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German Pages 211 [214] Year 2020
Volkseigene Gesundheit Reflexionen zur Sozialgeschichte des Gesundheitswesens der DDR
Herausgegeben von Markus Wahl MedGG-Beiheft 75 Franz Steiner Verlag Stuttgart
Medizin, Gesellschaft und Geschichte Jahrbuch des Instituts für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung herausgegeben von Robert Jütte Beiheft 75
Volkseigene Gesundheit Reflexionen zur Sozialgeschichte des Gesundheitswesens der DDR Herausgegeben von Markus Wahl
Franz Steiner Verlag
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Robert Bosch Stiftung GmbH
Coverabbildung: Zum 100. Geburtstag von Prof. Dr. Maxim Zetkin wurde im Zentralen Haus der DSF eine Ausstellung eröffnet. Sie gibt Einblick in das Wirken des Sohnes Clara Zetkins, der als Arzt und Wissenschaftler konsequenter Kämpfer für den Frieden war. ADN-ZB / Zimmermann / 1.8.1983 / St. / Berlin © BArch, Bild 183-1983-0801-034 / Peter Zimmermann
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2020 Satz: DTP + TEXT Eva Burri, Stuttgart Layout und Herstellung durch den Verlag Druck: Memminger MedienCentrum, Memmingen Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany ISBN 978-3-515-12671-7 (Print) ISBN 978-3-515-12673-1 (E-Book)
Inhaltsverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis ...................................................................................
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Abbildungs- und Tabellenverzeichnis ...........................................................
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Markus Wahl Einleitung ..................................................................................................
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Anja Werner Hörgeschädigte Menschen als Patienten in der DDR Eine Spurensuche aus medizinhistorischer Sicht ..................................
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Markus Wahl Der Patient im Betrieb Erfahrungen von diabetes- und alkoholkranken Menschen am Arbeitsplatz in der DDR ...................................................................
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Florian Bruns ‚Werte Genossen! Heute komme ich mit einer Bitte zu Euch …‘ Der Umgang mit Patienteneingaben im DDR-Gesundheitswesen .....
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Ekkehardt Kumbier / Kathleen Haack Die Therapeutische Gemeinschaft und das Arzt-Schwester-Patient-Verhältnis in der Psychiatrie Zwischen therapeutischem Anspruch und sozialistischer Realität....... 111 Christine Hartig Ein glokaler Blick auf die Erprobung eines Antidepressivums Die Teilstudie zu Levoprotilin an der Universitätsklinik Jena in den 1980er Jahren ................................................................................ 135 Pierre Pfütsch Der Krankentransporteur Ein Beispiel staatlich gesteuerter Professionalisierung? ........................ 157 Christian Sammer Vom Aufstieg und Fall der Utopie Gesundheit Konzepte, Strukturen und Grenzen der Gesundheitsaufklärung im sozialistischen Gesundheitswesen der DDR .................................... 175 Verzeichnis der Autorinnen und Autoren..................................................... 209
Abkürzungsverzeichnis
AA ADBV ADGV AGAS AMG APW ASB BArch BArch-SAPMO BBA BBF/DIPF/Archiv BdG BGG BStU BV BVRS CI DGB DGS DGZ DHD DHMD DKHD DMH DPZI DRK DSM FDGB GSV HA HNO HSA DD HU IfAR IfG IfU
Alcoholics Anonymous / Anonyme Alkoholiker Allgemeiner Deutscher Blindenverband (DDR) Allgemeiner Deutscher Gehörlosenverband (DDR) Evangelische Arbeitsgemeinschaft zur Abwehr der Suchtgefahr Arzneimittelgesetz Akademie der Pädagogischen Wissenschaften Arbeiter-Samariter-Bund Deutschland Bundesarchiv Bundesarchiv – Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR Beratungsbüro für Arzneimittel und medizinische Erzeugnisse (Import) im MfG (DDR) Archiv der Bibliothek für Bildungsgeschichtliche Forschung Berlin Bund der Gehörlosen Behindertengleichstellungsgesetz Bundesbeauftragter für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik Bezirksverwaltung Berufsverband der Rettungssanitäter Cochlea Implantat Deutscher Gehörlosen-Bund (BRD) Deutsche Gebärdensprache Deutsche Gehörlosen Zeitschrift Dringlicher Hausbesuchsdienst Deutsches Hygiene-Museum Dresden Dringlicher Hausbesuchsdienst für Kinder Dringliche Medizinische Hilfe Deutsches Pädagogisches Zentralinstitut Deutsches Rotes Kreuz Statistical Manual of Mental Disorders Freier Deutscher Gewerkschaftsbund Gehörlosen- und Schwerhörigen-Verband der DDR Hauptabteilung Hals-Nasen-Ohren Hauptstaatsarchiv Dresden Humboldt-Universität zu Berlin Institut für Arzneimittelwesen der DDR Institut für Gesundheitserziehung (DDR) Institut für biologisch-anatomische Unterrichtsmittel und Anschauungsmaterialien (DDR)
8 IKK LA HGW KPD KT MfA MfG MfS NKGE RGW RKV SBZ SED SMAD SMH SPD StA HST StGB Tbc Tbst. UA HU Berlin UAHW UAJ UNESCO VEB VHS WHO ZGA ZK
Abkürzungsverzeichnis
Internationale Statistische Klassifikation von Krankheiten, Verletzungen und Todesursachen Landesarchiv Hansestadt Greifswald Kommunistische Partei Deutschlands Krankentransport Ministerium für Arbeit Ministerium für Gesundheitswesen Ministerium für Staatssicherheit Nationales Komitee für Gesundheitserziehung in der DDR Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe Rahmenkollektivvertrag Sowjetische Besatzungszone Sozialistische Einheitspartei Deutschlands Sowjetische Militäradministration in Deutschland Schnelle Medizinische Hilfe Sozialdemokratische Partei Deutschlands Stadtarchiv Hansestadt Stralsund Strafgesetzbuch Tuberkulose Taubstumm Universitätsarchiv der Humboldt-Universität zu Berlin Universitätsarchiv Halle-Wittenberg Universitätsarchiv Jena Organisation der Vereinten Nationen für Bildung, Wissenschaft und Kultur Volkseigener Betrieb Volkshochschule Weltgesundheitsorganisation Zentraler Gutachterausschuss im MfG (DDR) Zentralkomitee
Abbildungs- und Tabellenverzeichnis
Abbildungen Abb. 1: Abb. 2:
Abb. 3: Abb. 4: Abb. 5:
Helmut F. Späte (1936–2017) (mit freundlicher Genehmigung von Frau Dorothea Späte). Tagungsprogramm des II. Brandenburger Schwesterntages, der am 12. Mai 1976 in der Bezirksnervenklinik Brandenburg stattfand (mit freundlicher Genehmigung des Historischen Archivs des Asklepios Fachklinikums Brandenburg). ‚Programmhefte „Brandenburger Schwesterntag“, 1975–1989‘: Historisches Archiv des Asklepios Fachklinikums Brandenburg, SC V/010, unpaginiert. FDJ Mädels am Apparat ‚Das Fassungsvermögen der Lunge‘. DHMD, Leporello 41, Bild 2709-290-8. Heller Speiseraum. DHMD, Leporello 41, Bild 1014. Mehr Luft statt Qualm! Anzeige des Deutschen Hygiene-Museums Dresden. In: Deine Gesundheit 20 (1974), S. 348.
S. 116
S. 122 S. 179 S. 180 S. 191
Tabellen Tab. 1: Tab. 2:
Aufenthaltsdauer von Patientinnen und Patienten im Studienzeitraum von Levoprotilin an der Kriseninterventionsstation der Universitätsklinik Jena Gestellte Diagnosen nach IKK 9 im Studienzeitraum von Levoprotilin an der Universitätsklinik Jena
S. 143 S. 145
Einleitung Markus Wahl
„Was fällt Ihnen eigentlich ein, als Wessi über die Geschichte Dresdens zu schreiben? Sie haben doch keine Ahnung wie es wirklich war!“. Mit dieser Aussage eines aufgebrachten Anrufers wurde ich konfrontiert, nachdem ein Artikel meiner Forschungsergebnisse über das ehemalige Arbeitshaus in Dresden und dessen Nutzung nach dem Zweiten Weltkrieg in der Sächsischen Zeitung im August 2018 erschienen war. Darin wurden die Kontinuitäten einer ‚totalen Institution‘1 aufgezeigt, die auch nach 1945 als ‚Sammelbecken‘ für marginalisierte Gruppen, wie ‚Herumtreiber‘, ‚Schwachsinnige‘ sowie für Personen, vor allem Mädchen und Frauen, mit (vermuteten) ‚häufig wechselnden Geschlechtspartnern‘ zur ‚sozialistischen (Um-)Erziehung‘ diente.2 Weniger über den Inhalt des Artikels beschwerte sich der Anrufer eher generell darüber, wie ‚Wessis‘ über ‚Ossis‘ schreiben und keine Rücksicht auf Zeitzeugen wie ihn nehmen würden: Stichwort die emotionalen Auseinandersetzungen zwischen Zeitzeugen und der Dresdner Historikerkommission über die (angeblichen) Tieffliegerangriffe auf Dresden.3 Ähnliche Erlebnisse mache ich immer wieder und war ‚froh‘, dass in diesem Fall nicht nach meinem Alter gefragt wurde. Denn auch dies wurde immer wieder als Ausschlusskriterium angeführt – ich wäre zu jung, um die Deutsche Demokratische Republik (DDR) wirklich verstehen zu können – und ein weiteres Gespräch oder Zusammenarbeit verweigert.4 Schon während ich noch in Dresden im Jahre 2010 studierte und mit einem Kommilitonen über meine Bachelorarbeit in einem Dönerladen diskutierte, kam ein Mann auf uns zu und beschwerte sich darüber, dass die Geschichte der DDR schon an Universitäten gelehrt würde und wie wir als ‚Grünschnäbel‘ darüber urteilen könnten. Das ginge zu weit, die DDR wäre doch noch aktuell und keine Geschichte. Diese kurzen Anekdoten sollten illustrieren, wie präsent die nunmehr seit über 30 Jahren vergangene DDR für die identitätsstiftende Erinnerungsarbeit noch sein kann: Die DDR lebt in manchen Köpfen weiter. Dabei galten die 1 2 3
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Goffman (1991). Reinhard (2018), S. 3. Für die Konzepte der ‚sozialistischen Erziehung‘ in den Jugendund Strafeinrichtungen der DDR vor allem nach Makarenko, vgl. Gatzemann (2008); Zimmermann (2004). Schnatz (2000). Zeitzeugen empfanden, dass sie oder ihre Lebensgeschichte und Erinnerungen von Historikern nicht ernst genommen wurden. Beweise für das kollektive Gedächtnis der Tieffliegerangriffe auf Dresden konnten nie gefunden werden; im Gegenteil, es wurde nachgewiesen, dass ein Tieffliegerangriff logistisch und technisch unmöglich war und wahrscheinlich eine Verklärung der Erinnerungen durch Nationalsozialistische Propaganda, eigenen Eindrücken und Erzählungen anderer stattfand. Einen interessanten Beitrag zu dem Problem der ‚doppelten Zeitgeschichte‘ hat schon 1981 Karl Dietrich Bracher für das 20. Jahrhundert angeführt. Bracher (1981).
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Markus Wahl
Öffnung der Mauer in der Nacht des 9. November 1989 und das anschließende Ende der als ‚Unrechtsstaat‘ apostrophierten DDR doch als genauso wichtige wie positive Ereignisse der jüngsten deutschen Geschichte – rasch narrativiert als Errungenschaft der Bürger und verdichtet im historischen Oxymoron der ‚Friedlichen Revolution‘. So sollte diese Entwicklung in den Augen vieler ein sinnstiftendes Element, gar die neue deutsche Identität der neuen ‚Berliner Republik‘ darstellen.5 Dazu kam es aber nur bedingt. Trotz der umfangreichen und öffentlichkeitswirksamen Gedenkveranstaltungen um den 3. Oktober, dem Jahrestag des Beitritts der neuen, aus dem Staatsgebiet der DDR heraus gegründeten Bundesländer, zum Bundesgebiet, und den Tag des Mauerfalls in Berlin und anderen ostdeutschen Städten, haben diese jährlichen Termine für viele einen bitteren Beigeschmack. Sei es der ‚Ausverkauf‘ ehemaliger Betriebe durch die ‚Treuhand‘ oder die Einschnitte in die Lebensgeschichten und Identitäten der Menschen der ehemaligen DDR durch Arbeitslosigkeit, Unsicherheiten und anderen sozialen Problemen sowie die Verneinung der ostdeutschen Alltagsrealität während der 1990er Jahre – die Verwerfungen im Zuge der Wiedervereinigung hat jüngst Ilko-Sascha Kowalczuk in seinem neuen Buch mit dem ebenso provokanten Inhalt wie Titel Die Übernahme thematisiert und sich mit deren Bedeutung für die (ost-)deutsche Gesellschaft auseinandergesetzt.6 Bereits 2013 hatten Mary Fulbrook und Andrew I. Port in ihrem Sammelband Becoming East German argumentiert, dass sich die sogenannte ‚ostdeutsche Identität‘, der ‚Ossi‘, nicht vor sondern nach dem Mauerfall herausgebildet habe. Davor fühlten sich viele ehemalige Bürger der DDR als Teil einer deutschen Gesamtgesellschaft und ihr Blick war oftmals gen Bundesrepublik Deutschland (BRD) gerichtet, wenn es um eine Vergleichsfolie zur eigenen Situation, beispielsweise im Hinblick auf die Versorgung mit Lebensmitteln oder generell der Mangel an Konsumprodukten, ging. Erst durch die Entwicklungen und Erfahrungen der Menschen in den neuen Bundesländern nach 1990 wurden sich die neuen Bundesbürger ihrer ‚Andersartigkeit‘ in sozialer, wirtschaftlicher und kultureller Hinsicht bewusst und fühlten sich als Mensch ‚zweiter Klasse‘.7 Petra Köpping, Sächsische Staatsministerin für Gleichstellung und Integration, forderte konsonant 2018 in ihrem Buch, man solle doch zunächst einmal die Ostdeutschen integrieren, bevor man sich anderen Bevölkerungsgruppen widmet; eine Aussage, die vor dem Hintergrund der Schlagworte Nationalsozialistischer Untergrund (NSU), Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes (Pegida) und der ‚Neuen Rechten‘ in Form der Partei Alternative für Deutschland (AfD) im Zuge einer weitverbreiteten „Flüchtlingskrisenrhetorik“ und ihrer (fragwürdigen) Rahmung als ostdeutsches Problem für Aufsehen und Kritik sorgte.8
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Kowalczuk (2011). Kowalczuk (2019). Port (2013), S. 1–30. Köpping (2018).
Einleitung
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Zur angespannten Atmosphäre im Osten von Deutschland hat der Umgang mit der sozialistischen Vergangenheit maßgeblich beigetragen. Mit der politisch motivierten und emotionalen ‚Abwicklung‘ bzw. Abstoßung der Geschichte der DDR mit dem Fokus auf Unrecht, Staatssicherheit, Gewalt und Machtmissbrauch sollte die ‚ostdeutsche Identität‘ mit einem west- bzw. gesamtdeutschen Ideal überschrieben werden.9 Nicht zuletzt zeigt sich dies in der Politik der Änderung von Straßennamen, aber vor allem in den Debatten über den ehemaligen Palast der Republik in Berlin.10 Hier wurde die zentrale Einrichtung des sozialistischen Staates mit der Begründung der Asbestverseuchung durch ein Replikat des preußischen Stadtschloss unter dem Pseudonym von Humboldt für knapp 600 Millionen Euro ersetzt.11 Das Spiel mit der städtischen Landschaft, dem urbanen Gedächtnis, bei dem man bestimmte geschichtliche Lagen auslöscht und andere wieder ausgräbt ist immer ein problematischer Eingriff in die Etablierung einer staatlichen (Meister-)Geschichtserzählung.12 Folgt man Fulbrook und Port, so war diese Geschichtspolitik kontraproduktiv: Die ‚Mauer in den Köpfen‘ fiel nicht zusammen mit der Mauer aus Stein, sie wurde in den Jahren danach erst errichtet. Daran hat auch die deutsche Geschichtsschreibung ihren Anteil, denn sie hat mit ihren Studien das staatliche Narrativ unterfüttert. Wie Martin Sabrow im März 2018 in Neu Taipeh formulierte, wurde in Deutschland ein Versuch gestartet den Mauerfall und die Wiedervereinigung zu einem geradlinigen, alternativlosen Mythos zu verknüpfen, der wie angesprochen als Identitätsgrundlage der neuen, jetzt wiedervereinigten Bundesrepublik Deutschland gelten sollte.13 Die alten ‚Kalten Krieger‘ der Geschichtswissenschaft, in deren Köpfen auch die Mauer weiterlebte, liehen ihre Expertise der hegemonialen Geschichtserzählung, welche von manchen als ‚totalitärer als das Dritte Reich‘ beschrieben wurde und wird.14 Diese Verengung in makropolitischen Eigenschaften nach Hannah Arendt15 diente nur einem Ziel: Die politische und emotionale Diskreditierung und Auslöschung diesen Teils der deutschen Nachkriegsgeschichte mit Floskeln der ideologischen Mottenkiste. Ein Beispiel dafür ist der schon erwähnte Begriff des ‚Unrechtsstaates‘. Auch wenn unermessliches Unrecht in dem ehemaligen sozialistischen Deutschland geschah, Menschenrechte nur pro forma galten und das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) sein Unwesen trieb, bleibt dieser Begriff politisch aufgeladen und ein Schlagwort, dass in dieser Form in der differenzierten Geschichtsschreibung keinen Bestand mehr haben sollte. Denn gerade in dem Gerede 9 10 11 12 13 14 15
Beattie (2011), S. 23–34. Glaser (1991). ‚Wieviel kostet das Schloss die Bürger? FAQ – Häufige Fragen‘, Humboldt Forum [Online]. Assmann (2006); Assmann (2007), S. 96; Winter (2010), S. 3–31; Nora (2010), S. VII– XIV. Sabrow (2018) [Online]. Grieder (1999), S. 1 und S. 5–6, Endnote 1; Schroeder (1998), S. 633; Schroeder/DeutzSchroeder (2008), S. 92. Arendt (1967).
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Markus Wahl
vom ‚Unrechtsstaat‘ verblasste die Geltung der durchaus ambivalenten Alltagserfahrungen der Bürger der ehemaligen DDR. Historiografie Wenn man für eine Weile im Ausland lebt und zur DDR forscht, offenbart sich die Engstirnigkeit mit welcher die politische und historische ‚Aufarbeitung‘ des ehemals sozialistischen Staates im wiedervereinten Deutschland teilweise betrieben wurde und seither den Umgang mit den Menschen und ihrer Identität bestimmt haben.16 Drei Lager ließen sich ausmachen: Die Verfechter der Totalitarismus-Theorie, die Rechtfertiger und die anglo-amerikanische Perspektive, zwischen denen es immer wieder zu emotionalen Auseinandersetzungen kam.17 Dabei wurde viel über Labels für die DDR diskutiert: Ob durchherrschte Gesellschaft18, moderne Diktatur19, konstitutiv-widersprüchliche Gesellschaft20, oder Fürsorgediktatur21, alle haben versucht theoretische Schneisen in den Kosmos der DDR zu schlagen. Ein Begriff, eine Terminologie oder auch Konzept ist aber niemals dafür geeignet, den gesamten Zeitraum der Existenz des sozialistischen Staates ausreichend zu erklären bzw. abzubilden.22 Im Gegenteil, die Suche nach expliziten Definitionen für die ehemaligen Ost- und Mitteleuropäischen Staaten im Einflussbereich der Sowjetunion führt nur dazu, wie Linda Fuller kritisiert, „[that it] glazes over a great deal of social difference with a frosting of homogeneity“.23 Auch deswegen sind, wie Patrick Major zusammenfasst, die Historiker des Totalitarismus, der Sozial- und der Kulturgeschichte „equally guilty of fetishizing elite power fantasies, while ignoring their realizability“.24 Diese Aussage gilt insbesondere für den Umgang mit den MfS-Akten, welche oft fälschlicherweise als Einfallstor in die wahrhafte Realität der DDR Anwendung fanden. Auch in dem ‚Orwellschen Apparat‘ wurde zensiert, die persönliche Meinung vertreten und die eigenen Fä16 17
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Beattie (2008); Beattie (2011). Ein interessantes Beispiel dafür ist die Auseinandersetzung von 2011 zwischen Mary Fulbrook und Thomas Lindenberger um den Begriff der ‚Normalisierung‘. Lindenberger behauptete unter anderem in seinem Beitrag, dass man nach über zwanzig Jahren aufhören müsse, immer wieder auf die alten Gräben zwischen den verschiedenen Strömungen der DDR Forschungen hinzuweisen. Jedoch bewies eben diese teils emotional geführte Debatte, dass es weiterhin wichtig bleibt auf Unterschiede der Forschungsrichtungen und -intentionen ein Augenmerk zu legen und dass die Auseinandersetzung mit der DDR Geschichte immer noch ein sehr emotionales Thema für viele bedeutet. Lindenberger (2011), S. 67–91; Fulbrook (2011), S. 92–98. Kocka (1994), S. 549–552. Kocka (1999), S. 19–23. Für eine kritische Auseinandersetzung mit Kockas Konzept, vgl. Kleßmann (1999), S. 366–67; Jarausch (1999), S. 56. Pollack (1998), S. 113–124; Pollack (1999), S. 29–41. Jarausch (1999), S. 57–64. Kleßmann (1999), S. 371. Fuller (2000), S. 588. Major (2010), S. 4; Major (2011), S. 8–22.
Einleitung
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higkeiten überhöht. Eine Forschung, die sich ausschließlich aus Extremfällen aus dem Archiv des MfS speist, kann jedoch kein adäquates Bild der Verhältnisse und des Alltags in der DDR liefern. Die historiografische Landschaft hat sich im letzten Jahrzehnt jedoch verändert, trotz dass einseitige Forschungen immer noch von einigen praktiziert werden, nicht zuletzt, um Aufmerksamkeit und Redezeit in den Medien zu erhalten. Das Schwarz-Weiß der deutschen Historiografie zur DDR wurde abgelöst von den Fifty Shades of Grey des ehemaligen sozialistischen Staates. Eine dichotome Interpretation der DDR-Geschichte, die entweder das ‚Totalitäre‘ oder das ‚Normale‘ des Alltags betonte, hat einer differenzierten Betrachtungsweise Platz gemacht, in der die Extremfälle mit der alltäglichen ‚Normalität‘ in Verbindung gesehen und in der die transnationalen und epochalen Kontexte in die Analyse mit einbezogen werden.25 Die Verschiebung des Fokus erfolgte nicht nur aufgrund eines langsam vollzogenen Generationenwechsels in der Geschichtswissenschaft, sondern auch in Folge der Neubetrachtung des Konzepts der Alltagsgeschichte und des Eigen-Sinns von Alf Lüdtke26 und dessen Weiterentwicklung durch Thomas Lindenberger und anderen in Deutschland sowie Fulbrook, Major, Paul Betts und anderen im englisch-sprachigen Raum.27 Im Zuge dieses Wandels in der Historiografie fanden in den letzten Jahren mehrere Tagungen zu neuen Aspekten in der Sozialgeschichte für die DDR und den Ost- und Mitteleuropäischen Raum statt, auf denen vor allem mit Mikrostudien die vergangenen sozialistischen Staat in ihrer Komplexität vermessen wurden.28 In diesem Trend haben einige Autoren eine neue Art der Sozialgeschichte des Gesundheitswesens der DDR erschlossen.29 Die Verknüpfung von Gesellschafts-, Kultur- und Erfahrungsgeschichte mit der Medizingeschichte hat einige neue Gesichtspunkte zu Tage gefördert, die nicht ausschließlich alle Forschungsergebnisse unter der retrospektive Prämisse des Fehlschlags des sozialistischen Projektes betrachten; auch wenn die Mangelwirtschaft und die marode Infrastruktur dazu einlädt, einen teleologischen Erzählstrang des lang absehbaren Endes der DDR in die Jahrzehnte vor 1989 einzuflechten. Beispiel dieser Entwicklung ist der Fokus auf den Patienten nicht allein als Objekt, sondern auch als Akteur in der Staat-Arzt-Schwester-Patient-Beziehung auf lokaler Verhandlungsebene.30 Dabei zeigt sich oftmals, dass der Umgang mit Patienten mit stigmatisierten Krankheiten sich kaum von anderen, auch westeuropäischen Staaten unterschied und damit die DDR ebenfalls, wie andere politische Systeme und Gesellschaften, ein Produkt ihrer Zeit war. Genauso ist die Überwindung nicht nur der vorbelasteten Labels zur DDR, sondern auch 25 Vgl. Fulbrook (2009), S. 1–30. 26 Lüdtke (1993); Lüdtke/Becker (1997). 27 Lindenberger (1999); Lindenberger (2008), S. 211–233; Fulbrook (1995); Fulbrook (2011); Major (2011), S. 8–22; Betts (2010). 28 Vgl. Ehrig/Thomas/Zell (2018); Carter/Palmowski/Schreiter (2019); Lišková (2018); Babiracki (2015); Fidelis (2010). 29 Harsch (2012), S. 394–423; Harsch (2013), S. 141–157; Leo/König (2015); Linek (2016); Madarász-Lebenhagen (2013), S. 121–140; Reinisch (2013). 30 Vgl. Balz (2013).
