschaft, sondern zuvörderst um die bürgerliche Legitimität geht, welche Vereinbarung bzw. den Zusammenschluss von Freien und Gleichen voraussetze. Für Sternberger galt: „Eben diese Verfassungsstaaten mit ihren Parlamenten und ihren allgemeinen Wählerschaften stellen offenbar die heutige, die neueste leibhaftige Metamorphose des Geistes der Polis dar, und sie sind auf keine andere als auf bürgerliche Legitimität gegründet.“40 Sternberger sah es als vordringliche Aufgabe an, die Verengung des Politikbegriffs auf Formen der Herrschaft zu lösen und den Blick für die kommunikativen Aspekte von Machtausübung als politisches Handeln in Übereinkunft zu schärfen.41 Ein weiterer Punkt lässt die große Distanz zwischen beiden Protagonisten erkennen: der Rang des Normativen. Der Institutionalist Eschenburg kommt in seinen politischen Schriften weitgehend ohne den Begriff des Gemeinwohls aus; sein funk38 Immerhin zitiert Eschenburg beifällig Sternbergers Einsicht, dass keine Verfassung ohne das Element des Spiels zu verstehen sei. Siehe Eschenburg: Spielregeln der Politik, S. 10. 39 Eschenburg: Über das Funktionieren der parlamentarischen Demokratie, S. 31. Zur zustimmenden Zitation Webers vgl. auch Eschenburg: Staat und Gesellschaft, S. 39. 40 Siehe Dolf Sternberger: Herrschaft und Vereinbarung. Über bürgerliche Legitimität (1964). In: ders.: „Ich wünschte ein Bürger zu sein“, S. 51–67, hier S. 67, sowie weiterhin ders.: Max Weber und die Demokratie (1967). In: ebd., S. 93–113. 41 Seine Gedanken sind in diesem Punkt sehr verwandt mit Hannah Arendt: Macht und Gewalt. München/Zürich 1970. Nationale Traditionen und politische Öffnung nach Westen
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tionales Äquivalent, der „Staatszweck“, wird durch die Beantwortung der Machtfrage im Staat entschieden: „Verschiedene, teils gegensächliche Zweckauffassungen ringen miteinander um Geltung. Die Macht im Staat haben, heißt nicht nur über Gewalt verfügen, sondern auch die Staatszwecke bestimmen, die u.U. die Gewalt erst rechtfertigen. Staatsgewalt und Staatszwecke bedingen einander.“42 Unter den Bedingungen der modernen Demokratie ergeben sich diese Staatszwecke quasi von selbst, und das politische Handeln der Akteure kann daran gemessen werden, ob es in der Lage ist, Sicherheit, Wohlfahrt und Ordnung zu gewährleisten. Eine weitergehende normative Grundierung der Politik scheint ebenso wenig erforderlich wie eine Evalution verschiedener gesellschaftlicher Interessen, die um ihre Durchsetzung kämpfen.43 Die Kritik und Analyse der Politik braucht deshalb nichts weiter als das Verständnis der politischen Praxis, eine darüber hinausgehende Grundlagenreflexion scheint Eschenburg entbehrlich. Sternberger hingegen hält die Frage nach dem Gemeinwohl, nach dem „allgemeinen Besten“, für zentral und macht sich die Antwort nicht einfach, wer denn im modernen Staat als Hüter des Gemeinwohls angesehen werden kann. Ihm geht es vornehmlich darum zu zeigen, dass es per se keine Instanz gibt, die eine solche Rolle für sich beanspruchen kann: weder der Staat im Hegelschen Sinne als Verkörperung des Allgemeinen noch eine spezifische politische Partei als Agentin des Gemeinwohls. Auch stelle sich das Gemeinwohl – etwa in Anlehnung an die invisible hand des freien Marktes – nicht selber her. Laut Sternberger könne nur eine „moralische Gesinnung […] die Institutionen so modeln und tauglich machen, daß sie eben die Eignung beweisen, das allgemeine Beste zu befördern. Mit einem Wort: Bürgerliche Tugend kann nicht entbehrt werden.“44 Sicherlich, Sternbergers Beharren auf der Sittlichkeit und der bürgerlichen Tugend des Einzelnen bedürfte unter den Bedingungen des demokratischen Wohlfahrtsstaats weiterer Konkretion, insbesondere hinsichtlich einer präziseren Bestimmung sozialer Gerechtigkeit und persönlicher Freiheitsräume. Aber seine im Kern optimistische Anthropologie, welche die Gemeinsinnfähigkeit des Menschen als Bürger voraussetzt, unterscheidet ihn merklich vom Institutionalisten Eschenburg, der laut Ralf Dahrendorf nie davon ausging, „daß Menschen gut sein müssen, damit das Gemeinwesen vernünftige Lebensvoraussetzungen schafft“.45
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Eschenburg: Staat und Gesellschaft, S. 100. Vgl. zu diesem Aspekt auch Noetzel: Theodor Eschenburg, S. 112f., 117. Dolf Sternberger: Das allgemeine Beste (1961). In: ders.: Staatsfreundschaft, S. 267–291. Dahrendorf: Mahner, Wächter, oft auch Donnerer.
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3. Regierungslehre und politische Theorie in der Bundesrepublik: Sternberger und Eschenburg in historischer Perspektive Die Frage, wie sich bei diesen beiden Vertretern der Politikwissenschaft nationale Traditionen und internationale Trends zueinander verhalten, ist nicht ganz einfach zu beantworten. Zeittypischerweise war es die entschiedene Distanzierung von den Verbrechen der NS-Diktatur und die Anknüpfung an liberale und republikanische Traditionen, die ihr Denken prägten. Für Eschenburg war das Grundgesetz eine modifizierte Neubelebung der Weimarer Reichsverfassung.46 In zeithistorischer Perspektive bewertete er die Bundesrepublik ganz natürlich vor dem Hintergrund der institutionellen und parlamentarischen Erfahrungen des Deutschen Reiches; der Gedanke einer Reeducation oder gar einer Orientierung an der amerikanischen „political science“ blieb beiden fremd. Sie zogen es vor, wenn auch in kritischer Weise, an deutsche Traditionen anzuknüpfen – im politischen Sinne an den südwestdeutschen Liberalismus, an die lange Geschichte städtischer und kommunaler Selbstverwaltung. Als Anschluss an den Westen – im von Habermas später emphatisch vorgetragenen Sinne – lässt sich lediglich die Auseinandersetzung mit den Klassikern des politischen Denkens verstehen, die nun von Locke bis Paine, von Montesquieu bis Tocqueville im liberaldemokratischen Sinne rezipiert wurden. Joachim Fest hat Dolf Sternberger als „Genie der Vernünftigkeit“ porträtiert, als jemanden, der sich im sicheren Bewusstsein, eine intellektuell weitgehend reizlose Haltung einzunehmen, für das politisch Vernünftige entschieden hat.47 Sternberger, der Theodor Adorno noch aus den 1930er Jahren kannte, hat den Zwang zur Originalität der Frankfurter Schule und ihren Kulturpessimismus sehr kritisch gesehen. Mehr noch als der Institutionalist Eschenburg glaubte er an eine Erziehung zur Sittlichkeit und bewahrte sich den Glauben an das Gute im Menschen. In der Tradition der Aufklärung vertraute Sternberger auf die Moralität und Mündigkeit des einzelnen, auf die Fähigkeit zum Kompromiss und den gemeinsamen Willen, Frieden (nicht zu verwechseln mit Ruhe und Ordnung) als höchstes Ziel der Politik anzuerkennen und zu verwirklichen. Seine Präferenz der Vertragstheorie und seine Auseinandersetzung mit dem Repräsentationsprinzip lassen ihn machttheoretische Politikbegründungen mit Skepsis betrachten. Eschenburgs Institutionalismus setzt auf „Legitimität durch Verfahren“ und vertraut – nach der grundsätzlichen Anerkennung der verfassungsmäßigen Ordnung in 46 Vgl. Theodor Eschenburg: Jahre der Besatzung 1945–1949. Stuttgart 1983, S. 511. Dies wird auch deutlich in Theodor Eschenburg: Vorentscheidungen zum Grundgesetz (1963). In: ders., Zur politischen Praxis in der Bundesrepublik, Bd. 2, S. 98–111. 47 Joachim Fest: Genie der Vernünftigkeit. Eine Nachschrift auf Dolf Sternberger. In: ders.: Begegnungen. Über nahe und ferne Freunde. Reinbek 2004, S. 87–120. Nationale Traditionen und politische Öffnung nach Westen
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gewisser Weise positivistisch – ganz auf die „Legitimationsketten“, die im Staat zur Begründung von Entscheidungen gebraucht werden. Er sah nichts Falsches darin, „Institutionenkunde als Erziehung zur Anpassung im Dienste der Affirmation“ zu verstehen. Das bedeutete für ihn „die prinzipielle Anerkennung der staatsrechtlichen Fundamente, der Institutionen, ihrer Kompetenzen und Verfahren, eben ein Konsens, eine zwingende Bindung“.48 Für diese zwingenden Bindungen, für die Loyalität zum bundesrepublikanischen Staat setzten sich beide, Eschenburg und Sternberger, seit seiner Gründung ein. Frühzeitig warben sie für die Identifikation mit dem freiheitlichen Gemeinwesen und seiner Institutionen, von Beginn an nahmen sie die Frage der Staatssymbolik ernst und betrachteten Menschen „in der Zone“ als Bundesbürger im Wartestand. Dieses politische Engagement war für sie eine Selbstverständlichkeit, es war keine Selbstverständlichkeit für bundesrepublikanische Intellektuelle in den 1950er Jahren, von denen viele noch abschätzig auf das Provisorium blickten. Eschenburg und Sternberger lehrten, dass Verfassungsordnungen stets flexibler sind, als man anzunehmen geneigt ist. Die so genannte Verfassungswirklichkeit zeigt den Auslegungsspielraum und die – oft nicht von den Verfassungsschöpfern intendierten – Weiterentwicklungen und schleichenden Uminterpretationen. Deswegen schien es beiden unsinnig, sich vor einem Zuviel an demokratischem Verfassungspatriotismus zu fürchten. Wenn es unmöglich erscheint, die politische Ordnung als etwas Statisches zu begreifen, so wird es umso wichtiger an der Konservierung ihres „guten Geistes“ mitzuarbeiten. „Ich verteidige das Grundgesetz und die Institutionen der Bundesrepublik gegen jeden Missbrauch. Die Fron ist die Schwester der Freiheit. Ich bin ein demokratischer Konservativer“, äußerte Eschenburg.49 Solche Bekenntnisse des Glaubens an die Politik repräsentierten einen staatstragenden liberalkonservativen Zeitgeist50: Sie wirkten auf die politische Linke naiv in einer Zeit, als technokratische Vorstellungen und Sachzwänge die Stelle von Politik einzunehmen schienen; sie wirkten hoffnungslos altmodisch, als man in den 1960er Jahren das politische System wechselweise für die letzte Zuckung des Spätkapitalismus oder für die Vorform eines faschistischen Regimes hielt. 48 Theodor Eschenburg: Anfänge der Politikwissenschaft und das Schulfach Politik in Deutschland (1985). In: ders.: Spielregeln der Politik, S. 159–177, hier S. 174f. Vgl. zu Eschenburgs Hochschätzung der Institutionen auch sein Vorwort in ders.: Zur politischen Praxis der Bundesrepublik, Bd. 1, S. 7–10. 49 Zitiert nach Gerd Buccerius: Ein Stück deutscher Geschichte. In: Hermann Rudolph (Hg.): Den Staat denken. Theodor Eschenburg zum Fünfundachtzigsten. Berlin 1990, S. 110–117, hier S.114. 50 Vgl. dazu auch die verwandte philosophische Haltung der Münsteraner Schule Joachim Ritters, dargestellt in Jens Hacke: Philosophie der Bürgerlichkeit. Die liberalkonservative Begründung der Bundesrepublik. Göttingen 2006.
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Es kann hier nicht darum gehen, umfassende Beurteilungen von Lebensbilanzen vorzunehmen. Ganz sicher sind viele Schriften Eschenburgs in ihrer Detailkenntnis zwar beeindruckend, heute aber meist nur noch von historischem Interesse, zu sehr haftet ihnen ein etwas altväterlich-schulmeisterlicher Ton an. Sternbergers politischphilosophische Schriften fesseln hingegen immer noch durch ihre schriftstellerische Brillanz, wenngleich wir ihre Botschaften mittlerweile fast als Allgemeingut akzeptieren. Aber auch hier gilt: Originalität muss nicht immer das Kriterium für Bedeutung sein. Tugenden wie Urteilskraft, moralische Integrität und Common sense lassen sich eben nur schwer kategorisieren. Wenn man allerdings die Ideengeschichte der Bundesrepublik auf ihren identifikationstauglichen Gehalt prüft, wird man schwerlich um diese beiden Gründerväter der deutschen Politikwissenschaft herumkommen. Wir sehen bei ihnen noch die Konzentration auf wenige wesentliche Felder des Politischen – die Regierungslehre, die Verfassungskunde, die politische Theorie. In dieser Zeit besaß die Politikwissenschaft noch ein klar umrissenes, aus heutiger Sicht beschränktes Profil. Sie kümmerte sich noch kaum um sozialstrukturelle Veränderungen, Ökonomie oder sozialwissenschaftliche Methoden; auch gesellschaftlicher Wandel wurde von ihnen kaum thematisiert.51 Aber Eschenburg und Sternberger sorgten wortmächtig dafür, dass die Politikwissenschaft eine eigene Stimme entwickelte, die gehört wurde.52 Rückwirkend war es die gelungene Beschränkung auf das Wesentliche, die Sternberger und Eschenburg zu wichtigen Integrationsfiguren machten. In der Gründungsphase der Bundesrepublik, als eine politische Elite den Ton angab, die ihre Sozialisation nach im Kaiserreich und in der Weimarer Republik erfahren hatte, konnte von Verwestlichung und vom Anschluss an internationale Debatten nur bedingt die Rede sein. Es galt, den Gehalt des Grundgesetzes und die Prinzipien des Parlamentarismus vor allem von bekannten Traditionslinien her plausibel zu machen. Eschenburgs Anknüpfung an das rechtsstaatliche Erbe des Kaiserreichs und die verfehlten Möglichkeiten der ersten deutschen Demokratie unterstrich wesentlich einen nationalen Lernprozess; Sternbergers Rückgriff auf den angelsächsischen Liberalismus und dessen Common sense versuchte antiwestliche Vorurteile im Modus einer philosophisch überzeugenden Argumentation abzubauen. Diese ideenhistorische Vorgehensweise 51 Vgl. zur Geschichte des Faches insbesondere Udo Bermbach: Zur Entwicklung und zum Stand der politischen Theoriengeschichte. In: Klaus von Beyme (Hg.): Politikwissenschaft in der Bundesrepublik Deutschland. Opladen 1986, S. 142–167, sowie Herfried Münkler/ Grit Straßenberger: Was das Fach zusammenhält. Die Bedeutung der Politischen Theorie und Ideengeschichte für die Politikwissenschaft. In: Hubertus Buchstein/Gerhard Göhler (Hg.): Politische Theorie und Politikwissenschaft. Wiesbaden 2007, S. 45–79. 52 Sie wurde auch vom Promotionsstudenten Helmut Kohl gehört, der beiden in seiner Studienzeit begegnet ist. Vgl. Helmut Kohl: Erinnerungen 1930–1982. München 2004, S. 84, 100f., 105. Nationale Traditionen und politische Öffnung nach Westen
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verzichtete allerdings völlig auf eine Auseinandersetzung mit den zeitgenössischen Debatten um die liberale Demokratie oder um eine Eingliederung in die Front des cold war liberalism, dessen Antitotalitarismus man teilte, ohne einen Brückenschlag zu versuchen.53 Zwar mühte sich Sternberger, auch durch die Vermittlung seiner Freundin Hannah Arendt, um direkte Kontakte in die USA, aber ähnlich wie für sie galt für ihn, die politischen Prinzipien der Demokratie überzeitlich zu begründen. Diese Form einer sich auf Aristoteles berufenden Tugendlehre des Politischen hatte gleichwohl ihre Grenzen, wenn es darum ging, die Phänomene einer im rapiden Modernisierungsprozess begriffenen Industriegesellschaft zu begreifen. Auch dieser Umstand führte dazu, dass sie gleichsam vor der Zeit als Relikte einer untergegangenen bürgerlichen Epoche wirkten. Wie rapide sich das Fach Politikwissenschaft verwandelte, zeigt der Blick auf seine Gründungsfiguren. Eine jüngere Generation, prominent repräsentiert durch Wilhelm Hennis (den man als Fortsetzer beider Linien, Regierungslehre und praktische Politik im Sinne des Aristoteles, verstehen kann), wollte die altliberale Ausrichtung der Vorgänger hinter sich lassen und fand sich selbst alsbald unter Traditionalismusverdacht.54 Mittlerweile ist ein kaum mehr rückgängig zu machender Verlust der Einheit eines Faches zu konstatieren, dem die führenden Vertreter der politischen Theorie immer wieder zu begegnen suchen, vermutlich langfristig ohne Erfolg, so dass die Kernfragen der Politik, die Sternberger und Eschenburg noch klar vor Augen hatten und mit ihrem weiten Zugriff zu integrieren suchten, heute eher in der Sozialphilosophie, der politischen Philosophie und der politischen Zeitgeschichte behandelt werden. Insofern erinnert die Beschäftigung mit diesen Nestoren der Politikwissenschaft – an der Seite der einflussreichen und ähnlich übergreifend arbeitenden Remigranten Ernst Fraenkel, Richard Löwenthal oder Eric Voegelin – immer wieder an die notwendige holistische Betrachtung des Politischen, die nicht ausschließlich sein darf, aber essentiell bleibt, wenn es um die Gestalt- und Erfahrbarkeit der politischen Ordnung geht.
