Minimalistische Poetik: Zur Ausdifferenzierung Des Aufbausystemenin Der Romanliteratur Der Frühen DDR 3897851229, 9783897851221

Das Hauptziel der Studie besteht in der literaturwissenschaftlichen Aufarbeitung eines für die DDR-Literatur grundlegend

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EINLEITUNG
1. Die Ausgangssituation
2. Aufriss der Arbeit
3. Zusammenfassung der Ziele und Teilziele
4. Forschungsstand – ein Überblick
I. SOWJETISCHE AUFBAUROMANE
1. Einführung in den sowjetischen Kontext
2. Der Kollektivierungsroman – Neuland unterm Pflug
a. Das Handlungsmuster
b. Das axiologische Muster
3. Der Industrialisierungsroman – Zement und Fern von Moskau
a. Fëdor Gladkov: Zement
b. Vasilij Ažev: Fern von Moskau
4. Merkmale des Aufbauromans und des Sozialistischen Realismus
5. Gegenprobe: Zur Faktographie von Sergej Tret'jakovs Feld-Herren
6. Zwischenbilanz
II. NARRATOLOGISCHE UND POETOLOGISCHE ANALYSEKATEGORIEN
1. Handlung als narratologische Kategorie
a. Vorüberlegungen
b. Adäquatheitsbedingungen
c. Geschichte, Handlung, Ereignis vs. Erzählung
d. Grundhandlung
2. Der Begriff der Episode
3. Kriterien zur Bestimmung der Episodenstruktur
4. Dichotomische Poetik-Konzeptionen
a. Vorüberlegungen
b. Verschiedene theoretische Ansätze
c. Das poetologische Grundgerüst
d. Beseitigung von Ambivalenz
e. Beeinträchtigung der Monovalenz
f. Literarizität und narrative Opazität
III. AUFBAUROMANE DER DDR
1. Traditionen des DDR-Aufbauromans
a. DDR-Aufbauroman und roter Massenroman der Weimarer Republik
b. Zur Rezeption der sowjetischen Aufbauromane in der DDR
c. Weitere Traditionen?
2. Korpus und Begriff des DDR-Aufbauromans
3. Analyseübersicht
IV. DAS AUFBAUSYSTEM
1. Variation durch Modifikation von bestehenden Subsystemen
a. Reduktion des Systems: Werner Reinowskis Der Kleine Kopf (1952)
b. Modifikation der Dominanz: Aufwertung des Subsystems individueller Probleme in Werner Reinowskis Diese Welt muß unser sein (1953) I
c. Interne Modifikation: Bekehrung als Subsystem ideologischer Probleme in Werner Reinowskis Diese Welt muß unser sein (1953) II
d. Dominanz des Aufbau-Subsystems: Maria Langners Stahl (1952)
e. Aufbau-Subsystem und Aufbauroman der sechziger Jahre: Bernhard Seegers Herbstrauch (1961) und Erich Köhlers Schatzsucher (1964)
f. Modifikation als durchschnittliches Variationsniveau der Aufbauromane
g. Eliminierung des Aufbau-Subsystems: Benno Voelkners Die Liebe der Gerda Hellstedt (1957)
2. Variation durch Kombination mit neuen Subsystemen
a. Intrasubsystemische vs. transsubsystemische Variation: Karl Mundstocks Helle Nächte (1952) und Benno Scholzes Das verlassene Erbe (1963) I
b. Kombination mit dem Subsystem Bildung: Eduard Claudius' Menschen an unserer Seite (1951)
c. Kombination mit den Subsystemen Bildung und Kindheit: Erwin Strittmatters Tinko (1954)
d. Kombination mit dem Subsystem Vergangenheit: Erwin Strittmatters Ole Bienkopp (1963) I
e. Kombination der Spielarten: Erik Neutschs Spur der Steine(1964) I
f. Die Grenze des Begriffs oder diesseits und jenseits des Aufbauromans: Anna Seghers' Die Entscheidung (1959) I
3. Variation des Systems durch Substitution von bestehenden Subsystemen
a. Substitution der Sabotagehandlung durch Generationenkonflikt: Herbert Nachbars Die Hochzeit von Länneken (1960)
b. Substitution der Sabotagehandlung durch psychologische Entwicklung: Joachim Knappes Mein namenloses Land (1965)
4. Variation durch Kombination mit einem neuen System
a. Ankunftsliteratur
b. Kombination mit dem Planer-und-Leiter/Karriere-System: Karl-Heinz Jakobs' Eine Pyramide für mich (1971) I
c. Kombination mit dem Planer-und-Leiter/Karriere-System: Karl-Heinz Jakobs' Eine Pyramide für mich (1971) II
5. Eine weitere Zwischenbilanz
V. DAS NORMENSYSTEM
1. Monovalenz und Ambivalenzbeseitigung im Normensystem: August Hilds Das Lied über dem Tal (1954)
2. Ambivalenz im Normensystem und Gegenwartskritik: Benno Scholzes Das verlassene Erbe (1963) II
3. Unaufgelöste Normenkonflikte: Erwin Strittmatters Ole Bienkopp (1963) II und Erik Neutschs Spur der Steine (1964) II
VI. DAS NARRATIVE SYSTEM
1. Episodizität des Massenromans: Anna Seghers' Die Entscheidung (1959) II und J. C. Schwarz' Sie blieb nicht allein (1955) sowie Ungewöhnliche Kirmes (1961)
2. Massenroman und Depersonalisierung: Ungewöhnliche Kirmes (1961) II
3. Erzählinstanz und Erzählweise
a. Normenvermittlung: Margarete Neumanns Der Weg über den Acker (1955) u. a.
b. Ironie, Parodie und Humor: J. C. Schwarz u. a.
VII. DIE POETIK DES AUFBAUROMANS
1. Stalinismus und Moderne
2. Minimalistische Poetik
DANK
LITERATURVERZEICHNIS
Archivquellen
Primärliteratur
Sekundärliteratur
ABKÜRZUNGEN
REGISTER
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Minimalistische Poetik: Zur Ausdifferenzierung Des Aufbausystemenin Der Romanliteratur Der Frühen DDR
 3897851229, 9783897851221

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Aumiiller . Minimalistische Poetik

EXPLICATIO Analytische Studien zur Literatur und Literaturwissenschaft Herausgegeben von Gottfried Gabriel und Riidiger Zymner Begriindet von Harald Fricke und Gottfried Gabriel

Matthias Aumiiller

Minitnalistische Poetik Zur Ausdifferenzierung des Aufbausystems in der Romanliteratur der friihen DDR

.

mentIs MONSTER

Gedruckt mit freundlicher Unterstiitzung der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung fiir Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein.

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Inhal tsverzeichnis

EINLEITUNG ••..•••••.•••.•.••..•••••••••••••..•••..••••

1. 2. 3. 4.

1.

Die Ausgangssituation .............................. Aufriss der Arbeit ................................. Zusammenfassung der Zie1e und Teilzie1e ............... Forschungsstand - ein Dberblick .....................

SOWJETISCHE AUFBAUROMANE

•.•••••••••••••..••••.••••

1. Einfiihrung in den sowjetischen Kontext ............... 2. Der Kollektivierungsroman - Neuland unterm Pflug ...... a. Das Handlungsmuster ........................... b. Das axiologische Muster ......................... 3. Der Industrialisierungsroman - Zement und Fern von Moskau ......................................... a. Fedor Gladkov: Zement .......................... b. Vasilij Ahev: Fern von Moskau .................... 4. Merkmale des Aufbauromans und des Sozialistischen Realismus ....................................... 5. Gegenprobe: Zur Faktographie von Sergej Tret'jakovs Feld-Herren ..................................... 6. Zwischenbilanz ...................................

n.

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NARRATOLOGISCHE UND POETOLOGISCHE ANALYSEKATEGORIEN

•••••••••••••••••••••••••••••••••

1. Handlung als narratologische Kategorie ................

a. Voriiberlegungen ............................... b. Adaquatheitsbedingungen ........................ c. Geschichte, Handlung, Ereignis vs. Erzahlung ........ d. Grundhandlung ................................ 2. Der Begriff der Episode ............................ 3. Kriterien zur Bestimmung der Episodenstruktur ......... 4. Dichotomische Poetik-Konzeptionen .................. a. Voriiberlegungen ............................... b. Verschiedene theoretische Ansatze ................. c. Das poetologische Grundgeriist .................... d. Beseitigung von Ambivalenz ...................... e. Beeintrachtigung der Monovalenz .................. f. Literarizitat und narrative Opazitat .............. :..

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Inhaltsverzeichnis

Ill. AUFBAUROMANE DER DDR ............................. 1. Traditionen des DDR-Aufbauromans .................. a. DDR-Aufbauroman und roter Massenroman der Weimarer Republik ............................. b. Zur Rezeption der sowjetischen Aufbauromane in der DDR ........................................ c. Weitere Traditionen? ............................ 2. Korpus und Begriff des DDR-Aufbauromans ............ 3. Analyseiibersicht ..................................

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IV.

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DAS AUFBAUSYSTEM ................................... 1. Variation durch Modifikation von bestehenden Subsystemen ..................................... a. Reduktion des Systems: Werner Reinowskis Der Kleine Kopf (1952) .............................. b. Modifikation der Dominanz: Aufwertung des Subsystems individueller Probleme in Werner Reinowskis Diese Welt mufi unser sein (1953) I ........ c. Interne Modifikation: Bekehrung als Subsystem ideologischer Probleme in Werner Reinowskis Diese Welt mufi unser sein (1953) 11 ...................... d. Dominanz des Aufbau-Subsystems: Maria Langners Stahl (1952) ................................... e. Aufbau-Subsystem und Aufbauroman der sechziger Jahre: Bernhard Seegers Herbstrauch (1961) und Erich Kohlers Schatzsucher (1964) ...................... f. Modifikation als durchschnittliches Variationsniveau der Aufbauromane .............................. g. Eliminierung des Aufbau-Subsystems: Benno Voelkners Die Liebe der Gerda Hellstedt (1957) ....... 2. Variation durch Kombination mit neuen Subsystemen ..... a. Intrasubsystemische vs. transsubsystemische Variation: Karl Mundstocks Helle Nachte (1952) und Benno Scholzes Das verlassene Erbe (1963) I .......... b. Kombination mit dem Subsystem Bildung: Eduard Claudius' Menschen an unserer Seite (1951) ........... c. Kombination mit den Subsystemen Bildung und Kindheit: Erwin Strittmatters Tinko (1954) ........... d. Kombination mit dem Subsystem Vergangenheit: Erwin Strittmatters ale Bienkopp (1963) I ............ e. Kombination der Spielarten: Erik Neutschs Spur der Steine(1964)I .................................

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Inhaltsverzeichnis f. Die Grenze des Begriffs od er diesseits und jenseits des Aufbauromans: Anna Seghers' Die Entscheidung (1959) 1 ...................................... 3. Variation des Systems durch Substitution von bestehenden Subsystemen ........................... a. Substitution der Sabotagehandlung durch Generationenkonflikt: Herbert Nachbars Die Hochzeit von Lanneken (1960) .................... b. Substitution der Sabotagehandlung durch psychologische Entwicklung: Joachim Knappes Mein namenloses Land (1965) .......................... 4. Variation durch Kombination mit einem neuen System ..... a. Ankunftsliteratur ............................... b. Kombination mit dem Planer-und-Leiter/KarriereSystem: Karl-Heinz Jakobs' Eine Pyramide fur mich (1971)1 ...................................... c. Kombination mit dem Planer-und-Leiter/KarriereSystem: Karl-Heinz Jakobs' Eine Pyramide fur mich (1971) II ...................................... 5. Eine weitere Zwischenbilanz .........................

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V.

293 1. Monovalenz und Ambivalenzbeseitigung im Normensystem: August Hilds Das Lied uber dem Tal (1954) .......................................... 294 2. Ambivalenz im Normensystem und Gegenwartskritik: Benno Scholzes Das verlassene Erbe (1963) 11 ............ 298 3. Unaufge10ste Normenkonflikte: Erwin Strittmatters ale Bienkopp (1963) 11 und Erik Neutschs Spur der Steine (1964)11 ........................................ 306

VI.

DAS NARRATIVE SYSTEM •••••••••••••••.••••••••••••••••

DAS NORMENSYSTEM •..•••••••••.••••••••••••.••••.•••

1. Episodizitat des Massenromans: Anna Seghers' Die Entscheidung (1959) 11 und J. C. Schwarz' Sie blieb nicht allein (1955) sowie Ungewohnliche Kirmes (1961) ......... 2. Massenroman und Depersonalisierung: Ungewohnliche Kirmes (1961) 11 .................................. 3. Erzahlinstanz und Erzahlweise ....................... a. N ormenvermittlung: Margarete N eumanns Der Weg uber den Acker (1955) u. a. ........................ b. Ironie, Parodie und Humor: J. C. Schwarz u. a. ........

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Inhaltsverzeichnis

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VII.

••••••••.•••••..••••.••• 349 1. Stalinismus und Moderne ........................... 349 2. Minimalistische Poetik ............................. 356 DIE POETIK DES AUFBAUROMANS

DANK

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• • • • . . • • . • • . . • . . • . • • . • • • • • . • . . • • • • . 365 Archivquellen ....................................... 365 Primarliteratur ...................................... 365 Sekundarliteratur .................................... 367

LITERATURVERZEICHNIS

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ABKURZUNGEN REGISTER

Einleitung

Der literarische Gegenstand dies er Untersuchung sind Romane, die in der friihen DDR entstanden sind und vom Aufbau von Industrieanlagen und genossenschaftlichen Strukturen in der Landwirtschaft handeln. Man nennt sie deshalb zutreffend »Aufbauromane«. Sie tragen bezeichnende Titel wie Stahl oder Diese Welt mufl unser sein. Roman einer Produktionsgenossenschaft, aber auch weniger bezeichnende Titel wie Helle Nachte oder Der Kleine Kopf Ihre Autoren sind fast alle verges sen. Dber die Werke ist in Literaturgeschichten kaum etwas zu erfahren. Dennoch haben diese Romane ihren festen Platz in der deutschen Nachkriegsliteratur. Betrachtet man die literarhistorischen Darstellungen selbst als narrative Gebilde, so haben die Aufbauromane darin die Funktion eines Antagonisten. So schematisch, wie sie selbst nach vielfach geteilter Meinung sind, so schematisch Wit auch die Rollenzuweisung aus. Immerhin, sie sollen der Nachkriegsliteratur zu einer neuen Thematik verholfen haben, aber sonst stellen sie eine Art von Literatur dar, die iiberwunden werden musste. Aufbauromane gehoren dieser Einschatzung gemaB zu der Sorte von Literatur, deren Literarizitat in Frage steht, wenn nicht gar zu leugnen ist. Da die Aufbauromane fiir literarisch uninteressant gehalten werden, untersucht man ihre literarischen Eigenschaften nicht, sondern hochstens ihre Funktion in den literaturpolitischen und -theoretischen Debatten der DDR. Diese empirische Hypothese iiber das VerhaIten von Literaturwissenschaftlern delegitimiert jedoch nicht Vorhaben und Perspektive der vorliegenden Untersuchung: eben die Aufbauromane als literarische Artefakte zu untersuchen. Die Losung dieser Aufgabe gibt nicht nur Aufschluss iiber einen schlecht ausgeleuchteten Bereich der deutschen Literaturgeschichte im 20. Jahrhundert, sondern bringt auch weitere Erkenntnisse mit sich, die iiber die Aufbauromane hinaus von allgemeinem Interesse sind: Erkenntnisse iiber den literarhistorischen Zusammenhang, in dem die Aufbauromane stehen, und iiber die Poetik von literarischen Werken, die sich auBerhalb des (derzeitigen) Kanons von Literaturwissenschaft und Literaturkritik befinden.

10

Einleitung

1. Die Ausgangssituation Fur vie1e beginnt die eigentliche, d. h.literarisch ernst zu nehmende DDR-Literatur erst nach 1960 - dies gilt sowohl fur die DDR-Literaturwissenschaft als auch fur die west- und gesamtdeutsche Literaturwissenschaft. 1 Die offizielle Geschichte der Literatur der Deutschen Demokratischen Republik (1976) unterteilt die Entwicklung der Literatur der DDR seit 1949 in zwei groBe Etappen: Mit Bezug auf die Literatur von »1949 bis Anfang der sechziger Jahre« ist von der »Herausbildung der sozialistischen Nationalliteratur der Deutschen Demokratischen Republik« die Rede (Haase et al. 1976,10), wahrend die Zeit danach als das Jahrzehnt der »EntJaltung der sozialistischen Nationalliteratur der Deutschen Demokratischen Republik« bezeichnet wird (ebd., 14).2 Diese Grenze in den friihen sechziger Jahren strukturiert die gesamte Darstellung der literarischen Entwicklung in der DDR und teilt sie in zwei groBe Kapitel. Schon am Inhaltsverzeichnis wie auch am terminologischen Unterschied zwischen »Herausbildung« und »Entfaltung« ist abzulesen, dass die DDR-Literatur der funfziger Jahre nicht nur in einem offenbar bedeutenden MaBe anders sein muss als die spatere Literatur, sondern auch weniger hoch entwicke1t. Fur diese Periodisierung (und die damit einhergehende Charakterisierung und Evaluierung) gibt es eine Reihe von Griinden. Ein erster Grund ist, dass literarische Werke aus der DDR plotzlich viel mehr Leser als friiher erreichten - innerhalb der DDR, aber auch auBerhalb. Aus diesem Umstand wurde schon von den Zeitgenossen auf eine qualitative Veranderung der literarischen Produktion geschlossen (vgl. Eva Strittmatter 1962). Ein anderer Grund ist sicherlich darin zu sehen, dass inzwischen eine Generation von sowohl Autoren als auch Lesern herangewachsen war, in deren Identitat die DDR mit ihren Eigenheiten ein konstitutiver Bestandteil war. Autoren schrieben nicht mehr an ihren Lesern vorbei wie in den fiinfziger Jahren, als die meisten verlegten Schriftsteller noch zur Partei-Avantgarde mit Exil- oder Widerstandserfahrung zahlten und mit dem Gros ihrer potentiellen Leser wenig gemeinsam hatten. Ein weiterer Grund ist schlieBlich, dass die junge DDR-Literatur auch im westlichen Nachbarstaat verstarkt zur Kenntnis genommen wurde - und 1

2

Vg!. exemplarisch mit Bezug auf die Industrieliteratur Zimmermann (1984, 39), wo der »tiefgreifenclste Perspektivenwechsel Mitte der 60er Jahre« im "Ubergang von cler Arbeiterliteratur zur Planer-und-Leiter-Literatur« verortet wird. Auf verschiedene Periodisierungsmoglichkeiten weist Emmerich (1998, 157f.) hin. Hervorhebungen im Original wie hier werden als solche in Zitaten beibehalten, aber nicht eigens annotiert.

1. Die Ausgangssituation

11

dort partiell sogar Anerkennung fand (vgl. Peitsch 2009, 35). Wenn auch die ostlichen und westlichen Einschatzungen einze1ner Werke se1ten einmiitig waren, so erklart diese Beobachtung immerhin, dass der von der DDR-Literaturwissenschaft vorgenommene Schnitt in der ersten Halfte der sechziger Jahre von der bundesdeutschen Seite im Prinzip akzeptiert wurde - allerdings eben aus jeweils anderen Griinden. Ganz grob gesagt, sind es wohl zwei Dinge, die den Schnitt in den sechziger Jahren rechtfertigen: Die Werke der DDR-Literatur wurden in literarischer Hinsicht flexibler, und das bedeutete, dass sie sich in der Handhabung literarischer Mittel der westlichen Literatur vorsichtig annaherte; die Werke der DDR-Literatur wurden auch in normativer Hinsicht flexibler, und das hieB wenigstens manchmal: unbestimmter. Diese Eigenschaften machten die Literatur insgesamt attraktiver, und sie wurde zu einem Ort, an dem Dinge, wenigstens indirekt, offentlich verhande1t werden konnten, die in anderen Bereichen der 6ffentlichkeit noch starker tabuisiert waren. Daher ist der ideologische Diskurs in vie1en Werken aus dieser Zeit konstitutiv fiir sie was wiederum die Rede von einer eigenstandigen sozialistischen Nationalliteratur doch rechtfertigt. Aus diesen Griinden scheint also die DDR-Literatur im »eigentlichen« Sinne nicht bei der Staatengriindung zu beginnen, sondern mit Autoren und Autorinnen wie Christa Wolf. Entsprechend beschaftigt sich die Literaturwissenschaft, nicht nur die west- und gesamtdeutsche Literaturwissenschaft, sondern auch schon die Literaturwissenschaft der DDR vorzugsweise mit der Literatur seit den sechziger Jahren. 'Ober die Literatur der fiinfziger Jahre ist hingegen relativ wenig zu erfahren. Die literarhistorische Frage nach Kontinuitat und Diskontinuitat zwischen der Literatur der fiinfziger und der Literatur der sechziger Jahre wird in iibergreifenden historiographischen Darstellungen der DDR-Literatur daher, wenn sie iiberhaupt gestellt wird, eher pauschalisierend beantwortet. In der DDR hatte sich die Rede von Aufbau- und Ankunftsliteratur herausgebildet, die den qualitativen Unterschied zwischen (Teilen) friiherer und spaterer Literatur festschrieb und inhaltlich kennzeichnen soUte. Dem gegeniiber stehen Einschatzungen wie die von Wolfgang Emmerich, der zwar die Ausdriicke iibernimmt, aber die damit bezeichneten Phanomene anders bewertet und in der Ankunftsliteratur no ch stalinistische Rudimente erkennt; denn sie sei »von einem krassen Schematismus der Fabe1konstruktion, der He1denwahl und der Personendarstellung gepragt, der in seiner Konventionalitat dem geschlossenen, naiven We1tbild der Autoren entspricht: Schulbeispiel ge1enkter Asthetik« (Emmerich 2008, 530). Hier zeigt sich, dass westdeutsche Literaturwissenschaftler den Schnitt in den sechziger Jahren anders (und meist etwas spater) ansetzen als die ostdeutschen. Doch eint

12

Einleitung

beide Gruppen die weitgehende Geringschatzung der so genannten Aufbauliteratur. 3 Seit der zeitgenossischen Literaturkritik unterliegen die Aufbauromane dem Verdikt eines unterschiedslosen »Schematismus«, wie nicht zuletzt das Zitat von.Emmerich bezeugt. Kaum eine literaturwissenschaftliche Einschatzung wird so einvernehmlich sein wie diese. Die Eigenschaft, schematisch zu sein, wird zugleich als Grund fUr die asthetische Minderwertigkeit der Aufbauromane genannt. Die folgende Bewertung mag reprasentativ fiir viele sem: Die so genannten »Aufbau- und Ankunftsliteraten« der Anfangszeit unterwarfen sich willig den parteilichen Zielsetzungen. [ ... ] Ihre Biicher folgten allesamt dem gleichen Romanschema, demzufolge ein positiver Held nach mannigfachen Konflikten und Schwierigkeiten gliicklich im Sozialismus ankommt. Nimmt man noch die allseits zu beobachtende Ablehnung sprachinnovativer Verfahren und gestalterischer Experimente hinzu, steigern sich die asthetischen Defizite zum Riickfall in langst iiberholte Erzahlformen und damit zu systematischer Regression. (Buck 2002, 15) Theo Buck schert hi er so unterschiedliche Autoren wie Seghers, Marchwitza, Bredel, Gotsche, Strittmatter, NolI, Reimann und Fiihmann iiber einen Kamm. Schon das ist mehr als fragwiirdig. Sie alIe seien demselben Schema gefolgt. Diese Behauptung ist so pauschal, wie sie unangemessen ist. Nicht nur wird bezeichnenderweise das Schema selbst nicht zureichend beschriebenj es folgen diesem Schema auch nur einige der genannten Autoren in einigen ihrer Werke. Zudem wird der Unterschied zwischen Aufbau- und Ankunftsroman nivelIiert. 4 Davon abgesehen, ist bei niichterner Betrachtung entscheidend erstens, dass selbst jene Werke, die man wie die Aufbauromane einem einzigen Schema zuordnen konnte, beileibe nicht nur demselben Schema gefolgt sind. Nicht alIe Werke, vor alIem nicht die spateren Werke lassen sich auf das Schema reduzieren, das ich spater als Aufbausystem einfiihren werde. U nd zweitens ist fiir Buck die Orientierung an einem Schema selbstverstandlich gleichbedeutend mit einem schweren »asthetischen Defizit«. Die Reduktion auf ein bestimmtes Schema und die damit verkniipfte asthetische Deklassierung sind die Griinde, warum Aufbauromane ein Schat3

4

Selbstverstandlich wird dies ganz unterschiedlich ausgedriickt. Die Formulierungen reichen von hohnischer Ablehnung - »Die Aufbau-Romane aus dem landwirtschaftlichen Bereich scheiterten so kraB, daB es von niemandem ernsthaft bestritten wurde. [ ... ] Etwas besser schnitten die Industrie-Romane ab« (Sander 1972, 119); vg!. dazu: »[Sanders] Schelte ist so pauschal und schematisch wie das Gescholtene« (Hillmann 1983, 497, Anm. 1) - bis zur Charakterisierung der Aufbauliteratur als iiberwundene, aber notwendige Stufe der literarischen Entwicklung in der offiziellen DDR-Literaturgeschichte. Auch der Satz iiber fehlende Innovationen ist unbedacht; s. u. Kap. HA.

2. Aufriss cler Arbeit

13

tenclasein fiihren. Trotzdem haben sie ihren festen Platz in der Geschichtsschreibung der deutschen Literatur nach 1945. Die Frage lautet: Wie kommt das? Liegt es nur an ihrer sozialistischen Orientierung? Man kann sich mit der Antwort begniigen, der zufolge die Romane als politische Auftragsarbeiten angesehen und damit zu den Akten gelegt werden. Diese Antwort ist sicherlich nicht falsch. Die Romane waren in der Tat Auftragsarbeiten. 5 Die erwahnte Konsequenz, dass man die Werke in dies em Fall auf sich beruhen lassen miisse, folgt daraus aber nicht.

2. Aufriss der Arbeit So stellt sich die Ausgangssituation der vorliegenden Untersuchung von DDR-Aufbauromanen dar. Die dazugehorige Ausgangsfrage lautet: Welche Gemeinsamkeiten und Unterschiede zeichnen die Aufbauromane aus? Der Versuch, darauf eine Antwort zu geben, bedingt den textanalytischen Fokus dies er Arbeit. Da die Romane einen bedeutenden Anteil an der Aufbauliteratur haben und der Roman iiberdies als Leitgattung des Sozialistischen Realismus angesehen werden kann (vgl. Lauer 2000,696), konzentriert si ch die Untersuchung ausschliemich auf diese Gattung. Diesen Fokus erweitert die Frage nach dem Unterschied zwischen Aufbau- und Ankunftsliteratur in der DDR, grob gesagt, zwischen Romanen der fiinfziger und Romanen der friihen sechziger Jahre. Die erwahnte Geringschatzung der Aufbauliteratur bzw. -romane bedingt die weitgehende Nichtbeachtung auf beiden Seiten der Literaturwissenschaft, der ostlichen wie der westlichen, und diese Nichtbeachtung wiederum bedingt den mange1haften Kenntnisstand iiber das Verhaltnis von Aufbauromanen der fiinfziger Jahre zur Romanproduktion der sechziger Jahre in der DDR. Daher werden in die Analyse auch bekanntere Romane wie Erwin Strittmatters Die Bienkopp (1963) und Erik Neutschs Spur der Steine (1964) sowie Romane von Karl-Heinz J akobs mit Blick auf die Frage nach Kontinuitat und Diskontinuitat zu den friiheren Romanen einbezogen. Wer sich iiber die friihe DDR-Literatur orientieren mochte, wird die Erfahrung machen, dass den literaturgeschichtlichen Untersuchungen, die der Anfangszeit der DDR-Romanliteratur gelten, meist nur ein einziger RomanEduard Claudius' Menschen an unserer Seite (1951) - zugrunde liegt. Ehe also das Verhaltnis der Aufbauromane zum Romanschaffen der sechziger Jahre untersucht werden konnte, musste das Korpus zusammengestellt werden.

5

Zu den Hintergriinden vg!. neben den einschlagigen historiographischen Darstellungen die auf die fiinfziger Jahre konzentrierten Beitrage Wolff 1975 und Bock 1980.

14

Einleitung

Dieses Ziel wiederum setzte voraus, den Begriff des Aufbauromans genauer zu bestimmen. Zu diesem Zweck habe ich Ergebnisse der Slavistik als Ausgangsbasis herangezogen, nicht nur weil die sowjetische Romanpoetik viel besser erforscht ist als die Poetik des friihen DDR-Romans, sondern auch weil die friihe DDR-Literatur selbst wohl nur mit Riicksicht auf die sowjetische Literatur adaquat erfasst werden kann. 6 Daher beginnt diese Untersuchung mit einem Kapitel, in dem exemplarisch zwei Varianten des sowjetischen Aufbauromans vorgestellt und einige Forschungsfragen aufgegriffen und diskutiert werden. Die beiden Varianten des Aufbauromans sind der Industrialisierungs- und der Kollektivierungsroman, auf deren begriffliche Differenzierung ich spater eingehe. Aus den Ergebnissen abstrahiere ich im zweiten Kapitel ein idealtypisches Modell des Aufbauromans, das den MaBstab fiir die Untersuchung der DDR-Aufbauromane abgeben wird. Dieses Modell nenne ich das Aufbausystem. Hinter dies er terminologischen Entscheidung steht der Wunsch nach Neutralitat im Hinblick auf die asthetische Wertung. »Schema«, »Schablone« und andere Ausdriicke, die anstelle von »System« in Frage kommen, werden von Zeitgenossen zur asthetischen Diffamierung der Texte gebraucht oder sind - wie der Begriff des Schemas in der kognitivistisch orientierten Literaturwissenschaft - mittlerweile in einen Bedeutungskontext iibergesiedelt, der in einer Untersuchung, die primar textanalytische Ziele verfolgt, zu Missverstandnissen fiihren konnte. In Erganzung dazu bietet das zweite Kapitel sowohl eine Erorterung der Frage nach dem poetologischen Programm, das den Aufbauromanen (und anderen vergleichbaren Korpora) eigentiimlich ist, als auch eine Dberlegung zu einem Aspekt, den viele fur ein narratives Charakteristikum dies er Romane halten. Dieses Charakteristikum besteht darin, dass nicht die narrative Vermittlung, sondern die Handlung im Vordergrund steht, m. a. W., nicht das Wie, sondern das Was. Zur Untersuchung dieses Charakteristikums bediene ich mich des Begriffs der Episode, der nicht nur dazu geeignet ist, Aspekte der Erzahlliteratur zu erfassen, die nicht so sehr die »Erzahlung von Worten« als die »Erzahlung von Ereignissen« (vg!' Genette 1972) betreffen, sondern auch dazu, die Was-Frage in eine Wie-Frage zu transformieren. Die Feststellung, dass sozialistisch-realistische Romane und mit ihnen als ihre prototypischen Vertreter die Aufbauromane handlungszentriert sind, 6

Dass zwischen sowjetischer Literatur und den Literaturen der »sozialistischen Bruderstaaten«

ein enger Zusammenhang besteht, ist wohl unbestritten. Auger entsprechenden Behauptungen und wenigen Einzelfallstudien wurde aber meines Wissens no ch nicht systematisch untersucht, wie dieser Zusammenhang beschaffen ist. Mozejko (1977) gibt eine kenntnisreiche, aber summierende Darstellung des Sozialistischen Realismus in der europiiischen Literatur.

2. Aufriss cler Arbeit

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tragt sicher zu ihrer asthetischen Deklassierung bei, obwohl dies nicht der alleinige Grund ist. In der Erorterung des poetologischen Programms der Aufbauromane gehe ich der Frage nach, ob und inwiefern mit Bezug auf die Aufbauromane und verwandte Werkgruppen von einer eigenen Poetik gesprochen werden kann. N eben der Handlungsfiille seien ihr oben bereits erwahnter Schematismus und, im Vorgriff auf das H. Kapitel, ihre Monovalenz und Transparenz genannt. Aus dies en Aspekten scheint sich die asthetische Deklassierung in gewisser Weise von selbst zu ergeben. Dieser Umstand verbietet aber nicht, die betreffenden Eigenschaften zunachst als Elemente eines speziellen literarischen Programms, einer Poetik, anzusprechen, unabhangig davon, ob diese Eigenschaften asthetisch wertvoll sind. In der vorliegenden Arbeit mochte ich zwischen dies en zwei Zuschreibungen (neutralen wie Schematizitat - d. i. System-Monodominanz - und normativen wie asthetischer Mangel) unterscheiden. Mein Ziel ist es, den Zusammenhang zwischen Schematizitat/System-Monodominanz und asthetischer Minderwertigkeit aufzubrechen. Darum werde ich zunachst dafiir argumentieren, dass dichotomische poetologische Konzeptionen, die zwei Poetiken einander mit dem Zweck gegenuberstellen, gute, anspruchsvolle Literatur der einen und schlechte, triviale Literatur der anderen zuzuschlagen, zu Widerspriichen fuhren, sofern ihr U nterschied auf Konzepten wie Abweichung, Innovation etc. griindet, da diese mit Bezug auf Literatur keine klassifikatorischen, sondern komparative Begriffe sind. Daraus folgt erstens, dass Begriffe wie Abweichung (die prima vista zur Erfassung von konventionalisierter Literatur ungeeignet erscheineIJ.) fur die Beschreibung von Aufbauromanen nicht ungeeignet sind, und zweitens, dass die Annahme einer eigenen Poetik, die fur Aufbauromane und verwandte Werkgruppen zustandig ist, anclers begriindet werden muss. Die Ablehnung, die die Aufbauromane erfahren, resultiert meiner Ansicht nach aus der Kombination von einer ihnen unterstellten Verpflichtung auf eine Imitationspoetik einerseits und schlichter Unkenntnis andererseits. Tatsachlich ist die Vielfalt erheblich groBer, als man gemeinhin denkt. Vor all em aber wird missachtet, dass man ihnen nicht gerechtfertigterweise fehlende Innovation oder Abweichung unterstellen kann, wenn man gar nicht deutlich macht, wovon sie denn nicht abweichen. Fur eine angemessene Beschreibung und, darauf aufbauend, fur eine Wurdigung (sei diese literaturgeschichtlich oder sei sie asthetisch motiviert) ist also die Etablierung eines Bezugsrahmens - das Aufbausystem - unabdingbare Voraussetzung. Damit ist die Frage, ob die Aufbauromane asthetisch wertvoll sind oder nicht, noch nicht beantwortet. Das ist auch nicht das Anliegen dies er Arbeit. Die Frage, auf die die vorliegende Studie eine Antwort geben will, ist die Frage nach der literarischen Eigenart cler Aufbauromane uncl clanach, wie sich diese Eigenart im Vergleich mit anderen Werken erfassen lasst.

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Einleitung

Die Antwort spare ich mir fUr das siebte Kapitel auf. Hier sei nur so viel gesagt: Da das Charakteristikum dieser Werke darin besteht, dass ihre jeweiligen Eigentiimlichkeiten erst durch Kenntnis des Systems sichtbar werden und in Details bestehen, die ohne diese Kenntnis iibersehen werden, nenne ich diese Poetik minimalistisch. »Minimalistisch« scheint mir auch aus einem weiteren Grund ein passender Ausdruck zu sein: Jedes literarische Werk Hisst sich in dieser Weise (als auf ein bestimmtes System bezogen) charakterisieren, ab er nicht jedes Hisst sich hinreichend in dieser Weise charakterisieren; Aufbauromane indes sind damit hinreichend charakterisiert. Wichtig ist mir die These, dass die sozialistisch-realistische Romanliteratur mit den Aufbauromanen nicht nur literarasthetisch wertlose Produkte von notorischen Stiimpern hervorgebracht hat, sondern ein letztlich halbherziger und daher verungliickter Versuch war, eine Alternative zur sog. biirgerlichen Poetik zu finden. Dies werde ich anhand einer Diskussion der Frage nach Reportage und Gestaltung im dritten Kapite1 aufzeigen, die die proletarischrevolutionaren Schriftsteller in den 30er Jahren bewegte und die no ch in den Romanen der SOer Jahre ein gewisses Echo hatte. Gerade den am hartesten verurteilten Werken ist am ehesten ihr Zusammenhang zu einer ehemals progressiven Literaturauffassung anzusehen. Diese Auffassung widersprach allerdings nicht nur der Spie1art des Sozialistischen Realismus, zu der dies er sich im Spatstalinismus weiterentwickelt hatte, sondern auch den westlichen Vorstellungen progressiver Literatur. Es erwies sich, dass die Kritik, der die Aufbauromane in der DDR ausgesetzt waren, teils den sowjetischen Vorgaben gehorchte, teils aber (paradoxerweise) auf MaBstaben beruhte, die auch fiir die westliche Literaturkritik galten. Aufbauromane konnten daher weder der sozialistischen no ch der nicht-sozialistischen Literaturkritik standhalten. Das dritte Kapitel bringt auBerdem einige Be1ege dafiir, dass die sowjetischen Romane nicht nur politisch dekretierte Vorbilder, sondern auch von den Autoren akzeptierte Vorbilder waren, und leitet mit einer Explikation des Begriffs des Aufbauromans und der Prasentation des Korpus iiber zum zentralen vierten Kapite1, in dem ich das DDR-Aufbausystem und seine Ausdifferenzierung anhand verschiedener Aufbauromane vorstelle und analysiere. Das Kapitel stiitzt sich auf die zuvor etablierte Systematik, der zufolge das Aufbausystem aus vier Subsystemen besteht, die sich in vier typischen Handlungslinien bzw. Episodenfolgen erkennen lassen: das organisatorische Subsystem der eigentlichen Aufbauhandlung, das individuelle Subsystem, das iiblicherweise in einer Liebeshandlung realisiert wird, das existentielle Subsystem, das sich in einer Konfrontations- bzw. Sabotagehandlung zeigt, und das ideologische Subsystem, das aus einer Agitationshandlung besteht. Die jeweiligen Unterkapite1 ergeben sich aus den verschiedenen Kombinationsmoglichkeiten: Das Aufbausystem kann weitere Subsysteme in sich

3. Zusammenfassung der Ziele und Teilziele

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aufnehmen, aber auch ein altes durch ein neues Subsystem ersetzen oder schlieBlich mit einem ganz anderen System kombiniert werden. Dabei gehe ich ausfuhrlich auf Romane ein, die meiner Ansicht nach von der DDR-Literaturwissenschaft zu Unrecht der Reihe der Landliteratur zugeschlagen werden. Die Analyse wird zeigen, dass der U mstand, dass die Romanhandlungen nicht auf einem Fabrikgelande, sondern in einem Dorf angesiedelt sind, ihren Charakter nicht verandert. Das Aufbausystem ist fUr die Aufbauromane spezifisch und macht sie als Werkgruppe, als spezielles Korpus oder Textsorte identifizierbar (zum BegriH der Textsorte vgl. Fricke 1981, 132 H.). Als Werke der Erzahlliteratur haben sie aber auch Anteil an anderen System en. Mir erscheinen das N ormensystem und das narrative System besonders einschlagig. Daher widme ich diesen Bereichen das funfte und das sechste Kapitel. Dabei interessieren mich vor all em die ideologischen und narrativen Abweichungen von den durch das Korpus etablierten »Quasi-Normen« (Fricke 1981, 163), wie sie sich vor all em in manchen Romanen der 60er Jahre entdecken lassen. Diese Romane bleiben dem Aufbausystem selbst erstaunlich treu und k6nnen deshalb auch als Aufbauromane klassifiziert werden. Da sie sich in normativer Hinsicht von den Aufbauromanen der SOer Jahre erheblich unterscheiden, hat man sie lange nicht den Aufbauromanen zugeschlagen. Analoges gilt fur das narrative System. Mit dem siebten Kapitel, in dem ich die Ergebnisse im Hinblick auf die minimalistische Poetik zusammenfasse, schlie6t diese Untersuchung.

3. Zusammenfassung der Ziele und Teilziele Das allgemeine Ziel dies er Untersuchung besteht in einer systematischen Erschlie6ung der DDR-Aufbauromane vor dem Hintergrund sowjetischer Vorbildromane. Die Ergebnisse geben Aufschluss hinsichtlich weiterer Fragen, die mit den Aufbauromanen verknupft und einzelnen Bereichen der Literaturwissenschaft zuzuordnen sind. Das erwahnte Hauptziel kann entsprechend auf mehrere Teilziele bezogen werden, die sich jeweils als einzelne Thesen folgenderma6en kennzeichnen und zusammenfassen lassen: Literarhistorisches Teilziel: Kontinuitiit und Diskontinuitiit der Aufbauromane Durch eine systematische Untersuchung der Aufbauromane lassen sich Bezuge zu fruheren und spiiteren Werkgruppen herstellen. Mit Bezug auf fruhere Literatur lautet meine erste These (partiell unter RuckgriH auf Sekundiirliteratur), dass viele DDR-Aufbauromane Eigenschaften aufweisen, die

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Einleitung

sie mit progressiven Werken aus der Zeit der Weimarer Republik teilen, zugleich aber die Romanform unter dem Druck des Sozialistischen Realismus beibehalten. In der DDR erfolgreicher waren jene Romane, die konsequenter am traditionellen Erzahlen festhalten, wahrend diejenigen, die Ansatze modernen Erzahlens aufweisen, iiberhaupt keine Anerkennung fanden. Das lag daran, dass diese Eigenschaften nicht als literarische Verfahren gewiirdigt, sondern ausschlieBlich als Ausdruck literarischen Unvermogens aufgefasst wurden. Ich mochte hingegen zeigen, dass gerade die fiir literarisch unzumutbar gehaltenen Aufbauromane nicht nur einem traditionalistischen, sondern teilweise auch einem modernistischen Literaturkonzept verpflichtet sind. Zu beachten ist, dass damit nicht die Behauptung verkniipft ist, die Aufbauromane seien durchgangig bislang verkannte moderne Literatur. Stattdessen handelt es sich urn einzelne Ziige, die nicht anders als im literaturgeschichtlichen Sinne modern eingestuft werden miissen, wenn man sie nicht bloB als literarische Mangel abqualifizieren will. (Beide Zuschreibungen schlieBen iibrigens einander nicht aUSj sie sind Resultate unterschiedlicher Fragestellungen.) Mit Bezug auf die nachfolgende Literatur lasst sich dariiber hinaus zeigen, dass auch in den sechziger Jahren noch reine Aufbauromane verfasst wurden und dass die in der DDR auf lange Sicht meist geriihmten Werke wie z. B. Erwin Strittmatters Ole Bienkopp (1963) ebenfalls eng am Aufbausystem festhalten und Abweichendes vor allem in normativer Hinsicht zur Geltung bringen. Spezielles poetologisches Teilziel: Eigentiimlichkeit der Aufbauromane Urn iiberhaupt etwas iiber Kontinuitat und Diskontinuitat der Aufbauromane sagen zu konnen, muss man feststellen, was sie als Werkgruppe ausmacht. Im Mittelpunkt stehen die gewohnlich asthetisch deklassierten Romane - und nicht jene Romane, die als Ausnahmephanomene die Aufmerksamkeit der Literaturwissenschaft auf sich gezogen haben. Denn die durchschnittlichen Aufbauromane sind es ja, die die Textsorte >Aufbauroman< allererst zu einer solchen machen. Dieses spezielle Korpus solI anhand seiner meist iibergangenen Reprasentanten analysiert werden. Erst vor diesem Hintergrund lassen sich dann die Abweichungen der Ausnahmeromane angemessen einschatzen. Es wird sich herausstellen, dass die Art der Abweichung durchaus unterschiedlich ist. Das fiir die Untersuchung zentrale IV. Kapitel ist typologisch. Das heiBt: Anhand der Einfiihrung in den sowjetischen Kontext im 1. Kapitel entwickele ich im n. Kapitel eine Systematik der Aufbauromane mit ihren typischen Bestandteilen. Die DDR-Aufbauromane werden als Realisierungen eines Aufbausystems betrachtet, das ich aus den sowjetischen Vorbildern

3. Zusammenfassung der Ziele und Teilziele

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abstrahiere. Die einzelnen Werke kann man als individuelle Variationen des Aufbausystems auffassen. Jedes einzelne Werk modifiziert zumindest partiell das vorgegebene Muster. Je weiter sich ein Werk von den Vorgaben entfernt (etwa durch Kombination mit neuen Subsystemen oder durch Substitution von Subsystemen oder durch Kombinationen mit neuen Systemen), desto weniger gehort es zum Zentrum des Korpus >Aufbauromansozialistischen Realisten< haben in ihrem Friihwerk der zwanziger Jahre dem Ornamentalismus gehuldigt« (Schmid 2005, 162). - Die spiiteren Umarbeitungen von Zement driingten den ornamentalen Gestus zuriick, an dem sich u. a. Gor'kij stieK V gl. Busch 1978, 349. Hier auch eine griffige Definition: »[ ... ] Ornamentalism will be defined narrowly as a modernist stylistic current which emphasized the expressiveness of the linguistic medium per se. Its characteristic features are the extensive use of tropes - simile, metaphor and the exploitation of exoticism inherent in dialectisms, vulgarisms, and ungrammatical speech. A broader definition of Ornamentalism would encompass rhythmic features [ ... ] and an intense narrative lyricism typical of Gladkov's original handling of setting« (Busch 1978, 361). 26 Ausfiihrlicher zu Postulaten und Normen des Sozialistischen Realismus s. u. Abschnitt lA.

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1. Sowjetische Aufbauromane

der Einfiihrung und Etablierung des Begriffs in den Jahren von 1932 bis 1934 entstanden (vgl. Clark 1981,27). Auch wenn Clark dies er Auffassung entgegenhalt, dass die Genese viel widerspriichlicher verlaufen sei, als die alle historischen und literarischen Unterschiede der einzelnen Werke nivellierende offizielle Historiographie glauben mache wolle, lasst sie sich als Argument fiir die These nutzen, dass der etablierte Kanon des Sozialistischen Realismus einen Vorbild-Charakter fiir die Autoren der DDR hatte. Denn die meisten DDR-Autoren, die sich auf die Aufbauromane einlieBen, hatten ja ein affirmatives Verhaltnis zur sowjetischen Kultur. Aber sie griffen nicht nur aus eigener Begeisterung fiir die sowjetische Literatur auf diese Vorbilder zuriick, sie wurden zugleich auch »von oben« dazu angehalten. Fiir sie war dies er Kanon bereits verbindlich, und er musste nicht erst aus disparaten Elementen kiinstlich geschaffen werden. Daher gehe ich von den am haufigsten genannten Werken der sowjetischen Vorbildromane aus, die fiir die beiden Varianten der Aufbauromane die MaBstabe setzten, und greife bei der Abstraktion der Muster zunachst auf Erkenntnisse aus der Forschungsliteratur zuriick, die ich dann ab er mit einigen eigenen Beobachtungen erganze. 27

2. Der Kollektivierungsroman - N euland unterm Pflug Michail Solochovs Kollektivierungsroman erschien in zwei Teilen, 1932 und 1959. Da der zweite Teil so spat erschien und auf die friihe Literatur in der DDR keinen Einfluss nehmen konnte, bleibt er hier unberiicksichtigt - zumal er auch auf einer geanderten Konzeption beruht (vgl. Giinther 1984, 208, Anm.1). Der erste Teil ab er, wiewohl am Ende erkennbar unabgeschlossen, »wurde von der zeitgenossischen Literaturkritik weithin als mustergiiltige Realisierung der im Entstehen begriffenen Losung des sozialistischen Realismus betrachtet« (ebd., 81). Nach Giinther (ebd.) gehort er »zum engeren Kanon des sozialistischen Realismus« und erlaubt deshalb den Riickschluss auf »bestimmte literarische N ormen des sozialistischen Realismus«. 28 Ent-

Den Begriff des Schemas oder Musters benutze ich hier und im folgenden Abschnitt erst einmal noch ganz unschuldig, bevor ich ihn in II.4.b zu prazisieren versuche. 28 Diese Einschatzung besutigt ein Blick auf Clarks (1981, 262) »shortlist« exemplarischer Werke des Sozialistischen Realismus, die auf einer Auswertung von offiziellen Ansprachen auf dem IIVI. sowjetischen Schriftstellerkongress (zwischen 1954 und 1978) beruht, in denen vorbildliche Werke genannt wurden. Neuland unterm Pflug kann danach sogar die meisten Nennungen auf sich vereinen. In dieses Bild passt auch die wohlwollende Interpretation, die Georg Lukacs noch 1951 veroffentlicht. (In ihrer U ntersuchung beriicksichtigt Clark diesen Roman jedoch so gut wie gar nicht.)

27

2. Der Kollektivierungsroman - Neuland unterm Pflug

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sprechend der Zielsetzung, den »KanonisierungsprozeB des sozialistischen Realismus« in der sowjetischen Literaturgeschichte nachzuzeichnen (ebd., V), fallt Gunthers Analyse der »Figurenkonstellation, Handlung und Wertperspektive« von Neuland unterm Pf/ug recht schematisch aus - was dem Interesse der vorliegenden Untersuchung durchaus gelegen kommt. Gunthers Ergebnisse sollen in diesem Abschnitt in aller Kurze zusammengefasst werden. Einige weitergehende Dberlegungen folgen im H. Kapitel (Abschn. 4.d. und e.) anlasslich der Frage nach dem Zusammenhang von Monovalenz- und Ambivalenzpoetik. Sie sollen zeigen, welche Eigenschaften die »Schema-« bzw. »Mustergeber« des Sozialistischen Realismus aufweisen, die entweder nicht in das Schema bzw. Muster eingegangen sind oder es konterkarieren. Podnjataja celina, word. »gepflugtes (oder auch erschlossenes bzw. urbar gemachtes)29 Neuland«, erschien auf deutsch 1933 gleich in zwei Dbersetzungen, einmal von Boris Krotkow und G[eorg] S[tephan] Stoessler unter dem Titel Neuland unter dem Pf/ug bei der Buchergilde Gutenberg (Zurich u. a.), zum anderen unter dem Titel Neuland unterm Pf/ug als (laut Impressum) »einzige autorisierte Dbertragung aus dem Russischen von Eduard Schiemann, unter Redaktion von Herwarth Walden«. 30 (Alle Zitate und Verweise folgen dies er Ausgabe.) Die beteiligten Personen deuten auf die enge Verbindung zwischen sozialistisch-realistischen Klassikern und kunstlerischer Avantgarde. Ihre Dbersetzung lag auch der ersten Nachkriegsausgabe 1946 zugrunde (2. Aufl. 1947). Eine Neubearbeitung der Dbersetzung besorgte Nelly Held fur den Verlag Yolk und Welt (Berlin 1952).31 a. Das Handlungsmuster Hans Gunther (1984,81 f.) teilt die Handlung von Neuland unterm Pf/ug in sieben Teilstiicke auf. Diese Gliederung ist erkennbar am bekannten Dramenschema orientiert und durch inhaltliche Besonderheiten erweitert. Es folgt 29

30

31

Die Dbersetzung »Neuland unterm Pflug« akzentuiert die Prozesshaftigkeit, wahrend der Originaltitel durch die Partizipialkonstruktion das fertige Ergebnis ausdriickt. Der zunachst als Maler tatige Schiemann (1885-1942) gehiirte in Munchen zu Erich Muhsams »Tat«-Gruppe und hatte Verbindungen zum »Blauen Reiter«, bevor er Dbersetzer wurde. In den zwanziger und drei~iger Jahren lebte er in Moskau und Berlin mit Kontakten zur kunstlerischen Avantgarde in beiden Stadten. Er arbeitete als Dbersetzer fur die Komintern und das Volkskommissariat fur Schwerindustrie und ubertrug einige wichtige Werke parteinaher sowjetischer Literatur ins Deutsche (neben Romanen von Serafimovic und Furmanov auch Lenins Bride an Maksim Gor'kij und Reden von Lev Trockij). Vg!. Dehmlow 2009. Zu Herwarth Walden in der Sowjetunion vg!. Koljasin 2006. Zu Dbersetzern und Verlagen in der Zwischenkriegszeit vg!. Sipp12006. Zum Einfluss der Sowjetischen Militaradrninistration auf Kultur und Literatur in der SBZ und friihen DDR vg!. Hartmann 1988, Hartmann/Eggeling 1990 und 1991.

I. Sowjetische Aufbauromane

34

eine kurze tabellarische Zusammenfassung, die zugleich den Inhalt wiedergibt: Muster

Handlung

Exposition I Komplikation

Der Arbeiter Davydov kommt Januar 1930 ins Dorf, um die Parteikader vor Ort, Razmetnov und Nagul'nov, bei der Kollektivierung zu unterstutzen; gleichzeitig sucht im selben Dorf Polovcev, ehemaliger WeiBgardist, den Mittelbauem J akov Lukic auf, um ihn fur die Konterrevolution zu gewinnen. Die »Kulaken« (die GroBbauem) werden mit Hilfe der Dorfarmen enteignet und ausgewiesen; Kolchosgriindung, Agitation und Kollektivierung der Mittelbauem. Jakov Lukic tritt zum Schein in den Kolchos ein und wird aufgrund seiner Kompetenzen Vorsitzender. Zuhause aber schlachtet er sein Vieh, was bald viele Nachahmer findet. Nagul'nov setzt Kollektivierung des Kleinviehs durch, was Davydov bald zuriicknimmt.