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Markus Wahl
der starren, politikgeschichtlich konstruierten Zäsuren wie 1945, 1961, 1971 und 1989/90, welche zahlreiche Studien der Vergangenheit zugrunde lagen, ein wichtiger Schritt neuerer Studien in der differenzierten Aufarbeitung der deutschen Nachkriegsgeschichte. In der Tat ist es kaum möglich, dass ein Buch all diese Forderungen erfüllen und umsetzen kann. Die Absicht der im Juli 2018 stattgefundenen Tagung, auf die dieser Sammelband zurückgeht, war es, einige der neuen Wege in der Sozialgeschichte zum Gesundheitswesen der DDR zusammenzufassen und dabei eine gewisse Bestandsanalyse und Reflexion vorzunehmen und damit den Prozess des Umdenkens mit differenzierten, sozio-kulturgeschichtlichen Analysen zu verstärken. Dabei zeigt es sich auch, dass es einen Trend von den auf der politischen und staatlichen Ebene verweilenden Makrostudien hin zu Mesound Mikrostudien gibt, welche sich anhand von Beispielen im nationalen und internationalen Kontext den lokalen Gegebenheiten (Global Micro History), Möglichkeiten (Agency) und Beschränkungen im Alltag der Menschen in der DDR widmen.31 Nicht zuletzt illustrieren die neueren Entwicklungen im deutschen Gesundheitswesen, dass beispielsweise die politisch-motivierte Abschaffung der Polikliniken und des Dispensaire-Systems, welches sich der Prophylaxe und der Frühbehandlung von Erkrankten verschrieb, nicht nur positive Konsequenzen hatte und diese unter den Begriffen wie „Ärzte-Haus“, „Health Center“ und „Medizinisches Versorgungszentrum“ ein Comeback erlebt haben.32 Was in den 1990er Jahren im überideologisierten Vereinheitlichungsbestreben übersehen wurde, ist jedoch nicht nur, dass nicht alle Institutionen der DDR ideologische Geburten, sondern oftmals praktische Lösungen funktionaler Probleme waren, aber auch, dass diese als Produkte von Traditionen, Kontinuitäten, Brüchen und Entwicklungen zu betrachten sind, die sich oftmals bis ins 19. Jahrhundert zurückdatieren lassen. Für die Medizingeschichte der DDR bedeutet dies, dass Mentalitäten, Konzepte, Gesetze und (medizinische als auch soziale) Behandlungspraktiken nicht nur Erfindungen des sozialistischen Staates nach 1945 waren, sondern im Gegenteil ein oftmals bewusster Rückgriff auf mehr oder weniger bewährte Ansätze der Vergangenheit darstellten und ein Teil der zeitgenössischen Entwicklungen wiederspiegelten. Das gilt für die staatliche Ebene, findet sich aber auch im Lokalen wieder. Inhalt Der Titel dieses Sammelbandes Volkseigene Gesundheit bezieht sich auf die grundlegende Idee in der DDR, dass der Einzelne und seine Gesundheit immer Teil der Gesellschaft und des Staates waren. Dieses Wechselspiel, das das Gemeine über die Interessen eines Individuums stellt, bringt auch die Veröffentlichung des DDR Sozialmediziners Kurt Winter mit der Überschrift Deine 31 Vgl. z. B. Kaminsky (2017). 32 ‚Medizinisches Versorgungszentrum Nachfolger der Poliklinik‘, Die Bundesregierung [Online].
Einleitung
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Gesundheit – Unser Staat von 1969 auf den Punkt.33 Laut Helmut Kraatz, seit 1962 Präsident des Rates für Planung und Koordinierung der Medizinischen Wissenschaft beim Ministerium für Gesundheitswesen (MfG) – der das Vorwort des 1969 erschienen Sammelbandes schrieb – war der Titel nicht willkürlich, sondern beschreibe das Zusammenspiel zwischen dem Individuum, der Gesellschaft und dem Gesundheitswesen in der DDR. Er formulierte, dass [s]o wie die Ärzte sich aufgerufen fühlen, der Bevölkerung nach bestem Wissen und Können zu helfen, so müssen die von ihr betreuten Menschen auch den Ärzten entgegenkommen, ihrem Rat und ihren Vorschlägen folgen, d. h. alle ihnen von unserem Staat gegebenen Möglichkeiten unseres sozialistischen Gesundheitsschutzes nutzen. Sie dienen sich damit selbst am besten, nicht nur im Blick auf die eigene Gesundheit, sondern auch auf das Wohlergehen aller Bürger unseres Staates.34
Allein in dieser Aussage werden viele Aspekte genannt, die typisch für das Gesundheitswesen der DDR waren und die in diesem Sammelband zur Sozialgeschichte der Medizin im ehemaligen sozialistischen Land anhand unterschiedlicher Fallbeispiele beleuchtet werden. Als erster Punkt bestand der Anspruch, die Bürger im verstaatlichten Gesundheitswesen allumfassend über das Dispensaire-System, ein Netz an Ambulatorien und Polikliniken sowie das Betriebsgesundheitswesen präventiv und kurativ medizinisch zu versorgen. Der unentgeltliche Zugang zu medizinischen Vorsorge- und Versorgungsleistungen war in Grundzügen schon 1949, aber vollends in der Verfassung von 1968 verankert worden wie die im Kern bürgerliche Pflicht zur Gesunderhaltung zum Wohle der Gesellschaft.35 Damit war die Gesundheit des Einzelnen, die durch die gesellschaftlichen Bedingungen im Sozialismus und den Staat ermöglicht würden, eng mit der Leistungskraft der sozialistischen Gesellschaft verknüpft. Abweichungen, Sucht und ‚selbstverschuldete‘ Krankheiten wurden somit schnell stigmatisiert und als individuelles Problem abgestempelt. Zweitens betonten staatliche Stellen kontinuierlich den Bedeutungsgehalt des sozialistischen Gesundheitswesens für die Legitimation der DDR auch in Abgrenzung zur BRD. Ludwig Mecklinger, von 1971 bis 1989 Gesundheitsminister, ging in seiner Rede auf einer Tagung der Kreisärzte im Jahre 1981 sogar so weit zu konstatieren, dass „[i]n der Begegnung mit dem Gesundheits- und Sozialwesen […] für den Bürger der Sozialismus Name, Gesicht und Adresse“ hat.36 So waren die Impflicht und die generelle Vorsorge, wie Malte Thießen ausführt, wichtige Bausteine für das Selbstverständnis der DDR, auch wenn 33 Winter (1969). 34 Kraatz (1969), S. 8. 35 Sorgenicht (1969), S. 144. Die anderen Leitlinien des sozialistischen Gesundheitswesens werden in der Literatur unterschiedlich beschrieben. Als Konsens zwischen den verschiedenen Autoren können die vier Prinzipien der Staatlichkeit, Planmäßigkeit, Hervorhebung der Prophylaxe und die Einheit von Wissenschaft und Praxis herausgestellt werden. Ernst (1996), S. 25; Korbanka (1990), S. 34; Weil (2008), S. 11; Mette (1958), S. 28–37; Grohs/Lämmel (1986), S. 1047; Keck (1986), S. 556; Academy of Sciences of the GDR (1985), S. 23–36; Winter (1980), S. 151–153. 36 Mecklinger (1981), S. 1.
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Markus Wahl
nicht immer den eigenen Ansprüchen Genüge getan wurde. Doch auch ehemalige Bürger des sozialistischen Staates hoben immer wieder diesen Punkt als einen Erfolg in ihren Erinnerungen hervor.37 Nicht zuletzt waren die (retrospektiv) positiven Erfahrungen sowie das repetitive Narrativ der Funktionäre über die Überlegenheit der Gesundheitsvorsorge Gründe dafür, dass in der (N)Ostalgie38 30 Jahre nach dem Mauerfall das Gesundheitswesen im Mittelpunkt der Erinnerungskultur steht.39 Als dritten Aspekt offenbart sich in der Aussage von Kraatz eine wechselseitige Anspruchshaltung: Eine Zeitzeugin, welche als Diabetesberaterin arbeitet, beschrieb dies als „der Doktor legt fest und du als Patient hast das bitte so zu machen“.40 Damit wies sie nicht nur auf eine gewisse Hierarchie zwischen Arzt und Patient hin, sondern vor allem auf die mangelnde Eigeninitiative, welche sie bei ihren Diabetikern, sozialisiert in der DDR, noch heute antreffe.41 Auch wenn dies kein reines ostdeutsches Phänomen ist, hat es aber auch politische und gesellschaftliche Gründe, dass dieser, laut Major, fürsorglichen und didaktischen bzw. paternalistischen Diktatur innewohnte.42 Für die Funktionäre der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) bewiesen die Widerstände, wie der 17. Juni 195343, dass die Bevölkerung noch nicht reif für das angestrebte Ziel des Sozialismus sei, sodass dieser Ansatz des fürsorgenden, aber auch erzieherischen Staates Eigeninitiative ausschloss. Ungeplantes bzw. unvorhersehbares Verhalten galt immer als potenziell subversiv, worauf die Funktionäre auf staatlicher Ebene häufig mit Skepsis oder Ablehnung reagierten und dementsprechend auch gegen die Gründungen von Patientenorganisationen wie Selbsthilfegruppen opponierten.44 Trotzdem konnte man sich in der DDR den internationalen Entwicklungen in der medizinischen Betreuung nicht verschließen. Funktionale Herausforderungen des Krankheitsspektrums und der Krankenversorgung sowie der Mangel (an Material und medizinischem Personal) und die gleichzeitige ideologische Engstirnigkeit und Unbeweglichkeit der staatlichen Behörden wurden oftmals durch Eigeninitiativen im Lokalen von Betroffenen, Ärzten, Schwestern und Funktionären improvisierend ausgeglichen. Damit setzten sie dem Regime enge Grenzen der Durchdringung oder des ‚Durchherrschens‘. Umgekehrt war es die SED Parteiführung selbst, die durch ihren Rückzug auf ideologische Postulate und die Leugnung sozialer Probleme ein Machtvakuum 37 Thießen (2017), S. 297–352, hier S. 350. 38 Der problematische Begriff der ‚Ostalgie‘ entstand im Zuge der emotionalen Debatten zur Erinnerungskultur und kann eine negative und eine positive Konnotation besitzen, abhängig vom persönlichen Standpunkt. Vgl. Sieber (2014). 39 Vgl. Clarke/Wölfel (2011); Krampitz (2018) [Online]. 40 Interview mit G. S. am 13.3.2019. 41 Vgl. auch den Beitrag von Ekkehardt Kumbier und Kathleen Haack in diesem Sammelband, S. 111–134. 42 Major (2010), S. 4–10. Für die Situation der Diabetes Patienten in der BRD und USA, siehe Falk (2018). 43 Kowalczuk (2013). 44 Vgl. die Beiträge von Werner (S. 27–70) und Wahl (S. 71–92) in diesem Band.
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im Lokalen hinterließ. Die entstandenen Nischen wurden telweise von zivilgesellschaftlichen Akteuren mit lokaler Partizipation und Pragmatik besetzt.45 Die ersten Beiträge des Sammelbands thematisieren genau dieses Spannungsverhältnis zwischen ideologischem Anspruch der staatlichen Alleinverantwortlichkeit und der lokalen Praxis in der jeweils konkreten Situation von Patienten in unterschiedlichen Zusammenhängen der DDR. In dem ersten Kapitel analysiert Anja Werner den Umgang mit hörgeschädigten Menschen. Dafür diskutiert sie zunächst die konzeptionelle Verschiebung des Begriffes des ‚Patienten‘ nach dem Zweiten Weltkrieg, bevor sie konkret auf die Bedingungen von schwerhörigen und gehörlosen Menschen und die Etablierung ihrer Interessenvertretungen eingeht. Die Geschichte der erfolgreichen Gründung dieser Patientenorganisation wird vor allem dadurch interessant, da vielen anderen Gruppen mit dem Hinweis, dass nur Patienten in privatwirtschaftlich organisierten Gesundheitssystemen auf Selbsthilfe zurückgreifen müssten, dieser Schritt verwehrt blieb.46 Wie sich dieser Anspruch, dass Patientenorganisationen im Sozialismus unnötig wären, auf die Alltagswelt von Betroffenen, konkret von Alkoholabhängigen und Diabetikern im Betriebsumfeld, auswirkte, beleuchtet Markus Wahl in seinem Beitrag. Er zeigt, wie im Mikrokosmos Arbeitsplatz Mentalität, Vorurteile und das (Un-)Verständnis der Kollegen gegenüber den Erkrankten die Reintegration in den Betriebsalltag positiv oder negativ bestimmte. Die Erfolge in vielen Fällen hingen jedoch nicht nur mit den Veränderungen des Arbeitsklimas im Sozialismus, sondern vielmehr mit dem angesprochenen Pragmatismus und der Initiative lokaler Akteure zusammen. Auch die Betroffenen selbst wurden aktiv und stellten sich entweder den Kollegen und deren Ansichten oder aber wandten sich mit Eingaben an die staatlichen Behörden, welche unterschiedliche Ergebnisse zeitigten – mitunter aber auch Verbesserungen der individuellen Lage vor Ort erreichen konnten. Diese Art der Partizipation, Eingaben zu schreiben und Interessen mithilfe von staatlichen Behörden durchzusetzen, war weit verbreitet in der DDR.47 Florian Bruns widmet sich in seinen Beitrag diesem sogenannten Eingabewesen und diskutiert Inhalt und Bearbeitungsstrategien sowie die Diskussionen über die Effektivität dieses Kanals speziell innerhalb des Gesundheitswesens. Generell bestand der Anspruch, dass in der DDR sich auch in den zwischenmenschlichen Interaktionen, und so auch im Arzt-Schwester-PatientenVerhältnis, sozialistische Prinzipien widerspiegeln sollten. Auch wenn in der einschlägigen Fachliteratur über das Zusammentreffen zweier oder mehrerer gleichberechtigter, mündiger sozialistischer Persönlichkeiten im Sprechzimmer diskutiert wurde, blieb die Hierarchie mit dem Arzt an der Spitze oftmals
45 Ebd. 46 Vgl. die Antwort auf eine Eingabe eines Bürgers hinsichtlich der Möglichkeit der Gründung eines Diabetikerbundes in ‚Abt. Organisation des Gesundheitsschutzes – spezielle medizinische Betreuung an Herrn W. M., 23.6.1967‘: BArch, DQ 1/4346, unpaginiert. 47 Vgl. Betts (2010), Kapitel 6.
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bestehen.48 Zum einen lag das an institutionellen Traditionen und an der Ärzteschaft selbst, die sich auch weiterhin als unangefochtene Experten gegenüber den Patienten profilieren wollten. Auf der anderen Seite entsprach es auch teilweise der erwähnten zeitgenössischen Haltung der Patienten selbst, die von ihrem Arzt oder ihrer Ärztin erwarteten, dass sie konkrete (Handlungs-)Anweisungen erhalten und ihnen Eigeninitiative erspart blieb. Dies war eng verbunden mit der Gesamtkonzeption des Staates, der mit seinem zentralistischen Aufbau den Bürgern suggerieren wollte, dass sie sich an die Behörden wenden können, wenn Missstände auftraten: Die Passivität war im Interesse der SED Führung, da unkontrolliertes, eigensinniges Verhalten immer als Gefahr wahrgenommen wurde. Doch trotzdem zeigen detailreiche (Mikro-)Analysen auf, dass dieser Anspruch in der lokalen Wirklichkeit durchaus auch bloßer Anspruch bleiben konnte.49 Die folgenden zwei Beiträge diskutieren das Arzt-Schwester-Patienten-Verhältnis im Kontext der Psychiatrie in der DDR. Die Interaktion in diesem Feld war durch die Sterilisationen, Misshandlungen und ‚Euthanasie‘ von als ‚minderwertig‘ angesehenen Menschen belastete Geschichte ein sensibles Thema. Und dies gerade deswegen, weil in der DDR auf Basis des antifaschistischen Gründungsmythos das Ziel früh proklamiert worden war, sich der ‚alten‘ Psychiatrie-Praxis zu entledigen und auf neue, sozialistische Prinzipien zu bauen.50 Ekkehardt Kumbier und Kathleen Haack diskutieren in ihrem Beitrag die Akteure und Auswirkungen der sogenannten ‚Brandenburger Thesen‘, die auf die ‚Rodewischer Thesen‘ von 1963 aufbauten und ein Umdenken in der Behandlung von Patienten in der Psychiatrie forderten. Eine besondere Form der Belastung und des verstärkten Vertrauens innerhalb der Arzt-SchwesterPatienten Beziehung wird im Kontext von Medikamentenstudien verursacht – nicht zuletzt, wenn der Auftraggeber der Studie, also die Pharmaindustrie, im Ausland sitzt. Wie Christine Hartig in ihrem Beitrag zum spezifischen Fall der Levoprotilinstudien in Jena aufzeigt, wurden hier ebenfalls die Umsetzung der Vorgaben und ethischen Richtlinien von den medizinischen Akteuren und dem verfügbaren Patientenpool vor Ort bestimmt. Sie und auch andere Studien zu den Medikamentenversuchen in der DDR stellen fest, dass die Bestimmungen im sozialistischen Land oftmals enger gefasst waren als zum Beispiel in der Bundesrepublik.51 Trotzdem entschieden sich die westlichen Pharmafirmen für die DDR, nicht zuletzt aufgrund der anwachsenden Skepsis der Öffentlichkeit in ihren Heimatländern und auch der finanziellen Anreize in dem auf Devisen angewiesenen Staat. Wie im Begriff des ‚Arzt-Schwester-Patienten-Verhältnisses‘ konnotiert, war der Anspruch des Regimes nicht nur zwei mündige Bürger in der Form von Arzt und Patient aufeinandertreffen zu lassen, sondern auch, die Hierarchien innerhalb der medizinischen Einrichtungen zu verändern. Infolge der 48 49 50 51
Vgl. Rieger (1976), S. 88; Winter (1980), S. 153; Kober (1983); Jentzsch (1987). Balz 2013. Hinz-Wessels (2019), S. 241–276; Münkler (2010), S. 421–454. Hess/Hottenrott/Steinkamp (2016); Werner/König/Jeskow/Steger (2016).
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Kompetenzerweiterung für das sogenannte mittlere medizinische Personal sollte das Klima in den Institutionen sozialistisch verändert und somit auch die traditionelle Stellung des Arztes aufgelöst werden.52 Jedoch gab es, wie angesprochen, hier institutionelle Widerstände, nicht zuletzt von der Ärzteschaft, die um ihren Status fürchtete. Trotz dieser Wechselwirkungen vollzog sich auch in der DDR, eingebettet in den internationalen Kontext, eine Professionalisierung der nicht-ärztlichen Heilberufe, was in letzter Zeit verstärkt in den Fokus der Geschichtsforschung gerückt ist.53 Pierre Pfütsch greift hierbei die Krankentransporteure exemplarisch heraus und beleuchtet deren Entwicklung in Form der Schnellen Medizinischen Hilfe (SMH) und setzt diese in Bezug zur Geschichte der Rettungssanitäter in der BRD. In beiden deutschen Staaten erfassten dynamische Veränderung in den 1950er bis 1980er Jahren den Beruf, vor allem im Bereich der Ausbildungen und der Erwartungen über die Fähigkeiten: Vom reinen Transport zu einem mit medizinischem Wissen und Können ausgestatteten Arzthelfer. Allen Beiträgen innewohnend sind die sozialistischen Paradigmen der DDR, die die Gesundheitsversorgung in Form von Prophylaxe, Betreuung und Nachsorge bestimmen sollten. Die Vorsorge in Form von Reihenuntersuchungen, Durchimpfungen und Aufklärungskampagnen war in der Konzeption der entscheidende Faktor, um nicht zuletzt den Krankenstand als wichtigen ökonomischen Koeffizient der Planwirtschaft zu verringern. Das seit 1912 existierende Deutsche Hygiene Museum in Dresden (DHMD) wurde dafür das Leitinstitut, welches kurz nach dem Zweiten Weltkrieg wieder (Wander-) Ausstellungen zu Gesundheitsthemen, vor allem Geschlechtskrankheiten, Tuberkulose und andere Infektionskrankheiten, veranstaltete. Daraus ergab sich, dass das Haus von Kontinuitäten, in personeller und materieller Hinsicht, aus vorangegangenen politischen Systemen geprägt war. Jedoch änderte sich dies schnell und die neuen politischen Botschaften fanden Widerhall in den Ausstellungsmaterialien.54 Trotzdem, wie Christian Sammer im letzten Beitrag dieses Sammelbandes aufzeigt, war das DHMD nicht nur ein Instrument der sozialistischen Gesundheitspolitik. Auch hier bestanden Verbindungen in die ost- und westeuropäischen Länder und die Akteure der Gesundheitsaufklärung rezipierten internationale Entwicklungen. Sobald jedoch die gesellschaftlichen, politischen oder wirtschaftlichen Bedingungen als Problem für die Gesundheit der Bevölkerung dargestellt wurden – d. h. eine Diskussion zu sozialen Problemen des sozialistischen Staates in Bezug auf Krankheit und Gesundheit stattfand – wechselte die SED Regierung das Personal des DHMD Anfang der 1980er Jahre umfassend aus. Somit illustriert auch dieser Beitrag, dass lokale Initiativen von Akteuren möglich, jedoch dieser Eigenaktivität klare Grenzen gesetzt waren: Das Hinterfragen der Grundfesten der DDR Gesellschaft, in welchem die Gesundheit und auch das Gesundheitssystem eine wichtige Rolle in der Legitimation spielte. 52 Hahn/Rieske (1980). 53 Hähner-Rombach/Pfütsch (2018); Ropers (2010). 54 Wahl (2019), Kapitel 2.
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„Aber erwarten Sie keine Widerstandsgeschichte von mir, ich war Genosse und bin mitgeschwommen. Die DDR war meine Welt“.55 So outete sich einer meiner Zeitzeugen gleich zu Beginn unseres Gespräches über seine Erfahrungen als Patient zur Zeit der DDR. Auch hier offenbarte sich eine Erwartungshaltung des Befragten, dass der ihm gegenübersitzende Historiker nur eine einseitige Intention hinsichtlich der Geschichtsschreibung über die DDR verfolgen kann. Die Sozialgeschichte des Gesundheitswesens der DDR offenbart sich jedoch in diesen Sammelband als ein vielschichtiges, komplexes und differenziertes Gebilde, wodurch ein abschließendes Wort schwerfällt. In jeder Hinsicht kann es hier nur um einen Einblick in die Mechanismen der Gesellschaft und des Alltags im ehemaligen sozialistischen Staat gehen. Das wichtigste ist, dass deutlich wird, dass die DDR Geschichte neue, frische Ansätze und Zugänge braucht, die den unterschiedlichen Erfahrungen mit der Diktatur gerecht wird, ohne mit politisch-vorgefertigten Schlussfolgerungen heranzugehen und die DDR vom Ende aus betrachtet. Anregungen und Anstöße zur Umsetzung dieses Anspruches finden sich in den folgenden Kapiteln. Die DDR-Geschichte bleibt jedenfalls – gerade aufgrund ihrer Widersprüchlichkeit und Vielfältigkeit – spannend. Bibliographie Quellen Bundesarchiv (BArch) BArch, DQ 1/4346 Zeitzeugen Interview mit G. S. am 13.3.2019 Interview mit W. H. am 13.3.2019 Veröffentlichte Quellen Academy of Sciences of the GDR (Hg.): Science and Technology Policy and the Organization of Research in the GDR. Berlin; Akademie 1985. Glaser, Daniel: Dresden ’91: Ein Beitrag zur Dialektik. Filminitiative Dresden, 1991. Grohs, Robert; Lämmel, Rolf: Zu den Prinzipien des sozialistischen Gesundheitsschutzes. In: Zeitschrift für ärztliche Fortbildung 80 (1986), S. 1047–50. Hahn, Susanne; Rieske, Brigitte: Das Arzt-Schwester-Patient-Verhältnis im Gesundheitswesen der DDR. Jena; VEB Gustav Fischer Verlag 1980. Jentzsch, Horst (Hg.): Bewährtes Bündnis. Arbeiterklasse und medizinische Intelligenz auf dem Weg zum Sozialismus. Berlin; VEB Verlag Volk und Gesundheit 1987. Keck, Alfred: Die Stellung des Gesundheitswesens in der gesellschaftlichen Reproduktion. In: Zeitschrift für ärztliche Fortbildung 80 (1986), S. 555–57. Kober, Reiner: Der soziale Einfluß des Arztes als Beitrag zur Persönlichkeitsentwicklung und Gestaltung der Lebensweise seiner Patienten im Sozialismus. Dissertation. Berlin 1983. Kraatz, Helmut: Vorwort. In: Winter, Kurt (Hg.): Deine Gesundheit, unser Staat. Berlin; VEB Verlag Volk und Gesundheit 1969, S. 7–8. 55 Interview mit W. H. am 13.3.2019.