53 So finden sich keinerlei Bezüge zu den bestimmenden Denkern der Zeit wie etwa Raymond Aron, Daniel Bell, Isaiah Berlin, Friedrich August von Hayek, Samuel Huntington etc. Es blieb in Deutschland Ralf Dahrendorf vorbehalten, diese Rezeptionslinie zu stärken. Vgl. rückblickend Dahrendorf: Versuchungen der Unfreiheit. Vgl. überdies erste Überlegungen zur Charakterisierung eines cold war liberalism in Jens Hacke: Politische Ideengeschichte und die Ideologien des 20. Jahrhunderts. Im Spannungsfeld historischer und politiktheoretisch geleiteter Absichten., In: ders./Matthias Pohlig (Hg.): Theorie in der Geschichtswissenschaft. Einblicke in die Praxis des historischen Forschens. Frankfurt am Main 2008, S. 147–170, hier S. 163–169. 54 Vgl. dazu Stephan Schlak: Wilhelm Hennis. Szenen einer Ideengeschichte der Bundesrepublik. München 2008.
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Sexuality in West Germany Post-Fascist, Post-War, Post-Weimar, or PostWilhelmine?1 In 1955, Herr P. wrote to erotica entrepreneur Beate Uhse. Like thousands of Beate Uhse’s customers, Herr P. did not simply fill out order forms. Rather, he wrote letters describing his problems, explaining what he thought might help, and asking if Beate Uhse had further advice. As he wrote, “my wife and I have little experience due to our upbringing, and I would like to obtain books that give thorough information about all questions relating to marriage.” He asked that Theodor van de Velde’s Ideal Marriage (1926) and Richard Wunderer’s Hygiene of Sexual Life (1951) be sent to his wife’s address, since sexual ignorance was not the couple’s only problem: he lived apart from her, near his workplace, and visited her when he could. Five years later, he wrote again, this time to order lingerie. He now had a new address, where he lived with his wife.2 Herr P’s letters are unusual: we have very little evidence originating from “ordinary Germans” of the lived experience of sexuality in the years of the economic miracle – as opposed to the ways sexuality functioned discursively, or the ways policy makers regulated sexuality. The letters are particularly interesting for what they do and do not 1
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I am grateful to the participants of the conference “National Traditions or International Trends? Reconsidering the Fifties and Sixties as an Orientation Period in West Germany” (London, September 2007) for the lively discussion which helped to sharpen this essay. The final version of this essay benefited greatly from the input of Jennifer Evans and Robert Moeller. This research would have been impossible without the cooperation of Beate Uhse and the Walter-Schäfer-Gruppe, the Bundesverband Erotik Handel, and descendants of consumers who made materials available to me. The Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg devoted valuable resources to organizing the Beate Uhse archive, and its archivist, Angelika Voß-Louis, answered uncounted e-mailed questions at moments when I was unable to visit the archive personally. Funding from the German Academic Exchange Service, the NEH (FA–36988-02), the Howard Foundation, the Obermann Center for Advanced Study at the University of Iowa, and the College of Liberal Arts and Sciences at the University of Iowa supported this research. W.P. letters to Beate Uhse 26 March 1955 and 17 December 1960, in author’s possession. Theodoor H. van de Velde: Die vollkommene Ehe: eine Studie über ihre Physiologie und Technik. Leipzig/Stuttgart 1926; Richard Wunderer: Hygiene des Sexuallebens. Baden 1951. Sexuality in West Germany
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address. First, Herr P. described an effort to move beyond his upbringing. In a pattern familiar since at least the Wilhelmine era, both he and his wife grew up deprived of information about sex. They have now made it their project to get a belated education. Second, Herr P. mentions, in the context of explaining his mailing address, what must have been a serious logistical difficulty to an intimate life, but a common one given postwar conditions: he and his wife still lived apart in 1955, presumably because the housing shortage made it impossible to find shelter for his entire family near his place of work. By 1960, Herr P. and his wife were reunited, and it is perhaps fitting that in this environment of somewhat greater creature comforts, his order was not for a book to help them overcome their miserable ignorance, but rather for a piece of negligee: a luxury item. Herr and Frau P. have struggled to overcome their “Wilhelmine” pasts, and they have struggled to overcome postwar conditions. If their sex life also reflected a struggle with the legacy of fascism – as distinct from the legacy of the war – there is no evidence of it here. And so we must ask: is the couple’s story a German one, or a Western one? In her influential and original book, Sex After Fascism, Dagmar Herzog posits a close relationship between West Germans’ discourses and practices of sexuality on the one hand, memories of the Nazi past on the other. 3 Postwar Germans fighting to restore a conservative sexuality claimed that fascism had been permissive; those promoting liberalization painted fascism as sexually repressive. Both sides, in other words, were convinced that they were fighting fascism through their sexual agendas. Thus memories of fascism drove postwar sexual history, and claims about sexual history drove postwar political battles which, on the surface, had little to do with sexuality. Yet the overall contours of sexuality in twentieth-century Germany resembled those of other Western societies: a loosening of mores starting in the interwar years and intensifying with the disruptions of the Second World War, a postwar effort to reverse this trend leading to the conservative 1950s, sexual revolution in the 1960s, feminism and gay rights activism in the 1970s, a high level of commodification by the 1980s, post-modern forms of sexuality such as queer and virtual sexuality in the 1990s. When postwar West Germans talked about sexuality, they told a distinctly German story. But when they lived sexuality, they differed little from other Westerners. There are two possible explanations for this apparent contradiction. One is that Germans with a “public” interest in sexuality – those who legislated it, published on it, taught or preached about it – gravitated to the most extreme negative example, Nazism, and wove into it a tale of a sexuality gone wrong. The stakes were especially high for them: they wanted to influence the sexual mores and behavior of their whole society. Those who lacked this public interest – who mainly wanted to insure that 3
Dagmar Herzog: Sex after Fascism. Memory and Morality in Twentieth-Century Germany. Princeton 2005.
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their own sex lives took the direction they wished – had less need to focus on an extreme negative example. And so “ordinary Germans” could “permit” their sexuality to be steered by variables that were not responses to the Nazi past and thus not uniquely German: how secular or religious they were, how integrated into a society of mass consumption, and so on. In this explanation, there is a gap between elite discourse and the behavior of “ordinary people.” A second explanation is that the gap is only evident: that the Nazi past played a role for those with a “public” and with only a “private” interest in sexuality, but that in both cases, it was only one of several pasts, and both groups also frequently experienced and interpreted the present “on its own terms.” Historians of Germany, however, are sensibly concerned with the depth of the National Socislism’s impact on German society, and so have paid particular attention to Nazism’s aftermath in their postwar histories. Because we have a powerful book focusing centrally on postwar public discourses of sexuality, but far less research on sexuality in the lives of the masses of postwar Germans, we see the impact of historians’ special concern with the aftermath of Nazism in the former, but not in the latter. In this explanation, there is a gap between postwar Germans’ experience – whether those contemporaries were “publicly” or only “privately” concerned with sexuality – and historians’ concerns. There is an element of truth in both explanations. A more layered look into West Germany’s pasts – including not only the Nazi era, but also the Weimar and Wilhelmine ages that preceded it – can help to reveal the complex interplay between German uniqueness and German participation in a larger Western trajectory.4 The simultaneously seductive and repulsive memories of sexuality in Nazi Germany were evident through the postwar decades. Nazi-era marriage manuals remained best-sellers in the early 1950s, for example, even as revived Weimar-era classics were advertised as “Banned by the Nazis!”5 When Beate Uhse became a celebrity in the 1960s, her past identity as a Luftwaffe pilot – a sort of Aryan superwoman: athletic, daring, and sexual – contributed to the public’s fascination with her.6 Later, that same personal history gave sexual revolutionaries and feminists a convenient way to simultaneously
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On German uniqueness versus „Europeanness“ more generally, see Ute Frevert: Europeanizing Germany’s Twentieth Century. In: History & Memory 17 (2005) 1–2, S. 87–116. For a beginning of comparative study of sexuality during this era, Edward Ross Dickinson: Policing Sex in Germany, 1882–1982. A Preliminary Statistical Analysis. In: Journal of the History of Sexuality 16 (May 2007) 2, S. 204–250. E.g. Walter Schäfer Gruppe, “Leben und nicht verzichten!” Walter Schäfer catalog for redistribution by smaller retailers, ca. 1951/52, pp. 22, 35, in author’s possession. Elizabeth D. Heineman: Der Beate Uhse Mythos. In: WerkstattGeschichte 14 (2005) 2, S. 69–92. Sexuality in West Germany
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criticize commercialized sexuality and West Germany’s incomplete reckoning with Germany’s Nazi past.7 In many ways, however, the traumas of the immediate past, and the role of sexuality in recovery, were shared by postwar societies that did not share Germany’s political history. People who had suffered sexually during the war now struggled to create secure partnerships and cozy domestic lives: all combatant states experienced a post-war marriage boom and baby boom. Consumption was central to this story. Phenomena like improved housing (which permitted couples more privacy) and the playboy (mainly a fantasy, but a marketable one) were common across the Western world. Mass-marketed sex manuals and popular magazines educated Western populations, and films laced with erotic tension offered relief from heavy memories of war and the discomforts of continuing shortages.8 If the Nazi era was a negative example for all, then all could agree about the urgency of not replicating whatever forces had brought the Nazis to power. And so the Federal Republic was also a “post-Weimar” society. Weimar Germany had been the most dramatic, but by no means only, example of a liberal state whose weakness in the face of economic crisis created an opening for authoritarian or even fascist movements. But post-World War II West Germans disagreed on the role of sexuality in the history of the Weimar Republic. Weimar Germany had been an era of notable, if incomplete, sexual liberalization, with Berlin at the avant-garde of the daring interwar sexual culture that characterized many Western states.9 For moral purity advocates, Weimar-era sexual culture and the legal framework supporting it, for example the lifting of Prussian censorship 7
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In addition to Herzog, further literature on “coming to terms” with the Nazi past highlights gender and sexuality; see esp. Robert G. Moeller: War Stories. The Search for a Usable Past in the Federal Republic of Germany. Berkeley 2001; Frank Biess: Homecomings. Returning POWs and the legacies of defeat in postwar Germany. Princeton 2006; Heide Fehrenbach: Race after Hitler. Black occupation children in postwar Germany and America. Princeton 2005; Elizabeth D. Heineman: The Hour of the Woman. Memories of Germany’s ‘Crisis Years’ and West German National Identity. In: American Historical Review 101 (1996), S. 354–395; Elizabeth D. Heineman: Gender, Sexuality, and Coming to Terms with the Past. In: Central European History 38 (2005), S. 41–74. Marcus Collins: Modern love. An intimate history of men and women in twentieth-century Britain. London 2003; John D’Emilio/Estelle B. Freedman: Intimate matters. A history of sexuality in America. Chicago 1997; Claire Duchen: Women’s rights and women’s lives in France, 1944–1968. London/New York 1994. On efforts to distinguish “post-war” from “post-fascist” in the German case see Klaus Naumann: Einleitung. In: Klaus Naumann (Hg.): Nachkrieg in Deutschland. Hamburg 2001, S. 9–20. Atina Grossmann: Reforming Sex. The German Movement for Birth Control and Abortion Reform, 1920–1950. New York 1995; Cornelie Usborne: The Politics of the Body in Weimar Germany. Women’s Reproductive Rights and Duties. Ann Arbor 1992; Katharina von An-
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laws after World War I, had been truly alarming, a signal of collapsing mores which, in hindsight, had helped to pave the way for Nazism. Liberals and Social Democrats argued, to the contrary, that the illiberalism that would have squelched Weimar sexual culture was the same illiberalism that had made Germans so vulnerable to Nazism’s appeal. To the extent that Weimar’s sexual culture might have signaled a desire to escape the traumas of a lost war, revolution, and economic crises, however, even liberalizers hoped that their second post-war era, following 1945, would provide an environment for more stable sexual relations – and a more stable state. For Germans living during the Weimar era, who could not see into the future, their age was most remarkable in contrast to what had preceded it: the Wilhelmine period. Yet in the history of sexuality, the “post-Wilhelmine” age extended well into the post-World War II years. “Post-Wilhelmine” is thus an abbreviated reference to the longer-term relaxation of sexual mores through the twentieth century in northern and western Europe and in North America. British and US American readers, more familiar with the stereotype of a prudish Victorian age in Britain, might think of the “post-Wilhelmine” era as Germany’s equivalent to the “post-Victorian” era. The years don’t match up precisely – Wilhelm II ruled from 1888 to 1918 and Victoria from 1837 to 1901 – but the stereotypes of a sexually repressive age do. As a short-hand, “post-Wilhelmine” does not do justice to the complexities of Wilhelmine-era (or Victorian-era) sexuality, nor does it pretend that the path since those monarchs pointed unerringly in a single direction. Instead, the term refers to a time whose remembered or imagined sexual conservatism served as a foil for reformers, and as a model for moral purity advocates, throughout the twentieth century.10 After two world wars, revolution, and Nazism, to refer to the Wilhlemine years was to evoke a world that was oh, so long ago. Yet Wilhelmine-era laws regarding sexuality remained on the books until the 1970s. If liberalizers considered this a clear argument for reform, conservatives argued that “oh, so long ago” had been better than what had come since. For proponents and opponents of liberalization alike, the Wilhelmine era represented “how things used to be,” the starting point from which subsequent eras, for good or ill, deviated. Whether West Germans should be “post-Wilhelmine,”
kum (Hg.): Women in the Metropolis. Gender and Modernity in Weimar Culture. Berkeley 1997. 10 Christoph Sachße: Mütterlichkeit als Beruf. Sozialarbeit, Sozialreform und Frauenbewegung, 1871–1929. Frankfurt am Main 1986; Karin Hausen: Family and Role-Division. The Polarization of Sexual Stereotypes in the Nineteenth Century. In: Richard J. Evans (Hg.): The German Family. London 1981; Nancy Reagin: A German Women’s Movement. Class and Gender in Hanover, 1880–1933. Chapel Hill 1995; Edward Ross Dickinson: A Dark Impenetrable Wall of Complete Incomprehension. The Impossibility of Heterosexual Love in Imperial Germany. In: Central European History 40 (2007), S. 467–497. Sexuality in West Germany
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once the immediate post-war crisis was over, was not a given: rather, it was a point of strenuous debate. If sexuality in the 1950s and 1960s was post-fascist, post-war, post-Weimar, and post-Wilhelmine, was it anything in its own right? It was. First, it was the era in which Western Europe, after experiencing a revival of religiosity immediately following the war, became a fundamentally secular society, with profound consequences for sexuality. And second – especially important for this essay – the generation following the war was the era in which sexuality became utterly inextricable from consumerism. To focus on business and consumption is to emphasize a trend of the long-duree, but one whose ultimate resolution seemed uncertain until the recovery from World War II was well underway.11 By the beginning of the 1960s, half of all West German households had patronized a mail-order erotica firm at some point or other12; additional millions had visited other outlets like apothecaries or vending machines selling condoms. This was the “private” face of sexual consumption, but sexual consumption also dominated public debates about sexuality. Sexual consumption was at the heart of the most controversial West German legislation regarding sexuality in the 1950s: the Law on the Dissemination of Youth-Endangering Texts and Images. And of all the reforms of the sexual-criminal code passed in 1969 and 1973, the legalization of pornography provoked by far the greatest public passion. The following pages will examine the meanings of these multiple pasts for those with a “public” interest in sexuality, and for those who concerns were mainly “private.” It will use the meanings of sexual wares for consumers to explore the private, and legislation regarding sexual consumption to explore the public. By thinking about the ways multiple pasts – some distinctly German, some not – shaped the public and private worlds of sexual consumption, we can come a step closer to understanding the tension between aspects of German history that were unique to it and aspects that were shared by other western societies.
11 D’Emilio/Freedman: Intimate matters. A history of sexuality in America; Franz Eder: Kultur der Begierde. Eine Geschichte der Sexualität. Munich 2002. 12 Industry insiders considered this a conservative estimate (they attempted to correct for customers who appeared in more than one firm’s mailing list, for example), but it includes those who made only an initial inquiry or order and did not become regular customers. Dr. med. E.L., “Statistisches Material aus dem Alltag,” talk delivered at the conference „Das Süsse Leben,” Evangelische Akademie Tutzing, 7. April 1962, archive of the Bundesverband Erotik Handel (Hamburg). The industry group estimated in 1966 that one third of West German households patronized its member firms (which did not include all firms in the industry). Sex per Post. In: DM 11 (1968), S. 38–41, here S. 40.