2

Konfrontation

3

Gegenhandlung

4

Steigerung Konfrontation

5

Hohepunkt Gegenhandlung

6

Peripetie [& Hohepunkt und Peripetie der Konfrontation]

7

Ende [bzw. Dberleitung zu Teil II]

Wiihrend der Eintreibung des Saatguts sabotiert J akov Lukic weiter und kundigt Polovcev einen Aufstand an. Ein Stalin-Artikel, der die Rucknahme des Kollektivierungstempos anordnet, vereitelt den Aufstand. Zugleich kommt es im Dorf zu einem vonJakov Lukic geschurten Aufruhr, der jedoch niedergeschlagen wird. Feldarbeit beginnt. Praktische Probleme entstehen und werden beseitigt. Neue Probleme kundigen sich an, am Ende kehrt der geflohene Polovcev zu J akov Lukic zuriick.

Kap.

1-5

6-11

12-16

17-20

21-26 27-35

36-40

Tab. 1.1: Handlungsschema von Neuland unterm Pf/ug nach Giinther (1984, 81 f.) 32 Gerade weil Neuland unterm Pf/ug erst im Zuge der Etablierung der Doktrin in den Jahren nach seiner Publikation zu einem sozialistisch-realistischen Roman gemacht wurde, konnten einige seiner Eigenschaften als konkrete Beispie1e einer do ch recht diffusen Theorie als literarisches Vorbild wirk32

Die Tabellenspalte »Muster« fasst Gunthers Segmentierung zusammen; die Angaben zur Handlung beruhen mehr auf meiner Auswahl und sind stark verkurzt.

2. Der Kollektivierungsroman - Neuland unterm Pflug

35

sam werden. Da insbesondere Gor'kij sich seit der Jahrhundertwende immer wieder Gedanken urn den positiven Helden und neuen Menschen (des Sozialismus) gemacht hatte, war ein positiver Held wie Semen Davydov zwar nichts Neues; charakteristisch aber ist, dass er - wie zumindest dieses Handlungsmuster deutlich werden lasst - an den entscheidenden Hohe- und Wendepunkten keinen sichtbaren Anteil hat. Dieser Befund steht in deutlichem Widerspruch zu seinem tatsachlichen Anteil an der erzahlten Handlung, denn er ist mit Abstand die am haufigsten auftretende Figur. Dieser Widerspruch konnte damit zusammenhangen, dass er als positiver Held in dieser Art von Handlungsmuster keinen rechten Platz hat. Er initiiert viel und beseitigt Hindernisse, aber an der sog. Gegenhandlung hat er nur passiven Anteil, insofern namlich, als er versaumt, J akov Lukic zu durchschauen. Es ist also die Frage, ob dieses Handlungsschema in angemessener Weise wiedergibt, worum es in dem Roman eigentlich geht. Immerhin aber verdeutlicht es, dass das Besondere an dem Roman, wenn uberhaupt, in rein inhaltlichen Eigenschaften zu sehen ist. Es geht urn einen einmaligen Vorgang: eben die Kollektivierung der Landwirtschaft, die mit speziellen Problemen verbunden ist. 33 In N euland unterm Pflug ist (abgesehen von der Sabotage) das Hauptproblem das Besitzdenken der Landbevolkerung, das die Kollektivierung immer wieder behindert. Neben dies em ideologischen od er, wenn man so will, anthropologischen Problem kommen aber auch andere Arten von Problemen zum Tragen. Ich meine vor allem technische und organisatorische Probleme, die mit der Veranderung der gewohnten Arbeitsablaufe und Strukturen zu tun haben (Abstimmung der Tatigkeiten in organisatorischer Hinsicht) und mit der Industrialisierung und planwirtschaftlichen Umstrukturierung (Einfuhrung neuer Maschinen, technische Hinsicht). Diese Probleme konstituieren eine Handlungsreihe, die ich spater als eigentliche Aufbauhandlung kennzeichnen werde. Gegenuber dies en inhaltlichen Besonderheiten scheint alles andere indes hochst konventionell zu sein. Dieser Eindruck fuhrt normalerweise dazu, sozialistisch-realistische Romane fur literarisch uninteressant zu halten. Diese Einschatzung halte ich aus zwei Griinden fur angreifbar. Zum einen legt man mit der negativen Einschatzung von Konventionalitat einen MaBstab an, der dem literarischen System des Sozialistischen Realismus nicht gerecht wird, da Konventionalitat in dies em System nicht negativ besetzt ist. Zum anderen ubersieht die Einschatzung ein entscheidendes strukturelles Charakteristikum sozialistisch-realistischer Romane, das von einem an der 33

Das war eine Angelegenheit von unvorstellbarer Grausamkeit, iiber deren Ausmafi der Roman selbstredend keine Auskunft gibt. Zu den historischen Ereignissen vg!. Hildermeier 1998, 391401. Zum Zusammenhang zwischen weltanschaulich anstoBiger Literatur und literarischer Wenung vg!. Fricke 1981, 190-221.

36

I. Sowjetische Aufbauromane

auBeren Handlung orientierten Muster nicht abgebildet werden kann und das sie gleichwohl von anderen - zumindest von trivialen - Romanen unterscheidet. Dieses Charakteristikum besteht darin dass der narrative Zusammenhang von einem argumentativen Zusammenhang iiberlagert wird. Wenn man das obige Muster no ch weiter zusammenzieht und von den inhaltlichen Aspekten starker abstrahiert, erhalt man folgendes Geriist: Ankunft - Sortierung der Alliierten - Probleme (1, 2 ... ) - [Kulmination] Die letzte Komponente ist in N euland un term P/lug nicht realisiert, aber wohl ange1egt; daher die eckigen Klammern. Denn die beiden Handlungsstrange, die jeweils von dem positiven Helden Davydov und seinem Gegenspieler Polovcev getragen werden, sollten wohl zusammengefiihrt werden. Die beiden ersten Komponenten konnten auch zu einer einzigen zusammengefasst werden, da die Ankunft des Helden natiirlich nach sich zieht, dass er sich in der neuen Umgebung orientiert, was wiederum eine Gruppierung der Figuren in Beziehung zu ihm zur Folge hat. Den am Text weitaus groBten Anteil besitzt die dritte Komponente, die aus einer Reihe von Problemen besteht, mit denen der Held zu kampfen hat, darunter auch die im Schema oben aufgefiihrte Gegenhandlung. Nun ist die Schematisierung nach Problemen be1iebig verallgemeinerbar. Jede Romanhandlung kann als Abfolge von Problemen und Losungsversuch en rekonstruiert werden. Nicht nur Erzahlgrammatiken wie Pavel (1985) bedienen sich dieses Konzepts; selbst die Prinzipien der Kognition werden damit erklart. Die zu losenden Probleme in Neuland unterm P/lug wie im sozialistisch-realistischen Roman iiberhaupt bilden jedoch eine besondere Struktur. Die Sabotageakte des Jakov Lukic wie auch Davydovs Auseinandersetzungen mit den Dorfbewohnern sind nicht zufallig, sondern folgen einer bestimmten Logik. Welche ist das? Davydov kommt in das Dorf und mochte, ausgestattet mit einem Parteiauftrag, die Kollektivierung durchsetzen. Sein Mitte1, urn den Auftrag zu erfiillen, ist die Agitation. Daher werden im Roman standig Versammlungen einberufen. Was Davydov vor allem leistet, ist Dberzeugungsarbeit. Sein Standpunkt ist der richtige, und alles, was sich seinen Planen, die zugleich die der Partei sind, widersetzt, muss beseitigt werden. Die Probleme, die sich ihm in den Weg stellen, zeichnen sich zusatzlich zu ihrem rein praktischen Aspekt durch einen theoretischen Aspekt aus. Sie illustrieren gleichsam Davydovs parteilichen Standpunkt und geben ihm, sofern er die richtigen Problemlosungsstrategien anwendet, recht. Damit sind sie Teil eines argumentativen Zusammenhangs, der in den Handlungszusammenhang einge1agert ist. Dberdies entbloBt der Roman damit sein Verfahren, denn er versteht sich se1bst auch als Mittel zur Agitation. Der argumentative Aufbau des Romans wird schon zu Beginn deutlich. Bevor Davydov ins Dorf kommt, unterhalt er sich mit dem Kader der nachst

2. Der Kollektivierungsroman - Neuland unterm Pf/ug

37

hoheren Verwaltungsebene, dem Sekretar des Bezirkskomitees (Kap. 2). Es entspinnt sich ein Streit urn die Frage, wie man mit den »Kulaken« umgehen solI. Der Parteisekretar pladiert fUr Zuriickhaltung und weist Davydov an, zunachst mit der Einrichtung des Kolchos zu beginnen. Die Zuriickhaltung ist weniger humanitar begriindet als pragmatisch. Der Sekretar mochte die Mittelbauern nicht verschrecken. Daher differenziert er die »Kulaken« in zwei Gruppen, in diejenigen, die kooperativ sind und ihre Abgaben leisten, und diejenigen, die das nicht tun; nur letztere miissten »liquidiert« werden. Davydov protestiert unter Berufung auf eine in der Pravda abgedruckte Rede, die der reale Stalin auf einer Konferenz von Agrarwissenschaftlern kurz zuvor gehalten hat (Stalin 1929). Davydov verficht einen erkennbar kompromisslosen Standpunkt, der sich auf das beriichtigte Stalinwort von der »Liquidation der Kulaken als Klasse« berufen kann. Interessant ist nun, dass er sich gegen den Parteisekretar argumentativ nicht durchsetzen kann. Dieser namlich verweist auf weitere Passagen in der Stalinrede, wonach die »endgiiltige Beseitigung durch die Masse der Klein- und Mittelbauern besorgt wird« (Neuland, 13), und besteht mit dem zusatzlichen Argument, dass er von der hoheren Behorde (dem krajkom) keine entsprechenden Anweisungen erhalten habe, auf der angeordneten Zuriickhaltung. Davydov aber weiB innerlich (vgl. Neuland, 15), dass er recht hat, auch wenn er nicht schlagfertig genug war, urn dies zu auBern. Es ist an dieser Stelle aus den Argumenten allein nicht absehbar, wer von beiden im Recht ist. Wie man am Fortgang der Handlung sehen kann, halt sich Davydov nicht an die Anordnung, und mit Bezug auf die Argumentation muss die Handlung nun zeigen, ob sein (aus der Sicht des Parteisekretars) iiberstiirztes Handeln, also die vollstandige Beseitigung der »Kulaken« gleich zu Beginn, negative Folgen zeitigt. Offenbar nicht. Davydov ist letztlich im Recht, was sich gegen Ende des Romans endgiiltig bestatigt, als der Parteisekretar zusammen mit anderen Kadern seiner Funktion enthoben wird. Nun gibt es weitere Mittel, den argumentativen Ausgang anzudeuten. Die Figurencharakterisierung im 2. Kapitel Wlt deutlich zuungunsten des Parteisekretars aus. Er ist ein »kurzsichtiger Mann mit tragen Bewegungen« (9), schaut »unter geschwollenen Lidern hervor« (10) und lacht »selbstgefallig« (12).34 Hinzu kommt, dass Davydov introspektiv dargestellt wird. Der Erzahler nimmt Anteil an seinen Gedanken (vgl. dazu auch Conrad 1966). In der Summe entsteht durch die Figurencharakterisierung eine axiologi-

34

Clark (1981, 57) spricht in einem analogen Zusammenhang von ,.Depersonalisierung«, die durch die Symbolisierung von Korpermerkmalen und durch den Gebrauch von Code-Wortern erreicht wird. Dieses Merkmal wird an spliterer SteHe (Kap. VI.2) noch eine RoHe spielen.

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I. Sowjetische Aufbauromane

sche Gewichtung, die den Ausgang des hier noch offen ge1assenen Dissenses erahnen lasst. Der argumentative Zusammenhang wird also eroffnet durch die prinzipie1le methodische Frage, wie mit den reichen Bauern umzugehen sei. Schon im nachsten Kapite1 wird die zentrale ideologische Problematik (Privateigentum vs. Kollektivierung) vonJakov Lukic direkt angesprochen, und seine Argumente, die hier nicht im Einzelnen aufgefuhrt werden mussen, sind durchaus rational, zumal vom Standpunkt des heutigen Wissens urn den Ausgang des sozialistischen Experiments. Jakov Lukics Argumente sind aber nicht nur aus allgemeiner Perspektive verstandlich, sondern erklaren sich auch aus der real en Vorgeschichte der Kollektivierung, namlich der semi-kapitalistischen Phase der sog. N euen okonomischen Politik (NEP), die noch von Lenin angeordnet worden war, um die Wirtschafsleistung der gerade geborenen Sowjetunion zu erhohen. Sie setzte auf Privatinitiative und forderte das Wirtschaften auf eigene Rechnung. Stalin ab er brach damit (und beforderte die Verfechter der NEP und damit einen seiner scharfsten Widersacher, Bucharin, ins politische Abseits).35 Jakov Lukic personifiziert damit auch die aus stalinistischer Perspektive schadlichen Auswirkungen der NEP. Das 4. Kapite1 gibt einen weiteren Hinweis, dass Davydov im Streit mit dem Parteisekretar recht zu geben ist, denn Zogerlichkeit schreckt die armen Bauern ab, wie an der Figur des Ljubiskin deutlich wird. Analog dazu lasst sich die Familiengeschichte Nagul'novs, des ortlichen Zellensekretars, als Antwort auf Jakov Lukics Argumente verstehen. Die offensichtliche Lehre dieser Geschichte ist, dass Besitzstreben ins Verderben fuhrt. Die folgenden Probleme, die Davydovs Bemuhungen urn die Kollektivierung des Dorfes begleiten, sind nun alle beziehbar auf die hier skizzierte Ausgangslage. Ziemlich genau in der Mitte des Romans treffen der Parteisekretar des Bezirks und Davydov erneut aufeinander, und jener ruffelt Davydov fur sein Vorgehen. Am Beispiel der Figur des Mittelbauern Kondrat Majdannikov wird ausfuhrlich die Problematik des Besitzdenkens verhande1t (Kap. 10 u. 19). Auch die Vergesellschaftung des Kleinviehs gehort in diesen Bereich, das Abschlachten des eigenen Viehs, damit es nicht der Gemeinschaft zum Opfer Wit, die Sorge der Bauern urn ihre vergesellschafteten Pferde usw. Jedes Problem, das sich Davydov stellt, steht mit der Eigentumsproblematik in einem narrativen Zusammenhang und dient in der Argumentation als Be1eg fur Davydovs Position. Dem Handlungsschema lasst sich also noch ein alternatives Schema an die Seite stellen, das die argumentative Struktur der Narration deutlich macht:

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Zum historischen Hintergrund vg!. Hildermeier 1998, 159-193.

2. Der Kollektivierungsroman - Neuland unterm Pf/ug Problem 1. 2. 3.

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7. 8. 9. 10. 11. 12.

13.

14. 15. 16.

39

1st kollektive BewirtschaJtung moglich? GroBbauern sofort »liquidieren« oder abwarten? Davydov setzt auf komplette »Liquidierung«. Ausweisung der GroBbauern wird behindert durch personliche Beziehungen, die die Dorfbewohner, auch Nagul'nov und Razmetnov, zu ihnen haben. Razmetnov hat Mitleid mit den Kindern der GroBbauern. Davydov weist ihn zurecht (Kulaken sollen ja als Klasse liquidiert werden), mildert aber mit der Aussicht auf Umerziehung der Kinder (statt oder inklusive Deportation?) ihr Schicksal ab. Mittelbauern wollen sich nicht zusammen mit Dorfarmen kollektivieren lassen, weil sie sie fur Faulpelze halten. Majdannikovs Innensicht als Exempel fur individuelles Hadern mit sich selbst. Streit zwischen Nagul'nov und Davydov wg. Nagul'novs zerriitteter Ehe. N. meint, er betrachte im Gegensatz zu Davydov die Ehefrau nicht als Eigentum (was aber der Sinnstruktur des Romans gemaB wahrscheinlich eher als Versuch zu werten ist, die eigene Schwache moralisch zu verbramen). Davydov gewinnt Jakov Lukic als Vorsitzenden, weil er von seinen landwirtschaftlichen Kenntnissen beeindruckt ist. Ohne Sachverstand geht es nicht. Eigenes Vieh wird eher geschlachtet, als dass man es vergesellschaften lasst. Verbot. Vergesellschaftung auch noch des Kleinviehs. Chaos und Unzufriedenheit sind die Folge. Rucknahme. Festlegung der kollektiven Arbeitsnormen. Diskussion uber die Unterschiedlichkeit des individuellen Leistungspotentials. Es kommt eine Agitationskolonne, die im Gegensatz zu Nagul'novs Brachialmethoden mehr Erfolg hat, die Bauern fur die Saatkampagne zu gewinnen. Nagul'nov wird nach Provokation gewalttatig, was den Vertrauensverlust weiter befordert, aber in der Konsequenz nicht eindeutig verurteilt wird. (Er ist es auch, der bei der Niederschlagung des Aufruhrs hilft, wahrend Davydov hilflos ist.) In der Folge des Stalin-Artikels treten viele wieder aus dem Kolchos aus. Diese Reinigung von »untauglichen Elementen« ist beabsichtigt. Denn: Nun kann die Feldarbeit beginnen. Wiedereintritte in den Kolchos. Arbeitsverweigerung. Kein Regen. Religiositat der Bauern.

Tab. 1.2: Argumentatives Handlungsschema nach organisatorischen Problemen

40

I. Sowjetische Aufbauromane

Es lasst sich sehen, dass die Argumentation uber die Handlung vermittelt ist. Wahrend die Erzahlweise konventionell ist und damit nicht den zeittypischen Vorstellungen avancierter Literatur entspricht, muss man doch feststellen, dass dem Text eine Bedeutungsdimension zukommt, die machtiger ist, als man angesichts des erwahnten Verdikts uber sozialistisch-realistische Romane vermutet. b. Das axiologische Muster Gunther (ebd., 83) erganzt das Handlungsschema durch ein, auch graphisch dargestelltes, achsensymmetrisches Schema der Figurenkonstellation, das die Figuren in zwei Hauptgruppen (Revolutionare vs. Konterrevolutionare) einteilt, an deren auBeren Enden der positive Held Davydov und der negative Held Polovcev stehen. Zwischen dies en beiden Gruppen macht er eine dritte Gruppe aus, in der er die Unentschiedenen und den januskopfigen Jakov Lukic unterbringt. Letztlich handelt es sich urn ein axiologisches Schema, da die Figuren ihren Platz im Schema gemaB ihrer jeweiligen Haltung gegenuber der sozialistischen Gesellschaftsordnung im Allgemeinen und gegenuber der Kollektivierung im Besonderen find en. Gerade die schematische Figurenkonstellation und die Mittel, mit denen diese einfache Kontrastierung erreicht wird, tragen zu dem »eindimensionalen«, d. h. monovalenten Charakter bei, den Gunther dem Werk wiederholt attestiert. Wiederum gilt, dass die Klischees systemkonform sind. Davydov und Polovcev begegnen einander im ersten Teil von Neuland un term Pflug nicht. Man konnte erwarten, dass der Autor sich die Konfrontation von Held und Schuft fur den zweiten Teil im Sinne eines abschlieBenden Hohepunkts aufgespart hat. Diese spekulative Uberlegung erklart, warum der konterrevolutionare Handlungsstrang so lose urn den Hauptstrang der Handlung geschlungen ist. Beriihrungspunkte gibt es nur in der Figur des Jakov Lukic. Umso erstaunlicher ist es, dass ausgerechnet diese Eigenschaft des Verhaltnisses der beiden Handlungsstrange in den spateren Kollektivierungs roman en der DDR beibehalten wird. Zwar konnte die auffallig locker integrierte (bzw. gar nicht integrierte) Sabotagehandlung im Aufbauroman der DDR auch dadurch erklart werden, dass sie ein obligatorischer Bestandteil war, dem man aber keine groBe Aufmerksamkeit schenken mochte; do ch ware auch die alternative Erklarung moglich, dass die Schema-Imitation so weit ging, die - wohl durch den Fragmentcharakter bedingten - Lucken zu ubernehmen. Fur die Erstellung des grundlegenden axiologischen Handlungsmusters sind verschiedene Abstraktionsstufen denkbar. Am Ende dies er Leiter gelangt man zur Analogisierung der Handlung mit der marxistisch-Ieninistischen Geschichtsvorstellung. Nach Gunther (1984,90) liegt dem Roman wie den

2. Der Kollektivierungsroman - Neuland unterm Pflug

41

meisten anderen letztlich »das historische Klassenkampf-Handlungsschema des ideologischen Diskurses« zugrunde, das »im Prinzip in einem Text wie dem Kommunistischen Manifest vorgebildet« ist: »Die Mangelsituation besteht in der Existenz des Privateigentums und der gesellschaftlichen Klassen. Mittel zur Abschaffung dieses Mangels ist der Klassenkampf in seinen verschiedenen Formen« (ebd.). 1m Hinblick auf Neuland unterm Pflug ist Gunther zuzustimmen. Clark (1981, 15) hingegen sieht den Klassenkampf gerade nicht als typischen Bestandteil des sozialistisch-realistischen Romans: »[T]he class struggle per se has not been a consistent theme of the Soviet novel and has certainly not provided the structuring force for the novel's master plot.« Stattdessen schHigt Clark vor, eine andere marxistisch-Ieninistische Vorstellung historischen Fortschritts als grundlegend anzunehmen: >>In this version, historical progress occurs not by resolving class conflict but through the workingout of the so-called spontaneity / consciousness dialectic« (ebd.). Aus dies er Basisopposition leitet sie das biographische Muster ab, das angeblich allen Romanen zugrunde liegt: »The official models for Socialist Realism have in common a biographical pattern, which structures them« (Clark 1981, 45). Zwar gibt sie mehdach zu bedenken, dass gerade die VorHiufer - also jene spater kanonisierten Romane, die vor Etablierung der Doktrin entstanden die Struktur nur ansatzweise enthielten und dass diese nur im N achhinein als solche erkannt werden konne, also erst im Lichte der praktizierten Doktrin, die die ansonsten verdeckte Kontinuitat erhelle. Trotzdem halt sie an der konstitutiven Funktion dieses Musters fest und verbindet es mit der marxistisch-Ieninistischen Geschichtsauffassung: »The point of convergence that makes these disparate works form a single tradition is the informing scheme of human biography that underlies each work and has its roots in MarxistLeninist historiography and revolutionary lore« (ebd., 44). Wohl weil sie in ihrer Untersuchung vor allem von Romanen ausgeht, die entstanden, als die Doktrin bereits etabliert war, kommt sie zu dieser alternativen Verallgemeinerung, auf die ich im nachsten Abschnitt zu Gladkovs Zement naher eingehen werde. An dies er Stelle sei nur festgehalten, dass Neuland unterm Pflug in keiner Hinsicht die von Clark fur den sowjetischen Roman veranschlagte typische Struktur eines Bildungsromans aufweist, auch nicht im Ansatz und nicht einmal in groBzugigster Auslegung. Alle Figuren sind, was ihre ideologische Entwicklung angeht, ausgesprochen statisch. Niemand hat ein »Aha-Erlebnis«, das ihm einen Fortschritt in seiner »bewusstseinsmaBigen« Entwicklung beschert. Selbst die wenigen Figuren, die gemaB dem Figurenschema zwischen den beiden festen Lagern einzuordnen sind, weil sie ideologisch nicht vollig festgelegt sind, machen keine Entwicklung durch, die in die Richtung einer ideologisch hoheren Bewusstheit fuhrt. Majdannikov ist gutwillig und aufrichtig und dabei am Ende zu selbstkritisch,

42

I. Sowjetische Aufbauromane

urn in die Partei einzutreten (Kap. 37). Er reflektiert zwar die Umgestaltung, hegt auch starke Sympathien fiir die Kollektivierung, die nicht nur theoretisch bleiben, sondern sich auch ganz praktisch in seinem Engagement fiir den Kolchos ausdriicken; ab er letztlich verharrt er in seinem Zustand, wenn er selbstkritisch bekennt, er konne sich nicht vom Besitzdenken losen. Jakov Lukic ist gespalten, weil er sich einerseits der Konterrevolution verschrieben hat, aber andererseits gern arbeitet, und zwar auch im Kollektiv, und froh ist, als Polovcev nach dem vereitelten Aufstand (zunachst) aus seinem Leben verschwindet (Kap. 27). Aber auch er verharrt in dies er Spaltung und erlebt keinen Erkenntnisfortschritt. 36 Damit erweist sich Clarks Konzeption als unpassend fiir einen der wichtigsten sozialistisch-realistischen Romane. Fiir die vorliegende Arbeit ergibt sich aus diesen Unterschieden, die in den Konzeptionen von Clark und Giinther zum Ausdruck kommen, ein erster Hinweis darauf, dass die ideologische Wandlung einer Figur kein konstitutiver Bestandteil von Aufbauromanen ist. Dies wird sich auch mit Blick auf den anderen Vorbildroman, Fedor Gladkovs Zement, bestatigen. Wandlungsfiguren in DDR-Aufbauromanen (falls man davon iiberhaupt sprechen kann) speisen sich aus einer anderen Tradition. Dberdies ist die Unterscheidung von Industrialisierungs- und Kollektivierungsroman innerhalb des Korpus Aufbauroman nur durch das verschiedenartige Milieu (Arbeiter- vs. Bauernschaft) motiviert. Daneben gilt es, weitere Aspekte im Blick zu behalten: Konventionalitat, Argumentativitat und das Verhaltnis der verschiedenen Handlungslinien zueinander.

3. Der Industrialisierungsroman - Zement und Fern von Moskau a. Fedor Gladkov: Zement Die Editionsgeschichte von Fedor Gladkovs Roman, der erstmals 1925 in sechs Fortsetzungen in der Zeitschrift Krasnaja nov' (»Rotes Neuland«) erschien, ist auBerordentlich komplex. Bereits die erste Buchausgabe im folgenden Jahr enthielt erste Anderungen. Es folgten bis in die 50er Jahre mehrere 36

Clark (1981, 49) abstrahiert weitere »symbolische Muster« aus den »prabolschewistischen« Romanen, die das allgemeine biographische Muster spezifizieren und spater zu Bestandteilen des sowjetischen Romans wurden: 1. »the particular political movement being championed is directly or indirectly identified with >family'«; 2. »a relatively naive person is brought to see the light by some emissary of the new enlightenment«; 3. »some kind of martyrdom«. - In Neuland unterm Pflug gibt es weder eine familiare Struktur noch zwei Figuren, die in einem SchiilerMentor-Verhaltnis zueinander stehen. Allenfalls ist Davydov die Schwundstufe eines Martyrers, da er starke asketische Ziige tragt. (Im erst 1959 erschienen 11. Band stirbt er allerdings.)

3. Der Industrialisierungsroman - Zement und Fern von Moskau

43

gewichtige Umarbeitungen und weitere kleinere Dberarbeitungen. 37 Damit ist dies er Roman auch ein gutes Beispiel fiir die Editionspraxis und den Werkbegriff im Sozialistischen Realismus. Die erste deutsche Dbersetzung von Olga Halpern (der Ehefrau von Andor Gabor) erschien bereits 1927. Ihr zugrunde liegt die erste russische Buchausgabe, da Gladkov darin ein Kapitel (Kap.14: »Empfang der Reuigen«) aufgenommen hat, das ihm in der Erstpublikation in Krasnaja nov' gestrichen worden war (vgl. Busch 1978,349). Eine zweite Dbersetzung von A. E. Thoss erschien 1949 im Verlag Kultur und Fortschritt unter einer Lizenz der SMA.38 Wahrend Neuland unterm Pflug (zusammen mit Panferovs Bruski) aufgrund des Themas (Kollektivierung der Landwirtschaft) ohne Beispiel ist, hat der Industrialisierungsroman westliche Vorlaufer. Das ist nicht weiter erstaunlich, denn die Industrialisierung hat im Westen bekanntlich friiher eingesetzt. Damit ist das Thema kein ureigenes der sozialistischen Literatur, auch wenn die westlichen Autoren haufig, ab er nicht immer sozialistische Neigungen hatten. Guski (1995, 252-254) weist darauf hin, dass in der friihen Sowjetunion die Autoren Pierre Hamp und Bernhard Kellermann recht popular waren, Zola aber »bald als >kleinbiirgerlicher< Naturalist ausgemustert« wurde. In Deutschland werden einige Romane des Bestseller-Autors (und des Sozialismus unverdachtigen) Rudolf Herzog als Industrieromane bezeichnet (vgl. Schiitte 1983). Wie N euland unterm Pflug wird auch Zement als eine Art Superlativ unter den sowjetischen Romanen gehandelt. Fiir Clark (1981,69) ist Zement der sowjetische Roman schlechthin: »In many ways F. Gladkov's Cement most comprehensively exemplifies the prototypical Soviet novel. This is largely due to the fact that the plot and positive heroes of Cement were imitated more than any other in Soviet fiction«. Es wird sich zeigen, dass die DDR-Romane von dies em Vorbild durchaus abweichen. Auf der Basis einiger bisheriger Forschungsergebnisse sollen die meiner Ansicht nach in der DDR-Literatur produktiven Elemente des Romans herausgearbeitet werden. Clarks (1981,256-260) master plot des Produktionsromans, den sie zugleich fiir typisch fUr den sowjetischen Roman insgesamt halt, besteht aus sechs Etappen, die jeweils in mehrere kleinere Einheiten unterteilt sind. Die Reihenfolge und Zuordnung der Untereinheiten zu den iibergeordneten Etappen sind Clark zufolge nicht festgelegt. Damit ist dieses Schema eigentlich kein plot im eigentlichen Sinne, sondern eher ein Reservoir von Motiven, die beliebig kombiniert werden konnen. Mit Bezug auf Zement sieht der master plot folgendermaBen aus: 37 38

Vgl. die ausfiihrliche Untersuchung von Busch (1978). Ob dieser Ubersetzung die nach Busch (1978, 348) 1939/40 griindlich iiberarbeitete und 1947 herausgekommene Neufassung zugrunde liegt, konnte ich nicht iiberpriifen. Auf jeden Fall aber liegt dieser Ubersetzung eine jiingere Version zugrunde als derjenigen von O. Halpern.

44

I. Sowjetische Aufbauromane master plot

Handlung

Kap.

Prolog bzw. separation: Ankunft des Helden im Mikrokosmos

Der demobilisierte Gleb Cumalov kommt nach drei Jahren Burgerkrieg nach Hause (wohl Friihjahr 1921) und trifft auf seine Frau Dasa, die in der Partei aktiv ist. Anzeichen fur Entfremdung. Die gemeinsame Tochter Njurka ist im Kinderheim.

1,1; 2

Aufgabe: a) Der status quo ist miserabel; b) Held fasst einen Plan; c) Plan trifft bei lokalen Burokraten nicht auf Gegenliebe; d) Held agitiert die Bevolkerung oder gewinnt Alliierte

Alles ist verlottert: die eigene Wohnung, die Nachbarn, die Zementfabrik nebenan, in der Gleb fruher gearbeitet hat. Zidkij und andere Genossen lehnen Glebs Wiederaufbauplan erst ab; dann kommt aber ein Kompromiss zustande. Als Sekretar der Parteizelle des Werks versucht Gleb, seine ehemaligen Kollegen fur Sonderschichten zu gewinnen. Gleb arrangiert sich mit dem Ingenieur (und eigentlichem Klassenfeind) Klejst.

3

Dbergang: a) Arbeit beginnt; b) Probleme technischer Art (i) und »mythischer« Art (ii); c) Liebesprobleme des Helden; d) Reise des Helden

7-10

4

Klimax (drohendes Scheitern der Aufgabe): a) em Problem (ii) scheint unlosbar; b) Tod einer Figur; c) Selbstzweifel des Helden

Die Arbeit beginnt. Bald schon bedrohen Kosaken den Aufbau und entfuhren Dasa. Glebs innerparteilicher Gegenspieler Bad'in schlaft mit Dasa nach ihrer Befreiung. Kap. 6 gibt den familiaren Hintergrund des Parteiintellektuellen Sergej mit burgerlichen Wurzeln, dessen Bruder Dmitrij zu den Feinden gehort. WeiBe zerstoren den renovierten Bremsberg. Die Renovierungsarbeiten gehen weiter. Njurka stirbt aus Vernachlassigung. Die Stadt lebt durch die NOP auf. Es gibt auch Missbrauch, etwa durch Bad'in, und es folgt eine "Parteisauberung«, der u. a. Sergej zum Opfer Wit, nicht aber Bad'in.

2

1,2-4;

3-6

11; 13-16

5

Vereinigung (incorporation, initiation): Held wird durch einen Mentor bestiirkt

Sergej macht Gleb Mut.

12

6

Finale: a) Erfullung der Aufgabe; b) Feier; c) Losung der Nebenkonflikte; d) Held uberwindet letzte egoistische Motive; e) Begrabnis eines Martyrers; f) Umgruppierung des Personals, Held beerbt Mentor; g) Ereignis, das in die lichte sozialistische Zukunft weist

Wiedereroffnung des Werks zum Jahrestag der Oktoberrevolution. Glebs feierliche Rede. Die Beziehung zwischen Gleb und Dalia erfahrt jedoch kein revival. Er und Bad'in bleiben Rivalen.

17

Tab. 1.3: master plot am Bespiel Zement nach Clark (1981, 256-260?9

39 Eine zusammenfassende Dbersicht uber das abstrakte Schema gibt Guski (1995, 294).

3. Der Industrialisierungsroman - Zement und Fern von Moskau

45

Wie Clark selbst verschiedentlich bekennt, stellt ihr master plot eine Summe von Elementen dar, die jeden sozialistisch-realistischen Roman auszeichnen soUen. Er ist sichtlich an Zement orientiert, aber schon der Versuch der Zuordnung der Kapitel zu den einzelnen Stationen des plots lasst erkennen, dass dies er nicht im Sinne eines festen Ablaufs zu verstehen ist (wie etwa Propps Funktionen des Zaubermarchens). Auch die Station 5, die fur Clarks Konzeption so wesentliche »Initiation« des positiven Helden durch einen Mentor, ist in Zement nicht gerade vorbildlich realisiert, da das einzige Handlungsmoment, das dem nahe kommt, eine Unterredung Glebs mit Sergej ist, der spater dann einer parteiinternen »Sauberung« zum Opfer Wit und wegen seiner burgerlichen Herkunft nicht gut die Funktion eines Mentors ausfullen kann. Ein anderes Problem betrifft die Proportionen der Textteile, die den verschiedenen Etappen zuzuordnen sind. Die meisten Etappen sind im Text quantitativ unterreprasentiert. Anfangs- und Endetappe umfassen letztlich nur wenige Seiten; ebenso die Initiationsetappe 5. Quantitativ am starksten reprasentiert sind die 2. und die 3. Komponente, wobei bemerkenswert ist, dass die Vorarbeiten fur den Aufbau verhaltnismaBig viel Raum einnehmen. Die »Klimax« gemaB Komponente 4 faUt aus dem Rahmen, weil die Zuweisung eines Hohepunkts mitunter Ansichtssache ist. Ohnedies liegt der Unterschied zwischen den Komponenten 3 und 4 nur in einer Steigerung der Problemhaftigkeit. Es kommt in Komponente 4 allerdings nichts essentiell Neues hinzu. Damit ahnelt das Schema dem vorigen Schema, dessen Kern eine Abfolge von Problemen ist, und es gilt zu untersuchen, was die mittleren Stationen in Zement auszeichnet. Abgesehen ab er von dies en und anderen moglichen Vorbehalten liefert Clarks Schema eine nutzliche Sammlung von rekurrenten Motiven. In der Tat sind Ankunft und abschlieBender Triumph nicht wegzudenkende Komponenten, die nicht nur den narrativen Rahmen bilden, von dem die Handlung umschlossen wird, sondern auch die eindeutige ideologische Ausrichtung des Romans markieren. Zement weist aUerdings einige Besonderheiten auf, die viel mit der besonderen Rolle des Helden Gleb Cumalov zu tun haben (und damit, dass der Roman no ch vor Einsetzen des Kanonisierungsprozesses entstanden ist). Cumalov kommt nicht mit einem Parteiauftrag ins Werk, sondern kehrt nach Hause zuriick und fasst als Tatmensch einen (zunachst) einsamen Entschluss. AIs Burgerkriegsheld gehort er nicht nur zur Avantgarde der Partei mit Sonderrechten, sondern verfugt auch uber uberdurchschnittliche Korperkraft, mit der er sich eine Schneise durch die Gewohnlichkeit der Dutzendmenschen bahnt. AIs es darum geht, die ehemaligen Werksarbeiter fur Sonderschichten zum Wiederaufbau zu gewinnen, stoBt Gleb zunachst auf Ablehnung. Seine RoUe als Burgerkriegsheld wird mit dem Hinweis angezweifeIt, dass er ja lebendig zuriickgekehrt sei; da konne es mit

46

I. Sowjetische Aufbauromane

seiner Heldenhaftigkeit nicht weit her sein. Gleb aber, das Gesicht »hager und scharf vor eckigen Knochen« (Zement, 102), entgegnet, dass er »mit dem Tod Briiderschaft getrunken« habe (103). Weiter heiBt es: Mit einer hastigen Bewegung riB er den Rock von sich, das schmutzige Hemd, warf sie zu Boden, und die Muskeln von seinem Halse bis zu den Hosen bewegten sich unter der Haut im Lichte der Petroleumlampe wie elastische Strange. Und zwischen ihnen, in den Vertiefungen, zitterten schwarze Schatten. (103) Dieser Anblick iiberzeugt die Anwesenden sofort: Sie schauten auf seinen nackten, mit Narben bedeckten Korper, und verloren und wie betaubt von seinen Worten, dampften sie vor SchweiB und schwiegen, an ihre Platze genagelt. (Ebd.) Glebs Autoritat ist wiederhergestellt, und alle machen bei den Sonderschichten mit. Selbst vergleicht er sich mit einer Marchenfigur, die den Beinamen »der Unsterbliche« tragt (Kascej Bessmertnyj). Glebs Korperkraft zeigt sich ein urns andere Mal, wenn er Leute umfasst und hochhebt, dass die Knochen knacken. Sein Durchsetzungsvermogen allerdings tragt anarchische Ziige, etwa wenn er sich riicksichtslos Zutritt zum »Vorsitzenden des Exekutivkomitees« Bad'in verschafft: »Er hob seine Faust und ging mit groBen Schritten zur Tiir, die Reihenfolge der Wartenden zerreiBend. lm Vorzimmer stieB er den zottigen Wachter von der Tiir und trat in das Arbeitszimmer [ ... ]« (140). Wie die wiederholte Erwahnung von Glebs iiberragender Korperlichkeit, so ist auch sein Auftritt bei Bad'in uniiberhorbar von der hyperbolischen Art der Erzahlerrede durchdrungen. Nachdem Gleb ankiindigt, den Tiirhiiter »nachstes Mal an den FiiBen [zu] packen und aus dem Fenster [zu] schmeiBen«, droht ihm Bad'in mit Verhaftung. Gleb aber lasst sich nicht einschiichtern: »[ ... ] drohnend schob er den Stuhl weg und biickte sich zu Badjin. Mit beiden Handen driickte er seine Schultern zusammen und briillte iiber das ganze Zimmer [ ... ]« (143). Auch hier wieder: Sein Gegner gibt nach. Solch ein Auftritt ware in einem spateren Roman wohl kaum mehr moglich gewesen. Was sich aber erhalt, ist der Antagonismus zwischen Arbeiter und Biirokrat, der in der gesamten Episode im Exekutivkomitee aufgebaut wird und in Glebs briillender Entgegnung kulminiert: »Sie haben kein Recht, Arbeiter aus lhrem Biiro zu verjagen« (144). AuBerlich ahnelt Gleb mit seinem Soldatenhelm, der sein standiges Attribut ist, dem Recken der russischen Sagen. Clark (1981, 70-77) weist auf diese Verwandtschaft mit dem russischen bogatyr' hin und nennt in dies em Zusammenhang einige Pravda-Artikel als potentielle Pratexte: einen Nachruf auf Jakov Sverdlov von Nikolaj Bucharin und ein Arbeiterportrat von Grigorij Zinov'ev - Zeugnisse friihsowjetischer Heldenverehrung, die Clark zufolge

3. Der Industrialisierungsroman - Zement und Fern von Moskau

47

einige Ahnlichkeiten zu Gladkovs Roman aufweisen, nicht nur im Hinblick auf die Heroisierung iiberragender Einzelkampfer, sondern auch durch das titelgebende Symbol des Zements, das schon Zinov'ev als Bild fiir den Arbeiterhelden benutzte, der den Arbeiter- und Bauernstaat zusammenhalt (vgl. Clark 1981, 74). Desgleichen Gleb, als er seine friiheren Kollegen zu agitieren versucht: »Zement ist eine starke Bindung. Durch Zement werden wir einen machtigen Aufbau der Republik zustande bringen. Wir sind der Zement, wir Arbeiterklasse, Genossen« (Zement, 99). Wichtiger als diese thematischen Ahnlichkeiten mit Artikeln aus dem offiziellen Parteiorgan scheint mir jedoch, dass schon Zement eine direkte Antwort auf Parteitagsbeschliisse ist. Wie Neuland unterm Pflug eine Antwort auf Stalins Parole von der »Liquidierung des Kulakentums als Klasse« ist, so finden sich in Zement zahlreiche Anspielungen auf die sog. N eue okonomische Politik, die die als »Kriegskommunismus« apostrophierte Wirtschaftspolitik wahrend des Biirgerkriegs abloste und eine Liberalisierung der Wirtschaft zu Stabilisierungszwecken einleitete. Vor diesem Hintergrund wird nun auch Glebs Charakter etwas verstandlicher: Die Freiheiten, die er sich nehmen kann, finden ihre Entsprechung in der Starkung der Privatinitiative, mit der die Wirtschaftsleistung in der Sowjetunion tatsachlich angekurbelt werden konnte. Und ganz ohne Partei schafft auch Gleb den Wiederaufbau der Fabrik nicht. In der genannten Episode des ersten Aufeinandertreffens mit Bad'in wird zwar die Biirokratie kritisiert, aber die Konfrontation gilt auch der Figur Bad'in selbst, Glebs Gegenspieler, und sie schlieBt mit Glebs Begegnung mit Cibis, dem ortlichen Leiter der CK, der ihn nachhaltig beeindruckt. Das letzte Wort hat auch hier die Partei, die Glebs Vorgehen schlieBlich sanktioniert: Am Ende lasst sich Gleb den Aufbau der Fabrik durch das »Industriebiiro« bestatigen (Kap.15, »Schaum«).40 Die Figur des Gleb Cumalov tragt mythische Ziige, die durch die metaphernreiche, »ornamentale« Sprache mit zahlreichen beschreibenden Passagen erganzt und intensiviert werden. 41 Clarks Hagiographie-These findet in Zement ein gutes Beispiel, obgleich genau diese Ziige sich nicht in dieser Form im Sozialistischen Realismus durchsetzen konnten. Ritualisiert in Clarks Sinne wurde jeweils eher eine Schwundstufe dies er beiden Komponenten: ein positiver Held, der kein Dbermensch ist, und ein Stil-Pathos, das auf Verfremdungsverfahren weitgehend verzichtete. Im Vergleich zu Gleb Cumalov ist Semen Davydov, der positive Held aus Neuland unterm Pflug, auch mit (kleinen?) Schwachen ausgestattet. 42 40 4! 42

Vgl. auch Clark 1981, 81£. Zum Zusammenhang von Mythos und Ornament vg!. Schmid 1992. Ob sie wirklich klein sind, werde ich spater diskutieren, s. u. HA.

48

I. Sowjetische Aufbauromane

Insgesamt ist das Figurenensemble in Zement viel heterogener als in spateren Romanen der stalinistischen Periode. Dies erzeugt bei insgesamt eindeutiger ideologischer Ausrichtung mannigfache Ambivalenzen, die ebenfalls untypisch fur den Sozialistischen Realismus sind. Partiell liegt dies am Anteil »utopischer« bzw. revolutionarer Handlungsteile, die sich - wie etwa das Frauenbild, das von der positiven Figur Dasas verkorpert wird, die fur sexuelle Unabhangigkeit und Selbstandigkeit, aber auch fur die Vernachlassigung ihres Kindes steht - ideologisch nicht eindeutig werten lassen. Hinzu kommen einige Passagen, deren Sinn nicht so offen zu Tage liegt, wie das sonst meist der Fall in sozialistisch-realistischer Literatur ist. Charakteristisch fur Zement scheint mir auBerdem, dass die Stringenz der Handlung auBergewohnlich stark minimiert ist - eine Eigenschaft, die mit dem ornamental en Stil verbunden ist. 43 Was die Handlung voranbringt, ist nicht so leicht erkennbar wie in spateren Romanen. Stattdessen stehen Beschreibungen von Gegenstanden, mitunter auch gebrochen von Bewusstseinseindriicken des Helden in der metaphernreichen Sprache des Erzahlers, sowie teilweise ziemlich bizarre Dialoge der Figuren im Vordergrund. Dass es hauptsachlich um den Aufbau des Werks gehen wird, kommt in den Anfangskapiteln nur in wenigen AuBerungen Glebs zum Ausdruck. Erst im 8. Kapitel beginnt die (Erzahlung der eigentlichen) Arbeit. Nebenhandlungen nehmen im Fortgang der Erzahlung an Bedeutung zu. Schon das 5. Kapitel fallt aus dem bis dahin ausschlieBlich auf Gleb fokussierten Erzahlfluss heraus, da es erst den Erbauer des Werks, den Ingenieur Klejst, vorstellt, bevor Gleb ihn besucht. 44 Das 7. Kapitel ist ausschlieBlich dem Partei-Intellektuellen Sergej und seiner Familie gewidmet. Auch danach wird die Darstellung des Aufbaus nicht wesentlich dominanter. Das heiBt aber nicht, dass die anderen Handlungsstrange die Aufbauhandlung uberlagerten; sie sind nur nicht so stark auf dieses Thema bezogen wie etwa die Teilhandlungen in Neuland unterm Pflug auf das Thema der Kollektivierung. Daher scheinen mir jene Einschatzungen, die in Zement eine Oberlagerung der Aufbauhandlung durch Parallelhandlungen sehen, fehlzugehen. Stattdessen wird die gesamte Handlung vom ornamental en Gestus der Erzahlerrede gewissermaBen unscharf gemacht. Nach Guski (1995, 258) kam Gladkovs glorifizierender Stil »dem Bedad des offiziellen Kultursektors an reprasentativen und in dies em Sinne >epischen< Darstellungen der Sowjetepoche« entgegen. Gladkovs Anleihen 43 44

Guski (1995, 355) haIt diese Eigenschaft in Zement allerdings fur »pseudokomplex«. Diese Figur ist fur das System des Industrialisierungsromans besonders wichtig, denn er ist das verkorperte »Kooperationsangebot an die sowjetische Intelligencija, die in der proletarisch dominierten Welt des Textes und damit auch in der Welt auBerhalb des Textes einen legitimen Platz als >Sowjetspezialisten< zugewiesen bekommt« (Guski 1995, 274).

3. Der Industrialisierungsroman - Zement und Fern von Moskau

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beim zeittypischen ornamentalen Stil sorgten zugleich fur den Anschluss parteinaher Kunst an moderne Schreibweisen (vgl. Clark 1981, 43f.). Diese Verbindung von revolutionarer Romantik und Ornamentalismus war fur die Avantgarde jedoch unannehmbar, wie an der negativen Reaktion des Formalisten und Lef-Mitarbeiters Osip Briks deutlich wird (vgl. Guski 1995, 259).45 Ahnlich fallt auch Majakovskijs Einschatzung in einem Bericht von Armin T. Wegner aus. Die beiden Autoren treffen wahrend einer Lesereise Majakovskijs offenbar zufallig im Zug zusammen und kommen ins Gesprach. Auf die Frage Majakovskijs, welche sowjetischen Gegenwartsautoren ins Deutsche ubersetzt seien, erwahnt Wegner Gladkov. Dass er in Deutschland viel gelesen werde, kommentiert Majakovskij in Wegners Zitat schlieBlich mit den lakonischen Worten: »Oh, er ist ein sehr schlechter Schriftsteller!« (Wegner 1930, 124). Die kritische Haltung der Vertreter der sowjetischen Avantgarde gegenuber Gladkov wie auch Waiter Benjamins (allerdings nur angedeutete)46 Kritik macht sich Guski, der die Vernachlassigung des Faktographischen im Vergleich zu den (im sozialistischen Sinne) »romantischen« Ingredienzien bemangelt, zu Eigen, wenn er das Aufbauthema im Roman fur lediglich vordergrundig realisiert sieht: Die Fabrik steht als Leitsymbol zwar uniibersehbar im Vordergrund, aber nicht im »Brennpunkt« (Benjamin) des Geschehens. Der Vordergrund borgt sich seinen Sinn aus dem romantischen Hintergrund, und zwar in raumlicher wie in zeitlicher Hinsicht: raumlich durch die einem Epitheton ornans gleichende feste Verbindung des Bildes der Fabrik mit dem heroischen Raum der siidlichen Meer- und Gebirgslandschaft, zeitlich durch die noch immer ins Jetzt hiniiberleuchtenden Flammenzeichen der Revolution, die sich dem

Vordergrund »buchstablich« einschreiben. (Guski 1995,260) Es ist ein wiederkehrendes Verdikt uber sozialistisch-realistische Romane, dass sie sich an tradierten Mustern des Liebes- und des Kriminalromans orientieren, von denen ihre eigentlichen Themen an den Rand gedrangt werden. Obwohl sich Guskis Untersuchung auf Produktionsskizze und Produktionsroman in der Zeit von 1928 bis 1932 beschrankt, generalisiert er seinen Befund, dass der »wichtigste Beitrag des Produktionsgenres zum sowjetischen Roman« im Primat der Handlung liege (Guski 1995,289). »Als Gegengift zum zersetzenden Geist der Moderne macht sie [gemeint ist die Fabel im Sinne einer kontinuierlichen Handlungsahfolge] SchluB mit [... ] der Asthetik des Fragments« (ebd.). Hauptbestandteil der Texte sei eben die Handlung, die das ereignisorientierte Lektiireinteresse stimuliert (»Und was weiter?«) und an der Bedeutungskonstitution des Textes wesentlich beteiligt ist. Dabei hat die 45

46

Vg!. auch das Zitat von Briks ablehnender Kritik von Zement bei Giinther 1984, 45. Vg!. Benjamin 1927.

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I. Sowjetische Aufbauromane

Evozierung produktionsbezogener Leseinteressen (»Wird das Produktionsziel erreicht, und wenn ja, so mit welchen Mitteln, binnen welcher Fristen?« usw.) den geringsten Anteil an der Spannungserzeugung. Vielmehr wird die Fabel des Produktionsromans zentral gesteuert durch konventionelle Liebes- und Kriminalintrigen um Figuren, die in die historisch bedeutsamen Dramen der Zeit (Kollektivierung, Industrialisierung [... ]) verstrickt sind. (ebd.)47 Genau damit zusammenhangende Fragen werden uns hier noch weiter beschaftigen. Wie lassen sich die einzelnen Handlungsstrange isolieren? Wie kann man das Verhaltnis dies er Handlungsstrange zueinander bestimmen? Denn die Ausgestaltung war durchaus unterschiedlich. Es ist festzustellen, dass die technischen und organisatorischen Ablaufe in den spateren Romanen, die auch als sozialistisch-realistische konzipiert wurden, mehr Platz einnehmen als in Zement und den Romanen, die Guski analysiert. Gunther (1984,89) stellt schon fur Neuland unterm Pflug ganz zu Recht fest, dass diejenigen Handlungsstrange, die die Liebesbeziehungen zum Inhalt haben, »der kollektiven Haupthandlung und ihren ideologischen Motivierungen vollig untergeordnet« sind. Um den speziellen Charakter eines sozialistisch-realistischen Aufbauromans zu bestimmen, wird es darauf ankommen, welche Stellen die einzelnen Handlungskomponenten im System der Handlungsfuhrung einnehmen. b. Vasilij Ahev: Fern von Moskau Ein heute weithin vergessener, in den 50er J ahren aber in den sozialistischen Staaten stark geforderter Roman ist Vasilij Azaevs Fern van Maskau (russ. Daleka at Maskvy), der vom Bau einer Erdolpipeline in Ostsibirien erzahlt. Im Jahr 1949 mit dem Stalin-Preis ausgezeichnet, wurde der Roman sofort in alle wichtigen Sprachen ubersetzt und fand weite Verbreitung in den sozialistischen Landern, so auch in der DDR. Er erschien dort 1950 in erster und 1952 in zweiter Auflage. Erwahnenswert ist in dies em Zusammenhang, dass er nicht in der DDR (und auch nicht in den jeweiligen Landern) verlegt wurde, sondern im Moskauer »Verlag fur fremdsprachige Literatur«, ein Indiz darnr, dass die internationale Verbreitung dieses Romans Resultat einer 47

Erklarungen, die sich auf Spannung berufen, sind in der Regel wenig hilfreich. Zumindest ist Guskis Liste nicht vollstandig. Spannend kann ja auch die Argumentation sein, die Implementation der Axiologie in die Erzahlung, d. h. wie die Ideologie mit den Mitteln der Erzahlung transportiert wird. Und schlieBlich kann fur den Kenner auch spannend sein, wie sich ein einzelnes Werk zum Muster der Gruppe, zu der es zahlt, verhiilt. Mit Bezug auf Kriminalromane bringt Hans Dieter Zimmermann (1979,109) diesen Gedanken folgendermaBen zum Ausdruck: »Der Leser erwartet das System, er konzentriert sich in der Lekture auf die Frage: Wie hat der Autor das System realisiert?, nicht auf die Frage, wie oft angenommen wird: Wer war der Tater?« - Auf Zimmermanns Ansatz gehe ich in Kap. II.4.b. ein.