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Hörgeschädigte Menschen als Patienten in der DDR Eine Spurensuche aus medizinhistorischer Sicht Anja Werner
„Das Bestreben der Schwerhörigen, ihre Schwerhörigkeit“ durch Nutzung besonders kleiner Hörgeräte „vor den Normalhörenden zu verbergen“, so hieß es Ende November 1962 im Protokoll einer Sitzung der Kommission für Schwerhörigenfragen, „ist im bürgerlichen Existenzkampf der kapitalistischen Gesellschaft notwendig, in der sozialistischen Gesellschaft jedoch unangebracht“. Es sei die Aufgabe des Zentralvorstands des Allgemeinen Deutschen Gehörlosenverbands (ADGV) und der Pädagogen, die „Schwerhörigen zur Ehrlichkeit in dieser Frage zu erziehen, damit sich die normalhörende Umwelt besser auf die Schwerhörigen einstellen kann“.1 Mit Propaganda und Erziehung ließ sich offenbar selbst die jahrtausendealte Herausforderung der Hörschädigungen bewältigen. Dabei war die Idee eher tradiert, dass an erster Stelle hörgeschädigte Menschen selbst sich ändern und an die hörende Mehrheitsgesellschaft anpassen müssten, und nicht die Gesellschaft sich an sie. In diesem Aufsatz soll versucht werden, ein differenziertes Bild vom Umgang mit hörgeschädigten DDR-Bürgern zu zeichnen. Dafür werde ich nachfolgend zuerst Definitionen und Kontexte zu den Begriffen ‚Patient‘ und ‚Hörschädigung‘ anreißen. Alsdann werde ich Wahrnehmungen von hörgeschädigten Patienten2 seitens der zuständigen Sachbearbeiter in verschiedenen DDR-Ministerien sowie medizinischen und – sofern diese medizinische Fragestellungen berührten – sonderpädagogischen Expertengruppen diskutieren. Vor diesem Hintergrund werde ich schließlich die Interessenvertretung hörgeschädigter Menschen in der DDR vorstellen – den Allgemeinen Deutschen Gehörlosenverband (ADGV, bzw. seit Anfang der 1970er Jahre Gehörlosenund Schwerhörigen-Verband der DDR, GSV). Mein Hauptaugenmerk liegt auf der Frage, inwiefern es sich auch um eine Patientenorganisation handelte. Da es im ADGV/GSV spätestens seit Beginn der 1960er Jahre auch eine klar getrennte Interessenvertretung schwerhöriger DDR-Bürger gab, ist es möglich, zwischen den unterschiedlichen Interessen gehörloser und schwerhöriger Menschen zu differenzieren. Dies soll im letzten Teil dieses Beitrags geschehen.
1 2
‚Funck (Zentralvorstand, ADGV), Protokoll der Sitzung der Kommission für Schwerhörigenfragen vom 30.11.1962‘: BArch, DQ 1/23907, unpaginiert. Zur besseren Lesbarkeit verwende ich durchgehend die männliche Bezeichnung.
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Patient und Hörschädigung: Definitionen und Kontexte Um die Jahrtausendwende rückte das „biopsychosoziale Modell von Gesundheit und Krankheit“3 in den Mittelpunkt des Interesses, und damit einhergehend „die Überwindung des traditionellen Defizitmodells“.4 Das Defizitmodell von Krankheit korreliert mit der ursprünglichen Bedeutung des Begriffs ‚Patient‘, die vom „lateinischen ‚patiens‘“ abgeleitet ist, „was ertragend, erduldend, geduldig, aushaltend bedeutet“.5 Vereinfacht ausgedrückt, liegt die Betonung beim Defizitmodell von Krankheit (und Behinderung6) auf den Schwächen, beim biopsychosozialen Modell jedoch auf den Möglichkeiten der Betroffenen, ihre Stärken zu entwickeln. Letztlich wird der Patient als Akteur gestärkt. Aus der Sicht des medizinischen Defizitmodells werden Hörschädigungen negativ als Abwesenheit der Möglichkeit des Hörens wahrgenommen.7 Allerdings wurden auch Hörschädigungen nach 1945 allmählich umgedeutet – weg von der Idee des vordringlichen Defizits und hin zur Wahrnehmung einer gehörlosen Identität als sprachlich-kulturelle Minderheit. Parallel zu diesem gehörlosen Selbstverständnis rückte auch die Tatsache stärker ins Licht der Öffentlichkeit, dass Patienten mit Hörschädigung oft körperlich und geistig voll leistungsfähig sind, das fehlende Gehör jedoch eine Kommunikationsbarriere aufbaut, die eine besondere Herausforderung für eine reibungslose Integration in die Arbeitswelt darstellt. Gerade für die DDR ist der Wille, die Arbeitskraft aller – auch kranker und behinderter – Menschen zu nutzen, vergleichsweise gut erforscht.8 Durch diesen Anspruch konnte Hörschädigung in der DDR in den 1980er Jahren unter Rehabilitationspädagogen auch als „biopsychosoziales Problem“ verstanden werden.9 Die Wurzeln dieses neuen Verständnisses von Krankheit (und Hörschädigung), das mit einer Stärkung der Patientenrechte einherging, lassen sich nicht nur bis zu den Nürnberger Ärzteprozessen nach Ende des Zweiten Weltkrieges zurückverfolgen. Auch vor der Zeit des Nationalsozialismus hat es Diskussionen um den Schutz und die Rechte von Patienten gegeben.10 Verschiedene Faktoren bewirkten schließlich nach 1945 den Wandel in der Wahrnehmung der Patientenrolle. So ist, erstens, die Auseinandersetzung mit Medizinverbrechen während der Zeit des Nationalsozialismus in Deutschland zu nennen. 3 4 5 6 7 8
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Egger (2005), S. 3–12. Leistner/Bublitz (2004), S. 296–303. ‚Patient‘, JuraForum [Online]. Es würde zu weit führen, hier auf das Beziehungsgefüge von ‚Krankheit‘ und ‚Behinderung‘ einzugehen. Vgl. Groß/Müller/Steinmetzer (2015). Zu Definitionen von Hörschädigung, vgl. Werner (2018), S. 193–210. Speziell für Menschen mit Hörschädigung, vgl. Werner (2015), S. 6–21. Vgl. auch Boldorf (2004), S. 455–474; Boldorf (2006), S. 450–469; Boldorf (2008), S. 433–450; Poore (2007); Wiethoff (2017); Ramm (2017); Barsch (2007/2013); Scharf/Schlund/Stoll (2019), S. 52–70. Becker (1989), S. 6–10. Vgl. z. B. Emrich/Fröhlich-Güzelsoy/Frewer (2014).
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Diese führte nach und nach zur Etablierung verbindlicher medizinethischer Standards, die letztlich vor allem auch die Autonomie von Patienten stärkten.11 Zweitens wurde nach 1945 die Bedeutung von Bürgerrechten generell betont, insbesondere ausgehend von den USA. Die Bürgerrechtsbewegung der Afroamerikaner, sowie die damit im Dialog stehende Behindertenrechtsbewegung, hat das Selbstbewusstsein gehörloser und schwerhöriger Menschen nicht nur in den USA gestärkt.12 Schließlich ist die fortschreitende Kommerzialisierung des Gesundheitssektors in der westlichen Welt zu nennen, die den Patienten letztlich zum Kunden, das medizinische Personal hingegen zum Dienstleister machen.13 Dies stellt Patienten medizinischem Personal auf Augenhöhe in einer vertraglichen Beziehung gegenüber. Außerdem zahlen Patienten direkt oder indirekt für Gesundheitsleistungen. Patienten können sich in diesem Verhältnis auf ihre Rechte berufen, wie das Recht auf Information und das Recht auf Selbstbestimmung, d. h. „dass eine medizinische Maßnahme nur nach erfolgter Einwilligung erfolgen darf“.14 Die Gründe für die Inanspruchnahme medizinischer Dienstleistungen können ganz unterschiedlicher Natur sein. Neben der klassischen Heilung bei Erkrankung rückt die Idee der ‚Gesundheit‘ immer weiter in den Hintergrund, da „neben den eigentlichen Therapiemassnahmen im Gesundheitswesen immer mehr Leistungen angeboten werden, die der Prophylaxe (Reisemedizin), der verbesserten Ästhetik (Schönheitschirurgie) oder einfach nur der Erhaltung des Wohlbefindens (Wellness) dienen“.15 Im Falle von Hörschädigungen dienen medizinische Dienstleistungen oft ebenfalls nicht primär zur Wiederherstellung von Gesundheit, sondern zu einer Integration in die hörende (Mehrheits-)Gesellschaft. Insbesondere für hörgeschädigte Menschen aus hörenden Familien kann das einer Steigerung des Wohlbefindens gleichkommen, muss es aber nicht. Unter Umständen wird der Zustand des Wohlbefindens eher erreicht, wenn der Betroffene darin unterstützt wird, seine gehörlose Identität zu entfalten. In diesem Punkt klaffen die Meinungen von einigen Experten und Gehörlosen teilweisen auch heute noch stark auseinander.16 Ihre Rechte können Patienten auch über Interessensvertretungen durchsetzen. Hörgeschädigten Personen stehen verschiedene Interessensvertretungen zur Verfügung, allen voran Schwerhörigen- bzw. Gehörlosenverbände. Dabei handelt es sich nicht ausschließlich um Patientenorganisationen, also Organisationen die „ihrem Selbstverständnis nach politisch-fachliche Interes11
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Die Literatur zur Medizin im Nationalsozialismus ist inzwischen sehr umfangreich. Als aktuelle Beispiele seien stellvertretend genannt: Braese/Groß (2015). Es sei angemerkt dass eine Aufarbeitung der HNO im Rahmen der Aufarbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit medizinischer Fachgesellschaft noch aussteht. Vgl. Krischel/ Schmidt/Groß (2016). Vgl. hierzu Werner (2017). ‚Patient‘, JuraForum [Online]. ‚Patientenrechte‘, Bundesministerium für Gesundheit (2017) [Online]. ‚Patient‘, DocCheck Flexikon [Online]. Es ist dringend notwendig, dass die Medizin beginnt, sich hiermit auseinanderzusetzen. Vgl. hierzu Gedanken zu Salutogenese und Hörschädigung in Uhlig (2012), S. 69.
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senvertretung und Ansprechpartner [sind], wenn es um die Beratung von Patientinnen und Patienten geht. Sie treten ein für die Selbstvertretung von Patienteninteressen in allen die Patienten betreffenden Entscheidungsprozessen“.17 Allerdings vertreten diese Verbände hörgeschädigter Menschen auch deren Interessen gegenüber der Medizin, beispielsweise dann, wenn sie sich aktiv an Diskussionen um die medizinische Versorgung von hörgeschädigten Menschen beteiligen.18 Es gibt heute zahlreiche Hörgeschädigtenverbände, da Hörschädigungen als sensorische Einschränkungen in unterschiedlicher Intensität zu unterschiedlichen Zeitpunkten im Leben auftreten können und daher ausgesprochen vielfältig sind. Die größte Herausforderung bei einer Hörschädigung besteht in der mit ihr einhergehenden eingeschränkten lautsprachlichen Kommunikationsfähigkeit. Dabei existieren mit nationalen Gebärdensprachen vollwertige visuelle Sprachsysteme, die ohne Gehör funktionieren. Dennoch sieht die Medizin ihre Aufgabe vorrangig darin, den Hörverlust – nicht aber die Kommunikationsunfähigkeit aufgrund des fehlenden Gehörs – zu überwinden. Seit der Antike hat sich die Medizin immer wieder mit der Frage einer Heilung von Taubheit auseinandergesetzt.19 HNO-Ärzte in der DDR standen in dieser Tradition, die Hörverlust als einen zu korrigierenden Mangel definiert. Die Fokussierung auf das Defizit und die Notwendigkeit einer Integration Hörgeschädigter in die hörende Mehrheitsgesellschaft ist typisch für den deutschen Sprachraum: So wurde die Methode der Lautspracherziehung Gehörloser im 19. Jahrhundert auch als ‚deutsche Methode‘ bezeichnet, wohingegen die Gebärdensprachmethode als ‚französische‘ und die heute sich durchsetzende ‚gemischte‘ oder ‚bilinguale‘ Methode auch als ‚Wiener‘ oder ‚amerikanische‘ Methode nach den Orten ihrer Entwicklung und größten Nutzung bezeichnet wurden.20 Obwohl Hörverluste graduell auftreten, wird dennoch grundsätzlich in zwei Kategorien unterschieden, nämlich Schwerhörigkeit und Taubheit. Bei Schwerhörigkeit ist ein Lautsprachverständnis über das Ohr mit oder ohne technische Hilfsmittel möglich; bei Taubheit nicht, weswegen viele Gehörlose über nationale Gebärdensprachen kommunizieren.21 Die Zweiteilung wurde etwa um 1900 vorgenommen, nachdem medizinische Hörmessmethoden verfeinert wor17 18
‚Patientenorganisationen‘, Krankenkassen [Online]. Ein aktuelles Beispiel wäre die Stellungnahme des Deutschen Gehörlosen-Bundes (DGB) im Rahmen einer möglichen, gerichtlich angeordneten Zwangsimplantation eines gehörlosen Kindes gehörloser Eltern mit einem Cochlea Implantat (CI). Vgl. Deutscher Gehörlosen-Bund (DGB) (2017) [Online]. Letztlich wurde den gehörlosen Eltern Recht gegeben. Die von Ärzten im Interesse des Kindswohls geforderte Zwangsimplantation wurde als unbegründet abgelehnt. Eine Chronologie der Ereignisse findet sich hier: Kestner (2019) [Online]. 19 Feldmann (1960). 20 Vgl. Schmidt/Werner (2019), S. 9–47. Zur ‚Wiener Methode‘, vgl. Wibmer (2019), S. 321– 347, insbesondere S. 327–331. Zur ‚amerikanischen Methode‘, vgl. z. B. Branson/Miller (2002), S. 123. 21 Werner (2018), S. 193–210.
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den waren. Sie manifestierte sich im frühen 20. Jahrhundert in einem geteilten Schulsystem mit Schwerhörigen- und Gehörlosenklassen bzw. -schulen.22 Damit ist gleichzeitig eine bis heute anhaltende bzw. immer wieder auftauchende Stigmatisierung verbunden, die seit den 1980er Jahren mit der Kommerzialisierung des Cochlea-Implantats (CIs) neuen Aufwind bekam. So gelingt es schwerhörigen bzw. implantierten Schülern oft besser, die Lautsprache zu kompensieren. Sie werden daher auch heute eher in Regelschulen integriert – die Gehörlosenschulen sind wieder ‚Auffangbecken‘ für ‚Schwachbegabte‘ und ‚Unwillige‘. Gebärdensprachen werden noch immer zu oft außen vor gelassen.23 Die Zweiteilung mit ihrer unterschwelligen Hierarchisierung von Schwerhörigkeit über Gehörlosigkeit lässt sich auch in der DDR beobachten.24 Ein erklärendes Wort zur Terminologie ist dabei aufschlussreich. Grundsätzlich sprach man in der DDR von ‚Gehörlosigkeit‘. Die Bezeichnung ‚taubstumm‘ findet sich nur anfangs noch, z. B. in der Korrespondenz zumeist älterer Lehrer an Gehörlosenschulen; gelegentlich wird sie als Synonym für ‚gehörlos‘ im Gegensatz zu ‚schwerhörig‘ verwendet.25 Dass in der DDR der Begriff ‚taubstumm‘ bereits in den 1950er Jahren aus dem offiziellen Sprachgebrauch verdrängt wurde, folgte ausgerechnet dem nationalsozialistischen Vorbild: 1938 war per Richtlinie festgelegt worden, einheitlich die Bezeichnungen ‚gehörlos‘ und ‚Gehörlosenschule‘ zu verwenden.26 Die in der DDR genutzten Begrifflichkeiten könnten als ein Versuch der Abgrenzung von alten Tradition der deutschen ‚Taubstummenpädagogik‘ gewertet werden, was indes nicht erklärt, warum man stattdessen dem nationalsozialistischen Beispiel folgte. Der Terminus ‚gehörlos‘, wie er in der DDR offiziell verwendet wurde, darf auch nicht mit der Idee einer Emanzipation gehörloser Menschen verwechselt werden, da er einer offiziellen, von hörenden Experten und Behörden etablierten Sprachpraxis entsprach. In der Bundesrepublik Deutschland hingegen benutz22 Eine wichtige Rolle kommt hier dem Münchner Arzt Friedrich Bezold zu, der Ende des 19. Jahrhunderts in einer schulischen Reihenuntersuchung auf die unterschiedlich starken Hörreste der Schüler verwies und daraus Schlussfolgerungen für den „Taubstummenunterricht zog“. Kapitel 15 widmet sich „Practische[n] Folgerungen für Ueberwachung und Unterricht der Taubstummen“, Bezold (1896), S. 139–156. 23 Gespräche der Verfasserin mit Vertretern der Schule beim Jakobsweg und des Berufsbildungswerks der Paulinenpflege Winnenden im Juli 2016. Im Jahr 2019 gibt es an allen Gehörlosenschulen im Freistaat Sachsen keine einzige Lehrkraft mit „vollständige[r] Gebärdensprachkompetenz für die Unterrichtung gehörloser Kinder“; die Klage eines Vaters zweier gehörloser Kinder, wenigstens DGS-Dolmetscher zur Verfügung zu stellen, wurde von einem Dresdner Sozialgericht abgewiesen. Vgl. Gerardo (2019) [Online]. 24 Werner (2015), S. 11. 25 ‚Hammer (Fachgebietsleiter) an den Rat der Stadt Abteilung Volksbildung Dresden, 02.03.1960; Anni Ziem (Tbst.-Lehrerin, Erfurt, Gehörlosenschule) an Kollegin Heinrich (Wiss. Mitarbeiterin, DPZI, Abt. Defektologie), 30.01.1960‘: BBF/DIPF/Archiv, DPZI 2379; ‚E. Kropp (Ludwigslust) an DPZI (Sektion Defektologie, Berlin), 05.03.1955‘: BBF/ DIPF/Archiv, DPZI 1142. Vgl. auch Kropp/Glawe (1957); ‚Gürtler (Dir. Gehörlosenschule Halle/Saale) an Rat der Stadt Halle, Abt. Volksbildung, zu Hd. d. Stadtschulrates Koll. Eitze, 28.10.1958‘: BBF/DIPF/Archiv, DPZI 2985,2. 26 Landerer (2012).
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ten Gehörlosenlehrer den Begriff ‚taubstumm‘ teilweise bis in die 1990er-Jahre.27 ‚Taubstumm‘ ist heute in Fachkreisen und unter Gehörlosen tabuisiert, auch wenn er sich umgangssprachlich weiterhin großer Beliebtheit erfreut. Der Begriff ‚Taubheit‘ ist akzeptabel. Da in der DDR politische Vorgaben auch in der Medizin und selbstverständlich im Bildungswesen eine Rolle spielten, kann eine Betrachtung hörgeschädigter Patienten nicht auf fachliche Experten beschränkt bleiben. Es lässt sich beobachten, dass gerade in den 1950er Jahren DDR-Behörden in der Beschreibung von Hörfähigkeit diese unter Umständen anders als Mediziner und hörgeschädigte Menschen selbst einordneten. Mitarbeiter in DDR-Behörden nutzen beispielsweise auch den Begriff ‚Gehörgeschädigte‘. Gelegentlich waren damit schwerhörige, lautsprachlich kommunizierende Menschen im Gegensatz zu gebärdensprachlich gehörlosen Menschen gemeint – und umgekehrt.28 Das ist insofern interessant, als im deutschen Sprachraum heutzutage der ganz ähnliche Begriff ‚Hörgeschädigte‘ in medizinischen Kontexten für das gesamte Spektrum an fehlendem Gehör steht.29 Doch auch in dieser umfassenderen Bedeutung wurde der Begriff ‚Gehörgeschädigte‘ in der DDR verwendet.30 Es gab also in der Begriffsbestimmung vor allem in den ersten Jahren eine Flexibilität, die bei der Interpretation der Quellen jeweils sorgfältig überprüft werden muss. Gleichzeitig eröffnete diese ‚schwammige‘ Begrifflichkeit für hörgeschädigte Menschen aber auch Möglichkeitsräume, indem sie eben nicht automatisch als sprachlich defizitär eingeordnet wurden, sondern man ihnen mit einer gewissen Unvoreingenommenheit ohne den normierenden Einfluss von fachlichen Experten auf Augenhöhe gegenübertrat.31 Hörschädigung in der DDR in Zahlen: Theorien und Prognosen Es ist nicht das Ziel dieses Abschnitts aufzuzeigen, wie viele hörgeschädigte Menschen mit welcher Form und welchem Grad von Hörschädigung zwischen 1949 und 1990 in der DDR lebten. Vielmehr ist an dieser Stelle von 27
‚A. Klingel (Bundesvors., Berufsverband Bund Deutscher Taubstummenlehrer) an Staatssekretär Dr. Fritz Schaumann (Bundesministerium für Bildung und Wissenschaft), 07.12.1990. Abschrift durch A. Löwe am 27.05.1991 und Weitersendung an H. Benedix, Leipzig; C. Hartmann-Börner (Berufsverband Deutscher Hörgeschädigtenpädagogen, vormals Bund Deutscher Taubstummenlehrer, Hamburg) an Prof. Dr. Wolfgang Mitter (Deutsches Institut für Internationale Pädagogische Forschung, Frankfurt a. M.), 16.12.1993‘: BBF/DIPF/Archiv, 118 HSW bis 1995; Akte zurzeit noch ohne Signatur. 28 ‚Vorlage für die Kollegiumssitzung am 14.11.1952. Betr.: Betreuung der Gehörgeschädigten, 11.11.1952‘: BArch, DQ 1/2213, unpaginiert. 29 ‚Einige Informationen zum Thema Hörschädigung‘, Deutsche Gesellschaft der Hörbehinderten (2004) [Online]. 30 ‚K. Kern (Hauptabteilungsleiterin, HA Sozialwesen) an Rat des Bezirkes Halle, Stellv. d. Vorsitzenden Herrn Behrmann, 29.7.1958‘: BArch, DQ 1/2213, unpaginiert. 31 Vgl. Werner, ‚Building an Organization According to Our Own Wishes: Deaf Agency in East Germany, 1945 to 1960‘, in Vorbereitung.
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Interesse, wie die vorliegenden Zahlen über vier Jahrzehnte hinweg interpretiert wurden. Es lassen sich interessante Verschiebungen beobachten – weg von einem rein medizinischen Verständnis mit dem Anspruch, Hörschädigung zu heilen und damit verschwinden zu lassen, und hin zu einer stärkeren Akzeptanz hörgeschädigter Menschen innerhalb der Gesamtbevölkerung. Die Anzahl der Hörbehinderten im Gebiet der DDR wurde im Mai 1952 auf insgesamt 12.342 beziffert (nach den fünf Bundesländern aufgeteilt: Brandenburg 1.560, Mecklenburg 1.143, Sachsen-Anhalt 2.537, Thüringen 1.535, Sachsen 5.567). Die Zahlen umfassten die bis dahin mit Hörgeräten versorgten Personen, bzw. beruhten für Sachsen auf der Angabe des Ministeriums für Arbeit (MfA), was die auffallend höhere Zahl mit erklären würde – hier wurden nicht nur Hörgerätträger eingerechnet (also eher schwerhörige Menschen) sondern auch Gebärdensprachnutzer (also Gehörlose).32 Gehörlose Interessensvertreter sprachen im August 1955 in ihrer Petition zur Gründung einer „Organisation der Gehörlosen“ von „20.000 Bürgern in der DDR“, die auf diese Weise „kulturellen und gesellschaftlichen Halt im Sinne unserer fortschrittlichen Arbeiter- und Bauernmacht“ finden sollten.33 Das waren mehr als etwa 0,1 Prozent der DDR-Bevölkerung von ca. 17.83 Millionen im Jahr 1955.34 Ein prozentualer Anteil von etwa 0,1 Prozent scheint weitgehend typisch zu sein. Beispielsweise leben heute in der Bundesrepublik Deutschland etwa 80.000 gehörlose Menschen, was ebenfalls einer gehörlosen Person je 1.000 Einwohner entspricht.35 Es kann vermutet werden, dass der prozentuale Bevölkerungsanteil in der unmittelbaren Nachkriegszeit etwas höher lag als heute, da mehr Menschen durch Kriegsverletzungen am Ohr eine Hörschädigung gehabt haben könnten.36 Auch vermehrt auftretende Infektionskrankheiten aufgrund schlechter Lebensbedingungen und ungenügender medizinscher Versorgung können zu Komplikationen geführt haben, in deren Folge Hörschädigungen auftraten. Tatsächlich war beispielsweise im September 1948 in Sachsen „[l]eider […] ein starkes Anfallen der Gehörgeschädigtenschüler zu beobachten. Die beiden Schulen in Dresden und Leipzig reichen nicht aus. Das Ministerium für Arbeit und Sozialfürsorge der Landesregierung Sachen wird daher versuchen, bis 32 ‚Schmiedecker (Abteilungsleiter, Sozialversicherung Zentralverwaltung, Abt. Leistungen) an Regierung der DDR, Ministerium für Arbeit, 23.5.1952) und Anzahl der Hörbehinderten der DDR Juli 1952‘: BArch, DQ 1/2213, unpaginiert. 33 ‚Werner Lüdde an ZK der SED, Betr.: Organisation der Gehörlosen (Taubstumme und Taube) in der Deutschen Demokratischen Republik, 25.8.1955‘: BArch, DQ 1/3016, unpaginiert. 34 ‚Wohnbevölkerung der Deutschen Demokratischen Republik‘, Statista, Universitäts und Landesbibliothek Sachsen-Anhalt [Online]. 35 Es gibt auch ca. 16 Millionen schwerhörige Menschen in Deutschland. Vgl. ‚Gehörlosigkeit‘, Deutscher Gehörlosen-Bund (DGB) [Online]. 36 Es hat immer wieder Beispiele dafür gegeben, dass der Anteil hörgeschädigter Menschen an der Bevölkerung ansteigen kann. Besonders gut erforscht ist das hohe Vorkommen von Taubheit auf der Insel Martha’s Vinyard an der amerikanischen Ostküste vor der Einrichtung regelmäßigen Fährverkehrs. Vgl. Groce (1985).