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Sex in Private: Sexual Wares and their Meanings Herr P.’s reference to his housing situation is a good starting point, because it takes us straight to that overwhelming problem of postwar German, and European, life: shortages. In her 1989 “as-told-to” autobiography, Beate Uhse placed the origins of her business squarely into this context. A black marketeer dealing in toys, she saw wo men’s joy upon their husbands’ return crumble when they promptly became pregnant. They wanted abortions, and they wanted to know how to protect themselves since “there weren’t any condoms (any more).” Uhse had learned of the rhythm method as an adolescent from her physician mother. A trip to the library helped her to recall the details, and she decided to publish a pamphlet describing the method. But paper was scarce, and the printer demanded five pounds of butter for the job. It took Uhse three weeks to collect enough butter to print two thousand copies of “Schrift X” (Text X) and ten thousand fliers to advertise it. 13 Women had used condoms until recently; the library still held a book on the rhythm method.14 Postwar shortages, not Nazi repression of sexuality, were the problem. Customers who saw the ad requested the pamphlet and other items as well: mainly condoms and “marriage manuals” – books containing basic information about sex – they remembered but which had been lost in flight or in bombing raids. By this time, currency reform in June 1948 had put at least some suppliers back into business, enabling Uhse to fulfill her customers’ requests. Observers commented on another consequence of currency reform: newsstands were suddenly flooded with magazines with sexually-themed articles and pictures, for which there was evidently an enormous pent-up demand. These three items constitute a sort of three-legged stool of the sexual consumer goods industry: condoms for health, “marriage manuals” for education, suggestive or explicit pictures and texts for arousal. The marketplace grew much more complex in subsequent years – Beate Uhse’s 1958 catalog was 162 pages long, and some of her competitors had equally elaborate catalogs.15 Yet products continued to serve one of these three functions: health, education, and arousal. 13 Beate Uhse/Ulrich Pramann: Mit Lust und Liebe. Mein Leben. Frankfurt am Main 1989, S. 100–103, here S. 100. 14 Uhse recalls the book as Hans Jakob Gerster: Die natürliche Geburtenregelung nach Knaus. Dischingen 1950. Since this book was published after Uhse’s trip to the library, she probably saw an earlier version of the same work, most likely Hans Jakob Gerster: Die Empfängnisverhütung auf natürlichem Wege nach Knaus. Basel 1937. 15 Die besten Jahre unseres Lebens. Ein Helfer und Führer für das Liebes- und Eheleben (Beate Uhse catalog, Flensburg 1958), in author’s possession; Wollen wir ein offenes Gespräch unter vier Augen führen? (Maison-Versand catalog, Stuttgart, n.d., ca 1957), in author’s possession. Sexuality in West Germany
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How did consumers interpret their wares, and what pasts did they connect them to? In part, this depended on the age and sex of the consumer, as well as other variables like religiosity and region. Yet we can venture some generalizations about interpretive contexts for these items. Those interpretive contexts drew on multiple pasts. It could also happen that the present was so compelling that it demanded that old meanings be replaced with new ones. This last possibility is what happened in the case of condoms. In the postwar years, preventing pregnancy was as important economically as finding a winter-proof apartment: a matter of survival. Much has been made, in the history of sexuality, about the unsavory association of condoms with prostitutes, and how this made “decent” women reluctant to use them. In the German case, a generation of men had been introduced to condoms in the First World War in order to enable them to visit prostitutes safely. 16 The same 1927 law that de-regimented prostitution also legalized the sale of condoms, with the express purpose of preventing disease and not pregnancy. In the Second World War, the Nazi regime did much to strengthen the association of condoms with prostitution and disease. Condoms were withdrawn from civilian circulation and made available to military men, again, in order that they might visit prostitutes safely. 17 Be that as it may, condoms were far and away the most important item in the postwar sexual marketplace, not just during the “hunger years” but through the economic miracle and into the so-called “sex wave” of the 1960s, when, in light of the release of the birth control pill, it finally became possible to speak openly of condoms’ contraceptive applications.18 In other words, their use was hardly limited to prostitutes. Uhse’s story is a good reminder that, despite official intentions, even during the Nazi era Germans understood condoms’ contraceptive qualities and used them for contraceptive purposes.19 For some time, condoms had been the second most important means of contraception after withdrawal. By the 1950s, however, they were well on their way to becoming number one, as they became much easier to obtain, and as they were increasingly marketed in ways that legitimized consumption by “respectable” women and committed couples. Traditional outlets such as barbershops, vending machines in men’s restrooms, and apothecaries continued to sell condoms, but barbershops and men’s restrooms were men’s-only spaces, and it was embarrassing for a woman to ask for condoms in an 16 James Woycke: Birth control in Germany, 1871–1933. London/New York 1988. 17 Annette F. Timm: Sex with a Purpose. Prostitution, Venereal Disease, and Militarized Masculinity in the Third Reich. In: Journal of the History of Sexuality 11 (2002), S. 223–255. 18 E.L.: Statistisches Material aus dem Alltag; Ruth Weinkopf: Beate Uhse betreibt ihr Geschäft mit Liebe. In: Mannheimer Morgen (29 July 1984), S. 7. 19 S.a. 24. 6. 1944 K.T. an den Herrn Bischof, Generalia II 23.30 #10, Historisches Archiv des Erzbistums Köln.
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apothecary. The 1950s, however, saw the spread of mail order and outdoor vending machines selling condoms. Mail order permitted shopping at home and encouraged consultation between partners. It involved the mass mailings of catalogs that frequently included woman-friendly language about condoms, and which emphasized condoms’ contraceptive uses for spouses seeking to control the size of their families, rather than their prophylactic and contraceptive uses in illicit sex.20 Mail-order catalogs brought together “racier” and more “legitimate” goods (explicit photos on the one hand, marriage manuals on the other), items linked with rational calculation and items appealing to irrational desire (contraceptives and arousing texts), objects associated with female and with male consumers (lingerie and virility formulae). They thus lowered the imaginative barriers between these categories of goods, making it easier to for condoms to inhabit simultaneously the “illicit” category (for use with prostitutes or in fleeting encounters) and the “licit” category (for use in committed partnerships). Outdoor automats permitted women easy access; the fact that the machines sold other items (eg cigarettes) as well as condoms meant that observers could not tell what a woman was purchasing. 21 In short, the postwar emergency caused Germans to push aside the cultural constraints imposed by the historical meaning of condoms and to adopt them more broadly once they came back into production, and new methods of marketing greatly assisted this transition for West Germans. The Nazi past, in this telling, is not central to the story of how postwar consumers made meaning of condoms. Does that mean that the German story had no unique features? No, but in this case West German uniqueness did not emerge from the Nazi legacy. Instead, it emerged from the shift in marketing just described. No country other than West Germany had big comprehensive mail-order erotica firms until the 1970s, and so other societies did not experience the impact of mail-order firms in helping to redefine condoms for the respectable family home. 22 This may have led West Germans to experience a more holistic sexual consumer regime than their counterparts elsewhere.23
20 Elizabeth D. Heineman: The Economic Miracle in the Bedroom. Big Business and Sexual Consumption in Reconstruction West Germany. In: Journal of Modern History 78 (2006), S. 846–877. 21 26 July 1961 III. Kleine Strafkammer bei dem LG Nürnberg-Fürth (638 Ns 541/61), Bay M Inn 92021, Bayerisches Hauptstaatsarchiv. 22 Large scale but more specialized mail order (eg focusing on erotica and sexual-scientific books) existed elsewhere: H.G. Cocks: Saucy Stories. Pornography, Sexology and the Marketing of Sexual Knowledge in Britain, c. 1918–1970. In: Social History 29 (2004) 4, S. 465–484. The first big comprehensive erotica firm in the US was Adam and Eve, founded 1970. Philip D. Harvey: The Government vs. Erotica. The Siege of Adam & Eve. Amherst 2001. 23 Heineman: Economic Miracle in the Bedroom. Sexuality in West Germany
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Of the three main categories of sexual consumer goods, arousing pictures and texts came closest to replicating their wartime meanings for consumers. This traces to their homosocial function: they tended to circulate among men, whether in the Wehrmacht or at the pub. Of course, these homosocial functions long pre-dated the National Socialist regime, and they extended well beyond Germany. Gatherings of men after the war however, were gatherings of veterans, and the recounting of war stories (including stories of wartime sexual adventure) and passing of pictures probably frequently overlapped. In a 1951 trial for disseminating obscene photographs, a witness hinted at the continuities between wartime and postwar consumption when he explained that nude photos interested him “in the same way that one was interested in these sorts of pictures, for example as a soldier in France.”24 One can easily imagine an American veteran saying the same thing. Marriage manuals had the most complicated historical echo. They had been a muchcommented-upon part of Weimar culture, and millions of Germans who had never read Ideal Marriage had heard of it. Van de Velde’s book, like many other Weimar-era manuals, had been suppressed under the Nazis. While postwar requests for manuals thus might have referred to an item young adults had owned but had lost in flight, they might also refer to an item remembered from their parents’ library but unavailable for newlyweds of the mid–1930s. That is, they may have referred to wartime losses, or to Nazi-era suppression of certain sexual materials. However, marriage manuals were also part of the Nazi publishing program, and some manuals originating in Nazi institutes remained in print after the war.25 Furthermore, new manuals came out in the 1950s. When West Germans read a marriage manual in the 1950s, it might be a physical object that had survived from the Weimar or Nazi years, it might be a reprint of an older item, or it might be a brand new work. Or it might be, strictly speaking, not a “manual” at all, but rather one of Beate Uhse’s catalogs, which by the mid–1950s had evolved into full-fledged sex primers (while also listing products), and which were mailed at no cost to millions of West German households. But the imprint did not matter as much as one might think: all marriage manuals mimicked interwar models until well into the 1960s, a phenomenon common to other western states.26 They all described, in a life-cycle format, adolescent sexual de24 14 September 1951 statement by G.P. to police, 461/32036 folio 234, Hessisches Hauptstaats archiv. 25 For example the 1951 revised edition of the best-selling manual: J. H. Schultz: Geschlecht, Liebe, Ehe. Die Grundtatsachen des Liebes und Geschlechtslebens in ihrer Bedeutung für Einzel und Volksdasein. München 1940. 26 Hera Cook: The long sexual revolution. English women, sex, and contraception, 1800– 1975. Oxford/New York 2004, S. 190–192. The second manual Herr P. requested, published in 1951 and a best-seller through the 1950s, closely paralleled Weimar-era manuals; Beate Uhse’s catalogs did the same.
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velopment, mature sexual anatomy, and women’s fertility cycle (once it was understood in 1934). They included the stages of arousal, the mechanics of coitus, conception, and fetal development. They tended to conclude with “problems” such as impotence, frigidity, and sexually transmitted disease; sometimes prostitution and homosexuality made it into this catalog. All made clear that men needed to be more attentive to women’s sexual pleasure, and helped out by educating readers as to the importance and varieties of foreplay and where exactly the clitoris was. None described homosexuality as an acceptable variation of human sexuality, and all disapproved of abortion, although some urged understanding while others condemned both practices unequivocally. All emphasized the weightiness of the decision to have children, and the need to consider both parents’ health, including genetic material. There were, of course, differences in tone and content between manuals of the 1920s, the 1930s, and the 1950s. Weimar-era manuals might be openly socialist.27 Nazi-era manuals included language about the national community.28 Manuals starting in the mid 1950s mentioned the Kinsey Report.29 But for the reader seeking basic information regarding anatomy, the sex act, or fertility – and this is what readers of these manuals sought – the similarities outweighed the differences. In other words, in a way these were all Weimar-era manuals. Their function was to chip away at Germans’ profound ignorance regarding the most basic elements of sexuality. They were, in short, efforts to overcome the legacy of the Wilhelmine era, just as condoms constituted efforts to deal with postwar shortages. And readers understood them that way. When they articulated the reasons for their ignorance, for example in letters to erotica firms or to sex-advice columnists, they pointed to their parents’ own ignorance and shame or to the power of religious conservatism in the towns in which they grew up. Only very rarely did they mention Nazi-era repression. But if the Nazis did not impose ignorance, it’s equally clear that despite whatever talk about sexuality may have gone on in the Nazi era, people who grew up in those years felt a great a need for basic information in the 1950s, just as their parents had in the 1920s. The process of educating Germans about sex got its tentative beginnings in the 1920s and continued through the Nazi period, in which it was neither reversed nor significantly accelerated. It was only finally achieved in the postwar decades thanks to mass consumption. Yet the intersection of politics and education in marriage manuals underscores the complexity of Germany’s many historical legacies.
27 Max Hodann: Sexualelend und Sexualberatung. Briefe aus der Praxis. Rudolstadt 1928. 28 Schultz: Geschlecht, Liebe, Ehe; Hugo Hertwig: Das Liebesleben des Menschen. Berlin 1940. 29 Emilie Fried/Paul Fried: Liebes- und Eheleben. Ein praktischer Berater für die gesunde und harmonische Ehe. Wolfenbüttel 1929, revised Flensburg 1957. Sexuality in West Germany
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During the Weimar years, marriage manuals had been a central element of a lively public discourse of sex reform, linked to grass-roots efforts to legalize contraceptives and abortion. Not all authors of marriage manuals subscribed to these goals, but the Social Democratic and Communist Parties in particular incorporated sex reform into their political programs. This changed during the Nazi era, when manuals included “political” messages (for example regarding the importance of the racial community), but in a top-down manner, indicating regime priorities rather than the back-andforth of civil society. In the 1950s, entrepreneurs like Beate Uhse sold manuals and mailed informative catalogs in great numbers, but this activity was not associated with a lively public debate on sex reform, as it had been during the Weimar years. Nor was it an expression of state priorities: not only did the early West German state not sponsor manuals, but it sharply restricted their distribution. Instead, entrepreneurs used a liberal framework to emphasize the “private” nature of consumption aimed at sexual education. This involved an assertion of rights – that is, a political claim – but it was a gentle one, whose aim was, to quote Beate Uhse’s 1963 catalog, simply to insure the “unfettered development of the individual’s personality.” 30 Entrepreneurs of the 1950s separated their brand of sex education from the Nazi era by asserting their right to publish and sell in an uncensored environment, but they also separated themselves from Weimar-era sex reform by making their mission into a private one. For consumers, the privacy of mail order – the ability to avoid the apothecary, the “plain brown wrapper” in which catalogs and products arrived – was a powerful attraction. This changed over the course of the 1960s. West Germans watched Oswalt Kolle’s “enlightenment” films and read columns about sex in mass-circulation magazines like Jasmine and Quick. Such vehicles for sexual education did claim a place in the “public” sphere: they did not arrive with the post in plain brown wrappers, but rather asserted themselves in the streetscape. Furthermore, the state got into the business, backing the “enlightenment” film Helga and a primer on sexuality that was adopted into the new sex-ed curricula being introduced in some provinces.31 Consumers increasingly understood themselves to be engaged in a larger struggle about sexual knowledge, and this trend intensified late in the decade as parliamentary debates regarding the reform of the sexual criminal code confirmed that such matters were political. The best marker of the success of this consumer-oriented revolution in sexual education is that it destroyed the market for basic manuals about sex. Historically, these had been one of the industry’s bread-and-butter items – second in importance only to the condom – precisely because ignorance had been so widespread; this was true 30 Gesunde Ehe – Glückliche Ehe, Beate Uhse Katalog 1963, dritte Umschlagseite, Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg 18–9/2.3. 31 Helga: vom Werden des menschlichen Lebens (dir. Erich F. Bender, 1967); Sexualkunde-Atlas: biologische Informationen zur Sexualität des Menschen. Opladen 1969.
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as late as the early 1960s.32 A decade later, the market for such works had completely collapsed.33 What West Germans had overcome was neither their Nazi past nor the penury of the early postwar years. Rather, they had overcome the Wilhelmine age, and they had overcome the association of sexual liberalization with fatal political instability inherited from the interwar period. In doing so a full generation after the Second World War, West Germany’s history closely paralleled that of other western states.