3. Der Industrialisierungsroman - Zement und Fern van Moskau

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Kampagne war, die das politische Einflussgebiet der Sowjetunion nach dem Zweiten Weltkrieg auch in kultureller Hinsicht sichern sollte. Dieser Roman, der nichts grundlegend Neues zu bieten hat, ist deshalb von Interesse, weil er einige bezeichnende Akzentverschiebungen aufweist, das Aufbau-Muster weiter vereinfacht und als das unmittelbare Vorbild rur einige DDR-Aufbauromane angesehen werden kann. Da es weder iiber den Roman noch iiber den Autor schnell zugangliche Informationen gibt, sind ein paar biographische Angaben niitzlich, zumal sie auch Einblick in den »Aufbau« von Autorpersonlichkeiten und damit in die Kontrolle der stalinistischen Kulturpolitik geben. Laut der offiziellen Biographie arbeitete der aus dem Moskauer Gebiet gebiirtige Ahev (19151968) ab 1935 im Fernen Osten und schloss das von Gor'kij gegriindete Moskauer Literaturinstitut 1944 als Fernstudent ab. 48 Der Roman erscheint in der offiziellen Darstellung bezeichnenderweise als Ertrag der Tatigkeit Azaevs. Lediglich die Namen dieses »lebenswahren Roman[s]« seien fiktional, ansonsten »griinden sich Sujet und Romanhandlung auf wahre Tatsachen, die dem wirklichen Leben entnommen sind«49 - »bezeichnenderweise«, weil sich der Anspruch des Faktischen haufig, und in diesem Falle sogar besonders krass, im Widerspruch zur Realitat befand, ein U mstand, der dies em und vielen anderen Romanen insbesondere der spaten Stalinzeit das Verdikt lahmender Konfliktlosigkeit und Beschonigung der Wirklichkeit eintrug. 50 Nach der Veroffentlichung des Romans wurde Ahev Funktionar im Schriftstellerverband und veroffentlichte kaum noch etwas. Tatsachlich aber wurde Azaev 1935 wegen konterrevolutionarer Agitation zu vier Jahren Lagerhaft verurteilt und kam als GULag-Haftling nach Sibirien, wo er beim Trassenbau der Baikal-Amur-Magistale (BAM) eingesetzt wurde. 51 N ach seiner vorzeitigen Freilassung 1937 blieb er dort und arbeitete in verschiedenen Einrichtungen des Lagersystems weiter, wo er Verwaltungstatigkeiten verrichtete. Nebenbei veroffentlichte er kleine Erzahlungen in Regionalzeitungen. Kurse des Literaturinstituts hatte Ahev bereits 1934 bis zu seiner Verhaftung besucht. 1939 nahm er dort tatsachlich ein Fernstudium auf, das er 1944 beendete. Wie Lahusen (1997, 15) schreibt, waren einige Vgl. das Vorwort des Verlags in Ashajew, Fern von Moskau, S. 7-13. Selbst in neueren Nachschlagewerken wird diese Version noch angegeben. V gl. etwa das Lemma »M.aev« in Rossijskij gumanitarnyj enciklopediCeskij slovar'. V trech tomach, t. 1, Moskau 2002, 25. 49 [Vorwort], ebd., S. sf. 48

50 »In other words, what we have here is a typical expression of the >conflictlessness< and >varnis-

hing of reality< that characterized Soviet literature at the depth of its decline during the last few years under Stalin, when representations of the contradiction between the >bad< and the >good< were replaced by depictions of the struggle between the >good< and the >betterbetter< and the >excellentWesen< und die >Wahrheit< historischer Erscheinungen geht, allein auf ideologische Kriterien« zuriickgefiihrt werden (1984, 34). Dass »das Postulat des Typischen gerade aufgrund seiner Uneindeutigkeit dazu pradestiniert [ist], je nach Bedarf und Situation als ideologisches Regulativ der Literatur zu funktionieren« (35), trifft - wie oben deutlich gemacht wurde - sicherlich nicht nur auf dieses Postulat zu. Mit dem Hinweis auf das Typische lieBen sich Idealisierung und Vereinfachung rechtfertigen. Zugleich war damit das Gebot verbunden, fur eine Klasse exemplarische Figuren darzustellen. Revolutionare Romantik Im Vergleich zu den bisher genannten Postulaten ist dieses erstaunlich konkret, denn es ist mit Giinther (1984, 36) als Anweisung zu verstehen, die im Marxismus-Leninismus enthaltene ideologische Perspektive, den unausweichlichen Sieg des Neuen iiber das Alte im literarischen Werk abzubilden. Sie beinhaltet daher in der Regel die Idealisierung und Heroisierung von literarischen Gestalten und ihrer Handlungen. 6o In der Analyse des Musters wird es nicht nur um die Frage gehen, wie diese Vorgabe variiert wird, sondern auch darum, ob es Briiche gibt. In der Praxis konnte der sog. romantische Anteil zum einen auf die Vollbringung sozusagen iibermenschlicher Taten hinauslaufen, zum andern auch auf die Selbstaufopferung des Helden. Ein konstanter Unterschied zur sowjetischen Literatur besteht darin, dass die letztere Variante in der DDR-Literatur deutlich weniger zum Tragen kommt. Das ob en zitierte Abstraktum »das Neue« taucht in den Texten tatsachlich immer wieder auf. Ein GroBteil des Pathos der Texte ist auf die Erwartung gerichtet, die mit dem »Neuen« verkniipft wird: nicht nur Gerechtigkeit und Wohlstand, sondern nicht weniger als ein neuer Mensch mit ungeahnten Qualitaten. Doch wird damit schon das nachste Postulat vorweggenommen. Positiver Held Es iiberrascht daher nicht, dass Maksim Gor'kij, dem Giinther (1984, 37) schon bei der Genese des Postulats der revolutionaren Romantik eine herausragende Stellung einraumt, auch diesbeziiglich die entscheidenden An60

Ahnlich, aber mit alternativem Schwerpunkt formuliert Fast (1999, 40) dieses Postulat: ,.Romanticism, as portraying the ideal of the future, was, after all, an indispensable component of socialist realism and a condition of its effective influence.«

4. Merkmale des Aufbauromans und des Sozialistischen Realismus

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regungen gab. Nach Giinther (1984, 42) ist »Gor'kijs neuer Mensch einerseits als direkte Negation des iiberfliissigen Menschen konzipiert« und zum anderen an »den Heldengestalten der Volksmythen und Volksepen« orientiert. Zusammengefasst lauten die Eigenschaften folgendermaEen: Vertrauen in die organisierende Macht des Verstandes; das Gefiihl, Schopfer der neuen Welt zu sein; nicht nur biologische, sondern historische Jugendlichkeit; Ablehnung des biirgerlichen zoologischen Individualismus; Ganzheitlichkeit der Individualitat, die mit dem Kollektiv verbunden ist. (Giinther 1984,43) Auch hier wieder wird sich die Frage stellen lassen, wie positiv die Darstellung des oder der Helden ausfallt und wie die negativen Eigenschaften zu bewerten sind. Es ist durchaus die Frage, ob Davydovs Defizite wie auch die Defizite positiver Helden in den DDR-Romanen tatsachlich »nur einige kleinere, der Verlebendigung dienende Schwachen« sind, wie Giinther (1984,84) meint. Volkstiimlichkeit Dieses letzte allgemeine Postulat unterscheidet sich deutlich von den vorhergehenden Postulaten. Damit wird keine Bedingung formuliert, die wie die bisherigen die Relation >Werk - Gegenstand< betrifft, sondem eine Bedingung, die sich zumindest in Teilen auf die Relation >Werk - Adressat< bezieht. Nach Giinther (1984, 51) gehoren dazu die Forderungen nach »der Verstandlichkeit (ponjatnost') und der Bestimmung rur die breiten Massen (massovost').« Doch bedeutet Volkstiimlichkeit Giinther (1984, 52) zufolge auch »die Orientierung der Literatur an Motiven, Themen und Gattungen der miindlichen Volksdichtung« und »die wahrheitsgetreue Darstellung der niederen Schichten« (= »Volksverbundenheit«). Als vierten Aspekt dieses Postulats nennt Giinther (1984, 53) die Orientierung an einer bestimmten Auffassung der Klassik, wonach das klassisch Schone gewissermaBen naturgesetzlich erkHirt wird: »Die VerstoBe gegen den sozialistischen Realismus erscheinen somit nicht nur als Abweichung von einer zeitgebundenen asthetischen Norm, sondern als verwerfliche Verletzung der menschlichen Natur und der objektiven Gesetze der Schonheit« (Giinther 1984, 53f.). Mit diesem Postulat ist zugleich der operative, sozialpadagogische Auftrag verbunden, die lesende Bevolkerung mit der richtigen Weltanschauung anhand vorbildlicher Beispiele zu indoktrinieren. Vor allem mit den Postulaten der Widerspiegelung und der Volkstiimlichkeit lass en sich zwei Normen des Sozialistischen Realismus in Verbindung bringen, die zwar nicht in den Kanon der explizit formulierten Gebote (hier mit Giinther »Postulate« genannt) aufgenommen wurden, aber dennoch eine allgemeine Verpflichtung fiir sozialistisch-realistische Literatur darstellen:

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I. Sowjetische Aufbauromane

sprachliche Transparenz und Dominanz einer kontinuierlichen, transparenten Handlung. Wie Zement dem zeitgenossischen Stil des Ornamentalismus verpflichtet war, so zeichneten sich auch viele and ere Vorlaufer bzw. Wegbereiter des Sozialistischen Realismus dadurch aus, dass zeittypische Stilverfahren in sie Eingang fanden, etwa der weit verbreitete Gebrauch unterschiedlichster sprachlicher Register, z. B. Regionalismen und Dialektismen, aber auch Vulgarismen, Jargon usw. 61 Nach Gunther (1984, 61) hielt man diese stilistischen Eigenschaften fur ideologisch defizitar bzw. intransparent, denn in ihnen wurden »abweichende ideologische Bedeutungen vermutet.« Wahrend a11zu hochsprachlicher Stil als »formalistisch« gebrandmarkt wurde, belegte man den niedrigen Stil mit dem Verdikt, »naturalistisch« zu sein. 62 Stattdessen empfahl man einen mittleren Stil, der sich nach Gunther (1984, 65-67) an dem sozialistisch-realistischen Klassikverstandnis, vor allem aber auch am Stil der publizistischen Parteiorgane orientierte und der auch das Resultat der zahlreichen Textrevisionen war. Die Diskussion urn die Dominanz der Handlung wird ahnlich begrundet. Im Vordergrund sol1 die Botschaft stehen, die ein sozialistisch-realistischer Roman zu ubermitteln hat. Alles, was dieses Ziel behindert, sei »Brimborium«, so der Titel eines einflussreichen Aufsatzes. 63 Daher sol1 die Handlung kontinuierlich, nicht fragmentarisch dargeste11t sein. Ihre Koharenz verburgt die Koharenz auch der Ideologie, die sie transportiert. Alles and ere ist (fur Vertreter des Sozialistischen Realismus) »Chaos, Willkur und subjektivistische Konstruktion« (Gunther 1984, 79). Da mit dies er Norm des Handlungsprimats eine Eigenschaft sozialistisch-realistischer Romane verknupft ist, die haufig fur ihr hervorstechendes Charakteristikum gehalten und zugleich als Begrundung fur ihre asthetische Abwertung herangezogen wird, befasse ich mich ausfuhrlicher mit ihr zu einem spateren Zeitpunkt (s. u. Kap. ILL). Gunther (1984,107-109) fasst seine Beobachtungen an sozialistisch-realistischen Romanen zu acht »literarischen Normen des sozialistischen ReaDie ersten Auflagen von Zement waren nicht nur mit der hochsprachlichen Metaphorizitat und Artifizialitat der Erzahlerrede ausgestattet, sondern in der Figurenrede auch mit sudrussischem Dialekt, den Gladkov nach Busch (1978, 349) auf Gor'kijs Kritik hin reduzierte. (Diese Unterschiede kommen in der deutschen Dbersetzung nicht heraus.) 62 Neuland unterm Pf/ug gehort eher zur zweiten Gruppe. Besonders Scukar's Rede, ab er auch andere Figurenrede ist stark ungrammatisch (prostoreCie). Die Rede Kondrat'kos, des Anfuhrers der Agitationskolonne, ist im Original stark ukrainisch gefarbt (Kap. 22). Kein Wunder, dass die zeitgenossische Kritik die Darstellung der Verhaltnisse auf dem Lande bei Solochov nicht fur »typisch« erachtete (vg!. Gunther 1984, 34) - sondern fur naturalistisch, wie man leicht erganzen konnte. 63 N. Stepanov: Slovesnaja butaforija. In: Literaturnaja uceba 1934/H. 6. S. 102-129. Angabe nach Gunther 1984, 231. 61

4. Merkmale des Aufbauromans und des Sozialistischen Realismus

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lismus der 30er Jahre« zusammen. 64 Sie betreffen verschiedene Aspekte der Werke: 1. Geschichte: Thema ist Antagonismus zwischen Alt und Neu, negativer und positiver 1deologie 2. Geschichte: Antagonismus zwischen zwei Figurengruppen, wobei anfangliche U nscharfen sich gegen Ende auflosen 3. Geschichte: Typisierte Figurenrollen 4. Geschichte: Kollektives Handeln 5. Diskurs: »linear, kontinuierlich und unkompliziert« 6. Diskurs: Heterodiegetische Erzahlinstanz, die »das Geschehen iiberblicken, ordnen und entsprechend dem ideologischen Diskurs deuten kann« 7. Stil: neutral 8. Adressierung: »sozialpadagogische Funktion«

Die anderen Abhandlungen zum Thema kommen zu ahnlichen Ergebnissen, wenngleich die Schwerpunkte anders gesetzt werden oder durch die Wahl einer besonderen Theorie etwas anders ausfallen. 65 Es wird sich zeigen, dass diese Normen sich auch in der Aufbauliteratur der DDR wiederfinden. Es wird sich ab er auch zeigen, dass diese Liste mit Bezug auf die DDR-Aufbauromane unvollstandig ist. All die genannten Untersuchungen zum Sozialistischen Realismus beschranken sich bei der Formulierung der Postulate auf die 30er Jahre. Diese Beschrankung hat damit zu tun, dass sich die Verhaltnisse nach dem Zweiten Weltkrieg no ch einmal anderten, nicht nur durch die Literatur, die dieses Ereignis verarbeitete, sondern auch durch die kulturpolitische Situation in der Sowjetunion, die sich seit 1946 no ch einmal drastisch verschadte. 1nfolgedessen entstanden Werke, fiir die ihre »Konfliktlosigkeit« kennzeichnend war, weil in dieser Zeit »die grofhe Zahl schematischer, amorpher und blasser Werke entstanden ist, die jeder gesellschaftlichen Perspektive und psychologischen Tiefe entbehren« (Moiejko 1977,32). Es ist allerdings nicht nur vertretbar, sondern auch geboten, fiir die Untersuchung der DDR-Aufbauromane von den genannten Klassikern des sowjetischen Sozrealismus auszugehen, weil sie auch fiir die DDR-Autoren den Kanon ausmachten. 64

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Seine Zahlung kommt auf neun. Aber sein neunter Punkt bezieht sich auf den engen Zusammenhang zwischen den offiziellen ideologischen Postulaten und den inoffiziellen Normen. Das ist in meinen Augen keine eigene Norm. Vg!. etwa die sechsteilige Liste bei Morson (1979,121 f.) oder die flinf vecteuTS nodaux bei Robin (1986, 289f.), die sich an der Theorie Greimas' orientiert. Zur Dominanz der Erzahlinstanz vg!. Fast (1999, 58) oder auch Guski (1995, 325-327), der denselben Punkt (unter Bezugnahme auf Wolf Schmids Theorie der Textinterferenz) unter der Dberschrift »Konvergenz von Erzahlerund Personentext« abhandelt. In beiden Untersuchungen finden sich analoge Beobachtungen zur »Massenhandlung« (Guski) und zu den Figuren und weiteren Aspekten.

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1. Sowjetische Aufbauromane

Die Aufbau- bzw. Produktionsromane bilden ein zentrales System des »Kollektiv-Systems« des Sozialistischen Realismus (Zimmermann 1979, 59), das manche fur das wichtigste halten (vgl. Fast 1999, 39). Ihre zusatzlichen Merkmale spezifizieren die Aufbauromane im Wesentlichen auf der Ebene der Handlung. Ich spreche daher im Folgenden nicht von Normen, sondern einfach von Motiven. Solche fUr das Muster der Aufbauromane spezifische Motive sind: 1. Ankunft im Betrieb/Dorf 2. Formulierung einer konkreten Aufgabe (Aufbau des Betriebs/Kollektivierung) 3. Beseitigung von Problemen 4. Triumph

Hinzu kommt das strukturelle Spezifikum, das in der genannten Parallelfuhrung von Narration und Argumentation besteht. Meistens wird die Narration des sozialistisch-realistischen Romans als Mittel angesehen, dessen Zweck die Ideologie ist. 66 Der Roman transportiert nach allgemeinem DafUrhalten eine bestimmte Ideologie, so dass auch die Argumentation, sofern uberhaupt eine solche vorliegt, von vornherein festgelegt ist. In der Tat strebt der sozialistisch-realistische Roman nach Eindeutigkeit. 67 Diese Eindeutigkeit muss aber nicht von vornherein realisiert sein. Au~erdem gab es innerhalb der groben Ma~stabe der ideologischen Hauptuberzeugungen Bereiche, die nicht so stark festgelegt waren. Der Autor hatte durchaus einen gewissen Spielraum. Daher waren Argumentationen moglich, die nicht von vornherein durchschaubar sind. Meine These zum Verhaltnis von Narration und Argumentation im Aufbauroman besagt, dass die Narration nicht immer einfach nur die Argumentation transportiert, sondern dass sich, umgekehrt, die Narration der Argumentation verdankt. Damit ist nicht gemeint, dass die Narration lediglich illustriert, was eine zuvor festgelegte Argumentation bestimmt, sondern dass wesentliche Teile der Narration mit der Argumentation identisch sind. Der Grund liegt darin, dass die Ideologie der Narration durchaus nicht au~er­ lich ist, sondern als Argumentation in den Fortgang der Handlung integriert ist. Das Kriterium hierfur liefert die Entscheidung der Frage, ob Ideologie und Handlung gewisserma~en separat erzahlt werden (z. B. dadurch, dass 66

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»This overriding emphasis on the educational impact of literary activity implies subordinating the aesthetic function sensu stricto to the utilitarian goals, and considering the literary character of a text important only inasmuch as is supports exercising the main function« (Fast 1999, 46). »Il [le heros positif] do it en outre tenir dans la fiction une position discursive bien precise, celle de la ligne politique [ ... J. Clarte de la langue, clarte du message, clarte de l'intrigue, clarte du dialogue et de la position discursive du heros, tout est mis en place pour que la these soit perpetuellement rappeiee, pour que la fiction soit illocutoire, commentaire interpretatif et injonctif du present« (Robin 1986, 306).

4. Merkmale des Aufbauromans und des Sozialistischen Realismus

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die Ideologie fur Erzahlerkommentare reserviert ist) od er ob die Handlung selbst die Argumente liefert. Der Unterschied liegt darin, dass im einen Fall die Argumentation vorwiegend diskursiv vermittelt ist (durch Erzahlinstanz oder Figur), im anderen Fall aber die Argumentation durch die Handlung indirekt (aber trotzdem eindeutig) vermittelt wird. Noch einmal sei auf den im letzten Abschnitt erwahnten, fur die Handlung zentralen Stellenwert der vom Helden zu uberwindenden Probleme hingewiesen. Es handelt sich dabei nicht urn ein einzelnes Motiv, sondern urn den die Gesamthandlung dominierenden Motivkomplex, der in den Romanen den meisten Raum einnimmt. Den entsprechenden Abschnitt von Clarks master plot aufgreifend und erweiternd, lassen si ch Probleme, mit denen si ch der oder die Helden auseinandersetzen mussen, in mehrere Gruppen einteilen: in rein technisch-organisatorische Probleme, in ideologische Probleme, die sich aus den Widerstanden ergeben, die alte Traditionen und historisch bedingtes Chaos leisten, und existentielle Probleme, die in der Konfrontation mit konterrevolutionaren Bestrebungen entstehen. (Probleme, die durch die Konfrontation mit einzelnen Individuen erwachsen, gehoren zur zweiten Sorte, wahrend zur dritten Gruppe nur soIche Probleme gehoren, die mit einem uberindividuellen, d. h. politischen Anspruch verbunden sind und auf die prinzipielle Bekampfung der Ideologie des positiven Helden zielen, und nicht nur auf die Beseitigung der individuellen Einschrankung, die man durch den Helden bzw. seine Ideologie zu edahren vermeint.) Diese drei Problembereiche werden no ch durch einen vierten erganzt, in dem individuelle Probleme verhandelt werden, die in der Regel eine Liebeshandlung konstituieren. Die Entstehung und Beseitigung dies er praktischen Probleme bilden die gesamte erzahlte Geschichte, die durch des Helden Ankunft zu Beginn und seinen (oder seiner Sache) Triumph am Ende umrahmt wird. Die einzelnen Problemgruppen wiederum konstituieren die einzelnen Handlungskomponenten. Man konnte das Muster no ch weiter differenzieren, z. B. im Hinblick auf das Figurenensemble. Im hier inhaltlich anschlieBenden Abschnitt II.4.c mochte ich jedoch lieber den Weg der einengenden Systematisierung gehen. Die in der ersten (von Hans Gunther ubernommenen) Liste aufgefiihrten Punkte 7 (neutraler Stil) und 8 (sozialpadagogische Adressierung) werden in der weiteren Untersuchung keine besondere Rolle spielen. Alle anderen lass en si ch auf das Charakteristikum der Eindeutigkeit beziehen.

I. Sowjetische Aufbauromane

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5. Gegenprobe: Zur Faktographie von Sergej Tret'jakovs

Feld-H erren

Wahrend Zement mit der 'Obernahme des zeitgenossischen Ornamentalismus eine Signatur der literarischen Moderne tdigt, sind Neuland unterm P/lug und Fern 'Von Moskau Texte, die sich davon wieder entfernen. Dies entspricht dem weithin geteilten Eindruck, dass sozialistisch-realistische Literatur antimodern sei. Fur die zeitgenossische Diskussion waren aber auch AufbauTexte wichtig, die zur literarischen Avantgarde gehoren. Es stellt sich die Frage, ob damit ein fUr die deutschen Texte relevantes Reservoir vorliegt, das diese mit einer anderen, also modernen Schreibweise gespeist hat. Der Verdacht, dass es sozialistisch-realistische Romane gebe, die einen eigenen Anteil an der literarischen Moderne (bzw. an deren FortfUhrung durch die Avantgarde) haben, musste hier Nahrung erhalten. Es sei jedoch vorweg genommen, dass die Sachlage keine eindeutigen Zuordnungen erlaubt. Die sowjetische Faktographie ist nicht nur, was die intellektuelle Orientierung der Autoren angeht, ganz anders einzuschatzen als die Aufbauromanliteratur der DDR, sondern auch hinsichtlich ihrer asthetischen Programmatik und Praxis anders ausgerichtet. Dennoch gibt es einige Facetten faktographischer Literatur, die moglicherweise einige Besonderheiten mancher Aufbauromane der DDR erklaren. Man konnte es als eine Ironie des literaturgeschichtlichen Schicksals ansehen, dass die faktographische Literatur, die sich selbst in den Dienst des Sozialismus stellte, nicht zum Sozialistischen Realismus zahlt - obgleich sie ihm den Weg geebnet hat. Der Grund fur die Ausgrenzung liegt in erster Linie darin, dass die Autoren faktographischer Literatur nicht nur konventionellen Handlungsmustern gegenuber ablehnend eingestellt waren, sondern romanhafte Handlung uberhaupt der sozialistischen Sache fur unangemessen hielten. Dies widersprach der im vorigen Abschnitt vorgestellten Norm der Dominanz und Transparenz der Handlung. Da der Sozialistische Realismus in seinem Selbstverstandnis an den Realismus des 19. Jahrhunderts anschloss, den die Faktographen fUr uberwunden hielten, erscheint die Ausgrenzung der faktographischen Literatur jedoch folgerichtig. Anlasslich des Romans Die Neunzehn (Razgrom, dt. »Niederlage«) von Aleksandr Fadeev schreibt Osip Brik (1928, 93): »Das reale Umfe1d, in dem sich die Handlung seines Romans vollzieht, interessiert ihn [den Autor] uberhaupt nicht.« Nicht urn die Handlungsmotivationen fiktiver Figuren dad es der sozialistischen Literatur in den Augen Briks und seiner Mitstreiter gehen; sie lenken nur ab von der sozialistischen Aufgabe, Produktionsprozesse abzubilden und zu gestalten, und spie1en dem ideologischen Feind in die Hande: »Kurz gesagt, wir meinen, ein auf die Biographie des He1den gebauter Roman ist in seiner Grundidee falsch und dient gegenwartig als

5. Gegenprobe: Zur Faktographie von Sergej Tret'jakovs Feld-Herren

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bestes Mitte1, die Konterbande des Idealismus einzuschmugge1n« (Tretjakow 1929, 101). Dass diese Oberzeugungen der linken Avantgarde nicht unbedingt menschenfreundlicher waren als die der Stalinisten, geht aus weiteren AuBerungen Briks (1928, 97) hervor: Der Literatur muB man die Aufgabe stellen, nicht die Menschen, sondern die Sache zu erfassen, nicht die Menschen, sondern die Sache zu beschreiben; sich nicht fur die Menschen, sondern fur die Sachen zu interessieren. Wir schiitzen einen Menschen nicht danach ein, was er erlebt, sondern nach der Rolle, die er innerhalb unserer Sache spielt. Analog dazu vergleicht Sergej Tret'jakov (1929, 102) die Kompositionsstruktur seiner »Biographie des Dings« mit einem FlieBband, an dem zu beiden Seiten Menschen, deren Bedeutung nur in ihrer jeweiligen Beziehung zu dem auf dem Band voruberziehenden Produkt besteht. »Die individuell spezifischen Momente der Menschen entfallen in der >Biographie des DingsLandschaft< - ist Natur, gesehen mit den Augen des Konsumenten« (24). Statt die Arbeit der anderen lediglich zu beobachten, beschlieBt er, am Aufbau aktiv teilzunehmen und mit den Augen des Produzenten sehen zu lernen. Damit ist Feld-Herren auch ein Text uber die Veranderung seines Autors, der sich im Verlauf der Kapitel von einem beobachtenden zu einem mitarbeitenden Schriftsteller verandert. »So wurden meine Skizzen aus Reportagen eines Beobachters zu Arbeitsausweisen eines Teilnehmers« (19). Neutrale Information hat fur Tret'jakov keinen Wert. Ganz im Sinne seiner Weltanschauung ist Neutralitat verwerflich, und in Anspielung auf den doppeldeutigen Titel Feld-Herren werden in totalitarer Manier alle Mitburger fur die Sache vereinnahmt: Das Leben der Sowjetunion ist ein einziger gewaltiger Feldzug der Werktatigen, mit dem Ziel, durch Kampf ein neues Sein zu erringen: den Sozialismus. Jeder hat ein Kampfer in diesem Feldzug zu sein, ein aktiver Burger der Sowjetrepublik. Und ein Sowjetburger zu sein heiBt: an keiner Tatsache gleichgultig vorubergehen. (Feld-Herren, 16) Gleichgultigkeit und Neutralitat sind fur Tret'jakov gleichermaBen unakzeptabel. Daher ist es nur folgerichtig, dass er Information und Operation/ Produktion gegeneinander ausspielt: Den »informierenden« Skizzenschreiber lost so der »operierende« Skizzenschreiber ab [ ... ]. Wenn es dem Schriftsteller fruher Befriedigung gewahrte, daB er erzahlen konnte, was auf dem Dorfe geschieht, so darf er jetzt stolz sein, gemeinsam mit anderen Kameraden selbst dieses Dorf aufzubauen, das heiBt, das Leben nicht bloB abzubilden, sondern es zugleich neu zu bilden. (ebd., 23) Die so verstandene Operativitat war offensichtlich eine zweischneidige Angelegenheit, denn sie befand sich in gewisser Nahe zur Denunziation. Tret'jakov fordert im Kapitel »Zeitungsmann im Kolchos« mit Bezug auf die Ausbildung von Dorfkorrespondenten, »die nackte Information [ ... ] zu verlassen und zu Meldungen uberzugehen, die MiBstande aufdeckten und den Leser aufriefen, jede Art von Storungen und boswillige Schadigungen zu beseitigen« (ebd., 346). Dass dieser Ansatz zur Denunziation missbraucht werden konnte, kam Tret'jakov wo hi nicht in den Sinn, weil es ihm ja immer urn die Sache und nicht urn das Individuum ging. Faktisch ist es aber ein Aufruf zur Denunziation, die bekanntlich ein groBes Problem im Stalinismus war, auch wenn Tret'jakov es anders meinte, denn er ging nicht von Feigheit und Hinterhaltigkeit aus: »Freilich, dieser Aufstieg zum >operativen Stadium< der Dorfkorrespondenz verlangt groBen personlichen Mut von dem Korrespondenten. Nicht jeder besitzt ihn« (ebd.). Ungeachtet dieser Auffassung hatten auch die Aufbauautoren der DDR einen operativen Anspruch. Und wie Tret'jakov, der explizit den Parteiauf-

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I. Sowjetische Aufbauromane

trag vermerkt (Feld-Herren, 16), wurden sie von der Partei in die Betriebe entsandt. 73 Damit tut sich beide Male ein autoritarer Gestus kund, denn die initiative Verantwortung liegt hier wie dort bei der Partei. Unterschiede bestehen im Reflexionsgrad und in der operativen Zielsetzung. Die DDR-Aufbauautoren reflektieren in ihren Texten diese in der Regel nicht/4 Das Ziel lag nicht in der Aufdeckung von Missstanden, sondern in der Schilderung ihrer Beseitigung. Au6erdem waren die DDR-Autoren eher illusionsasthetischen Vorstellungen verpflichtet. Entsprechend wurde in der DDR irn Sinne des Sozialistischen Realismus an der traditionellen Romanform festgehalten. Man sollte aber auch nicht die Augen davor verschlie6en, dass viele dieser Romane auf Reportagen zUrUckgehen, die die Autoren im Auftrag der Partei verfassten und deren Vielzahl belegt, dass der faktographische Impuls aus der Zeit der planwirtschaftlichen Umstrukturierung der Sowjetunion nach Ende der NEP in der Zeit des sozialistischen Aufbaus der DDR aufgenornmen wurde/5 Trotz dieser Einwande gegen die Exklusivitat von Entsubjektivierung und Operativitat kann man Guskis Einschatzung im Ganzen beipflichten. Woran liegt das? Zunachst einrnallasst sich anfuhren, dass viele der Skizzen (der Kapitel), fur sich allein betrachtet, entweder keine od er nur wenige homodiegetische Textsignale aufweisen. Das Ich beobachtet, listet auf, ab er es interpretiert (sch~inbar) nicht, vermutet nicht. Was es aber auch tut: Es urteilt. Allerdings nicht als Ich, sondern immer im Modus desjenigen, der im Besitz von Wahrheit, Kompetenz und unumst661ich richtiger Dberzeugung ist. Auch wenn wie irn letzten Zitat uber Flugangst sich hinter allen unpers6nlichen Formulierungen ein Ich finden lasst und das Ich im Vorwort seine eigene Veranderung prognostiziert (die sich u. a. am Zugewinn von Sicherheit und am Verlust von Reflexion im Textverlauf au6ert), geht es naturlich nicht in erster Linie urn dieses Ich, sondern urn die Produktionsprozesse in dern landwirtschaftlichen Kombinat. Ein weiterer Grund fur die exklusive Behandlung des Textes als avantgardistischer ist, dass Tret'jakov ein in asthetischer Hinsicht reflektierter Autor

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Zur Kultur- und Literaturpolicik in der friihen DDR vg!. Bock 1980 und Jager 1995. Eine Ausnahme ist Karl Mundstock, der in einem ,.Nachspiel« zur 2. Auflage seines Romans Helle Nachte seine Poetik in einem fingierten, teilweise ironischen Gesprach zwischen Autor und Romanfiguren offen legt. Zu diesem Roman s. Kap. IV 2.a. Reportage und operatives Selbstverstandnis gehorten zum kulturrevolutionaren Anspruch, der sowohl zu Beginn der 50er Jahre als auch an ihrem Ende auf der Bitterfelder Konferenz artikuliert wurde und in gewissem Widerspruch zur Erbe-Doktrin und damit zum Sozialistischen Realismus stand, auch wenn sich die Akteure dariiber wohl selten im Klaren waren. Gebiindelt liegen (Ausziige aus) Reportagen aus jener Zeit in Menschen und Werke (1952) und Hauptmann (1969) vor.

5. Gegenprobe: Zur Faktographie von Sergej Tret'jakovs Feld-Herren

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ist, dessen Suche nach einer geeigneten .Asthetik dem Text ablesbar ist, etwa wenn er im ersten Kapitel »Durch die triibe Brille« als Fluggast daruber nachdenkt, wie er das, was er von ob en sieht, ausdriicken kann: »U naufhaltsam weitet sich der Horizont. Mit jeder Wendung des Propellers schwellen auch die Redewendungen an. Man dichtet [ ... ]« (Feld-Herren, 26), und es folgen einige metaphernreiche Formulierungsbeispiele fur das Gesehene, eine »Serie literarisch-kunstlerischer Exerzitien« (ebd., 27). Zum Schluss dieses ersten Kapitels mochte ich an Tret'jakovs Feld-Herren einige Punkte hervorheben, die mir mit Blick auf die DDR-Romane von Bedeutung zu sein scheinen. Sie zeigen, dass es - so anders die Textsorte auch ist - einige Ubereinstimmungen zwischen avantgardistischer Faktographie und (vermeintlich) regressiven Aufbauromanen gibt. Im Umkehrschluss heiBt das: Je weniger die Aufbauromane den Gattungskonventionen des Romans entsprechen, des to ahnlicher sind sie moglicherweise der Faktographie. Dies wiirde aber auch bedeuten, dass einige der Aufbauromane einen groBeren Anteil an der literarischen Moderne haben, als Gattungszuschreibung und figuren- und handlungszentrierte Gesamtanlage zunachst vermuten lassen. Gerechtigkeit Die Einfuhrung sozialistischer Strukturen in die Gesellschaft im Allgemeinen und in die bauerliche Umgebung im Besonderen stieB bekanntermaBen haufig auf Unverstandnis. Ein Prinzip war, die Rationalisierung von Arbeit zugunsten der Produktivitat voranzutreiben. Die Zusammenlegung von Einzel- zu Kollektivwirtschaften diente dazu. Zu dies em Zweck war es notwendig, Arbeit zu teilen und Spezialisten heranzubilden. Es sollte nicht mehr ein Bauer alle Schritte seiner Produktion selbst verantworten, sondern nur noch als ein Glied in der Kolchosorganisation einen Bereich, z. B. als Traktorist, betreuen. Bei dem Versuch, jahrhundertealte Traditionen administrativ abzuschaffen und durch eine neue Lebensform zu ersetzen, wurden nicht selten allgemeine Bedurfnisse und von der traditionellen Lebensform erfullte Funktionen bestimmter Sitten und Gebrauche ubersehen. AuBerdem wurden viele MaBnahmen von jeweils einigen als ungerecht empfunden, und zwar gewohnlich von denjenigen, fur die sich kein Vorteil aus den MaBnahmen ergab. Unterschiedliche Menschen haben individuell verschiedene Voraussetzungen und passen daher nicht alle gleichermaBen zu einer bestimmten MaBnahme. Das Gerechtigkeitsgefuhl war verletzt. Eben davon handeln einige von Tret'jakovs Beobachtungen - wie z. B. im Kapitel »Kollektivistinnen«, das den vierten Teil von Feld-Herren eroffnet. Hier geht es u. a. urn die Etablierung von Kinderkrippen. Bis zur Ausbildung von Aufsichtspersonal sollten die Mutter abwechselnd in der Krippe Dienst

I. Sowjetische Aufbauromane

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tun. Doch hatten nicht alle Mutter gleich viele Kinder; zudem waren nicht alle Kinder gleich betreuungsintensiv. Das Problem bestand also darin, dass eine Mutter mit einem einzigen, dazu noch pflegeleichten Kind es nicht einsah, genauso lange in der Krippe zu arbeiten wie eine andere Mutter mit drei »Schreihalse[n]« (Feld-Herren, 261). Aus Tret'jakovs Sicht ging es ihr nur urn das Prinzip, denn eigentlich war die Arbeit auf dem Feld seiner Meinung nach viel schwieriger. Sie hatte froh sein sollen, in der Krippe leichten Dienst tun zu konnen. Aber offensichtlich hatte sich bei ihr noch kein sozialistisches Bewusstsein herausgebildet: »In ihrem Kopfe bildete sich eine Arithmetik des ungerechten Tausches. Es war der Unwille einer Marktfrau, der man fur ein gutes Ferkel drei elende Katzen anbietet« (ebd.). Gerechtigkeit in der sozialistischen Planung wird auch in den DDR-Aufbauromanen eine Rolle spielen. Im Unterschied zur Aufbereitung in den Romanen erzahlt Tret'jakov diese Episode nicht zu Ende, sondern kommt schnell zu einer Verallgemeinerung des Einzelfalls. »Die Mutter haben eine Abneigung gegen den Dienst in der Krippe« (ebd.). Dann greift er weitere Falle aus dem Bereich auf, z. B. die Ablehnung des Krippenpersonals durch die Mutter. Letztlich ist es der schon bekannte Gegensatz zwischen Alt und N eu, der die Darstellung pragt. Dieser Gegensatz ist das Raster, das letztlich zur Erklarung all er Probleme herangezogen wird. Erfolg Damit geht einher, was man die »Zukunftsgewissheit« der Darstellung nennen konnte. Deswegen folgt auf die Formulierung eines Problems beim Aufbau der Kollektivwirtschaft zumindest immer die Aussicht auf seine Losung, wenn nicht gar die Losung selbst. Das o. e. Verstandnis von Operativitat verlegt zwar die Verbesserung der Zustande nach auBerhalb des Textes, die er deshalb selbst nicht mehr schildern kann. Tatsachlich aber ist auch Tret'jakovs Darstellung von dem typisch sozialistischen Optimismus durchdrungen, den sozialistisch-realistische Romane, darunter die Aufbauromane, teilen. Hier ein Beispiel aus einem Kapitel uber Huhnerzucht: Mit aller Macht legen die Arbeiter sich ins Zeug, urn vor Eintritt der Froste die Samanhuhnerstalle zu vollenden. Dacher werden mit Schilf und Riedgras bekleidet, Fenster zugehauen. Alle Krafte sind hier konzentriert. Die Menschen? Die Menschen kannen warten, kannen zusammenriicken. Der Plan aber, das Tempo aber - kann nicht warten. [ ... J Eine Wirtschaft mit 300000 Huhnerkraften! Das ist jenes Maximum, das die huhnerziichtenden Kommunarden nur erst am Horizont des Funfjahrplans auftauchen sehen. Aber unsere Zeit staBt jede Perspektive urn, und die Horizonte der Zeit erweisen sich als rasch iiberschreitbar. (ebd., 169)

5. Gegenprobe: Zur Faktographie von Sergej Tret'jakovs Feld-Herren

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Wie man sieht, ist der Garant der Zukunftsgewissheit und des Edolgs der Plan, der die Ziele vorgibt und dessen Nichteinhalten offensichtlich nicht einkalkuliert ist - der hochstens ubererfullt werden kann. 76 Die Verbuchung von Edolgen kommt nicht zuletzt auch in den historischen Kapiteln zum Ausdruck, die vom Aufbau der Kommunen in den Jahren vor Tret'jakovs Ankunft handeln. Dazu passt, dass Feld-Herren mit einem Fest end et - auch dies ganz typisch fUr Aufbauromane. In Feld-Herren ist es wie in DDR-Kollektivierungsromanen ein Erntefest, das mit dem 10. Jahres tag der Grundung der Kommune »Kommunistischer Leuchtturm«, der ersten Kommune des Kombinats »Herausforderung«, zusammen begangen wird. Helden Mit der Ausrichtung auf Edolg kommt auch die Heldenhaftigkeit von Individuen ins Spiel, von der der Text entgegen seinem Programm nicht frei ist (auch wenn man ihm zu Gute halten kann, dass es sich urn punktuelle Alltagsheldenhaftigkeit vieler einzelner Helden handelt und nicht urn serielle Abenteuerheldenhaftigkeit eines einzigen Helden). So ist z. B. von einem Traktoristen die Rede, der in Lebensgefahr ein Feldfeuer durch das Ausheben eines Grabens daran hindert, die Ernte zu vernichten. U nd irgendwann wird der Autor selbst zum Helden, als er namlich eine wild gewordene Truppe von Kosakenfrauen, die vom Kolchos zum Jaten angeworben wurde, mit Hilfe seines Photoapparats besanftigt (380f.). Dem in Neuland unterm Pflug geschilderten Aufstand nicht unahnlich, stellen die Frauen dem Direktor nach, urn an ihr Geld zu kommen, das noch nicht eingetroffen ist. Das Ich stellt sich ihnen mit seiner Kamera in den Weg und schlagt ihnen vor, sie zu photographieren. Daraufhin werden die Frauen ganz zahm und lass en von dem Direktor ab. Maschinen und technischer Fortschritt An vielen Stellen von Tret'jakovs Text wird der hohe Stellenwert deutlich, der der technischen Entwicklung eingeraumt wird. Dies ist ebenso ein Kennzeichen aller Aufbauromane, wie die Verknupfung von Technisierung und Ausbildung insbesondere von Frauen in vielen Aufbauromanen thematisiert wird. Tret'jakov berichtet im Kapitel »Traktorschuler« (Feld-Herren, 195201) uber die Schwierigkeiten, Frauen anzuwerben.

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Das Wirtschaftswachstum in jenenJahren ist legendiir, wenngleich iiber die Beurteilung Unsicherheit herrscht. Vg!. Hildermeier 1998, 243-262, 368-377 u. 480 H.

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I. Sowjetische Aufbauromane

Sabotage und Feinde Ein typisches Element von Aufbauromanen ist die Auseinandersetzung mit Feinden. Auch dies find et sich in Feld-Herren wieder, etwa im Kapitel »Kindheit undJugendjahre eines Kolchos« (88-107). Es erzahlt von den urspriinglichen Siedlergruppen vor der Oktoberrevolution, den Versuchen der Bewohner, nach der Revolution sich an die neue Politik anzupassen und Vorteile herauszuschlagen, und schlieBlich von Banditeniiberfallen, die im Zuge des Biirgerkrieges urn sich griffen. Im Vorwort resiimiert Tret'jakov die Vorgeschichte des ersten Fiinfjahrplanes und geht auf die »rechten« und »linken« Abweichler ein (Feld-Herren, 15f.). Seine Darstellung liest sich wie eine Kurzzusammenfassung des argumentativen N arrationsstrangs von N euland unterm Pflug. Wahrend die einen zu milde mit den »Kulaken« verfuhren, gingen die anderen zu iiberstiirzt vor. In beiden Fallen wurden nach dies er Lesart die Mittelbauern verschreckt. Und ganz in stalinistischer Diktion hei6t es dann: »Die Partei liquidierte beide Abweichungen mit bolschewistischer Entschlossenheit und Unerbittlichkeit« (ebd., 16). Feld-Herren speist sich iiber weite Strecken - wenigstens im Ansatz - aus demselben stalinistischen Weltbild wie die sozialistischrealistischen Romane. Angesichts dieser Dbereinstimmungen muten die literarasthetischen U nterschiede wie eine beckmesserische Fu6note an.

6. Zwischenbilanz AIs Ergebnis des ersten Kapitels festzuhalten ist, dass es mehrere Moglichkeiten gibt, die Schematizitat von Aufbauromanen bzw. ihre Verpflichtung auf ein Muster darzustellen. Da es sich urn sozialistisch-realistische Erzahlwerke handelt, ist ihre normative Orientierung am Marxismus-Leninismus bzw. an jeweils geltenden Interpretationen dies er Doktrin grundlegend. Damit einher geht eine bipolare Verteilung von Normen. Gewisse normative Unklarheiten sind nur insofern gestattet, als sie vom Handlungsverlauf nach und nach beseitigt werden. Prinzipiell streben die Werke nach Transparenz und Eindeutigkeit, genauer, nach einer transparenten Vermittlung eindeutiger weltanschaulicher Positionen. Die Aufbauromane bilden innerhalb der sozialistisch-realistischen Erzahlliteratur eine eigene Werkgruppe, nicht nur weil sie einen bestimmten thematischen Bereich (namlich den wirtschaftlichen Aufbau am Beispiel eines Betriebes bzw. eines Ko1chos) betreffen, sondern auch weil sie noch weitere strukturelle Gemeinsamkeiten aufweisen. Hierzu gehoren das grobe Muster, dass auf die Ankunft des Helden eine Reihe von Problemlosungen und der Triumph am Ende folgen, und die Verschrankung von wiederkehrenden

6. Zwischenbilanz

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Handlungsbestandteilen wie Sabotage, Agitation und technisch-organisatorische Aufbaumafinahmen. Diese strukturellen Gemeinsamkeiten berechtigen dazu, die au6erlich verschieden anmutenden Themenbereiche Arbeiter- und Fabrikmilieu vs. Bauern- und Dorfmilieu zur Gruppe der Aufbauromane zusammenzufassen. Um deutlich zu machen, dass hier trotzdem mit Milieuunterschieden zu rechnen ist, kann man von Industrialisierungs- und Kollektivierungsromanen sprechen (wobei zu bedenken ist, dass unter Kollektivierung nichts anderes zu verstehen ist als die Industrialisierung der Landwirtschaft unter sozialistischen Vorzeichen). Statt von Kollektivierungsromanen von Dorf- od er Bauernromanen zu sprechen, ist irrefiihrend und legt einen literarhistorisch unangemessenen Traditionsbezug nahe. Die sowjetischen Vorbildromane sind eine Quelle, zu der sich die Traditionen der DDR-Aufbauromane zUrUckverfolgen lassen. Meiner Meinung nach sind sie aber nicht die einzige. Trotz der Anerkennung des Sozialistischen Realismus stalinistischer Observanz sind wenigstens in einigen DDR-Aufbauromanen - stark verdiinnt - Strukturen konserviert, die sich auf faktographische Texte zUrUckfiihren lassen, die der Avantgarde zugerechnet werden. Weitere Indizien sowie zusatzliche literarhistorische Dberlegungen liefert das Ill. Kapitel, wahrend das nun folgende Il. Kapitel sich einigen narratologischen und poetologischen Fragen zuwendet, die fiir die Textanalysen in den Kapiteln IV bis VI entschieden werden miissen.

H. N arratologische und poetologische Analysekategorien

1. Handlung als narratologische Kategorie a. Voriiberlegungen Ein wesentliches Charakteristikum der sozialistisch-realistischen Erzahlliteratur besteht nach allgemeiner Auffassung darin, dass sie handlungszentriert ist. Sie teilt diese Eigenschaft mit einem GroBteil der Erzahlliteratur iiberhaupt. Abenteuer- und Kriminalromane gelten ebenfalls als handlungszentriert, und nicht selten werden solche und andere Romane eben dies er Eigenschaft halber zur Trivialliteratur gerechnet. Darum liegt es nahe, auch die sozialistisch-realistische Erzahlliteratur zur Trivial- bzw. »Schema«-Literatur zu rechnen od er wenigstens einen Zusammenhang herzustellen (vgl. Zimmermann 1979, 59; Giinther 1984, 178). Diese Dberlegung ist indes aus mehreren Griinden zweifelhaft: Erstens lasst sie den Umstand auBer Acht, dass mit Bezug auf sozialistische Literaturlandschaften diese U nterscheidung ebenfalls greift: Es gab in der DDR ebenso Heftchenromane und triviale Spannungsliteratur wie im Westen auch, zu der das Korpus der sog. Aufbauliteratur gerade nicht gehorte (vgl. Foltin 1970).1 Zweitens ist cler Zusammenhang zwischen Trivialitat und Handlungszentriertheit zumindest erklarungsbediirftig. Und drittens ist der Schluss schon aus formalen Griinden fehlerhaft: Wenn zwei Gegenstande bzw. Klassen von Gegenstanden eine Eigenschaft teilen, so impliziert dies nicht, dass diese beiden Gegenstandsklassen auch in anderer Hinsicht ahnlich oder gar identisch sind; a fortiori impliziert dies nicht, dass sie zu einer Klasse zusammengefasst werden miissen. Die Beobachtung, dass die sozialistisch-realistische Erzahlliteratur handlungszentriert sei, wird haufig mit dem direkten oder indirekten Vergleich 1

Urn diesen Hinweis zu entkraften, miisste man zeigen, dass die DDR-Aufbauromane und die DDR-Unterhaltungsliteratur - z. B. vom Sehlage Wolfgang Sehreyers - strukturell niehts voneinander unterseheidet. Was nieht heillt, dass es nieht aueh Gemeinsamkeiten gibt. Tendenziell kann man vielleieht sagen, dass die zeitgenossisehe DDR-Unterhaltungsliteratur sieh auf eine Sabotagehandlung konzentriert (vgl. Jager 1983, 249), wa'hrend diese in Aufbauromanen eine zwar obligatorisehe, aber naehrangige Komponente ist. Die Orte der, im Dhrigen zunehmend ideologiefreien, Handlung in der DDR-Unterhaltungsliteratur verlagem sieh laut Jager (ebd., 250f.) bald in die BRD und dann in exotisehe Under.

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n. Narratologische und poetologische Analysekategorien

mit, vorlaufig gesprochen, »westlicher« oder moderner Erzahlliteratur kontrastiert: Die »individualisierende Charakteristik und [die fiir die westlichmoderne Literatur typische Darstellung der] BewuBtseinsvorgange« standen in der sozialistisch-realistischen Erzahlliteratur hinter der »Komponente des Hande1ns« zuriick (Giinther 1984, 108). Die »Sujetfiigung« sei »linear, kontinuierlich und unkompliziert, so daB die Ablaufe der handlungsbestimmten Fabel nicht gestort werden« (ebd.). Dies entspricht zugleich einer Norm, die die zeitgenossische sozialistisch-realistische Literaturwissenschaft gesetzt hat: »Das Fehlen von Handlung wird als ideologische und kunstlerische Zerstorung des Sujets und damit des literarischen Werks aufgefasst« (Giinther 1984, 79).2 Giinther (ebd.) weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass dies in der sowjetischen Literaturwissenschaft »oft zu einer volligen Identifizierung von Sujet und Handlung« gefiihrt habe (vg!. auch Giinther 1984, 108). Nach dies er Ansicht zu urteilen, steht die Eigenschaft von Erzahlungen, handlungszentriert zu sein, im Kontrast zu der Eigenschaft, bewusstseinsoder perspektivezentriert zu sein. 1st die sozialistisch-realistische Erzahlliteratur also ausschliefllich handlungszentriert? Dies sicher nicht. Diese Behauptung ware zu stark und lieBe andere Gesichtspunkte vollig unberiicksichtigt. Allerdings sollte man den Kontrast der beiden Eigenschaften nicht als prinzipiellen Gegensatz im Sinne einer Unvereinbarkeit sehen. Im Falle der sozialistisch-realistischen Erzahlliteratur ist nur die zuletzt genannte Eigenschaft nach allgemeiner Auffassung faktisch kaum differenziert, wenigstens deutlich weniger als in der westlich-modernen Erzahlliteratur. Doch erlaubt dies nicht den Umkehrschluss, dass in der westlich-modernen Erzahlliteratur die Eigenschaft, perspektive- und bewusstseinszentriert zu sein, zuungunsten der Eigenschaft, handlungszentriert zu sein, realisiert ware. So nahe liegend die Gegeniiberstellung der genannten Eigenschaften zum Zwecke der Charakterisierung verschiedener Korpora auch sein mag, man sollte sich auf jeden Fall davor hiiten, die asthetische Dignitat des einen Korpus auf Kosten des anderen zu schmalern. Wie schon eingangs darge1egt, impliziert keine der beiden Eigenschaften einen hoheren asthetischen An2

Meine Hervorhebung. Dieses Urteil zeigt, dass diese Normen als iisthetische verstanden wurden. Wer dies bestreitet, wer also handlungszentrierte Erzahlungen fUr unkiinstlerisch halt, hat die Beweislast. Er muss zeigen, warum diese Normen keine asthetischen sind. Giinthers (1984,54) Schluss aus seiner Diskussion der Hauptpostulate des Sozialistischen Realismus auf die »dem schrankenlosen und willkiirlich gehandhabten Kommunikationsmonopol innewohnende [ ... ] Tendenz zur Zerstiirung der kiinstlerischen Kommunikation« bedarf demnach einer wichtigen Differenzierung (wenn er kein naturalistischer Fehlschluss sein will, demzufolge von einem Sein auf ein Sollen geschlossen werden kann): Faktisch hat das angesprochene literaturpolitische Monopol zu einer starken Beeintrachtigung, wenn nicht gar »Zerstiirung der kiinstlerischen Kommunikation« gefiihrt. Das heifh aber nur, dass die Monopolisierung der Doktrin dafUr verantwortlich ist, nicht notwendigerweise die Normen dieser Doktrin.