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zum 31.3.49 eine weitere Anstalt für Ertaubte im Landkreis Bautzen zu errichten“.37 Inwiefern das tatsächlich umgesetzt wurde, ist hier nicht unbedingt relevant. Die Äußerung korreliert aber mit der Idee eines erhöhten Auftretens von Hörschädigungen in der Nachkriegszeit gerade bei Kindern. Demgegenüber stehen Beobachtungen von Reinhold Dahlmann (1893– 1972). Dahlmann war seit 1927 als ‚Taubstummenoberlehrer‘ tätig gewesen und hatte nach einem berufsbegleitenden Studium 1932 an der Universität Kiel einen Doktortortitel verliehen bekommen. Seit 1947 war er Lehrbeauftragter bzw. Dozent und von 1949 bis 1966 Professor für Sonderschulwesen an der Humboldt-Universität zu Berlin (HU).38 1947 war an der HU in Anknüpfung an Reformbestrebungen aus der Weimarer Republik erstmals eine für alle Gruppen von Sonderpädagogen einheitliche Ausbildung eingerichtet worden; die Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg folgte 1949.39 Wie Eckhard Rohrmann kürzlich argumentierte, gelang es dieser neu institutionalisierten Sonderpädagogik der DDR in den 1960er Jahren, „sich von der medizinischen Dominanz zu befreien und als erziehungswissenschaftliche Disziplin an Universitäten und pädagogischen Hochschulen zu etablieren“.40 Das mag etwas überspitzt ausgedrückt sein, doch lässt sich in der DDR die Bedeutung der Pädagogik generell nicht von der Hand weisen. Für sensorisch, körperlich oder geistig andersartige Schüler eröffnete dieser Glaube an die mögliche Umerziehung des Menschen letztlich Chancen, von mehr Bildung profitieren zu können als in anderen sozio-politischen Kontexten. Dieser Gedanke bedarf weiterer Forschung. Vorstellungen von Taubheit waren in den frühen 1950er Jahren tatsächlich eher medizinisch vom Gedanken einer Heilung bis hin zum Verschwinden der Taubheit motiviert. Dementsprechend ist auch die Aussage Dahlmanns von 1953 im Lehrbuch der Sozialhygiene zu verstehen, dass „[n]ach der durch S c h ü t z veröffentlichten Statistik […] der Anteil der Taubstummen mindestens seit 1880 in fast allen deutschen Ländern stetig“ abgenommen habe.41 Laut Dahlmann bestünde demnach „durchaus die Möglichkeit, daß sich der Prozentsatz der taubstummen Grundschüler z. Z. mit dem der taubstummen Erwachsenen deckt, wenn sich die Abwärtsbewegung trotz des 2. Weltkrieges fortgesetzt haben sollte“.42 Er schlussfolgerte, dass „[w]ährend also die Blindheiten unter den Erwachsenen häufiger auftreten als unter den Kindern, ist
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‚Hausdorf (Oberregierungsrat) an Deutsche Wirtschaftskommission f. d. sowjetische Besatzungszone Berlin, 4.9.1948‘: BArch, DQ 2/3758, unpaginiert. Biografische Informationen zu Dahlmann finden sich in Horn (2003), S. 94–95; vgl. auch Becker/Große (2007), S. 12–13. Bleidick/Ellger-Rüttgardt (2008), S. 197. Ein wichtiger Akteur in Halle war der Sozialhygieniker Karl-Heinz Renker (1921–1982). Vgl. hierzu dessen Personalakte im Universitätsarchiv: UAHW, Rep. 11, PA 26800 (Karl-Heinz Renker). Vgl. auch Becker (1999), S. 47–60. Rohrmann (2017), S. 158. Dahlmann (1953), S. 669–670. Ebd.
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das bei Taubstummen nicht oder nur in geringerem Ausmaße der Fall“.43 Als Gründe für das frühe Auftreten der Taubheit führte er an, „daß eine gewisse Anzahl als vererbt gelten muß“, während „der größte Teil der erworbenen Taubheit als Folge von fieberhaften Erkrankungen auftritt, die typisch für das Kindesalter sind“.44 In dieser Darstellung lässt sich der alte Wunsch erkennen, dass Gehörlosigkeit heilbar sein könne und irgendwann ganz verschwinden möge. Außerdem wirft Dahlmanns Äußerung die Frage auf, inwiefern er selbst in die Zwangssterilisierungen gehörloser Menschen zur Zeit des Nationalsozialismus involviert war.45 Der Wunsch nach einem kontinuierlichen Verschwinden von Taubheit erfüllte sich allerdings auch in der DDR nicht. 1985 schrieb Ernst Liehr (1922– 2011), von 1977 bis 1982 Präsident des GSV der DDR46: „Auch in der DDR gibt es tausende Menschen, die von völliger Stille umgeben sind. In die Hunderttausend geht die Zahl der Bürger, die mehr oder weniger schwerhörig sind“.47 Genaue Zahlen präsentierte er nicht. Dafür ließ er die vage Aussage zu den zahlreichen Hörgeschädigten in der DDR einer kurzen Darstellung der Zahlen hörgeschädigter Menschen weltweit folgen. Sein Beitrag begann mit den Worten: Auf der Welt leben Millionen gehörlose, ertaube oder hochgradig schwerhörige Menschen. Etwa jeder Zehntausendste Erdbewohner wird gehörlos geboren. Neueste Untersuchungen der World Federation of the Deaf (W. F. D.) verstärken die Annahme, daß man derzeit mit ungefähr 70 Millionen hochgradig Hörgeschädigten rechnen muß […] (Stand 1981). Zusätzlich vergrößert sich durch das Ansteigen der durchschnittlichen Lebenserwartung in den meisten Ländern die Zahl der Menschen mit Altersschwerhörigkeit. Dazu kommt das weltweit registrierte Anwachsen der Lärmschwerhörigkeit. Zieht man zusätzlich die nächsten Familienangehörigen und engsten Freunde der durch die Hörschädigung Betroffenen in Betracht, die indirekt beeinflußt werden, kommt man zu erstaunlich hohen Zahlen.48
Statt der Vision einer medizinisch-beherrschbaren, schwindenden Gruppe Gehörgeschädigter präsentierte Liehr in den 1980er Jahren also eine ein43 Ebd., S. 670. 44 Ebd. 45 Ich plane ein Anschlussprojekt zur Aufarbeitung des Nationalsozialsozialismus in der HNO, wobei die Zusammenarbeit mit Gehörlosenpädagogen Berücksichtigung finden wird. 46 Der gehörlose Historiker Hans-Uwe Feige nennt Liehr den „einzigen hörenden Präsidenten“ des GSV. Eigentlich war Liehr wohl schwerhörig und ertaubte schließlich ganz. Er hatte keine Kenntnis der Deutschen Gebärdensprache (DGS). Das ist insofern eine Ironie der Geschichte, als Liehr sich im Gegensatz zu seinem Vorgänger wieder stärker auf die Belange der Gehörlosen konzentrierte, was an erster Stelle ab 1977 eine Zunahme der Akzeptanz von gebärdeter Kommunikation bedeutete, auch wenn damit zu diesem Zeitpunkt eher lautsprachbegleitende bzw. lautsprachunterstützende Gebärden gemeint waren (LBG und LUG) statt einer tatsächlichen Gebärdensprache. Feige (2005), S. 350; vgl. auch Kunze (2013), S. 20–21 sowie ‚Die ostdeutsche Gehörlosenbewegung‘, Deutscher Gehörlosen-Bund (DGB) [Online]. 47 Liehr (1985), S. 241. In dem Lehrbuch ist ‚Liehr‘ konsequent ohne ‚h‘ geschrieben. 48 Ebd. Zur WFD, vgl. Gannon (2011).
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drucksvoll starke Gruppe von Menschen mit Hörschädigung, die inzwischen in einer internationalen Organisation weltweit miteinander vernetzt waren. Das sah nicht nach Aussterben aus sondern eher nach einer beachtenswerten Größe innerhalb der Bevölkerung, die ein Mitspracherecht insbesondere bei Fragen, die sie selbst betrafen, einforderte. Zwischen 1953 und 1985 wandelte sich also die Wahrnehmung von Hörschädigung in der DDR. Damit einher ging ein Wandel in den Anforderungen an die HNO. In den ersten Jahren der DDR beispielsweise stand Dahlmann mit seiner Beobachtung bezüglich der Infektionskrankheiten als Ursache von Hörverlusten im Kindesalter auf dem damals aktuellen Stand der Medizin. Seine Aussage deckt sich mit einer Beobachtung aus dem Jahr 1976, als der Rostocker HNO-Arzt Kurt Dietzel (1912–2002) und Chefredakteur der neugegründeten DDR-Fachzeitschrift HNO-Praxis rückblickend in der dritten Ausgabe dieses Fachblattes schrieb: Bis in die Nachkriegszeit lag der Schwerpunkt des Faches in der Bekämpfung der entzündlichen und infektbedingten Erkrankungen und ihren lebensbedrohlichen Komplikationen. Mit der Einführung der Antibiotika gingen die Infekttherapie und septische Chirurgie des Faches zahlen- und anteilmäßig zurück. Hierdurch bedingt konnte sich die HNO-Heilkunde in größerem Umfang der Diagnostik und Therapie anderer Erkrankungen zuwenden.49
Zwar waren also Infektionskrankheiten zurückgegangen, doch waren, wie sich aus Liehrs Aussage von 1985 schließen lässt, neue Ursachen der Taubheit hinzugekommen (Lärmschwerhörigkeit) bzw. waren andere angewachsen (Altersschwerhörigkeit). Lärmschwerhörigkeit wurde seit den 1960er Jahren intensiv in der DDR erforscht, was im Einklang stand mit dem eingangs erwähnten Bestreben einer (Wieder-)Eingliederung hörgeschädigter Menschen in die Arbeitswelt. Hans Georg Dieroff (1922–2009) aus Jena publizierte 1963 in der deutsch-deutschen Zwanglosen Schriftenreihe zur Hals-, Nasen-, Ohrenheilkunde eine Studie zur Lärmschwerhörigkeit in der Industrie.50 Dieroff hatte zwischen 1958 und 1962 bereits sieben Artikel hierzu im westdeutschen Archiv für Ohrenheilkunde veröffentlicht. Das war unumgänglich, da es zu diesem Zeitpunkt noch keine DDR-Fachzeitschrift der HNO gab. Gleichzeitig verdeutlicht es aber auch, wie vergleichsweise intensiv der fachlich-medizinische Austausch über den Eisernen Vorhang hinweg war. So überrascht es nicht, dass Dieroff 1975 mit einem Beitrag des Dresdener Akustikers Walter Reichhardt (1903–1985) in Leipzig und, in Lizenzausgabe, in München einen Leitfaden der Lärmhörschadenverhütung in der Industrie publizierte, der 1978 in einer durchgesehenen zweiten und 1994 in einer völlig überarbeiteten und erweiterten Auflage neu erschien.51 Forschungen aus der DDR zur Lärmbelastung in der Industrie wurden somit auch in Expertenkreisen im Westen rezipiert. 49 Dietzel (1976), S. 219. 50 Dieroff (1963). 51 Dieroff/Reichardt (Leipzig: Barth, 1975), Lizenzausgabe Dieroff/Reichardt (München: Urban & Schwarzenberg, 1975); 2. durchgesehen Aufl.: Dieroff/Reichardt (Leipzig: Barth, 1978); 3., völlig überarb. und erw. Aufl. Dieroff/Beck ( Jena [etc.]: Fischer, 1994).
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Die Fokussierung auf die Rehabilitation hörgeschädigter Menschen zur (Wieder-)Eingliederung in den Arbeitsmarkt erweckte auch in der DDR ein in Interesse an Cochlea Implantaten (CIs). Diese waren zwischen 1958 und 1961 erstmals erfolgreich in Frankreich und den USA entwickelt und implantiert worden.52 Seither verfolgte man auch in der DDR die Cochlea-Forschung, u. a. an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg.53 Seit Mitte der 1970er Jahre fanden CIs in der westlichen Welt als tatsächlich nutzbringend zur Überwindung des durch Schädigung des Innenohrs verursachten Hörverlusts in medizinischen Kreisen Anerkennung. So fertigte das National Institute of Health (USA) zwischen 1975 und 1977 einen Bericht zur Wirksamkeit von CIs an, der benannt nach einem der Autoren, Robert Bilger (1926–2002), auch als ‚Bilger Report‘ bekannt wurde. Dabei handelte es sich um die erste unabhängige Studie, die die Wirksamkeit von CIs für die Lautsprachnutzung hörgeschädigter Menschen bestätigte.54 Ende 1985 wurden an der Charité der HU in Berlin die ersten beiden DDR-Bürger mit einem funktionierenden CI aus eigener Produktion versorgt.55 Zum Vergleich sei angeführt, dass in der Bundesrepublik Deutschland seit 1982 implantiert wurde.56 Es folgten optimistische Prognosen. In einem Artikel in der populärwissenschaftlichen DDR-Zeitschrift Deine Gesundheit, der etwas später auch im Publikationsorgan des GSV in gekürzter Form abgedruckt wurde, schwärmte die Autorin, dass möglicherweise bereits ab 1990 die etwa 2.000 bis 4.000 DDR-Bürger mit Innenohrschädigungen in verschiedenen Kliniken des Landes mit ausreichend selbst produzierten CIs versorgt werden könnten. Auch die eventuelle Versorgung gehörloser Kleinkinder mit dem Ersatzgehör nahm man bereits in den Blick.57 Allerdings finden sich nach 1988 keine weiteren Hinweise auf eine DDR-eigene CI-Produktion. Die Angelegenheit wird angesichts der prekären ökonomischen Lage des Landes ad Acta gelegt worden sein. Schon 1986 wurden im Artikel in Deine Gesundheit die wirtschaftlichen Herausforderungen angedeutet. So schrieb die Autorin damals, dass die „Fahndung nach geeignetem Implantatmaterial inländischer Produktion […] überraschend schnell zum Erfolg“ geführt hätte.58 Spätere biografische Darstellungen der Akteure mit Verweisen auf die schwierigen Arbeitsbedingungen in der DDR-Medizin der 1980er Jahre deuten dies ebenfalls an.59 52 Seitz (2002), S. 77–86; House (2013). 53 Dies beschreibe ich ausführlicher in meinem laufenden Buchprojekt. Einige Informationen gerade zur Vorgeschichte des DDR-CI in Halle finden sich in Werner (2016), S. 181– 200. 54 Bilger/Black/Hopkinson (1977), S. 21–24; Hopkinson/Bilger/Black (1977), S. 40–48; Bilger/Black/Hopkinson/Myers (1977), S. 677–682. 55 Fischer (1986), S. 377. 56 Vgl. ‚Schnecke gereizt. Ärzte und Akustiker haben am Marien-Hospital in Düren eine elektronische Hörhilfe für das Innenohr entwickelt‘, Der Spiegel (1982), S. 177–189. 57 Fischer (1986), S. 380. Gekürzter Abdruck, vgl. Fischer (1987), S. 28–31. 58 Fischer (1986), S. 377. 59 Fleischer/Naumann (1996), S. 25.
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Wahrnehmungen hörgeschädigter Menschen bei staatlichen Stellen Auch für hörgeschädigte Menschen spielte der Aufstand vom 17. Juni 1953 eine wichtige Rolle. So wurde die Forderung gehörloser Aktivisten nach einer Interessensvertretung seit 1953 von staatlichen Stellen sehr ernst genommen, zumal die Gruppe gehörgeschädigter DDR-Bürger offenbar groß genug war, um als potenzielle Facharbeiter ins Gewicht zu fallen.60 Schon im November 1952 war festgestellt worden, dass es zu den „Grundaufgaben […] bei der Betreuung der Gehörgeschädigten“ zählte, „sie nicht abseits stehen zu lassen, sondern sie einzubeziehen in den Kampf aller Werktätigen unserer Deutschen Demokratischen Republik“.61 Diese Linie wurde auch innerhalb der Sonderpädagogik verfolgt. So findet sich in einem fachspezifischen Grundsatzpapier etwa Mitte der 1950er Jahre die Forderung, auch „gehörlosen Menschen […] begeistert am Aufbau des sozialistischen Vaterlandes teilnehmen“ zu lassen.62 Dahinter verbarg sich im Zeichen der Massenflucht von DDR-Bürgern die Notwendigkeit, gehörlose Facharbeiter auszubilden und an die DDR zu binden. Im Laufe der 1950er Jahre wurde dementsprechend die Gehörlosenbildung stark ausgebaut und eine breite Ausbildung geschaffen, die patriotische Elemente enthielt: Man wollte Gehörlose auch im ideellen Sinn an ihr Land binden und von einer Flucht in den Westen abhalten.63 Da Hörschädigung kein rein medizinisches Problem ist, ist eine Zusammenarbeit verschiedener Expertengruppen im Umgang damit notwendig. In der DDR war darüber hinaus die zentral gelenkte politische Ebene von Bedeutung, auf der bemerkenswerter Weise zu Beginn der 1950er Jahre festgehalten wurde, dass sowohl gehörlose als auch schwerhörige Menschen auch in kultureller Hinsicht besondere Bedürfnisse hätten. D. h., man verstand, dass selbst eine Hörhilfen nutzende, lautsprachlich kommunizierende Person einen anderen Status in der Lautsprachkultur hat als eine ‚normalhörende‘64: „Ein Gehörgeschädigter ist zwar, dank der technischen Hilfsmittel, wie z. B. Hörapparate und Abhöranlagen [d. h. Hörgeräte und Vielhöranlagen], besser gestellt als ein Taubstummer, aber auch er bedarf einer besonderen Betreuung, um ihn an unser gesellschaftliches und kulturelles Leben heranzuführen“.65 Wei60 Werner/Wiethoff (2019), S. 191–233; vgl. auch Werner, ‚Building an Organization According to Our Own Wishes: Deaf Agency in East Germany, 1945 to 1960‘, in Vorbereitung. 61 ‚Vorlage für die Kollegiumssitzung am 14.11.1952. Betr.: Betreuung der Gehörgeschädigten, 11.11.1952‘: BArch, DQ 1/2213, unpaginiert. 62 ‚Empfehlungen des Deutschen Pädagogischen Zentralinstituts zur Arbeit der Gehörlosenschulen mit dem zur Zeit gültigen Lehrplanentwurf bis zur endgültigen Einführung eines Lehrplans (ca. 1955)‘: BBF/DIPF/Archiv, DPZI 1140. 63 Zum ‚patriotischen Element‘, vgl. Werner (2015). 64 Um Verwechslungen zu vermeiden, sollte man hörgeschädigte Menschen mit Implantaten und Hörgeräten nicht als ‚normalhörend‘ sondern als ‚andershörig‘ bezeichnen, da sich ihre Hörerfahrung von der der Hörenden unterscheidet. Vgl. hierzu Werner (2018), S. 193–210. 65 ‚Vorlage für die Kollegiumssitzung am 14.11.1952. Betr.: Betreuung der Gehörgeschädigten, 11.11.1952‘: BArch, DQ 1/2213, unpaginiert.
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terhin hieß es (wobei ‚gehörgeschädigt‘ jetzt als Bezeichnung für Gehörlose bzw. generisch und nicht mehr ausschließlich für Schwerhörige verwendet wurde wie in dem eben erwähnten ersten Teil des Zitats): Eine besondere Betreuung der Gehörgeschädigten ist deswegen notwendig, weil ein Gehörloser oder Taubstummer außer dem Studium von Schriftmaterial an sonstigen gesellschaftlichen und kulturellen Veranstaltungen in unserer Republik, wie z. B. Massenveranstaltungen, Vorträgen, Rundfunksendungen, Filmen und Theatern keinen Anteil hat und deshalb im Gegensatz zu der übrigen Bevölkerung abseits von allen interessierenden Fragen steht. Auch das Studium von Schriftmaterial ist oft nicht möglich, da die Taubstummen zum Teil nicht über den gesamten Sprachschatz verfügen und ihnen der Inhalt daher nicht verständlich wird.66
Diese Sensibilität für die unterschiedlichen kulturellen und kommunikativen Bedürfnisse von Hörgeschädigten war letztlich weniger einer Überzeugung von – aus heutiger Sicht – ‚Barrierefreiheit‘ geschuldet, sondern entstand aus der erwähnten Notwendigkeit, auch diese Menschen mit sprachlicher Propaganda zu erreichen, um sie in den Aufbau des Sozialismus einbinden zu können. Gleichzeitig ist es bemerkenswert, dass selbst schwerhörigen Menschen wenigstens andeutungsweise besondere gesellschaftliche und kulturelle Bedürfnisse zugestanden wurden. Eine gewisse Vorsicht ist bei dieser Interpretation dennoch geboten. Vor diesem Hintergrund verschwimmender Definitionen ohne klare medizinische Deutungshoheit überrascht es nicht, dass Ende 1952 an erster Stelle das Ministerium für Arbeit (MfA) – und nicht das Ministerium für Gesundheitswesen (MfG) – in die Betreuung der Hörgeschädigten eingebunden wurde: Im MfA sollte als beratendes Organ des Hauptreferates Sozialfürsorge ein Beirat für Fragen der Gehörgeschädigten gebildet werden: Der Beirat setzt sich zusammen aus je einem Vertreter des Ministeriums für Volksbildung, des Staatssekretariats für Berufsausbildung, der Abteilung Arbeitskraftlenkung des Ministeriums für Arbeit, der Generalverwaltung der Sozialversicherung, einem Lehrer einer Schule für Gehörgeschädigte und 3 berufstätigen Gehörgeschädigten, von denen einer in einem Produktionsbetrieb und einer in einer Verwaltung arbeitet. Den Vorsitz führt der Hauptreferent für Sozialfürsorge.67
Das MfG bzw. die medizinische Betreuung wurden bei dieser frühen Annäherung an Hörschädigung auf staatlicher Ebene nicht berücksichtigt. Das Hauptaugenmerk lag auf der Sozialfürsorge, insbesondere der Verwertung der Arbeitskraft hörgeschädigter DDR-Bürger.68 Wenngleich dies einer Notwendigkeit geschuldet war, so brachte es aber auch eine Aufwertung der Rolle gehörloser Menschen innerhalb der Gesellschaft mit sich, die sie eben nicht ausschließlich auf ihre Behinderung reduzierte. Dies entsprach Forderungen der
66 Ebd. 67 Ebd. 68 Vgl. hierzu Werner (2015); Poore (2007); Wiethoff (2017); Scharf/Schlund/Stoll (2019). Vgl. außerdem die Publikationen von Boldorf zur ‚Rehabilitation und Hilfen für Behinderte‘ in der DDR zwischen 1949 und 1989, Boldorf (2004, 2006 und 2008).
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Gehörlosengemeinschaft, die sie bereits vor der Zeit des Nationalsozialismus gestellt hatten.69 Hörgeschädigte Menschen waren seit Beginn der 1950er Jahre selbst aktiv, um sich eine überregionale Interessensvertretung für ihre speziellen Bedürfnisse zu schaffen. Insbesondere Gehörlose waren hier sehr engagiert. Indem sie sich immer wieder an die zuständigen DDR-Behörden wandten, übten sie Druck ‚von unten‘ auf die Staatsmacht aus.70 Diese wiederum musste feststellen, dass „keine zentrale Anleitung in diesem Aufgabengebiet vorhanden“ sei.71 1952 wurden schließlich fünf Aufgaben für die Betreuung festgestellt, nämlich: a) b) c) d) e)
Ausarbeitung von Grundsätzen über die Einbeziehung aller Gehörgeschädigten in den Produktionsprozeß, Ausarbeitung von Grundsätzen über die besondere soziale und kulturelle Betreuung der Gehörgeschädigten, Vorschläge über die Bildung von Zirkeln, in denen politische, kulturelle und fachliche Fragen in der Zeichensprache behandelt werden, Einflußnahme auf die Forschung von besonderen Hilfsmitteln für die Gehörgeschädigten und die Schaffung von Abhöranlagen Koordinierung der Arbeit mit den zuständigen Fachministerien und Staatssekretariaten, denen die schulische und berufliche Ausbildung der Gehörgeschädigten obliegt.72
An erster Stelle stand somit die bereits erwähnte Notwendigkeit, die Arbeitskraft hörgeschädigter Menschen auszunutzen. Interessant ist darüber hinaus der Verweis auf ‚Zeichensprache‘ – ein Begriff, der als Bezeichnung für die Gebärdensprachen gehörloser Menschen heute unüblich ist. Dieser Verweis auf eine eigene Gebärdensprache kommt einer Anerkennung der Bedeutung dieser für hörgeschädigte Menschen gleich. Ebenso bemerkenswert ist die Feststellung, dass man sowohl eine Auseinandersetzung mit Gebärdensprache brauche als auch ‚Abhöranlagen‘ für jene, die lautsprachlich in die hörende Mehrheitsgesellschaft integriert sind (gemeint sind vermutlich Vielhöranlagen, z. B. zur Verstärkung der individuellen Höreindrücke einzelner Schüler und Schülerinnen mit Hörgeräten in Klassenzimmern). Drei Jahre später, im Juli 1955, sah das anders aus. Inzwischen war beschlossen worden, Schwerhörigen-Beratungsstellen zu gründen, zu deren Aufgabe „die Betreuung und Versorgung von Kindern und Jugendlichen von 0–18 Jahren mit Schädigungen des Hörvermögens“ zählte.73 Das Ziel war es, „eine vorzeitige Invalidität möglichst zu verhüten und bei teilweisem oder völ69 Es sei auf den Film Verkannte Menschen: Ein Film aus dem Leben der Gehörlosen von 1932 verwiesen. Kell (1932). 70 ‚Vorlage für die Kollegiumssitzung am 14.11.1952. Betr.: Betreuung der Gehörgeschädigten, 11.11.1952‘: BArch, DQ 1/2213, unpaginiert; Werner/Wiethoff (2019); vgl. auch Werner, ‚Building an Organization According to Our Own Wishes: Deaf Agency in East Germany, 1945 to 1960‘, in Vorbereitung. 71 Ebd. 72 Ebd. 73 ‚Dr. Schiele-Farber (MfG), Entwurf. Einrichtung von Schwerhörigen-Beratungsstellen, 14.7.1955‘: BArch Berlin, DQ 1/2213, unpaginiert.