Sex in Public: State Regulation of Sexual Consumer Goods The state regulated a wide variety of sexual behaviors and expressions, but state regulation of the marketplace in sexual goods probably directly affected the largest number of West Germans. Only a small minority participated in same-sex acts; a larger number, but still a minority, had abortions. The offerings of sexual consumer goods firms by the early 1950s, however, makes clear just how broad a swath of the population they addressed: contraceptives, erotic literature, birds-and-bees books for children, solid sex manuals and titillating exposés for adults, devices for calculating fertile days, nude photo series, services for developing home photos, lingerie, aphrodisiacs, genital prosthetics, breast enhancers, mechanical sex aids, chemical remedies, and gag items. And as we have seen, by the early 1960s mail-order erotica had reached at least half of West German households, and additional millions patronized other outlets like vending machines and apothecaries. Like sexual consumption itself, regulation of sexual consumption referred to multiple pasts, of which the Nazi era was one. The two most important pieces of legislation were the 1953 Law on the Dissemination of Youth-Endangering Texts and Images and the 1973 revision of the sexual criminal code, which eliminated the legal categories “obscene texts and images and articles intended for obscene use” and legalized pornography, which would be regulated rather than banned. These laws echo the trajectory we saw above: first, an overwhelming concern with the post-war crisis, and later, increasing attention to the longer-term task of “overcoming” the Wilhelmine era and the Weimar era’s failed attempts at liberalization. For liberal-minded contemporaries, the 1953 law served as a particularly reprehensible example of illiberalism and prudery in Adenauer’s Germany. The law plays the same function in many historical accounts of the early Federal Republic. 34 The law 32 26 November 1960 Hans Giese, Fachwissenschaftliche Gutachten, EL 317 I / 2343 folio 1024–1035, Staatsarchiv Ludwigsburg; E.L., “Statistisches Material aus dem Alltag.” 33 19 February Franz Decker Verlag Nachf. to R.W., Dr. Richard Wunderer ab 1973, archives of Fa. Walter-Schäfer, Schmiden bei Stuttgart. 34 Eg Michael Kienzle: Logophobie: Zensur und Selbstzensur in der BRD. Ein geschichtlicher Abriß. In: Michael Kienzle/Dirk Mende (Hg.): Zensur in der Bundesrepublik. München Sexuality in West Germany
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established an indexing commission, which examined works to determine whether they endangered youth. If the answer was “yes,” then advertising and displaying the work was banned. Bookstores could sell them “under the table,” but customers had to know to ask for them. Certain types of distributors, such as newsstands in train stations and peddlers, were prohibited from selling them entirely. A work could be indexed for its violent, militaristic, racist, or sexual content. Critics, past and present, vilified the indexing commission for focusing on sex at the expense of the other offending categories. Several years of debate preceded the passage of the law, and each side accused the other of not having learned the lessons of the recent past. Opponents of the law brought up Nazi censorship in opposing this new variant of censorship. 35 The law’s supporters argued that the Nazis had risen to power partly because the Weimar regime had so utterly failed to rid the streets of smut. But for the central protagonists, Nazism was literally an afterthought, not because it was trivial, but because Nazism post-dated the problem. This was not a post-fascist, but rather a post-war battle: a post-First World War battle. 36 The 1953 law resulted from the efforts of a particularly determined moral purity organization, the Volkswartbund, to revive the 1926 Law Regarding the Dissemination of Trash and Filth in Print, or the Schmutz- und Schundgesetz. The Volkswartbund, a Catholic men’s moral purity league (loosely translatable as “The League of Guardians of the People”), had been founded in Cologne in 1898 to combat the sins of the industrialized city; it answered directly to that city’s Archbishop. The group first made a national impact, however, in the context of the moral panic following the First World War, when it determined to rid the streets of literature which it felt weakened Germany’s moral fiber. The passage of the Schmutz- und Schundgesetz was the group’s crowning glory.37 The 1926 law lapsed when, in 1935, all cultural production was 1981, S. 14–50; Kaspar Maase: Prädikat wertlos. der lange Streit um Schmutz und Schund. Tübingen 2001; Adelheid von Saldern: Kulturdebatte und Geschichtserinnerung. Der Bundestag und das Gesetz über die Verbreitung jugendgefährdender Schriften (1952/53). In: Georg Bollenbeck/Gerhard Kaiser (Hg.): Die janusköpfigen 50er Jahre. Wiesbaden 2000, S. 87–115. 35 Eg PEN-Deutschland passed a resolution condemning the draft law: DBT Ausschuss für Fragen der Jugendfürsorge (33. Ausschuss) Protokol Nr. 27, 9. 11. 50, Parlamentsarchiv I/430/A, lfd Nr. 41; sample editorials include W.E. Süskind, ‚Schmutz und Schund . . . ‚ Süddeutsche Zeitung, 7./8.1.50; ‚Achtung, Zensur!‘ Deutsche Zeitung und Wirtschaftszeitung, 28.1.50 [no page]; and other clippings collected in Bay M Inn 92083, Bayerisches Hauptstaatsarchiv. 36 Kurt Runge: Kampf gegen Schund und Schmutz?. In: Der neue Vertrieb 2 (6 February 1950) 19, S. 309–310. 37 Winfried Speitkamp: Jugendschutz und kommerzielle Interessen. Schunddebatte und Zensur in der Weimarer Republik. In: Hartmut Berghoff (Hg.):Konsumpolitik. Die Regulierung des privaten Verbrauchs im 20. Jahrhundert. Göttingen 1999, S. 47–76; Gideon Reuveni: Rea-
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placed under the control of the Propaganda Ministry, but the Allies invalidated the 1935 law after the war, and so no controls over “trash” and “filth” remained. Thus with the end of the Second World War, the Volkswartbund recognized a familiar, and dire, moral danger: the spread of objectionable literature. And so it set for itself the task of revising the Schmutz- und Schundgesetz. The group, after all, still included many of the same activists who had experienced the 1926 law as their greatest success, and so they returned to territory in which they felt confident. The result – the 1953 Law Regarding the Dissemination of Youth-Endangering Texts and Images – deviated in important ways from the 1926 version in order to pass constitutional muster in the new setting.38 But proponents and opponents alike understood it as a revival of the old law, a response to a familiar postwar problem: juvenile delinquency. Supporters of the law emphasized that once again, Germany faced terrible social disorder following a lost war, and once again, Germany lacked any legal tool to protect youth. The law’s detractors countered – in a manner familiar from the debates of the 1920s39 – that what youth really needed was action on postwar problems that they considered more serious than smutty pictures: economic collapse, for example, or the lack of a father. In this context, Nazism was often evoked to underscore just how serious the problem was: proponents and opponents of the legislation agreed that Nazi socialization made today’s youth even more vulnerable than the youth of 1919. But it was only one factor, and not the most important one. As if to say “this law is a throwback,” activist and even professional journals continued to refer to it as the “Schmutz- und Schundgesetz” into the 1960s.40 In the 1950s and early 1960s, the Law on Youth-Endangering Writings was the most important restriction on the marketplace in sexual-consumer goods. It was important in large part because the barriers to conviction under the obscenity statutes were quite high. “Youth endangerment” offered a lower, and thus more prosecutable, threshold. In the last third of the 1960s, however, publishers pushed the envelope – hard – on what they could get away with in terms of sexual explicitness. They challenged not just the restrictions on youth-endangering publications, but also the restrictions on “obscene” texts and images.
ding Germany. Literature and consumer culture in Germany before 1933. New York 2006. On the post-World War I “moral panic,” see Richard Bessel: Germany after the First World War. Oxford 1993. 38 Maase: Prädikat wertlos. 39 Reuveni: Reading Germany, S. 253–54. 40 Gerd Dietz: Grundsätzliches zum Schmutz- und Schundgesetz: G.j.S. Cologne 1960; Robert Schilling: Jugendgefährdende Schriften als sexualethische Gefahr. In: LBG-NW 12, no. 35 (1962), S. 3–18; Fritz Bauer: Grundgesetz und ‚Schmutz- und Schundgesetz’. In: Juristische Zeitung Nr. 2 (15 Jan. 1965), S. 41–47. Sexuality in West Germany
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In 1871, a newly unified Germany, dominated by illiberal Prussia, had adopted that state’s restrictive legislation on sexual matters ranging from same-sex acts to prostitution, overturning more liberal standards in states such as Baden. In 1900, Germany had adopted the Lex Heinze, which among other things banned the dissemination of “obscene” texts and images and “procurement,” commonly understood to make premarital sex illegal. Not only did these imperial-era laws remain on the books, but even the most antiquated paragraphs were occasionally enforced, creating such spectacles as the conviction of parents of “procurement” for permitting their daughters’ fiancés to spend the night.41 In the 1960s, the government embarked on a thorough-going reform to the sexual criminal code. Although the reforms (passed in two stages, in 1969 and 1973) addressed such hot-button issues as adultery and male same-sex relations, the reform that attracted the most impassioned public debate by far was the proposal to legalize pornography.42 In this debate and in other areas of reform, liberalizers asked, over and over, how anyone in their right mind could imagine that Germans should be living under an obscenity code devised in 1900. 1900 wasn’t a negative example per se, as 1933 and 1945–48 were. References to 1900 were agnostic about the Wilhelmine era in its own right; they simply implied that an awful lot had changed since then and it was a scandal that the law hadn’t kept up. Yet not only the law but also the founding generation of the Federal Republic belonged to that world of yesteryear – men like Konrad Adenauer, who had served as City Counselor and Vice Mayor of Cologne before the First World War. And thus, reformers implied, the “Wilhelmine” orientation of official sexual morality in 1950s West Germany was perhaps no surprise. But by the 1960s, it was high time for the law to catch up with the last several decades of history. If anything, the constant references to 1900 were a kind of wonderment at modernity: the speed and scale of change in the twentieth century. Although Nazism was one element of this fast-moving history, it was not the only one. Indeed, “1900” was, 41 Discussed in Paul Bockelmann: Zur Reform des Sexualstrafrechts. In: Friedrich-Christian Schroeder and Heinz Zipf (Hg.): Festschrift für Reinhart Maurach zum 70. Geburtstag. Karlsruhe 1972, S. 391–414, 398–399. s.a. Karl Peters: Kuppelei bei Verlobten. In: Zeitschrift für das Gesamte Familienrecht (1954), S. 96–99. Such convictions continued well into the 1960s: see Man darf den Souverän nicht reizen. In: Der Spiegel (16. 09. 1968), S. 59–64, here S. 59. 42 This was the case for the churches; see documents reprinted in Friedrich-Christian Schroeder: Reform des Sexualstrafrechts. Berlin/New York 1971. Constituent letters on the legalization of pornography are held in Parlamentsarchiv VII/79/B passim. S.a. the petition drive discussed in Siegfried Ernst, “Mobilmachung der Bürger gegen Pornografie,” Deutsche Tagespost 2–3 October 1970 (nr. 117): 11; Lisolette Weber, „Millionenfaches Veto zum Streit um par. 184 StGB,“ Eltern Forum, Mar/Apr 1972, 3–4; and the input of professional organizations such as 25.1.71 Bundesärztekammer/Deutscher Ärztetag, Parlamentsarchiv VI/1075/B, lfd. Nr. 8.
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in many ways, a reference to a Europe that had not yet been riven by two world wars, economic crisis, fascism, and communism. Liberalizers contrasted memories of the Wilhelmine era with reminders that today, reform of old codes was on the agenda of most Western European and North American states. And indeed, West German reformers’ language about the proper role of the liberal state in regulating sexuality shared a great deal with that of reformers in other states, who were likewise quite clear that they were challenging nineteenth-century mores.43 Political philosophy aside, reformers noted, West Germany could not avoid the practical implications of this larger international history. Denmark and Sweden had already legalized pornography by the time the matter came up for parliamentary debate in West Germany, and Scandinavian imports in many ways made the question of legalizing German porn moot, except for the possibilities legalization raised of improved quality and keeping consumers’ cash from flowing abroad. Germans might need to come to terms with their unique past – but they also had to come to terms with the present-day international marketplace, and with present-day international standards of liberal statehood. Herr P.’s problems were not universal among West Germans – some, like Uhse, had a better sexual education, some still had their homes – but they would have been familiar to many people elsewhere in Europe. Likewise, West German debates about how and whether the liberal state should regulate sexuality resembled such debates elsewhere; so too did West German resolutions to these debates. Keeping in mind the multiple pasts that shaped West Germans’ sexual experience and attitudes can help us to understand why – even as memories of the Nazi years remained potent – West Germans’ sexual history so closely resembled that of other members of “western” society.
43 Eg Great Britain’s 1957 Wolfenden Report, discussed in Jeffrey Weeks: Sex, politics, and society. The regulation of sexuality since 1800. London/New York 1981, S. 239–244; Matt Houlbrook: Queer London: perils and pleasures in the sexual metropolis, 1918–1957. Chicago 2005. Sexuality in West Germany
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Mein Feind, der Baum Verkehrssicherheit, Unfalltote, Landschaft und Technik in der frühen Bundesrepublik Tod, Vernichtung, alltägliches Elend und die Angst davor waren für die Einwohner der Bundesrepublik in ihrem ersten Vierteljahrhundert keineswegs neue Erscheinungen. Die Erinnerung an den Krieg, an Deutsche als Kriegsopfer und (in geringerem Maß) an Deutsche als Urheber von Mord und Verbrechen, bestimmte einen Großteil des öffentlichen und privaten Gedenkens. Der Tod als Alltagserscheinung war aber nicht nur eine rückwärtsgewandte Erfahrung. Neben dem gleichsam selbstverständlichen Tod durch Alter oder Krankheit wurde der Lebensverlust durch Verkehrsunfälle zu einem der prominentesten Themen der jungen Bundesrepublik. Zehntausende von Autofahrern und anderen Verkehrsteilnehmern starben jedes Jahr auf bundesdeutschen Straßen. Ob ihr Tod vermeidbar war oder nicht und welche Rollen Autofahrer, Automobilhersteller, Straßenbauer und Landschaftsarchitekten spielten oder spielen sollten, wurde zu einem an Stammtischen, in Gemeinderäten, Parlamenten, Ministerien, Seminarräumen und Gerichtssälen leidenschaftlich diskutierten Streitpunkt. Das Selbstverständnis der Republik schloss rasch den Stolz auf das wachsende Autobahnnetz und die erfolgreiche Automobilindustrie ein. Privater Automobilbesitz, vom Goggomobil bis zum Daimler-Benz, war eines der deutlichsten Kennzeichen wachsenden Wohlstandes in einer Konsumgesellschaft. Der individuelle Besitzerstolz fand seinen Gegenpart im kollektiven Händeringen angesichts steigender Unfallzahlen. Der zehntausendfache Tod auf den Straßen war mehr als nur eine Schattenseite der Automotorisierung Westdeutschlands. Fahrgenuss und Mobilitätsgewinn waren mit Unfallfurcht und Todesgefahr aufs engste verknüpft; das eine ist ohne das andere nicht zu verstehen. Massenhafte Freude über das erste Automobil ging mit massenhafter Furcht vor dem Tod darin einher.1 Eine Analyse dieser Empfindungen, Debatten und ihrer Resultate im Kontext der 1950er und 1960er Jahre in der Bundesrepublik wirft nicht nur ein Schlaglicht auf die Ambivalenz der Automobilität als breitenwirksames technisches System. Sie trägt auch dazu bei, Kontinuitäten und Diskontinuitäten zwischen Nationalsozialismus 1
Kurt Möser: The Dark Side of “Automobilism”, 1900–30. Violence, War and the Motor Car. In: Journal of Transport History, 24 (2003) 2, S. 238–258. Mein Feind, der Baum
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und Bundesrepublik zu unterscheiden. Der Tod auf den Straßen rückte die Straßen selbst und ihre Beschaffenheit in den Vordergrund. Dies hatte die NS-Diktatur unter propagandistischen Vorzeichen auch getan, besonders was die Autobahnen anging; jetzt aber war der Tod das vorherrschende Thema: Statt den raschen Bau tausender von Autobahnkilometern als spezifisch deutsche Errungenschaft zu feiern, wurden Straßen und Autobahnen nun zu Orten von Leid, Verstümmelung und Tod. Ursachen wurden gesucht, Schuldige ausgemacht, und umfassende Lösungsvorschläge unterbreitet. Aus heutiger Sicht mag es überraschen, dass ausgerechnet Straßenbäume in das Zentrum der Debatte rückten: Tausende von Autofahrern starben, wenn ihr Fahrzeug mit einem Baum neben der Fahrbahn kollidierte. Der Baum war schuld. So zumindest sah es eine wachsende Zahl von Beobachtern in den Leserbriefspalten der Zeitungen, den Automobilklubs und in öffentlichen Foren. Als Ergebnis solcher Schuldzuweisungen fielen tausende von Straßenbäumen in den sechziger und siebziger Jahren der Axt zum Opfer, um die Straßen sicherer zu machen. Dieses Kapitel untersucht, warum Straßenbäume einen so prominenten Platz in Debatten um Verkehrstote und Verkehrssicherheit in der jungen Bundesrepublik spielten. Anhand eines Bestands von baumfreundlichen und baumkritischen Briefen an das Bundesverkehrsministerium in Bonn aus dieser Zeit möchte ich diese Auseinandersetzungen und Wertzuschreibungen untersuchen. Solche Briefe können als Elemente direkter Kommunikation zwischen bürgerlicher Gesellschaft und Staat verstanden werden. Straßen wurden nicht nur als öffentliche, gebaute Räume angesehen, sondern auch als Grenzräume an der Schnittstelle von Technik und Landschaft. Technik war menschlich gestaltet und somit wandelbar; Landschaft wurde als naturgegebene Erscheinung angesehen.2 Als Orte von Tod und Unfällen waren Straßen Brennpunkte von Debatten darüber, welche Formen von Mobilität als erwünscht, wie viele Verkehrstote als akzeptabel, und welche Straßen als sicher galten. Implizit und manchmal explizit wurden in diesen Debatten der frühen Bundesrepublik die „Straßen Adolf Hitlers“ und nationalsozialistische Ansichten von Straßen, Automobilen, Technik und Landschaft mitdiskutiert. Im Endergebnis wurde automobiler Verkehr in diesen Jahrzehnten Teil einer neuen Normalität, einschließlich seiner Verkehrsto2
Die Grenzziehung zwischen Landschaft und Technik ist ein historisch wandelbarer Tatbestand und keineswegs eine analytische Kategorie für diesen Beitrag. Zur Diskussion in der Technik- und Umweltgeschichte David Nye (Hg.): Technologies of Landscape. Reaping to Recycling. Amherst 1999; Stephen H. Cutcliffe/Martin Reuss (Hg.): The Illusionary Boundary. Environment and Technology in History. Charlottesville 2010. Zu Straßen und Landschaft Christof Mauch/Thomas Zeller (Hg.): The World Beyond the Windshield. Roads and Landscape in the United States and Europe. Athens, OH/Stuttgart 2008. Zur Historiographie von Straßen Bruce Seely: An Overview Essay. Roads in Comparative Perspective. In: Gijs Mom/Laurent Tissot (Hg.): Road History. Planning, Building and Use. Neuchâtel 2007, S. 13–31.