1. Handlung als narratologische Kategorie

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spruch. Fur das Anliegen dieser U ntersuchung ist lediglich folgender Schluss wichtig: Die allgemeine Auffassung, dass sozialistisch-realistische Erzahlliteratur handlungszentriert sei, lasst sich als Wink verstehen, ein die Poetik der Aufbauromane charakterisierendes Moment in ihrer speziellen literarischen Umsetzung von Handlung zu erblicken. In der Tat ist insbesondere in einigen DDR-Aufbauromanen die Handlung durch die Anhaufung von Einzelheiten kaum zu uberblicken. Eine Zusammenfassung der Ereignisse uber die Grobstruktur Aufbau eines BetriebeslGenossenschaft hinaus fallt daher oft schwer. Man konnte als erste annahernde Charakterisierung von einem »Ereignispointillismus« der DDR-Aufbauromane sprechen, der teilweise noch ausgepragter ist als bei den sowjetischen Vorlaufern. Dieser Eindruck entsteht durch kurze Erzahlabschnitte und zahlreiche Erzahlspriinge, die die im Prinzip kontinuierliche Handlung durch die Schilderung an ihr partizipierender Figuren zerlegen. Interessant ist in dies em Zusammenhang, dass zumindest einige narratologische Konzeptionen (wenn nicht gar die meisten), die mit einer primar literaturwissenschaftlich-poetologischen Zielsetzung entwickelt wurden, ebenfalls eine deutliche Praferenz fur narrative Perspektive- und Bewusstseinsphanomene aufweisen. Man denke nur an Genettes (1972) ausfuhrliche Darstellung der »Erzahlung von Worten« und »Fokalisierung« im Vergleich zu den wenigen Angaben, die er der »Erzahlung von Ereignissen« widmet. 3 Genette (1972, 118) verweist in dem entsprechenden Abschnitt nur auf Roland Barthes' effet de reel und beruft sich zur Erfassung und Analyse nicht-verbaler Ereignisse ansonsten auf temporale Kategorien. Wahrend fur die Erfassung von Verbalereignissen ein differenziertes Arsenal von Kategorien zur Verfugung steht, ist die Erfassung von nicht-verbalen Ereignissen zuruckverwiesen auf das Zeitgerust, das die Erzahlung den Ereignissen gibt. Zur Analyse sozialistischer Aufbauromane ist das Instrumentarium temporaler Kategorien nutzlich; zur Erfassung der eben registrierten Beobachtungen und Intuitionen uber die Auflosung der Gesamthandlung in zahlreiche Einzelhandlungen - den handlungsbezogenen Pointillismus - indes reichen die temporalen Kategorien nicht aus. Dazu bedarf es solcher Kategorien, die die Verknupfung von Handlungsbestandteilen erfassen. Die Frage ist also nicht, ob es auBer den temporalen Verhaltnissen, die zwischen den Ereignissen und ihrer Prasentation bestehen, auch no ch andere narratologisch relevante Verhaltnisse gibt; diese gibt es ohne Zweifel. Hingegen geht es nun urn die Frage, ob es geeignete Kategorien zur Beschreibung dies er Verhaltnisse gibt. Zur Beantwortung dieser Frage liegt nichts naher, als sich

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Vgl. auch alternative und vergleichbare Konzeptionen z. B. Cohn 1978, Stanzel 1979 und Schrnid 2005.

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11. Narratologische und poetologische Analysekategorien

in dem traditionsreichen Teil der Literaturtheorie umzuschauen, der sich mit Handlungsanalyse hefasst. Ein Grund, warum Genette (1972) die Ehene der Handlung hzw. der Ereignisse anscheinend etwas stiefmutterlich hehande1t, liegt moglicherweise darin, dass er in der Entwicklung des franzosischen Strukturalismus in gewisser Weise eine Oppositionsrolle spielt. Er setzt sich von jenen Theoretikern wie etwa Bremond (1964) ah, die nur eine Theorie uher die Ehene der Handlung hzw. Ereignisse liefern oder wie Barthes (1966) die verschiedenen Ehenen isoliert ahhandeln. So jedenfalls konnte Genettes (1972, 15) Bemerkung zu verstehen sein, dass »das Wort Erzahlung [recit]« zweideutig verwendet werde und dass »hestimmte Schwierigkeiten der Narratologie [ ... ] ihren Ursprung vielleicht in dies er Konfusion« hatten. Genette differenziert daraufhin drei Bedeutungen des Ausdrucks (wohei er fur recit eine von ihnen reserviert) und formuliert auf dieser Basis eine fur seine gesamte Konzeption wesentliche Annahme: Doch wie sich zeigen wird, impliziert die Analyse des narrativen Diskurses [»du discours narratif« =ricit], so wie ich ihn verstehe, standig die Untersuchung der Beziehungen einerseits zwischen dies em Diskurs und den Ereignissen [»les evenements« =histoire], von denen er berichtet [... ], andererseits zwischen eben dies em Diskurs und dem Akt [des Erziihlens, = narration]. (Genette 1972, 16 [1972a, 72]) Vollends deutlich wird die Absetzbewegung spater, als Genette (1983, 201) seinen Ansatz explizit von den »narrativen Grammatiken, Logiken und Semiotiken« ahgrenzt, »da das einzige Spezifikum des Narrativen in seinem Modus liegt und nicht in seinem Inhalt [ ... ]«. Diesen Bemerkungen lass en sich zwei miteinander verhundene sachliche Griinde fUr die eingangs Genette zugeschriehene Oppositionsrolle entnehmen. Genette geht von der grundsatzlichen Relationalitat der Ehenen aus, die ein Erzahltext hat. U nd wie vie1e andere Literaturwissenschaftler auch ist er primar an der literarischen Rede (dem Diskurs, dem Text) interessiert, also an dem, was fur Literatur (nach einer vielfach geteilten Vorstellung) konstitutiv ist. Sie ist der Ausgangs- und Zielpunkt zugleich. Daraus aher folgt wiederum, dass die Ehene der Ereignisse auch fur Genette nicht vollkommen irrelevant ist. Er spricht denn auch gemaB seiner Grundannahme der Relationalitat statt von der isolierten Ehene der Handlung hzw. der Ereignisse von der »Erzahlung von Ereignissen«. Urn der Relationalitatsannahme zu genugen, interessieren ihn die Ereignisse im Rahmen seiner Konzeption nur in ihrem Verhaltnis zum Diskurs (ggf. auch zum Erzahlakt), und dieses Verhaltnis ist fur ihn vor allem temporal gepragt daher sein erwahnter Hinweis auf die temporalen Kategorien zur Erfassung nicht-verhaler Ereignisse.

1. Handlung als narratologische Kategorie

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Diese Dberlegungen sollen vor allem eines verdeutlichen: Die Analysekategorien sind nicht unabhangig von dem Ziel zu wahlen, das man sich setzt. Ein Ziel der vorliegenden Untersuchung besteht in der speziellen Poetik der Aufbauromane, also in ihren spezifisch literarischen Eigenschaften, und ein erstes Datum war, dass sie offensichtlich handlungszentriert sind. Vor dem Hintergrund der anhand des Genette'schen Beispiels angestellten Dberlegungen ergibt sich daraus die Aufgabe, zusatzlich zu den zeitbezogenen Analysekategorien von Genette weitere Kategorien zu finden, die Handlung und Darstellung bzw. Vermittlung dieser Handlung in irgendeiner Form zusammenbinden und zueinander in Beziehung setzen. Reine sog. Erzahlgrammatiken scheiden daher aus. Solche, besser Handlungslogiken genannten, Konzeptionen abstrahieren von der Darstellung. Nach Bremond (1973) besteht die kleinste Handlungseinheit aus einer Situation und einer Moglichkeit, die aktualisiert werden kann od er nicht; Pavel (1985) lost Handlung in Schritte, moves, auf, die auf ein bestimmtes Ziel bezogen sind. In beiden Fallen spielen ftir die Begrenzung der einzelnen Einheiten darstellungsbezogene Kriterien keine Ro11e. Was eine Einheit jeweils begrenzt, hangt vollstandig von den Moglichkeiten (bei Bremond) bzw. Zielen (bei Pavel) ab, die in der erzahlten Welt lokalisiert sind. Urn die Handlung gemaG dies en Konzeptionen in Einheiten zu zerlegen, bedarf es haufig interpretierender Zuschreibungen, deren Entscheidungsbasis nicht eindeutig ist. Handlungslogiken weisen tiberdies weitere ftir die literaturwissenschaftliche Analyse meist unzulangliche Eigenheiten auf. Sie gehen auGerst kleinschrittig vor, und ihre Kategorien sind - wie auch im Fa11e von Greimas' (1966) Aktantenanalyse - den einzelnen Komponenten eines Erzahltextes keineswegs eindeutig zuschreibbar. 4 b. Adaquatheitsbedingungen Die Begriffe der Geschichte, des Ereignisses und der Handlung wurden bislang nicht eigens eingeftihrt, sondern unter der Voraussetzung aufgegriffen und verwendet, dass ein ungefahres Verstandnis, das sich aus dem Kontext und dem Vorwissen der Leser ergibt, ausreichend ist. Nun aber gilt es zu prazisieren, was im Rahmen dies er Arbeit darunter verstanden werden so11, zumal ja eine Adaquatheitsbedingung an den gesuchten Begriff lautet, dass er Handlung und ihre Darstellung integriere, ohne aber notige Unterschiede zu nivellieren. Eine zweite Adaquatheitsbedingung ergibt sich aus einem pragmatischen Grund, der sich auch in der Ablehnung der Handlungslogiken 4

Vgl. den kompakten, aber instruktiven Uberblick in Lahn/Meister 2008, 222-229. Fiir eine ausfiihrliche Diskussion und einen eigenen Ansatz mit computerphilologischer Zielsetzung vgl. Meister 2003.

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11. Narratologische und poetologische Analysekategorien

wiederfindet: Er solIte fur die Analyse der Handlung insofern handhabbar sein, als er Vereinfachungen ebenso vermeidet wie - etwa durch ein zu hohes Differenzierungspotential- eine Detailexplosion und es zugleich ermoglicht, die Komplexitat einer Handlung erkenntnis- und uberblickfordernd zu reduzieren. Eine dritte Adaquatheitsbedingung besagt, dass die Zuschreibung des gesuchten Begriffs moglichst voraussetzungsfrei sei und moglichst eindeutige Entscheidungen erlaube. Viertens schlieBlich solIte er mit Nachbarbegriffen koordinierbar sein, damit er in die dieser Untersuchung zugrunde liegenden narratologischen Theorie eingebunden werden kann. 5 Dieses theoretische System stelIt das Ebenengefuge dar, aus dem Erzahltexte nach verbreiteter VorstelIung bestehen bzw. das ihnen zu analytischen Zwecken zugeschrieben wird. Wie diese Ebenen im Einzelnen beschaffen sind und sich zueinander verhalten, ist dabei selbst in verwandten narratologischen Konzeptionen sehr unterschiedlich. 6 c. Geschichte, Handlung, Ereignis vs. Erzahlung Eine der grundlegenden Annahmen der Narratologie ist, dass jegliche Erzahlung als Produkt eines als Kommunikationsakt gedachten Vorgangs modelliert wird. Es wird daher angenommen, dass fur literarische Erzahlwerke gilt, was bei alIen anderen sprachlichen AuBerungen, die Mitteilungen sind, im AlIgemeinen auch der Fall ist. Der »Erzahler«, die Sprechinstanz, richtet sich an einen Adressaten (was haufig genug nicht explizit ist) und teilt etwas mit: die Erzahlung. Bei alIen Unterschieden gilt wohl fur fast alle narratologischen Konzeptionen, dass sie das ob en angesprochene Ebenengefiige mit dies em einfachen Kommunikationsmodell kombinieren. Obgleich es mir in diesem Abschnitt vor allem auf die Ebene der Handlung (der erzahlten Geschichte, der Ereignisse usw.) ankommt, sind ein paar Ausfuhrungen notig, die zeigen sollen, in welcher Beziehung diese Ebene zum Gesamtmodell steht. Schon Todorov (1966), besonders aber Genette hat (nicht zuletzt auch durch den Untertitel seiner Abhandlung von 1972, »Ein methodologischer Versuch«) immer wieder darauf hingewiesen, dass es sich bei den narratologischen Kategorien urn ein methodologisches Angebot handelt, das Unterscheidungen vorzunehmen ermoglicht, die das komplexe Ganze, das eine 5

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Ich sage hewusst nicht: »anschlussfahig«. Erstens ist das inzwischen eine Leerformel, zweitens ist damit meist auch etwas anderes gemeint, und zwar so etwas wie fur andere nutzbringend. Dariiher wlirde ich mich freuen, den Anspruch hahe ich aher nicht. Die Adaquatheitsbedingung gilt somit allein fur diese U ntersuchung. Wie schon bislang spreche ich auch im Fortgang dieser Arbeit, wenn es urn, grob gesprochen, Fabel und Sujet hzw. histoire und discours geht, meist von Ebenen der Erzahlung bzw. des Erzahltextes. Mogliche Alternativen waren Dimensionen, Aspekte oder Parameter. Fur mich sind sie im vorliegenden Kontext synonym.

1. Handlung als narratologische Kategorie

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Erzahlung darstellt, zum Zwecke weitergehender Fragen in weniger komplexe Bestandteile zerlegt. Wenngleich einzelne Vertreter der Narratologie damit immer auch unterschiedlich starke Geltungsanspriiche verknupft haben/ sind sich die meisten doch dariiber einig, dass die Elemente nicht an und fur sich, d. h. unabhangig voneinander existieren, sondern Abstraktionen sind, die zu bestimmten wissenschaftlichen Zwecken vorgenommen werden. Fundamental fur die Narratologie ist die Unterscheidung zwischen histoire und discours, also zwischen der erzahlten Geschichte und der Erzahlung, die unmittelbar aus der Auffassung des Erzahlwerks als eines Produkts eines als Kommunikationsakt gedachten Vorgangs folgt. Genette hat daher, wie oben bereits erwahnt, der von Todorov vorgeschlagenen (und auf die russischen Formalisten zuriickgehenden) Dyade no ch eine dritte Kategorie an die Seite gestellt: die narration, womit der Erzahlakt gemeint ist, der Geschichte und Erzahlung hervorbringt und der in der Zeitstruktur meist zwischen erzahlter Geschichte und abgeschlossener Erzahlung situiert ist. 8 Damit ist Genettes Kommunikationsmodell sprechakttheoretisch fundiert. Die Akzeptanz der Basis-Unterscheidung zwischen histoire und discours bzw. Fabel und Sujet sowie ihrer analytischen Funktion stiftet gewissermaBen die Einheit aller narratologischen Konzeptionen, so heterogen sie im Detail auch sein mogen. 9 Sie liegt vielen anderen Unterscheidungen zugrunde, die teilweise bereits vor der strukturalen N arratologie vorgenommen wurden, z. B. derjenigen zwischen Erzahlzeit und erzahlter Zeit. Auch die Trennung zwischen Genettes Kategorien Stimme und Modus, die sich in den Antworten auf die Fragen Wer spricht? bzw. Wer nimmt wahr? manifestiert, leitet sich von der grundlegenden Dichotomie ab und findet sich ebenso in narratologischen Konzeptionen nicht Genette'scher Provenienz wieder, z. B. in der Dichotomie zwischen Figuren- und Erzahlertext. 1o Gesucht ist nun eine Kategorie, die den Handlungszusammenhang segmentiert und zugleich der Relationalitatsforderung genugt. Diese Forderung betrifft gewissermaBen die vertikale Achse des Erzahlwerks und besagt, dass in einer narratologischen Kategorie zumindest zwei Ebenen miteinander in Beziehung gesetzt werden sollen. Eine Kategorie ab er, die den Handlungszusammenhang segmentieren soIl, bezieht sich auf die horizon tale Achse des Werks. Analysiert man ein Werk im Hinblick allein auf die (auf der vertikalen

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Vg!. Kindt/Miiller 2003b.

8 Genette (1983, 199f.) erliiutert: lOIn ihrer ersten miindlichen oder schriftlichen Auspriigung ist

die Erziihlung mit der Narration vollig zeitgleich, und ihrer beider Unterscheidung ist weniger eine der Zeit als des Aspekts, sofern Erzahlung den vorgebrachten Diskurs bezeichnet [ ... ], Narration die Situation, in der er vorgebracht wird«. 9 Einen Uberblick verschafft das Schaubild in Martinez/Scheffel (1999, 26). 10 Vgl. Schmid 2005.

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11. Narratologische und poetologische Analysekategorien

Achse liegenden) temporalen Beziehungen zwischen erzahlter Geschichte und Erzahlung, so lasst sich insbesondere Genettes Kategorie »Dauer« bzw. »Geschwindigkeit« (Zeitdehnung, -deckung usw.) leicht auf die horizontale Achse projizieren, und man erhalt ein Profil, das verschiedene Segmente des Handlungszusammenhangs sichtbar macht. Wie nun kann ein Modell aussehen, das beide Achsen beriicksichtigt und zugleich das temporale Profil erganzt? d. Grundhandlung Der Vorzug von Genettes Konzeption besteht darin, dass in ihr das einfache Kommunikationsmodell mit Sende- und Empfangsinstanz sowie Mitteilung durch ein Modell der narrativen Ebenen erganzt wird, das sich ebenfalls an der Sprache orientiert. Das simple Sprechaktmodell (AuGerungsakt - Satz Sachverhalt), das Genettes Konzeption zugrunde liegt, sorgt fiir ihre Homogenitat und Einfachheit. Denkbar waren ja auch andere, anspruchsvollere Modelle wie etwa das Organonmodell von Karl Biihler (1934). Damit bliebe die Homogenitat gewahrt, weil es sich ebenfalls urn Modelle der Sprache handelt, aber die Dbersichtlichkeit wiirde durch die Komplexitat der Modelle preisgegeben. Andere narratologische Modelle wie z. B. das von Mieke Bal (1980) kombinieren Genettes Modell mit Ansatzen der Handlungsgrammatiken (gegen die si ch ja Genette urspriinglich gerichtet hat). Sie verbindet das Kommunikationsmodell mit einem Modell der narrativen Ebenen, das nicht sprachlich, sondern logisch orientiert ist. 11 Die Folge ist nicht nur mangelnde Transparenz durch unklare Begrenzung der Ebenen, sondern auch der Verlust von Einfachheit und Homogenitat. Die Kehrseite von Einfachheit und Homogenitat ist jedoch, dass diese Eigenschaften unter Umstanden wertvolle Differenzierungsmoglichkeiten blockieren oder wenigstens iiberdecken. lm Falle von Genettes Konzeption bleibt vollig unterbelichtet, was die Ebene der histoire eigentlich ist: die Handlung, die Geschichte od er die erzahlte Welt?12 Diese Frage hangt zusammen mit einer anderen Frage, die Genette ebenfalls ungeklart lasst und auf die im Folgenden ausfiihrlicher eingegangen werden solI: was namlich eine Haupt- bzw. »Basiserzahlung« ausmacht. Der Begriff der Basiserzahlung dient Genette zur Erklarung von Analepsen. N ach Genette (1972, 32) reicht eine »externe Analepse« solche Ereignisse nach, die zeitlich vor der »Basiserzahlung« liegen: »[ ... ] ihre Aufgabe besteht nur darin, diese [Basiserzahlung] zu erganzen, urn den Leser iiber das eine

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Vg!. Aumiiller, Matthias: Narratologie und Kognitivismus. Mskr. in Vorbereitung. Vg!. ebd.

1. Handlung als narratologische Kategorie

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oder andere >friihere Ereignis< zu unterrichten« (Genette 1972, 33; Genette 1972a, 91). Analog holen »interne Analepsen« Ereignisse nach, die zeitlich nach Einsetzen, d. h. innerhalb der Basiserzahlung einzuordnen sind, aber mit Bezug auf den in der Basiserzahlung unmittelbar vor dies er Analepse Wahrend externe Anaerreichten Zeitpunkt friiher vorgefallen sind. M. a. lepsen die Vorgeschichte betreffen, beziehen sich interne Analepsen haufig auf N ebenhandlungen. Man sieht schon hier: Auch Genette operiert mit Begriffen, die er undefiniert lasst, die aber unverzichtbar fiir seine Konzeption sind. Er muss Differenzierungen vornehmen, die die Relation von histoire und recit betreffen, urn den Begriff der Analepse anwendbar zu machen. In den meisten Fallen stellt diese Anwendung kein Problem dar. Von den 40 Kapiteln, aus denen (der erste Teil von) N euland unterm Pflug besteht, enthalt allein das 5. Kapitel eine langere Passage, in der die Erzahlinstanz einige Ereignisse im Leben von Andrej Razmetnov seit 1913 rekapituliert, wahrend die restlichen Kapitel- bis auf wenige, viel kiirzere Ausnahmen (wie z. B. Nagul'novs Ausfiihrungen iiber die Herkunft des ehemaligen Rotgardisten und jetzigen »Kulaken« Tit Borodin im 4. Kapitel) - Ereignisse der ersten Halfte des Jahres 1930 betreffen. Bei Razmetnovs Vorgeschichte handelt es sich urn eine externe Analepse. Anders verhalt es sich mit Erzahltexten, deren Handlungsbestandteile in dies er Hinsicht homogen verteilt sind. Wie etwa sind die Komponenten einer Erzahlung zu bestimmen, die aus zwei temporal und narrativ auseinanderliegenden Abschnitten besteht, aber in einem (in der narrativen Darstellung) quantitativ ausgewogenen Verhaltnis prasentiert werden? 1st Komponente 1 eine Analepse und Komponente 2 die Basiserzahlung? Oder handelt es sich, umgekehrt, bei Komponente 1 urn die Basiserzahlung und bei Komponente 2 urn eine Prolepse? Und wie verhalten sich Parallelhandlungen dazu? An dies er Stelle mochte ich kurz einen Blick nach vorn werfen und die These aufstellen, dass Erzahltexte, die keine eindeutige Bestimmung einer Basiserzahlung oder Haupthandlung zulassen, durch diese Eigenschaft eine zentrale Anforderung erfiillen, die gemeinhin an die Literatur der asthetischen Moderne (oder aber auch an anspruchsvolle Literatur) gestellt wird. Sie erschweren namlich dadurch die Bestimmung dessen, was fiir den Text zentral ist und was nicht. Sie fordern mithin die Aktivitat des Lesers heraus, sein Mitdenken bzgl. der Identifikation einer koharenten und hierarchisch strukturierten Sinnlinie. Zudem ist davon auszugehen, dass solcherart strukturierte Erzahlungen den Lektiirefluss brechen und die Rezeption irritieren. Wie spater zu zeigen ist, tendieren manche Aufbauromane aufgrund ihres bereits erwahnten »Ereignispointillismus« zu dies er Struktur und erfiillen damit wenigstens eine Anforderung, die an sog. moderne Literatur gestellt wird. Das vorlaufig und intuitiv so bezeichnete Phanomen des Ereignispoin-

w.:

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tillismus solI mit dem in dies em Kapitel zu erarbeitenden Instrumentarium genauer bestimmt werden. Zu dies em Zweck solI der Begriff der Basiserzahlung weiter untersucht werden. Doch zunachst sei der Gedankengang bisher kurz rekapituliert: Ausgangspunkt war die vielfach geau6erte Feststellung, dass sozialistischrealistische Erzahlliteratur Sujet- bzw. Diskursphanomenen wenig Beachtung schenkt und dass sie, damit einhergehend, dazu tendiert, die Fabel (die Handlung, die Geschichte) transparent wiederzugeben - also »handlungszentriert« zu sein, wie es ob en ausgedriickt ist. Die in dies er Arbeit gemachte Unterstellung lautet jedoch (gema6 der o. g. Relationalitatsforderung), dass die sozialistisch-realistische Erzahlliteratur damit nicht gar keine, sondern andere Sujetvedahren nutzt. Ein erster Bereich ist in der temporalen Bearbeitung der erzahlten Ereignisse zu erblicken. Dieser Bereich ist aber nicht der einzige, der die Ebene der Handlung (mit) betrifft. Es konnte festgestellt werden, dass Genette mit dem Begriff der Basiserzahlung unter der Hand eine grundlegende, aber von ihm weitgehend unbestimmt gelassene Kategorie einfuhrt, von deren Definition die Anwendung vieler anderer seiner Kategorien abhangig ist. Offensichtlich ist der Begriff der Basiserzahlung [= »n!cit premier« (1972a, 90)] irgendwo zwischen recitldiscours und histoire anzusiedeln. Aus naheliegenden Griinden konnte Genette histoire premiere - Grund-, Basis- od er Haupthandlung - nicht sagen. U nweigerlich aber kommt man bei der Bestimmung dieses Begriffes zu einer Differenzierung der Ebene der histoire, denn der Begriff umfasst nicht die gesamte Ebene (und auch nicht die gesamte Ebene des recitl discours), weil sie als Hauptteil weniger Elemente enthalt als die erzahlte Gesamtgeschichte und noch weniger als die erzahlte Welt.13 Dies impliziert wiederum, dass die Grundhandlung od er Basiserzahlung nicht nur ideell bzw. theoretisch, sondern auch praktisch bzw. analytisch abtrennbar von der Gesamterzahlung sein muss. Zur analytisch fruchtbaren Bestimmung dessen, was mit Basiserzahlung bzw. Grundhandlung gemeint ist, lassen sich Dberlegungen von Meir Sternberg (1978) heranziehen, die er im Rahmen seiner Theorie der narrativen Exposition angestellt hat. Das Eigentiimliche an einer Basiserzahlung ist, dass sich in ihr das Verhaltnis von Erzahlzeit und erzahlter Zeit relativ zum Rest der Erzahlung annahert. Von der anderen Seite des theoretischen Problems kommend (namlich mit dem Ziel zu bestimmen, was eine Exposition im Unterschied zur Basiserzahlung ist), arbeitet Sternberg (1978, 20 ff.) genau dieses Kriterium aus. Nur benutzt er in seinem Losungsansatz (den er dort noch unabhangig von Genette entwickelt) fur den Begriff der Basiserzahlung den 13

VgL ebd. Hierin liegt iibrigens auch ein Grund fiir die Anfalligkeit der Narratologie fiir interpretationstheoretische Fragestellungen. VgL hierzu auch Kindt/Miiller 2003a.

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von A. A. Mendilow ausgeborgten Ausdruck »fictive present« und fiir den Gegenbegriff (der bei ihm nur die Vorgeschichte umfasst) den Ausdruck »exposition«.14 Nach Sternberg hat ein jedes Werk eine szenische Norm, die sich notfalls auch statistisch ermitteln lasst, meist aber intuitiv erfasst wird. Sie ist der werkspezifische MaBstab, an dem das jeweils geltende Verhaltnis von erzahlter Zeit und Erzahlzeit abies bar ist. Sternberg setzt dabei voraus, dass sich das, was grundlegend rur eine bestimmte Erzahlung ist, aus der Menge an Raum, die ihm gewidmet wird, erschlieBen lasst. Damit ist allerdings nicht gesagt - Sternberg (1978, 17) behauptet es dennoch -, dass die entsprechende Passage auch asthetisch relevanter ist (oder auch nur interpretatorisch relevanter). Man denke etwa an die Ablenkungsmanover, zu denen sich Autoren gezwungen sahen, die von Staats wegen auf die Doktrin des Sozialistischen Realismus verpflichtet waren. Sie legten falsche Fahrten fiir die Zensur, urn das, worauf es ihnen eigentlich ankam, am Rande zu lancieren. In dies en Werken kann es sich also genau umgekehrt verhalten: Asthetisch marginal ist das, was ausfiihrlich geschildert wird, und asthetisch relevant wie ideologisch brisant, was nur gestreift wird. Vielleicht kann man sogar sagen, dass die asthetische Relevanz von Tabuliteratur gerade von der kunstvollen Verdichtung und der gelungenen Mimikry abhangt.15 N eben Sternbergs Kriterium sind weitere denkbar. So wird die Einheit der Basiserzahlung auch durch die temporale, kausale, raumliche und figurale Kontinuitat ihrer Bestandteile erzeugt, was impliziert, dass diejenigen Bestandteile der Gesamterzahlung, die nicht zur Basiserzahlung gehoren, sich in dies en Hinsichten diskontinuierlich zu ihr verhalten. Diese Dberlegung fiihrt nun wieder an den Punkt zuriick, der weiter vorn beriihrt wurde, als es darum ging, eine zusatzliche Kategorie narrativer Ordnung zu finden, die Genettes temporale Kategorien erganzt. Bevor ich mit der Weiterfiihrung dieses Gedankens fortschreite, mochte ich dies en Abschnitt mit einem Resiimee zum Begriff der Basiserzahlung beenden und eine fiir den Fortgang der Untersuchung verbindliche terminologische Entscheidung fallen. Die Trennlinie zwischen Basiserzahlung und Resterzahlung verlauft nach alldem nicht analog zur (ohnehin sehr verschwommenen) Trennlinie zwi14

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"The point marking the end of the exposition in the fabula thus coincides with that point in time which marks the beginning of the fidive present in the sujet - the beginning of the first timesection that [ ... ] will involve, according to the contextual scenic norm, a close approximation or correspondence between its representational time the clock-marked time we employ in everyday life« (Sternberg 1978, 21). »Schon seit langem waren junge Kiinstler auf den Gedanken gekommen, vorsatzlich Reizpartikel in ihre Werke einzubauen und dann in der Diskussion bis zu gespielten Nervenzusammenbriichen zu streiten - bis die Zensur miide geworden war und nach ihrem vermeintlichen Sieg iiber den Kiinstler keine Kraft mehr zu weiteren Diskussionen fand" Oakobs 1986, 192).

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H. Narratologische und poetologische Analysekategorien

schen erzahlter Geschichte und erzahlter Welt; denn die Basiserzahlung hzw. Grundhandlung umfasst noch weniger Elemente als die erzahlte Geschichte. Das Phanomen der Basiserzahlung hzw. Grundhandlung ist daher nicht auf der Ehene der histoire allein zu verorten, sondern ist, wie Sternhergs Kriterium deutlich macht, auch ein Diskursphanomen und genugt somit der Relationalitatsforderung. Wovon aher solI ab jetzt die Rede sein: von Basiserzahlung oder Grund-, Haupt- oder Basishandlung? Und warum nicht von Hauptgeschichte? Und wie verhalten sich die anderen bekannten lexikalischen Derivate dazu: Vorund Nachgeschichte sowie Nebenhandlung? Ein Unterschied zwischen Handlung und Geschichte hat damit zu tun, dass zu den Merkmalen des Begriffs der Handlung Figuren gehoren, die ein ahsichtsvolles auBeres Tun auszeichnet. In dem MaBe, wie die Zuschreihung von Intentionen (in modernen, aher auch alteren literarischen Texten) prohlematisiert wurde, verlor der Begriff der Handlung an Attraktivitat. Hinzu kommt, dass reflexive Erzahlliteratur auch ohne viel Handlung auszukommen scheint. Da aher die Werke des Textkorpus dies er Arheit nicht von ungefahr als handlungszentriert charakterisiert werden, halte ich es fur vertrethar, ihn - inklusive einer Prazisierung - in das theoretische Inventar meiner Untersuchung aufzunehmen. Wichtiger als die angesprochene figurenhezogene Komponente des Begriffs ist mir jedoch etwas anderes: Bekanntlich geht der literaturwissenschaftliche Begriff der Handlung auf Aristoteles' mythos-Begriff zuriick. 16 In Absehung von philosophischen Handlungsbegriffen und der vor allem Jahrhunderte wahrenden dramentheoretischen Diskussion mochte ich mich an dies er Stelle auf den Hinweis beschranken, dass Aristoteles unter mythos so etwas wie Darstellung (mimesis) von Handlung(en) und ihre Verknupfung (systasis) verstand. 17 Dieser Hinweis ist mir insofern wichtig, als auch ich unter dem Begriff der Handlung ihren darstellungs- bzw. diskursbezogenen Aspekt mit verstanden wissen will. is Es konnte sich nun die Frage stellen, wie sich diese narrative Komponente der Handlung in das Ebenensystem von narrativem Gegenstand und narrativer Darstellung fugt. Die angekundigte Prazisierung lauft darauf hinaus, dass ich Handlung nicht auf einer der Ehenen verorte, sondern als Phano16

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Wie verwickelt die Begriffsgeschichte ist, liisst sich leicht dem Art. »Handlung« von Asmuth (2000) entnehmen. Vg!' den Poetik-Kommentar von Arbogast Schmitt (2008, 489), der mythos als JOdie Hinordnung aller Teilelemente einer Handlung aufeinander und auf ein gemeinsames Handlungsziel« auffasst. In seiner Dbersetzung von mimesis zieht er (2008, 209-213) »Nachahmung« vor, stellt aber klar, dass er darunter nicht »die bloBe Reproduktion von etwas Vorhandenem« versteht (212). Also nicht wie Pfister (1977, 268-271), der Handlung - Einzelhandlung und Handlungszusammenhang - als Teil der Geschichte im Sinne der histoire versteht.

1. Handlung als narratologische Kategorie

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men ansehe, das die Selektion und Kombination der Ereignisse und damit die Relation der beiden Ebenen betrifft. Dabei geht es mir weniger urn das Gesamtphanomen, als vielmehr urn Teilhandlungen und ihre Verhaltnisse zueinander. Entsprechend war bislang von Grundhandlung bzw. Basiserzahlung die Rede. Diese Komponenten gehoren fiir mich folglich sowohl zur Diskurs- als auch zur Ereignisebene. 19 Wahrend man sich die histoire als etwas Kontinuierliches zu denken hat, impliziert schon der Begriff der Handlung und a fortiori der Begriff der Grundhandlung - insofern einen Kontinuitatsbruch, als ihrer Etablierung Selektions- und Kombinationsentscheidungen voraus gegangen sind. 20 Die Ausdriicke »Haupt-«, »Grund-« und »Basishandlung« sowie Genettes »Basiserzahlung« sind fiir mich daher in dies er Arbeit Synonyme. Der Sache nach ist mit den Begriffen der Haupthandlung bzw. Basiserzahlung ohnehin dasselbe gemeint, wobei man darauf hinweisen muss, dass alle Ausdriicke, die von »Handlung« abgeleitet werden, den Nachteil haben, dass man sie rein histoire-bezogen versteht. Im Folgenden aber wird »Handlung« im skizzierten technischen Sinne gebraucht. Ein Kriterium zur Bestimmung der Grundhandlung wurde oben bereits formuliert. Wie Sternberg (1978, 29f.) selbst zu bedenken gibt, fiihrt dieses Kriterium der szenischen Norm nicht immer zu befriedigenden Resultaten. Sternberg weist auf intradiegetische Erzahlabschnitte in Dostoevskijs Damonen hin, die zwar eine Annaherung von Erzahlzeit und erzahlter Zeit entsprechend der in den Damonen geltenden szenischen Norm aufweisen, aber dennoch nicht zur Grundhandlung gehoren, sondern zur Exposition, da sie durch den Kontext (sie sollen die reiche Witwe Varvara Stavrogina exemplarisch charakterisieren) »dekonkretisiert« werden (1978, 30). Hier »sticht« also ein anderes Kriterium das genannte Kriterium der szenischen Norm, weil es Griinde gibt, die dagegen sprechen, die Abschnitte iiber Varvara Stavrogina zur Grundhandlung zu rechnen, die Sternberg lieber spater beginnen lasst. Urn Sternbergs Ausweg, der zu unscharfen Zusatzkriterien (Konkretheit, Spezifizitat, Dynamik) fiihrt, zu vermeiden, miisste das Kriterium urn einen Passus erweitert werden, in dem festgehalten wird, dass die Grundhandlung nicht unbedingt dort beginnt, wo sich Erzahlzeit und erzahlte Zeit entsprechend der im Werk geltenden szenischen Norm zum ersten Mal einander annahern, sondern etwa dort, wo sie kontinuierlich einander angenahert bleiben. Zusatzliche prazise Kriterien, die in solchen Fallen heranzuziehen waren, in denen das Kriterium der szenischen Norm nicht Man rnuss sich hier nicht weiter festlegen und kann sich hier als Literaturwissenschaftler auf die bequerne Position ontologischer Enthaltsarnkeit zuriickziehen. Es geht hier nicht urn die F rage danach, was ist. 20 Inspiriert, wenn auch nicht identisch mit ihr, ist diese Konzeption von Schmid (1982). 19

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11. Narratologische und poetologische Analysekategorien

greift, miissten so auf der Basis von temporalen, kausalen, raumlichen und figuralen Faktoren einen (Grund-)Handlungszusammenhang festlegen, aus dem solche Passagen, die die szenische Norm der Grundhandlung ebenfalls aufweisen, herausfallen. Bis jetzt wurde nur auf den Unterschied zwischen der Grundhandlung und ihren zeitlich auBerhalb ihrer liegenden Teilhandlungen eingegangen. Fiir das Korpus wichtiger sind jedoch Teilhandlungen, die parallel zur Grundhandlung stattfinden oder sie unterbrechen. Zur Bestimmung des Verhaltnisses zweier paralleler Handlungsstrange konnte man sich wiederum des Kriteriums der szenischen Norm bedienen, mit dessen Hilfe sich ermitteln lasst, welche der Parallelhandlungen die Grundhandlung ist. Hier ware ab er auch damit zu rechnen, dass es keine solche gibt. Wie ab er unterscheidet man iiberhaupt Parallel- und Nebenhandlungen voneinander? Grob geantwortet: Durch raumliche Getrenntheit. Im Text lass en sich Parallelhandlungen bestimmen, indem sie gleichzeitig, ab er an verschiedenen Orten ablaufen. Demgegeniiber sind Nebenhandlungen dadurch charakterisiert, dass sie die Grundhandlung zeitlich und raumlich unterbrechen. Der Unterschied zwischen Parallel- und Nebenhandlung besteht darin, dass rnit der Parallelhandlung etwas geschildert wird, was sich gleichzeitig zur erzahlten Grundhandlung ereignet, wahrend mit einer N ebenhandlung etwas geschildert wird, was die Erzahlung der Grundhandlung unterbricht, sich also in einem nicht erzahlten Zeitabschnitt der Grundhandlung ereignet. Mit den Begriffen der Grund- und Parallel- und Nebenhandlung sind nun drei Kategorien eingefiihrt, die den Bereich der Handlung differenzieren. Hinzu kommen die genannten Kriterien, mit deren Hilfe man die Grundhandlung und Teilhandlungen eines Werks bestimmen kann. Diese Kategorien sind aber noch recht grobkornig. Welche weitere Moglichkeit gibt es, solche Handlungsstrange so zu segmentieren, dass man eine Erzahlung erkenntnisfordernd unter dem Aspekt der Handlung zerlegen kann? Wiederum mochte ich auf einen aristotelischen Begriff zuriickkommen: den Begriff der Episode.

2. Der Begriff der Episode Dem Ausdruck »Episode« werden unter Berufung auf Aristoteles selbst mehrere Sinne zugeordnet. AIs so unproblematisch wie uninteressant gilt Aristoteles' Bestimmung der Episode als formaler Teil des Dramas, der zwischen den Chorpartien liegt und den Figurenauftritt bezeichnet (Poetik, Kap. 12). Beriihmter ist Aristoteles' Charakterisierung von nicht auf das Ganze bezogenen (sozusagen dysfunktionalen) Bestandteilen der Handlung als episodisch (Kap. 9). Diese Passage der Poetik zog eine Rezeption nach sich, die den Be-

2. Der Begriff der Episode

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griff mit einer komparativen und einer normativen Komponente versah und unter Episoden Abschnitte verstand, die durch ihre Funktionslosigkeit verminderte literarische Qualitat haben. Daneben hat sich aber auch eine neutrale Verwendungsweise erhalten (Kap.17 u. 23), an der ich mich im Folgenden orientieren werde. 21 Schon Aristoteles war der Meinung, dass Dramen und Epen gleichermaBen aus Episoden bestehen. 22 Episoden sieht er als Teile, aus denen der mythos besteht. 23 Sie stellen Ausschnitte aus der Handlung und a fortiori aus der erzahlten Geschichte, der histoire, dar. Mittels Episodenwechse1n bricht die Erzahlung die Kontinuitat der erzahlten Geschichte auf. Sie verlasst z. B. die Figur x und wendet sich der Figur y zu, und was x wahrenddessen macht, wird entweder spater erzahlt oder nie; trotzdem gibt es keinen Grund, x' Kontinuitat in Frage zu stellen. Also ist die dargestellte Handlung nicht identisch mit der Ebene histoire. Was kann die Kategorie in der geplanten Untersuchung der Handlung leisten? Und wie lasst sie sich genauer bestimmen? Zunachst einmal: Unter den Begriff der Episode fallen Abschnitte mittlerer Lange. Nach Matias Martinez (1997, 471) liegt die Ausdehnung einer Episode »zwischen der Gesamthandlung einerseits und kleineren Einheiten wie Ereignis, Szene od er Tableau«.24 Damit ist die Episode ein Abschnitt der Handlung und lasst sich 21 22

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24

Wenn man Nickau (1966) folgt, ist diese auch die einzig Richtige. Aber das ist hier nicht entscheidend. Friedrich (1983), der Nickau in vielem folgt, besteht auf zwei verschiedenen Begriffen. Wahrend Nickau (1966,164) den Unterschied zwischen Episoden im Drama und Episoden im Epos allein auf die Moglichkeit der mehrstrangigen Anordnung im Fall des Epos bezieht, erkennt Friedrich (1983, 51) auch einen inhaltlichen Unterschied, dernzufolge epische Episoden mehr Diversitat zulassen, die allerdings auf Kosten der Einheit der Handlung gehen. Damit baut Friedrich die von Nickau verabschiedete begriffliche Komponente des Digressiven letztlich wieder ein. Wiederum aber ist das Problem der richtigen Auslegung hier zu vernachlassigen. Fuhrmann (1973, 54-56) versteht Episode im Kontext der Kap.17 u. 23 zwar nicht im Sinne verselbstandigter Teile, rechnet sie aber auch nicht der ,.Haupthandlung« zu. Wie man den Ausdruck verstehen soil, sagt er aber auch nicht. Halliwell (1986, 259) hingegen unterscheidet zwischen ,.Episode« und »episodisch«. Episoden sind nach seiner Deutung notwendige Bestandteile jeder Darstellung von Handlung, und ein Werk ist nur dann als Ganzes episodisch (im pejorativen Sinne), wenn die Episoden funktionslos sind; aber sie sind es eben nicht schon deshalb, weil sie Episoden sind: »[In Aristotle] there are suggestions of episodes as scenes which flesh out or expand or give variety to the main scheme of action. This does not turn episodes into mere frills. If they become that, then a poem is flawed, and described derogatorily as >episodicmere stuffing< [ ... ]« (259, Anm. 10). Schmitt (2008) auBert sich zur Episode ausfiihrlicher nur im Rahmen von Kap. 9 der Poetik, in dem Aristoteles vom Adjektiv mit pejorativer Bedeutung Gebrauch macht, und lasst die Frage offen. Vgl. 399f. Zum dritten Mal: Die Frage der richtigen Exegese lasse ich unberiicksichtigt. Vgl. auch Martfnez/Scheffel (1999, 110). - Eine andere Reaktivierung des Begriffs der Episode findet sich in Meister 2003.

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n. Narratologische und poetologische Analysekategorien

als Gegenbegriff z. B. zum Kapitel auffassen, das nicht die Handlung, sondern die Darstellung segmentiert, und zwar nur die Darstellung (die Ebene des discours bzw. recit). Allerdings stehen sie nicht in einem analogen Verhaitnis zueinander. Episode und Kapitel konnen zusammenfallen, mussen ab er nicht. Kapitel konnen kunstlerisch motiviert oder frei gewahlt sein, sie konnen aber auch durch auBere Bedingungen erzwungen sein, etwa durch die Veroffentlichung in einem Periodikum mit begrenzter Seitenkapazitat pro Ausgabe; Episoden ab er sind dem Werk inharent und unterliegen weniger solchen auBeren Zwangen (auch wenn die periodische Veroffentlichung eine entsprechende Strukturierung durch den Autor mitpragen kann). Und schlieBlich: Eine (langere) Erzahlung kann auch ohne Kapitel auskommen, ohne Episoden im hi er zugrunde gelegten Sinn aber nicht. Martinez (ebd.) weist des Weiteren auf zwei Aspekte der Kategorie hin: auf den »internen Aspekt, der sich auf die Struktur der Episode selbst bezieht«, sowie den »kontextuellen (funktionalen) Aspekt, der sich auf die Position dies er Einheit in der narrativen Gesamtstruktur bezieht.« Es ist zu erwarten, dass die Analyse des Handlungszusammenhangs mit Hilfe dies er Kategorie sein spezielles Profil in angemessener Dichte abbilden kann. Das Profil des Handlungszusammenhangs wird nicht zu feinkornig und unubersichtlich ausfallen, ab er auch nicht zu grobkornig. Urn die Kategorie fur die Analyse fruchtbar zu machen, muss man als erstes erklaren, in welch em Sinne der Begriff in der vorliegenden Untersuchung zu verstehen ist. Diesbezuglich habe ich bereits erwahnt, dass ich das verbreitete Verstandnis, wonach Episoden Digressionen beinhalten, zuriickweise. 25 In einem zweiten Schritt sind Kriterien anzugeben, auf deren Basis man den Handlungszusammenhang in Episoden unterteilen kann. Dabei ist die Frage zu beantworten, wie aufeinander folgende Episoden voneinander abzugrenzen sind. GemaB dem Hinweis von Marttnez (ebd.) hangen die Episodengrenzen von »Ortswechseln, Zeitspriingen od er Veranderungen in der Figurenkonstellation« ab. Diesen Hinweis werde ich weiter unten aufgreifen. Zuvor mochte ich no ch ein mogliches Missverstandnis ausraumen. Martinez (ebd.) charakterisiert die Episode als »[r]elativ selbstandige [ ... ] Teil- od er Nebenhandlung« und als »in sich relativ geschlossene[n] Abschnitt des dargestellten Geschehens«. Was konnte das heiBen? Die »relative« Selbstandigkeit und Geschlossenheit einer Episode muss sich aus den Wechseln

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Ob das Aristoteles richtig wiedergibt, ist - zum vierten Mal- unerheblich. Trotzdem kann sich diese Position wohl mit einigem Recht auf Aristoteles berufen. »Epeisodia« sind nach Nickaus Interpretation (1966, 165) »einerseits Trager einer Handlungsfunktion (deren Notwendigkeit sich aus der Anwendung der Strukturformel auf einen bestimmten Stoff ergeben kann) und sollen anderseits >eigentiimlich< sein, d. h. iiber ihre dramatische Funktion hinaus auf das Ganze der zugrundeliegenden Sage oder das Schicksal der handelnden Personen weisen« [ ... ].

2. Der Begriff der Episode

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ergeben, die eine Erzahlung hinsichtlich des Orts, der Zeit und der Figuren aufweist. Die Einschrankung, die mit dem Attribut »relativ« ausgesprochen wird, ist hier von einiger Bedeutung. Denn in verschiedenen Typen von Erzahlungen (bzw. Romanen) kann die Episodenstruktur unterschiedlich ausfallen. In einem landlaufigen Sinne episodisch sind hauptsachlich solche Erzahlungen, deren einzelne Teile, also Episoden kaum miteinander zusammenhangen. Im Abenteuerroman wird die Einheit allein durch einen Helden erreicht, der an verschiedenen Orten verschiedene Abenteuer durchlauft, an denen immer neue Figuren beteiligt sind, wahrend die alten nicht mehr auftauchen. Je mehr die einzelnen Abenteuer miteinander in Beziehung stehen, desto weniger episodisch wirkt dies em Verstandnis zufolge die Erzahlung. 26 Wie bereits erwahnt, wird mit diesem Begriff der Episode haufig eine pejorative Konnotation verknupft. 27 Ahnlich ist auch die Verwendung des Begriffs, wonach Episoden sich ausschliefllich auf Nebenhandlungen beziehen, die keine direkte Funktion im Hinblick auf den Fortgang der Haupthandlung haben. Stattdessen mochte ich die Relativitat der Episodenstrukturen so verstehen, dass diese Strukturen in jedem Werk anders realisiert sind. Entsprechend hat fur mich auch ein Werk, dessen Teilhandlungen kaum durch auffallende Orts-, Zeit und Figurenwechsel gepragt ist, eine Episodenstruktur. Sofern es solche Veranderungen, und seien sie noch so minimal, aufweist, ist es fur mich episodisch strukturiert. Weist es keine solchen Veranderungen auf, bildet seine Handlung eine Episode. Was aber hat es mit der o. g. Eigenschaft der Geschlossenheit oder Selbststandigkeit auf sich? Geschlossenheit erlangt eine Episode allein durch den Bruch von Kontinuitat. Hierunter ist noch nicht der weiter ob en angesprochene »interne Aspekt« einer Episode zu verstehen, der durch einen »koharenten Kausalzusammenhang der in ihr dargestellten Ereigniskette hergestellt« wird (Martinez/Scheffel1999, 111). Die Geschlossenheit einer Episode bezieht sich hingegen auf die »syntaktische Funktion« (ebd.). Relativ ist die Geschlossenheit, wie gesagt, weil die Kontinuitat in unterschiedlicher Hinsicht gebrochen sein kann. Ein Zeitsprung, also eine narrative Ellipse in Genettes Terminologie, kann hier ebenso in Frage kommen wie ein Ortswechsel oder Konfigurationswechsel der Figuren. Eine Sequenz von Episoden, die in nur einer Hinsicht durch einen Wechsel gekennzeichnet ist, hat ein anderes Profil als eine Sequenz, deren Kontinuitat durch einen kompletten Konfigurationswechsel und einen Ortswechsel charakterisiert ist. 26 27

Noch eklatanter Wlt die handlungsbezogene Diskontinuitat beim Begriff des Episodenfiltns aus, dessen Einheit nur durch ein Thema oder gar nur durch eine Themensetzung gestiftet wird. Nickau (1966, 165f.) macht darauf aufmerksam, dass der pejorative Gebrauch bei Aristoteles nur im Zusammenhang mit einer adjektivischen Formulierung vorkommt.

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11. Narratologische und poetologische Analysekategorien

Was die interne Struktur einer Episode angeht, so lassen sich auch Unterscheidungen vornehmen, die davon abhangen, wie starr man die Kriterien formuliert, die iiber Anfang und Ende einer Episode entscheiden. So ware es moglich, das Kriterium des Ortswechsels groBziigig anzuwenden und als Ortswechsel z. B. nur Wechsel des Gebaudes oder etwas in dies er GroBenordnung gelten zu lass en. 28 Dann markierten kleinere Ortswechsel- also das Betreten eines neuen Raums od er Bewegung von der einen Ecke zur anderen Ecke - nicht Anfang und Ende einer Episode, sondern betrafen die interne Struktur der Episode. Analoges galte fiir die anderen Kriterien. Wie dies im Einzelnen in dieser Arbeit gehandhabt wird, werde ich im folgenden Abschnitt ausfiihren.