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ligem Hörverlust die Einbeziehung in den Arbeitsprozeß bzw. in das Leben der Gesellschaft zu ermöglichen“.74 Die Schwerhörigen-Beratungsstellen sollten „an den Fachkliniken der Universitäten und Akademien sowie an Fachabteilungen der Einrichtungen des staatlichen Gesundheitswesens in den Bezirken der DDR, wo Universitätskliniken und Akademien nicht vorhanden sind“ eingerichtet werden.75 Anders gesagt, „[d]ie Tätigkeit in den SchwerhörigenBeratungsstellen fällt in das Aufgabengebiet der im staatlichen Gesundheitswesen tätigen Fachärzte und wird auf die Arbeitszeit angerechnet“.76 Zwar stand also weiterhin die Arbeitskraft der Gehörlosen im Vordergrund, doch wurde nun verstärkt medizinisch argumentiert und auf Früherkennung gesetzt, wobei indirekt auch die Thematik der Prophylaxe angesprochen war.77 Die Medizin kam ins Spiel, um Probleme, die eine Einschränkung bzw. zusätzliche Herausforderungen für den Arbeitsmarkt darstellen könnten, entweder so früh wie möglich zu erkennen oder aber durch Präventionsmaßnahmen von vornherein zu verhindern.78 Damit einher ging die Erkenntnis, dass es auch bezüglich der Altersstruktur unterschiedliche hörgeschädigte Interessensgruppen gibt: Neben den (arbeitenden) gehörlosen Erwachsenen die Gruppe hörgeschädigter Kinder und Jugendliche. Darauf wird im Folgenden zurückzukommen sein. Im Zuge eines aufkommenden medizinischen Einflusses im Umgang mit Hörschädigung in der DDR wurde im Lauf der 1950er Jahre stärker zwischen verschiedenen Formen von Hörschädigung differenziert. 1960 waren es offenbar nur noch die Gehörlosen, denen Schwierigkeiten an der Teilnahme am kulturellen Leben bescheinigt wurden, nicht jedoch die Schwerhörigen: Zwar wiesen schwerhörige Menschen weiterhin auch auf ihre kulturellen Bedürfnisse hin, wie der „Schwerhörige Radtke“, der in einer Sitzung hervorhob, wie „unbedingt notwendig“ noch immer „vor allen Dingen spezielle kulturelle Betreuung der Schwerhörigen“ sei, die er auch als „Heranführung an die Gesellschaft“ erachtete, zumal einige „sich vereinsamt“ fühlten und „unter seelischer Depression“ litten.79 Dennoch wurde auf derselben Sitzung resümiert, dass der „Personenkreis der Gehörlosen […] nicht den Schwerhörigen gleichgesetzt werden [könne]. Unter den gehörlosen Menschen gibt es auf Grund der Gehörlosigkeit objektive Schwierigkeiten hinsichtlich der Teilnahme am gesellschaftlichen Leben und der kulturellen Betreuung“.80 Die DDR-Nomen74 75 76 77 78
Ebd. Ebd. Ebd. Zur Rolle der Prophylaxe in der DDR, vgl. Linek (2016). In meinem laufenden Buchprojekt zu Expertendiskursen über Taubheit im geteilten Deutschland unter Einbeziehung der Perspektiven gehörloser Menschen wird die Auseinandersetzung von Otologen und Gehörlosenpädagogen mit Früherkennung von Hörschädigung ausführlich diskutiert. 79 ‚Niederschrift über die am 17.5.1960 im Ministerium für Gesundheitswesen durchgeführte Tagung über Probleme der Schwerhörigenbetreuung, Berlin, 19.5.1960‘: BArch, DQ 1/24081, unpaginiert. 80 Ebd.
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klatur definierte schwerhörige Menschen inzwischen also klar als separate Gruppe. Mehr noch, sie wurden medizinisch als Patienten kategorisiert, während man (gebärdensprachlich) gehörlosen Personen zugestand, tatsächlich eine eigenständige sprachlich-kulturelle Gemeinschaft zu bilden. Schwerhörige Menschen ließen sich im Gegensatz zu gehörlosen mit von Ärzten verschriebenen, technischen Hilfsmitteln therapieren und somit angeblich vergleichsweise unproblematisch sowohl gesellschaftlich als auch arbeitstechnisch in die Welt der Hörenden integrieren. Diese Unterscheidung oder eher Hierarchisierung von ‚schwerhörig‘ und ‚gehörlos‘ wurde schon im Kinder- und Jugendalter vorgenommen.81 Gehörlose und schwerhörige Menschen in einem Verband – Entwicklungslinien In der unmittelbaren Nachkriegszeit und frühen DDR operierten verschiedene Hörgeschädigtengruppen auf lokaler Ebene. Die Mitglieder halfen sich gegenseitig im Alltag und organisierten auf ihre Bedürfnisse zugeschnittene kulturelle und soziale Veranstaltungen.82 Aus diesen Initiativen kam es vor allem auf der Suche nach finanzieller Unterstützung zu Kontakten mit Behörden. Die Verbandsarbeit der gehörlosen Erwachsenen entstand letztlich an erster Stelle aus praktischen Bedürfnissen, was zu diesem Zeitpunkt nicht explizit die Bedürfnisse gehörloser Kinder betraf, die oft selbst aus hörenden Familien stammzen und somit zumindest anfangs fern der erwachsenen Gehörlosenkultur aufwuchsen. Auf diese unterschiedlichen Konstellationen im Detail einzugehen, würde den Rahmen dieses Aufsatzes sprengen. Es muss jedoch Erwähnung finden, dass es neben den im Folgenden im Mittelpunkt stehenden hörgeschädigten Erwachsenengruppen auch Kinder gab. Deren Stellung in der DDR ist längst noch nicht erschöpfend erforscht worden. Im Frühjahr 1957 wurde in Halle (Saale) der Allgemeine Deutsche Gehörlosen-Verband (ADGV) gegründet, dessen erster Präsident bis 1960 Günter Wöller (1922–2005, gehörlos) war.83 Schwerhörige DDR-Bürger hatten keinen eigenen Verband, konnten sich aber seit 1961 im ADGV organisieren.84 81
Unter den Akten zur HNO-Klinik im Universitätsarchiv der HU zu Berlin findet sich u. a. eine Akte zur ‚Entwicklung, Verbesserung und therap. Anwendung von Hörhilfen vor allem bei hörgeschädigten Kindern, 1960 bis 1969‘, die wenigstens bis 1973 geht, UA HU Berlin, 038005, 038005. 82 Werner/Wiethoff (2019); vgl. auch Werner, ‚Building an Organization According to Our Own Wishes: Deaf Agency in East Germany, 1945 to 1960‘, in Vorbereitung. 83 ‚Begründung des Präsidiums für die Abberufung des jetzigen Präsidenten Günter Wöller, Schreibmaschinendurchschlag, ohne Datum sowie Wöller (Präsident Allgemeiner Deutscher Gehörlosen-Verband Zentralvorstand) an Bezirksvorstände und Geschäftsleiter (innen), 20.1.1960‘: BArch, DQ 1/23906, unpaginiert. Zur Gründung und Entwicklung des ADGV und seiner Nachfolgeorganisation, vgl. auch Feige (2005), S. 344–351. 84 ‚Schliebenow (Präsident ADGV) an Werte Kollegen, 6.5.1961‘: BArch, DQ 1/23906, unpaginiert; als Infoblatt zu Schwerhörigengruppen im ADGV: ‚Wußten Sie schon?,
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1974 wurde dieser in Gehörlosen- und Schwerhörigen-Verband der DDR (GSV) umbenannt. Es gab spezielle Schwerhörigen-Arbeitsgruppen.85 Ab der Ausgabe 7a im Jahr 1974 hieß das Publikationsorgan des Verbands dann auch nicht mehr DGZ (Deutsche Gehörlosen Zeitschrift – nicht zu verwechseln mit der Deutschen Gehörlosen Zeitung der Bundesrepublik Deutschland, ebenfalls DGZ abgekürzt) sondern gemeinsam.86 Es war keine Selbstverständlichkeit, dass es in der DDR überhaupt Interessensvertretungen für Hörgeschädigte (und Blinde) – und damit für spezifische ‚Patientengruppen‘ – gab.87 Beispielsweise beschreibt Maximilian H. Maurer die erfolglosen Bemühungen von Waldemar Remde in der DDR Patienten in die Sektion Hämophilie unter dem Dachverband der Gesellschaft für Hämatologie und Bluttransfusion der DDR einzubeziehen.88 In der DDR waren andere Hürden vor der Verbandsgründung zu überwinden als in der Bundesrepublik Deutschland – so stellte sich auf staatlicher Seite an erster Stelle die Frage, wie notwendig ein Interessensverband überhaupt sei, und ob nicht Zusammenschlüsse mit anderen „Geschädigtengruppen“ überlegenswert wären.89 Gegründet wurde der ADGV nicht zuletzt aufgrund der Tatsache, dass gehörlose Aktivisten sich rege dafür engagiert hatten. Sie wollten einen Verband und eine Zeitschrift, um ein Forum für kulturelle Aktivitäten sowie zur Informationsvermittlung zu haben. Wie sie dabei immer wieder klarstellten, hatten (und haben) gebärdensprachlich gehörlose Menschen andere sprachliche Bedürfnisse als hörende. Sie argumentierten in Briefen an verschiedene Ministerien, dass sie den kulturellen Aktivitäten Hörender auch mit Hilfsmitteln wie Hörgeräten nur sehr bedingt oder gar nicht folgen könnten. Das bedeute auch, dass ihre Schriftsprachkompetenz geringer sei als die der Hörenden. Gehörlose Menschen benötigen daher Gebärdensprachräume, in denen sie sich in ihrem natürlichen Kommunikationsmittel austauschen können, sowie Publikationen in einfacher Sprache, über die sie Vorgänge in der hörenden Gesellschaft verfolgen und kommentieren können.90
85 86 87 88 89 90
Drucksache‘: BArch, DQ 1/23907, unpaginiert; weiteres Infoblatt: ‚Schliebenow (Präsident ADGV), Aufruf an alle schwerhörigen Bürger der deutschen Demokratischen Republik‘: BArch, DQ 1/24081, unpaginiert. ‚Der Gehörlosen- und Schwerhörigen-Verband der DDR ein aktiver Mitgestalter der sozialistischen Gesellschaft! Unser Bekenntnis zum Staat muß uns Auftrag sein‘, Deutsche Gehörlosen-Zeitung [BRD] 18 (1974), S. 2–3. Die Umbenennung in Gehörlosen- und Schwerhörigen-Verband der DDR wurde von westdeutschen Gehörlosen in ihrer Verbandszeitschrift kommentiert. Haas (1974), S. 49– 50. Werner/Wiethoff (2019), vgl. auch Werner, ‚Building an Organization According to Our Own Wishes: Deaf Agency in East Germany, 1945 to 1960‘, in Vorbereitung. Maurer (2001), S. 50. Zum Arztrecht und Patientenschutz in der DDR vgl. Günther (2010), S. 86–93; Günther (1990), S. 161–167. Werner/Wiethoff (2019), vgl. auch Werner, ‚Building an Organization According to Our Own Wishes: Deaf Agency in East Germany, 1945 to 1960‘, in Vorbereitung. Ebd.
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Die Repräsentation von schwerhörigen und gehörlosen Menschen in einem Verband war aufgrund ihrer unterschiedlichen Interessen nicht unproblematisch. Auch war diese Erkenntnis nicht neu. Bereits vor der Gründung der DDR hatte es Schwierigkeiten gegeben, beide Gruppen zusammenzubringen. Aus der Landesregierung Sachsen wurde beispielsweise im September 1948 an die Deutsche Wirtschaftskommission für die Sowjetische Besatzungszone (SBZ) in Berlin gemeldet, dass es „außerordentlich schwer“ sei, „geeignete Gehörgeschädigte zur Mitarbeit zu gewinnen“, da es eine „Schwierigkeit“, darstelle, „die beiden Gruppen (Schwerhörige und Ertaubte) auf eine Linie zusammen zu führen“.91 Darüber hinaus stellte sich für die Mitarbeiter in den Ministerien die Frage, inwiefern sich schwerhörige Menschen an erster Stelle der DDR oder doch eher der Gruppe der Schwerhörigen verpflichtet fühlten. Bei den Gehörlosen schien das klar zu sein.92 Nicht zuletzt hatten die Gehörlosen 1957 auch deswegen einen eigenständigen Verband zugestanden bekommen, weil man auf ministerieller Ebene, „der Meinung [ist], daß wir ausreichend fortschrittliche und qualifizierte Genossen und Kollegen haben, die die Organisation im Sinne unserer Partei und Regierung lenken und leiten würden. Sie wäre ein positives Mittel zur Bewußtseinsbildung der zu betreuenden Schwerbeschädigten“.93 Demgegenüber wurde 1955 betont, dass die schwerhörigen Leipziger Aktivisten in der Schwerhörigenbetreuung der Abteilung Sozialwesen fast alle „früher Mitglieder der ehemaligen Schwerhörigen-Organisation waren“.94 Zwar könne man die Leipziger Schwerhörigenarbeit als Vorbild für die Republik ansehen.95 Dennoch stand die unausgesprochen Sorge im Raum, inwiefern die Leipziger Schwerhörigen der Republik verbunden waren, zumal sie überdurchschnittlich gut mit Hörgeräten aus westlicher Produktion versorgt waren.96 Vor der Eingliederung Schwerhöriger in den ADGV hatte es Überlegungen zu einem eigenen, zentralisierten Verband gegeben. Es ist zu diesem Zeitpunkt nicht klar, wann genau schwerhörige Aktivisten damit begannen, sich dafür einzusetzen. Sichtbar werden dies Bemühungen nach aktuellem Forschungsstand erst nach der Gründung des ADGV. Als ein Beispiel sei ein Schreiben vom Juli 1958 genannt, das vom stellvertretenden Vorsitzenden des Rates des Bezirkes Halle an Käthe Kern im MfG verschickt wurde. Der Brief91 92 93 94 95 96
‚Hausdorf (Oberregierungsrat) an Deutsche Wirtschaftskommission f. d. sowjetische Bestzungszone Berlin, 4.9.1948‘; BArch, DQ 2/3758, unpaginiert. Claire Shaw hat kürzlich die Frage nach der Identität hörgeschädigter Menschen zwischen Loyalität zum Sozialismus bzw. zur internationalen Gehörlosengemeinschaft für die Sowjetunion untersucht: Shaw (2017). ‚Richter, Abteilungsleiter, Abt. Sozialfürsorge, Ministerium für Arbeit und Berufsausbildung, an das Ministerium des Innern, Sekretariat des Ministers, 27.2.1956‘: BArch, DQ 1/3016, unpaginiert. ‚Knabe, Aktenvermerk, Berlin, 27.12.1955‘: BArch, DQ 1/2213, unpaginiert. ‚Behrmann (Stellvertretender Vorsitzender), Rat des Bezirkes Halle an Käthe Kern (HA Sozialwesen, Ministerium für Gesundheitswesen, 18.7.1958‘: BArch, DQ 1/2213, unpaginiert. ‚Knabe, Aktenvermerk, Berlin, 27.12.1955‘: BArch, DQ 1/2213, unpaginiert.
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schreiber bemerkte darin, dass „die Schwerhörigen der Stadt Halle, die in einem Aktiv für Schwerhörige und Ertaubte beim Rat der Stadt Halle zusammengefaßt sind“ sich „[s]eit längerer Zeit bemühen“ würden, „eine generelle Verbesserung in der Betreuung zu erreichen“.97 Nicht unterstützen würde er „Bemühungen […] auf Bildung eines besonderen Schwerhörigenverbandes“.98 Kern reagierte noch im Juli 1958 mit einer dreiseitigen Stellungnahme. „Was die Bildung eines Schwerhörigenverbandes anbelangt“, teilte Kern „vollends“ die Auffassung, „dass es nicht im Interesse unserer gesellschaftlichen Entwicklung liegen kann, für jede Schwerbeschädigtengruppe eine Organisation zu bilden“.99 Allerdings war zu diesem Zeitpunkt noch nicht entschieden, „[i]nwieweit es zweckmässig erscheint, die Schwerhörigen in den Gehörlosenverband, evtl. Gehörgeschädigtenverband, einzubeziehen“.100 Dieser Gedanke sei „nicht neu und wird gegenwärtig diskutiert. Dabei bitte ich zu bedenken, dass es sich um grundsätzlich verschiedene Kategorien handelt. Die Interessen und auch die Mentalität dieser Gruppen sind prinzipiell andere“.101 Schwerhörige Menschen selbst waren sich nicht einig, wie ihre Interessen am besten zu vertreten seien. So sind einer im Mai 1960 im MfG durchgeführten Tagung über Probleme der Schwerhörigenbetreuung verschiedene Standpunkte zu entnehmen. Beispielsweise müsse nach der Meinung des „Schwerhörige[n] Sonntag“, die „Einbeziehung der Schwerhörigen in den umzubildenden Gehörgeschädigten-Verband möglich sein. Allerdings dürfte es nicht leicht sein, die gehörlosen Freunde davon zu überzeugen. Er zählte eine ganze Reihe von Schwierigkeiten auf und beklagte sich über Kadermangel“.102 Der „Schwerhörige Fischer“ wies wiederum „darauf hin, dass mit der Entwicklung der modernen Technik und damit der Verbesserung der Hörhilfen bei den Schwerhörigen kaum der Wunsch bestehen wird, sich einer Organisation anzuschließen. Seine Vorstellungen tendierten – zwar nicht ausgesprochen – zum speziellen Schwerhörigen-Verband. Eine klare Stellungnahme war nicht zu erkennen“.103 Der „Schwerhörige Reidel“ plädierte schließlich „nach wie vor für spezielle Schwerhörigen-Ausschüsse bei den Räten der Kreise“.104 Dieser Austausch zeigt, dass staatliche Stellen durchaus bereit waren, die Standpunkte verschiedener Schwerhöriger anzuhören. Am Ende lief es dennoch auf die intern von Funktionären in den Ministerien befürwortete Lösung 97 98 99 100 101 102 103 104
‚Behrmann (Stellvertretender Vorsitzender), Rat des Bezirkes Halle an Käthe Kern (HA Sozialwesen, Ministerium für Gesundheitswesen, 18.7.1958‘: BArch, DQ 1/2213, unpaginiert. Ebd. ‚K. Kern (Hauptabteilungsleiterin, HA Sozialwesen) an Rat des Bezirkes Halle, Stellv. d. Vorsitzenden Herrn Behrmann, 29.7.1958‘: BArch, DQ 1/2213, unpaginiert. Ebd. Ebd. ‚Niederschrift über die am 17.5.1960 im Ministerium für Gesundheitswesen durchgeführte Tagung über Probleme der Schwerhörigenbetreuung, 19.5.1960‘: BArch, DQ 1/24081, unpaginiert. Ebd. Ebd.
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eines gemeinsamen Verbandes aller Hörgeschädigten mit einer Schwerhörigen-Sektion hinaus. 1960 waren alle Bedenken von hörenden Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen in den zuständigen Abteilungen der Ministerien ad Acta gelegt. Helmut Pielasch (1917–1986)105 führte aus: „Obwohl es sich um zwei verschiedene Kategorien handelt, dürfte eine Zusammenarbeit innerhalb einer Organisation den leitenden Organen (Zentralvorstand, Bezirks- Kreisvorstand) ohne weiteres möglich sein. […] Die Betreuung der Schwerhörigen bzw. der Gehörlosen müsste in getrennten Gruppen erfolgen“.106 Pielasch war Hauptreferent in der Abteilung Sozialfürsorge im Ministerium für Arbeit und Berufsausbildung. Er war 1941 infolge einer Kriegsverletzung erblindet und daher außerdem von 1957 bis zu seinem Tode 1986 Präsident des Allgemeinen Deutschen Blindenverbands (ADBV) der DDR.107 Am 6. Mai 1961 wurde in einem Rundschreiben des Zentralvorstandes des ADGV an seine Bezirksorganisationen zum Thema „Einbeziehung der Schwerhörigen in unseren Verband“ gemeldet: „Gemäß dem Beschluß des Zentralvorstandes vom 2.10.1960 ist unseren schwerhörigen Freunden die Möglichkeit gegeben, Mitglied unserer Organisation zu werden. Als Schwerhörige im Sinne dieses Beschlusses sind Gehörgeschädigte anzusehen, die auf Grund eines ärztlichen Gutachtens auf einen Hörapparat angewiesen sind“.108 Weiterhin wurde darüber informiert, dass innerhalb der den Bezirksorganisationen untergeordneten Kreisorganisationen jeweils zwei Betreuungsgruppen zu bilden seien – die der Gehörlosen und die der Schwerhörigen. Allerdings sei dies nur sinnvoll, wenn auf Kreisebene wenigstens 15 schwerhörige Mitglieder vorhanden wären.109 Im Zuge des offensichtlich nicht ganz freiwilligen Zusammenschlusses beider Gruppen gab es Unstimmigkeiten. So beschwerte sich die Leitung des Schwerhörigen-Aktivs am 21. August 1960 bei Pielasch, dass ein Artikel im Organ des ADGV in der „Darlegung über den Zusammenschluß“ eine „vollkommene Verdrehung der Tatsachen“ vorgenommen habe, von der man sich zumindest teilweise „vor den Kopf [ge]stoßen“ fühle.110 Der Brief nahm offenbar Bezug auf einen Beitrag zur „Zusammenarbeit mit den Schwerhörigen“, der in der Augustausgabe der Zeitschrift des ADGV im Rahmen einer Mitteilung zur „11. Tagung des Zentralvorstandes“ abgedruckt worden war. Man habe den Bericht einer Delegation der Schwerhörigen entgegengenommen, hieß es darin, aus dem hervorging, dass „ein Teil der Schwerhörigen Mitglied unseres Verbandes werden möchte“. Man habe das ausführlich diskutiert: „Neben den vielen Vorteilen wurden aber auch die Schwierigkeiten nicht 105 Reuter/Müller-Enbergs (2010), S. 1005–1006. 106 ‚Niederschrift über die am 17.5.1960 im Ministerium für Gesundheitswesen durchgeführte Tagung über Probleme der Schwerhörigenbetreuung, 19.5.1960‘: BArch, DQ 1/24081, unpaginiert. 107 E. S. (1986), S. 11. 108 ‚Schliebenow, Zentralvorstand, Allgemeiner Deutscher Gehörlosen-Verband (ADGV) an Bezirksorganisationen, ADGV, 6.5.1961‘: BArch, DQ 1/23906, unpaginiert. 109 Ebd. 110 ‚Leitung des Schwerhörigen-Aktiv an Pielasch, 21.8.1960‘: BArch, DQ 1/24081, unpaginiert.