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ten und neugestalteter Straßen. Dieser Gewöhnungsprozess war von widersprüchlichen Interessen, Werten und Ansichten geprägt. Der Streit um Straßenbäume war mithin ein Thema zur Demokratieeinübung für die postdiktatorische Gesellschaft. Verkehrsfragen, so hat ein Historiker festgestellt, waren eines der wichtigsten Felder demokratischer Auseinandersetzung in der jungen Republik. Teilnahme am Straßenverkehr war in zunehmendem Maß Teilnahme an einer partizipatorisch verfassten Staatsform.3 *** In der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft wurden Automobile zu einem zunehmend erschwinglichen Konsumgut; der private Autobesitz wurde zum Gradmesser wirtschaftlichen Erfolgs und sozialen Ansehens. Während Autos in der Zwischenkriegszeit tendenziell Mittel- und Oberschichten vorbehalten gewesen waren, besaßen nun immer mehr Arbeiterhaushalte und Kleinbürger ihre Wagen. Der Durchbruch zur Massenmotorisierung, definiert als das Verhältnis von zehn oder weniger Einwohnern pro Pkw, datiert für die Bundesrepublik auf die erste Hälfte der 1960er Jahre. Während sich, statistisch gesehen, 1930 noch 140 Deutsche ein Auto teilten, belief sich der Motorisierungsgrad 1938 auf 60 Einwohner/Pkw und 1950 auf 97. 1960 betrug er 12 und 1965 fünf.4 Historiker haben darauf hingewiesen, dass steuerliche Instrumente wie die Pendlerpauschale das automobile Wachstum förderten.5 3
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Kurt Möser: Geschichte des Autos. Frankfurt/New York 2002, S. 196. Für Rudy Koshar trug Autofahren ganz allgemein dazu bei, Demokratie und egalitären Wohlstand zu verbreiten. Rudy J. Koshar: Driving Cultures and the Meaning of Roads. Some Comparative Examples. In: Christof Mauch/Thomas Zeller (Hg.): The World Beyond the Windshield. Roads and Landscapes in the United States and Europe. Athens/Ohio/Stuttgart 2008, S. 14–34. Barbara Schmucki: Der Traum vom Verkehrsfluß. Städtische Verkehrsplanung seit 1945 im deutsch-deutschen Vergleich. Frankfurt/New York 2001, S. 59–60. Ein Wert von fünf Einwohnern pro Pkw war in den USA bereits 1930 erreicht worden. Ebd. Siehe auch den Beitrag von Detlef Siegfried in diesem Band. Zur Motorisierung im allgemeinen Möser: Geschichte. Für Forschungsüberblicke s. Michael Hascher/Stefan Zeilinger: Verkehrsgeschichte Deutschlands im 19. und 20. Jahrhundert. Verkehr auf Straßen, Schienen und Binnenwasserstraßen. Ein Literaturüberblick über die jüngsten Forschungen. In: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte (2001), S. 165–183, Christopher Kopper: Handel und Verkehr im 20. Jahrhundert (Oldenbourg Enzyklopädie deutscher Geschichte, Bd. 63). München 2002 und Christoph Maria Merki: Verkehrsgeschichte und Mobilität. Stuttgart 2008. Zur Verkehrspolitik Dietmar Klenke: Bundesdeutsche Verkehrspolitik und Motorisierung. Konfliktträchtige Weichenstellungen in den Jahren des Wiederaufstiegs (Zeitschrift für Unternehmensgeschichte, Beiheft 79). Stuttgart 1993; ders.: „Freier Stau für freie Bürger.“ Die Geschichte der bundesdeutschen Verkehrspolitik. Darmstadt 1995. Für einzelne Länder: Alexander Gall: „Gute Straßen bis ins kleinste Dorf !“ Verkehrspolitik in Bayern zwischen Wiederaufbau und Ölkrise. Frankfurt/New York 2005; Thomas Südbeck: Motorisierung, Verkehrsentwicklung und Verkehrspolitik in der Bundesrepublik Deutschland der 1950er Mein Feind, der Baum
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Für die meisten autofahrenden Zeitgenossen war der Besitz eines Automobils, so stolz sie im allgemeinen auch waren, zunehmend mit Frustration verbunden. Im August 1963 waren dem „Spiegel“ Staus auf deutschen Autobahnen eine Titelgeschichte wert; das Phänomen war neu. Zwischen Köln und Frankfurt fanden die Reporter verblüfft die „längste Fahrzeugkolonne der abendländischen Geschichte“ mit 4100 Autos auf 33 Kilometer verteilt—ein Rekord, der seither vielfach übertroffen wurde, innerhalb und außerhalb des Abendlandes.6 Stärker noch als Staus und Verlangsamungen wurde Verkehrssicherheit, oder vielmehr der Mangel daran, zu einem öffentlich vieldiskutierten Thema.7 Immer mehr Westdeutsche kamen bei Verkehrsunfällen ums Leben. Mehr als 11.000 Verkehrstote wurden 1953 gezählt; zehn Jahre später war die Zahl auf 14.500 angewachsen. Ein bereits von Zeitgenossen als dramatisch angesehener Höchststand von 19.193 wurde 1970 erreicht, was mehr als 52 Verkehrstoten pro Tag gleichkam. Seither sind diese Werte wieder gesunken.8 Von der Gründung der Bundesrepublik bis 1970 starb weit mehr als eine Viertelmillion Menschen in Straßenverkehrsunfällen, was dem Bevölkerungsstand einer Großstadt wie Augsburg entspricht.9 Diese Ziffern allein sagen jedoch wenig aus, so schockierend sie aus heutiger Sicht auch sein mögen. In einem komplexen und langwierigen Aushandelungsprozess wurden in den 1950er und 1960er Jahren diese Toten und der Tod auf den Straßen in einer automobilen Gesellschaft als Teil des Alltags zunehmend akzeptabel und in das soziale und kulturelle Geflecht der jungen Bundesrepublik eingewoben. Automobilisierung als sozialer Prozess schloss diese umstrittene Gewöhnung an alltäglichen Verkehrstod mit ein. Soziologen wie Ulrich Beck charakterisieren das Resultat solcher Normalisierungsprozesse als „Risikogesellschaft“—so der Titel seines 1986 erschienen Buches—und datieren deren Entstehung auf die 1970er Jahre. Während der Fokus auf die gesellschaftliche Bändigung von Risiko hilfreich ist, weisen Technik- und Umwelthistoriker zu Recht auf die Ahistorizität von Becks Periodisierung
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Jahre. Umrisse der allgemeinen Entwicklung und zwei Beispiele. Hamburg und das Emsland. (Vierteljahrsschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Beiheft 113). Stuttgart 1994. Tempo 20. In: Der Spiegel 34 (21.08.1963), S. 24–34. Klenke: Freier Stau, S. 46–50. Auf dem Gebiet der Bundesrepublik von 2007 betrug der Wert weniger als 5.000. Zu den Einzelwerten Statistisches Bundesamt Deutschland, „Straßenverkehrsunfälle, Verunglückte“ http://www.destatis.de/jetspeed/portal/cms/Sites/destatis/Internet/DE/Content/Statistiken/Zeitreihen/LangeReihen/Verkehr/Content100/lrvkr002a,templateId=renderPrint. psml (27. Februar 2009). Das Saarland wurde bereits seit 1952 in die Statistik miteinbezogen. Wichtiger ist, dass bis 1952 nur am Unfalltag Gestorbene Eingang in die Statistik fanden und ab 1953 innerhalb von 30 Tagen nach dem Unfall Verstorbene gezählt wurden. Ebd. Kalkulation des Autors anhand der o.g. Statistik. Der genaue Wert beträgt 287.277; Augsburg hatte 2007 rund 260.000 Einwohner.
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hin. Entgegen Becks Annahmen sind Risiko und seine Kontrolle zumindest seit der Industrialisierung wichtige Bestandteile gesellschaftlicher Debatten.10 Für unseren Zusammenhang ist wichtig, dass die Automobilisierung Westdeutschlands kein linear verlaufender Prozess stetigen Mobilitätswachstums war. Vielmehr waren der Umfang und die riskanten sozialen Kosten zunehmenden Autogebrauchs vehement umstritten, was ein Blick auf die Sicherheitsdebatte zeigt. Die Kritik an den tödlichen Folgen der Motorisierung war selten darauf gerichtet, andere Formen der Mobilität zu finden. Verkehrssicherheit, also ein gebändigtes, annehmbares Risiko, war das Ziel. Um es zu erreichen, wurden Automobile und ihre Straßen umgedeutet und umgebaut. Ein prägnantes Beispiel dafür ist ein Illustrierten-Artikel mit dem Titel „Schlachtfeld Autobahn“ von 1960.11 (In diesem Jahr starben erstmals mehr als 14.000 Einwohner der Bundesrepublik auf ihrer Straßen und über 450.000 trugen Verletzungen davon.12) Nach einer eindringlichen und atemlosen Schilderung von Verkehrsunfällen und Verkehrstoten auf den Autobahnen empfahl die Illustrierte: „Wir wollen keinen Luxus auf Deutschlands angeblichen Renommierstraßen. Aber wir fordern mehr Sicherheit! Sicherheit durch Leitplanken, die den Todesflug über den Mittelstreifen verhindern. Sicherheit durch ausgebaute Zu- und Abfahrtsspuren. Sicherheit durch Hecken auf die Mittelstreifen, die das lebensgefährliche Blenden durch den Gegenverkehr ausschalten.“ Solche populären Forderungen nahmen Politiker und Wissenschaftler auf, wenn sie Verkehrssicherheit forderten und untersuchten. Hans-Christoph Seebohm, Bundesverkehrsminister von 1949 bis 1966 und prominenter Vertriebenenfunktionär, rief in seiner ersten Eigenschaft bereits wenige Monate nach Amtsantritt dazu auf, „alle Anstrengungen“ zu unternehmen, um die Verkehrssicherheit zu erhöhen. Fünf Jahre nach Kriegsende betonte Seebohm, nach zwei Kriegen in einem halben Jahrhundert seien „Gesundheit und Arbeitskraft unserer Menschen“ vorrangig.13 Seebohm stellte den Straßenverkehrstod ausdrücklich in einen Zusammenhang mit den beiden Welt-
10 Ulrich Beck: Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne. Frankfurt 1986. Für eine nützliche Historisierung soziologischer Risiko-Debatten: Soraya Boudia/Nathalie Jas: Introduction. Risk and “Risk Society” in Historical Perspective. In: History and Technology 23 (2007), S. 317–331. 11 “Schlachtfeld Autobahn,“ Revue 15. August 1960, Ausriss in Bundesarchiv Koblenz (BAK) B108/19035. 12 Siehe Fn. 6. Die Gesamtzahl der Straßenverkehrsunfälle, mit und ohne Personenschaden, betrug 1960 990.127. 13 Hans-Christoph Seebohm: Rede des Bundesverkehrsministers Dr. Ing. Seebohm auf der Mitgliederversammlung der Forschungsgesellschaft für das Straßenwesen in Hamburg am 22. Juni 1950. In: Straße und Autobahn 1 (1950) 7, S. 1–6, 32, Zitat S. 6. Mein Feind, der Baum
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kriegen; angesichts des historischen Tods von Soldaten und Zivilisten war das zeitgenössische Sterben auf den Straßen nicht hinzunehmen. Auf einer anderen Ebene wurden die Forschungen zu Unfällen und ihrer Verhinderung zunehmend akademisch. Die wissenschaftliche „Zeitschrift für Verkehrssicherheit“ erschien zum ersten Mal 1952. Ihr erster Herausgeber war ein promovierter Staatsanwalt. Obwohl der Anspruch der Zeitschrift interdisziplinär war, blieb die Verkehrssicherheitsforschung in den ersten Nachkriegsjahren von Straßenbau, Städtebau und Verkehrstechnik bestimmt.14 Die Konditionierung der Verkehrsteilnehmer durch Verkehrserziehung wurde weitergeführt.15 Als begleitende Reaktion auf steigende Zahlen von Verletzten wurde die seit der Zwischenkriegszeit etablierte Unfallchirurgie ausgebaut und erhielt mehr Ressourcen, Prestige und Krankenhäuser.16 Wenn das „Deutsche Ärzteblatt“ 1960 prägnant forderte: „Macht dem Massenmord auf den Straßen ein Ende!“, kamen solche Hilferufe auch der eigenen Profession zugute.17 Neu hingegen war die öffentliche Diskussion von Straßen und ihrer Gestaltung, einschließlich der Straßenbäume. Straßen und Reichsautobahnen waren im Bewusst14 Jörg Kubitzki: 50 Jahre Zeitschrift für Verkehrssicherheit. Wer tötete Margaret Mitchell?. In: Zeitschrift für Verkehrssicherheit 48 (2002) 3, S. 97–105. Die Interdisziplinarität war breit: Dem Herausgebergremium der Zeitschrift gehörten bis in die siebziger Jahre zwei Theologen an. 15 Eine Geschichte der Verkehrserziehung nach 1945 liegt nicht vor. Zur Vorgeschichte siehe Dietmar Fack: Das deutsche Kraftfahrschulwesen und die technisch-rechtliche Konstitution der Fahrausbildung 1899–1943. In: Technikgeschichte 67 (2000), S. 111–138; ders.: Automobil, Verkehr und Erziehung. Motorisierung und Sozialisation zwischen Beschleunigung und Anpassung 1885–1945. Opladen 2000; Dorothee Hochstetter: Motorisierung und „Volksgemeinschaft“. Das Nationalsozialistische Kraftfahrkorps (NSKK), 1931–1945. München 2005. 16 Thomas Schlich: Trauma Surgery and Traffic Policy in Germany in the 1930s. A Case Study in the Co-Evolution of Modern Surgery and Society. In: Bulletin of the History of Medicine 90 (2006), S. 73–94. 17 Hartwig Schmidt: Macht dem Massenmord auf den Straßen ein Ende! In: Deutsches Ärzteblatt (1960), S. 1119, zitiert nach Peter Voswinckel: Arzt und Auto. Das Auto und seine Welt im Spiegel des Deutschen Ärzteblattes von 1907 bis 1975. Münster 1981, S. 16. Eine systematische Unfallforschung, also die simulierte Untersuchung von Straßenverkehrsunfällen im Labor, begann in Deutschland erst Ende der fünfziger Jahre. Zur Stellung der Ärzte im Sicherheitsdiskurs Heike Weishaupt: Die Entwicklung der passiven Sicherheit im Automobilbau von den Anfängen bis 1980 unter besonderer Berücksichtigung der Daimler-Benz AG. Bielefeld 1999, S. 56, 66; Voswinckel: Arzt und Auto; Heinrich Praxenthaler: Die Geschichte der Verkehrssicherheit nach 1945. In: Harry Niemann/Armin Hermann (Hg.): Geschichte der Straßenverkehrssicherheit im Wechselspiel zwischen Fahrzeug, Fahrbahn und Mensch, Bielefeld 1999, S. 185–208; Klaus Kuhm: Moderne und Asphalt. Die Automobilisierung als Prozess technologischer Innovation und sozialer Vernetzung. Pfaffenweiler 1997, S. 33–41.