3. Kriterien zur Bestimmung der Episodenstruktur Nicht von ungefahr wird Aristoteles' epeisodion im Deutschen nicht nur mit »Episode«, sondern auch mit »Szene« iibersetzt. Das liegt u. a. daran, dass in der griechischen Tragodie der formale Abschnitt der Episode mit dem Auftritt des Schauspielers zusammenfallt. Mit steigender Komplexitat der Dramenhandlung aber loste sich der formale Bestandteil von seiner urspriinglichen Bestimmung. Die formale Bezeichnung konnte sich zu einer separaten Komponente verselbstandigen. Daraus erklart sich eine erste Moglichkeit der Episodenbegrenzung: Sie besteht in dem Hinzutreten oder Abtreten einer Figur bei raumzeitlicher Kontinuitat. Damit ware das AusmaB der so bestimmten Episode gleich dem der Szene bzw. des Auftritts in Manfred Pfisters (1977, 314f.) Sinne, den er mit dem Kriterium des »partiellen Konfigurationswechsels« bestimmt. Folgte man diesem Kriterium, miisste man die beiden Begriffe, Episode und Szene, nicht unterscheiden. Doch gehort die Szene zu den kleineren Einheiten. Fiir die Episode miissen also and ere Kriterien in Frage kommen. Naheliegend ist das Kriterium des, mit Pfister (1977, 313) gesprochen, »totalen Konfigurationswechsels«. Aber auch dieses Kriterium allein kann u. U. zu unbefriedigenden Konsequenzen fiihren, dann etwa, wenn ein Roman keinen solchen kompletten Wechsel der Figurenkonfiguration aufweist. Er wiirde dann nur aus einer Episode bestehen. Die Handlung wird aber nicht nur durch Konfigurationswechsel der Figuren unterbrochen, sondern, wie erwahnt, auch durch Ortswechsel und Zeitspriinge. Fiir die Bestimmung der Episodengrenzen sind diese beiden Kriterien gegeniiber dem Kriterium des kompletten Konfigurationswechsels privilegiert, weil jeder komplette Konfigurationswechsel entweder einen 28

Zur Differenzierung von Raumkategorien vg!. Dennerlein 2009.

3. Kriterien zur Bestimmung der Episodenstruktur

95

Ortswechsel oder einen Zeitsprung impliziert. (Das U mgekehrte gilt aber nicht: Zeitsprung und Ortswechse1 implizieren nicht notwendigerweise einen partiellen, noch einen kompletten Konfigurationswechsel.) Ein Episodenwechse1 ist maximal markant, wenn die Erzahlung alle drei Bedingungen erfiillt. Beziiglich der Kriterien des Zeitsprungs und des Ortswechse1s gibt es kein lmplikationsverhaltnis. Es geht daher nicht darum, welches Kriterium wichtiger ist, sondern allein urn das Zusammenspie1 der Kriterien. Das Episodenprofil einer Erzahlung ergibt sich daraus, welche Kriterien jeweils die Grenzen festlegen. Daher werden die entsprechenden Zellen in den Schemata (s. u., S. 97) grau eingefarbt. Analog zu dem Unterschied zwischen partieller und kompletter Konfigurationsveranderung der Figuren konnen auch Ortswechse1 und Zeitspriinge unterschiedlich deutlich ausfallen. lm Unterschied zum Kriterium der Figurenkonfiguration ist die exakte Bestimmung jedoch schwieriger, weil Figuren abzahlbare Entitaten sind, Raum und Zeit aber Kontinua bilden. Daher wird die Formulierung der entsprechenden Kriterien notgedrungen auf Zusatzannahmen zuriickgreifen miissen, wie es in dem Vorgriff am Ende des letzten Abschnittes bereits angedeutet wurde. In beiden Fallen sollte die genaue Formulierung am besten die Raumzeitstruktur der jeweiligen Erzahlungen beriicksichtigen. lm Fall der Aufbauromane ist diese Struktur etwa folgendermaBen beschaffen: Es gibt einen zentralen Ort, der durch die Ausdehnung des Werks (Kombinats) oder des Dorfes (der LPG) vorgegeben ist und innerhalb dessen Grenzen sich das meiste abspie1t. Hinzu kommt meist ein zweiter Ort (Stadt, Verwaltungszentrum), der auBerhalb des ersten situiert ist. Zeitlich umfassen die meisten Romane mindestens ein Jahr. Anhand der sowjetischen Beispielromane mochte ich im Folgenden das Zusammenspiel der Kriterien vorstellen. Das Episodenschema der ersten 113 Seiten - das sind vier von insgesamt siebzehn Kapiteln - von Gladkovs Zement (also knapp 25 % Prozent des gesamten Textes, der auf S. 463 endet) weist eine sehr einfache Struktur auf. Die Episodengrenzen fallen in der Regel mit Kapitel- bzw. Unterkapite1grenzen zusammen und sind vor allem durch Ortswechse1 markiert. Das Kriterium des kompletten Figurenwechse1s kommt im vorliegenden Ausschnitt von Zement kaum zur Anwendung, da Gleb hier (bis auf einen definitionsabhangigen Fall)29 durchgehend die Szenerie bestimmt. Allein aus29

Es handelt sich urn Szene 3 der Episode VII, als die Erzahlung Gleb einen kurzen Augenblick zugunsten Savcuks und seiner Frau Motja verHisst und dort sechs Zeilen verweilt, bis Savcuk Gleb die Tiir offnet (S.107£.). Da Gleb aber schon vor der Tiir steht und der Ort zurn Gebaudekornplex Nachbarschaft gehort, liegen hier weder ein kornpletter Konfigurationswechsel noch ein Ortswechsel vor. In der jiingeren Fassung von Zement iibrigens ist der kornplette

96

11. Narratologische und poetologische Analysekategorien

schlaggebend ist also der Ortswechsel mit der Zusatzannahme, dass unter »Ort« ein Gebaudekomplex verstanden wird. Es ist davon auszugehen, dass die Zeit in dem erfassten Handlungsabschnitt relativ kontinuierlich vergeht. (»Relativ« heiBt hier, dass es keine groBeren narrativen Ellipsen gibt als eine Nacht zwischen Episode III und IV.) Allerdings - und das ist nicht unwichtig - erzeugt der Text zum Teil den Eindruck von zeitlicher Diskontinuitat. Vor allem zu Beginn des 2. Kapitels, aber auch am Anfang des 3. Kapitels gibt es iterative Formulierungen (die sich auch deutlich im russischen Text wieder finden), die eine narrative Ellipse bis zum Besuch des Kinderheims andeuten. Diese Formulierungen stehen in Einklang mit Dasas Ankiindigung, fUr zwei Tage zu verreisen (Zement, 11). Dagegen aber spricht folgendes Datum: Auf S. 108 stellt Gleb Motja die rhetorische Frage: »Wessen Knochen habe ich gestern geknetet?« - »Gestern« deutet auf Kap. 1 (2. Unterkapitel), als er (offenbar) eine hausliche Vergewaltigung vereitelt bzw. unterbricht. Diese Faktoren verursachen Irritationen bei der Lektiire. Urn groBtmogliche Prazision zu erreichen, werden die einzelnen Szenen ebenfalls in das Schema aufgenommen, so dass es jeden Wechsel, also auch die partiellen Konfigurationswechsel, abbildet. Wie gesagt, wurde der Begrenzung einer Episode das Kriterium des Ortswechsels im Sinne eines Wechsels des Gebaudekomplexes zugrunde gelegt. Das hat zur Folge, dass am Anfang des Ausschnitts Glebs Gang zum Nachbarn ebenso wenig eine Episodengrenze markiert wie Glebs Ortswechsel von der Maschinenabteilung zur Fabrikleitung. 3o Das Zeichen »-+« solI andeuten, dass sich die Figuren bewegen. Gleb geht in Episode Il erst zum Werk und dann durch das Werk, wobei er schlieBlich in die Maschinenabteilung gelangt. Das folgende Unterkapitel jedoch ist iibergangslos in der Fabrikleitung verortet. In welcher Richtung und Entfernung dies er Ort zur Maschinenabteilung gelegen ist, ist nicht erkennbar. Es handelt sich urn einen Informationsmangel, der den Eindruck von Diskontinuitat hervorruft. Solche intra-episodischen »Scheinbriiche« tragen vermutlich ebenso zu einer leichten Desorientierung in der Lektiire bei wie die vorhin schon bemerkten widerspriichlichen Angaben von temporalen Indikatoren.

30

Konfigurationswechse1 eliminiert. Anders gesagt: Glebs Perspektive wird nicht verlassen, er steht schon in der Tilr und sieht die Saveuks. Vgl. Gladkow (1926b, 73 f.). Glebs und Dasas Haus sowie das Nachbarhaus der Savcuks zahlen als Gebaudekomplex. Dies ist ein Beispiei dafilr, dass im Einzelfall entschieden werden muss, wie weit man differenziert. Meine Maxime ist, die Episodengrenze so weit wie moglich hinauszuschieben. Im Hintergrund steht hier auch die Entscheidung, das Zementwerk, das aus mehreren Gebauden besteht, als einen Ort zu ziihlen, urn die Episodenzahl durch die zahlreichen Ortswechse1 innerhalb des Zementwerks nicht in die Hohe zu treiben. Auch darum ware es inkonsequent, die benachbarten Hauser als verschiedene Orte zu werten.

97

3. Kriterien zur Bestimmung cler Episoclenstruktur Episode

Szene

Figuren

Ort

Gleb, drei Frauen (Ehelrauen von Gromada und Lolak sowie eine Unbekanme)

!

ach H ause --+

Zei,

Kap.

Rii ckkehr nach drei Jahren Biirgerkrieg (F riihjahr 1921)"

1,1

G, Dala

Zuhause

G, Savcuk, Motja

)lachbarhaus

1,2 1,3

G, Klepka

Werk -+

G, Br)'nza

Maschinenabt. --+

G, Gromada, Losak, Mit'ka, Tetka Avdot'ja (beide zwi· schendurch), Klejst (am Ende)

Fabrikleitung

III

G,D

Zuhause, abends

Iterativ: nachste Tage? Benszene, evtl. selber Tag

2,1

IV

G,D

-+ Kinderheim

(Niichster) Morgen

2,2

G,D

Treppe /Ve randa

G, D, Njurka, Kinder, Ptlegerinnen

Saal

G, D, N, Kinder,

Klub

? (» Daschka ist nie zuhause ...• , S. 82) =:> mehr Zeit als nur 1 0.2 Tage

3,1

11

G, D, N, Domacha

Kiiche

G, D , N, Lizaveta, Win-

Speisekammer

1,4

schafterin G, D, N, Verwalterin V

VI

G,D

Weg z. Landstr.

G, Zuk, Sereia

Paneikomitee Un Palas, def Arbeit, SI.dt

G, S, D , Mechova, andere Frauen

Sitzungssaal bzw. anderes Zimmer

G, 5, Zidkij, Cibis, Luchava

)J'achbarzimmer

3,2

G, Mechova, D, andere Frauen, Zuk

voriges Zimmer

3,3

(implizit)

G, Luchava

Tiirschwelle

G, Mechova

Vorzimmer

G, D, Gromada, Losak, (Domacha, Lizaveta anwesend, aber erst spat er genannt)

Arbeiterklub im ebemaJigen Hous d. Werkdirektors

4,1

Analepse

+ Savcuk + Sergej Ivagin VII

G,D

Wog n.cb Hause

G,D

Zuhause

Savcuk, Motja

Nachbarhaus

Kurz daraul

4,2

+G G,D

Zuhause

Tab. 2.1: Episodenschema aus Zement, Kap.1-4. 31

Clark (1981, 270) weist darauf hin, dass einige sowjetische Kommentatoren die Handlung im Jahr 1920 verorten. Dafiir kiinnte sprechen, dass Mechova mit Bezug auf die Neue bkonomische Politik die Hoffnung ausspricht, dass der [laufende?] Parteitag (der RKP) die zu erwartenden Auswiichse dieser Politik unterbinden werde (Zement, 282). Dagegen ist vorher

11. Narratologische und poetologische Analysekategorien

98

Zum Vergleich sei nun das Episodenschema des ersten Viertels von Neuland unterm Pf/ug prasentiert. Das Schema zeigt zunachst elf von vierzig Kapiteln (entsprechend 111 von 468 Seiten). Das 12. Kapitel (5.111-133) folgt separat. Man sieht hier auf den ersten Blick ein ganz anderes Profil. Nicht nur ist die Frequenz der Episoden durch die zahlreichen Ortswechsel hoher, die Episoden sind auch untereinander starker verschachteIt, was hauptsachlich auf die Parallelhandlung zuruckzufuhren ist; und die einzelnen Episoden sind kaum mehr szenisch differenziert, weil es viele Massenszenen gibt. Das Figureninventar von Neuland unterm Pf/ug ist deutlich groBer als von Zement. Streng genommen musste man auch die jeweils 2. Szene der Episoden VI und VII als eigenstandige Episoden zahlen, aber da diese Passagen sehr kurz sind und gewissermaBen epilogartigen Charakter besitzen, habe ich darauf verzichtet. Ein anderer Punkt, der sofort ins Auge Wit, ist, dass nicht nur die Ortswechsel fur die hohere Diskontinuitat der Episoden sorgen, sondern auch komplette Figurenwechsel, da der Haupthandlung (Kollektivierung) nicht nur eine Gegenhandlung (Sabotage und geplante Konterrevolution) gegenubersteht, sondern sich die Haupthandlung auch selbst immer wieder in einzelne Parallelhandlungen aufspaItet, z. B. in die simuItane Raumung der Hofe von Frol Damaskov und Tit Borodin. Die Diskontinuitat der Episodenstruktur nimmt auch in Zement spater zu. Auch and ere Dbergange sind kommentierungsbedurftig. So ist der Dbergang von Episode XIII zu XIV nur ein partieller Konfigurationswechsel, weil Majdannikov in der Massenszene anwesend ist. Da ab er Episode XIV eine Individualepisode mit Majdannikov im Zentrum ist, kommt der Wechsel einer kompletten Konfigurationsveranderung fast gleich. Episode

Szene

Figuren

Ort

bit

Ein Mann: Poloycey [P]

Gremjacij log ->

Abend, Jan. 1930

Kap.

[P], Frau

II

P, Jakoy Lukic

Vor dem Haus JL

P, JL, Ehefrau, Schwiegenochter

ImHaus

III

Davydov, Parteisekretiir

Rajkom (Stadt)

IV

D

...... Gremjacij log (28 km)

D, Kos.ken (Scuk.r' [So 64])

Dorfsowjet, Hor

D, "-!'gul'noy

Dorfsowjet

V

(Kurz yorher)

Gegen Abend

D, N, Razmemov

vom »X. KongreB« (ebd., 97) und von der »X. Parteikonferenz« die Rede, die offensichtlich »in den nachsten Tagen« stattflnden soli (ebd., 149). Diese fand im Mai statt, wahrend Lenin schon auf dem X. Kongress im Marz 1921 die NOP offlziell verkiindigt hatte. Bezeichnenderweise fehlt Mechovas Hinweis auf den Parteitag in spateren Ausgaben. Vgl. Gladkow 1949, 182.

3. Kriterien zur Bestimmung der Episodenstruktur II

P,JL Jl, Mutter

HausJL

Nacht

VI

,D, N, R, Versammlung der Dorfan:nen (32 Figuren), darunter Pave1 Ljubilkin, Demkamakov

Dorfsowjet

(Nachster [5. 20f.]) Tag

D,N

Weg zu N-+

Nach Versammlung

Jl,P

VII

Analepse

99

Morgens

R

1913 bis etwa Gegenwan

VlIJ

R. Lebensgefiihnin Marina

BeiM

R

~

D, N, Se, Lj usw. (R)

Dorisowjet

D, N, Se, Lj, 3 Kosaken

-4

Nachster Tag, morgens

Tit Borodin

IX

N, Tit [T]

-+ Tubjanskaja

X

R, Dlhnka U§akov, Demid Molcun, Arkdk. Menok, v.sills., Igr!litenok u. a. + Fro!, Tllllofej [TO]

Hof von Fro! Oamaskov, Haus u. ~heune

.

Nach Versammlung

Zuhause

XI

N,T,Dusw.

Tiooks Hof

XII

R,O,N

Dorfsowjet

Abends

XIII

D, N, R, Dorfarme + Versammlung der

Schule

(Stunde [5. 82]) spat er

Zuhause

Danach, kurze interne Analepse

Mittags

Minelbauern. darunter

Majdannikov XIV

Kondrat Majdannikov

XV

M,Lj

-+ Oorisowjet

XVI

M,Lj,N

Tiooks Hof (neue Kolchosverwaltung [S.66J)

Nachs[er Morgen

M, seine Frau Anna

11

M, Lj,N,R, U XVII

XVIII

10

M,R,U

Kulak Lap~inev -+

M, R, U + (Nikita [5. 127]) Kuzenkov

StraBenbiegung

M, R, U + Lapsinov u. a.

Hef Lapsinev

Tab. 2.2: Episodenschema aus Neuland unterm Pflug, Kap. 1-11.

N ach dem 11. Kapitel holt die Erzahlung erstmals Luft. Es ist ein Zeitsprung mit stark geraffter Darstellung von mindestens vier Tagen zu notieren, an denen jeden Abend Versammlungen abgehalten werden (Neuland, 111). Hier ware also auch eine grau unterlegte Zelle in der Spalte Zeit fallig. Im 12. Kapitel erschlagen Polovcev, Jakov Lukic und Timofej, der Sohn des GroBbauern Damaskov, den Dorfarmen Nikita Choprov. Als ehemaliger Offizier der WeiBen war Choprov Jakov Lukic ausgeliefert und musste ihm manchen Dienst erweisen, weil dieser um Choprovs Vergangenheit Wllsste. Choprov jedoch hat mitbekommen, dass Jakov Lukic einen Konterrevolutionar beherbergt, und versucht nun seinerseits, Jakov Lukic in die Enge zu treiben. Als Polov-

100

11. Narratologische und poetologische Analysekategorien

cev von dem Mitwisser erfahrt, beschlieBt er, ihn no ch in derselben Nacht umzubringen. Das exakte Profil dieser Handlungssequenz sieht so aus, dass Jakov Lukic und Timofej nach Choprovs Drohung auf Jakov Lukics Hof gehen, urn Polovcev zu unterrichten. Umgehend begeben sich die drei zu Choprovs Haus. Vor der Tiir angekommen, klopfen sie an. Darauf folgen ein kompletter Figurenwechsel und eine interne Analepse sowie ein Ortswechsel in das Innere des Hauses: 32 Die Erzahlung holt Choprovs Ankunft zu Hause nach und schildert dann das Klopfen und den ersten Teil des anschlieBenden Wortwechsels aus seiner Perspektive. AIs Choprov nicht die Tiir offnen mochte, gibt es wieder einen Ortswechsel nach auBen, wo Timofej, Polovcevs Blick im Nacken, einen neuerlichen Versuch unternimmt, Choprov zum bffnen der Tiir zu bewegen. Erst als dieser dann tatsachlich den Riegellost, sind beide Handlungsstrange zusammengefiihrt. Im umgangssprachlichen Sinne bilden die einzelnen Ereignisse und Szenen, die dem Mord an Choprov und seiner Frau Mar'ja unmittelbar vorangehen, die ziemlich grausame Szene selbst sowie der anschlieBende Epilog, der kurz von dem Umgang der Beteiligten mit dem Verbrechen erzahlt, eine einzige Episode. Diesem Verstandnis gemaB ware die Einheit der Episode durch ihr thematisches Zentrum - namlich Choprov als Figur, die den Plan der Konterrevolution gefahrdet - gewahrleistet. Die Ermittlung eines thematischen Zentrums ersetzt diesem Verstandnis zufolge die Kriterien des Figuren-, Orts- und Zeitwechsels. Diese Episodenbestimmung bildet den Perspektivwechsel nicht ab und orientiert sich an einem ausschlieBlich inhaltlichen Aspekt. Legt man jedoch die genannten Kriterien bei der Bestimmung der Episodengrenzen zugrunde, ist man gezwungen, den Kontinuitatsbruch der Darstellung als Grenze zu bestimmen. Orts- und Figurenwechsellegen fiir die Passage folgendes Episodenschema nahe: Episode

Figuren

OTt

Zeit

XIX

JL, Gegner des Kolchos, darunter C hoprov

BeiBoImiv

Abend nach mind. 4Tagen

XX

JL, TD,P

JL --+ Choprov

Nacht

XX I

Ch, Marja (Analepse bis Gegenwan)

H aus Choprov

JL, TD, P, Ch, M XX II

TD, Uljana Achvatkina

Schule

XX III

JL,P

JL

Tab. 2.3: Episodenschema aus Neuland unterm Pflug, Kap. 12.

In diesem Episodenschema bedeuten die verbundenen Zellen in der Rubrik Zeit, dass die Episoden sich zeitlich partiell iiberschneiden. Die leeren Zellen 32

Hinzu kommt auf der Textebene noch ein mit einem Asterisk versehener Absatz.

3. Kriterien zur Bestimmung der Episodenstruktur

101

bedeuten, dass die Episode sich unmittelbar anschlieBt bzw. keine signifikante Zeitdauer bzw. kein Zeitsprung zu verzeichnen ist. Beim Dbergang von Episode XIX zu Episode XX wurde gespart, da zunachst Timofej undJakov Lukic zusammen nach Hause gehen, J akov Lukic dann aber Timofej warten Hisst, urn zunachst allein mit Polovcev zu sprechen. Erst danach gehen sie zu dritt zu Choprov. Die Ortswechsel (Choprovs Haus von auBen - von innen - und wieder von auBen) sind hier zugunsten der Figurenwechsel vernachlassigt. Man konnte die verbundenen Zellen in der Rubrik Ort auch trennen und entsprechend kennzeichnen. Die unterschiedlichen Episodenschemata spiegeln ganz gut zumindest meinen eigenen Lektiireeindruck wider. Sie zeigen, warum N euland unterm Pflug weitaus dynamischer als Zement wirkt. (Was aber nicht heiBt, dass eine Erzahlung umso lebendiger ist, je mehr signifikante Wechsel sie aufweist.) Wie oben angedeutet, ist die jeweilige Fassung der Kriterien hinsichtlich Ort und Zeit eine Ermessensfrage. Insbesondere Zeitspriinge werte ich nur als Kontinuitatsbruch, wenn der ungefahre Mittelwert einer Handlungssequenz gestort wird. In beiden Romanen sind Dialoge recht dominant, die zuweilen von kleineren Zeitspriingen umrahmt werden; diese sind nicht-signifikant, weil sie die Kontinuitat der Handlungssequenz nicht aufheben, sondern allererst herstellen. Nur Einschiibe, die zeitraffend gestaltet sind, markieren einen Kontinuitatsbruch. Da es sich urn eine Ermessensfrage handelt, konnte man ab er auch einige der geringfiigigeren Zeitspriinge als Einschnitte markieren und die entsprechenden Zellen in den Schemata grau unterlegen, urn auf diese Weise den Zeitverlauf zu verdeutlichen. So konnte man den Dbergang von Episode III zu IV in Zement, der mit dem Wechsel der Unterkapitel im 2. Hauptkapitel zusammenfallt und eine Nacht iiberspringt, entsprechend in der Rubrik Zeit kenntlich machen. Analog lieBe sich in Episode XIV von Neuland unterm Pflug ein Zeitsprung registrieren, der hier auch keine Kapitelgrenze markiert. Allerdings ist dadurch die temporale Kontinuitat kaum beeintrachtigt: Majdannikov schlaft namlich erst »kurz vor dem Morgen« ein und wacht schon wenig spater wieder auf (Neuland, 100). Auf solche Detailfragen kommt es mir aber nicht an. Sie sollen allenfalls verdeutlichen, dass die jeweilige Fassung der Kriterien auch davon abhangig zu machen ist, was man mit ihnen zeigen will. Worauf es mir ankommt, ist das Instrumentarium selbst, mit dessen Hilfe man die Handlung segmentieren kann, urn auf diese Weise ein bestimmten Kriterien gehorchendes Episodenprofil zu erhalten, das man mit auf analoge Weise gewonnenen Profilen vergleichen kann. 33 33

Fur eine Gegenuberstellung mit einem DDR-Aufbauroman vgL Tab. 4.1, Kap. IV.1.a.

102

11. Narratologische und poetologische Analysekategorien

Festzuhalten ist an dies er Stelle auBerdem, dass man mit Hilfe dieses Instrumentariums zeigen kann, worin bestimmte strukturelle Qualitaten von Texten wie z. B. Zement bestehen. Die Ornamentalitat von Zement ist nicht nur stilistischer Art (sprachlicher Ausdruck), sondern besteht zudem aus dem eigentiimlich unabgestimmten Verhaltnis von Zeit- und Episodenstrukturen. Demgegeniiber ist das Episodenprofil von Neuland unterm Pflug zwar komplexer, befindet sich aber zugleich groBtenteils in Obereinstimmung mit den temporalen Strukturen, was vermutlich fur eine bessere Zuganglichkeit des Textes insgesamt sorgt.

4. Dichotomische Poetik-Konzeptionen a. Voriiberlegungen Wie schon verschiedentlich angedeutet wurde, funktionieren sozialistischrealistische literarische Texte mutmaBlich anders als zeitgleich entstandene literarische Texte, die sich an der asthetischen Moderne orientieren. Der dieser Gegeniiberstellung zugrunde liegende systematische Unterschied wurde schon haufig mit antonymen Begriffen zu edassen versucht: Monologizitat vs. Dialogizitat (Bachtin), Asthetik der Identitat vs. Asthetik der Opposition (Lotman) oder auch Schematismus vs. Innovation (H. D. Zimmermann). In diesem Abschnitt solI es darum gehen, aus diesen Vorschlagen eine brauchbare Theorie zu entwickeln, die die Eigenheit der Aufbauromane beschreibt, ohne dabei in die normative Falle der Abwertung des einen Korpus gegeniiber dem anderen zu tappen. Ziel ist ein so neutrales wie einfaches Modell, mit dem sich die Aufbauromane als literarische Werke erfassen lass en. Wie in der folgenden Diskussion deutlich wird, leiden die bisherigen Modelle an gewissen Unschliissigkeiten, die es zu vermeiden gilt. Bevor ich beginne, ist eine Einschrankung zu formulieren. Es ist nicht beabsichtigt, mit dieser Unterscheidung die kulturelle Funktion der Texte zu edassen. 34 Es geht stattdessen darum, eine Art von poetologischem System zu finden, das den Werken des Sozialistischen Realismus adaquat ist. Meiner Ansicht nach scheitern alle Versuche, die in Anlehnung an Jakobsons funktionaler Sprach- und Literaturtheorie die Besonderheit dadurch

34

Vgl. hierzu Giinthers Uberlegungen (1984, 179-193), der die Besonderheiten des Sozialistischen Realismus mit Hilfe eines Vergleichs mit Platons »staatspadagogischer« Konzeption einerseits und dem »theokratischen« Kunstkanon des alten Agypten andererseits zu veranschaulichen versucht. Giinther stellt den durch und durch repressiven Charakter des literarischen Feldes in der Sowjetunion heraus, der das einzelne Werk gewissermaBen von vornherein seiner Identitat beraubt.

4. Dichotomische Poetik-Konzeptionen

103

erklaren, dass die asthetische Funktion in sozialistisch-realistischer Literatur zugunsten anderer Funktionen reduziert sei. Denn dies er Ansatz kann nicht erklaren, warum diese Literatur doch als kunstlerische wahrgenommen wurde - was schon dadurch als Tatsache verbucht werden kann, dass man innerhalb des Korpus kunstlerische Unterschiede ausmachte. AuBerdem gibt es zwischen sozialistisch-realistischen Romanen und nicht-belletristischen sozialistischen Propagandatexten einen Unterschied, so dass die These von der Annaherung der ersten Gruppe an die zweite nur vor dem Hintergrund dieses Unterschieds uberhaupt begriindbar wird. Mag der Unterschied zwischen sozialistisch-realistischen Romanen und sozialistischen Propagandatexten zuweilen auch sehr gering ausfallen, so muss der Unterschied doch, legt man Jakobsons Sprach- und Literaturtheorie zugrunde, uber die Dominanz der asthetischen Funktion erklart werden. Spricht man mit Blick auf sozialistisch-realistische Literatur von reduzierter Poetizitat bzw. Literarizitat, so misst man diese Literatur an einem MaB, das fur sie offenbar nicht geschaffen ist. 35 Dieses MaB ist nicht die Abweichungs- bzw. Innovationspoetik selbst, wie man zunachst denken konnte. Es handelt sich urn ein MaB, das literarische Texte nach Divergenz, Regelbruch und Originalitat, nach Innovation, Irritation und Autonomie bzw. Autotelizitat bemisst, dabei ab er literarische (narrative, normative, psychologische etc.) Systeme als VergleichsgroBen heranzieht, die der sozialistisch-realistischen Literatur im Allgemeinen und den Aufbauromanen im Besonderen nicht angemessen sind. 36 An den aus der literaturwissenschaftlich kanoni-· sierten, d. h. als anspruchsvoll akzeptierten Literatur gewohnten Systemen gemessen, kann die Literatur des Sozialistischen Realismus nur verlieren. Zu ihrer Beschreibung bieten sich folglich auch nicht die Komplementarbegriffe zur Abweichung an: Konvergenz, Konformitat und Konventionalitat, Imitation, Affirmation und Heteronomie. Alle diese Begriffspaare kranken daran, dass sie korpusrelativ sind. Sie konnen nicht zur Unterscheidung der beiden Korpora herangezogen werden, weil sie alle geeignet sind, auch Unterschiede innerhalb eines Korpus zu benennen. Es handelt sich urn relationale Eigenschaften. Einfach gesagt: Auch ein innovativer Text wie z. B. Uwe Johnsons Mutmassungen uber Jakob (1959) kann imitiert werden. Das Imitat besitzt 35

36

So auch Morson (1979), der zu Recht das Anlegen falscher Mlillstabe kritisiert. Seine Schlussfolgerung, auf die Bestimmung einer Menge von charakteristischen Merkmalen zu verzichten, halte ich ebenso fur ubereilt wie seine Behauptung fur falsch, in sozialistisch-realistischer Literatur sei die asthetische Funktion reduziert. Damit kann er nicht erklaren, warum diese Literatur trotzdem in erster Linie fUr Literatur gehalten wurde und wird. Ahnlich unschlussig ist auch Fast (1999, 39 u. 46). Denn Begriffe wie Divergenz usw. implizieren ein Korrelat, zu dem sich ein zu analysierender Text verhalt, und es ist nicht unwichtig, Korrelate zu wahlen, die dem zu analysierenden Text angemessen sind.

104

11. Narratologische und poetologische Analysekategorien

uberwiegend die spezifischen Eigenschaften des Originals, wahrend die genuinen Eigenschaften des Imitats demgegenuber unbedeutend sind. Damit ist das Imitat weitgehend identisch mit dem Original, jedoch ohne originell oder innovativ zu sein. Es bricht keine Regel und zerstort keine Erwartung wie das Original. Diese Eigenschaften verliert es gerade dadurch, dass es ein Imitat ist. Trotzdem gehort es eher zum Korpus der modernen Literatur als zur sog. Schemaliteratur. 37 Ahnlich verhalt es sich mit dem Begriff des Schemas bzw. Musters, der zur Beschreibung von Literatur herangezogen wird, die gerade nicht innovativ uSW. ist. Zur Unterscheidung von Werken innerhalb der Schemaliteratur nutzt man den Begriff der Variation als Komplementarbegriff zu dem der Innovation. Hier wird erst recht deudich, dass die Unterscheidung ein Kontinuum mit unscharfen Abschnitten impliziert. Der tiefere Grund liegt darin, dass der auf diese Art und Weise vorgenommenen Unterscheidung komparative Begriffe unterliegen. 38 Daruber hinaus geben die genannten Komplementarbegriffe wie Imitation, Konvention usw. keine fur die Textanalyse fruchtbaren und interessanten Zielvorgaben her. Dass ein Text ein bestimmtes Muster abbildet oder Schema erfullt, ist eine Feststellung, die dem Text, sofern er kein Plagiat od er Imitat ist, notwendigerweise nicht gerecht werden kann, so trivial und so wenig originell er vielleicht auch sein mag. Ein erster Vorschlag lautet nun, eine andere Art von Eigenschaften fur die Abgrenzung der beiden Literatursorten zu nutzen. Nicht solche Eigenschaften, die ein Werk in Relation zu anderen setzen (wie die Eigenschaft, innovativ zu sein), sondern Eigenschaften, die ein gegebenes Werk unabhangig vom Verhaltnis zu anderen Werken charakterisieren. Sozialistischrealistische Literatur weist typischerweise die Eigenschaft auf, dass die Bedeutungsstruktur eindeutig, einschichtig, explizit und »abgeschlossen« ist. Demgegenuber ist die Bedeutungsstruktur literaturwissenschaftlich besser akzeptierter Literatur notorisch mehrdeutig, mehrschichtig, implizit und offen. 39 Eindeutigkeit, Monothematik, Transparenz und Monovalenz stehen Ambivalenzl Ambiguitat, Polythematik, Opazitat und Polyvalenz gegenuber.

37 38 39

Das liegt moglicherweise daran, dass es innerhalb dieses Korpus eher eine Ausnahmeerscheinung ist, wwend Imitate im Korpus der Schernaliteratur ein Massenphanomen sind. Zum Unterschied zwischen komparativen und klassifikatorischen Begriffen vg!. Strube 1993. Das kann man wohl als allgemeinen Konsens festhalten. Vg!. Z. B. Bachtin 1929/63, auf den das Begriffspaar "geschlossen vs. offen« zuriickgeht, Eco 1962, Bode 1988.

4. Dichotomische Poetik-Konzeptionen .

105

b. Verschiedene theoretische Ansatze Wie lasst sich diese grobe Gegeniiberstellung prazisieren? Einer der ersten, die dies en Gegensatz formulierten, war Michail Bachtin (1929/63), dessen Ziel es urspriinglich war, die spezielle Poetik der Erzahlungen und Romane Fedor Dostoevskijs zu beschreiben. Das Charakteristikum dieser Poetik brachte er bekanntlich auf den Begriff der Polyphonie bzw. Dialogizitat und stellte ihr die Poetik der Monologizitat gegeniiber. Diese zeichnet sich vor allem durch einen auch die kiinstlerische Struktur vereinheitlichenden ideologischen Diskurs aus. Die weltanschaulichen Gedanken und 1deen, die im Roman zum Ausdruck kommen, sind nicht auf die erzahlte Welt beschrankt, sondern gelten auch fiir die Welt des Autors. »[ ... ] Gedanken werden nicht dargestellt, sie werden behauptet« (1929/63, 88). Hinzu kommt nach Bachtin, dass diese Gedanken und 1deen im monologischen Text eindeutig formuliert sind und der behaupteten ideologischen Position zweifelsfrei zugeordnet werden konnen. Was dies er Position nicht zugeordnet werden konne, habe keine Bedeutung: »1n der monologischen Welt tertium non datur: der Gedanke wird entweder behauptet oder verneint, sonst hort er einfach auf, ein bedeutungsvoller Gedanke zu sein« (ebd., 89). Des Weiteren weist Bachtin (ebd., 92) darauf hin, dass die Verankerung der 1deologie im Text auf verschiedene Weise erfolgen kann: erstens [durch] das Prinzip, nach dem die Welt gesehen und dargestelIt wird, das Material ausgewahlt und zusammengestelIt wird, das Prinzip, das alIen Elementen des Werkes den gleichen ideologischen Ton vermittelt; zweitens kann die Idee mehr oder weniger deutliche oder bewuBte SchluBfolgerung aus dem DargestelIten sein; drittens schlieBlich kann die Idee des Autors unmittelbaren Ausdruck in der ideologischen Position des Haupthelden find en. Dieser Hinweis ist insofern wichtig, als er deutlich macht, dass es fur den Transport der 1deologie durchaus verschiedene Mittel gibt, die keine anderen als kiinstlerisch-literarische Mittel sind. Monologische literarische Texte sind somit nicht kiinstlerisch-literarisch unsensibel bzw. indifferent. Bachtin differenziert im Anschluss an das Zitat die drei Modi des ideologischen Transportes und deutet damit die Komplexitat an, die auch ein monologischer Text haben kann, sofern er seine 1deologie eher indirekt (als Schlussfolgerung) transportiert. Ein letzter Hinweis ergibt sich aus Bachtins Bemerkung iiber den Fall, in dem die 1deologie iiber einen Helden als Sprachrohr vermittelt wird: »Es ist nicht notig, auBerhalb des vorliegenden Werkes nach Dokumenten zu suchen, die die Ubereinstimmung zwischen der 1deologie des Autors und der des Helden bestatigen« (ebd., 93). Diese Beobachtung lasst sich folgendermaBen verallgemeinern: Der monologische Text ist insofern interpretatorisch unproblematisch, als er alle 1nformationen, die fiir

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11. Narratologische und poetologische Analysekategorien

eine eindeutige Interpretation notig sind, selbst enthalt. Er ist nicht fragmentarisch. Dariiber hinaus sind monologische Texte insofern eindeutig, als Bedeutungszuweisungen erwartbar unstrittig sind, und insofern transparent, als sich diese Bedeutungszuweisungen ohne textanalytische Verrenkungen aufdrangen, und insofern monothematisch, als diese Bedeutungszuweisungen auf einer Ebene liegen bzw. genau ein Bezugssystem erfordern (im vorliegenden Fall den Sozialismus), und insofern monovalent, als sich alle normativ relevanten Elemente einem bipolaren Normensystem (positiv vs. negativ) eindeutig zuordnen lassen. Fur Bachtin waren auch Lev Tolstojs Texte monologisch. Monologische Texte sind nicht notwendigerweise simpel. Die Simplizitat mancher nach Bachtin als ebenfalls monologisch einzuschatzender Texte riihrt von ihrer Monothematik her (dazu spater mehr). Wahrend Bachtin auf diese Weise potentiell nicht-relationale Eigenschaften zur Unterscheidung von zwei Poetiken wahlt, schlagt Jurij Lotman (1970) einen anderen Weg ein. Er spricht von einem Unterschied zwischen einer ».Asthetik der Identitat« und einer ».Asthetik der Opposition« und verbindet ihn mit einem Kommunikationsmodell. Wahrend in der .Asthetik der Identitat Empfanger und Sender denselben Code nutzten, fordere ein Text, der der .Asthetik der Opposition gehorcht, vom Sender einen neuen Code. Lotman (1970,46) unterscheidet innerhalb der .Asthetik der Identitat eine Variante, der gemaB die Identitat des Codes nicht »die Bedingung ror die kunstlerische Kommunikation« ist, sondern der gemaB der Autor diese Identitat »zu kaschieren« versucht. Was Lotman damit meint, erlautert er bezeichnenderweise erst gegen Ende seiner Abhandlung (weil es offenkundig ideologisch brisant war). Im Zusammenhang mit dem Ziel, aus der Gegenuberstellung der beiden .Asthetiken Bewertungskriterien fur die Qualitat eines Textes zu entwickeln, behauptet Lotman (1970, 439f.), daB die Einhaltung der Kanones, Normen und Schablonen, die der .Asthetik der Identitat eigen ist, uns nicht erziirnt und uns nicht als kiinstlerischer Mangel erscheint, wenn wir beispielsweise den Text eines Volksepos oder Zaubermarchens lesen. Wenn wir indessen mit denselben strukturellen Besonderheiten in irgendeinem zeitgenossischen Roman aus dem Kolchosleben konfrontiert werden, entsteht in uns ein bestimmter Eindruck des Antikiinstlerischen, der Zerstorung der Lebenswahrheit. Die Formel: »Ich habe die ganze Struktur zuvor vorhergesehen«, todlich fur Werke des zweiten Typus, wirkt auf die qualitative Bewertung des ersten nicht ein. Lotman (1970, 440) sieht das Problem des sozialistisch-realistischen Romans darin, dass seine spezifische Form den Leser »eine neue Erklarung der Wirklichkeit« erwarten lasse, weil eben dies die Funktion des realistischen Romans im 19. Jahrhundert gewesen sei, die der sozialistisch-realistische Roman ana-

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chronistisch reanimiere. 40 Was die Form verspreche, lose der sozialistischrealistische Roman aber nicht ein. »Indessen ist das Werk in Wirklichkeit auf der .Asthetik der Identitat, auf der Realisation von Schablonen aufgebaut« (ebd.). Lotman tragt damit zu einer Differenzierung der beiden kontrastierenden asthetischen Konzeptionen bei. Im Folgenden solI es aber gerade nicht urn die Bewertung der asthetischen Qualitat gehen. Stattdessen solI Lotmans Hinweis nachgegangen werden, die .Asthetik der Identitat baue auf dem Prinzip der Redundanz auf (vgl. Lotman 1970,45 u. 433f.). Damit stellt er einen anderen Aspekt in den Mittelpunkt der .Asthetik der Identitat. Redundanz ist gewissermaBen das pragende Strukturmerkmal von Bachtins Begriff der Monologizitat, da Eindeutigkeit durch Redundanz zwar nicht hergestellt, ab er befordert und verstarkt wird. Lotman geht daneben auch insofern uber Bachtin hinaus, als er das Verhaltnis von Redundanz und Varianz problematisiert. Denn ohne Varianz »stellte jedes neue Werk nur die exakte Kopie des vorangegangenen dar, die Redundanz erdriickte die Entropie und das Kunstwerk verlore seinen Informationswert« (Lotman 1970,434). Wahrend also die .Asthetik der Identitat auf dem Spannungsverhaltnis zwischen Redundanz und Varianz aufgebaut ist (wobei die Varianz uber eine »Generalisierung«, d. h. eine Erweiterung des von einer bestimmten »Schablone« gewahrten Spielraums, erreicht wird), folgt die .Asthetik der Opposition nach Lotman allein dem Prinzip der Innovation: Die Schablone, die grundlegend fur ein Werk der .Asthetik der Identitat ist, wird gemaB der .Asthetik der Oppositon negiert od er transformiert. Wahrend Bachtin Monologizitat uber die Ubiquitat und Eindeutigkeit des ideologischen Diskurses erklart, besteht ein Vorteil von Lotmans Begriff in der Verallgemeinerung auch auf nicht-ideologische Elemente eines Werks. Dies erreicht er durch den Begriff der Schablone. Werke, die der .Asthetik der Identitat gehorchen, basieren auf einer Schablone, sei sie ideologisch, sei sie figuren- oder handlungsbezogen. Problematisch an Lotmans Begriffspaar ist, dass nicht angegeben wird, wo der Punkt anzusetzen ist, an dem eine Schablone transformiert oder gar negiert wird. Es stellt sich die Frage, ob sich hinter den einander ausschlieBenden Begriffen ein Kontinuum von Phanomenen verbirgt statt zweier sauberlich voneinander getrennter Einzelbereiche; oder ob sich Kriterien angeben lass en, mit denen man den Umschlag von Schablonenkonservierung in -transformierung ermitteln kann. An dieser Stelle sei ein terminologischer Exkurs eingefugt, da mit »Schablone« noch ein weiterer Ausdruck ins Spiel geraten ist, der in Konkurrenz zu »Schema« und »Muster« tritt und den ich nicht aufgreifen mochte. Wie aus 40

Im Vorgriff auf die Argumentation im VII. Kap. Hisst sich einwenden, dass man keineswegs gezwungen ist, sozialistisch-realistischer Literatur Anachronismus zu unterstellen.

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der bisherigen Verwendung des Wortes in den vorangegangenen Abschnitten ersichtlich, benutzte ich »Schema« vor allem zur Bezeichnung der graphischen Darstellung von etwas, das ich bisher meist als »Muster« bezeichnet habe. Die beiden Ausdrucke werden haufig synonym gebraucht, aber sie verhalten sich hier analog zu Fabel und Sujet oder histoire und discours. Da der Ausdruck »Muster« aber genauso ambig ist wie Schema, werde ich ihn von nun an durch den Ausdruck »Struktur« ersetzen. Ein (graphisches) Schema reprasentiert demnach eine bestimmte Struktur. Dieselbe Struktur konnte auch anders dargestellt werden. »Schema« bezeichnet also das Wie der Darstellung, »Struktur« das Was, das Dargestellte. Diese Unterscheidung empfiehlt sich besonders dann, wenn man die Art und Weise der Darstellung problematisieren mochte. Darum geht es mir hier allerdings nicht. Ich nehme diese Unterscheidung lediglich der Ordnung halber vor, urn moglichen Verwechslungen vorzubeugen. Der Begriff der Struktur hat dariiber hinaus gegenuber Begriffen wie dem des Musters od er dem des Schemas den Vorteil, dass er individuell einem Werk zuschreibbar ist, ohne dass damit die Behauptung einer Teilidentitat mit anderen Werken verbunden ware. Ungefahr extensionsgleich mit dem Begriff des Musters, wie er hier verwendet wird, ware der Begriff der Struktur in Kombination mit dem Zusatz der Invarianz. Wenn es also urn uberindividuelle bzw. vom einzelnen Werk abstrahierte Strukturen geht, spreche ich explizit von invarianten Strukturen oder auch (mit H. D. Zimmermann, s. u.) von Systemen. 41 Systeme sind letztlich nichts anderes als literaturwissenschaftliche Kategorien oder Begriffe, deren Intensionen jeweils aus einem Merkrnal bestehen, das bestirnmte Werke gemeinsam haben und das die Einhe it eben dieser Gruppe stiftet. Wahrend (der spate) Bachtin und Lotman bei ihren Uberlegungen sozialistisch-realistische Romane im Hinterkopf gehabt haben, bezieht sich Hans Dieter Zimmermanns Konzeption der Schemaliteratur in erster Linie auf sog. Trivial- und Unterhaltungsliteratur. Auch seiner Konzeption liegt eine Dichotomie zugrunde, die in mancher Hinsicht analog ist zu den Vorschlagen Lotmans und Bachtins. Zimmermanns Ziel ist es, die fur ihn nicht sachgemaBe Einteilung in Trivial-, Unterhaltungs- bzw. Tendenz- und sog. Literatenliteratur (= moderne Literatur) durch ein konsistentes Modell zu ersetzen. Er nennt zwei Grundbegriffe, die er dem polnischen Strukturalisten Janusz Slawinski entlehnt: System und Norm. Vnter literarischen Systemen verstehen wir die innerhalb der Gattungen sich herausbildenden Genres, innerhalb des Romans etwa Gesellschaftsroman, Liebesroman, Eheroman, Abenteuerroman usw. Sie sind also dem einzelnen 41

Der Begriff geht zuriick auf Tynjanov 1924 und 1927. Fur eine anspruchsvolle begriffliche Differenzierung unter literarhistorischer Fokussierung vg!. Titzmann 1989 und 2002.

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Werk ubergeordnete Ganzheiten. Das einzelne Werk, dessen Struktur, ist die Realisation einer Moglichkeit des Systems, das alle Moglichkeiten enthalt. (Zimmermann 1979, 32£.) AuBerdem konnen nach Zimmermann (1979, 32) auch »stilistische, thematische, metrische Prinzipien« zur Konstitution von literarischen Systemen beitragen, wahrend Ideologien »auBerliterarische Systeme bilden«. Welche Stelle im System ein gegebenes Werk besetzt, hangt nach Zimmermann von der Norm ab, der ein Werk unterwoden ist; diese geht letztlich auf die »individuelle Initiative des Schriftstellers« zuruck (1979,33). Normen sind also no ch allgemeiner als Systeme. Sie bestimmen, wie sich ein Werk zur literarischen Tradition verhalt, die aus der »Gesamtheit der literarischen Systeme« besteht (ebd.). Die von der Literaturwissenschaft kanonisierten Texte der modernen Literatur verhalten sich oftmals negativ zur literarischen Tradition. Anders ausgedruckt: »Die mod erne Literatur wird von einer Norm hervorgebracht, die bestimmte von ihr bevorzugte Systeme dirigiert: die Norm der Innovation. Sie verlangt Originalitat des Werkes; sie forciert die Individualitat des Autors« (1979, 35). Dem gegenuber steht die Norm der Schemaliteratur, »die vom neuen Werk nur eine geringfugige Variation verlangt« (1979,36). »Das Schema legt das neue Werk weitgehend fest, der Spielraum fur Variationen ist minimal« (ebd.). Nicht Abweichung von der Tradition, sondern ihre Imitation sei, so Zimmermann, maBgeblich fur die Stelle, die ein Werk der Schemaliteratur in einem System besetzt. Mit dies er Konzeption gelingt es Zimmermann, das, was man gewohnlich unter »Trivialliteratur« versteht, literaturtheoretisch zu verorten. Sie erscheint damit nicht mehr als schlichte Negation von serioser Literatur, sondern steht in einem bestimmten Verhaltnis zu dieser und nimmt eine eigene Stelle in der literarischen Tradition ein. Wie schon Lotman (1970, 432) feststellt, ist die Literatur, die Zimmermann »Schema-Literatur« nennt, keine Ausnahme, sondern eher die Regel. Und wie bei Lotman, so existiert auch in Zimmermanns Konzeption ein enger Zusammenhang zwischen den beiden Normen Innovation und Schematismus. Beiden liegt das Prinzip der Variation zugrunde. Zimmermann (1979, 35) stellt daher mit Bezug auf die moderne Literatur fest, »daB auch in dies em Bereich neue Werke nichts anderes als Variationen innerhalb der Tradition sind«. Fur diese Konzeption trifft zu, was eingangs in dies em Abschnitt dargelegt wurde: Man hat es bei genauerer Betrachtung nicht mit einer begrifflichen Dichotomie zu tun, sondern mit einem graduellen Begriff. Die Zuordnung eines einzelnen Werks zu einer Stelle in einem bestimmten System hangt davon ab, wie stark das betreffende Werk die Systemvorgaben bzw. Konventionen variiert. Wo die Variation noch Schematismus, wo schon Innovation ist, lasst sich

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nicht mit Sicherheit angeben. So gesehen, bringt jedes System eigene Normen hervor, denen ein Werk gehorchen kann od er nicht. Daher nennt Zimmermann weitere Normen, die dazu beitragen, die Schemaliteratur von anderer Literatur abzugrenzen. In Abgrenzung zur modernen Literatur hande1t es sich auGer um Konventionalitat (dies en Begriff vermeidet Zimmermann und spricht stattdessen von »Reduktion des Systems«) um »Wirkungsasthetik« und »fehlende Individualitat« des Autors (1979, 60). Demgegeniiber machten die mod erne Literatur »Darstellungsasthetik, Individualitat, Innovation des Systems« aUSj und »in der Regel kommt noch ein viertes hinzu: Reflexion des Darstellungsvorgangs innerhalb des Werkes« (ebd.). Der Unterschied zwischen Wirkungs- und Darstellungsasthetik liegt nach Zimmermann darin begriindet, dass Werke, die der Wirkungsasthetik folgen, primar einen auGerliterarischen Inhalt vermitteln (wollen) bzw. auGerasthetischen Normen unterliegen, wahrend Werke, die der Darstellungsasthetik verpflichtet sind, primar ihre spezifisch literarisch-asthetischen Eigenschaften zum Gegenstand haben. Entsprechend richteten sich Werke der ersten Gruppe an ein Publikum, das nicht in erster Linie literarisch interessiert sei, und Werke der zweiten Gruppe an Spezialisten. Wahrend die Qualitat eines Werkes der ersten Gruppe sich nach der Quantitat seiner Leser bemesse, sei fiir die Qualitat der Werke der zweiten Gruppe die Literaturkritik zustandig (vg!. Zimmermann 1979, 51). 1st nun sozialistisch-realistische Literatur »eine propagandistische Variante trivialer Schemaliteratur«, wie Giinther (1984, 178) einen oft geauBerten Verdacht zusammenfasst? Nach Zimmermann (1979, 59) ware das wohl zu pauschal, denn: Schema-Literatur ist die Reduktion eines Systems und die normative Bindung an diese Reduktion. Die Wirkungsasthetik reicht dariiber hinaus. Denken wir an die Richtung des Marxismus-Leninismus, der ein eigenes System der Literatur propagiert und durchgesetzt hat, wo er die Macht dazu hatte: es vereint ideologische und asthetische Ausrichtung, umfasst mehrere literarische Systeme, die aber durch die starke Normierung zu neuer Integration gezwungen werden und so ein »Kollektiv-System« ergeben konnen, den »sozialistischen Realismus« etwa. Der Sozialistische Realismus ist als »Kollektiv-System« zu komplex (und hat sich in der Zeit seiner Existenz zu stark gewandelt), als dass man ihn auf ein Schema reduzieren konnte. Auch die Individualitat des Autors, die im Sozialistischen Realismus trotz aller Repression erhalten bleibt, und die Anspriiche und Reaktionen der Literaturkritik sprechen nicht dafiir, sozialistisch-realistische Literatur pauschal der Schemaliteratur in Zimmermanns Sinne zuzuschlagen. Denn die Wirkungsabsicht, die sozialistisch-realistische Literatur auszeichnet, - ihre sozialpadagogische Funktion - ist nicht unbe-

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dingt am Publikum orientiert, fur das sie offiziell bestimmt ist, sondern an den Erwartungen der Literaturkritik. Es gibt allerdings Griinde, die dieses Ergebnis etwas re1ativieren. Zum einen ist auf den im vorigen Kapitel erwahnten Umgang mit Neuauflagen hinzuweisen (die Umarbeitung der Texte nach Ma6gabe kulturpolitischer Veranderungen), der die Individualitat des Autors ebenso unterminiert wie die Quere1en mit Zensur und Lektorat (vgl. Wichner/Wiesner 1993 und Barck et al. 1997); zum anderen auf die standardisierten Forme1n der Literaturkritik, die die Werke des Sozialistischen Realismus dann eben doch auf einen recht engen Bereich von Wahlmoglichkeiten festzulegen scheinen (Stichwort: positiver Held). Wenn nicht der Sozialistische Realismus als ganzer als Schemaliteratur in Zimmermanns Sinne bezeichnet werden kann, so konnten vielleicht einzelne Korpora wie der Aufbauroman mit der gebotenen Vorsicht durchaus der Schemaliteratur zuzuordnen sein.42 Es kommt mir nun aber nicht primar auf die Klassifikation von Werken an, sondern auf die Gewinnung einer Untersuchungsperspektive. Denn der theoretische Gegensatz zwischen Imitations- und Innovationspoetik, so schlussig er auf den ersten Blick erscheinen mag, fuhrt in der Praxis der Textinterpretation dazu, in dies em Sinne imitationspoetische Werke immer nur im Hinblick auf Schemaedullung zu untersuchen. Entsprechend wird ihnen - durchaus nicht zu U nrecht - ein grundsatzlich affirmativer Charakter zugeschrieben. 43 Was aber bei dies er Betrachtungsweise zu kurz kommt, sind die Besonderheiten der Werke der Schemaliteratur. Die Dichotomie zwisehen lmitationsund Innovationspoetik dient in erster Linie dazu, die Besonderheiten der »modernen« Literatur herauszustellen und die Besonderheiten der »anderen« Literatur zu ignorieren. Meines Erachtens ist den Ansatzen von Lotman wie Zimmermann eigen, dass sie einen Kontrast zwisehen zwei Sorten von Literatur herstellen, dem gema6 die eine Sorte von der Warte der anderen Sorte aus gesehen wird. Se1bst Zimmermann, dessen Anliegen es ist, die Eigenart der Sehemaliteratur neutral herauszustellen, unterliegt dies em Perspektivzwang. Wahrend Se he42 Mein Vorbehalt gilt den Unterschieden, die sich zum einen aus der engen Verbindung der

sozialistisch-realistischen Literatur mit dem Staatsapparat ergeben und zum andem mit dem Selbstverstandnis der Autoren zusammenhangt, die selbst im Falle bedingungsloser Unterordnung unter die Parteidisziplin nicht vollstandig auf die Moglichkeit verzichteten, individuelle Erfahrungen in ihre Literatur zu integrieren. 43 Diese Sichtweise spricht aus H. D. Zimmermanns durchweg anregenden Beispielen, z. B. in der Gegeniiberstellungvon Spielhagens und Fontanes (auf dasselbe historische Ereignis bezogenen) Eheromanen, von denen Spielhagens die zeit- und kulturspezifischen Vorurteile laut Zimmermann bestatigt, wahrend Fontanes Version sie unterlauft. Ebenso sieht Wildberger (1988) die von ihm auf ihren Schematismus hin untersuchten Arzt-Romane als affirmativ an im Hinblick auf die von ihm sog. Bediirfnisindustrie.