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übersehen, die eine solche Zusammenarbeit mit sich bringt“.111 Man schlug daher vor, „auch in unserer Zeitung eine rege Aussprache zu diesem Problem zu entfalten“.112 Im Rahmen dieser „regen Aussprache“ wurden im Oktober 1960 als Für und Wider unter der Überschrift „Zusammenarbeit mit den Schwerhörigen“ immerhin zwei Meinungen gefolgt von einem Kommentar abgedruckt. Im ersten, mit „Steinbrich“ unterzeichneten Beitrag wurde argumentiert, dass eine Zusammenführung beider Gruppen in einem Verband aufgrund der Kommunikationshürden unrealistisch sei: Stellen wir uns einmal eine Sitzung im Kreis, Bezirk oder im Zentralvorstand vor. 50 % Taube, 50 % Schwerhörige ohne Dolmetscher würden hier nichts ausrichten. Erstens kann der Schwerhörige nicht die Gebärde und wird sie auch nie lernen und zweitens würde ein Tauber nie in der Lautstärke sprechen, daß sie der Schwerhörige versteht. Dann müßten aber Dolmetscher her. Würde das der Verband tragen können? Unmöglich.113
Außerdem gab der Autor zu bedenken, daß diese Frage „nur solche Menschen, die lange Jahre Erfahrung in der Betreuung haben“ beantworten könnten.114 In einem zweiten, von „Grützmacher“ verfassten Beitrag wurde eher auf die Gemeinsamkeiten von gehörlosen und schwerhörigen Menschen verwiesen: „Wir sind Augenmenschen. Das heißt, wie müssen unsere Wahrnehmung über die Augen empfangen“.115 Dabei sei der Schwerhörige aber im Vorteil, da er „unter Mithilfe von hochwertigen Hörapparaten geistig nicht so einsam lebt wie der völlig Gehörlose“.116 Daraus ergäben sich Vorurteile, da manche Schwerhörige „denken, der Gehörlose ist dumm, und mißbrauchen das Vertrauen des sprachbehinderten Gehörlosen. Sie denken, sie sind viel klüger“.117 Der Autor fügte noch hinzu: „Ehe ich völlig gehörlos geworden bin, war ich eine Zeitlang [sic] noch schwerhörig. Darum kann ich mich in diese Lage hineindenken“.118 In beiden Beiträgen wurde folglich die Bedeutung von persönlicher Erfahrung und die Notwendigkeit einer Kenntnis beider Gruppen bei sie betreffenden Entscheidungen hervorgehoben. Dieser Gedanke findet sich prominent in der Korrespondenz gehörloser Aktivisten mit Behörden in den 1950er Jahre und scheint gelegentlich auf offene Ohren gestoßen zu sein.119 111 ‚Die 11. Tagung des Zentralvorstandes‘, Deutsche Gehörlosen Zeitschrift [DDR] 4 (1960), S. 4. 112 Ebd., S. 5. 113 Steinbrich (1960), S. 15. 114 Ebd.; Grützmacher (1960), S. 15. 115 Grützmacher (1960), S. 15. 116 Ebd. 117 Ebd. 118 Ebd. 119 Werner/Wiethoff (2019); vgl. auch Werner, ‚Building an Organization According to Our Own Wishes: Deaf Agency in East Germany, 1945 to 1960‘, in Vorbereitung. Zur Metapher ‚auf offene Ohren gestoßen‘ stellte sich in der Vorbereitung dieses Aufsatzes die Frage, ob eine solche im Kontext von Hörschädigung angemessen sei. Hierzu sei be-
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Im Kommentar wird dann aber noch einmal deutlich, dass gehörlose und schwerhörige Menschen in der DDR zwar erhört wurden, die Umsetzung ihrer Wünsche aber nicht garantiert war und Entscheidungen letztlich doch von hörenden Funktionären vorbestimmt wurden. Linientreuen gehörlosen Genossen kam die wichtige Aufgabe zu, Entscheidungen an die Basis gehörloser und schwerhöriger Verbandsmitglieder weiterzuleiten. Im Kommentar zu den eingegangenen Meinungen fasste Emil Friedberger folglich zusammen, dass die „bislang bei der Redaktion zu dem Thema eingegangenen Zuschriften […] erkennen [lassen], daß zum größten Teil noch Unklarheit über den Zweck und die Form der Zusammenarbeit zwischen Schwerhörigen und Gehörlosen besteht“.120 Gleichzeitig stellte er klar, dass „neben dem Allgemeinen Deutschen Gehörlosen-Verband nicht nochmals ein Scherhörigen-Verband gegründet werden kann“.121 Friedberger erläuterte die geplante Struktur und verwies darauf, dass „[w]ir […] ja jetzt bereits Schwerhörige innerhalb des ADGV [haben], die die Zeichensprache voll beherrschen. Außerdem könnte bei den Sitzungen des Zentralvorstandes ohne weiteres ein Dolmetscher eingesetzt werden“.122 Unter Friedberger, der von 1967 bis 1977 als Präsident des ADGV/ GSV amtieren würde, war generell eine „weitgehende Ausrichtung des ADGV [d. h. GSV] an der offiziellen Partei- und Staatsdoktrin der DDR“ zu beobachten gewesen.123 Nicht zuletzt aufgrund dieser sehr unterschiedlichen Interessen überlebte der gemeinsame Verband die deutsche Wiedervereinigung nicht, obwohl es durchaus Befürworter der Idee in der DDR gab, die ja auch einen reichhaltigen Erfahrungsschatz mitbrachten. Wie der letzten Ausgabe der gemeinsam vom Juni 1991 zu entnehmen ist, war der ursprüngliche Plan gewesen, in Ostdeutschland „zwei selbständig arbeitende Bünde“ unter dem Dach des ehemaligen GSV der DDR arbeiten zu lassen, um „in Zukunft den Bedürfnissen der verschiedenen Hörgeschädigten-Gruppen gerecht werden zu können. […] Der Grund für diese Überlegung war, daß nur ein zahlenmäßig starker Verband die Forderungen der verschiedenen Hörgeschädigten-Gruppen gegenüber den Politikern und Behörden durchsetzen kann“.124 Autor dieses Statements war der Präsident des umbenannten Bundes der Gehörlosen (BdG) in Ostdeutschland, Karlheinz Kunze (geb. 1943):
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merkt, dass es in der deutschen Sprach außerordentlich viele Sprachfiguren gibt, die sich auf ‚hören‘ berufen und dieses auch werten, wie z. B. ‚dazugehören‘. Es kann nicht pauschal auf all diese Begriffe verzichtet werden – viel eher soll durch deren Nutzung in diesem Kontext darauf hingewiesen werden, wie schnell man unbedacht durch eine Äußerung andere ausgrenzen kann. Friedberger (1960), S. 15. Ebd. Ebd. Feige (2005), S. 349, zur Amtszeit Friedbergers S. 346. Kunze (1991), S. 1.
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Leider verlief die Entwicklung anders. Die Verbände im alten Bundesgebiet standen einer Zusammenfassung aller Hörgeschädigten unter einem gemeinsamen Dach ablehnend gegenüber, was wir sehr bedauerlich finden. Inzwischen haben sich die Schwerhörigenverbände aus Ost- und Westdeutschland vereinigt. […] Im Oktober dieses Jahres wird sich auch der Bund der Gehörlosen [der ehemaligen DDR] mit dem Deutschen Gehörlosenbund [Interessensvertretung in der Bundesrepublik Deutschland] endgültig zusammenschließen. Nach über 40 Jahren getrennter Tätigkeit werden nun die sozialen Probleme Gehörloser in Deutschland gemeinsam angepackt. Auch die bisherigen Strukturen innerhalb der beiden Bünde werden neue Formen annehmen.125
Kunze war kurz nach dem Fall der Berliner Mauer zum Präsidenten des GSV gewählt worden. Die zentrale Führung des GSV war noch im Dezember 1989 zurückgetreten. In der folgenden Ausgabe der gemeinsam war das mit der Überschrift „Rücktritt wurde erzwungen. Mängel in der Leitungsarbeit führten zu erheblichem Vertrauensverlust“ kommentiert worden.126 Knapp dreißig Jahre nach der Wiedervereinigung Deutschlands hat die ostdeutsche Gehörlosengemeinschaft (unabhängig von den Schwerhörigen) eine eigene Identität gewahrt. Ausdruck dieser ist die 1992 gegründete Zeitschrift Die NEUE für Gehörlose, eine „Zeitschrift für Gehörlose und hörgeschädigte Menschen sowie ihre Freunde und Förderer und zugleich Organ des Fördervereins der Gehörlosen der neuen Bundesländer e. V.“.127 Kunze gründete den Förderverein noch vor der Vereinigung des GSV mit seinem westdeutschen Pendant. Als erstem ‚Nachwende-Präsidenten‘ des GSV war es für Kunze ausgesprochen wichtig, dass Führung und Basis des Verbands in engem Kontakt standen.128 Dieses Bedürfnis war aus Erfahrungen zu DDR Zeiten gewachsen, als die Führung des ADGV/GSV Kompromisse mit der DDRFührung einging und eingehen musste, was aber eben auch zu einem Vertrauensverlust an der Basis führte.129 Unterschiedliche Interessen Gehörlose und schwerhörige Vertreter des ADGV/GSV der DDR standen trotz des gemeinsamen Verbands jeweils unabhängig voneinander mit staatlichen Stellen im Kontakt. Beispielsweise verhandelten die Interessensvertretun125 Ebd. 126 ‚Rücktritt wurde erzwungen. Mängel in der Leitungsarbeit führten zu erheblichem Vertrauensverlust‘, gemeinsam 34 (1990), innere Titelseite. 127 Vgl. z. B. ‚Die NEUE für Gehörlose‘, Taubenschlag [Online]; ‚Die NEUE für Gehörlose‘, Förderverein der Gehörlosen/Hörbehinderten e. V. [Online]. 128 Reiner-Berthold (2016), S. 20–23. 129 Vgl. Werner, ‚Building an Organization According to Our Own Wishes: Deaf Agency in East Germany, 1945 to 1960‘, in Vorbereitung. Ein Beispiel ist die Ächtung Werner Lüddes. Das Gründungsmitglied des ADGV wurde nach der Republikflucht mit seiner Geliebten im August 1960 in der Deutschen Gehörlosen Zeitschrift regelrecht an den Pranger gestellt. Es verwundert nicht, dass solche offensichtlichen Propagandamaßnahmen das Vertrauen der gehörlosen Basis in gehörlose Funktionäre erschüttert haben mögen. ADGV Zentralvorstand (1960) sowie Krietsch/Naumann (1960), S. 4. Vgl. auch Zehnpfund (1960), S. 13.
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gen gehörloser DDR-Bürger von der lokalen bis zur staatlichen Ebene über kulturelle und sprachliche Unterstützung – bereits in den 1950er Jahren tauchte immer wieder die Frage nach einer angemessenen Bezahlung für Gebärdendolmetscher auf.130 Demgegenüber baten Schwerhörige z. B. um eine bessere Versorgung mit Hörgeräten und diskutierten über Absehkurse (d. h. ‚Lippenlesen‘).131 Bei Sitzungen von Schwerhörigenvertretern mit DDR-Behörden auf ministerieller Ebene waren Vertreter der HNO – zumeist von der Charité – zugegen.132 Ich werde ausgewählte Interessen beider Gruppen beispielhaft im letzten Teil dieses Beitrags nun noch etwas genauer beleuchten. Schon jetzt sei allerdings gesagt, dass man die Schwerhörigensektion innerhalb des ADGV/GSV eher als eine Art Patientenorganisation verstehen könnte, während sich die Gehörlosen eher mit Fragen des kulturellen Miteinanders auseinandersetzten. Interessen der Gehörlosen Ein wichtiges Thema für gehörlose Menschen stellte neben z. B. der Untertitelung von Fernsehsendungen bzw. gebärdensprachlichen Fernsehsendungen (eher in den 1980er Jahren) die Verfügbarkeit von Dolmetschern dar. Dass dies, wie nachfolgend gezeigt werden soll, bei Behörden in der DDR in den 1950er Jahren Beachtung fand, ist insofern bemerkenswert, als zu diesem Zeitpunkt auch international Gebärdensprachen noch gar nicht erforscht, geschweige denn als eigenständige Sprachen anerkannt waren. In den USA und den Niederlanden nahm die wissenschaftliche Gebärdensprachforschung in den 1950er Jahren erst ihren Anfang. Üblicherweise wird die Studie des amerikanischen Linguisten William Stokoe (1919–2000) aus dem Jahr 1960 als erste sprachwissenschaftliche Arbeit zu einer nationalen Gebärdensprache verstanden.133 Die erste, substanzielle wissenschaftliche Arbeit zu Gebärdensprachen war schon 1953 als Dissertation von dem Niederländer Bernard Theodoor Marie Tervoort (1920–2006) vorgelegt worden, einem katholischen Priester, der Theologie und Linguistik studiert hatte.134 130 Vgl. z. B. ‚Aktiv der Gehörlosen u. Gehörgeschädigten der ständigen Kommission für Gesundheitswesen und Sozial-Fürsorge Freiberg an Ministerium für Arbeit und Berufsbildung, Sg. Sozialwesen, Schwerbesch., 10.5.1956‘: BArch, DQ 1/2213, unpaginiert; zu Dresden siehe unten. 131 Zu Absehkursen an der VHS Leipzig, vgl. ‚Müller (Abteilungsleiter, Rat des Bezirkes Leipzig) an Ministerium für Arbeit und Berufsausbildung, Abt. Sozialfürsorge), Betr.: Lehrgänge für Gehörlose und Gehörgeschädigte, 30.7.1956; Abteilungsleiter, Rat des Bezirkes KarlMarx-Stadt, an Regierung der DDR, MfA, Abt. Sozialfürsorge, Betr. Finanzierung Ablesekurse für schwerhörige Werktätige, 10.8.1953‘: BArch, DQ 1/2213, unpaginiert. 132 Vgl. z. B. ‚Protokoll der Sitzung der Kommission für Schwerhörigenfragen vom 30. November 1962‘: BArch, DQ 1/23907, unpaginiert. Vgl. auch Werner (2016), 181–200. 133 Stokoe (1960). 134 Vgl. z. B. Tervoort (1995), S. 176–181. Die eigentliche Studie wurde auf Niederländisch verfasst und ist nie übersetzt worden. Es gibt knappe Zusammenfassungen in anderen Sprachen.
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Gehörlose in der DDR nutzten Mitte der 1950er Jahre untereinander die „schulisch erlernte Zeichen- oder Gebärdensprache [Hervorhebung A. W.]“ – zumindest behauptete das der Vorsitzende des Aktivs der Gehörlosen und Gehörgeschädigten der ständigen Kommission für Gesundheitswesen und SozialFürsorge in Freiberg, Herr Scholze, in einem Schreiben an das Ministerium für Arbeit und Berufsausbildung Berlin vom 10. Mai 1956.135 Bedeutete das etwa, dass in Gehörlosenschulen der DDR Gebärdensprache vermittelt wurde? Sicher nicht. Offiziell war der Schulunterricht für hörgeschädigte Kinder in der DDR generell lautsprachlich ausgerichtet. Allerdings konnte der Anspruch einer erweiterten Bildung für Hörgeschädigte zumindest bei praktisch ausgerichteten Fächern wie Arbeitstagen in der Produktion nur unter inoffizieller Zuhilfenahme von Gebärden umgesetzt werden.136 Das obige Zitat deutet an, dass es in punkto Gebärdennutzung in den ersten Jahren nach 1945 mehr Freizügigkeit gegeben haben könnte. Das würde auch dem spürbaren Selbstbewusstsein gehörloser Aktivisten Anfang der 1950er Jahre entsprechen.137 Tatsächlich haben hörgeschädigte Kinder Gebärdensprachen seit den ersten Schulgründungen im 18. Jahrhundert vor allem in der Freizeit an Schulen im Kontakt mit anderen Schülern gelernt. Es darf vermutet werden, dass die Gebärdensprache, die Scholze hier erwähnt, eine Form der lautsprachunterstützenden oder lautsprachbegleitenden Gebärden darstellte, die sich möglicherweise mit untereinander genutzten Gebärdensprachen der Schüler einer Schule zu einem eigenen Kommunikationsmittel vermischten. Es wären Zeitzeugeninterviews nötig, um zu klären, inwiefern Lehrer vereinzelt inoffiziell auch Gebärdensprache in Abgrenzung von auf Lautsprache basierenden Gebärdensystemen nutzten oder zumindest duldeten. In Sachsen gibt es allerdings selbst im Jahr 2019 noch keine vollständig gebärdensprachkompetenten Pädagogen an Gehörlosenschulen.138 Doch zurück zur Gebärdensprachnutzung in der frühen DDR. Zehn Jahre nach Scholzes Schreiben zur Kommunikation gehörloser Menschen war keine Rede mehr von Schulunterricht in Gebärdensprache. Stattdessen hieß es 1965 zwar „[d]er Vorgang des Verstehens ist nicht allein auf das Ohr beschränkt“, was allerdings im unmittelbaren Anschluss damit erklärt wurde, dass „Gehörlose […] die Sprache vom Munde ab[lesen], wenn sie dies in der Schule gelernt haben“.139 Da es sich hierbei allerdings um eine Besprechung der Kommission für Schwerhörigenfragen handelte, könnte es sich wohl um eine in Unwissenheit geäußerte Aussage handeln, bei der die Terminologie vermengt 135 ‚Brief, Scholze (Vorsitzender, Aktiv der Gehörlosen und Gehörgeschädigten der ständigen Kommission für Gesundheitswesen und Sozial-Fürsorge, Freiberg) an Ministerium für Arbeit und Berufsausbildung Sg. Sozialwesen – Schwerbesch. Berlin, 10.5.1956‘: BArch, DQ 1/2213, unpaginiert. 136 Werner (2015). 137 Werner/Wiethoff (2019); vgl. auch Werner, ‚Building an Organization According to Our Own Wishes: Deaf Agency in East Germany, 1945 to 1960‘, in Vorbereitung. 138 Gerardo (2019) [Online]. 139 ‚Protokoll über die Arbeitsbesprechung der zentralen Kommission für Schwerhörigenfragen am 9.4.1965 in Berlin‘: BArch, DQ 1/23907, unpaginiert.
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wurde – waren nun Gehörlose oder Schwerhörige gemeint? Erstere nutzen Gebärdensprache. Das ‚Ablesen‘ (d. h. Absehen vom Mund) wird eher von lautsprachlich ausgerichteten Schwerhörigen zur Kommunikation eingesetzt. Gehörlosen Schülern wird man diese Fertigkeit ebenfalls in Schulen vermittelt haben. Inwiefern sie aber gewillt und in der Lage waren, diese tatsächlich im täglichen Leben zu nutzen, sei dahingestellt. In den 1950er Jahre stellte sich auf lokaler Ebene aus rein praktischen Gründen die Frage, inwiefern Dolmetscher für Gehörlose bezahlt werden könnten und müssten. So habe 1953 der Vorsitzende des Fachausschusses für Gehörlose in Dresden, Heinz Walter, den „Vorschlag“ gemacht, „die Kosten für die Besoldung der Dolmetscherin durch Erhebung eines monatlichen Beitrages von DM –,50 bzw. DM –,25 von den Gehörlosen selbst aufzubringen“.140 Hierzu wurde aus Berlin gemeldet, dass „auf keinen Fall die Genehmigung“ erteilt werden könne, „da solch eine Beitragserhebung zu einer nicht zu befürwortenden Vereinsbildung führen bzw. voraussetzen würde“.141 Man könne sich mit der „Gehörlosengemeinschaft in Dresden in Verbindung“ setzen, damit „die Dolmetschertätigkeit auf ehrenamtlicher Basis organisiert werden“ könne. Eventuell könne „für diese ehrenamtliche Tätigkeit eine Lehrkraft“ gewonnen werden. Sollte das nicht möglich sein, bliebe zu „zu erwägen, die bisherige Dolmetscherin auf dieser Basis zu belassen und ihr die nachgewiesenen baren Auslagen und evtl. eine kleine Vergütung aus dem Verwaltungskonto 512 zu erstatten“.142 Der Abteilungsleiter in Berlin schien im Schreiben der Anweisung noch darüber nachzudenken, was ein Dolmetschereinsatz für gehörlose Menschen eigentlich bedeutete. Er schlussfolgerte schließlich, dass ihm das nötige Wissen fehlte, dies überhaupt einschätzen zu können – mehr Informationen seien nötig. Eine Planstelle war nicht ausgeschlossen: Welchen Umfang die Tätigkeit hat, geht aus dem Schreiben des Herrn Walter nicht hervor. Ist diese so umfangreich, was besonders zu prüfen wäre, daß sie nur durch eine hauptamtliche Kraft mit vielleicht zusätzlichen Aufgaben zu bewältigen ist, dann müßte von Ihnen erwogen werden, dafür für 1954, unter genauer Begründung, eine Planstelle zu beantragen. und diesen Antrag mit dem Rat des Bezirkes zwecks Rücksprache mit der Stellenplankommission zu übergeben.143
Eine Dolmetscherausbildung für die Deutsche Gebärdensprache (DGS) entstand in Deutschland erst Ende der 1980er Jahre und nahm in den 1990er Jahren Gestalt an.144 Umso bemerkenswerter ist es, dass in der DDR 1953 140 ‚Friedrich (Abteilungsleiter) an Rat der Stadt Dresden, Abt. Arbeit und Berufsausbildung, Ref. Sozialwesen, 18.7.1953, Durchschlag für den Rat des Bezirkes Dresden, Abt. Arbeit u. Berufsausbildung, Ref. Sozialwesen; vgl. auch Heinz Walter (Vorsitzender), Fachausschuß für Gehörlose Dresden, an Ministerium für Arbeit, Sozialwesen, 25.5.1953‘: BArch, DQ 1/2213, unpaginiert. 141 Ebd. 142 Ebd. 143 Ebd. 144 Dies beschreibe ich ausführlicher in meinem aktuellen Buchprojekt zu Expertendiskursen über Gehörlosigkeit im geteilten Deutschland. Konkrete Studien zu dem Thema liegen meines Wissens noch nicht vor. Es gibt aber Publikationen zur Gebärdensprachfor-
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ernsthaft von staatlichen Akteuren darüber nachgedacht wurde, dass Dolmetscher für Gehörlose nicht nur notwendig seien, sondern auch angemessen bezahlt werden müssten für ihre Dienste. Die Aktenlage ist leider spärlich. Doch zeigt eine ähnliche Anfrage aus dem Jahr 1956 mit einem Verweis auf Dresden, dass dort inzwischen tatsächlich eine Gebärdendolmetscherin besoldet wurde. So hatte Scholze, der erwähnte Vorsitzende des Aktivs der Gehörlosen und Gehörgeschädigten in Freiberg, 1956 beantragt, für die Dolmetscherin Elisabeth Bellmann, die bereits unermüdlich im Einsatz sei, Haushaltsmittel einzuplanen, denn „[w]as im Bezirk Dresden möglich ist, m u ß auch hier unbedingt möglich sein [Hervorhebung im Original, A. W.]“.145 In seiner Anfrage verwies Scholze gleich zu Beginn auf den Beitrag der arbeitenden, gehörlosen Bevölkerung: „Soweit sie berufstätig sind – und das ist der überwiegende Teil von ihnen – haben sie sich mit den täglichen Lebensfragen, genau wie der normalhörende Mitmensch, auseinanderzusetzen. Das trifft natürlich auch für nichtberufstätige Taubstumme zu. Hier aber beginnen die Konflikte“.146 Für alle wichtigen „Lebensfragen wie: Berufs- und Wohnungsangelegenheiten, ärztliche Betreuung, gerichtliche Angelegenheiten verschiedenster Art (Zivilprozeß, Ehescheidung, Strafrechtssachen usw.), Personal- und sonstige Angelegenheiten vor Behörden oder Organisationen und so vielem mehr […], bedarf in diesen Fällen der Taubstumme unbedingt einer Mittelsperson, die für ihn spricht, verhandelt und handelt“.147 Die Antwort aus dem Ministerium erfolgte erst ein halbes Jahr später in einem persönlichen Gespräch.148 Ein Aktenvermerk ist erhalten. Demnach lehnte man die Pauschalbezahlung einer Dolmetscherin zwar ab, gestand aber immerhin den Gehörlosen zu, in konkreten Fällen bei der Kommunikation mit Ämtern von den Diensten der genannten Dolmetscherin unter bestimmten Bedingungen Gebrauch machen zu dürfen.149 Diese Regelung war zwischen Mai und November im Austausch zwischen verschiedenen behördlichen Stellen vereinbart worden.150 Im Vorfeld hatte man einmal
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schung in beiden Teilen Deutschlands, die im historischen Kontext als Primärliteratur gewertet werden können. Verwiesen sei auf Publikationen des Hamburger Linguisten Siegmund Prillwitz. ‚Brief, Scholze (Vorsitzender, Aktiv der Gehörlosen und Gehörgeschädigten der ständigen Kommission für Gesundheitswesen und Sozial-Fürsorge, Freiberg) an Ministerium für Arbeit und Berufsausbildung Sg. Sozialwesen – Schwerbesch. Berlin, 10.5.1956‘: BArch, DQ 1/2213, unpaginiert. Ebd. Ebd. Scholze hatte zwischendurch nachgefragt; er hatte im Juni 1956 lediglich die Mitteilung erhalten, dass ein endgültiger Bescheid noch nicht zugestellt werden könne, da noch nicht alle erforderlichen Unterlagen vorlägen. Vgl. ‚Scholze an Werte Kollegen, 21.8.1956‘: BArch, DQ 1/2213, unpaginiert; ‚Richter (Abteilungsleiter), Abt. Sozialfürsorge an R. Scholze, Freiberg, 14.6.1956‘: BArch, DQ 1/2213, unpaginiert. ‚Aktenvermerk, 2.11.1956‘: BArch, DQ 1/2213, unpaginiert. ‚Richter, (Abteilungsleiter), Haushaltsmittel zur Betreuung der Taubstummen durch eine Dolmetscherin, 22.5.1956‘: BArch, DQ 1/2213, unpaginiert.