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sein der Deutschen tief verankert; einer Psychologin zufolge waren sie noch in den 1990er Jahren eine „Spontanreaktion,“ wenn die nationalsozialistische Diktatur genannt wurde. Dies ist zu einem großen Teil der nationalsozialistischen Propaganda geschuldet. Mit Büchern, Zeitungsartikeln, Filmen, Wochenschauen, Brettspielen und Theaterstücken hämmerte die Diktatur in ihren Friedensjahren Existenz und Ausmaß der „Straßen Adolf Hitlers“ tief in die kollektive Psyche. Bis Kriegsbeginn wurden rund 3.800 Kilometer der kreuzungsfreien Überlandstraßen in Deutschland und Österreich gebaut.18 Die Autobahnen wurden als landschaftsfreundlich angepriesen, als gelungene Versöhnung von Technik und Natur. Die sogenannte „landschaftliche Eingliederung“ sollte mit geschwungenen, an das Gelände angepassten Straßen und dichter Bepflanzung mit Hecken und Bäumen erreicht werden. „Kraftfahrbahn ist und bleibt Straße, Straße ist Bestandteil der Landschaft. Deutsche Landschaft ist charaktervoll. Deutschen Charakter muss auch die Kraftfahrbahn erhalten.“ So beschrieb Fritz Todt, Generalinspektor für das deutsche Straßenwesen und Bauherr der Straßen, 1934 das für die Reichsautobahnen erwünschte Design.19 Die AutobahnPropaganda feierte solche Gestaltungsmittel, auch wenn sie in der hektischen Wirklichkeit des Baus nur partiell eingesetzt wurden; in der frühen Bundesrepublik waren sie jedoch umstritten. Wegen Mangels an Fahrzeugen blieb den meisten Deutschen das eigene Fahren auf diesen Straßen vor 1945 versagt; die hunderttausendfach im Nationalsozialistischen Kraftfahrer-Korps oder bei der Wehrmacht erworbenen Führscheine konnten nach dem Krieg mit zunehmendem zivilem Autobesitz eingesetzt werden.20 Doch die oben beschriebenen Staus auf vielen Straßen verminderten die Fahrfreude. Autofahrer und die Kraftfahrlobby forderten deshalb immer lauter Straßenausbau und Straßenneubau. Solche Rufe waren aber weit mehr als bloße technische Verbesserungsvorschläge in den 1950er Jahren. Mit ihrem Motto „Wohlstand kommt auf guten Straßen“ verknüpfte die Lobbygruppe „Deutsche Straßenliga“ in den Worten von Dietmar Klenke „auf geschickte Weise die Wiederaufstiegshoffnungen des gerade der Kriegskatastrophe entwachsenen Gemeinwesens mit der Assoziationswelt des aufblühenden Kraftverkehrs als Träger von Freiheit, Individualismus, technischem Fortschritt, gesell-
18 Thomas Zeller: Driving Germany. The Landscape of the German Autobahn, 1930–1970. New York/Oxford 2007; Erhard Schütz/Eckhard Gruber: Mythos Reichsautobahn. Bau und Inszenierung der „Straßen des Führers“ 1933–1941. Berlin 1996. 19 Todt am 18.1.1934, zitiert nach Christoph Hölz: Verkehrsbauten. In: Winfried Ner dinger (Hg.): Bauen im Nationalsozialismus. Bayern 1933–1945. Ausstellung des Ar chitekturmuseums der Technischen Universität München und des Münchner Stadtmuseums. München 1993, S. 54–97, Zitat S. 56. Zur umstrittenen Verwirklichung solcher Ziele Zeller: Driving Germany. 20 Hochstetter: Motorisierung und „Volksgemeinschaft“. Mein Feind, der Baum
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schaftlicher Modernität und Wohlstand“.21 Straßenbau war buchstäblich der Weg zu einer modernen Gesellschaft. Die Straßenliga diente zwar den Partikularinteressen derjenigen Industriezweige, die von Autos und Straßen lebten, und wurde von ihnen finanziert. Doch die Straßenliga vermochte es, die Forderung nach mehr und besseren Straßen als kollektiven Modernitätsschub darzustellen. Ihr Ziel war, eine „road-mindedness“ in der Öffentlichkeit zu verankern. Sowohl ihre Forderungen als auch ihre Methoden waren modern: Zeitungsanzeigen, Lobbyarbeit im Bundestag und die Legitimierung privatwirtschaftlicher Interessen in einer demokratischen Gesellschaft. In diesem Prozess wurden Straßen mehr als bloße Mittel zum Zweck, sondern wichtige Ziele an sich. Unter den Vorzeichen des Kalten Krieges und der Systemopposition mit der DDR erhielten Straßen den Nimbus freiheitsbefördernder Infrastrukturen: „Motorisierung bedeutet mehr Freiheit für den Menschen. Kein Zufall, dass es in der östlichen Welt schlechte Straßen und wenig PKW’s gibt“, so die Straßenliga 1958.22 Die Aufwertung von Straßen zu Bedeutungsträgern war bereits eine nationalsozialistische Vorliebe gewesen. Anstelle technischen Organisationsvermögens und volksgemeinschaftlich verstandenen Landschaftsgenusses vor 1945 wurden nun aber individuelle Fahrt und Verkehrssicherheit im Verein mit westlicher Modernität als Ziele des Straßenbaus angesehen. Straßenbäume konnten in diesem Zusammenhang als Relikte der Vormoderne gesehen werden. 1964 verlangte der ADAC apodiktisch „Weg mit gefährlichen Straßenbäumen“ und gratulierte dem Bayerischen Landtag zu seiner einstimmigen Entscheidung, an neu angelegten oder erneuerten Straßen keine Bäume, sondern Sträucher und Hecken zu pflanzen. Diese Einsicht könne „vielen Menschen im Verkehr das Leben retten.“23 Für die Kraftfahrlobby, besonders die im ADAC organisierten Autofahrer, waren Straßenbäume ein vordringliches Thema. Die steigenden Unfallzahlen bedeuteten, dass immer mehr Unfallopfer ihr Leben bei der Kollision ihres Autos mit einem Baum verloren. Einer polizeilichen Untersuchung von 1966 zufolge waren 29% der tödlichen Unfälle, an denen nur der Fahrer beteiligt war, „Baumunfälle“. Rund die Hälfte der so ums Leben Gekommenen hatten mehr als 0,5 Promille Alkohol im Blut, aber diese Facette der Diskussion fand weit weniger Aufmerksamkeit. Diese Baumun-
21 Klenke: Freier Stau, S. 91. 22 Zitiert nach ebd., S. 39. Siehe auch ebd., S. 30–31. Zum Begriff „road-mindedness“ ebd., S. 30. Er ist offenbar an Peter Fritzsches Beobachtung der „air-mindedness“ angelehnt: Peter Fritzsche: A Nation of Fliers. German Aviation and the Popular Imagination. Cambridge 1992. 23 Zitiert nach Günter Bayerl: Automobil und Umwelt in den 1950er und 1960er Jahren. In: Hans Jürgen Teuteberg (Hg.): Beiträge zur Geschichte der Binnenschiffahrt, des Luft- und Kraftfahrzeugverkehrs (Schriftenreihe der Deutschen Verkehrswissenschaftlichen Gesell schaft, Bd. B 169). Köln 1994, S. 323–348, Zitate S. 328 und 329.
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fälle ereigneten sich meistens an Wochenenden.24 Lokalzeitungen, vor allem auf dem Land, veröffentlichten in ihren Montagsausgaben oft drastische Bilder von Autos, die durch den Aufprall auf Bäume zerstört und deren Fahrer und Insassen getötet wurden. Baumunfälle und ihre Opfer waren spektakulär, die Folgen unmittelbar und der Ton der Debatte leidenschaftlich. Im folgenden möchte ich 101 private Briefe an das Bundesverkehrsministerium auswerten, deren Absender sich Bäumen an Straßen, der landschaftlichen Eingliederung, dem Blend- oder Prallschutz oder einer Kom bination dieser Fragen widmeten. Die Schreiben beschäftigten sich ablehnend oder zustimmend mit dem Thema der Bepflanzung an Straßen und stammen aus den Jahren 1953 bis 1969.25 Die Leidenschaften in dieser Debatte schlugen so hoch, dass sich die Bürger direkt an das Ministerium wandten. Die Verfasser und Verfasserinnen dieser Briefe brachten ihre Meinungen, Vorschläge, ihre schroffe Ablehnung von Straßenbäumen oder ihre Haltung als deren Beschützer als Bürger in einem demokratisch verfassten Gemeinwesen vor. Straßenverkehr mit all seinen Begleiterscheinungen war nicht nur ein populäres, sondern auch ein umstrittenes Thema. Einen Brief an das Bundesverkehrsministerium in Bonn zu schreiben, diente nicht nur dazu, eine Meinung mitzuteilen, sondern sollte Politik, Richtlinien und Standards beeinflussen. Politiker und Ingenieure im Verkehrsministerium waren Experten; die Briefe kamen von Bürgern, die zwar als Autofahrer keinen formalen Expertenstatus, aber praktische Erfahrungen geltend machten. Einige Briefeschreiber brüsteten sich mit ihrer Fahrpraxis: Die Kampagne von Verkehrsminister Seebohm gegen den Verkehrstod werde nur Erfolg haben, wenn die Straßenbäume entfernt sind, schrieb ein Bürger aus dem schwäbischen Krumbach und unterstrich, „Das sagt Ihnen ein Autofahrer, der schon 300.000 km gefahren ist.“26 Die von den Experten gesuchte Grenze zwischen Fachmann und Laie wurde so in Frage gestellt, indem Ver kehrsteilnehmer auf ihre Fahrvergangenheit hinwiesen, die sie zu besonders gewichti 24 Bäume am Straßenrand. In: Polizei- und Verkehrsjournal 8 (1966), zitiert nach Bayerl: Automobil, S. 331. Die Untersuchung kam zu dem Schluss, dass „nicht die Bäume die Unfallursachen sind, sondern daß ein schuldhaftes Verhalten des Kraftfahrers die erste Ursache war.“ Ebd. 25 Ausgewertet wurden die im Bundesarchiv Koblenz in den Akten B 108/8982, 18637, 18638, 18639, 18640 und 18966 gesammelten Eingaben. Es handelt sich dabei um diejenigen Briefe, die zuständigkeitshalber an denjenigen Referenten übergeben wurden, zu dessen Arbeits gebiet die Landschaftsgestaltung zählte. Neben direkten Briefen an das Bundesverkehrsministerium sind auch zur Begutachtung überlassene Anfragen an das Bundeskanzleramt, das Bundespräsidialamt oder den Petitionsausschuss des Bundestages enthalten. Es darf unterstellt werden, dass die überlieferten Eingaben vollständig sind, zumal auch unbeantwortete Briefe abgelegt wurden. 26 Karl Bader, Krumbach/Schwaben, an Bundesverkehrsministerium (handschriftliche Post karte), 17.2.1968, B 108/18639. Mein Feind, der Baum
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gen Aussagen autorisierte. Anders als Leserbriefe in Zeitungen und Zeitschriften, die als Indiz der vox populi gelten konnten, waren die Zuschriften nach Bonn ein Versuch, direkt auf Gesetzgebung, Bau und Gestaltung von Straßen Einfluss zu nehmen. Mehr noch: Für Hinterbliebene von Unfallopfern waren familiäre Notlagen und Trauer Antriebskräfte. Entsprechend emotional waren die Eingaben. Moralische Entrüstung kennzeichnete auch Briefe von nicht unmittelbar Betroffenen. So fragte ein Bürger 1969 den Verkehrsminister: „Wollen Sie ruhigen Gewissens zusehen, wie weiter Menschen an den Bäumen zerschmettert werden [?]“ und forderte, alle Straßenbäume zu entfernen.27 Auf der anderen Seite schrieben auch Verteidiger der Straßenbäume nach Bonn. Ihre Motivation war in erster Linie die ästhetische Wertschätzung von Straßenbäumen, die Sorge um das Landschaftsbild und die durch Bäume aufgewertete Autoreise. Ihre Briefe waren oft Reaktionen auf die virulente Debatte um Straßenbäume in der Presse. Ganz im Gegensatz zur nationalsozialistischen Diktatur waren Straßenbäume somit nicht mehr ein von Experten wie Landschaftsarchitekten und Bauingenieuren verhandeltes Element technischen Gestaltens, sondern ein breit diskutiertes Thema: Der Kampf um die Straßenbäume war ein Kampf auf Leben und Tod. Wer schrieb wann und mit welchem Tenor? Zunächst fällt auf, dass die Zahl der jährlich abgeschickten Briefe während der 16 untersuchten Jahre ständig stieg, von drei Briefen 1953 auf 22 im Jahr 1969; 101 waren es insgesamt. Baumgegner und Baumbefürworter hielten sich fast die Waage: 58 Einsender verlangten, Bäume und/ oder Sträucher abzuholzen, 43 wollten sie erhalten oder noch mehr dazufügen. Aufschlussreich ist, dass sich die Zahl der baumfreundlichen Briefe kaum veränderte; sie schwankte während des gesamten Untersuchungszeitraums zwischen null und fünf pro Jahr. 1968 und 1969 gingen dagegen 28 baumfeindliche Eingaben in Bonn ein, das war fast die Hälfte der 58 Kontra-Eingaben.28 Mit anderen Worten: Die Zahl der Baumgegner wuchs in den späten sechziger Jahren rapide an, während die Baumbefürworter auf ihrem niedrigen numerischen Niveau verharrten. Offenbar vermochten es die Baumkritiker, wachsende Kräfte zu mobilisieren. Ein kausaler Zusammenhang mit der oben diskutierten, parallel zunehmenden Zahl von Verkehrstoten drängt sich auf. Zu vermuten ist auch, dass der Wechsel im Ministeramt von Seebohm zu Georg Leber (SPD) im Dezember 1966 und der damit angekündigte Wechsel in der Verkehrspolitik einige Einsender zum Schreiben bewog. Was die Autoren anging, so stammten nur acht Briefe von Autorinnen. Zu mehr als 90 Prozent war die Debatte um das Straßengrün also eine rein männliche Ausein27 Hermann Deutsch, Bad Bertrich, an Verkehrsminister, 24.5.1969, B 108/18640. 28 Aus Gründen der Vergleichbarkeit wurden mehrere Briefe eines Adressaten als ein Brief ge wertet. In keinem der Fälle ergab sich ein neuer Gesichtspunkt durch die neuerlichen An fragen und Antworten.
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andersetzung, da die Antwortenden im Verkehrsministerium ausschließlich Männer waren. Die weiblichen Briefeschreiber forderten mehrheitlich den Weiterbestand oder Ausbau von Bäumen und Sträuchern. Eine eloquente Ausnahme bildete der Brief einer 33jährigen Witwe mit drei Kindern, die ihren Mann bei einem Baumunfall verloren hatte. Wenige Tage nach dem Trauerfall beklagte sie die schiere Existenz von Straßenbäumen und fragte eindringlich, warum sie überhaupt noch an Straßen stehen, obwohl sie Autofahrern zum Verhängnis würden.29 1965 besaß nur ein Fünftel der bundesdeutschen Frauen einen Führerschein; die weit überwiegende Mehrheit der Frauen, so sie in Autos saßen, waren Passagiere.30 Die Minderheit der autofahrenden Frauen konnte also am bundesdeutschen Straßenbaumstreit teilhaben, während die Populärkultur die „Frau am Steuer“ durch Humor oder direkten Ausschluss marginalisierte. Die von Bonn abgeschickten Antworten schlugen für die weiblichen Einsender zwar keinen anderen Ton an. Intern provozierte das Zusammentreffen der beiden Kategorien „Frau“ und „Lehrer“ aber eine vorhersehbar „männliche“ Reaktion. Der Wunsch einer Realschullehrerin nach „Obstbäumen à la van Gogh“ für „Fahrer [!] mit Sinn für Naturschönheit“ kommentierte der zuständige Referent in einer Marginalie so: „Echt ,Lehrerin‘! Blühende Obstbäume sollte man wandernd u. nicht auf Fernstraßen bewundern wollen!!“31
29 Ilse Zillig, Lampoding über Traunstein, an Seebohm, 24.10.1958, B 108/18637; Charlotte Plinke, Berlin, an Seebohm, 8.6.1959, B 108/18639; Nelly Heydorn, Hamburg-Wandsbek, an Seebohm, 7.8.1959, ebd.; Fr. v. Viebahn, St. Goar, an Bundesverkehrsministerium, 10.3.1960, B 108/18638; Ilse Hedicke, Göttingen, an Bundesverkehrsministerium, 15.5.1967, B 108/18639; Dr. med. Karin Pietschmann, Lemgo, an Bundesverkehrsministerium, 18.1.1968, ebd.; Christine Weber, Westerburg, an Leber, 15.5.1968, B 108/18640; Witwe Agnes Prum bau an Leber, 1.8.1969, B 108/18640. Viebahn protestierte gegen das Pflanzen von Nussbäu men auf der B 9 bei Spay wegen der Gefahr durch herabfallende Früchte; die Bäume wurden entfernt. (Ministerium für Wirtschaft und Verkehr Rheinland-Pfalz an Bundesverkehrsministerium, 11.7.60, B 108/18638). Aus dem Schreiben der Einsenderin geht nicht hervor, ob sie generell Bäume an Verkehrsstraßen ablehnte. Wenn diese Eingabe weder auf der Pro- noch auf der Contra-Seite verbucht wird, ergibt sich ein Verhältnis von fünf Pro- zu zwei ContraStimmen unter den Einsenderinnen. 30 Birgit Hodenius: Frauen fahren anders! Zum Wandel der Relevanz und Aktualität eines Themas. In: Gert Schmidt (Hg.): Technik und Gesellschaft Jahrbuch 10: Automobil und Automobilismus. Frankfurt/New York 1999, S. 167–182, hier S. 169. Vgl. Virginia Scharff: Taking the Wheel. Women and the Coming of the Motor Age. New York/Toronto 1991. 31 Handschriftliche Bemerkung auf Ilse Hedicke, Göttingen, an Bundesverkehrsministerium, 15.5.1967, B 108/18639. Hervorhebung im Original. Auf den höflich gehaltenen Antwortbrief vom 7.6.1967 hin bedankte sich die Einsenderin am 17.6., er habe sie „mit besonderer Genugtuung erfüllt“. Mein Feind, der Baum
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Unter den Einsendern waren freie Berufe und Ärzte unverhältnismäßig vertreten; letztere beanspruchten Expertenstatus aufgrund ihrer Tätigkeit. Wie oben bereits ausgeführt, bemühten sie sich erfolgreich, sich als Experten für Unfallmedizin zu etablieren und somit auf die Gestaltung von Straße und Fahrzeug Einfluss zu nehmen.32 Am eindeutigsten war die Feststellung vier Erlanger Medizinstudenten vom Herbst 1965, dass der Fortbestand der Chausseebäume angesichts der Unfallgefahr nicht länger gerechtfertigt sei.33 Bemerkenswert ist auch, dass fünf Einsendungen von Gruppierungen stammten, die bei öffentlichen Versammlungen Unterschriften sammelten. „Eine Versammlung von 32 Lkw-Fahrern“ im November 1967 in Hannover hielt Bäume für überflüssig und gefährlich: „Die Baumanpflanzungen in der Mitte der älteren Auto-Bahnen be hindern den flüssigen Auto-Verkehr, die Bahnstrecke verliert dadurch an Uebersicht [sic].“ Außerdem verursache das Laub Rutschgefahr im Herbst. Statt Bäumen empfahlen die Kraftfahrer „Niedrig-Gras“. Sie drehten die Rhetorik der NS-Autobahnen um, indem sie feststellten: „Die jetzigen Baumpflanzungen verschandeln zudem auch noch das Landschaftsbild.“ Im Gegensatz dazu seien die neueren Autobahnstrecken „ohne Baumpflanzung mit glattem Zement-Bitume[n]-Belag und Kreide-Fahrbahnmarkierung […] dem Fernverkehr dienlich und sicher!“34 Ganz im Gegenteil zur Begründungsrhetorik der NS-Autobahnen, die das landschaftliche, abwechslungsreiche Fahrerlebnis in den Vordergrund stellte, waren für die Kraftfahrprofis berechenbare, übersichtliche Strecken ohne Laub wichtig. Die Fahrt sollte überraschungsarm und rasch sein, nicht an Aussichten auf Bäume und Landschaftsbilder orientiert. Die Straße war ein Arbeitsplatz, kein Ereignisort. Aus einer unmittelbaren Opferrolle heraus schrieben 24 Mitglieder der Katholischen Landjugendbewegung im oberschwäbischen Meßkirch unter Anleitung des 32 Knapp die Hälfte der Einsender gaben Titel, Ausbildungsberuf oder Berufsbezeichnung an (46 von 101). Unternehmer waren mit zwölf Einsendungen die größte Einzelgruppe. Vier der Einsender waren Allgemeinärzte. Drei waren Lehrer, ebensoviele Journalisten. Zwei Autoren waren Diplom-Volkswirte; zwei waren Förster. Die übrigen Berufsnennungen verteilten sich auf Steuerbevollmächtigter, Diplom-Kaufmann, Zahnarzt, Werkmeister a.D., DiplomIngenieur, Hofbesitzer, Landwirt, Industriekaufmannlehrling, Gartenbaufirma, GemeindeAmtmann, Prokurist, Student, Lkw-Fahrer und Versicherungsmathematiker mit jeweils einer Nennung. Alle benutzten ihr geschäftliches Briefpapier und verliehen somit ihrem Schreiben einen halbprivaten Charakter. „Als Arzt und Autofahrer (31 Jahre ohne Unfall)“ mahne er zu einer dichten Bepflanzung des Mittelstreifens, schrieb Dr. Carl Riedel. Einem seiner Patien ten sei so das Leben gerettet worden. Dr. Carl Riedel, Aachen, an Seebohm, 21.1.1958, B 108/18637. Zu den Ärzten s. die in Fn. 16 genannte Literatur. 33 Volker Herold an Seebohm, 10.10.1965, B 108/18639. 34 Eine Versammlung von 32 Lkw-Fahrern an Seebohm, November 1967, B 108/18639. Die Versammlung hinterließ keine Absenderadresse. Da aber die Einsender mit der Einschaltung eines Bundestagsabgeordneten drohten, wurde vorsorglich eine Antwort zurechtgelegt.