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H. Narratologische und poetologische Analysekategorien

maliteratur geringe Wahlmoglichkeiten habe und gewissermaBen unfrei sei, habe »Literatenliteratur« alle Moglichkeiten. Der entscheidende Fehler bei dieser Gegenuberstellung besteht darin zu ubersehen, dass auch die Variationsmoglichkeiten schemagebundener Literatur unendlich sind. Der Kontrast ist asymmetrisch, weil Schemaliteratur in Gegenuberstellung mit moderner Literatur dadurch als defizitar erscheint, dass der Kontrast auf dem Begriff der Variation griindet, der ein Maximum und ein Minimum erlaubt. So gesehen muss Schemaliteratur unterkomplex sein. Sie ist es aber nur, wenn man diese Gegenuberstellung derart modelliert, dass die prinzipiell unendlichen Variationsmoglichkeiten eines Musters bzw. Schemas in H. D. Zimmermanns Sinn ausgeblendet werden. Wenn man sich jedoch vor Augen halt, dass auch innerhalb eines als Schema zusammengefassten Korpus literarischer Werke die Zahl von Variationsmoglichkeiten unendlich ist, konnen die Werke einen unerwartet hohen Komplexitatsgrad erreichen. Diesen zu erfassen setzt allerdings die genaue Kenntnis des Korpus voraus. Andernfalls wird man fur die Unterschiede blind sein. 44 Daraus ergibt sich eine Interpretationsmaxime fur Aufbauromane, die eine Entsprechung in der von Dieter Schlenstedt geschilderten Rezeptionssituation in einem totalitaren Staat hat: Jede Abweichung von der Norm zeitigte in dem hier geltenden geschlossenen ideologischen System enorme Wirkungen, und die Autoren wuBten, daB ihre Texte regelrechte Solidarisierungen auslosen konnten: Der Leser stand mit seiner Meinung nicht mehr allein und stellte uberrascht fest, daB andere Leute seine Ansichten teilten. Inhaltlich waren die Tabuverletzungen oft gar nicht so sensationell, man sprach etwas aus, was ohnehin jeder wuBte. Die Spannung entstand aus dem Umstand, daB dariiber nicht in der Offentlichkeit debattiert oder berichtet werden durfte. Publizitiit hatte einen ganz anderen Stellenwert. (Schlenstedt 1993, 225f.) Auch wenn Schlenstedt hier nicht die Aufbauromane und auch nicht die Zeit der SOer Jahre vor Augen hat, macht diese Bemerkung klar, dass die potentielle Bedeutsamkeit von Werkdetails angesichts politischer Repressionen eine andere ist als in einer freien Gesellschaft. Wenn ein Werk so verfasst ist, dass es ein bereits bekanntes narratives Muster erkennen lasst und dariiber hinaus in normativer Hinsicht die ublichen ideologischen Phrasen beinhaltet, legt es die Interpretationshypothese, dass es sich urn die Imitation eines Musters handele, nur so lange nahe, wie man darauf verzichtet, die minimalen Varia-

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Ich denke, in diesem zuletzt genannten U mstand liegt auch der Grund dafiir, warum den meisten diese Literatur »schematisch« erscheint. Selten kommt jemand mit literarischen Interessen auf die Idee, sich mehrere Werke, die prima facie eine ahnliche Struktur haben, genauer anzusehen und dann auch noch das Ziel zu verfolgen, ihre individuellen Abweichungen zu untersuchen.

4. Dichotomische Poetik-Konzeptionen

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tionen zu bewerten. Dies ist aber offensichtlich geboten, wenn man zu einer validen Einschatzung gelangen mochte. Es liegt ein folgenreicher Fehlschluss vor, wenn man aus der Beobachtung, sog. Schemaliteratur weise nur minimale Variationen auf, auf eine Poetik der Imitation schlieBt. Mag es auch viele Hinweise darauf geben, dass Imitation ein geeigneter Begriff zur Beschreibung von Programmatik und Selbstverstandnis des Sozialistischen Realismus ist, so ist er als Fluchtpunkt fur eine literaturwissenschaftliche Analyse sozialistisch-realistischer Literatur nur von begrenztem Nutzen. Denn er fokussiert von vornherein auf die uninteressanten Aspekte und solche Eigenschaften, die ohnehin bekannt sind. Demgegenuber muss eine Werkanalyse auch in Fallen, die der sog. Schemaliteratur nahe stehen, unterstellen, dass ihre Variationsmoglichkeiten prinzipiell unendlich sind, und die Abweichungen vom Schema aufspuren und interpretieren. Diese Einsicht - und das ist tatsachlich eine - impliziert jedoch keineswegs, dass solche Literatur immer komplex ist; es geht darum, dass ein Werk immer mehr od er weniger komplex im Vergleich zu einem anderen ist. Ein Werk kann sich sehr starr und enger als ein anderes an eine vorgegebene Struktur halten. 45 Zu beachten ist uberdies, dass eine Variation nicht nur darin besteht, dass eine vorgegebene Struktur modifiziert/variiert wird, sondern auch darin, dass sie verschiedenartig ergiinzt werden kann. J ene Schemaliteratur, die Zimmermann vor Augen hat, verzichtet weitgehend auf solche Erganzungen; die sozialistisch-realistischen Aufbauromane hingegen sind dafur nicht schlank genug. Daher ist damit zu rechnen, dass zumindest eine Spielart der Aufbauromane in ihren jeweiligen Erganzungen der Aufbaustruktur besteht. Ehe ich aus dies er Dberlegung weitere Schlusse auf ein Modell ziehe, das der Untersuchung der Aufbauromane zugrunde liegen wird, mochte ich no ch eine letzte Konzeption vorstellen, die die hier prasentierten Ansatze zu einer Theorie integriert, die fur die vorliegende Aufgabenstellung einschlagig ist: zu einer Theorie der literarischen Textsorte Thesenroman. Am Beispiel franzosischer Thesenromane (»rechter« wie »linker« Autoren) vorwiegend aus den 1930er Jahren (sowie der Jahrhundertwende urn 1900) arbeitet Sus an Suleiman (1983) einige Besonderheiten dieses Korpus heraus, die auch auf viele der Romane zutreffen, die im Zeichen des Sozialistischen Realismus entstanden sind. 46 So bestimmt sie zwei Grundmuster, die entweder getrennt

45 "Je reduzierter die Realisation ist - bei der Schema-Literatur ist das so - urn so naher bleibt sie

an dieser Struktur; sie wird gerade, soweit notig, reproduziert, mehr nicht. Das sehen wir an einer linguistischen Parallele ebenfalls: je eingeschrankter der Sprachgebrauch, urn so nmer ist er an der unbedingt erforderlichen Struktur des Satzes - Subjekt, Pradikat, Objekt« (Zimmermann 1979,75). 46 Mozejko (1977,120 H.) rechnet diese Literatur dementsprechend auch dem Sozialistischen Realismus zu (sofern sie wie etwa Romane von Louis Aragon der Ideologie konform sind), wmrend

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oder gemeinsam Thesenromane ausmachen und die auch typisch fur viele sowjetische Romane sind: die Bildungs- oder Entwicklungsstruktur, der gemaB der Held sich im Lauf der Geschichte vervollkommnet, und die Struktur der Konfrontation, bei der zwei antagonistische Krafte aufeinander treffen. Daruber hinaus konstruiert Suleiman ein differenziertes Modell moglicher Redundanzen in Erzahltexten, das in der Kombination verschiedener narratologischer Parameter mit wiederkehrenden Strukturen besteht. Dabei ist der Begriff sehr weit gefasst. Redundant ist fUr sie schon, wenn eine Figur zunachst als Literat bezeichnet wird und diese spater in seiner Bibliothek sitzt, oder wenn eine Figur einen gedrungenen Korperbau hat, was im Zusammenhang mit der Erwahnung seiner plebejischen Herkunft ebenfalls redundant sein solI (vgl. Suleiman 1983, 179). Mit Hilfe des Redundanzbegriffs definiert Suleiman (1983,184) schlieBlich die Textsorte: [ ... ] in order for the work to function as a roman athese is that there be at least one redundant interpretation [ ... ] that functions on a global level- in other words, that accounts for the »whole story« told in the novel. This kind of global interpretation is precisely what defines the exemplum, where the story in its entirety exists only in order to be interpreted. The canonical form of such an interpretation is the »moral« which follows the story and sums up its »lesson« for the reader or listener. Redundanz ist ein Komplementarbegriff etwa zu Variation bzw. Innovation (wobei dies er diachron ist). Dbermamge Redundanz wird daher auch leicht ein Grund fur asthetisches Missvergnugen: They [low-brow genres] are excessively redundant, for they follow the formula of the genre without innovation. They are all too familiar, and if that very fact constitutes their charm for their fans, it is also what prevents them from acceding to the status of serious literature. (Suleiman 1983, 195) Mochte man nun untersuchen, was an einem Thesenroman asthetisch interessant ist, muss man ihn auf seine Abweichungen von der »redundanten Globalinterpretation« (ebd.) hin lesen. Suleiman schlieBt ihre Untersuchung ab mit einem Kapitel, in dem sie Verfahren benennt, mit denen in Thesenromanen die These unterlaufen wird - die also (mit Lotman) fur Entropie Suleiman (1983, 190) offenbar einen Unterschied zwischen Thesenroman und Propagandaroman sieht, auf den sie allerdings nicht weiter eingeht, als auf die Beobachtung hinzuweisen, dass in Propagandaliteratur haufig ideologisch positive (bzw. negative) Einstellungen mit kulturell oder moralisch positiven (bzw. negativen) Eigenschaften amalgamiert werden: »The technique of the amalgam is one of the more transparent devices of propaganda literature (it is what accounts for the fact that in socialist-realist novels, for example, the villain must be not only unattractive, but must have capitalist affinities); but is also a permanent temptation (or an inherent tendency) of any roman these, even of those that belong to >good< literature.« - Dies entspricht etwa dem, was Clark (1981, 57) unter »depersonalization« versteht.

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und dam it fur Interesse sorgen, das von deviationsasthetischen Vorstellungen geleitet wirdY AIs erstes weist Suleiman (1983, 201 f.) auf irre1evante Details hin, die zumindest von der ideologischen These ablenken konnen. Idealerweise steht im Thesenroman jedes Detail in Beziehung zur These. Kann bei einem Detail jedoch kein Bezug zur These hergestellt werden, wird die Redundanz durchbrochen und es bleibt zumindest ein Fragezeichen, das die These im Thesenroman nicht gern duldet. 48 AIs nachstes stellt Suleiman (1983, 206) den sog. Dberflusseffekt vor, der von einer These nicht nur ablenkt, sondern sie unterlauft: What I call the »overflow effect« or »saying too much« does not merely attenuate the thesis, but subverts it: the narrative tells so much and so well that it ends up producing contradictory meanings that blur the limpidity of its own demonstration. AIs Beispiel nennt sie u. a. Aragons Les Beaux Quartiers, worin Carlotta, eine Nebenfigur, groBe Selbstandigkeit erlangt, obwohl sie negativ charakterisiert ist und den (positiven) He1den verfuhrt, ab er in ihrer verfuhrerischen Rolle gewissermaBen auch den Leser verfuhrt. SchlieBlich kommt Suleiman auf das Komplement des Dberflusses zu sprechen: auf den Mangel-Effekt, der darin besteht, dass Unklarheiten nicht aufgelost werden, weil auf Redundanz an entscheidenden Stellen verzichtet wird. Mit Bezug auf Paul Nizans Verschworung kommt Suleiman (1983, 236) erneut zu dem Ergebnis, dass »gute« Literatur dort anfangt, wo die These unterlaufen (Redundanz durchbrochen, Eindeutigkeit aufgehoben, Ambiguitat bzw. Devianz erzeugt) wird: By abstaining from repeating, through the hero's evolution, »truths« formulated elsewhere in the novel, La Conspiration gives up an important interpretive redundancy - which is perhaps an advantage for the novel, but a risk for its thesis. Nach Suleiman (1983,201) ist diese Moglichkeit im Prinzip immer angelegt, denn in einem Thesenroman ringt die zur Redundanzerzeugung neigende These mit der der Romanform eigenen Tendenz zur ,.Pluralisierung«: »[ ... ] the greatest interest of the roman a these lies in its hybrid character, generating tension between two opposing tendencies: the simplifying and schematizing tendency of the thesis, and the complicating and pluralizing tendency of novelistic writing broadly conceived [ ... ].« - Dies musste dann aber auch fur Aufbauromane gelten. 48 In einer FuBnote weist Suleiman (1983, 279) darauf hin, dass andererseits irrelevante Details gerade zur Strategie von Thesenromanen gehoren konnten, mehr Akzeptabilitat zu erreichen: lOOn the other hand, one could argue that it is precisely the wealth of details that makes the thesis palatable, since the reader may accept »under cover« a thesis he or she would find objectionable when nakedly stated. In that case, irrelevant details would turn out to be not a threat to, but pan of the rhetorical strategy of, the roman these.« 47

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H. Narratologische und poetologische Analysekategorien

Der Unterschied zwischen den beiden Effekten besteht darin, dass im einen Fall der These widersprechende Aussagen auftauchen und im Verlauf des Romans nicht entkraftet werden und im anderen Fall mit Bezug auf die These zweideutige Aussagen vorkommen, deren Ambiguitat im Verlauf des Romans nicht aufgelost wird. Explizit sich widersprechende Aussagen wird man in allgemein als solchen anerkannten Thesenromanen jedoch selten finden (after hingegen in Romanen, die wie Dostoevskijs Bruder Karamazov als Thesenromane konzipiert sind, aber ihre eigene These mit dem Effekt sehr deutlich unterlaufen, dass man diese Konzeption kaum mehr wahrnimmt)49. Hier mussen eventuelle Widerspriiche durch entsprechend aufmerksame Lekture erst entdeckt werden - die man solcher Literatur aber eher selten angedeihen lasst. c. Das poetologische Grundgeriist Wie lassen sich ideologische Romane des Sozialistischen Realismus nun nach alldem beschreiben? Einerseits legen die referierten Positionen von Lotman bis Suleiman nahe, dass diese Literatur einer der Hochliteratur kontraren Poetik folgt, namlich einer Imitations- oder Schemapoetik; andererseits aber lautete ein Ergebnis der Dberlegungen, dass das Prinzip der Abweichung bzw. Variation auch fur sie gilt - mit dem Unterschied, dass man fur Abweichungen in Aufbauromanen gewissermaBen ein Mikroskop benotigt, wohingegen die Abweichungen in Werken moderner Literatur mit bloBem Auge zu erkennen sind. Wie sind diese beiden U mstande, die sich zu widersprechen scheinen, miteinander vereinbar? Woran liegt es, dass man - obwohl sich auch sozialistisch-realistische Literatur nach dem Prinzip der Variation beschreiben lasst - trotzdem geneigt ist, von zwei verschiedenen Poetiken zu sprechen? Und ist es ein flieBender Obergang, der beide Poetiken voneinander scheidet, etwa weil der Grad der Abweichung im Falle moderner oder »serioser« Literatur einfach groBer ist? Ich denke, diese Fragen lassen sich mit dem Hinweis auf die zwei hi er auch schon after erwahnten wesentlichen Charakteristika beantworten, die sozialistisch-realistische Romane auszeichnen. Zunachst ist da das auBerliterarische System der sozialistischen Normen, das Werke dies er Literatur dominiert. Wahrend Eingeweihte in den einzelnen Werken Nuancen erkennen mogen, die sich als Abweichung beschreiben lass en (zumal ja auch der Marxismus-Leninismus, diachron gesehen, nicht vollig homogen ist und in der Praxis zu verschiedenen Zeiten unterschiedlich ausgelegt wurde), ist diese Literatur fUr AuBenstehende in dies er Hinsicht auBerordentlich stabil. Dieses Charakteristikum ist die Monovalenz der Botschaft. 49

Vgl. Schmid 1996.

4. Dichotomische Poetik-Konzeptionen

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Zum anderen ist da - wie im Falle der Aufbauromane - die Festlegung auf lediglich ein weiteres System (namlich das des Aufbaus) mit einer festgelegten Anzahl von Subsystemen (Organisation, Konfrontation, Ideologie, Individualproblematik wie z. B. Liebe), was ich ob en »Monothematik« genannt habe. Abgesehen davon, dass si ch sog. moderne Literatur nicht auf ein bipolares und politisch orientiertes Normengefuge festlegen lasst, ist wohl auch davon auszugehen, dass die meisten ihrer Werke mehrere Systeme zugleich bedienen und keine derartige Monothematik bzw. System-Monodominanz herrscht wie in den Paradebeispielen sozialistisch-realistischer Literatur. Dieses zweite Charakteristikum sozialistisch-realistischer Literatur wird in den meisten Fallen als Innovationsresistenz modelliert. Wie gesagt, halte ich diese Modellierung zumindest fur analytisch untauglich, letztlich aber auch fur sachlich unangemessen (da jeder Aufbauroman, bezogen auf das System, Innovationen aufweist). Stattdessen wiirde ich diesen Punkt metaphorisch als »mikroskopische Varianz« bezeichnen und in poetologischer Hinsicht als minimalistisch charakterisieren. 50 Damit ware eine Grenze gezogen zwischen sozialistisch-realistischer Literatur im engeren Sinne und solcher Literatur, die nicht sozialistisch-realistisch in diesem engeren Sinne ist. 51 Der Dbergang zwischen Tendenzliteratur und moderner (im Sinne kritischer) Literatur mag flieBend sein, aber mit Hilfe der genannten Kategorien lasst sich etwas praziser angeben, worauf der Eindruck des flieBenden Dbergangs beruht: zum einen auf der Realisation eines bipolaren Normensystems, die jeweils mehr oder weniger Monovalenz aufweisen kann, und zum anderen auf der Stabilitat bzw. Instabilitat eines dominierenden Systems. Es ergibt sich folgendes Raster zur Beschreibung der Poetik des Aufbauromans, das durch eine fortschreitende Entfernung vom urspriinglichen Muster/System charakterisiert ist: 1. Variation des Systems durch Modifikation von bestehenden Subsystemen a. Reduktion von Subsystemen b. Modifikation der Dominanz der Subsysteme C. Interne Modifikation 2. Variation durch Kombination mit neuen Subsystemen 3. Variation durch Substitution von Subsystemen 4. Variation durch Kombination mit einem oder mehreren neuen Systemen Hinzu kommen die oben erwahnten Eigenschaften Transparenz und Eindeutigkeit, die die Werke bis ins Sprachliche und Stilistische pragen (wohingegen Monovalenz und System-Monodominanz die Werkbedeutung bzw. Globalstrukturen betreffen). 51 Damit wird auch deutlich, wie sozialistisch-realistische Literatur sich zur Trivialliteratur im Sinne von Zimmermanns ,.Schema-Literatur« verhalt: Die sozialistisch-realistische Literatur unterscheiden von letzterer das dominante Normensystem und die immer noch hohere Anzahl an Subsystemen. 50

118

11. Narratologisehe und poetologisehe Analysekategorien

Die Mogliehkeit le ist immer der Fall. Alles andere kame einem Plagiat gleieh. Die Mogliehkeiten 3 und 4 verandern das System, und entspreehende Werke sind sehon nieht mehr einwandfrei als Aufhauromane klassifizierbar. 52 Die Frage ist nun, welche Strukturen oder Elemente der Aufhauromane als Subsysteme in Betraeht kommen. Zwar gibt es aus prinzipiellen Griinden keinen einzig riehtigen Weg zu ihrer Bestimmung, aber es drangt sich doeh sowohl im Ansehluss an die erwahnte Sekundarliteratur als auch aufgrund meiner Lekriireedahrungen ein mogliches Modell auf, das stark konsenstraehtig ist. Die Schwierigkeit besteht darin, die in der Sekundarliteratur genannten Aspekte zu einer ubersiehtliehen Zahl zu reduzieren. Im Hinbliek auf das Normensystem besteht die innovationspoetisehe Strategie, die etwa Suleiman vedolgt, darin, naeh Widerspriiehen zu suehen. Das konnte die falsche Strategie sein, weil sie kaum Ergebnisse zeitigt und eben einen dieser Literatur fremden MaBstab anlegt, da sie ja gerade nieht von den vorgegebenen Normen abweiehen moehte. Angemessen ist es daher, die Strategie der Romane zu untersuchen, wie in ihnen normative U nklarheiten beseitigt werden und welche Art von normativer Diversion uberhaupt zugelassen bzw. als diskutabel und literariseh verhandelbar angesehen wird. In Anknupfung an die Ausfuhrungen in den vorangegangen Absehnitten moehte ieh nun die erwahnten invarianten Strukturen der Aufhauromane zu folgender Verbindung von Systemen und Subsystemen zusammenfassen: 1. Das Aufhausystem mit folgenden Subsystemen a. Aufhau und Organisation (teehnisehe Probleme) b. Alt-Neu-Gegensatz (ideologisehe Probleme) e. Konfrontation (existentielle Probleme) d. Liebeshandlung (individuelle Probleme) 2. Das Normensystem (bipolar) 3. Das narrative System (hohe Episodendichte) Wahrend das Aufhausystem spezifisch fur die Aufhauromane (und nur fur sie) ist, sind die Realisierungen des Normensystems und des narrativen Systems dies nicht. Das selbstandige N ormensystem ist in den Subsystemen a bis d jeweils realisiert und ist nicht identisch mit dem Subsystem b. Darin kommt es nur am deutlichsten zum Ausdruck. Die Verankerung des Subsystems c (Konfrontation des Helden und seiner Aufgabe mit konterrevolutionaren Bestrebungen) griindet letztlich auch auf einer ideologischen Differenz, aber innerhalb dieses Subsystems sind die Fronten - zumindest was den default angeht - eindeutig. Hier gibt es daher keine ideologischen Probleme. Demgegenuber gibt es ideologische Probleme dort, wo der Held althergebrachte 52

Einen Vorschlag zur Begrenzung des Begriffs bietet Kap. lIl.3.

4. Dichotomische Poetik-Konzeptionen

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Strukturen mit Argumenten beseitigen muss (Bauern und nicht parteilich organisierte Arbeiter und Biirgerliche), sowie dort, wo es falsches Parteiverhalten zu korrigieren gilt. Die Normen sind aber, wie gesagt, nicht auf dieses Subsystem beschrankt, sondern durchdringen auch die anderen, etwa wenn der Held im Subsystem d seine ideologische Vorbildrolle durch individuelles moralisches Fehlverhalten aufs Spiel setzt oder wenn im Subsystem a selbst die rein technischen Aufgaben letztlich auf ideologischen Vorgaben basieren, die sich der Planwirtschaft verdanken. Die Normen sind aus diesen Griinden so machtig, dass es angemessen ist, hier ein eigenes System zu postulieren, das ja auch etwas anders funktioniert (Formulierung von ideologischen Widerspriichen und ihre Beseitigung) als das Aufbausystem (Variation der Subsysteme). Normensystem und Aufbausystem werden vom narrativen System erganzt, von dem ich meiner Agenda entsprechend vor allem das Episodensubsystem in den Blick nehmen werde, dessen besondere Realisierung in vielen Aufbauromanen mir eine Besonderheit in narrativer Hinsicht zu sein scheint. In Anlehnung an die oben (Kap. lA., Anm. 65) bereits erwahnte Bemerkungen von Giinther (1984, 108£.) und Guski (1995, 325f.) zu den Erzahlinstanzen in sozialistisch-realistischer Literatur lasst sich verallgemeinern, dass auch das narrative System mit dem Normensystem zusammenhangt, und zwar insofern, als die Erzahlhaltung als ganze an Transparenz orientiert ist, um den Transport der ideologischen Botschaft nicht zu behindern. Es wird sich zeigen, dass die Realisierungen des Episodensubsystems dies er Norm der Transparenz nicht immer genii gen. Die Reihenfolge der Aufbau-Subsysteme a bis d ist nicht als Vorschlag zu verstehen, der die Reihenfolge ihrer Dominanz vorgibt; denn die Reihenfolge variiert in den beiden Beispieltexten. In Zement steht die Handlung der individuellen Probleme Glebs mit seiner Frau starker im Vordergrund als die Konfrontation mit den Kosaken. Durch das Konkurrenzverhaltnis zwischen Bad'in und Gleb im Hinblick auf Dasa wird die Individualhandlung zusatzlich akzentuiert. In Neuland unterm Pflug hingegen beginnt Davydov erst gegen Ende eine Affare mit Luska, und die analogen Probleme seiner Kollegen Razmetnov und Nagul'nov sind im Verhaltnis zur Konfrontation mit den Konterrevolutionaren im Text deutlich unterreprasentiert. Im Folgenden mochte ich am Beispiel des Normensystems zeigen, welche Moglichkeit in Neuland unterm Pflug realisiert ist, die geforderte Monovalenz herzustellen (II.d.) und zu unterlaufen (II.e. u. II.f.).

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n. Narratologische und poetologische Analysekategorien

d. Beseitigung von Ambivalenz Im Abschnitt 1.2. wurde bereits darauf hingewiesen, dass Davydov, der positive Held von Neuland unterm P/lug, im Kontrast zu einem Parteisekretar eingefiihrt wird. Diese erste Auseinandersetzung »verliert« Davydov nicht nur, er verhalt sich im Anschluss daran auch ungehorsam, weil er der Anweisung des Parteisekretars zuwider handelt und die umgehende vollstandige »Entkulakisierung« anordnet. Auch wenn (oder gerade weil) die Erzahlinstanz kaum Zweifel daran lasst, wem ihre Sympathien gelten, ist diese Ausgangs situation ambivalent, denn man kann noch nicht ganz sicher sein, wie Davydovs Ungehorsam abschlieBend bewertet wird. Erst dadurch, dass die Ereignisse Davydovs Entschluss bestatigen, wird diese Ambivalenz beseitigt. Letztlich wird die Bestatigung Davydovs sogar erst durch die Amtsenthebung des Parteisekretars manifest (Kap. 37), nachdem das zweite Aufeinandertreffen wieder zuungunsten Davydovs entschieden wurde (Kap. 21). In gewisser Hinsicht ist die Gegenuberstellung von Davydov und dem Parteisekretar bezeichnend fur den friih-stalinistischen Gestus des Romans. Im Parteisekretar hat man offenbar nicht nur den bequem gewordenen Burokraten zu sehen, dem der tatkraftige Arbeiter als sozialistische Lichtgestalt gegenubergestellt ist. Man kann im Parteisekretar auch einen Vorgriff auf die unter Stalin einsetzende Abrechnung mit den Parteiintellektuellen erblicken. Davydov wird wiederholt als ungebildet und schlechter Redner gekennzeichnet. Der Parteisekretar aber ist ihm nicht nur rhetorisch, sondern auch intellektuell uberlegen. Diese Gruppe der Gebildeten hatte dann jedoch bald ausgedient und wurde ebenfalls »liquidiert«. Daneben kann man in dieser Gegenuberstellung den anti-elitaren Geist erblicken, der fur die Zeit des ersten Funfjahresplans (1928-1932) typisch war und bald von der Forderung einer (neuen!) Funktionselite abgelost wurde (vgl. Clark 1981, 98, u. Hildermeier 1998, 402).53 Zugleich zeigt sich darin, dass Davydov den Geist von Stalins Rede instinktiv edasst, ein anti-rationaler Gestus. - Wie no ch zu zeigen sein wird, landet man hier wie auch sonst haufig im Sozialistischen Realismus in einer Aporie: Davydov handelt vom Standpunkt der (kontextfreien) Station der Geschichte anarchistisch und unparteilich, weil er sich seinem Vorgesetzten widersetzt. Nur vom Standpunkt der vollendeten Erzahlung liegt er richtig. Blickt man nun in die Rede Stalins, so zeigt sich, dass der Parteisekretar sich dem Wort nach zu Recht auf eine Formulierung Stalins stiitzen kann (vgl. Stalin 1929,325). Aber auch Davydov hat recht, da nach Stalin (ebd.) die »Entkulakisierung ein integraler Bestandteil der Bildung und

53

Azaevs Fern 'Von Moskau (s. Kap. I.3.b.) ist demgegenuber ein Beispieltext fur den Hoch- und Spiitstalinismus, da darin der Funktioniir Batmanov alle Fiiden in der Hand behalt.

4. Dichotomische Poetik-Konzeptionen

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Entwicklung von Kolchosen« sei. 54 Moglicherweise geht dies er Streit urn die Auslegung von Stalins Worten auf eine faktische Interpretationsproblematik zUrUck, denn Stalin bedient sich in demselben Aufsatz einer Formulierung,55 die wenig spater von einem Kommentator aufgegriffen, dann aber von Stalin (1930a, 327) in seinem Antwort-Artike1 selbst verworfen wird. Nun ist nicht mehr von zwei Politiken die Rede, die ineinander ubergehen, sondern von ein und derselben Politik. - Wie auch immer, der entscheidende Punkt ist hier, dass die Stalin-Artike1 zwar einerseits autoritativen Status haben, aber andererseits als Auslegungssache prasentiert werden. VielIeicht ware es zu viel zu behaupten, dass sie damit problematisiert wiirden. Immerhin aber haben die Figuren ein Problem mit ihnen, und eben dies fuhrt schlieBlich zu einer Problematisierung der monovalenten Orientierung. e. Beeintrachtigung der Monovalenz Ein Beispiel fur die Beeintrachtigung der monovalenten ideologischen Orientierung aus Neuland unterm Pflug ist das Verhaltnis von Nagul'nov und Davydov. Legt man der Analyse des Verhaltnisses der beiden Figuren das Argumentationsmuster (s. o. Tab. 1.2, Kap. I.2.a.). zugrunde, stelIt Nagul'nov eines der Probleme dar, mit denen Davydov zu kampfen hat. Nagul'nov ist es, der die KolIektivierung auch des Kleinviehs durchsetzt und spater uberdies handgreiflich gegen Verweigerer wird, was beides fur erheblichen Wirbe1 sorgt und schlieBlich in der argumentativen Logik des Romans (nicht in Wirklichkeit) der Hauptanlass fur Stalins Artikel »Schwindlig vor Erfolgen« (Stalin 1930b) vom 2. Marz ist, der in alIen sowjetischen Zeitungen abgedruckt wurde (vgl. Lorenz 1972,324).56 Nagul'nov ist es dann aber auch, der nach seinem durch seine »linksabweichlerischen« Dberzeugungen bedingten Parteiausschluss den Aufruhr in Zaum halt und dabei auch noch so aufmerksam ist und bemerkt, dass die Zeit reif fur die Aussaat ist (Kap. 34 u. 35). Somit ist er, was die axiologische Orientierung bzw. das Normengefuge angeht, sowohl negativ als auch positiv besetzt, denn sein Eingreifen rettet Davydov. Gunther (1984, 84) wertet Nagul'nov aufgrund seiner »linken Dbertreibungen«, der »Gewaltanwendung« und seiner »Ablehnung von Ehe und Familie aus utopisch-revolutionaren Motiven« sowie seines »aufbrauHier wie in den weiteren Fallen gebe ich die Zitate in eigener Ubersetzung wieder. ,.Darum sind wir in der letzten Zeit von der Politik der Beschrankung der ausbeuterischen Tendenzen des Kulakentums zur Politik der Liquidierung des Kulakentums als Klasse ubergegangen« (Stalin 1929,324). 56 Dieser Hinweis erklan, warum im Roman verwirrenderweise zwei verschiedene Zeitungen als QueUe fur den Artikel angegeben werden. 54 55

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n. Narratologische und poetologische Analysekategorien

sende[n], unbeherrschte[n] Charakter[s}< wegen »als eingeschrankt positive[n] Held[en}Zement< zu den entscheidenden Werken der neueren russischen Dichtung« (1927, 69). All diese Angaben zeigen, dass nicht nur die Verbreitung von Zement, sondern auch sein Vorbildcharakter immens war. Neben den alteren DDR-Autoren heben auch Autoren der zweiten Generation, die ab den sechziger Jahren zu Ansehen kam, die Bedeutung der sowjetischen Autoren hervor (vgl. Richter 1966). Fiir Erik Neutsch war Solochov zunachst nur zufallig der erste sowjetische Autor, dessen Werke ihm in die Hande gefallen waren und den Weg zur sowjetischen Literatur gewiesen hatten. Dann aber lieferte er ihm auch die »Methode, die mir, wenn ich die Kampfe der sozialistischen Gegenwart ebenfalls literarisch gestalten wollte, als die am meisten geeignete erschien« (1967/69, 619). Neutsch meint damit vor allem (und er denkt hier mehr an den Stillen Don als an Neuland unterm Pflug), dass Werke parteilich sein konnen, ohne dass am Ende alles in eine wunderbare Harmonie miindet. »Parteilichkeit, lernte ich bei Scholochow, ist kein leeres GefaB, das man mit einem Deckel schlieBt« (ebd., 620). Aus Neutschs Auffassung wird deutlich, dass das sozialistisch-realistische Kriterium der Parteilichkeit - also die adaquate Realisierung des ideologischen Systems - nicht von alIen als rein politische Kategorie verstanden wurde. Zwar war Parteilichkeit auch aus Neutschs Sicht ein politischer Auftrag, aber er sieht sich mit Solochov insofern einig, als er »Parteiliehkeit als seinen [literarischen] Gegenstanden asthetisch innewohnend betrachtet« (ebd.). Mit dies er Asthetisierung des ideologischen Postulats ist eine entscheidende Flexibilisierung verbunden, die sich in der (progressiven sozialistischen) Literatur der DDR der sechziger Jahre niederschlug. Neutsch nutzt dies en Artikel auch, um sich gegen die alte konfliktlose Literatur mit ihrer sog. Schonfarberei zu positionieren und indirekt seine eigene Romanproduktion zu rechtfertigen. 22 21 22

Zum Buchmarkt in der Weimarer Republik vg!. auBerdem Stucki-Volz 1993. Neutsch war zur Zeit der Abfassung des Artikels bereits mit seinem spater Auf der Suche nach Gatt (1973) betitelten Werk beschaftigt, was vor allem heiBt, dass er mannigfachen Wider-

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Ill. Aufbauromane der DDR

Besonders eng an Solochov schlieBen sich Erich Kohler und Bernhard Seeger an, von deren Bezugnahme an spaterer Stelle die Rede sein wird (Kap. IV.l.d). Wahrend die Erinnerung an Gladkov, der insbesondere fur die alteren Autoren von groBer Bedeutung war, mit der Zeit schwand, stieg Solochovs Ruhm mit der Zuerkennung des N obelpreises 1965 immer weiter. Er erhielt die Ehrendoktorwiirde der Universitat Leipzig. Die Beitrage der damit verbundenen Tagung trugen zur Verbreitung seines Werks bei. In der Laudatio hieB es: In der Deutschen Demokratischen Republik ist Scholochows Werk jedoch weit uber den Kreis der Schriftsteller hinaus wirksam geworden. Der Roman »Neuland unterm Pflug« wurde in unserer Republik zu einem Lehrbuch des Sozialismus auf dem Lande. (Laudatio 1966, XIII) Das war, zumindest was die Darstellung in der Literatur betrifft, ganz wortlich zu verstehen. In Reinowskis Diese Welt mufl unser sein (1953) od er Lori Ludwigs Unruhe um Kiite Born (1955) berufen sich die Figuren, die die Kollektivierung vorantreiben, nicht nur einmal auf den sowjetischen Vorbildroman als ein Lehr- und Handbuch, das konkrete Vorschlage und Anweisungen zur Durchfuhrung der Kollektivierung gibt. In nicht-fiktionalen Texten empfahlen auch Otto Gotsche und Willi Bredel Neuland unterm Pflug als Lehrbuch sowohl den Bauern als auch den Schriftstellern. 23 c. Weitere Traditionen? Neben den Traditionen des BPRS in Wechselwirkung mit den sowjetischen Vorbildern gibt es moglicherweise weitere Traditionslinien des Aufbauromans, die noch weiter zuriickreichen. Nach Peter Sprengel, der die Genese des Naturalismus und des Modernebegriffs am Ende des 19. Jahrhunderts beschreibt (1998, 55), implizieren die Bekenntnisse zur Moderne grundsatzlich auch Aussagen uber die Zukunft; sie sind getragen von einem Weltgefuhl, das seine entscheidende Legitimation nicht aus der Vergangenheit und ihren Autoritaten, sondern aus der Aussicht auf kommende Entwicklungen bezieht. Eben dieses Zukunftspathos spricht nicht nur aus den Aufbauromanen, sondern zieht sich auch schon vorher durch die linkspolitisch engagierte Litera-

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standen gegen das Manuskript zu begegnen versuchte. Vgl. Barck et a!. 1997, 241 f., 340-342. Zu Neutschs dilemmatischer Poetik zwischen ideologischem Konformismus und asthetisch verstandenem Berufsethos vg!. Ohlerich 2005. - Zur Beziehung von Neutschs Spur der Steine zur sowjetischen Literatur der 50er Jahre vg!. Lenzer 1965, zur Rezeption vg!. Eifler 1981. Vgl. Warm 1966, 266. Don auch weitere Hinweise auf die Rezeption in der DDR.

1. Traditionen des DDR-Aufbauromans

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tur, die von Vertretern der sog. Klassischen Moderne, die dieses Pathos gegen Skepsis eintauschten, zumeist nicht anerkannt wurde. Man soUte durch die Dominanz dies er Stromung nicht die sonstigen Kontinuitaten verkennen, die die literarische Moderne auch gepragt haben. 24 Bedenkenswert ist eine weitere Anregung von Sprenge1, der mit Bezug auf Fontanes von dies em selbst so apostrophierten »Vie1heitsroman« Vor dem Sturm konstatiert, dass die - wie man hinzufiigen kann, auch noch fur Lukacs geltenden - VorsteUungen des 19. Jahrhunderts iiber Romanpoetik »einem RomanmodeU nicht giinstig« gewesen seien, dessen mehrstrangige Anlage einen wiederholten Wechsel der Perspektive notwendig machte« (1998,161).25 In einem Brief an Heyse vom Dezember 1878 schrieb Fontane, der Vielheitsroman, mit all seinen Breiten und Hindernissen, mit seinen Portratmassen und Episoden, wird sich dem Einheitsroman [der sich auf einen Helden konzentriert] ebenbiirtig - nicht an Wirkung, aber an Kunst - an die Seite stellen konnen [ ... ]. (Zit. nach ebd.) Sprenge1 ist der Auffassung, dass Fontane mit Vor dem Sturm »seiner Zeit weit voraus« (ebd.) gewesen sei. Diese Beobachtung Hisst sich moglicherweise auf and ere Romane des 19. Jahrhunderts iibertragen. Schon viel friiher gab es eine (zumindest programmatische) Alternative zum monoheroischen Entwicklungs- oder Bildungsroman, namlich Karl Gutzkows »Roman des Nebeneinander« Die Ritter vom Geiste (1850/51). »Das Geschehen in den >Rittern vom Geiste< zerfasert sich in die Vielzahl der Gesprachsszenen, in denen die Romangestalten >Welt< reflektieren, und im pluralistischen Gegeneinand er ihrer Meinungen und Wertungen versucht Gutzkow, die vieldeutigen Zeit-Phlinomene einzukreisen« (Worthmann 1974, 84). Joachim Worthmann weist in seiner Studie auf eine Romanform hin, die in einem vernachlassigten und daher weitgehend unerforschten Traditionszusammenhang steht. Es handelt sich urn die Form des polyheroischen GeseUschaftsromans, der nach Worthmann (ebd., 57 ff. u. 67 ff.) im jungdeutschen Zeitroman und im Sozialroman Auspragungen gefunden hat. »Der eindimensionale Handlungsstrang, beherrscht von der kausalen Folge eines sukzessiven Geschehens, weicht einem mehrdimensionalen Erzahlgefiige« (ebd., 38). Seine Ausfiihrungen legen die These nahe, dass es nicht nur struktureUe, sondern auch thematische Ahnlichkeiten zwischen dies en Romanen des 19. Jahrhunderts und den DDR-Aufbauromanen geben konnte. »Das Neue und Zukunftweisende« etwa von Ernst Willkomms Eisen, Gold und Geist (1843) ist fiir Wortmann 24

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Zur »Kanonisierung der >klassischen ModerneLiebe< mehr Raum geben. Soli ten hier alte literarische Topoi wirksam sein? Sollte die Urspriinglichkeit des Dorflebens mehr Platz lassen fur des Menschen urspriingliche Beschaftigung? Vielleicht. Andererseits ist zu konstatieren, dass dieses Subsystem auch in den friihen Kollektivierungsromanen noch nicht denselben Stellenwert hat wie spater. Abgesehen von Reinowskis Erstling, abgesehen auch von Strittmatters Tinko (1954) und WeiW Es grunt die Saat (1955) ist es auch in Benno Voelkners Die Tage werden heller (1952), wo es zwar nicht ganzlich fehlt, unterreprasentiert. Dagegen dominiert es in August Hilds Das Lied uber dem Tal (1954) und in den Romanen der zweiten HaIfte der fiinfziger Jahre von Claudius, Harder, Ludwig und Voelkner, aber auch in Rudolf Fischers Bergbauroman Martin Hoop IV (1955). Diese Daten sprechen dafiir, dass die wachsende Dominanz des Subsystems >Liebe< weniger, wie zunachst angenommen, mit dem Ort (Dorfleben) zu tun hat als mit der Literaturentwicklung in der DDR selbst. So gesehen, muss man Reinowskis Diese Welt mufl unser sein als Trendsetter ansehen. Dass das Subsystem mehr und mehr Bedeutung erhaIt, konnte mit der vielfach von der zeitgenossischen Literaturkritik erhobenen Forderung zusammenhiingen, lebendiger zu erziihien, mehr den Menschen als die Ideologie zur Geltung kommen zu lassen bzw. die Ideologie lieber durch den Menschen indirekt auszudriicken als sie durch ihn direkt zu illustrieren. Hinzu kommt ein zweites Moment: Die meisten Romane, in denen das Subsystem >Liebe< aufgewertet wird, haben Frauen als Zentralnguren oder thematisieren die Emanzipation der Frau. Und wo Frauen sind, ist auch die Liebe nicht weit - dieses traditionelle Denkmuster, nach dem die Hauptfunktion der Frau in der Liebe besteht und das dem Emanzipationsgedanken einen Biirendienst erweist, scheint auch fiir das Erstarken dieses Subsystems verantwortlich zu sein.

1. Variation durch Modifikation von bestehenden Subsystemen

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lich die Verschrankung der beiden Subsysteme, die die ideologischen und individuellen Probleme verhandeln. Die ideologische Entwicklung des alten Hartmann ermoglicht es ihm am Ende, die Vorbehalte gegen die Familie Matte aufzugeben. Die Verlobung von Joachim und Heide erscheint so als gliickliche Folge aus des alten Hartmanns Bekenntnis zur SED. Die Liebeshandlung als Subsystem individueller Probleme Der Roman setzt ein mit einer Legende, die man sich im Dorf erzahlt, das spater den Namen »Wohlhausen« erhalt. Sieben Nonnen des langst verschwundenen Klosters haben einmal »mit einem hiibschen, zugereisten Gartnerburschen das Keuschheitsgeliibde« (Welt, 5) gebrochen und sind, noch ehe man sie zur Verantwortung ziehen konnte, zu sieben Weiden erstarrt, die urn einen Erlenbusch herum stehen. Unter eben diesem Erlenbusch sitzt an einem Hochsommerabend die neunzehnjahrige (Welt, 13) Heide und wartet auf ihren Liebsten. Ihre »blauen Augen leuchten schoner als am Mittag der Himmel«, als Joachim si ch nahert (Welt, 7). Die Interaktion des Liebespaars in dies er ersten Episode zeichnet den Ablauf der Liebeshandlung bereits vor. Heide ist der aktivere Teil des Paars, was sich zunachst in der AuBerung ihrer Personlichkeit zeigt, als sie Joachim vorschlagt, nackt im Fliisschen Rasche zu baden. Der Einfall ist keineswegs spontan, Heide hat sich vorbereitet: »Jetzt, denkt sie, jetzt werde ich es machen [ ... ]« (8). Sie bittet Joachim, sich umzudrehen, und ehe er sich lange wundern kann, ist sie schon entkleidet und ruft nach ihm, so dass er sich zuriickdreht und »Heide nackt in dem Gebiisch des Rascheufers verschwinden« sieht (8). Aber auch als man ediihrt, dass die Rasche »zum Schwimmen zu flach ist«, wird die Erotik der Situation nicht weiter intensiviert, denn: »Wie Kinder toben die beiden in dem Wasser herum [ ... ]« (8). Der Kontrast zur eingangs erwahnten Legende ist deutlich und kann nur Folgendes bedeuten: Wahrend damals feudalistische Doppelmoral und Sittenverfall herrschten, kann sich die Jugend im Sozialismus beherrschen. Im Nachhinein wird auch geklart, wie sich Heide so schnell hat ausziehen konnen. Sie hatte sich bereits ihrer Unterwasche entledigt und nur das Kleid iiber ihren nackten Korper gestreift. »Joachim freut sich iiber den Einfall«, weill der Erzahler und lasst ihn sagen: »Auf eine solche Idee ware ich gar nicht gekommen« (9). Hierin zeigt sich der Unterschied der Charaktere: Joachim, der wohl nicht von ungefahr den Nachnamen »Matte« tragt, ist langsam, dabei nett und treuherzig, Heide hingegen raffiniert und fix, aber mindestens ebenso anstandig. Die Verschiedenartigkeit der Charaktere kommt auch hinsichtlich des zentralen Problems des Paars zur Geltung. Sie mochten heiraten, konnen aber nicht, weil sie der Meinung sind, dass Heides Vater niemals sein Einverstandnis geben wiirde. Durch einen Zwist mit

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IV. Das Aufbausystem

seinem Nachbarn ist es in der Vergangenheit zum Prozess gekommen, bei dem Hartmann eine gro6ere Geldsumme, vor allem aber seine Ehre verloren hat. Joachim ist angesichts dies er Lage verzagt und sucht den Ausweg in der Hilfe anderer Leute, wie z. B. seiner Mutter, wahrend Heide wei6, dass nur etwas zu gewinnen ist, wennJoachim seinen Mann steht und direkt mit ihrem Vater verhandelt. Das scheint fur Joachim jedoch nicht in Frage zu kommen. Kein Wunder bei einem jungen Mann, mochte man meinen, der in einem Selbstgesprach seine Liebe zu Heide in folgende Worte fasst: »Bei ihr fuhle ich mich so traut und geborgen, wie ich es als Kind erlebte, wenn die Mutter mich umarmte« (11 f.).27 Wahrend Joachim jammert und hadert, ist Heide losungsorientiert und vorausschauend. Wie man spater in einer Analepse erfahrt, die durch die Erinnerung Heides motiviert wird, lernten sichJoachim und Heide uberhaupt erst auf ihre Initiative hin kennen (93 f.). Dass Heide die aktivere Personlichkeit ist, kommt ab er nicht nur in der Individualcharakteristik zum Ausdruck, sondern auch in ihrer ideologischen Charakterisierung. Sie mochte Traktoristin werden. Doch dagegen hat nicht nur ihr Vater etwas, fur dessen bauerlich-riickstandige Weltsicht es undenkbar ist, dass sich eine Frau auf einen Traktor setzt bzw. einen eigenen Beruf erlernt; auch Joachim ertraumt sich die Zukunft anders. Sein vorsichtiger Hinweis, dass sie doch heiraten wollen, kontert sie mit der Absichtserklarung, »als erste Braut auf den Schlepper zu steigen« (14). Joachim lasst sich auf keine Diskussion ein, sondern begnugt sich mit der stillen Hoffnung, »daB sie nicht auf den Traktor, sondern auf unsern Hof gehort - spater, wenn wir verheiratet sind« (14). Verstarkt wird seine Abneigung gegen Heides Wunsch dadurch, dass er in dem Traktoristen Spengler einen N ebenbuhler hat. Kann Heide Hartmann den zuriickhaltenden Joachim wirklich lieben? Und wenn ja, wie lasst sich ihr Vater umstimmen? Dies sind die beiden zentralen Fragen, die sich am Ende der Episode stellen und auf die die weitere Handlung Antworten geben muss. Nun leitet jedoch die Erzahlung zunachst zu Heides Vater uber. Wohl zur selben Zeit verlasst Hartmann das Haus und begegnet auf dem Weg zu seinem Schwager Karl Frohlich einigen Dorfbewohnern, darunter dem Backer, der sich wundert, dass Hartmann so spat no ch unterwegs ist. »Plotzlich kommt ihm der Gedanke, Hartmann konne zu den >Sieben Nonnen< hinuntergehen. Vielleicht ist ihm nun doch zu Ohren gekommen, daB dort unten was los ist« (17). Das ganze Dorf wisse schon Bescheid uber das Verhaltnis von Heide und Joachim. Damit stellt sich eine

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Der Vergleich mit der Mutter ist kein Zufall. Die Identifikation von Mutter und Geliebter wird vonJoachim als vollkommen positiv erlebt. Eine Seite zuvor heillt es: »Jetzt spricht Heidi wie meine Mutter zu mir, gar nicht, als sei sie fiinf Jahre jiinger als ich, denkt Joachim. Solche Augenblicke beriihren ihn stets tief« (10).