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mehr überlegt, dass eigentlich in Erfahrung gebracht werden müsste, wann, wo und wie lange Dolmetscher überhaupt benötigt würden.151 Erst in den 1970er Jahren begannen auch Akademiker in der DDR sich verstärkt für Gebärdensprachen zu interessieren. Angestoßen wurde dieses Interesse nicht zuletzt durch internationale Entwicklungen, die einerseits über den international vernetzten GSV und andererseits über internationale Kontakte der DDR-Rehabilitationswissenschaftler u. a. der HU zu Berlin in der DDR rezipiert wurden. Der damalige Präsident des GSV, Ernst Liehr, schrieb beispielsweise 1985 im erwähnten Lehrbuch über Grundlagen der Rehabilitation: Angeregt durch Empfehlungen des VII. Weltkongresses der W. F. D.[World Federation of the Deaf] (Washington/USA 1975) kam auch in der DDR die Diskussion über die Gebärdensprache in Bewegung. In Anlehnung an Vorhaben der Weltföderation ist der GSV der DDR bestrebt, die Entwicklung einer ästhetischen und modernen Gebärdensprache zu fördern. Regelmäßig werden in der Verbandszeitschrift ‚gemeinsam‘ Gebärdenfotos veröffentlicht. Beabsichtigt ist die Herausgabe eines Gebärdenbuchs. [Anmerkung dazu: Wird bearbeitet im Verlag Volk und Gesundheit; Erscheinungsjahr 1985]152
Das Lehr- und Übungsbuch der Gebärden der Gehörlosen wurde 1986 in der DDRFachzeitschrift HNO-Praxis beworben.153 Es war von Helga Reschke redigiert und vom GSV beim Volkseigenen Betrieb (VEB) Verlag Volk und Gesundheit Berlin herausgegeben worden. Vor allem „die Kommunikation zwischen Hörenden und Gehörlosen“ sollte mit Hilfe des Lehrbuchs erleichtert werden, wobei „besonders der Personenkreis angesprochen [ist], der ständig Umgang mit gehörlosen Menschen hat“.154 Das bezog HNO-Ärzte ein und ist als Angebot einer Zusammenarbeit unter Einbeziehung der Sichtweisen gehörloser Menschen und ihrer Sprache und Kultur zu verstehen. Die Werbung findet sich auch in den ersten Heften der Jahrgänge 1988 und 1989.155 Die Aufwertung von Gebärdensprachen in der DDR beinhaltete auch eine Auseinandersetzung mit der Frage nach Gebärdendolmetschern. Liehr bemerkte hierzu: [Der Gebärdendolmetscher] ist bei der Betreuung der Gehörlosen ein unerläßlicher Helfer. Seine Mitarbeit ist erforderlich beim Besuch von Sprechstunden in medizinischen Einrichtungen und staatlichen Institutionen, besonders bei den Justizorganen. In der Produktionssphäre erleichtert der Dolmetscher die Kontakte zwischen den gehörlosen Werktätigen, ihren hörenden Arbeitskollegen und den Leitungsorganen der Betriebe. Besuchen Gehörlose die Bildungseinrichtungen Normalhörender, ist der Dolmet-
151 ‚Pahl (Abteilungsleiter) an Abteilung Sozialfürsorge im Haus, Berlin, 5.6.1956‘: BArch, DQ 1/2213, unpaginiert. 152 Liehr (1985), S. 244. In dem Lehrbuch ist ‚Liehr‘ konsequent ohne ‚h‘ geschrieben. 153 ‚Neuerscheinung! Lehr- und Übungsbuch der Gebärden der Gehörlosen‘, HNO-Praxis 11 (1986), S. 76. Vgl. auch Werner (2016), S. 19. 154 Ebd. 155 ‚Sofort lieferbar! Lehr- und Übungsbuch der Gebärden der Gehörlosen‘, HNO-Praxis 13 (1988), S. 60; ‚Sofort lieferbar! Lehr- und Übungsbuch der Gebärden der Gehörlosen‘, HNO-Praxis 14 (1989), S. 80.
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scher der wichtigste Helfer der Unterrichtenden. Er besorgt die Übersetzung der Worte des Lehrers und sichert den geregelten Ablauf der pädagogischen und erzieherischen Arbeit für den Hörgeschädigten. Als prägnante Beispiele für viele seien hier genannt: Lehrgänge zum Erwerb des Führerscheins und Abnahme der dafür erforderlichen Prüfungen, Meisterlehrgänge oder Qualifizierungsveranstaltungen von gesellschaftlichen Organisationen. Ausgewählte Gebärdendolmetscher sind zusätzliche Sachverständige für die Gerichte, wenn Hörgeschädigte in Straf- oder andere Prozesse verwickelt sind.156
Liehr stellte weiterhin fest, dass insgesamt „die Zahl der benötigten Gebärdendolmetscher nicht aus[reiche], und ihr Einsatz […] territorial zur Zeit nicht immer gesichert“ sei.157 Daraus ergab sich als eine „wichtige Aufgabe des Verbandes […] die Gewinnung geeigneter Dolmetscher und ihre einheitliche Qualifizierung auf wissenschaftlicher Grundlage“.158 Die Forderung nach Gebärdendolmetschern in einem DDR-Lehrbuch Mitte der 1980er Jahre entsprach letztlich dem internationalen Stand der Gebärdensprachforschung. Die tatsächliche gesetzliche Anerkennung der Deutschen Gebärdensprache ließ allerdings noch auf sich warten. Sie wurde erst 2002 im Behindertengleichstellungsgesetz (BGG) realisiert.159 Unabhängig von der Lobby-Arbeit des GSV waren seit den 1970er Jahren auch die Rehabilitationswissenschaftler der DDR über den internationalen Wissenschaftsaustausch immer wieder mit der Frage nach der Rolle von Gebärdensprachen für gehörlose Menschen in Berührung gekommen. So berichtete Klaus-Peter Becker (geb. 1926) 1976 im ersten Jahrgang der neugegründeten DDR-Fachzeitschrift HNO-Praxis von der ‚Expertentagung der UNESCO über Probleme der Erziehung und Bildung von Gehörlosen‘, die im Herbst 1974 in Paris stattgefunden hatte.160 Becker war Professor für Rehabilitationspädagogik an der HU und bestimmte maßgeblich die Ausrichtung der Gehörlosenbildung der DDR mit.161 Er begann spätestens seit den 1970er Jahren, sich auch mit Gebärden und Gebärdensprachen auseinanderzusetzen und gehörlose Menschen in seine wissenschaftliche Arbeit einzubeziehen.162 An der Beratung, zu der die UNESCO 1974 in Paris eingeladen hatte, waren „14 Vertreter Hörgeschädigter verschiedener Erdteile sowie verschiedene an der Bil-
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Liehr (1985), S. 243–244. Ebd. Ebd. Vgl. hierzu Werner (2018), S. 193–210. Becker (1976), S. 123–124. Werner (2015), S. 6–21. Becker hob die Bedeutung der Eltern im Prozess des Spracherwerbs bei gehörlosen Kindern hervor: Da die „Eltern eine sehr wichtige Rolle bei der Entdeckung des Gehörverlustes und bei dem Versuch, seine Wirkungen auszugleichen, spielen“, müssten „Elternunterweisung und -beratung ein wesentlicher Teil jedes Erziehungs- und Gesundheitsdienstes sein“. Becker (1976), S. 124. 162 Vgl. dazu den Bericht in der bundesdeutschen DGZ zu einer internationalen Tagung an der ältesten staatlichen deutsche Gehörlosenschule in Leipzig aus Anlass deren 200jährigen Bestehens im April 1978: Jürgens (1978), S. 139–140, fortgesetzt in der Folgeausgabe, S. 173–174.
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dung und Erziehung beteiligte Berufsgruppen“ zugegen.163 Darunter war der Gehörlose Dragoljub Vukotic aus Jugoslawien, der von 1955 bis 1983 Präsident des Weltverbands der Gehörlosen war.164 1984 war nach einer Konsultation der UNESCO zu alternativen Herangehensweisen an die Bildung gehörloser Menschen in Paris festgestellt worden: „The old idea that the use of ‚sign language‘ will be a hindrance to the development of spoken and written language is no longer valid [Hervorhebung im Original, A. W.]“.165 Folglich sollten Gebärdensprachen als legitimes Sprachsystem auf gleicher Ebene mit anderen Sprachsystemen Anerkennung finden.166 Kurz vor dem Zusammenbruch der DDR war also der Punkt erreicht, da zumindest Rehabilitationspädagogen erkannt hatten, dass Gebärdensprachen bei der Therapie von Hörschädigung Berücksichtigung finden müssten. Eine wissenschaftlich verankerte Gebärdensprachforschung war in der DDR der 1980er Jahre aber erst im Entstehen begriffen. Sie erforderte explizit eine Kooperation mit hörgeschädigten Aktivisten. Tatsächlich begrüßte Karl-Heinz Pöhle 1988 in einer Rede anlässlich des „200jährigen Jubiläums der Gründung der Gehörlosenbildung in Berlin“ die „Teilnahme des Präsidenten des Gehörlosen- und Schwerhörigenverbandes der DDR Karl Reschke und mehrerer Mitglieder des Zentralvorstandes“.167 Deren Teilnahme mache „deutlich, welche Bedeutung dieser Veranstaltung auch seitens dieser gesellschaftlichen Organisation und ihrer Mitglieder beigemessen wurde“.168 Reschke selbst nahm mit einem Vortrag teil, in dem er sprachlich ausgesprochen wohlüberlegt auf die Notwendigkeit einer intensivierten Zusammenarbeit der Gehörlosenpädagogen mit gehörlosen Interessensvertretern drängte.169 Becker beendete seinen Vortrag auf der Veranstaltung mit der Frage: „Stimmt es wirklich, daß die systematische Benutzung von Gebärdensprache der Entwicklung der Lautsprache, die unter allen Umständen vermittelt werden soll, entgegensteht? Gilt nicht das Gegenteil?“.170 Er gestand offen ein, dass die Kritik „nicht zurückgewiesen werden [könne], daß wir zum großen Teil nicht aktiv an der Entwicklung einer Gebärdensprache mitgewirkt haben, obwohl sie unter erwachsenen Gehörlosen das Kommunikationsmittel ohnehin ist“.171 Weitere Vorträge zu Gebärdensprachen und -systemen folgten, wobei explizit auf USamerikanische Forschungen sowie auf Forschungsergebnisse zur DGS an der
163 Becker (1976), S. 123. 164 Vgl. ‚Deaf of 30 Nations To Fight Diseases That Harm Hearing‘, New York Times (1975). 165 UNESCO, Consultation on Alternative Approaches for the Education of the Deaf. Unesco Headquarters. Paris, 18–22 June 1984. Final Report, S. 12. 166 Ebd., S. 7. 167 Pöhle (1989), S. 4. 168 Ebd. 169 Reschke (1989), S. 80–81. 170 Becker (1989), S. 9. 171 Ebd.
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Universität Hamburg verwiesen wurde (dem heutigen Hamburger Institut für Deutsche Gebärdensprache und Kommunikation Gehörloser).172 Interessen Schwerhöriger Für schwerhörige Menschen war vor allem Hörgerättechnik von Interesse. Technische Mängel und Versorgungsschwierigkeiten bei Hörgeräten und Batterien waren schon in den 1950er Jahren ein Thema, das auch in den Folgejahren bestehen blieb.173 Wie ich an anderer Stelle näher ausführte, war die für lautsprachliche Kommunikation notwendige Technik „in den 1950er-/ 1960er-Jahren oft nicht vorhanden oder funktionierte nicht“.174 Beispielsweise wandte sich Heinz Benedix von der Leipziger Gehörlosenschule 1964 mit einem „Erfahrungsbericht über die Höranlage“ an das Deutsche Pädagogische Zentralinstitut (DPZI), den Vorläufer der Akademie der Pädagogischen Wissenschaften (APW), die u. a. für die Erstellung von Lehrplänen an Gehörlosenund Schwerhörigenschulen zuständig waren. Der Bericht gab detailliert die Erfahrungen des vergangenen Jahres mit einer Höranlage als eine Aneinanderreihung von Problemen wieder. Benedix fasste zusammen: „Unter diesen gegebenen Verhältnissen ist ein geordneter Hörerziehungsunterricht nicht möglich. […] Der Sache der Hörerziehung ist durch die schlechte Produktion dieser Anlage sehr geschadet worden“.175 Bereits 1948 war man in der SBZ darauf bedacht gewesen, Möglichkeiten der Hörunterstützung für Hörgeschädigte zu schaffen. Wie einem Schreiben vom September 1948 aus Sachsen zu entnehmen ist: Das Errichten von Vielhöranlagen macht gute Fortschritte. Es ist damit zu rechnen, daß in kürzester Zeit alle Stadt- und Landkreise eine Vielhöranlage erhalten werden. Für Gehörgeschädigte wurden bisher laufend Batterien für die Hörgeräte zur Verfügung gestellt, doch fehlt es an Spezialbatterien. Es würde daher außerordentlich begrüßt, wenn es in der Deutschen Wirtschaftskommission, Hauptverwaltung Arbeit u. Sozialfürsorge, möglich wäre, Spezialbatterien zu vermitteln. Die Verteilung soll über die Referate für Schwerbeschädigte erfolgen.176
Zwar war dies in einem unüberhörbaren optimistischen Ton geschrieben. Die praktische Durchsetzung war aber offenbar nicht zu realisieren, weil eben die Problematik der Versorgung mit und Wartung von Hörgeräten über die Jahre immer wieder in den Akten auftaucht.
172 Das führe ich in meinem laufenden Buchprojekt zu Expertendiskursen über Taubheit im Kalten Krieg näher aus. 173 Zu Beschaffungsschwierigkeiten bei Hörgeräten, vgl. auch Süß (2010), S. 80. 174 Werner (2015), S. 14. Das Zitat von Benedix findet sich unter: ‚Heinz Benedix (Gehörlosenschule Leipzig) an Erika Metze (Wiss. Mitarbeiterin, DPZI), 6.4.1962‘: BBF/DIPF/ Archiv, APW 9567. 175 Ebd. 176 ‚Hausdorf (Oberregierungsrat) an Deutsche Wirtschaftskommission f. d. sowjetische Bestzungszone Berlin, 4.9.1948‘: BArch, DQ 2/3758, unpaginiert.
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Nicht nur gelang es Behörden in der DDR nicht, auf die wiederkehrenden Forderungen nach ausreichenden und verlässlichen Hörgeräten, Zubehör für diese und angemessene Strukturen zur Wartung dauerhaft befriedigende Antworten zu finden. Darüber hinaus entstand zusätzlicher Druck bei den Mitarbeitern dieser Behörden dadurch, dass sich schwerhörige DDR-Bürger im Westen mit Geräten und Zubehör versorgten bzw. eine Idee von der Höherwertigkeit westlicher Hörgerätetechnik hatten. So fragte der VolkskammerAusschuss für Arbeit und Gesundheitswesen beispielsweise im September 1953 die Staatssekretärin Friedel Malter (1902–2001) im MfA, „in welchem Maße es möglich ist, den Gehörgeschädigten bessere und zweckentsprechende Hörgeräte zur Verfügung zu stellen“.177 Sowohl die Volkskammer als auch das MfA hätten „in dieser Richtung Anfragen oder auch Beschwerden von Schwerhörigen“ erhalten. „Bekanntlich besteht vielfach die Auffassung, daß nur die in Westdeutschland hergestellten Apparate vollwertig sind“.178 Malter verwies in ihrer Antwort auf die Auskunft der „Oberin Schmidt“ von der Charité (Universitäts-Kliniken) der HU, dass zu diesem Zeitpunkt in der DDR durch den VEM-Anlagenbau zu beziehende Kohle-Mikrophon-Apparate hergestellt würden, die allerdings nicht den „Anforderungen, die man an ein solches Hörgerät stellen muß“, entsprächen. Das RFT-Röhrenwerk Dresden sei jedoch „z. Zt. damit beschäftigt, einen Röhren-Apparat zu entwickeln, der allen Anforderungen entspricht und den in Westdeutschland hergestellten vollkommen gleichwertig ist“.179 Dieses Ziel war aber auch Ende der 1950er Jahre nicht erreicht, wie das folgende Beispiel zeigt. Am 7. April 1958 wandte sich der Hörgerätträger Rudolf Husfeld aus Karl-Marx-Stadt an die SED in Berlin. Es ging ihm um den Bezug von Hörgeräten aus Westdeutschland.180 Da der Bedarf an Hörgeräten nicht gedeckt sei und auch Reparaturen nicht kurzfristig im Funkwerk Kölleda ausgeführt würden („Mein Apparat ist bereits seit 3 Wochen in Kölleda“181), bat er „nochmals, für meine Notlage Verständnis zu finden und beim Ministerium dahin zu wirken, daß dem Kauf von Hörgeräten aus Westdeutschland die Genehmigung erteilt wird“.182 Diesem Schreiben waren bereits mehrere vorausgegangen. Husfeldt hatte seinen Feldzug für eine bessere Versorgung mit Hörgeräten im Januar 1958 mit einem Schreiben an die Deutsche Export-
177 ‚Malter (Staatssekretär), Ministerium für Arbeit an Betriebsleiter des RFT-Röhrenwerkes (VEB), 22.9.1953‘: BArch, DQ 1/2213, unpaginiert. 178 Ebd. 179 ‚Oberin Schmidt (Charité) an Malter (Staatssekretär), Ministerium für Arbeit, 16.9.1953‘: BArch, DQ 1/2213, unpaginiert. 180 ‚Rudolf Husfeldt, Karl-Marx-Stadt an SED Berlin, 7.4.1958‘: BArch, DQ 1/23907, unpaginiert. Er hatte deswegen schon mal im März angefragt: ‚Rudolf Husfeldt, Karl-MarxStadt an SED Berlin, 20.3.1958‘: BArch, DQ 1/23907, unpaginiert. 181 ‚Rudolf Husfeldt, Karl-Marx-Stadt an SED Berlin, 7.4.1958‘: BArch, DQ 1/23907, unpaginiert. 182 Ebd.
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und Importgesellschaft begonnen.183 Am 9. Februar hatte er die DDR-Behörden auf einen Beitrag im Neuen Deutschland vom 5. Februar 1958 aufmerksam gemacht, in dem von der Produktion von Hörgeräten in Kölleda berichtet wurde mit dem Verweis, „daß die zum wirtschaftlichen Betrieb des Gerätes erforderlichen Anoden und Heizelemente eine äußerst begrenzte Lebensdauer haben und außerdem nicht immer erhältlich sind“.184 Die Probleme seien in der Abteilung Medizintechnik des MfG bekannt.185 Der Artikel – möglicherweise ein Leserbrief – konnte noch nicht lokalisiert werden. Die Abteilung Medizintechnik im MfG antwortete Husfeldt im März, dass dem Antrag auf ein westdeutsches Hörgerät nicht entsprochen werden könne. Auch sei „das Problem der Versorgung der Hörgeräte mit Heizelementen inzwischen behoben“,186 was Husfeldt am 1. April mit einem knappen „Stimmt nicht. Ich habe in KMStadt auch im Monat März in den einschlägigen Geschäften weder Heizelemente noch Anoden erhalten“ kommentierte.187 Im MfG hatte man zwar Verständnis für Husfeldts Sorgen, dennoch „sind wir nicht der Ansicht, dass Sie unbedingt eine Hörbrille für den Gebrauch auf der Straße und ein Gerät für den Dienst- und Hausgebrauch benötigen“.188 Hier fehlte zweifelsohne die Sachkenntnis des Sachbearbeiters – nämlich, dass Bedürfnisse von Menschen mit sensorischer Andersartigkeit ausgesprochen individuell sein können. Die Gründe für die nicht auf den Einzelnen ausgerichtete Argumentation des Sachbearbeiters verriet dieser gleich im folgenden Satz: „In der DDR existieren hundertausend [sic] Schwerhörige und wenn jeder gleiche Forderungen stellen würde, könnte die Sozialversicherung diese hohen Kosten einfach nicht übernehmen“.189 Auch die Beschaffung geeigneter Batterien stellte ein Problem dar. Im März 1952 hieß es: „Wie uns das Leipziger Messeamt mitteilt, ist das Ministerium für Maschinenbau in der Lage, den Bedarf an Batterien für Hörgeräte in der DDR zu decken. Bisher bezogen die Hörbehinderten die Batterien für Hörgeräte aus Westdeutschland bzw. aus Westberlin“.190 Dieser Aussage vorausgegangen war ein Schreiben vom Leipziger Messeamt, Berliner Geschäftsstelle, vom 6. Dezember 1951, in dem es hieß: „Die Hauptverwaltung Elektro183 ‚Rudolf Husfeldt, Karl-Marx-Stadt an Deutsche Export-Importgesellschaft, Berlin, 16.1.1958‘: BArch, DQ 1/23907, unpaginiert. 184 ‚Rudolf Husfeldt, Karl-Marx-Stadt an HA Pharmazie und Medizintechnik, Ministerium für Gesundheitswesen, 9.2.1958‘: BArch, DQ 1/23907, unpaginiert. 185 Ebd. 186 ‚Skutta (Hauptreferent), Ministerium für Gesundheitswesen, HA Pharmazie und Medizintechnik, Abt. Medizintechnik an Rudolf Husfeldt (Karl-Marx-Stadt), 27.3.1958‘: BArch, DQ 1/23907, unpaginiert. 187 ‚Rudolf Husfeldt, Karl-Marx-Stadt an HA-Leiter, HA Pharmazie und Medizintechnik, Ministerium für Gesundheitswesen, 1.4.1958‘: BArch, DQ 1/23907, unpaginiert. 188 ‚Skutta (Hauptreferent), Ministerium für Gesundheitswesen, HA Pharmazie und Medizintechnik, Abt. Medizintechnik an Rudolf Husfeldt (Karl-Marx-Stadt), 27.3.1958‘: BArch, DQ 1/23907, unpaginiert. 189 Ebd. 190 ‚Rudolph an Sozialversicherung, Anstalt des öffentlichen Rechts, Zentralverwaltung, 10.3.1952‘: BArch, DQ 1/2213, unpaginiert.
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technik glaubt den Bedarf aus eigener Produktion decken zu können und benötigt die Zahl der Hörbehinderten in der Deutschen Demokratischen Republik [Hervorhebung A. W.]“.191 Aus diesem ‚Glauben‘ an die Bedarfsdeckung war im amtlichen Schriftverkehr innerhalb nur weniger Wochen eine feste Überzeugung geworden, auch wenn die erforderlichen Zahlen, um diesen Anspruch zu untermauern, gar nicht vorlagen. Die Realität sah tatsächlich anders aus, wie das Beispiel der Schwerhörigenvertreter aus Leipzig im Jahr 1955 belegt. Demnach bestünde eine „außerordentlich enge Verbindung […] zwischen den Vertretern der Schwerhörigen aus Leipzig mit der westberliner bzw. westdeutschen Schwerhörigen-Organisation“.192 Letztlich seien die „Leipziger Kollegen […] durchweg im Besitz der hochwertigen modernen Transistorenbzw. Röhrengeräte aus Westdeutschland“.193 Das zeige sich im Bedarf an Batterien: „Während z. B. für aus Westdeutschland bezogene Apparate in Berlin 25 000 Heizbatterien und in Dresden 19 200 Heizbatterien zur Verfügung gestellt werden, sind es in Leipzig 36 000“.194 In den 1960er und 1970er Jahren blieben zwar technische Probleme eine Herausforderung, vor allem jedoch machten sich jetzt Lieferschwierigkeiten bemerkbar. Letztlich wurde daher der Versorgung der arbeitenden Bevölkerung (und natürlich von Funktionären) der Vorrang gegeben.195 Es gab in den 1960er Jahren Sitzungen zu Schwerhörigenproblemen im MfG, in denen HNO-Ärzte Kurzreferate über Hörschädigungen hielten. Ausführlich wurden die Probleme mit den in Kölleda produzierten Hörgeräten H 30 und H 40 diskutiert.196 An Sitzungen nahmen sowohl Schwerhörigenvertreter als auch Repräsentanten verschiedener Ministerien, HNO-Ärzte von der Charité in Berlin und Repräsentanten des Hörgerätwerks in Kölleda teil. Die Schwerhörigen beteiligten sich aktiv. So wurde im Mai 1960 vermerkt, dass „Techniker vom VEB Kölleda ein neu entwickeltes Hörgerät“ vorgeführt hätten. „Von den anwesenden Schwerhörigen wurde es begutachtet und als eine Verbesserung angesehen. Die Geräte sind geräuscharm und ermöglichen ein störungsfreies Hören und die schwerhörigen Freunde äusserten ihre Befriedigung über die Neuentwicklung“.197 Diese Freude wurde getrübt durch die sich unmittelbar im Protokoll anschließende Feststellung, dass die „Geräte […] ursprünglich bereits im Mai lieferbar“ gewesen sein sollten. Nun habe sich „[d]urch ei191 ‚Leipziger Messeamt, Berliner Geschäftsstelle an Stegemann, Ministerium für Arbeit, Abtl. Sozialfürsorge, 6.12.1951‘: BArch, DQ 1/2213, unpaginiert. 192 ‚Knabe, „Aktenvermerk“, Berlin, 27.12.1955‘: BArch, DQ 1/2213, unpaginiert. 193 Ebd. 194 Ebd. 195 Vgl. z. B. ‚Protokoll über die am 1.6.1962 geführte Besprechung zur Entwicklung einer Höranlage für Schwerhörigenschulen‘; ‚Protokoll über die am 18.4.1963 durchgeführte Beratung; Technische Anforderungen an eine Höranlage [ca. 1963]‘: BBF/DIPF/Archiv, APW 9567, unpaginiert. 196 ‚Niederschrift über die am 17.5.1960 im Ministerium für Gesundheitswesen durchgeführte Tagung über Probleme der Schwerhörigenbetreuung, Berlin, 19.5.1960‘: BArch, DQ 1/24081, unpaginiert. 197 Ebd.