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örtlichen Priesters im Dezember 1968, nachdem eines ihrer Mitglieder der Gruppe bei einem Baumunfall ums Leben gekommen war: „Ist es verantwortlich, daß in unse rer motorisierten Zeit entlang unserer Verkehrsadern ganze Reihen von ,Barrikaden’ stehen, deren Existenz jährlich zahlreiche Menschen mit dem Leben bezahlen müssen?“35 Wie oben angedeutet, nahmen Umfang und Negativität der Einsendungen zu Ende der sechziger Jahre zu. Ortsgruppen politischer Parteien machten sich den Streit um die Straßenbäume zu eigen, veranstalteten Protestabende und schrieben nach Bonn. Bei einer Versammlung des Kreisverbandes Weilheim (Oberbayern) der Jungen Union im März 1969 wurden angeblich 674 Unterschriften für die Beseitigung von Straßenbäumen an „verkehrsreichen und unfallträchtigen Straßen“ gesammelt. Alle anwesenden Redner von Straßenbau, ADAC und Landkreis waren sich einig; abweichende Meinungen waren offenbar nicht vertreten. Laut einem Bericht der Lokalpresse waren Sorgen um die Landschaft zwar vertreten, wurden aber kategorisch zur Seite gedrängt: „Die Erhaltung der Landschaft wird wohl in den nächsten Jahren das einzige sein, was wir unseren Bürgern noch bieten können, erklärte Landrat Dr. Georg Bauer. An den Straßen sei aber nicht ,unsere Landschaft’. Der Landkreis habe deshalb den dringlichen Hilferuf erkannt und in den letzten Jahren Straßen ohne Bäume gefordert.“ Der Weilheimer Landrat hielt zwar den Landschaftsschutz in Ehren, schob das Umfeld der Straßen aber gleichsam aus der Landschaft heraus. Die Scheidelinie zwischen Technik und Landschaft war eine politisch wichtige Unterscheidung in diesen Jahren. In seiner Antwort meinte der Fachreferent des Bundesverkehrsministeriums, die Junge Union mache es sich mit ihrer Totalforderung zu einfach.36 Zwei Jahre zuvor hatte bereits ein Bezirksverband der Jungen Union, ebenfalls in Bayern, in einem Schreiben nach Bonn die „unverzügliche Beseitigung aller Bäume, die die Verkehrssicherheit gefährden“ gefordert. Das Verkehrsministerium wollte sich auf solche Pauschalkritik nicht einlassen und betonte, nur im Einzelfall könne entschieden werden, wie gefährlich ein Straßenbaum wirklich sei.37 Zu Beginn der sozialliberalen Koalition mokierte sich auch der SPD-Ortsverein aus dem oberbayerischen Türkenfeld-Moorenweis über „eine Art Straßenbaumideologie“ an den Bundesstraßen. In einer historisierenden Argumentation charakterisierten die 35 Katholische Landjugendbewegung Meßkirch an Bundesverkehrsministerium, im Dezember 1968, B 108/18640. 36 Junge Union Bayern, Kreisverband Weilheim, an Bundesverkehrsministerium, 6.6.1969, ebd., B 108/18640; „Langen Reden sollen Taten folgen“, Weilheimer Tagblatt, 27.3.1969, ebd.; Bundesverkehrsministerium an Junge Union Bayern, Kreisverband Weilheim, 2.7.1969, ebd. Da die Unterschriften nicht überliefert sind, kann die Zahl von 674 nicht bestätigt werden. 37 Junge Union, Bezirksverband Mittelfranken, Alfred Ragati, an Bundesverkehrsministerium, 15.6.1967, B 108/18639; Bundesverkehrsministerium an Junge Union, Bezirksverband Mittelfranken, Ragati, 11.7.1967, ebd. Mein Feind, der Baum
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Petenten Baumpflanzungen an Straßen als vormodern, als einen „Zopf aus der Postkutschenzeit.“ Bestehende Straßenbäumen sollten deshalb gefällt und neue erst gar nicht gepflanzt werden. Als die SPD-Mitglieder nicht nur Beispiele aus ihrem Landkreis nannten, sondern Baumpflanzungen für die Republik an sich ablehnten, antwortete das Bundesverkehrsministerium, dies gehe zu weit. Der Ortsverein reduzierte dann seine Forderungen auf Bäume an der Bundesstraße 2, woraufhin die Antwort des Parlamentarischen Staatssekretärs Holger Börner zustimmender ausfiel.38 Gegen die massenhaften Eingaben der Parteigliederungen verblassten die beiden organisierten Einsendungen der Baumbefürworter. Ein Bürger aus dem niedersächsischen Stelle im Kreis Harburg sammelte 1963 Unterschriften gegen das Fällen „großer, schöner“ Ahornbäume an der Bundesstraße 4 und fand elf Gleichgesinnte.39 Diese rein örtliche Regung übertraf ein Bestandteil der Arbeiterbewegung, der „Touristenverein Die Naturfreunde“ mit zehntausenden von Mitgliedern. Dieser 1895 in Wien gegründete Arbeiterwanderverein förderte das proletarische Wandern und dehnte seine Tätigkeit zunehmend in Richtung Natur- und Umweltschutz aus. Bei seiner Jahrestagung 1968 verabschiedete der Verein einstimmig diese Resolution: “Die Bundesleitung [der Naturfreunde] wird beauftragt, beim Bundesminister für Verkehr, sowie auch bei den zuständigen Landesministerien darauf Einfluss zu nehmen, daß bei allen Erweiterungen und Neubauten an Verkehrsstraßen vorhandener, teils wertvoller Baumbestand nach Möglichkeit geschont wird. Außerdem sollte der Bepflanzung durch Baum und Strauch an Verkehrswegen, soweit dies die Verkehrssicherheit zuläßt, in der offenen Landschaft wieder mehr Beachtung geschenkt werden. Die Bestrebungen sollten durch Aufstellung von Landschaftsplänen und durch Aufnahme in die Finanzierungspläne gefördert werden.“40 Die Naturfreunde griffen damit die Rhetorik des Landschaftsschutzes auf und sahen Straßenbäume nicht an sich als Anzeichen überkommenen Denkens. Vielmehr waren sie schützenswert und ihre Anzahl sollte noch erhöht werden. Die Naturfreunde qualifizierten ihre Forderungen aber, indem sie die Bepflanzung eindeutig der Verkehrssicherheit unterordneten. In der unmittelbaren Nachkriegszeit hatten Teile 38 SPD-Ortsverein Türkenfeld-Moorenweis an Bundesministerin Käthe Strobel, 5.4.1969, B 108/18640 (zuständigkeitshalber übersandt); Bundesverkehrsministerium an SPD-Ortsverein Türkenfeld-Moorenweis, 30.4.1969, ebd. Bundesverkehrsministerium, Börner, an SPDOrtsverein Türkenfeld-Moorenweis, 23.9.1969, ebd. 39 Peter Rieckmann und Gen. an Seebohm, 25.11.1963, B 108/18637. 40 Touristenverein „Die Naturfreunde“ an Leber, 14.11.1968, B 108/18640. Zu den Natur freunden im allgemeinen John Alexander Williams. The Chords of the German Soul are Tuned to Nature. The Movement to Preserve the Natural Heimat from the Kaiserreich to the Third Reich. In: Central European History 29 (1996), S. 339–384; Jochen Zimmer (Hg.): „Mit uns zieht die neue Zeit“. Die Naturfreunde: Zur Geschichte eines alternativen Verbandes in der Arbeiterkulturbewegung, Köln 1984.
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der Gewerkschaftsbewegung Automobile noch als bürgerliche Luxuskutschen oder Bonzenvehikel kritisiert, doch waren solche Berührungsängste Ende der sechziger Jahre längst gewichen.41 Die Briefe an das Bundesverkehrsministerium geben Aufschluss über die wechselnden Parameter und die wechselnden Ansichten in dieser Debatte. Gegen Ende der sechziger Jahre waren Baumbefürworter überwiegend in der Defensive. Angesichts massiv steigender Unfallzahlen war das Abholzen ein naheliegendes Mittel. Zu offensichtlich war, dass Bäume ein Verkehrshindernis sein konnten. Ihr Beitrag zum Landschaftsbild und zur Erscheinung der Straße wurde zwar nicht ignoriert, war aber nicht länger eine Priorität wie noch in den offiziellen Verlautbarungen des Nationalsozialismus. Der oben zitierte bayerische Landrat kategorisierte Straßenbäume kurzerhand als Bestandteil der Straße, eines technischen Artefakts, und mithin nicht der Landschaft. Der ADAC präsentierte stolz einen Oberforstmeister, der als Baumfachmann ebenfalls das Abholzen gefährlicher Straßenbäume forderte und somit den Baumbefürworten Wind aus den Segeln nahm.42 Die Hecken, Sträucher und Bäume auf Mittelstreifen und Böschungen der vor 1945 gebauten Autobahnen und die Straßenbäume neben Bundes- und Landstraßen wurden als handgreifliche Folgen dieser Debatte in den sechziger und siebziger Jahren zu hunderttausenden gefällt. Ausbau und Erweiterung solcher Straßen boten dazu viele Gelegenheiten. Eine bundesdeutsche Übersicht liegt nicht vor; für Bayern allein ist für die sechziger Jahre das Abholzen von 175.000 Bäumen belegt.43 Neue Autobahnen und Straßen erhielten schmälere Mittelstreifen mit Leitplanken statt Bäumen und wurden spärlicher bepflanzt.44 Der Münchner Landschaftsarchitekt Alwin Seifert, der in die landschaftliche Eingliederung der Reichsautobahnen mit wechselndem Erfolg vorangetrieben hatte, verhöhnte Mitte der sechziger Jahre das Baumfällen so: „Fröhliche Steppenfahrt alsdann zwischen allseits weißgestrichenen Leitplanken!“45 41 Zur Reserviertheit der Gewerkschaften in den fünfziger Jahren: Axel Schildt: Vom Wohlstandsbarometer zum Belastungsfaktor—Autovision und Autoängste in der westdeutschen Presse von den 50er bis zu den 70er Jahren. In: Hans-Liudger Dienel/Helmuth Trischler (Hg.): Geschichte der Zukunft des Verkehrs. Verkehrskonzepte von der Frühen Neuzeit bis zum 21. Jahrhundert, Frankfurt/New York 1997, S. 289–309. 42 Bayerl: Umwelt. 43 Alexander Gall: „Gute Straßen bis ins kleinste Dorf !“ Verkehrspolitik und Landesplanung 1945 bis 1976. In: Thomas Schlemmer/Hans Woller (Hg.): Die Erschließung des Landes 1949 bis 1973 (Bayern im Bund, Bd. 1). München 2001, S. 119–204, hier S. 187. 44 Uwe Ellmers: Die Entwicklung der passiven Schutzeinrichtungen in Deutschland. In: Straßenverkehrstechnik 50 (2006), S. 332–339; Heinrich Praxenthaler: Alleenrausch und Baumaufprall. In: Straßenverkehrstechnik 50 (2006), S. 237–247. 45 Seifert, „Weg mit den Straßenbäumen!“, Leserbrief an Münchner Merkur, 22.2.1964, S. 16, B 108/18639. Mein Feind, der Baum
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Die Ablösung von Bäumen durch Leitplanken signalisierte einen Umschwung in der gebauten Umwelt der Bundesrepublik und ihres Straßennetzes. *** Im Prozess der Motorisierung Westdeutschland änderten sich Wertzuweisungen an und Wertschätzungen von Bäumen an der Straße deutlich. Ein Auto zu fahren oder darin gefahren zu werden, wurde zur vorherrschenden Verkehrsform; damit verbunden war eine neue, rigidere Unterscheidung der Straße als technischem Bauwerk und der sie umgebenden Landschaft. Zumindest rhetorisch hatte die NS-Diktatur versucht, Straßen und Landschaften miteinander zu verschmelzen. Die Bundesbürger wollten sie unter dem Eindruck steigender Unfallzahlen kategorisch trennen, um so das Bäumefällen als Beitrag zur Verkehrssicherheit verstehen zu können. Straßen gehörten nicht mehr in die Landschaft, sie waren Teil einer Zirkulationssphäre, die von Sicherheit und Tempo bestimmt war. Der „Spiegel“ machte sich 1963 über die „Sofas“ lustig, „jene Sonntagsfahrer, die hohe Geschwindigkeiten scheuen und nach landschaftlichen Schönheiten Ausguck halten.“46 Einzelne Autofahrer, die solche Erfahrungen schätzten, oder Landschaftsarchitekten, die professionelle Interessen mit ihnen verbanden, konnten im Zuge dieser Debatte als Vertreter vormoderner oder gar romantischer Ansichten gesehen werden. In den zwei Jahrzehnten von 1950 bis 1970 wurden die Straßen der Bundesrepublik weißer durch mehr Leitplanken und weniger grün durch weniger Bäume und Sträucher. In den Forderungen nach Baumfällen trafen sich drei verschiedene Gruppen. Ökonomisch motivierte Gruppen wie die „Deutsche Straßenliga“ profitierten von Straßenbau und Straßenausbau und porträtierten diese als moderne Aktivität eines westlichen Staates. Bauingenieure, die während des Nationalsozialismus zumindest zeitweise mit den ästhetischen Belangen von Landschaftsarchitekten konfrontiert gewesen waren, konnten nach 1949 die Deutungshoheit über Straßenplanung zurückgewinnen. Automobilklubs wie der ADAC vermochten mit der Fokussierung auf Bäume die Sicherheitsdebatte zu beeinflussen und etablierten sich als Vertreter von Millionen von Autofahrern mit legitimen Interessen in einer jungen Demokratie. Gerade weil sie keine professionellen Experten waren, wollten sie in einer Massendemokratie gehört werden. In der extremsten Form dieser Debatte konnten Bäume als Todesfallen gesehen werden, als gefährliche Überbleibsel einer Zeit, die das Automobil nicht kannte, oder, wie der Nationalsozialismus, eine landschaftsfreundliche Straßenform auf Kosten der Sicherheit verwirklichte. Die Bezüge auf die kaum vergangene Diktatur waren indirekt und unterschwellig. Die von Klenke konstatierte bundesdeutsche Neigung, mit dem Auto der nationalsozialistischen Vergangenheit gleichsam davonfahren zu 46 „Tempo 20“. In: Der Spiegel 34 (21.08.1963), S. 24–34, Zitat 33–34.