1. Variation durch Modifikation von bestehenden Subsystemen

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dritte Frage, die diese Handlungslinie betrifft: Was geschieht, wenn Hartmann von dem VerhaItnis erfahrt? Die Antwort lasst einige Seiten auf sich warten. Dennoch wird das Subsystem mit Minimalepisoden weiter bedient. Heide, deren Haare noch nass sind, trifft am se1ben Abend auf ihre Mutter, die ahnen muss, wo ihre Tochter her kommt (15£.). Am nachsten Morgen begegnet die Familie Hartmann auf dem Feld dem Traktoristen Spengler, der aus seinem Interesse fUr Heide kein Hehl macht. In der U nterhaltung mit Hartmann wird Spengler als frohlich und zupackend geschildert, ist damit eine auch charakterlich weit weniger problematische Figur als Joachim, und »Hartmann ware es schon recht, wenn auch Heide einen Blick fur den jungen Mann hatte« (36). Heide aber interessiert sich nur fur den Traktor. AuBerdem wird das Subsystem durch die Erwahnung von Storchen bedient, die seit dies em J ahr auf Hartmanns Haus nisten (25 f.) und die als Anspie1ung herhalten mussen, als Hartmanns altere Tochter Erika mit ihrer Familie zum Hochzeitstag ihrer Eltern zu Besuch kommt. Der Schwiegersohn Waiter Muller neckt seinen Schwager Reinhold Hartmann, der mit seiner Familie auf dem elterlichen Hof wohnt, mit einer Bemerkung uber die Storche auf dem Dach, und »Mullers Frau scheint es, die Schwester [Heide] habe einen roten Kopf bekommen« (50). Sie fragt sogar nach, warum Heide »so verlegen« reagiere, woraufhin Hartmann Gelegenheit bekommt, seine Unkenntnis der wahren Verhaltnisse zu bestatigen: »Keine Sorge. Die! Sie denkt nur noch an Traktoren.« Spater unterhalt sich Walter mit Hartmanns N achbarn Matte und wird von Hartmann zurechtgewiesen (56£.). Obgleich die Erzahlung nun in der Hauptsache das ideologische Subsystem bedient, halten diese eingestreuten Anspielungen auf Heides Liebesleben und den es uberschattenden Nachbarschaftskonflikt die Individualhandlung aktuell. Ja, die Liebeshandlung erhaIt noch eine weitere Facette. Insbesondere der Hinweis auf die Storche in der erzahlten Welt konnte zugleich als Wink der Erzahlung verstanden werden, dem zufolge Heides und Joachims Beziehung doch nicht so unschuldig ist wie zunachst angenommen. 1st sie etwa doch schwanger? Doch gibt es im Fortgang der Erzahlung fur diese Annahme keine weiteren Indizien, und wie sich am Ende explizit zeigen wird, sind sie die ganze Zeit uber keusch und verhalten sich damit den Erzahlnormen gemaB anstandig. Zum ersten Hohepunkt kommt es wahrend einer Versammlung, die vom Wohlhausener Parteisekretar Georg Jung zur Information der Bauern uber die Beschlusse der H. Parteikonferenz der SED einberufen wurde. 28 Diese bildet zugleich den Hintergrund fur die ideologische Handlungslinie. Hart28

Die H. Parteikonferenz bildet zugleich den Hintergrund fUr die ideologische Handlungslinie. V gl. dazu unten Abschnitt c.

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IV. Das Aufbausystem

mann gerat mit Borne aneinander, einem Altbauern, der der angekiindigten Kollektivierung gegeniiber positiv eingestellt ist und seine Kollegialitat mit den N eubauern bekundet. Borne ist angetrunken und wird von Hartmann zurechtgewiesen. Daraufhin kann Borne si ch nicht bandigen und findet folgenden Vergleich, urn darzutun, wie gut er und die beiden Neubauern »zusammenpassen«: »He, Bernhard, wir passen so gut zusammen wie dein Jiingferchen und der Sohn von meinem Freund Matte, die probieren das Zusammenpassen jeden Abend unten bei den Sieben Nonnen! Hahaha! Probieren, manchmal sogar nackt! Hahaha, nackt!« (73). Erneut handelt es sich urn eine Anspielung auf sexuelle Aktivitat zwischen den beiden Liebenden. Hartmanns Reaktion zeigt den bislang eher gemiitlichen, dem »Neuen« durchaus aufgeschlossenen Bauern mit einemmal als rohen Menschen, der nach Hause stiirmt, seine Tochter aus dem Bett zerrt und mit seine m Giirtel auf sie einpriigelt (73f.). Doch halt sich die Erzahlung nicht lange dabei auf. Dieser drastischen Situation wird nicht viel Raum gegeben. Der Jahzorn findet ein jahes Ende, als Hartmann auf Heides Brust ein Muttermal erblickt, wie es auch seine Frau auf der Brust hat, und sofort innehalt. »Ihm ist's, als schliige er auf seine Luise ein« (74). Diese Episode tut dennoch ihren Dienst. Sie zeigt Hartmann, der immerhin Vertrauensmann der MTS29 ist und sich auch sonst eher im Einklang mit der herrschenden Ideologie befindet, als menschlich riickstandiges Mitglied der Gesellschaft. Daher ist die Episode eine durchaus notwendige Schliisselepisode, die allein deutlich macht, dass Hartmanns Personlichkeit ein Problem fiir die Handlung darstellt; denn ansonsten ist er positiv konzipiert. Fehlte dieses negative Charakteristikum, konnte man nicht von einer ideologischen Entwicklung sprechen. Doch zuriick zur Liebeshandlung, die nun iiber mehrere Episoden hinweg die Erzahlung dominiert (75-105). Im Anschluss an die Ziichtigung versucht Luise Hartmann ihren Mann zu einer milderen Einstellung gegeniiber ihrer Tochter zu bewegen, indem sie ihn an ihre gemeinsame Brautzeit erinnert, doch er akzeptiert ihren Einwand nicht. Am nachsten Morgen zeigt sich Heide unbeeindruckt von dem Vorfall. Sie ist stolz und eigen, und der Appell der Mutter, ihren Vater bloB nicht noch mehr zu kranken, stoBt bei ihr auf taube Ohren. Jetzt mochte sie Joachim erst recht heiraten, was nun auch den Unwillen ihres Bruders Reinhold hervorruft, der ihre Respektlosigkeit gegeniiber dem Vater, der Reinhold noch immer bevormundet, nicht gutheiBt. Die folgende Episode zeigt die Familie bei der gemeinsamen Feldarbeit, wahrend der die einzelnen Familienmitglieder einander beobachten 29

»Maschinen-Traktoren-Station«, N achfolgebezeichnung von »Maschinen-Ausleih -Station« (MAS). In diesen Stationen wurden die nach der Bodenreform enteigneten Landmaschinen gesammelt und gewartet, damit sie den Kleinbauern zur Verfiigung gestellt werden konnten.

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und ansonsten ihren jeweiligen Gedanken nachhangen, die urn das Verhaltnis zwischen Heide undJoachim kreisen. Heide selbst nimmt sich zunachst vor, »Joachim den Kopf zu waschen«, damit er zu ihrem Vater geht, »um das Jawort zu holen« (93). Dann aber besinnt sie sich und beschlieBt, ihn auf einem Umweg dazu zu bringen. Die Strategie, Ziele indirekt durchzusetzen, charakterisiert nicht nur Heide in dies em Fall; sie wird auch von anderen Figuren eingesetzt. Sie ist ein rekurrentes Verhaltensmuster, das insbesondere das ideologische Subsystem bestimmt. Hierin kommt der manipulative Charakter zum Ausdruck, der den U mgang der Figuren miteinander immer wieder kennzeichnet. Abends treffen sich Heide und J oachim wieder heimlich. Sie red et J oachim ein, er solle ihr ein Kind machen, urn ihren Vater vor vollendete Tatsachen zu stellen. Diese Schande wiirde er nicht ertragen konnen und daher in die Heirat einwilligen. Wieder allein verstehtJoachim den Wink, den ihm Heide gegeben hat, als sie ihm sagte, dass das ihre einzige Moglichkeit sei, wenn er keinen besseren Weg wisse. Nun fallt ihm ein, dass die einzige Alternative darin besteht, ihren Vater direkt urn sein Einverstandnis zu bitten (98). Der Abschnitt endet, als Vera Friihauf, die Leiterin der MTS, am selben Abend zu Hartmann kommt und sich fiir seine Tochter verwendet, die sie gern ausbilden wiirde. Damit leitet die Erzahlung wieder zur ideologischen Episodenlinie iiber. Fortan wird das Subsystem >Liebe< noch enger an das ideologische Subsystem gebunden. AIs nachstes konfrontiert die Erzahlung Heide mit dem Traktoristen Spengler (143-146), dessen Werben sie eine Abfuhr erteilt, und damit auf die erste eingangs gestellte Frage, ob sie iiberhaupt bei Joachim bleibt, eine positive Antwort gibt. Bleibt die zweite Frage, wie der alte Hartmann umgestimmt wird. Zunachst aber verlasst die Erzahlung iiber eine langere Strecke das Liebesproblem und kehrt erst wieder iiber die Vater-Tochter-Beziehung dahin zuriick. Eines Abends kommt Bernhard Hartmann nach Hause, und es arbeitet machtig in ihm, weil er eigentlich schon so weit ist, der Genossenschaft beizutreten, und nur seine Fehde mit Matte, der bereits Mitglied ist, ihn daran hindert. Die Griibelei iiber Matte bringt ihn auf den Gedanken, nach seiner Tochter zu sehen. Sie konnte ja wieder mit Joachim Matte unterwegs sein. »Zu Haus offnet er vorsichtig Heides Kammertiir. Er findet Heide schlafend; behutsam streicht er ausgesohnt iiber ihr blondes Haar« (186). Der anschlieBende Erzahlerkommentar macht klar, dass die vaterliche Geste auf einem Missverstandnis beruht. Der Vater unterstellt ihr Gehorsam, sie aber ist nur zuhause anzutreffen, weil sie J oachim beschaftigt weiB. Wenige Seiten spater wird dasselbe Ereignis noch einmal erzahlt, nun auf Heide fokalisiert, die sich, wie man jetzt edahrt, nur schlafend gestellt hat. »Heide erlebt eine tiefe Beschamung: Mein Vater, der durch mich so groBen Arger hatte, der aber in den letzten Tagen wieder wie umgewandelt

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ist und mich oft versohnlich ansieht, streichelt mich!« (188). Plotzlich scheint das Verhaltnis umgekehrt: Nicht mehr ist der Vater ob seiner Handgreiflichkeit und seines patriarchalischen Starrsinns im U nrecht, sondern seine Tochter, die ihn betriigt, zuletzt als sie ihren Bruder Reinhold uberredet, sie statt ihrer Schwagerin Anne zum Nachtdrusch mitzunehmen, urn sich mit Joachim treffen zu konnen. Aber Heide besinnt sich und uberwindet die Selbstzweifel. Sie steigt aus dem Bett und verlasst leise das Haus, urn sich zu dem mit Joachim vereinbarten Treffpunkt zu begeben. Die Erzahlung lasst an dies em Punkt keinen Zweifel daran, dass das Recht auf Heides Seite ist. Dies erreicht sie vor allem dadurch, dass sie Heide immer das letzte Wort gibt, mit dem sie ihre Einstellung rechtfertigt und die and ere Position diskreditiert, so etwa in einer Auseinandersetzung mit ihrem Bruder, der sie zur Rede stellt, weil sie vor dem N achtdrusch nicht in ihrem Bett war. Ihre Antwortet: »Pfui! - Du willst mein Bruder sein und sprichst wie ein gewohnlicher Gassenlummel. Habe ich denn kein Recht auf Verstandnis? Hat sich Anne denn mit dir 'rumgetrieben, ehe ihr geheiratet habt?« (194). Dass in der Werkaxiologie Heide uber ihrem Vater steht, sieht man auch daran, dass sie von Anfang als die fortschrittlichere Figur gekennzeichnet ist, deren Entwicklung nur durch die Autoritat des Vaters (deren prinzipielle Berechtigung nicht in Frage gestellt wird) behindert wird. Fragwiirdig ist in dies em Abschnitt die Wendung, mit der er eingeleitet wird. Woher kommt die unerwartete Milde des Vaters? Eine erste, figurenpsychologische Antwort konnte lauten, dass Hartmann doch nicht ganz so hartherzig ist, wie seine brutale Reaktion am Anfang vermittelt. Die Ursache lage also in Hartmanns Charakter. Diese Moglichkeit ist durch den Text kaum zu widerlegen; eine Bestatigung findet sie im Text aber auch nicht. Daher konnte eine zweite, produktionsasthetische bzw. erzahltechnische Antwort lauten, der Autor bzw. die Geschichte brauchte eine vorlaufige Entscharfung des Konflikts, ein retardierendes Moment, um die Moglichkeit einer Versohnung aufzubauen, die von Hartmann selbst ausgeht. Die beiden Antworten schlieBen einander nicht aus, sie konnen beide zutreffen. Sie sind aber auch beide nicht zufriedenstellend, weil sie keine Verbindung zur Erzahlung aufzeigen. Diese Verbindung ergibt sich jedoch, wenn man bemerkt, dass Hartmanns Einstellung gegenuber dem individuellen Problem seiner Tochter - ihrer Liebe zu Joachim - mit seiner Einstellung zur sozialistischen Umgestaltung der Landwirtschaft in der Erzahlung synchronisiert wird. Dadurch erscheint Hartmanns plotzliche Nachsicht nicht nur von innen zu kommen, auch nicht nur aus erzahlstrategischer Dberlegung, sondern unmittelbar als Resultat seiner ideologischen Hoherentwicklung. Diese Parallelfuhrung von Ideologie und Individualitat (wobei die Erfiillung des individuellen Partikularinteresses immer als Konsequenz der Erfullung des Gemeinwohls erscheint) ist symptomatisch nicht nur fur dies en

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Roman. Sie ist es vor all em, die den Widersprueh der Kritik gefunden hat. 30 Schonfarberei und Konfliktlosigkeit sind Eigenschaften, die sich aus der gewissermaBen verkurzten Darstellung der Realitat ergeben, aus der Ausblendung von realen Problem en aus einer literarischen Darstellung mit RealismusAnspruch. Man empfindet es als besonders storend und als plakativ, wenn die Erzahlliteratur dariiber hinaus kraft ihrer fur sie spezifischen Verfahren Zusammenhange stiftet, die dem Realismus-Anspruch geradezu Hohn zu sprechen seheinen. Die angefuhrte Synchronisierung von 1deologie und 1ndividualitat mit entsprechendem Funktionszusammenhang, dem zufolge die individuelle Entwicklung, d. h. die Verbesserung der individuellen Situation als Funktion der ideologise hen Hoherentwicklung erseheint, ist solch ein Fall. Sie muss vor dem Hintergrund des Realismus-Anspruchs als Simplifizierung erscheinen. Denn alle wissen, selbst prinzipiell gewogene Zeitgenossen wie die junge Christa Wolf oder Dieter NolI, dass Familienprobleme sich nicht von selbst losen, wenn nur die Familienmitglieder weltanschaulich auf der richtigen Seite stehen und das notige ideologische Niveau erreicht haben. Genau dies ist aber ein fur die Poetik der Aufbauromane charakteristisches iisthetisches Element. Die Parallelisierung von 1deologie und 1ndividualitat ist ein literarisches Verfahren, mit dem ein Zusammenhang gestiftet wird, der fur diese Art von Literatur bezeichnend ist. Er wird erst zum Problem, wenn man die Literatur mit der Wirklichkeit konfrontiert und ihr den Anspruch auf eine realistische Darstellung zuschreibt. Es heiBt jedoch, diese Literatur zu missverstehen, wenn man sie wie Wolf auf den Realismus-Anspruch reduziert. 31 Wie ieh spater ausfiihren werde, wird das Geschehen gegen Ende mit (verdeekten) utopisehen Ziigen versehen, so dass man sagen kann, dass der Text seine eigene »Schonfarberei« thematisiert. Durch diese Selbstthematisierung wird die 1deologie nicht kritisiert, sondern, im Gegenteil, plakativ ausgestellt. Plakativitat ist denn auch das entscheidende asthetische Charakteristikum. Man scheut sich vielleicht, in diesem Zusammenhang von Asthetik zu sprechen, da viele eher subversive Literatur schatzen und entsprechend im Umkehrschluss Literatur ohne subversive Qualitaten ablehnen. Doch geht es hier nicht ums Gutfinden, sondern nur darum, Besonderheiten auf den Begriff zu bringen.

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Christa Wolf (1954, 141) bemerkt in ihrem Verriss des Romans zwar die Anreicherung der ideologischen bzw. ,.politischen« Ebene mit der "privaten Sphiire«, zieht aber daraus keine weiteren interpretatorischen Schliisse. ,.Es mag fiir denjenigen, der anfiingt zu schreiben, eine Dberraschung sein, daB das Leben sich nicht einfach aus der Wirklichkeit in das Buch iibertragen liisst« (Wolf 1954, 143). Wolf unterstellt Reinowski unkiinstlerisches Kopieren der Realitiit, wobei sie allerdings die agitatorischen Partien des Romans im Sinn haben muss.

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Fiir die Synchronisierung des individuellen Problems des Liebespaars mit dem ideologischen Problem des Vaters spricht nicht nur die eingangs erwahnte Rahmenfunktion des Subsystems, das die personlichen Probleme der Figuren verhandelt. Und die Synchronisierung wird auch nicht nur durch die Verschrankung der beiden Subsysteme erreicht, die sich in Hartmanns Problem mit Matte manifestiert, das ihn sowohl vom Genossenschaftseintritt als auch vom Jawort fiir die Tochter abhalt. Die Synchronisierung wird im Text iiberdies mehrfach explizit hergestellt, bspw. indem Joachim in einem spateren Gesprach mit Heide die ideologische Entwicklung des Schwiegervaters in spe thematisiert und selbst eine Verbindung zu ihrem personlichen Problem herstellt. Von Heide ermahnt, do ch endlich personlich zu ihrem Vater zu gehen, bittetJoachim urn Geduld. Urn den Verdacht auszuraumen, er zogere (allein) aus Feigheit, gibt er folgende Begriindung: »Im Dorf tut sich soviel Neues. Mein Vater spricht in letzter Zeit viel versohnlicher von deinem Vater. !ch weiB no chnicht genau, wie ich mir das denke, aber vielleicht kann mir das no chden Schritt erleichtern« (237). Was ist »das«, was Joachim helfen solI, den kiinftigen Schwiegervater von sich zu iiberzeugen? »Das« kann nur das Neue sein, das auch vor Hartmann nicht Halt machen wird. Dessen scheint sich J oachim gewiss zu sein. Es kann nur bedeuten, dass Joachim denkt, die ideologische Umgestaltung der Person Hartmann werde ihm den Weg zu seinem Herzen ebnen. Es ergibt sich daraus eine sicherlich ungewollt doppelbodige Situation, was die Funktion der Figur des Joachim betrifft. Einerseits ist diese Hilfe1eistung der Ideologie (die ja letztlich mit der Partei zu identifizieren ist) im Sinne der Parteilichkeit, die sich im Roman ausdriicken solI; und sie demonstriert den oben beschriebenen Funktionszusammenhang zwischen ideologischem und individuellem Subsystem. Obwohl Heide Joachims Plan offensichtlich gutheiBt (»Heides Herz ist iibervoll«, heiBt es direkt im Anschluss an Joachims Rede) und sie sich damit des Widerspruchs nicht bewusst ist, stehtJoachims Plan gerade im Widerspruch zu ihrer Forderung, die sie ihm zuvor noch einmal ganz explizit gestellt hat. Auf seine Frage, ob sie ihm helfe, wenn er zu ihrem Vater gehe, antwortet sie: »Das schon, aber besser ware es, wenn du es allein schafftest« (236). Aus eigener Kraft schaffen kann er es eben nicht, wie seine daraufhin verkiindete Erwartung, das Neue werde schon helfen, deutlich macht. So ungewollt diese Konsequenz auch sein mag, sie ist doch nicht ohne innere Logik. Sie ist konform mit der werkimmanenten Axiologie, der gem aB ein Mensch allein nichts erreichen kann - ein Mensch mit der Partei im Riicken jedoch alles. Und nicht von ungefahr gefallt Joachim seiner Freundin immer dann am besten, wenn er seine ideologische Fortschrittlichkeit zum Ausdruck bringt; so etwa in dem zuvor erwahnten Gesprach der beiden, als Joachim ihr davon berichtet, dass ihr Vater im letzten Moment davor zuriickgeschreckt sei, der Genossenschaft beizutreten. »Heide staunt. [ ... ]

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Das ist ihr so neu an ihrem Liebsten, gibt ihr auch Hoffnung auf ihr eigenes Leben, ihr Leben mit Joachim, daB sie dieses Neue stark machen wil1« (193). Das zeigt: Joachims personliche Einstellung, seine lndividualitat wird von Heide vor allem dann honoriert, wenn er sich zur Partei bekennt. Personliche und parteiliche Oberzeugungen miissen in der Werkaxiologie zur Deckung kommen. Dies lasst sich vielleicht dadurch erklaren, dass es lange Zeit viel Mut gekostet hat, sich in Deutschland zu dies en politischen Oberzeugungen zu bekennen. Erst nach und nach wurde klar, dass dieser Zustand schnell zur Nivellierung der Personlichkeit zugunsten der herrschenden Politik fiihren konnte. Die Liebeshandlung strebt, so viel konnen wir den sporadischen Gesprachen des Liebespaars entnehmen, trotz retardierender Momente ihrem sicheren Hohepunkt entgegen. Doch bevor es so weit ist, muss man auf einen moglichen erzahllogischen Bruch aufmerksam machen, der erklarungsbediirftig ist. Wie erwahnt, erschlie6t Joachim aus dem ersten Gesprach mit Heide nach der Misshandlung durch den Vater, dass sie von ihm verlangt, er solle zu ihm gehen und sich ihm erklaren. »lch solI zu ihrem Vater gehen« (98), hei6t es in direkter Gedankenrede. Aus dem nachsten Gesprach lasst sich aber nicht ersehen, was Joachim aus dieser Erkenntnis macht. lm Gegenteil, er scheint sich fast dumm zu stellen, denn Heide gibt ihm erneut indirekt zu verstehen, was sie von ihm verlangt. Worum es eigentlich geht (dass Joachim bei ihrem Vater urn ihre Hand anhalte), sprechen sie nicht explizit an. Erst bei der dritten Begegnung spricht Heide aus, was sie bewegt, und Joachim ist oder tut iiberrascht: »Iiich?« (235), ruft er aus, als er mit dem Gedanken konfrontiert wird, zu Hartmann zu gehen. Diese Reaktion steht im Widerspruch zu dem Wissen, das ihm zuvor zugeschrieben wurde. Der Widerspruch lasst sich durch die Deutungshypothese ausraumen, der zufolge Joachims Feigheit seine Erkenntnis dariiber, was zu tun ist, verdrangt hat. Allerdings passt diese Auslassung einer Erklarung fiir Joachims inkonsistentes Verhalten nicht zum Gestus der Erzahlung, die nichts unausgesprochen lasst. Wie dem auch sei, der zogerliche Joachim schiebt die Konfrontation mit dem Vater vor sich her und redet sich nun damit heraus, dass es ohnehin keinen Zweck habe, den Vater aufzusuchen. Heide aber lasst ihm keine Wahl. Wiederum ist sie der Motor, der ihren kiinftigen Mann in Bewegung setzt. Hinzu kommt ein weiteres Moment, von dem schnell zu erkennen ist, dass es nur die Wiederholung eines schon bekannten Motivs in der Erzahlung ist. Der Begegnung mitJoachim vorangegangen ist ein neuerliches Erlebnis mit dem Vater. Zunachst wird Heide klar, dass sich auch ihr Bruder loyal zu ihr verhalt, weil er dem Vater nichts von ihrem Treffen mitJoachim vor dem Nachtdrusch erzahlt hat. Diesmal ist der Vater offen zartlich zu ihr und bietet ihr »beim Kaffeetrinken« Versohnung an (232). Wie Heide darauf reagiert, wird nicht erzahlt, aber analog zu der nachtlichen Episode (Vater an Heides

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Bett) lost die Gutherzigkeit des Vaters in Heide eine gewisse Reue aus und fuhrt zu dern Entschluss, Joachirn vier Wochen zu boykottieren, urn ihn dann griindlich zurechtzuweisen. 32 Sie be1asst es bei neun Tagen, und es kornrnt zu dern vorerst letzten Gesprach der beiden rnit der AnkundigungJoachirns, einen ihrer Sache giinstigen Zeitpunkt abzuwarten. Joachirns nachster Zug besteht darin, Reinhold auf seine Seite zu ziehen (277-280). Kurz darauf begegnet er Heide, die ihn abermals auffordert, zu ihrem Vater zu gehen. Dabei ist sie keineswegs enttauscht von Joachim, dass er es immer noch nicht geschafft hat. Indem sie ihm eine Absage erteilt, gerneinsarn Zeit zu verbringen, bezwingt sie auch ihre eigenen kurzfristigen Bedudnisse urn der langfristigen Sache willen: »Meinst du, daB ich nicht auch gern spazieren ginge?« (281). Und urn - zurn einen vorn Standpunkt der Figur - ihrern Freund Mut zuzusprechen und urn - zurn anderen vom Standpunkt der Erzahlung - die Synchronisierung der beiden Subsysteme weiterzutreiben, weist sie auf den jetzt gunstigen Zeitpunkt hin, der sich aus dem entscheidenden Schritt in ihres Vaters ideologischer Entwicklung ergibt: »Versuch es doch, Jo, jetzt wird's doch vielleichter. Er ist doch gestern abend in die Genossenschaft eingetreten. Er ist wie umgewande1t« (281). Diesrnal ist es also Heide, die auf den ideologischen Entwicklungssprung des Vaters hinweist und diesen als gute Voraussetzung fur ihr privates Gluck begreift. - Vorerst ab er nutzen die guten Worte nichts. Als Joachim wenig spater am Hof der Hartmanns vorbeikornrnt, wischt er den Gedanken an einen Spontanbesuch bei Hartrnann schnell beiseite. Die Erzahlung springt wieder zu Hartrnann zuriick und verbleibt fUr eine langere Zeit bei ihrn und zwar fur langere Erzahlzeit. Wie viel erzahlte Zeit verstreicht, wird - typisch fur Reinowski - nicht ganz deutlich. Allzu viel Zeit kann es nicht sein, denn die Erzahlung wendet sich der Frage nach der Kollektivierung des Viehs und der Sabotagehandlung zu, die nach wenigen vorbereitenden Kurz-Episoden en bloc erzahlt wird und weder viel Erzahlzeit no ch viel erzahlte Zeit in Anspruch nirnmt (328-337). Nach der Erzahlung von den Konsequenzen aus der Sabotage folgt wiederum eine unauffallige Episode, die mit den Satzen beginnt: »Der Rest der Ernte rnuB rnehr eingestohlen als eingebracht werden, denn es regnet jetzt haufig. Manchrnal ist der schwere Boden so schlupfrig, daB die besten Traktoristen beirn Pflugen ihre Not haben« (351). Die iterative Forrnulierung lasst sich als Hinweis deuten, dass ein paar Tage vergehen. Die nachste Etappe in der Entwicklung der Liebeshandlung ist zugleich ihr drarnatischer Hohepunkt.Joachirn spricht bei Hartrnann vor (355-361). Den Wendepunkt markiert sie aber noch nicht. Hartmann lasst nicht rnit 32

»Heide malt sich genau aus, was sie ihm sagen wird: Mach dir keine Hoffnungen, so schon es gewesen ist, es muB alles vorbei sein. Du bist kein richtiger Mann. Du bist ein Weichling und gibst deiner Mutter die Schuld statt dir selbst« (233).

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sich reden, sondern sprichtJoachim auf die Trinkgewohnheiten seines Vaters an, so dass sich der Brautwerber gezwungen sieht, seine Familienehre zu verteidigen. Ein Wort ergibt das andere, Hartmann weist ihn aus dem Haus, und Joachim wird ausfallig. Er versteigt sich sogar zu der Behauptung, er habe Heide verfuhrt. 33 Hartmann fuhlt sich daraufhin in seiner Ablehnung nur bestatigt: »Noch die Eierschalen hinter den Ohren, wollen sie in ihrer Respektlosigkeit uber einen alten Mann urteilen. [ ... ] U nd so was will mein Schwiegersohn werden!« (361).34 Was nun? Die Situation ist offensichtlich verfahrener als vorher. Joachim hat sich Heides Ratio gebeugt, ab er gefruchtet hat sein Auftritt nichts. Im Gegenteil. Wiederum liegt die Bedeutung dies er »turbulenten« Episode nicht in ihr selbst, sondern in ihrer Funktion im Gefuge der Subsysteme. Denn es wohnt dem BesuchJoachims zufallig der ortliche Parteisekretar Jung bei, der nun Gelegenheit hat, Hartmanns private Ruckstandigkeit aufs Korn zu nehmen. Wie es sich fur einen Genossen in sozialistisch-realistischen Romanen seit je gehort, behalt er auch im Sturm stets die Ruhe: »Tobe dich nur richtig aus, denkt Jung; er zundet sich eine Zigarette an und sitzt still in seiner Ecke« (361). AIs sich Hartmann etwas beruhigt hat, wendet er sich Jung zu: »So, junger Mann, nun sagen Sie mir, was Sie von der Sache halten. - Reinhold erzahlt ja immer, daB ihr SED-Funktionare uberall helfen sollt« (362). Es ist nicht das erste Mal, dass der stolze Hartmann sich hier der Autoritat der Partei beugt, was psychologisch wohl mehr als unwahrscheinlich ist und nur die Funktion haben kann, die Macht der Partei auch in privaten Fragen zu demonstrieren. Wiederum wird das Subsystem individueller Probleme mit dem ideologischen Subsystem synchronisiert. Jung tut so, als unterstelle er Hartmann finanzielle Motive: der Neubauer Matte sei ihm zu arm. Hartmann weist diese Unterstellung entriistet zuriick und entkraftet sie unter Hinweis auf seine altere Tochter Erika, »die auch einen Neubauern heiraten durfte« (362). Hartmann bleibt nach auBen zunachst storrisch. Jungs Rat, mit Heide offen zu sprechen, weicht er aus. DochJung kommt es nach der Unterredung vor, »als wiirde Hartmann nachdenklich« (363). Der Keim ist gesat, und wenig spater geht er auf. Entscheidend fur die Poetik des Aufbauromans ist, dass der Wendepunkt der Liebeshandlung nicht im betreffenden Subsystem allein liegt, sondern Diese Behauptung wird erst spater endgiiltig mit der Autoritat der Erzahlerrede zUrUckgewiesen, als von Reinholds Seitenwechsel die Rede ist: »[ ... ] seit er [Reinhold] erkannt hat, daB nichts Niedriges zwischen beiden ist, nimmt er seine Schwester viel ernster, wiinscht selbst, daB Joachim und Heide sich mit ihrer Forderung beim Vater durchsetzen mogen« (364). 34 Auch diese Episode findet nicht den Gefallen von Christa Wolf (1954, 143), weil sie wie vergleichbare Episoden anderer Romane »kunstlich zu turbulenten Auftritten gesteigert« wiirden. Wiederum gilt: eine durchaus richtige Beobachtung, die aber mehr Wolfs eigene Poetik verdit als Verstandnis fur die eigentiimliche Aufbau-Romanpoetik.

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auch im ideologischen Subsystem. Aus diesem erhalt die Liebeshandlung den AnstoB fur die Wendung, die sie endlich nimmt. Dies mag einer der Grunde sein, warum diese Literatur auf schroffe Ablehnung stoBt. Der Primat der Ideologie wird als »platt« empfunden. Aber die Frage der Evaluation soIl hier ausgeklammert bleiben. Als Hartmann wenig spater auf dem Feld ist, begegnet er wieder Spengler, dem ehemaligen Nebenbuhler Joachims, der seine Niederlage eingesteht und damit der Ahnung Vorschub leistet, dass Heide und J oachim heiraten werden. Dies muss Hartmann uberraschen. Er denkt nach und nimmt auf, was Jung ihm gesagt hat: »Ich weiB eigentlich nicht, wie sich das Madchen zu der Sache stellt, weil ich Junges [sic!] Rat nicht befolge, mit ihr damber zu sprechen. [ ... ] VieIleicht muB ich sie doch einmal danach fragen« (389). Unmittelbar vor der Begegnung mit Spengler fand eine Versammlung statt, auf der Hartmann seine Bereitschaft erklart, endlich auch der Partei beizutreten (383 f.). Aber weil dafur bestimmte Dinge wie ein schriftlicher Lebenslauf und zwei Burgen notig sind, kann er sein Vorhaben nicht sofort in die Tat umsetzen. Hartmann solle die Entscheidung noch einmal uberdenken, empfiehlt ein »Sekretariatsmitglied«. Wenig spater aber sieht man Hartmann bereits mit Parteiabzeichen am Revers (401), nun ist er Kandidat - und zeichnet sich nun auch durch das angesprochene parteispezifische Verhaltensmuster aus: »Ruhig reiht er Wort an Wort. Und jedes Wort ist richtig bedacht« (405). Und nun ist er der Partei nicht nur verpflichtet, sondern hat auch das ausreichende ideologische Niveau erreicht, so dass ihm im privaten Bereich nichts anderes mehr ubrig bleibt, als sich dem »historisch Notwendigen« zu fugen bzw. es sogar gutzuheiBen. Auf der nachsten Versammlung tragt auch Joachim Matte seinen Teil zu der baldigen Versohnung bei. Er unterstiitzt Hartmann in einer Angelegenheit gegen die Mehrheit der anwesenden Bauern und gibt dem Alteren zugleich die Moglichkeit, seine groBere Erfahrung und Dberlegenheit in Szene zu setzen (415-417). Hartmann fiihrt sich am Ende der Versammlung vor Augen, dass beide Mattes fur ihn eingetreten sind (418). Seine Einstellung gegenuber der Nachbarfamilie ist im Begriff, sich zu andern. Joachims Arbeitseifer, den dieser beim Umbau eines Hofs in ein Kulturhaus an den Tag legt, tut das Seine hinzu, so dass Hartmann ihn zu sich nach Hause einladt (428f.). Als Joachim am nachsten Tag - es ist der 30. September - nach dem Abendbrot zu Hartmann kommt, red en sie erst kurz miteinander. Hartmann fragt Joachim, warum er ihn erst einladen musste, damit er kommt, worauf dies er antwortet, dass er nicht an den Erfolg eines erneuten Besuchs geglaubt habe. Und auf die weitere Frage, was sich jetzt geandert habe, meint Joachim: »Ich glaube, jetzt, ich glaube, weil mein Vater, Sie und ich oft eine Meinung haben, jetzt werden Sie ja sagen« (433). Wiederum erscheint das erhoffte Jawort als Konsequenz aus der Ideologie, uber die nun unter den beteiligten Figuren Einverstandnis

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herrscht. Es folgen die Versohnung mit Joachims Vater und die Verlobung am Tag des Erntefests. Wie Hartmann in seiner Rede am Schluss deutlich macht, ist die Summe aus Verlobung und Erntefest mehr als ihre Teile: Dieser Tag ist fur mich mehr als eine Verlobungsfeier und ein Erntefest. Es scheint mir, es ware meine Geburt. Ein neuer Hartmann steht vor euch. Ja, ich bin nicht mehr der alte. Sechzig Jahre meines Lebens glaubte, ich, es komme darauf an, etwas Besonderes zu sein, heute weill ich: Es kommt nicht darauf an, etwas Besonderes zu sein, sondern man muB sein wie alle .... (444) Diese »Erleuchtung« Hartmanns, seine Selbsterkenntnis ist das Resultat des Romans, dessen Grundhandlung in der ideologischen Bekehrung ihres Helden besteht. c. Interne Modifikation: Bekehrung als Subsystem ideologischer Probleme in Werner Reinowskis Diese Welt mufi unser sein (1953) II In der Geschichte der Literatur der Deutschen Demokratischen Republik wird Reinowskis Roman Diese Welt mufl unser sein mit Hilfe seines U ntertitels Roman einer Produktionsgenossenschaft charakterisiert, von dem es heiBt, dass er ihn »nicht zufallig [ ... ] trug« (Haase et al. 1976, 258). Tenor dieser Einschatzung ist, dass in dies em Werk das Individuum zugunsten des Aufbaus der Produktionsgenossenschaft noch starker in den Hintergrund tritt als in Der Kleine Kopf Wie jedoch schon ein oberflachlicher Vergleich beider Werke zeigt, ist der Anteil an Personlichkeitsdarstellung in Diese Welt mufl unser sein - dem Untertitel zum Trotz - viel groBer als in Der Kleine Kopf Das liegt nicht zuletzt daran, dass in Diese Welt mufi unser sein weniger Parallelhandlungen vorkommen, weniger Rand- und Nebenfiguren, was wiederum der Zentralgestalt Bernhard Hartmann mehr Raum lasst. Im Gegensatz zum Kleinen Kopf ist hier eine Grundhandlung viel besser auszumachen. Das ideologische Subsystem konzentriert sich urn den Altbauern Hartmann, von dem man annehmen konnte, dass er als Wandlungsfigur konzipiert ist. Der Gegensatz zwischen Alt und Neu wird in diesem Roman im Wesentlichen in einer Figur konzentriert. Es ist hier eine Akzentverschiebung zu beobachten, die sich unmittelbar auf die Konzeption der Handlung auswirkt. Im Mittelpunkt steht nicht der von der Partei delegierte verdiente Arbeiter, der die Kollektivierung in einem Dorf durchsetzt. Folglich gibt es auch keine Ankunft eines Fremden analog zu Davydov in Neuland unterm Pflug od er Johannes Schmidt im Kleinen Kopf Stattdessen wird die Rolle der Partei durch zwei Mentor-Figuren erfullt: durch Georg Jung, den jungen Parteisekretar im Ort,35 und Vera Friihauf, die MTS-Leiterin. Obgleich ein 35

Jung wird nicht nur von Hartmann wiederholt als ,.junger Mann« angesprochen, er ist auch ,.fast zehn Jahre« (Welt, 33) jiinger als Reinhold Hartmann mit seinen bald 35 Jahren (100).

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Kollektivierungsroman, zeigt Diese Welt mufl unser sein diesbezuglich mehr Ahnlichkeit mit Romanen wie Ostrovskijs Wie der Stabl gebartet wurde. Dies trifft allerdings nur in einem ganz groben Sinne zu, da Reinowskis Held ein Sechzigjahriger ist, ein alter Mann mithin, der besonders wandlungsresistent ist. Umso groBer ist der Erfolg am Ende - auch umso irrealer. AIs Hartmann seinen ersten Auftritt im Roman hat, ist er verunsichert. Er befindet sich auf dem Weg zu seinem Schwager Karl Frohlich. Ihn bewegt eine Nachricht aus Berlin, und er mochte wissen, was Frohlich dazu denkt: »Ulbricht hat heute in Berlin vom Sozialismus gesprochen. Jetzt solI der Sozialismus bei uns aufgebaut werden, und wir sollen Genossenschaften machen« (22). Doch Frohlich hat keine Ahnung. Anhand dies er Angabe lasst sich der Zeitpunkt des Handlungsbeginns eingrenzen. Der Aufbau des Sozialismus wurde auf der n. Parteikonferenz der SED verkundet, die vom 9. bis zum 12. Juli 1952 stattfand. 36 Der Handlungsverlauf des Romans ist also vergleichsweise kurz und erstreckt sich auf wenig mehr als zweieinhalb Monate. Das Hauptproblem des Romans, damit »diese Welt unser« werden kann, besteht nun darin, Hartmanns BefUrchtungen zu zerstreuen und seine Vorurteile zu widerlegen. Wie in den ersten Gesprachen Hartmanns mit verschiedenen Figuren zum Ausdruck kommt, furchtet er Enteignung und ist der Dberzeugung, dass die Vergesellschaftung nur zu Nachteilen fUr die FleiBigen (wie er einer ist) fuhrt. Dies bringt er auf folgende Formel, die er mehrmals auBert: »Kumpanei ist Lumperei« (24,25,54,64,71,72, 106, 181). Die Figur der Vera Friihauf hat die Funktion, Hartmann aufzuklaren und fur die Produktionsgenossenschaft zu gewinnen. Das wird bereits in ihrer Reflexion deutlich, die sie bei einem Glas Milch wahrend einer Pause auf der Parteikonferenz anstellt (39). Wie zu zeigen sein wird, erreicht sie ihr Ziel nicht nur mit offen vorgetragenen Argumenten, sondern auch mit Hilfe geschickter Manipulation und indirekten okonomischen Drucks. Die zuletzt genannten Mittel sind vergleichsweise subtil in die Handlung eingebaut und zeigen den oben erwahnten (trotz der immer wieder ausgesprochenen Versicherung, dass der Beitritt freiwillig sei) unterschwellig totalitaren Zugang zur Kollektivierung. Vera Friihauf kommt in der Agitation der aktive Part zu, wahrend der Parteisekretar Jung eher eine passive RoUe hat; es ist der Rat suchende Hartmann, der sich gelegentlich an ihn wendet. Hartmanns ideologische Entwicklung ist aber nicht nur von Interesse hinsichtlich seiner Haltung gegenuber der Kollektivierung. Wie bereits aus dem vorigen Abschnitt deutlich geworden ist, wandelt er sich auch im Hinblick auf seine privaten Anschauungen und sein Verhalten. Seine Wandlung fuhrt 36

Das Datum (12. Juli) wird spater im Text bestatigt, als von Vera Friihaufs Teilnahme an der Konferenz erzahlt wird (Welt, 37-45).

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nicht nur zur Aussohnung mit seinem Nachbarn und zur Verlobung seiner Tochter, sondern auch zur Anerkennung der Emanzipation der Frau und zum Ernstnehmen seines Sohnes Reinhold. Hartmanns Wandlung ist, so scheint es, keine Wendung um 180°. Von Anfang an wird er als Sympathisant der SED-Politik geschildertY Aus dem Gesprach mit seinem Schwiegersohn Waiter wird deutlich, warum: »Lieber Waiter, noch nie hat es eine Partei gegeben, der ich so vertraut hatte wie deiner Partei. Wie gut ging es vorwarts, wie schon waren wir im Gange [ ... ]« (54). Immer wieder ist wie hier zu erfahren, dass Hartmann die Verbesserung der wirtschaftlichen Situation auf die Politik der SED zuriickfiihrt. Schon aus seinem Wortwechsel mit dem ehemaligen GroBbauern Engel (einem von zwei negativen Figuren) geht sein DDR-Patriotismus hervor (18). Hartmann ist bereits auf der richtigen Seite; grundsatzlich gehort er, aus der Sicht der Erzahlung, zu »uns«. Es gibt nur einige Missverstandnisse auszuraumen, die mit seiner dorfbedingten Riickstandigkeit zu tun haben. Diese Riickstandigkeit driickt sich vor allem in seinem patriarchalischen Zugang zu den Rechten der Frau aus - und in der Priigelszene. Spater, als es um Hartmanns immer wieder hinausgezogerten Beitritt zur Genossenschaft geht, wird daran erinnert, dass er sich auch mit der MTS anfangs schwer getan habe. 38 Die Vorgeschichte liefert Vera Friihaufs Erinnerung auf der Parteikonferenz. Sie weiB, dass Hartmann ein harter Knochen ist, um ihre Aufgabe >sozialistische UmgestaItung des Dorfes< in Wohlhausen durchzusetzen. Aber sie erinnert sich, dass sie ihn auch schon auf die richtige Seite zu ziehen vermochte, als es darum ging, die MTS aufzubauen, fiir die sie ihn schlieBlich gar als Vertrauensmann gewinnen konnte. Gelungen ist es ihr aber offenbar weniger durch beharrliche Agitation als durch die iiberzeugenden ResuItate, die die Technisierung der landwirtschaftlichen Arbeit mit si ch brachte: Lange hat der Alte mich abgewiesen. Aber unsere Arbeit wurde immer besser und die Zahl unserer Maschinen groBer. Vergeblich hat er sich gegen die Erkenntnis gewehrt, daB er mit seinen pferden den Wettstreit mit unserer Maschinenarbeit nicht zu bestehen vermochte - heute ist dies er Hartmann Vertrauensmann fUr unsere MTS. Kein schlechter Vertrauensmann, gibt Vera zu. (39) Dieser Blick in die Vorgeschichte zeigt zum einen, dass der eigentliche Wandlungsprozess, aus Hartmann erst einen Sympathisanten und dann einen Kan»[ ... ] er wird tatsachlich langsam zu einer gewissen Sympathie fUr die Partei gekommen sein, meine steten Worte sind nicht ohne Wirkung geblieben, denkt der Sohn [Reinhold]« (30). 38 Joachim sagt zu Heide, dass er ihren Vater nicht verstehe. »Er will so klug sein und macht solche Fehler. J etzt macht er es genau wie damals mit der MTS. [... ] er kommt immer hinter allem hergetrabt« (193). 37

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didaten der SED zu machen, bereits vor Beginn der Grundhandlung eingesetzt hat. Es ist daher besser von einer Bekehrung statt von einer Wandlung zu sprechen. Zum anderen zeigt das Zitat, dass der Impuls fur Hartmanns Bekehrung kein ideologischer ist. Es geht in der Vorgeschichte nur urn die Vorzuge der Technik, fur die, wie bald deutlich wird, Hartmann empfanglich ist. Diese Empfanglichkeit wird Vera Friihauf auch fur ihre weiteren Zwecke zu nutzen wissen. Dass man mit (ideologischen) Versprechungen nichts und mit guten Ergebnissen alles erreicht, ist eine Maxime, die auch sonst das ideologische Subsystem des Romans steuert. Hartmanns Fortschritte, seine Einsicht und Bereitschaft wachsen, je klarer ihm die Leistung sozialistischer Landwirtschaft wird. Ruckschritte sind hier nicht eingeplant. Dabei ist zu beriicksichtigen, dass die erste Halfte der Maxime sicherlich ungewollt in dies em Werk angelegt ist. Fur den Autor und Erzahler sind die guten Resultate naturlich unmittelbare Folge der richtigen, in die Praxis umgesetzten Ideologie. Die Technisierung der Landwirtschaft ist aber keine genuin sozialistische Errungenschaft, und daher ist Hartmanns Bekehrung erst in zweiter Linie eine ideologische. In erster Linie lasst er sich von den Erfolgen uberzeugen. U nd diese im Roman behaupteten Erfolge und Vorzuge sind, wie heute alle und damals wohl schon die meisten wissen, fiktiv. Eben daraus resultiert der Effekt, dass dies er und vergleichbare Romane vielen verlogen vorkommen. Motor des Aufbaus sind Erfolge, die es gar nicht gab. Das wussten alle, aber es konnte natiirlich nicht offentlich angeprangert werden. Insofern knupfen diese Romane direkt an Fern von M oskau an, den Gipfel der Verlogenheit durch totale Selbstverleugnung des involvierten Autors. 39 Die andere, mehr wohlmeinende Moglichkeit, die Fiktivitat der Erfolge in einem Roman wie Diese Welt mufl unser sein zu interpretieren, besteht darin, sie als verdeckte Utopie zu deuten. Einem Autor wie Reinowski musste klar sein, dass es irreal war, wovon er erzahlte. Doch ehe diese Moglichkeit am Schluss ausgelotet wird, sei die weitere Entwicklung nachgezeichnet, die Hartmann durchmacht. Zunachst ist es nicht die MTS-Leiterin, die auf Hartmann einwirkt, sondern seine Familie. Nachdem die Unterhaltung mit seinem Schwager fur Hartmann unergiebig war, wend et er sich in Ermangelung eines anderen Ansprechpartners an seinen Sohn Reinhold. Dieser erklart ihm erst einmal, dass noch nichts beschlossen sei: »[ ... ] das ist nur ein Vorschlag, den das Zentralkomitee in der Konferenz gemacht hat. Aber wenn es so beschlossen wird, dann ist das 39

Das Projekt - der Aufbau der Pipeline - war natiirlich nicht so einfach und heldenhaft zu realisieren wie im Roman dargestellt, abgesehen von der Tatsache, dass es auf dem Riicken und den Knochen tausender Strafgefangener durchgefiihrt wurde, die im Roman alle Freiwillige sind.

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fur jedes Dorf und fur jeden Hof eine freiwillige Angelegenheit« (29). Auch wenn Reinhold nach dem Gesprach des Vaters grundsatzliche Gewogenheit registriert,40 dient diese Episode wie auch die nachste analoge Episode - Hartmanns Gesprach mit dem Schwiegersohn WaIter (52-55) - zugleich dazu, Hartmanns Starrkopfigkeit darzustellen und damit die Hurde aufzubauen, uber die die Bekehrungserzahlung springen muss. Des Weiteren dienen diese Verwandtengesprache dazu, die Progressivitat der jungeren Generation zu illustrieren sowie die Freiwilligkeit der Ko11ektivierung herauszuste11en. Dass der Eintritt in die Genossenschaft freiwillig ist, wird immer wieder betont. Mit dies er Freiwilligkeit hat es jedoch eine eigene Bewandtnis. Freiwillig ist der Beitritt nur dem Wortlaut nach. Die Umstande werden von der Strategin Friihauf (und auch von Jung) so manipuliert, dass sie einen kuhlen Rechner wie Hartmann zum Eintritt zwingen. Friihaufs erster Kniff besteht ab er darin, Hartmanns Interesse zu wecken und seine Ehrpusseligkeit auszunutzen. Dies macht sich schon in Hartmanns erstem Gesprach mit dem Traktoristen Spengler, Vera Friihaufs Mitarbeiter, bemerkbar. Spengler hat eine neue Maschine, einen »Krautschlager«, den Hartmann no ch nicht kennt. Spengler: »Da muB ich aber lachen, Vetter! Von Frau Friihauf hort man immer nur, Vetter Hartmann ist der tuchtigste MTS-Vertrauensmann, und dann weiB er noch nicht mal, daB das eine neue Maschine ist« (34f.). Kurz darauf kundigt er an, dass die neue Maschine bei Hartmann ausprobiert werden sol1- auf Frau Friihaufs Geheill. Das gefallt Hartmann. Es schmeichelt ihm, dass neue Gerate auf seinen Feldern getestet werden sol1en. SchlieBlich lasst Spengler einflieBen, dass ein so fahiger Bauer wie Hartmann keine Anleitung durch Agronomen benotige. Eine erneute Schmeichelattacke. Zu dies em Zeitpunkt verfolgt Spengler zwar noch eigene Interessen, denn er will sich Heides Vater gewogen machen, um bei der Tochter besser ankommen zu konnen. Aber auffallig ist doch, dass er sich abermals auf Vera Fruhauf beruft (36). Sie ist es, von der das Lob fur Hartmann ausgeht. Eine analoge Episode bestatigt diesen Befund. Aus der Sowjetunion hat Vera Fruhaufs MTS einen Mahdrescher bekommen, einen »Stalinez 4«. Wiederum bestimmt Vera Fruhauf, dass er auf Hartmanns Weizenfeld ausprobiert werden so11. »Na ja, der steht aber auch!« sagt dieser uber seinen Weizen, und der Erzahler fugt hinzu: »Stolzer kann Hartmann nichts ausdriicken« (152). Hartmann ist der einzige Wohlhausener, der zusammen mit MTS-Funktionaren das Geschenk aus der Sowjetunion in der Kreisstadt in Empfang nehmen solI. Zu dies em Zweck geht Hartmann gar vorher zum Friseur. Noch am selben Tag wird das Gerat auf Hartmanns Feld vorgefuhrt, und Hart-

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S. o. Anm.37.

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mann, der mitfahren dad, ist mit dem Resultat rundum zufrieden. »Wie ein siegreicher Feldherr steht Hartmann auf der Buhne des Mahdreschers« (158). Hartmann zeigt sich beeindruckt und mochte auch die Vorteile der Maschine fur seine Wirtschaft nutzen. Aber seiner entsprechenden Bitte erteilt Vera Friihauf eine Absage, denn die Mahdrescher sind fur die LPG vorgesehen. »Hartmann verzieht sein Gesicht, die ganze Freude an dem grandiosen Erlebnis ist dahin« (161). Dennoch hat Hartmann ihr nichts entgegenzusetzen und ladt sie noch zum Abendbrot ein. Dass Vera Friihauf fur menschliche Schwachen sensibel ist und Einfluss auf Hartmann besitzt, hat sie schon vorher bewiesen, als sie nach dem Eklat mit Matte und Borne zu ihm zu Besuch kam, urn vordergriindig - danach zu fragen, was er von dem neuen Krautschlager halte (99-111). Sie nutzt auBerdem die U nterhaltung, um mit Hartmann uber seine Tochter zu sprechen und ihm klar zu machen, dass sein Groll gegen Joachim unbegriindet ist. Immerhin erreicht sie, dass sich Hartmann, cler bislang den Arger in sich hinein gefressen hat, erstmals ausspricht. SchlieBlich kommen sie auf das Thema zu sprechen, class sie beide am meisten bewegt: die Genossenschaft. Doch Vera verschweigt ihr Motiv ebenso wie Hartmann, der sie wie beilaufig danach fragt, wie es in Berlin gewesen sei. Zunachst scheint sie aber nichts mit ihrer Begeisterung bei Hartmann ausrichten zu konnen. Selbst der Hinweis auf seinen geschatzten Schwiegersohn WaIter Muller fruchtet nichts, da sich Hartmann mit dem Argument herausredet, dass die Produktionsgenossenschaft sich fur N eubauern vielleicht lohne, fur ihn, den Altbauern, jedoch nicht. Erst als sie von Steuernachlassen und AbgabeermaBigungen spricht, regt sich Hartmanns Interesse. 41 AuBerclem weist Vera auf den Zeitgewinn fur den einzelnen hin, wenn nicht mehr jeder nur fur si ch selbst wirtschaftet, sondern das Kollektiv die Arbeit rationeller aufteilt. Schon in dies er Passage wird deutlich, dass es die okonomischen Vorteile sind, die Hartmann zum Umdenken bewegen. Zunachst sind aber noch weitere Kniffe vonnoten, urn Hartmann zum Wendepunkt zu bringen. Es findet in der Folge eine zweite Versammlung statt, auf der sich das Grundungskomitee der Genossenschaft konstituiert. Hartmann aber bleibt trotz der Aufforderung, sich zu beteiligen, skeptisch, sehr zum Leidwesen seines Sohnes Reinhold, der aus Loyalitat keinen Schritt wagt, der gegen den Vater gerichtet ist. Dass ab er die aktuellen Vorgange den alten Hartmann weich zu machen beginnen, wird nach der Versammlung deutlich: »Ihm ist's noch nie so wie heute aufgefallen, wie stark, wie unwiderstehlich das Neue in ihr Dod eingedrungen ist« (136). AuBerdem ist

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N atiirlich ist nur von Vorteilen fUr Mitglieder die Rede. Dass diese Vorteile fiir Nichtmitglieder Nachteile sind, wird verschwiegen.

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Hartmann neugierig und kann es schlecht vertragen, dass ohne ihn wichtige Entscheidungen getroffen werden. Schon in der dritten Versammlung ist Hartmann kurz davor, seine Unterschrift zu geben. AuGer den okonomischen Vorteilen, die ihm die Genossenschaft verspricht, gibt es noch einen weiteren - sujetbedingten - Faktor, der Hartmann dazu bringt. Es ist der Antagonist Engel, dessen Sabotageversuche Hartmann immer wieder dazu bringen, das Gegenteil von dem zu tun, was er eigentlich will. Wie schon in einer friiheren Episode (als ein Einwand Engels zu Hartmanns voreiligem Versprechen fuhrt, Heide zur Ausbildung in die MTS zu schicken [164], obgleich er das kurz vorher ausgeschlossen hat [161]) fungiert Engel auch hier wieder als Katalysator, dessen Reden Hartmanns gesunden Sachverstand provozieren. 42 Sein Redebeitrag zur Widerlegung Enge1s wird von dem anwesenden Kreissekretar gewiirdigt und reiht ihn in die Befurworter der Genossenschaft ein, so dass er unter dem Lob der anwesenden Funktionare fast automatisch zum Stift greift. Doch halt ihn die Unterschrift seines Intimfeindes Matte, auf die nun sein Blick fallt, im letzten Augenblick davon ab (185). Hartmann ist also doch noch nicht so weit. Auch ein weiterer direkter Oberzeugungsversuch durch Vera Friihauf fuhrt zu nichts (218f.). Ihr nachster Schachzug besteht darin, Vertreter einer anderen Genossenschaft (aus Burglingen) einzuladen. Aber obgleich deren Erfolge Hartmanns Geschaftssinn ansprechen, lasst er sich nicht uberzeugen. Dazu bedarf es erst eines Tricks. Reinhold bittet seinen Schwager WaIter, Hartmann anzurufen und ihm zum Eintritt in die Genossenschaft zu gratulieren. Waiter solI so tun, als sei Hartmann schon eingetreten. Auch im Dorf glauben alle schon, Hartmann sei bereits eingetreten, und sprechen ihn darauf an. Hartmann schlaft schlecht. Alles spricht fur den Eintritt, aber sein bauerlicher Konservativismus halt ihn davon ab, den befreienden Schritt endlich zu tun. Schlie61ich ruft WaIter an und gratuliert. Hartmann fragt angesichts dieser unablassigen Anwiirfe seine Frau Luise urn Rat. Die prasentiert ihm zum einen eine Rechnung, aus der einmal mehr die wirtschaftlichen Vorteile hervorgehen; zum anderen weist sie ihn darauf hin, dass spatestens die Kinder eintreten wiirden, wenn er es nicht tue, und dass die Enke1 von ihm schlecht wiirden denken mussen, weil er sich dem Neuen vergeblich in den Weg gestellt habe. Die Aussicht, dass sich »der Junge kluger als der Vater« (262) herausstellen konnte, missfallt Hartmann. Er verfasst das Aufnahmegesuch. Wieder aber 42

»Sujetbedingt« heifit, dass hier nicht Vera Friihaufs Agitation, auch nicht ihre Manipulation auf Hartmann einwirkt, beides Ursachen auf der Ebene der Geschichte, sondern die rekurrente Einschaltung von Episoden mit Engel. Dass Hartmann unter dem Eindruck der Negativfigur plotzlich Dinge tut, fiir die es keinen rationalen Grund gibt, legt es nahe, die Motivierung fur diese Handlungen auf der Ebene der Erzahlung zu suchen.

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kommt ihm Matte in den Sinn, und er Hisst den Stift abermals sinken. Da tritt sein Enkel mit einer Mathematikaufgabe in die Stube. Die Ablenkung ist Hartmann willkommen, zogert sie do ch sein Einverstandnis noch einmal hinaus. Aber die Aufgabe handelt von Produktionszahlen im Ackerbau und zeigt Hartmann nochmals die Vorteile einer Kollektivwirtschaft auf. Das iiberzeugt Hartmann endgiiltig, und er unterzeichnet sein Gesuch (266). Schon bald stellt sich heraus, dass der Enkel von Reinhold prapariert worden war (268). Erst eine Manipulation war also ausschlaggebend fiir Hartmanns Beitritt. Ahnlich geht Vera Friihauf vor, als sie darauf hinarbeitet, die Genossenschaften auch fiir die Ehefrauen zu offnen. Sie argumentiert, dass die ansonsten so vorbildliche Genossenschaft in Burglingen den Ehefrauen den Beitritt verwehre. 43 Wiederum versucht sie damit, Hartmann bei seiner Ehre zu packen. Das ist die Chance fiir Hartmann, seine eigene Fortschrittlichkeit zu demonstrieren. Aber auch in dieser Frage wird er mehr iibertolpelt als iiberzeugt (304, 327). Und auch beiJoachims erstem (vergeblichem) Besuch bei Hartmann ist Manipulation im Spiel, wie aus einem Gedanken des anwesenden J ung hervorgeht. Dass Hartmann vor jeder entscheidenden Wendung manipuliert wird, konnte der Intention des Autors geschuldet sein, die Handlung mit Intrigen anzureichern, urn sie romanhafter oder spannender zu machen. Unbeschadet dies er nur empirisch zu beantwortenden Frage lasst sich dies em auffallig rekurrenten Motiv eine literarische Bedeutung zuschreiben. Meiner Ansicht nach zeigt sich darin der totalitare Zugang, den der Roman gegeniiber der Kollektivierung hat. Obgleich viel von Freiwilligkeit die Rede ist, gibt es zweifelhafte Anreize (so auch einen Sonderverkauf exklusiv fiir Mitglieder der Genossenschaft im ortlichen Konsum) und mehr od er weniger versteckte Benachteiligung von Einzelbauern, was die Versorgung mit Produktionsmitteln angeht (Saatgut, Maschinen usw.). Die Manipulationen, denen die Zentralfigur ausgesetzt ist, zeigen dariiber hinaus, dass mit Rationalitat nicht viel zu erreichen ist, sondern nur durch Winkelziige, die mehr vom realen Sozialismus verraten, als dem Autor lieb sein konnte. Dass der Sozialismus (und sein Aufbau) wenigstens der Zielsetzung nach eine Ideologie der Befreiung ist, was in anderen Romanen dieser Zeit starker zum Ausdruck kommt (etwa in Margarete N eumanns Der Weg uber den Acker, die die Vorteile der Kollektivierung mit der friiheren Ausbeutung kontrastiert), wird in Reinowskis Romanen kaum deutlich. In ihnen zeigt sich moglicherweise die Erfahrung des ehemaligen Funktionars, die Beschliisse 43

Dabei ist Hartmann in dieser Frage genauso riickstandig wie die Burglinger. Das kommt beilaufig zum Ausdruck, etwa wenn Hartmann bei sich die Tiichtigkeit seiner alteren Tochter Erika lobt: »[ ... ] aber auch ihr Mundwerk ist machtig flott geworden; bei mir hat sie's nicht gelernt, das kommt vom Schwiegersohn; er liillt ihr zuviel Freiheit« (52).

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von ob en an der Basis durchzusetzen. Fur dieses Ziel taugen Argumente in der Realitat nicht viel. In der Summe ist Hartmann trotz seiner Schwachen kein am Anfang negativer Charakter, der sich zum Positiven wandelt. Das ware eine echte Wandlung, die es u. U. rechtfertigen konnte, von einem zusatzlichen Subsystem zu sprechen. Zur Veranderung des ideologischen Standpunkts ware ein Wandel der Personlichkeit hinzugekommen. Das aber ist in Diese Welt mufl unser sein nicht der Fall: Hartmann bleibt sich als Person im Wesentlichen treu, auch wenn er sich am Ende wie neu geboren vorkommt. Er gewinnt lediglich einige neue Oberzeugungen hinzu und legt alte Vorurteile ab. Allein sein Bekenntnis, »man muB sein wie alle« (444), lasst sich als Andeutung auf eine Anderung seiner Personlichkeitsstruktur interpretieren, da er zuvor haufig als ehrpusselig geschildert wird, er, der Wert darauf legt, von alIen respektiert zu werden, und sich geschmeichelt fuhlt, wenn hohergestellte Leute (z. B. der Kreisfunktionar) auf seine Verdienste hinweisen. Doch gibt es auBer dieser Selbsteinschatzung am Ende keinen Anhaltspunkt, der die Veranderung der Personlichkeit bestatigen wurde. Bei all dem fallt die Misshandlung seiner Tochter einigermaBen aus dem Rahmen. Aber selbst diese Tat vermag es nicht, aus Hartmann einen wenigstens partiell negativen Charakter zu machen. Ahnlich verhalt es sich mit anderen Figuren, die moglicherweise als gemischte oder mittlere Charaktere intendiert sind. Joachim gehort trotz seiner Schwache ebenso zu den Guten wie sein Vater, der, obgleich ein Trinker, ein guter Bauer ist und seine Wirtschaft in Ordnung halt, wie auch Hartmann anerkennt. 44 Dasselbe gilt fur Faust, einen Neubauern, der insofern eine Kontrastfigur zu Hartmann ist, als er anfangs uber das Ziel hinausschieBt, zugleich aber auch wichtiger Impulsgeber ist; und es gilt fUr Greif, ebenfalls N eubauer, der sich bis zuletzt gegen die Kollektivierung straubt, obwohl er sich durch FleiB und Sachverstand auszeichnet. Aber auch er reicht schlieBlich sein Beitrittsgesuch ein (438). All diesen positiven Figuren stehen nur zwei negative gegenuber, Engel, der ehemalige GroBbauer, der froher »den Hof voll billiger Arbeitssklaven aus dem Ausland hatte« (19), und der Lagerist Lauert, der

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Heide zitiert im Gesprach mit Joachim ihren Vater: ,.Schon gut, schon gut, er trinkt seinen Schnaps, aber seine Wirtschaft kann sich sehen lassen« (11). Damit ist schon am Anfang klar, dass selbst der Alkohol es nicht vermag, aus dem alten Matte einen negativen Charakter zu machen. Der Alkohol ist nur insofern negativ, als er anderen Anlass gibt, sich iiber Matte despektierlich zu aufiern. Das ist auch der Grund, warum Joachim bei seinem ersten Versuch, ums J awort zu bitten, aus der Haut fahrt. Dabei wird Mattes N eigung zum Alkohol schon zu Anfang von seinem Sohn gerechtfertigt, der meint, ,.dafi ein Mensch, der sein ganzes Leben als Brenner bei Gnesebeck [dem ehemaligen Gutsbesitzer] sein Deputat bekam, dem Schnaps verfallen musste« (11).

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IV. Das Aufbausystem

Engel bei Schieberei und Fluchtversuch hilft. (Brinkner, der dritte im Bunde, hat sonst keinen Auftritt.) Abgesehen davon, dass die Sabotagehandlung zugunsten der Individualhandlung reduziert ist, weist sie gegenuber Der Kleine Kopf und anderen Romanen wie Menschen an unserer Seite eine interne Modifikation auf. Sie wird nicht mehr vom Westen gesteuert. Ein Motiv fur die Sabotage ist Habgier, da Engel und Lauert Guter verschieben. Daneben handelt es sich bei Engels Obstruktion urn den so aussichtslosen wie unbeholfenen Versuch, die eigenen Pfriinde zu verteidigen. Engel ist namlich ein schlechter Landwirt, der seine Felder ebenso vernachlassigt wie sein Vieh, das er vor seiner Flucht sogar vergiftet, damit es nicht der Genossenschaft zugute kommt. Engels letzter Versuch, Schaden anzurichten, ist so lacherlich und scheitert so klaglich, dass sich allein an dies er Figur das Missvergnugen der Rezensenten rechtfertigen lieBe. Kein Vergleich zu dem blutriinstigen Polovcev aus Neuland unterm Pflug. Engel gibt sich am Telefon fur Hartmann aus und erteilt absichtlich fehlerhafte Anweisungen, die zu einem Unfall fuhren. Die Erzahlinstanz selbst spricht von »Streichen« (293) und benutzt das Wort eventuell als Euphemismus. Es ist aber kein solcher, denn es handelt sich tatsachlich urn nicht mehr als einen Streich, dessen Folgen auch nicht sehr gravierend sind. Zwar passiert etwas, ab er der eigentlich erwiinschte Effekt, Hartmann zu diskreditieren, stellt sich nicht ein. Es ist offen, ob diese Kindereien den infantilen Geisteszustand und die Harmlosigkeit Engels zeigen - od er die Einfallslosigkeit bzw. ebenfalls Harmlosigkeit des Autors. Zusammenfassend kann man sagen, dass das ideologische Subsystem insofern modifiziert wird, als der argumentative Charakter zugunsten von Manipulationen, die eine narrative Struktur haben, zuriickgedrangt wird. Sofern sich do ch ein Argument rekonstruieren lasst, namlich das von den wirtschaftlichen Vorteilen, spricht es Hartmanns Egoismus an, der dadurch unangetastet bleibt. Im Kontrast zu der urspriinglichen StoBrichtung des ideologischen Subsystem wird der Egoismus bestatigt. Er wird nicht als Obel angesehen und ist kein Angriffspunkt der ideologischen Agitation mehr wie etwa in Neuland unterm Pflug. Wie ist nun das fur Aufbauromane wichtigste Subsystem in der Romanhandlung realisiert? Der Aufbau driickt sich in organisatorischer Hinsicht in zahlreichen Versammlungen aus, acht in diesem Fall, in denen die Bauern aufgeklart, Statuten der Genossenschaft besprochen, Mitglieder geworben und nach der Griindung weitere MaBnahmen diskutiert werden. Eine dies er MaBnahmen ist die Vergesellschaftung des Viehs, die besondere Sensibilitat erfordert. Thematisiert wird die Kollektivierung des Viehs erstmals von Faust, dem Vorsitzenden der Genossenschaft, in einem Gesprach mit Hartmann (274). Naturlich ist Hartmann ganz und gar nicht davon begeistert. Zu dies em Zeitpunkt ist die Wertung dieses Vorschlags innerhalb der Ro-

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manwelt noch nicht klar bzw. sogar potentiell negativ. Denn Faust ist eine Kontrastfigur zu Hartmann. Er erinnert deutlich an Nagul'nov aus Neuland unterm Pflug, wobei ihm Reinowski weniger sympathische Zuge verleiht als ~olochov Nagul'nov. Er ist nicht nur zu sturmisch und unbedacht, so dass Hartmann ihm spater als zweiter Vorsitzender an die Seite gestellt wird (324 f.), er ist vor allem auch zu unordentlich und neigt zur Selbstiiberschatzung, weil er alles allein machen mochte und die Hilfe von Fachleuten zum Schaden der Genossenschaft anfangs ablehnt. Auch dies er Vorschlag Fausts konnte sich also no ch als weiteres Beispiel seiner Voreiligkeit erweisen. Faust ist angesichts von Hartmanns Ablehnung seines Vorschlags so erbost, dass er ihn am liebsten sofort wieder aus der Genossenschaft entfernen wiirde. Doch Hartmann, der, wenn er einmal einen Entschluss gefasst hat und eine Sache fur richtig befindet, dazu auch steht, weist Faust auf die geltenden Statuten hin und kundigt an, dafUr zu sorgen, dass diese auch im Hinblick auf die Vergesellschaftung des Viehs nicht geandert werden. Im nachsten Gespriich mit Jung, »weil Sie ja uber alls so'n biBchen unterrichtet sein mussen« (286), berichtet Hartmann von Fausts Vorstellungen. Jung lasst zwar durchblicken, dass der Schritt mit dem Vieh auf der politischen Agenda steht, aber Hartmann gibt er zu verstehen, dass Faust wieder einmal ubers Ziel hinausgeschossen sei und eine dringende Ermahnung benotige. Doch Hartmann halt ihn ab, denn »was Faust will, ist nicht von hinten bis vorn verkehrt« (ebd.). Der ehemalige Einzelbauer Hartmann denkt nun kollektiv und ist zu dem Schluss gekommen, dass man das Gute von Fausts Vorschlag mit einem Kompromiss bewahren kann, wenn man namlich den Bauern ein bisschen Privatwirtschaft und damit auch privates Vieh fur den Eigenbedarf garantiert. (Zufallig entspricht das exakt dem sowjetischen Modell.) Fur Hartmann aber ist klar, dass von der Vergesellschaftung des Viehs nicht die Rede sein kann, wenn es nicht die Mittel fur die entsprechenden Stallungen gibt. In einer weiteren Episode, in der sich Hartmann mit seiner Tochter unterhalt (309), weist sie ihn auf die Vorteile gemeinschaftlicher Viehhaltung hin (ohne von dem Projekt zu wissen). Damit erhalt Fausts zunachst negativ erscheinender Vorschlag mehr und mehr positive Wertung. Schon beim nachsten Treffen gehen Hartrnann und Faust aufeinander zu, und Faust hat die Idee, es erst einmal im Kleinen auszuprobieren, bevor man es groB aufzieht. Schon in der nachsten Versammlung schlagt Hartmann vor, einen Extrafond einzurichten, in den jeder einzahlt, urn damit spater die Investitionen tatigen zu konnen, die fur groBe Stallgebaude notig sind (321). Damit steht der zunachst abgelehnten Vergesellschaftung des Viehs nichts Prinzipielles mehr im Wege. Auf der letzten Versammlung beantragt Hartmann, inzwischen Kandidat der SED, selbst die gemeinsame Viehhaltung. Frau Timme, die Angst urn ihre Kuh hat, beschwichtigt er: »Wir pflugen den alten Boden so griindlich urn, daB eine ganze neue Schicht nach ob en

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IV. Das Aufbausystem

kommt, daB die Saat fruchtbar sein wird« (410). Sein Antrag wird angenommen. Auch wenn, wie deutlich geworden sein soUte, Diese Welt mufl unser sein sich nicht in dem MaBe an der Handlung von Neuland unterm Pf/ug orientiert wie Der Kleine Kopf, ist auch Diese Welt mufl unser sein dem ideell en Muster von Solochovs Roman verpflichtet. Das kommt nicht nur in der allgemeinen parteilichen Haltung und in dem letzten Zitat zum Ausdruck. Neuland unterm Pf/ug wird auch mehrmals selbst im Roman als Vorbild erwahnt, nicht in literarischer Hinsicht, wohlgemerkt, sondern in politischstrategischer Hinsicht. Der Roman gilt den Figuren als Anleitung fur die Kollektivierung, als Handbuch gewissermaBen, das in aUgemein verstandlicher Sprache dem einfachen Mann Tipps und Tricks zeigt, wie man die Vergesellschaftung durchsetzen kann und Fehler vermeidet. Meistens beruft sich Faust darauf (71,313), ein andermalJung, als er Faust unter Bezugnahme auf das Buch zurechtweist, dass erzwungene Eintritte der Genossenschaft Schaden zufugen. 45 Wie im vorigen Abschnitt angedeutet, ist es gerade der dem Werk zugeschriebene Realismus-Anspruch, der mit dem Dargestellten konfligiert. Was dargesteUt ist, Hartmanns Bekehrung einerseits und die vorbildlich funktionierende Produktionsgenossenschaft in Wohlhausen andererseits,46 entspricht nicht der Realitat in der DDR. Durch zahlreiche Realitatsmarker (bspw. reale Ereignisse der Parteigeschichte wie die H. Parteikonferenz) ladt der Text selbst dazu ein, ihm dies en Realismus-Anspruch zuzuschreiben. Also ist es nicht ungerechtfertigt, die Darstellung von der vorbildlichen Entstehung einer Genossenschaft als Bruch aufzufassen: Der Vertrag, den der Roman mit der Realitat schlieBt, wird durch die offenkundigen Idealisierungen und Simplifizierungen gebrochen. Gerade aber die offenkundige Dberhohung in Form einer so uberaus erfolgreichen Entwicklung lasst sich auch anders interpretieren. Die Ereignisse fugen sich am Ende so glucklich zusammen, dass das Werk sich gerade dadurch von seinem Realitatsanspruch verabschiedet. Doch ist es keineswegs so, dass es den Aufbau und sich selbst damit parodieren wiirde. Es besteht kein Zweifel, dass es sich urn eine ernste Angelegenheit handelt, was wiederum den Realitatsanspruch begunstigt. Allerdings gibt es eine weitere Moglich-

Hier dient Jung als Figur, die Regierungspolitik der SED als weise, vorsichtig und geradezu liberal darzustellen, denn Faust hat kein Verstandnis fUr seinen »halben Vorschlag« (202). 46 Hierzu gehoren auch jene Episoden, die von Engels Sohn erzahlen. Er wird von seinen Eltern gegen seinen Willen in den Westen geschickt und kehrt zuriick. Von den meisten ebenfalls fur einen Verriiter gehalten, besitzt er Hartmanns Vertrauen, der sich mitJung und der FDJ-Gruppe, zu der auchJoachim und Heide gehoren, fur ihn einsetzt, so dass Hartmann ihn schlieBlich mit Joachims Unterstiitzung rehabilitieren kann.

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keit, den Bruch mit der Realitat zu uberwinden. Der Roman ist - wie die meisten anderen Aufbauromane auch - als verdeckte Utopie zu verstehen. Besonders evident wird das am Ende, als Hartmann an einer Parteikreiskonferenz teilnimmt, auf der die einze1nen Genossenschaften des Kreises von ihrer Entwicklung berichten. Immer wieder kann Hartmann seinen Kollegen Jung und Faust zuflustern, dass die Wohlhausener schon weiter seien (402). Dasselbe gilt, als er dort einem alten Bekannten, einem Bauern und langjahrigen Bezirksfunktionar, begegnet, der ihm von Missedolgen in seinem Ort berichtet. Zum Schluss kommt auch Hartmann mit einer Stellungnahme an die Reihe und ist mit seinem kenntnisreichen Beitrag »fur einige Zeit der Mitte1punkt der Versammelten« (405). Der Kreissekretar stellt ihn und seine Genossenschaft in seinem Schlusswort als Vorbild hin, an dem sich alle anderen orientieren sollen. Zur Belohnung fur ihre Edolge erhalten die Wohlhausener mehrere Hektar Land, das friiher dem Gut gehorte, sowie das Nutzungsrecht uber den Enge1schen Besitz. Dariiber hinaus zeigt sich Hartmann auf der folgenden Versammlung der Genossenschaft als Vordenker der Kollektivierung. Dass Hartmanns Entwicklung se1bst fur die Erzahlung zu stiirmisch ist, lasst si ch den erstaunten Ausrufen seiner Kollegen und Genossen entnehmen, die Hartmann nicht wiedererkennen. Das alles ist zu dick aufgetragen, nicht nur urn wahr zu sein, sondern auch urn den Anspruch auf Wahrheit aufrecht zu erhalten. »So schon konnte es sein, wenn alle mitmachen«, spricht es aus diesen Zeilen. Und nicht: »50 toll ist die DDR!« - Was auch daran liegt, dass in diesem Roman die Dberlegenheit uber das westliche System weder behauptet no ch uberhaupt thematisiert wird. Den utopischen Charakter dokumentiert nicht zuletzt der Ortsname »Wohlhausen«, der wie die meisten ein sprechender Name ist (vgl. die helle, gewiefte Frau Friihauf, die etwas trage Familie Matte, der storrische, aber aufrechte Hartmann, der jugendliche Parteisekretar Jung, der rabiate Faust). In Wohlhausen lauft alles gut. Anders kann es gar nicht sein, weil es sowohl der Name als auch die Romankonzeption so will. d. Dominanz des Aufbau-Subsystems: Maria Langners Stahl (1952) So gut Reinowskis Romane vie1e Eigenschaften des Aufbausystems abbilden, so reprasentativ seine Romane im Hinblick auf die Aufnahme der sowjetischen Vorbildromane, auf den episodischen Pointillismus, die eindeutige Ideologisierung und die Erfiillung des Gesamtsystems auch sein mogen, in einem Punkt weisen sie sozusagen einen Systemmangel auf. Das AufbauSubsystem ist in ihnen nicht dominant. Man sieht es schon daran, dass die typischen Aufbauprobleme diese Romane nicht in der Weise strukturieren wie andere, deren Handlung nicht zuletzt auch von Problemlosungen vorangetrieben wird. Ein Beispiel fur die Dominanz des Aufbau-Subsystems ist

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Maria Langners Stahl (1952). Wie Reinowskis Romane, so wird auch Langners Roman als Negativbeispiel fUr misslungene Aufbauromane genannt. Die Einschatzungen ahneln sich: In Stahl werde zwar eine einheitliche Handlung entwickelt, sich aber nicht auf eine fortlaufende, geschlossene Fabel konzentriert. Der Aufbau des Stahlwerks Brandenburg in seinen einzelnen Etappen wird nicht geniigend durch die Handlungen der Hauptfiguren dargestellt, sondern verselbstandigt sich streckenweise sehr stark, vor allem im letzten Drittel des Romans. Dadurch wird der epische Charakter des Buches stark beeintrachtigt; es mutet uns in manchen Partien wie ein Werkschronik an. (Cwojdrak 1953, 163) Weiter wird die »ungenugende Individualisierung der handelnden Figuren« getadelt (ebd.). 47 Wiederum werden die wenigstens in Ansatzen vorhandenen faktographischen Passagen sowie die ausgepragte Episodizitat - der episodische Pointillismus - zum Anlass genommen, das Werk in literarisch-kunstlerischer Hinsicht abzuwerten. Denn wenngleich Cwojdrak dem Roman »eine einheitliche Handlung« zuschreibt, so scheint er doch mit seiner kontrastierenden Formulierung etwas Ahnliches zu meinen wie Noll mit Bezug auf Reinowskis Romane. Die Einheitlichkeit der Handlung wird durch den klar umrissenen Zeitrahmen zwar vorgegeben, besteht ab er vorwiegend in cler Abgeschlossenheit des Schauplatzes (Werk und Arbeitersiedlung). Dagegen sorgen zahlreiche komplette Konfigurationswechsel sowie die DarsteIlung der Arbeit und ihrer Organisation fur Cwojdraks Eindruck, dass es keine »fortlaufende, geschlossene Fabel« gebe. Dominant in Stahl sind das Aufbau-Subsystem und das ideologische Subsystem, das in der Bekehrung des Stahlwerkers Ackermann besteht. Das individuelle Subsystem wird mit zwei Liebesverhaltnissen am Rande bedient. Besonders marginal aber ist das existentielle Subsystem. Es gibt zwar eine Sabotagehandlung, aber man muss lange auf sie warten. Erst spat (auf S. 326 von insgesamt 364 Seiten) werden Kuhlrahmen zerstort, was zu einem temporaren Produktionsausfall fuhrt. Vorher gibt es nur wenige punktuelle Hinweise, die sich als Vorboten einer Sabotagehandlung deuten lassen, aber doch zu uneindeutig sind, um allein als Realisation dieses Subsystems gelten zu konnen. Mithin gibt es nur ein einziges Sabotageereignis - und dieses erst gegen Ende des Romans -, eigentlich eine geradezu spektakulare Marginalisierung dieses Subsystems. Wiederum wird von der Beteiligung vieler Figuren am Aufbau erzahlt. Die Grundhandlung zieht sich nicht ganz ein Jahr vom 22. Februar 1950 bis zum 1. Januar 1951 hin und besteht im Wesentlichen aus den Aufbauabschnitten 47

Die Einmiitigkeit und Kontinuitat der Beurteilung sind in der DDR ungebrochen. Vgl. Rohner 1967,38-43.

1. Variation durch Modifikation von bestehenden Subsystemen

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des Werks. 48 Eduard »Ede« Ackermann, ein alter Stahlwerker von 54 Jahren, der sich im Laufe von uber dreiBig Jahren vom einfachen »Schlackeschipper« bis zum »GieBgrubenvorarbeiter« emporgearbeitet hat (Stahl, 8f.), ist eine der Figuren, die etwas mehr Prasenz als andere haben. Insgesamt jedoch gibt es keine Figur, die man analog zu Johannes Schmidt aus Der Kleine Kopf (oder gar zu Cumalov und Davydov) als Hauptfigur bezeichnen konnte. Im Gegensatz zu Reinowskis Werken ist Stahl dariiber hinaus ein herausragendes Beispiel fUr die Dominanz des Aufbau-Subsystems. Ein GroBteil der Episoden handelt von den baulich-technischen sowie den organisatorischen MaBnahmen, die fur den Aufbau des Stahlwerks getroffen werden. Der Roman wird mit der Sprengung eines Schornsteins eroffnet, offenbar ein Symbol fur die Eliminierung der alten kapitalistischen Eigentums- und Produktionsverhaltnisse sowie ihrer faschistischen Funktionalisierung fur die Kriegswirtschaft. 49 Schon die Eingangsepisoden, in denen es urn die Beseitigung von Restmauern fur den Wiederaufbau geht, zeigen, dass das Arbeiten neben dem Reden einen groBen Stellenwert im Roman hat: »Ackermann nimmt den PreBlufthammer in die Hand. Der Motor des Kompressors fangt an zu rasseln. Das Brausen des Ventilators ubertont die letzten Worte der Unterhaltung« (7f.). In der Unterhaltung hat Ackermann seinem Kollegen Fritz Budde seine Zweifel mitgeteilt, die er gegenuber dem Wiederaufbau hegt. Neben der Erzahlung der technischen Vorgange durch die Erzahlinstanz werden in der Figurenrede auch schon die organisatorischen Probleme, urn die es gehen wird, angesprochen. Warum erst zerstoren? fragt sich Ackermann. »Warum nicht mit dem beginnen, was gerettet ist? 1st's nicht genug der Zerstorung?« (9). Was Ackermann nicht versteht, ist die Entscheidung, das Werk abzureiBen und in den Ruinen zugleich einen ersten Ofen zu bauen, urn mit dessen Stahl den Wiederaufbau des Werks zu bestreiten. Der (auch friiher) parteilose Ackermann ist ein konservativer Mensch und halt nicht nur den Abriss fur eine finanzielle Sunde und Verschwendung von bestehenden Ressourcen, sondern hat auch kein Verstandnis fur die mit dem Wiederaufbau des Werks einhergehenden Veranderungen, was die ZweckmaBigkeit und die 48 49

Die Grundsteinlegung fUr den Wiederaufbau war eine Woche friiher, wie in einer Analepse deutlich wird (Stah~ 6 u. 10). Dass man mit Schornsteinen, die zur Zeit des Nationalsozialismus besondere Funktionen hatten, noch etwas anderes assoziieren konnte, drangt sich hier nicht auf. Hingegen wird im Roman mehrfach auf die Verbindung von Stahlindustrie und Kriegswirtschaft hingewiesen. Dem in der erzahlten Welt immer wieder vorgebrachten Verdacht, es gehe doch wieder nur um Riistung, wird stets entgegengehalten, man produziere ausschlieBlich ,.Friedensstahl« (13, 131 f.). Das Motiv der (gewohnlich von Randfiguren geauBerten) Sozialismus-Skepsis, die sich aus den negativen Erfahrungen aus der Nazi-Zeit herleitet, ist in der DDR-Literatur der 50er Jahre weit verbreitet. Der Verdacht, es gebe eine verdeckte Kontinuitat von einer Diktatur zur anderen, soll von den Protagonisten widerlegt werden.

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IV. Das Aufbausystem

Dimension der baulichen Mafinahmen angeht. So lehnt er die neue Ausrichtung des Werks langs des Kanals (die nach Ansicht der Bauherren bedeutende Vorteile mit sich bringt) ab und wiirde die Lage der alten Fundamente vorziehen (26).50 Doch Ackermann macht trotz standig neuer Bedenken mit. Die Liebe zum Stahl ist einfach groBer. Schon zu Beginn der Geschichte ist zu erfahren, »was ihn verlockt hat«, die Arbeit seinen vielen Vorbehalten zum Trotz wieder aufzunehmen. »Der Gedanke an Stahl ist es gewesen, an die GieBgrube, die roten Feuer, die vertrauten Rufe, die gliihenden Blocke, all das [ ... ]« (10). Ackermann gegeniiber steht Fritz Budde, ein langjahriger Arbeitskollege im alten Werk und altes KPD-, jetzt SED-Mitglied. Budde ist eine Figur, die als positiver Held aufgebaut zu werden scheint. Er motiviert alle anderen, ist zah und ausdauernd, stark und zugleich riicksichtsvoll. Die Figuren assoziieren mit seiner Erscheinung offenbar Stalin selbst. »Der Mannerkopf auf dem Plakat sieht Budde ahnlich, findet Ackermann«, der ein Plakat zum 1. Mai betrachtet (113). Und eine and ere Figur schwarmt von Buddes Auftreten wahrend der l.-Mai-Demonstration mit den eindriicklichen Worten: »[ ... ] und Fritz Budde vorneweg, wie so ein richtiger Sieger, als wenn erna, ich weiB nicht - als wenn er ein Stahlwerk im Leibe hatte« (121). Doch zugleich wird Budde schon zu Anfang von der Erzahlinstanz in kollektiver erlebter Rede als »GroBfresse« bezeichnet (22).51 Spater charakterisiert ihn der Parteisekretar Sydow: »Der Rotkopf«, ein »guter Genosse, bloB, er kann eben noch nicht diskutieren, mochte am liebsten immer gleich dazwischenhauen« (30). Was hi er noch iiberlesen werden kann, bestatigt sich spater auch in seinem Verhalten. Budde erhalt - analog zu Faust in Reinowskis Diese Welt mufl unser sein - mehr und mehr Ziige iibertriebenen Eifers und erinnert daher deutlich mehr an Nagul'nov als an Davydov od er Cumalov aus Zement. Budde hat auch keine hohere Prasenzquote als andere zentrale Figuren. In Stahl gibt es somit keinen anderen positiven Helden als das Kollektiv. Erst Schon aus der Zusammenfassung von Ackermanns Entwicklungsgeschichte des Werks durch die Erzahlinstanz geht hervor, dass der Fehler der Werkarchitektur in ihrer Entstehung liegt. Denn das schrittweise Vorgehen des Werkgriinders zog eine ,.narrisch verschachte!t gebaute« Werkarchitektur nach sich (26), die den - wie man erganzen kann - Anforderungen moderner sozialistischer Industrieproduktion natiirlich in keiner Weise gewachsen ist. 51 In einer liingeren Passage berichtet die Erzahlinstanz vom Arbeitskraftemangel und bedient sich teilweise sehr deutlich der Syntax und der Lexik der Arbeiter. Da nicht auf eine einze!ne Figur fokalisiert und die Erzahlrede auch sonst im Prasens verfasst ist, liegt hier ein klarer Fall von erlebter Rede vor, die, urn den Unterschied zum Normalfall zu verdeutlichen, mit Bezug auf dieses Beispie! das Attribut ,.kollektiv« verdient: ,.Man mochte es ja glauben, viel zu gerne, aber es wird einem - wirklich - zu vie! zugemutet. Die Fachleute sitzen ja sowieso alle im Westen. Waren do ch alle Nazis. [... ] Sollen mal herauskommen, die Herren von der Regierung, und se!ber sehen, was da geblieben ist! Kein Stein auf dem anderen« (22).

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das Zusammenwirken der guten Eigenschaften von allen beteiligten Figuren ergibt die fiir den gelingenden Aufbau notige Kapazitat. Die Heldenlosigkeit der Erzahlung entspricht ihrer Ideologie. Es gibt zwar mit Budde einen Alleskonner, aber am Ende richtet er nicht alles allein, sondern die Partei, die hinter ihm steht. Nicht von ungefahr haben Parteifunktionare hier ein gehoriges Wort mitzureden, haben sogar einige nicht-fiktive Genossen der Staatsspitze ihren Auftritt: der damalige Industrieminister Selbmann, Prasident Pieck und Generalsekretar Ulbricht. Eben diese hohen Funktionare sind es, deren Besuch in brenzligen Situationen den entscheidenden Umschwung bringen. »Was Sydow [der Parteisekretar des Werks] mit seinem kampfenden Hauflein nicht erreicht hat, haben die Fiihrer der Partei erreicht« (300), heiBt es nach einem Besuch Ulbrichts. Ackermann ist, wie fast alle anderen Figuren in dem Roman auch, keine negative Figur. Von Anfang an ist das klar, denn er hat ein »gutes Chinesengesicht« (6). SoIche positiven Charakterisierungen sind, das wissen wir, immer auch positive ideologische Prognosen. Budde und Ackermann kontrastieren miteinander nur insofern, als Ackermann, der ebenfalls ein vorbildlicher Arbeiter ist, no ch nicht die richtige ideologische Position einnimmt. Aber jemand mit grundsatzlich giitigem Charakter und gliihendem Arbeitseifer hat natiirlich in der Logik des Aufbauromans die besten Voraussetzungen, am Ende auch die richtige Ideologie zu vertreten. Und Ackermanns Bedenken gegeniiber den AufbaumaBnahmen stellen sich nicht alle als grundlos heraus. Er weist auf den hohen Grundwasserspiegel hin, der durch die Nahe zum Kanal problematisch werden konnte. Schon in einer der nachsten Episoden - es ist mittlerweile Anfang Marz, Tauwetter - bewahrheitet sich seine in Buddes Augen defatistische Prognose. Aber Moritz, der technische Direktor, kann im Gesprach mit dem Parteisekretar Sydow die Lage einschatzen: »Diskutieren konnen wir spater. Wenn die Produktion erst lauft, wird sich alles regeln, manches ganz von selbst« (31). Bei dies er Gelegenheit wird ein neues Problem angesprochen. Fiir den Aufbau erwarten die Bauleiter neue Baumaschinen, fur die es kein Personal gibt. Das Problem soIl gelost werden, indern ein Kranfiihrer den nachsten anlernt. Hierbei handelt es sich urn ein fur das Aufbau-Subsystem typisches organisatorisches Problem. Auch an die Moglichkeit, Frauen einzustellen, wird schon gedacht. Darnit kiindigt sich eine Frage an, die in das ideologische Subsystem Wit: die Emanzipation der Frau. Wie schon im Roman Diese Welt mufl unser sein, in dem Heide Hartmann den Wunsch hegt, Traktoristin zu werden, konzentriert sich diese Frage darin, ob Frauen in Mannerberufen reiissieren konnen. In Stahl wird die se Frage rnit Hilfe von Ackerrnanns Tochter Hanna beantwortet, deren Vater zunachst gegen Frauenarbeit ist. Die wichtigste Frauenfigur neben Hanna ist die iiberaus engagierte Charlotte Rink, die am Ende als besonders begabte Arbeiterin vom Werk an die Arbeiter-und-Bauern-Fakultat delegiert wird.

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Die weiteren Aufbauprobleme und -maBnahmen (wie etwa die Einfuhrung von Schichtarbeit, Verbesserung von Arbeitsablaufen, Griindung eines Betriebskindergartens, freiwillige Sonderschichten, die Einstellung von immer mehr Arbeitern, die Oberforderung der Verwaltung angesichts dies er Massen von Beschaftigten, Verzogerungen in der Materialbeschaffung, immer wieder technische Defekte, auch Schluderei und andere Widrigkeiten) machen einen GroBteil der Episoden aus und erwecken in ihrer Summe den Eindruck ubergroBer Detailhaftigkeit, der in Cwojdraks zu Anfang dieses Abschnitts zitiertem Urteil formuliert wird, der Roman habe mehr mit einer Werkchronik gemein als mit einem »epischen« Kunstwerk. Eben diese Eigenschaft ist es aber auch, die den faktographischen Impuls des Romans auszeichnet. Nicht nur das Epigraph verdeutlicht diesen Impuls, auch die vielen Realitatsmarker wie die Nennung des Parteitages und das Erscheinen der nicht-fiktiven Parteifunktionare. Pointiert gesagt: Was bei Tret'jakov gewurdigt wird, gilt hier als Grund fur Abwertung. Diese Behauptung muss jedoch eingeschrankt werden. Denn gerade die narrativen Verfahren tragen dazu bei, den faktographischen Impuls zu mindern. Besonders effektiv in dies er Hinsicht ist das Mittel der variablen internen Fokalisierung. Immer wieder stehen einzelne Figuren mit ihren Gedanken im Mitte1punkt. Das sorgt fur eine figurenzentrierte Darstellung, die aber, ganz im Einklang mit dem Aufbausystem, nicht auf die psychologische Durchdringung der Figuren abgestellt ist. Ebenso zwiespaltig verhalt es si ch mit dem anderen Effekt: der Detailhaftigkeit. Durch sie wird die Handlung unubersichtlich. Hierauf beruht auch der Eindruck mange1nder Geschlossenheit. Gerade aber dieses Aufbrechen der Handlung durch Detaillierung ist nicht untypisch fur die Literatur der Moderne. Nur - und das ist wieder die andere Seite - die Unubersichtlichkeit, die nicht nur durch die erwahnte Detailhaftigkeit, sondern zusatzlich durch die Vie1strangigkeit der Handlung hervorgerufen wird, ist nicht gleichzusetzen mit der fur mod erne Literatur charakteristischen Offenheit. Die Triibung der Transparenz erfolgt durch die Masse an Details und die vie1en Konfigurationswechsel. Stahl ist wie vie1e andere Aufbauromane auch durch eine Zie1vorgabe vorstrukturiert. Die erste Zie1vorgabe wird von Budde formuliert, der fur August den ersten Stahlabstich voraussagt (27). Mit dem Genossen Julius Adler wird dann ein verdientes Parteimitglied als Hauptdirektor ins Stahlwerk berufen. Wieder lasst dieses Motiv an Neuland unterm Pflug denken, wiederum aber wird es abgeschwacht, weil Adler keineswegs zur Zentralfigur avanciert, sondern nur eines von vie1en Radchen ist, die den Betrieb schlieBlich zum Laufen bringen. Charakteristisch ist, dass er alles stehen und liegen lass en muss (einschlieBlich seiner Farnilie), urn binnen dreier Tage seine neue Aufgabe wahrzunehmen. Dass dies wie bei Johannes Schmidt

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im Kleinen Kopf seinen innersten Wunschen entspricht, die die Partei ihren Zwecken gemaB zu nutzen weiB, ist nicht der Fall. Aber im Dienst der Partei fackeIt er nicht lange und stellt sich umgehend auf die neue Herausforderung ein. »Adler ist kein uberschwenglicher Mensch, aber er ist groBer innerer Erregung fahig: Begeisterung und Zorn. Beides verbirgt er nicht, wenn es gilt, die Gesetze der Partei zu erfullen, Vorspann ihrer groBen Planungen zu sein« (87). Adlers Ankunft im April wird von der Erzahlung genutzt, die verschiedenen Abteilungsleiter die bisher getroffenen MaBnahmen erlautern und das bislang Erreichte zusammenfassen zu lassen (90-94). Der Plan, schon im August Stahl abzustechen, ist ehrgeizig und wird - dies eine Parallele zu Fern von Moskau - mit friiheren Gepflogenheiten kontrastiert, als alles no ch ein wenig langsamer vonstatten ging. In den nachsten Tagen informiert sich Adler weiter in den einzelnen Abteilungen und Bereichen vor Ort und nachts studiert er »Biicher iiber Metallurgie, Hiittenkunde, Stahlerzeugung« (94).52 Urn allen Arbeitern die fiihrende Rolle der Partei vor Augen zu halten und die Initiative in der Hand zu behalten, wird auf der nachsten Parteigruppensitzung der erste Abstich zu Ehren des Ill. Parteitages der SED sogar urn elf Tage auf den 20. Juli vorverlegt (96 f.). Die Belegschaft ist begeistert, und die Betriebsgewerkschaftsleitung (BGL) gibt offiziell den zustimmenden Beschluss der Betriebsversammlung bekannt. Nicht nur werden die Regeln der Biirokratie im Roman beachtet, es wird auch Wert darauf gelegt, den Anschein der Demokratie zu wahren. Der Aufbau wird aber nicht nur durch den Schwung der Vorgesetzten und die ehrgeizigen Vorgaben vorangetrieben, sondern auch durch ideologische MaBnahmen wie den Aufmarsch am 1. Mai, den Ackermann zunachst noch fiir »eine bestellte Sache« halt (113), dessen anspornender Wirkung er sich wahrenddessen ab er unter dem Eindruck der begeisterten Massen nicht mehr entziehen kann. Auch er ruft »>HochGestalten, nicht Beschreibenmit Bildern und Blumen Freundlichkeit zu zaubern< versteht, und d~ Gunther, urn seinem Freund Jurgen zu der endlich errungenen Liebesnacht mit Christa scherzhaft zu gratulieren, einen von der Schreivogel ergatterten Straug welker Buroblumen an den Griff der Barackentur hiingt.« - Die Kritik fasst Kohn (1994a, 292) priignant zusammen.

2. Variation durch Kombination mit neuen Subsystemen

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Sozialismus ist ihm nicht nur eine verbissene Anstrengung, sondern eine Sache, bei der auch der Humor zu seinem Recht kommt. (Rohner 1967,45£.) Die positive Einschatzung Rohners teilen westliche Autoren mit marxistischen Sympathien, die wie Hans-Jurgen Kraft und Manfred Lefevre (1974, 225) fur die grofhe Leistung des Romans halten, dass es ihm zu zeigen gelinge, »wie die Arbeit unter den veranderten politokonomischen Bedingungen neue Fahigkeiten entstehen laBt.« Lutz W. Wolff (1975, 264), der die Aufbauromane in ein zweigeteiltes Raster unterteilt, je nachdem, ob sie die Arbeiteroder die Funktionarsperspektive stark machen (»von oben« vs. »von unten«, wobei er die Perspektive »von unten« positiv bewertet), attestiert dem Roman emanzipatorische Starke und die Integration des »subjektiven Faktors«. Schon diese wenigen Urteile legen nahe, dass es sich bei Mundstocks Roman gewissermaBen urn einen Geheimtipp der Aufbauromane handeln konnte. 83 In der folgenden Auseinandersetzung mit einer weiteren positiv wertenden und zugleich sorgfaltigen Analyse von Mundstocks Roman mochte ich herausfinden, woran das liegt, und dabei die Hypothese priifen, ob der Grund in einem zusatzlichen Subsystem zu finden ist. Ein erstes Indiz fur die Wertschatzung im Westen ist mit einer Figur gegeben, die gerade westliche Leser ansprechen durfte. In der Wandlungsfigur Schureck, einem Dichter aus »Westberlin«, der auf Einladung von Kulturfunktionaren der DDR eine Reportage aus dem Aufbaua11tag schreiben so11, findet ein wenigstens ansatzweise inte11ektue11er Charakter Eingang in einen Aufbauroman. Diese Variation hat ihren Widerpart in der Verwendung von Erzahlverfahren, die durchaus zu partie11er Intransparenz der Darste11ung fuhren. Handelt es sich bei dies er Variation urn eine interne Modifikation des ideologischen Subsystems oder urn eine Kombination mit einem neuen Subsystem? Winfried Taschner (1981) ste11t Schureck in den Mittelpunkt seiner Dberlegungen und geht darum sogar so weit, Helle Nachte mit Claudius' Menschen an unserer Seite und Strittmatters Tinko (1954) den von ihm als Massenromane gekennzeichneten Aufbauromanen von Gotsche, Langner, Marchwitza u. a. gegenuberzuste11en. Die erstgenannten unterscheiden sich nach Taschner von den Massenromanen, indem sie jeweils ein Individuum in den Mittelpunkt ste11en, dessen Veranderungen die genannten Romane zu Bildungsromanen machen. Taschner (1981,59) unterscheidet fur den Aufbauroman also »zwei prinzipie11 differierende Gestaltungskonzeptionen«, deren erste »auf dokumentationswurdige Leistungserfolge der SBZ-IDDR-Wirtschaft« abzielt und deren zweite hauptsachlich »die Personlichkeitsentwicklung des 83

Anders Zimmermann (1984, 93), der die drei von ihm untersuchten Aufbauromane Menschen an unserer Seite, Belle Niichte und Roheisen gegeniiber den sowjetischen Vorbildern Zement und Wie der Stahl gehartet wurde insgesamt abwenet.

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IV. Das Aufbausystem

>neu sich bildenden MenschenDer Baum wachst von unten!Wort werd ich halten, Anton!An seinem Eigensinn ist er zugrunde gegangenAnton hatte das nicht geduldetEs war soDie Partei weiB immer den richtigen WegMaschinenfabrik N. & K.Bitterfelder WegProsaleserNeuland unterm PflugRealitiit< des Realismus. Grundlegendes am Beispiel von Theodor Storms »Aquis submersus«. In: Marianne Wiinsch: Realismus (18501890). Zugange zu einer literarischen Epoche. Mit Beitr. von Jan-Oliver Decker et al. Kiel. Krenzlin, Leonore und Norbert (1964): Bitterfeld, einige Fragen der Literaturtheorie und Ole Bienkopp. In: Weimarer Beitrage 10, S. 872-888. Krenzlin, Leonore (1980): Theoretische Diskussionen und praktisches Bemiihen urn die N eubestimmung der Funktion der Literatur an der Wende der fiinfziger Jahre. In: Literarisches Leben in der DDR 1945 bis 1960. Literaturkonzepte und Leseprogramme. Berlin, S.152-195 u. 310-319. Kiintzel, Heinrich (1981): Von Abschied bis Atemnot. Uber die Poetik des Romans, insbesondere des Bildungs- und Entwicklungsromans, in der DDR. In: Jos Hoogeveen und Gerd Labroisse (Hg.): DDR-Roman und Literaturgesellschaft. Amsterdam, S.1-33. Kulturpolitisches Worterbuch. Berlin 1970. Labroisse, Gerd (Hg.) (1978): Zur Literatur und Literaturwissenschaft der DDR. Amsterdam. Lahn, Silke; Meister, J an Christoph (2008): Einfuhrung in die Erzahltextanalyse. Stuttgart. Lahusen, Thomas (1997): How Life Writes the Book. Real Socialism and Socialist Realism in Stalin's Russia. Ithaca. Lanser, Susan (1981): The Narrative Act. Point of View in Prose Fiction. Princeton. Laudatio. Zur Verleihung der Ehrendoktorwiirde der Philologischen Fakultat der Karl-Marx-Universitat Leipzig an M. A. Scholochow anWHich seines 60. Geburtstages (1966). In: Michail Scholochow. Werk und Wirkung. Materialien des Internationalen Symposiums »Scholochow und wir«. Leipzig, 18.19. Marz 1965. Leipzig, S. XI-XIII. Lauer, Reinhard (2000): Geschichte der russischen Literatur. Miinchen. Lefevre, Manfred (1980): Von der proletarisch-revolutionaren zur sozialistischrealistischen Literatur. Literaturtheorie und Literaturpolitik deutscher kommunistischer Schriftsteller vom Ende der Weimarer Republik bis in die Volksfrontara. Stuttgart. Lenzer, R. (1965): Die Konfliktgestaltung in Galina Nikolaevas Roman »BIITBa B rryTll« [»Schlacht unterwegs«] und in Erik Neutschs Roman »Spur der Steine«. In: Zeitschrift fur Slawistik 10 (H. 3), S. 393-409. Leo, Annette (2012): Erwin Strittmatter. Die Biographie. Berlin. Liersch, Werner (1971): Ein paar Notizen. In: ndl19 (H. 6), S. 6-9. Literarisches Leben in der DDR 1945 bis 1960. Literaturkonzepte und Leseprogramme (1980). Berlin. Loffler, Dietrich (2011): Buch und Lesen in der DDR. Ein literatursoziologischer Ruckblick. Berlin. Lorenz, Richard (1972): Die Sowjetunion (1917-1941). In: Carsten Goehrke et al.: Rumand. Frankfurt/M., S. 271-353. Lotman, Jurij (1970): Die Struktur des kunstlerischen Textes. Frankfurt/M. 1973.

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