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wollen, war auch für die Straßen bemerkbar.47 Demokratische Freiheit sollte mit automobiler Freiheit in eins gehen. Vor diesem Hintergrund ist auch erst die Entscheidung des Bundestags verständlich, alle Geschwindigkeitsbeschränkungen, auch diejenigen innerorts, 1953 aufzuheben. Nach Protesten von Unfallchirurgen wurde ein innerörtliches Tempolimit von 50 km/h 1957 eingeführt. Erst 1972, unter dem Eindruck der steigenden Unfallzahlen, wurde die Geschwindigkeitsbeschränkung von 100 km/h für alle Fernstraßen verbindlich, mit Ausnahme der Autobahnen.48 Zusammenfassend möchte ich zwei Entwicklungen unterstreichen. Zum ersten lohnt es sich, die Heftigkeit dieser aus heutiger Sicht geradezu bizarren Debatte über Straßenbäume zu untersuchen. Im Hintergrund stand das allgemeine Entsetzen über die Folgen einer vorgeblich friedlichen Technik. Die Debatte um Verkehrstote und Straßenbäume war hysterisch und pauschal, gerade in den Briefen an das Verkehrsministerium, und konnte kaum anders sein. Die Einübungsversuche in demokratische Teilhabe und bürgerliche Gesellschaft waren zuweilen schrill und ihre Folgen reichten weit; der Eifer der Debatte um Verkehr weist darauf hin, wie umstritten Mobilität war. Da immer mehr Bundesbürger Autobesitzer oder Beifahrer waren, nahmen sie durch Fahren und Bewegung an einem demokratischen Gemeinwesen teil und stritten sich mit anderen über Gestaltungsformen des Verkehrs, wenn das Auto stand.49 Die leidenschaftliche Debatte um die Unfallopfer und mögliche Abhilfen führte auf lange Sicht zur Akzeptanz des Straßenverkehrs als Teil moderner Realität, mitsamt seiner Negativerscheinungen. Das laute Reden über die Verkehrstoten machte sie zuerst zu einem Skandalon und dann zu einer Alltagserscheinung. Schnellreparaturen wie das populäre Abholzen von Straßenbäumen gaukelten vor, dass tiefergreifende Lösungen überhaupt möglich waren. Die Sicherheitsdebatte stellte nicht das Ausmaß der Motorisierung in Frage, sondern versuchte ihre Begleiterscheinungen zu mindern. Gleichzeitig zeigt die Fokussierung auf die Straßenbäume, die so offensichtliche Verkehrshindernisse waren, dass in den fünfziger und sechziger Jahren Aufmerksamkeitsschwellen überschritten wurden. Die hohen Unfallzahlen waren nicht zu dulden; die Verkehrspolitik, die die Verbreitung von Autos so kräftig gefördert hatte, sollte wirksame Abhilfe schaffen. In einem komplizierten Aushandlungsprozess entscheiden Gesellschaften, welche Anzahl von Verkehrsopfern tolerierbar ist. Dieser Grenzwert 47 Dietmar Klenke: Die deutsche Katastrophe und das Auto. Zur „Heils“geschichte eines natio nalen Kultobjekts in den Jahren des Wiederaufstiegs. In: Ilona Stölken-Fitschen/Michael Salewski (Hg.): Moderne Zeiten. Technik und Zeitgeist im 19. und 20. Jahrhundert, Stuttgart 1994, S. 157–173. 48 Klenke: Freier Stau, S. 46–50. 49 Möser: Geschichte, S. 196. Die Jahre nach 1949 waren für Herbert von einer rapiden Liberalisierung der bundesdeutschen Politik und Gesellschaft geprägt. Ulrich Herbert (Hg.): Wandlungsprozesse in Westdeutschland. Belastung, Integration, Liberalisierung 1945–1980. Göttingen 2002. Siehe auch die Einleitung der Herausgeber zu diesem Sammelband. Mein Feind, der Baum
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ist nie statisch, sondern ständig neu verhandelbar.50 Die fünfziger und sechziger Jahre waren in diesem Zusammenhang Zeiten intensiven Neuverhandelns; die Veralltäglichung des Straßenverkehrs fand nur stoßweise statt. In einem als Sicherheit gegen Ästhetik definierten Konflikt konnte letztlich nur die Sicherheit triumphieren. Die Grenzziehung zwischen Technik und Landschaft, zwischen Straße und Natur, hatte tiefgreifende Konsequenzen. Straßen wurden in die Gesellschaft eingebunden, sie wurden soziale Räume, deren Funktion und Gestaltung eminent politisch waren. Die Straße wurde homogenisiert und standardisiert und trat an die Stelle landschaftlicher Abwechslung und Eigenart. Autofahrer, die durch Führerscheinerwerb und Kontrolle diszipliniert wurden, erwarteten zunehmend die gleichen Qualitäten von der Straße, die von ihnen erwartet wurden: Geschlossenheit, Vorhersehbarkeit und ständiger Verkehrsfluss. Im Kern drehten sich diese Debatten um Ordnungsvorstellungen von Straßen, Landschaft und Gesellschaft. Die Auseinandersetzung um bestimmte Ordnungskonzepte bildete das Thema der Debatten; die autofahrenden Bundesbürger griffen in diese Debatten ein und trugen so zur demokratischen Mobilisierung bei. Das hier zur Debatte stehende Ordnungskonzept war im Dreieck von Natur, Straße als öffentlichem Raum und dem Staat als Ordnungsmacht angesiedelt. In diesem Zusammenhang fordern Bürger in ihrer Rolle als Autofahrer zunehmend, dass staatliche Planer die Straßen als öffentlichen Raum nach den Bedürfnissen des Autoverkehrs gestalten. Dem fielen Bäume zum Opfer, die der neuartigen Wohlstandsnormalität und Wohlstandsmobilität im Wege standen. Zweitens zeigt sich, dass die baumarme Verkehrsnormalisierung bundesdeutscher Prägung nationale Eigenheiten und allgemeinere westliche Trends vereinbart. Automobilismus – oder genauer gesagt der „Motown Komplex“ ( John McNeill) – ist besonders gut geeignet, diese Verschränktheit zu verstehen. Die zunehmende Ausstattung westlicher Gesellschaften mit Automobilen und Automobilstraßen im 20. Jahrhundert war eine weitverbreitete Entwicklung mit heute globalen Auswirkungen. Historisch zu verstehen ist sie aber nur in ihrer spezifischen Ausprägung in Ländern und Regionen. Die Debatte um die Straßenbäume ist nur vor dem Hintergrund des gerade vergangenen Nationalsozialismus vorstellbar. Ohne die laute Reichsautobahnpropaganda mit ihrer Betonung der angeblich gelungenen landschaftlichen Eingliederung der Straßen wäre die Vehemenz der Baumgegner in den 1960er Jahren kaum zu verstehen. Diese populäre Antwort auf eine einstmalige Expertendebatte konnte nur in der Demokratie stattfinden. Dass diese sich westlich orientierte und die offenbar westlichste aller Demokratien, die USA, moderne Straßen bauten, verstärkte diese Neigung nur.
50 Schlich: Trauma Surgery, S. 94.
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Damit zu meinem letzten Punkt: Fragen wie die nach nationalen Eigenheiten und internationalen Trends sind wohl immer am besten im Vergleich zu beantworten. Ein systematischer Vergleich der hier untersuchten Debatte mit den USA würde den Rahmen dieses Kapitels sprengen. Ein Blick in die Literatur legt aber die Schlussfolgerung nahe, dass die in den USA ebenfalls in den 1960er Jahren mit Schärfe geführte Debatte um Verkehrsunfälle dort eine andere Wendung nahm. Im Mutterland der Massenmotorisierung richtete sich die Aufmerksamkeit in diesen Jahren weniger auf die Straßen und weit mehr auf die Automobile und deren Hersteller. Der Bestseller „Unsafe at Any Speed“ des Verbraucheranwalts Ralph Nader machte 1965 die Autoindustrie für das gefährliche Design ihrer Fahrzeuge verantwortlich: die Innenräume gefährdeten Autoinsassen und die Stoßstangen Fußgänger. Von bundesdeutschen Autojournalisten und Autoherstellern wurde Naders Attacke lediglich registriert; eine inländische Debatte vergleichbaren Ausmaßes oder Anspruchs fand nicht statt.51 Naders Buch wurde nicht ins Deutsche übersetzt--anders als die andere prominente Anklageschrift aus den USA der 1960er Jahre, Rachel Carsons Warnung vor Pestiziden unter dem Titel „Silent Spring“. Die weitverbreitete amerikanische Kritik an den Automobilherstellern gipfelte 1966 in einer Rede von Präsident Lyndon B. Johnson, der die vor ihm sitzenden Vertreter der Autoindustrie direkt angriff: „Some of you may have to quench your thirst for a little blood… Something must be done to stop the senseless slaughter. We can no longer build unsafe automobiles.“52 Nicht nur war eine solche moralische Kritik an Automobilherstellern in Deutschland nicht festzustellen; die Fixierung auf die Straßen und ihre Umwelt hatte den Blick offenbar soweit verengt, dass sie erst gar nicht möglich war. Die nationalen Eigenheiten der Bundesrepublik scheinen in diesem Fall die Lösungsvorschläge für die Unfallkrise zu bestimmen, während das Problem an sich für Deutsche und US-Amerikaner bemerkenswert ähnlich war. Die Verwestlichung der Bundesrepublik, so ließe sich folgern, war in dieser Hinsicht nur eine partielle. Die hier untersuchten Debatten hinterließen ihre Spuren auch in der populären Kultur. In ihrem vielgespielten Schlager „Mein Freund, der Baum“ beklagte die Sängerin Alexandra 1968 den Verlust eines einzelnen, erinnerungsbehafteten Baumes. Nichts wäre einfacher, als diese Wehklage als Ausdruck spezifisch deutscher, romantischer Baumliebe zu verstehen.53 Doch die Wirklichkeit war komplizierter und damit interessanter: Während der Schlager sich gut verkaufte, wurden unter überwiegendem Beifall tausende von Straßenbäumen in Deutschland gefällt. Im Sommer 1969 51 Weishaupt: Entwicklung, S. 91, Fn. 333. 52 Zitiert nach Jameson Wetmore: Redefining Risks and Redistributing Responsibilities. Building Networks to Increase Automobile Safety. In: Science, Technology & Human Values 29 (2004), S. 377–405, hier S. 389. 53 Für eine Analyse solcher Klischees Joachim Radkau: Germany as a Focus of European “Particularities” in Environmental History. In Thomas Lekan/Thomas Zeller (Hg.): Germany’s Nature. Cultural Landscapes and Environmental History. New Brunswick 2005, S. 17–32. Mein Feind, der Baum
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wurde die Schlagersängerin zusammen mit ihrer Mutter tödliches Opfer eines Verkehrsunfalls. Ihr Mercedes-Cabrio stieß nicht mit einem Baum, sondern einem Lastwagen zusammen.
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Autorenverzeichnis Pertti Ahonen, Dr., ist Senior Lecturer in Modern European History an der University of Edinburgh. Zum Thema u.a.: After the Expulsion. West Germany and Eastern Europe 1945–1990. Oxford 2003. Kerstin Brückweh, Dr., ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am German Historical Institute London. Zum Thema u.a.: Mordlust. Serienmorde, Gewalt und Emotionen im 20. Jahrhundert. (=Historische Studien, Bd. 43) Frankfurt a. M./New York 2006. Jens Hacke, Dr., ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Hamburger Institut für Sozialforschung. Zum Thema u.a.: Die Bundesrepublik als Idee. Zur Legitimitätsbedürftigkeit politischer Ordnung. Hamburg 2009. Elizabeth Heineman, Prof. Dr., ist Associate Professor am Department of History der University of Iowa. Zum Thema u.a.: Before Porn Was Legal: The Erotica Empire of Beate Uhse. (erscheint Chicago 2011) Friedrich Kiessling, PD Dr., ist Akademischer Oberrat a. Z. an der Universität Erlangen-Nürnberg. Zum Thema u.a.: Staat, Moderne, Ost und West. Die „Ideen von 1945“ und die intellektuelle Geschichte der alten Bundesrepublik 1945–1972. Habil.-Schrift Univ. Erlangen-Nürnberg, 2007. Bernhard Löffler, Prof. Dr., ist Privatdozent an der Universität Passau. Zum Thema u.a.: Soziale Marktwirtschaft und administrative Praxis. Das Bundeswirtschaftsministerium unter Ludwig Erhard. Wiesbaden 2002. Maren Möhring, PD Dr., ist Wissenschaftliche Assistentin am Historischen Seminar der Universität zu Köln. Zum Thema u.a.: Ausländische Gastronomie. Migrantische Unternehmensgründungen, neue Konsumorte und die Internationalisierung der Ernährung in der Bundesrepublik Deutschland. Habil.-Schrift Univ. zu Köln, 2010. Bernhard Rieger, Prof. Dr., ist Senior Lecturer in Modern European History am University College London. Zum Thema u.a.: The Good ‚German‘ Goes Global: The Volkswagen Beetle as an Icon in the Federal Republic. In: History Workshop Journal 68 (2009), S. 3–26.
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Detlef Siegfried, Prof. Dr., ist Associate Professor für Modern German History and Cultural History an der Universität von Kopenhagen. Zum Thema u.a.: Deutsche Kulturgeschichte. Die Bundesrepublik von 1945 bis zur Gegenwart. München 2009. (mit Axel Schildt) Thomas Zeller, Prof. Dr., ist Associate Professor für Technik- und Umwelt geschichte an der University of Maryland, College Park, USA. Zum Thema u.a.: Driving Germany: The Landscape of the German Autobahn, 1930–1970. New York u.a. 2007.
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Autorenverzeichnis
Eckhard JEssE
systEmwEchsEl in dEutschl and 1918/19 – 1933 – 1945/49 – 1989/90
Viermal wechselte im 20. Jahrhundert die politische Ordnung in Deutschland auf grundstürzende Weise: 1918/19 endete das Kaiserreich und die erste Demokratie auf deutschem Boden entstand. 1933 wurde sie von den Nationalsozialisten zerstört. 1945/49 schufen die Siegermächte des Zweiten Weltkriegs zwei deutsche Staaten in konkurrierenden Machtblöcken. 1989/90 fiel die Mauer und Deutschland wurde friedlich wiedervereinigt. Die deutsche Geschichte des letzten Jahrhunderts ist eine Geschichte der Brüche. Die vorliegende Analyse nimmt Ursachen, Verlauf und Folgen der Systemwechsel in den Blick. Besonderes Gewicht kommt dabei der vergleichenden Betrachtung zu. Die Beschreibung der Umbrüche wird ergänzt durch einen Vergleich der beiden Diktaturen Drittes Reich und DDR wie der beiden Demokratien Weimarer Republik und Bundesrepublik Deutschland. Sie bietet damit nicht zuletzt eine historisch-politische Positionsbestimmung 20 Jahre nach der deutschen Einheit. 2010. Ca. 280 S. Gb. 135 x 210 mm. ISbN 978-3-412-20599-7
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Johannes Paulmann (hg.)
auswärtige rePr äsentationen Deutsche KulturDiPlomatie nach 1945
Die Beschäftigung mit dem eigenen Bild im Ausland war in mancher Hinsicht geradezu eine Obsession der Deutschen. In der Bundesrepublik Deutschland und in der DDR wurden Debatten darüber geführt, wie sich beide Teilstaaten und ihre gesellschaftlichen Vertreter außerhalb der eigenen Grenzen, aber auch auf eigenem Boden für das Ausland präsentieren sollten. Inwieweit dienten diese Diskussionen, die vor dem Hintergrund der nationalsozialistischen Vergangenheit und der zeitgenössischen Systemkonkurrenz im Ost-West-Konflikt zu sehen sind, der Selbstvergewisserung? In welcher Weise prägte der Bezug auf das Ausland ein modernes Selbstverständnis? Eine Haltung der Zurückhaltung kennzeichnete die deutsche Kulturdiplomatie: Man denke nur an den Kniefall Willy Brandts 1970 in Warschau. Alle relevanten Bereiche Auswärtiger Repräsentationen werden behandelt: Kunst, Sport, Wirtschaft, amtliche Kulturpolitik und Staatsrepräsentationen. 2005. VI, 314 S. 14 S/w-Abb. Auf 12 TAf. br. 155 x 230 mm. ISbN 978-3-412-12005-4
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MICHAEL GEHLER
DEUTSCHL AND VON DER TEILUNG ZUR EINIGUNG 1945 BIS HEUTE
Michael Gehlers Buch bietet eine gut lesbare deutsche Nachkriegsgeschichte. Der Band bietet eine Gesamtbetrachtung der drei deutschen Republiken: der alten Bundesrepublik Deutschland (BRD) von 1949–1990, der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) sowie der Berliner Republik seit der Einigung Deutschlands. Dabei werden innen- und außenpolitische sowie gesellschaftsund wirtschaftsgeschichtliche Aspekte vergleichend behandelt. Der Autor betrachtet die beiden deutschen Staaten nicht von einem westlichen oder einem östlichen, sondern von einem Standpunkt „dazwischen“ und präsentiert in diesem Buch weder eine Erfolgs- und Siegergeschichte der BRD, noch eine Misserfolgs- und Verlierergeschichte der DDR. Es gab positive und negative Erscheinungen in beiden deutschen Staaten und weit mehr Gemeinsamkeiten in Mentalität und Struktur, die zwar die Teilung beförderten, letztlich aber auch zur Einigung führten. Auch der Position des neuen Deutschlands in Europa und der Welt wird in dem Buch ein großer Abschnitt gewidmet. 2010. 512 S. GB. 62 S/W-ABB., 28 GRAF. 170 X 240 MM. ISBN 978-3-205-78584-2
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