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nige Materialschwierigkeiten […] die Fertigung verzögert, es soll jedoch noch in diesem Jahr eine Lieferung […] erfolgen“.198 Nachdem die Lieferschwierigkeiten überwunden waren, tauchten neue Probleme auf. Ende 1962 vermerkte der Protokollant des ADGV im Rahmen einer weiteren Sitzung zu Schwerhörigenfragen, „dass das gegenwärtig vom Funkwerk Kölleda produzierte Hörgerät ‚H 30‘ nicht den Forderungen entspricht, die man an eine moderne Hörhilfe, insbesondere für Innenohrschwerhörigkeit, stellen muss“.199 Das Gerät Typ H 50 vom Funkwerk Kölleda war 1973 ebenso wenig erfolgreich wie seine Vorgänger. Beispielsweise informierte der Freie Deutsche Gewerkschaftsbund (FDGB) Ärzte im Januar des Jahres über „Anlaufprobleme“ in der Produktion. Es sollte daher in „dringlichen Fällen“ ein „dringend“ auf dem schriftlichen Antrag vermerkt sein, wobei als „dringliche Fälle“ solche Patienten anzusehen seien, „die zur Ausübung ihres Berufes oder einer gesellschaftlichen Funktion ein leistungsstarkes Hörgerät benötigen“; allerdings dürfe „[d]ieser Personenkreis […] 40 % der Gesamtverordnung nicht überschreiten“.200 Trotz aller Unwägbarkeiten war man auch in den 1960er Jahren keineswegs bereit, sich auf Modelle vom ‚Klassenfeind‘ im Westen einzulassen. Um aus der Not eine Tugend zu machen, wurde ein ideologisches Element in die Debatte um Hörgeräte eingefügt, das auf die ideelle Verbesserung der Menschen mit Hörschädigung in der DDR verwies. Es wurde nämlich gefordert, „dass die konkurrenzbedingte Verkleinerung der Hörhilfen im kapitalistischen Ausland nicht auf die Entwicklung eines modernen Hörgerätes in unserer sozialistischen Produktion als Beispiel verwendet werden darf“.201 Weiterhin hieß es: Das Bestreben der Schwerhörigen, ihre Schwerhörigkeit vor den Normalhörenden zu verbergen[,] ist im bürgerlichen Existenzkampf der kapitalistischen Gesellschaft notwendig, in der sozialistischen Gesellschaft jedoch unangebracht. Aufgabe des Verbandes [d. h. des ADGV] und der Pädagogen sollte es sein, unsere Schwerhörigen zur Ehrlichkeit in dieser Frage zu erziehen, damit sich die normalhörende Umwelt besser auf die Schwerhörigen einstellen kann.202
Wenn die Geräte aus eigener Produktion nicht den Wünschen der Schwerhörigen entsprachen, mussten die Schwerhörigen eben umerzogen werden. Trotzdem konnte die Idee, dass Menschen mit Hörschädigung in der DDR weniger Vorurteilen ausgesetzt seien als im Westen, nicht über die Probleme mit Quantität und Qualität hinwegtäuschen. 1965 war die Lage weiterhin problematisch: „Obwohl für die Versorgung der schwerhörigen Bürger mit Hörhilfen erhebliche Mittel bereitgestellt werden, kann man noch nicht von einer guten Versorgung sprechen. Insbesondere ist die Leistung der Hörgeräte nicht 198 Ebd. 199 ‚Funck (Zentralvorstand, ADGV), Protokoll der Sitzung der Kommission für Schwerhörigenfragen vom 30.11.1962‘: BArch, DQ 1/23907, unpaginiert. 200 ‚FDGB an Orthopädie –Technik Berlin Hörmittel und Beratungsstelle, 25.1.1973‘: UA HU Berlin, 038005. 201 ‚Funck (Zentralvorstand, ADGV), Protokoll der Sitzung der Kommission für Schwerhörigenfragen vom 30.11.1962‘: BArch, DQ 1/23907, unpaginiert. 202 Ebd.
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ausreichend, darüber hinaus fehlen laufend Ersatzteile, die Qualität der Hörerschnüre sei mangelhaft und der Reparaturdienst ist unzureichend“.203 In den 1970er und 1980er Jahren überprüften Rehabilitationswissenschaftler der DDR osteuropäische Hörgerättechnik zur möglichen Anschaffung. Das Ergebnis war ebenfalls nicht zufriedenstellend, wie ein Beispiel aus dem Jahr 1985 belegt: An der Gehörlosenberufsschule Warschau wurde der Delegation das weiterentwickelte polnische Multihörgerät für eine Gehörkorrektur (WAKS) vorgestellt. Es fand ein Gespräch mit Fachpädagogen zur Praxisbewährung des Gerätes statt. Es überwogen kritische Wertungen. […] Nachteile: Die Qualität der Mikrofone und der Hörer wird bemängelt und liege unter der vergleichbarer Geräte aus dem NSW [Nichtsozialistisches Wirtschaftsgebiet] (Siemens). Als besonders störend seien Quietschtöne bei Veränderung der Mikrofonstellung [genannt]. Das Gerät ist relativ teuer (5470 Rubel).204
Leider sind im Moment die Informationen zur Hörtechnik in den 1970er und 1980er Jahren recht spärlich. Quellen wie die obige deuten an, dass die Probleme mit Qualität, Versorgung und Bezahlbarkeit bestehen blieben. Verwiesen sei noch einmal auf die oben angesprochene Herstellung DDR-eigener CIs, die letztlich offenbar aufgrund der schlechten Wirtschaftslage im Sande verlief. Man kann nur spekulieren, dass die Entdeckung und Aufwertung der Gehörlosenkultur auf internationaler Ebene der DDR eigentlich entgegenkam, da Gebärdensprachen keiner teuren technischen Meisterleistungen bedurften und man auch ohne große Investitionen den Entwicklungen im internationalen (westlichen) Rahmen folgen konnte. Fazit Seit 1945 wurde das rein defizitorientierte medizinische Modell der Betreuung hörgeschädigter Menschen zumindest von Betroffenen aber auch von einigen Expertengruppen zunehmend offen hinterfragt, um neben medizinischen auch andere Aspekte wie Sprache, Kultur, Gesellschaft, persönliches Wohlbefinden und Selbstidentifikation in die ‚Therapierung‘ von Hörverlusten einzubeziehen. Gerade unter Ärzten findet dieser Ansatz bis heute jedoch noch kaum Beachtung; das lässt sich auch für die DDR beobachten. Inwiefern sich medizinische und kulturwissenschaftliche Sichtweisen ergänzen können, ist aus historischer Sicht insbesondere in Bezug auf Hörschädigung auch unabhängig von konkreten politischen Kontexten noch kaum systematisch aufgearbeitet worden. In der Einteilung hörgeschädigter Menschen in gehörlose und schwerhörige ist dies als scheinbarer Widerspruch angelegt, der auch heute noch Konfliktpotenzial in sich trägt als angeblich unüberwindbare Kluft zwischen Gebärdensprachbefürwortern und CI-Trägern. 203 ‚Protokoll über die Arbeitsbesprechung der zentralen Kommission für Schwerhörigenfragen am 9.4.1965 in Berlin‘: BArch, DQ 1/23907, unpaginiert. 204 ‚Burkhard Rehwald, Bericht über Auslandsdienstreise, Warschau, Volksrepublik Polen, 3. bis 7.6.1985‘: BBF/DIPF/Archiv, APW 13551. Abgedruckt in Werner (2015), S. 14–15.
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Eine sorgfältige Analyse der Wahrnehmung hörgeschädigter Menschen in der DDR zeigt, dass in den ersten Jahren nach der Staatsgründung in den Behörden offenbar nicht-medizinisches Personal für die Betreuung hörgeschädigter Menschen zuständig war. Es lassen sich Anzeichen dafür entdecken, dass sie – zumindest ansatzweise – weniger voreingenommen medizinisch dachten und mehr Offenheit für die Vielfältigkeit der Bedürfnisse unterschiedlicher hörgeschädigter Menschen mitbrachten. Gehörlosigkeit war daher in der DDR der frühen 1950er Jahre kein rein medizinisches Problem. Ein Grund dafür könnte sein, dass medizinische Eliten weitgehend erhalten blieben, politische Eliten jedoch komplett erneuert wurden. Es bestand also erst einmal kein etablierter Kontakt zwischen Ärzten und Mitarbeitern in Ministerien. Durch das so entstandene Deutungsvakuum gelang es vor allem gehörlosen Aktivisten, bei Behörden auf ihre Sicht der Dinge aufmerksam zu machen und dabei tatsächlich auch auf offene Ohren zu stoßen. Schwerhörige Interessensvertreter verwiesen ebenfalls, wenn auch weniger erfolgreich, darauf, dass sie eine eigenständige Kultur hätten, obwohl sie recht gut integriert in der hörenden Mehrheitsgesellschaft zurechtzukommen schienen. Allerdings versuchten Ärzte im Lauf der 1950er Jahre, die Deutungshoheit über Hörschädigung zurückzugewinnen. Die gewisse Offenheit der frühen 1950er Jahre, die gehörlosen Menschen Spielräume verschafft hatte, wurde spätestens mit der Gründung des ADGV und der kurz darauf erfolgten Zulassung schwerhöriger Mitglieder durch eine klarer Abgrenzung zweier Hörgeschädigtengruppen ausgehebelt, zu der in der weiteren Analyse auch eine Abgrenzung nach verschiedenen Altersgruppen hinzugefügt werden muss. Nach der Gründung des ADGV wurden schwerhörige Erwachsene eher als eine medizinische Patientengruppe definiert, während man den Gehörlosen eher den Status einer kulturellen Gemeinschaft gewährte (den diese z. B. mit ihren Forderungen nach Dolmetschern einzufordern verstanden). Schwerhörigen gestand man nach den 1950er Jahren keine eigenen kulturellen Bedürfnisse zu, da sie über Hörgerättechnik eigentlich in ausreichendem Maße an der mehrheitlichen Lautsprachkultur beteiligt sein sollten. Erwachsene hörgeschädigte DDR-Bürger sollten als Arbeitskräfte gebunden, über einen Verband kontrolliert und in ihren Kontakten zum Westen eingeschränkt werden. In der DDR fand eine Entmündigung hörgeschädigter Patienten in der HNO aber nicht so sehr durch die Zwänge der SED-Diktatur statt, sondern entsprechend althergebrachter deutscher Traditionen – die Bevorzugung der Lautsprache über der Gebärdensprache wurde im 19. Jahrhundert auch als ‚deutsche Methode‘ bezeichnet. Gehörlose waren in der DDR aus medizinischer Sicht hinter den Schwerhörigen zurückgesetzt, zumal es keine offizielle Anerkennung einer nationalen Gebärdensprache gab. Allerdings wurde ein Grundstein dafür gelegt, indem Rehabilitationspädagogen sich in den 1980er Jahren auf gehörlose Menschen zubewegten und für deren Sprache und Kultur ein wissenschaftliches Interesse zu entwickeln begannen. Wirtschaftliche Schwierigkeiten verhinderten von Beginn an eine zufriedenstellende technisch-medizinische Versorgung schwerhöriger DDR-Bürger mit Hörgerättechnik wie Hörge-
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Der Patient im Betrieb Erfahrungen von diabetes- und alkoholkranken Menschen am Arbeitsplatz in der DDR Markus Wahl
In seiner Eingabe an die populärwissenschaftliche Zeitschrift Urania im Jahr 1966, schrieb Wolfgang R., der zu dieser Zeit in einem Konsum in Riesa arbeitete, als Reaktion auf einen Artikel mit dem Titel ‚Diabetiker benachteiligt‘ über die Schwierigkeiten westdeutscher Diabetiker im Berufsleben das folgende: Dazu kann man nicht schweigen, bei uns in der DDR sind die Verhältnisse kein Stück anders, also brauchen wir uns nicht mit den Verhältnissen in Westdeutschland zu brüsten (in diesem Punkt!). Ich bin jetzt 12 Jahre Diabetiker, Jahrgang 1934, also praktisch noch am Beginn meines Lebens, aber was ich beruflich hinter mir habe, geht auf keine Kuhhaut, eben wegen des Unverständnisses der Betriebe und Staatsorgane in der DDR.1
Diese doch sehr drastische Kritik an der Betreuung von Diabetikern in der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) und ihrer Integration am Arbeitsplatz führte zu einer längeren Korrespondenz zwischen verschiedenen staatlichen und lokalen Behörden, welche zu dem Fall Stellung nehmen sollten. Dabei wurde festgestellt, dass Wolfgang R. nicht nur Diabetiker war, sondern auch schon in eine ‚Trinkerheilanstalt‘ zur Entwöhnungskur eingewiesen wurde.2 Diese gesundheits- und auch lebensgefährdende Kombination aus Alkoholabhängigkeit und Diabetes mellitus3 war kein Einzelphänomen, sondern trat laut Aussage einer Diabetesberaterin aus Rostock häufig auf.4 Die Frage nach den Motiven und danach, welche Krankheit die andere bedingt bzw. verursacht hat, kann schwer generalisierend beantwortet werden. Für den gut dokumentierten Fall Wolfgang R. gibt es aber einige Hinweise, wodurch dieses Beispiel den Beitrag begleiten wird, um die Auswirkungen der zwei moralisierten Krankheiten auf die Betroffenen am Arbeitsplatz in der DDR zu untersuchen. Die historische Gegenüberstellung zweier Krankheiten ist immer problematisch, da sie nicht nur vom medizinischen Standpunkt, sondern auch von der individuellen Vorgeschichte, Symptomatik und dem Verlauf her grundsätzlich verschieden sind. Dessen ungeachtet, offenbart der Blick auf die sozialen Implikationen, vor allem durch die Umstellungen der Lebensweise und die Reaktionen des sozialen Umfelds, viele Gemeinsamkeiten. Für den Beitrag ist somit entscheidend, dass sich in beiden Fällen die chronische Krank1 2 3 4
‚Eingabe, 24.11.1966‘: BArch, DQ 1/4346, unpaginiert. ‚Eingabe der „URANIA“-Redaktion vom 24.11.1966 (Leserzuschrift Wolfgang R.), 9.3.1967‘: BArch, DQ 1/4346, unpaginiert. Dieser Beitrag bezieht sich vor allem auf den insulinpflichtigen Typ-I Diabetes. Interview mit G. S. am 13.3.2019.
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heit der Betroffenen auf deren Alltagsleben im Betrieb auswirkte, sei es in Form eines Karrierebruchs oder des veränderten Umgangs mit den Patienten durch Kollegen und Vorgesetzte. Weiterhin gelten beide Gruppen nach der Anfangstherapie als ‚bedingt gesund‘5, solange sie auf Alkohol verzichten, Insulin spritzen oder eine strikte Diät einhalten. Insofern sind sie prinzipiell in der Lage, ihre Arbeitsproduktivität im Rahmen ihrer Möglichkeiten im Vergleich zu ihrer Leistung vor der Diagnosestellung wieder zu steigern. Daher wurden von den alkohol- und diabeteskranken Menschen ähnliche Strategien entwickelt, mehr oder weniger unterstützt durch lokale Patientengruppen und medizinisches oder fürsorgliches Personal, welche die Lage für die Betroffenen vor Ort verbessern sollten. Die Kritik des Wolfgang R. dient somit als Ausgangspunkt, um die Situation von alkoholabhängigen und diabeteskranken Menschen an ihrem Arbeitsplatz vergleichend zu diskutieren und die praktizierte Vorsorge, Behandlung und Nachsorge im Betrieb an ausgewählten Beispielen zu untersuchen. Das Ziel ist es, die Patientenperspektive einzunehmen und deren Umgang mit ihrer Krankheit am Arbeitsplatz innerhalb der zunächst darzulegenden Rahmenbedingungen in der DDR zu erarbeiten. Es wird die These aufgestellt, dass trotz Sozialismus und den ideologischen und politischen Ansprüchen der umfassenden medizinischen Versorgung und persönlichen Entfaltungsmöglichkeiten auch in Ostdeutschland ein unterstützendes soziales Umfeld für positive Erfahrungen und individuelle Bewältigungsstrategien des Betroffenen im Verhältnis zur chronischen Krankheit entscheidend waren. Dafür werden neben dem angesprochenen Beispiel, den staatlichen Regelungen und Vorgaben und den Diskussionen innerhalb der Ministerien für Gesundheits- und Bauwesen, vor allem Patientenakten, die Dokumentationen der ab 1979 stattfindenden Treffen abstinenter Alkoholkranker und Aussagen von Zeitzeugen für die Analyse herangezogen. Rahmenbedingungen Um die spezifischen Probleme chronisch kranker Patienten am Arbeitsplatz in der DDR untersuchen zu können, ist es nötig, sich zunächst einen groben Überblick über die politischen und rechtlichen Rahmenbedingungen für die Beispiele der Diabetes und der Alkoholabhängigkeit zu verschaffen. Generell galt im staatlichen Gesundheitswesen der Anspruch, durch die Einheit von Wissenschaft und Praxis die Trias der Prophylaxe, Behandlung und Nachsorge zu komplementieren und somit den Bürger allumfassend zu betreuen.6 Wie 5
6
‚Bedingt gesund‘ ist ein Begriff, der von Gerhardt Katsch in seinen Studien zur Diabetes eingeführt und später auch von den Initiativen der Ärzte zur Verbesserung der Alkoholkrankenbetreuung aufgegriffen wurde. Vgl. Katsch (1937), S. 399–403; Bruns (1978), S. 126; Haak/Wenzel/Windischmann (1981), S. 72. Die Prinzipien, die das ostdeutsche Gesundheitswesen neben dem Anspruch der allgemeinen, unentgeltlichen Zugänglichkeit bestimmten, werden unterschiedlich beschrieben, jedoch lässt sich in der Forschungs- und zeitgenössischen Literatur ein Konsens zu
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1963 auf dem VI. Parteitag der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) verkündet wurde, sei „im Sozialismus […] die Gesellschaft unmittelbar an der allseitigen Entwicklung eines jeden Bürgers interessiert“, weshalb „die Sorge um die Gesundheit, um die harmonische geistige, moralische und körperliche Entwicklung jedes einzelnen zur Sache des ganzen Volkes“ werden würde.7 Um dies auch am Arbeitsplatz zu gewährleisten, wurde schon 1947 durch die Sowjetische Militäradministration in Deutschland (SMAD) mit dem Befehl Nr. 234 über ‚Maßnahmen zur Steigerung der Arbeitsproduktivität und zur weiteren Verbesserung der materiellen Lage der Arbeiter und Angestellten in der Industrie und im Verkehrswesen‘ das Betriebsgesundheitswesen ins Leben gerufen.8 Betriebe mit über 5.000 Beschäftigten sollten eine eigene Poliklinik einrichten, welche mit dem Arbeitsschutz, der Vorsorge, wie Reihenuntersuchungen, und Behandlung der Mitarbeiter und deren Angehörigen beauftragt war. Kleinere Firmen errichteten Betriebsambulatorien oder Sanitätsstellen, welche oft stundenweise – als mehr oder weniger obligatorische Nebentätigkeit – von Ärzten mit sogenannten Zusatzstellen (Z-Stellen) besetzt wurden.9 Das Ziel dieser Einrichtungen war es, den Krankenstand zu senken und auf ein möglichst niedriges Niveau einzupegeln, da in einer Planwirtschaft die Krankenziffer zu einem wichtigen Koeffizienten im Zusammenhang mit der Arbeitsproduktivität wurde.10 Der Ausfall von Arbeitskraft aufgrund von Krankschreibungen wurde als gesamtgesellschaftliches Problem betrachtet, das die Erfüllung der Fünf-Jahres-Pläne gefährdete.11 In dieser Logik stellten chronisch Kranke, wie Diabetiker und Alkoholabhängige, immer eine Last für die Volkswirtschaft dar, weil sie meist unerwartet für längere Zeit ausfielen
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folgenden Beschreibungen feststellen: Staatlichkeit, Planmäßigkeit, Hervorhebung der Prophylaxe, und die oben angesprochene Einheit von Wissenschaft und Praxis. Ernst (1996), S. 25; Weil (2008), S. 11; Korbanka (1990), S. 34; Grohs/Lämmel (1986), S. 1047; Keck (1986), S. 556; Mette (1958), S. 28–37; Winter (1980), S. 151–153. ‚Programm der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands 1963‘, Dokumente der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (1965), S. 236. ‚Befehl Nr. 234 der SMAD vom 9.10.1947 über Maßnahmen zur Steigerung der Arbeitsproduktivität und zur weiteren Verbesserung der materiellen Lage der Arbeiter und Angestellten in der Industrie und im Verkehrswesen („Tägliche Rundschau“ Nr. 237 vom 10.10.1947)‘: BArch, DC 15/759, unpaginiert. Grundsätzlich gab es für das Betriebsgesundheitssystem bereits im Kaiserreich, der Weimarer Republik und dem Dritten Reich ähnliche und unterschiedlich ausgeprägte Ansätze. Steger/Wiethoff (2018), S. 26–41. Ernst (1996), S. 335; Süß (1998), S. 60; Für zeitgenössische Literatur, vgl. auch Winter (1969), S. 17; Grohs/Lämmel (1986), S. 1048; Keck (1986), S. 555–556. Schon 1953 wurden die sogenannten ‚Ärzteberatungskommissionen‘ etabliert, die den Krankenstand und die Arbeit der Ärzte überwachen sollte, da die Staatsführung den Medizinern ‚leichtfertige Krankschreibungen‘ als Sabotageakt vorwarf. Für mehr Informationen, vgl. ‚Anordnung über die Organisation und Aufgaben der Ärzteberatungskommissionen und Verbesserung der ärztlichen Beurteilung der Arbeitsfähigkeit vom 3.6.1953‘, Spaar (1996), S. 111–112; Wahl (2013), S. 29–30, 50–51; Ernst (1996), S. 98; Süß (1998), S. 76–77; Müller (1993), S. 340.
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bzw. ungeplante Fehlstunden verursachten. Die daraus resultierenden Moralisierungen von Krankheit fanden ihren Höhepunkt, wenn der Vorwurf von vorsätzlich gesundheitsschädigenden Verhaltensweisen, wie z. B. der übermäßige Alkoholkonsum, im Raum stand. In einer Gesellschaft, in der die Arbeitsproduktivität den sozialen Wert des Menschen bestimmen sollte,12 wurde die ‚selbst-verschuldete‘ Abwesenheit dementsprechend als ‚bewusste Sabotage des Aufbaus und der Entwicklung der sozialistischen Gesellschaft‘ angesehen. Das Verhalten wurde kriminalisiert, pathologisiert, als ‚sozial abweichend‘ oder ‚asozial‘ definiert und im Ernstfall der Betroffene entweder mit einer Gefängnisstrafe belegt oder in ein Psychiatrisches Krankenhaus eingeliefert.13 Das Problem des Krankenstandes generell und speziell der stetige Anstieg von frischen Diabetes-Fällen veranlasste das Ministerium für Gesundheitswesen, die Installierung von Bezirks- und Kreisdiabetologen sowie die Einführung von Diabetes-Beratungsstellen, meist als selbständige Abteilungen in den Kreispolikliniken, spätestens mit dem Gesetz von 1954 zur Entwicklung der Dispensairemethode anzuordnen.14 In der für ihren Kreis zuständigen Einrichtung mussten sich alle Diabetiker in der Regel monatlich zur Urin- und Blutzuckeruntersuchung vorstellen, um die diätetische Einstellung bzw. die Einheiten von Insulin oder Tabletten zu überprüfen.15 Sollten die Stoffwechselwerte schlecht sein, musste der Diabetiker zur Neueinstellung stationär aufgenommen werden, was damals einen vierwöchigen Krankenhausaufenthalt und somit einen gleichlangen Ausfall an Arbeitskraft bedeutete. Als eine Unterstützungsmaßnahme erhielten Diabetiker ab 1958 bei einem monatlichen Gehalt von unter 800 Mark einen Zuschlag von 13 Mark, Empfänger von Sozialhilfe ab 1974 sogar eine Beihilfe von 31 M, um die Kosten für die spezielle Diät auszugleichen – jedoch nur, wenn sie den ärztlichen Anweisungen Folge leisteten und sich regelmäßig zur Untersuchung vorstellten.16 Für Alkoholabhängige gab es solche Maßnahmen nicht. Die Politik beschränkte sich auf die Reglementierung des Alkoholmissbrauchs und der oftmals daraus resultierenden Kriminalität, wie z. B. mit der ‚Verordnung über die Kosten für die ärztliche Behandlung und Beförderung bei Alkoholmissbrauch‘ von 1962, welche Betroffene ab diesem Zeitpunkt selbst bezahlen
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Haak/Wenzel/Windischmann (1983), S. 67. Korzilius (2005), S. 19, 39–44, 330–338, 356–358, 422–429. Bruns (1978), S. 126–130. Ebd., S. 158; ‚Freistellung von der Arbeit zur Untersuchung zuckerkranker Werktätiger beim Arzt, 24.6.1963‘: BArch, DQ 1/4228, unpaginiert. ‚Verordnung über die Gewährung einer Beihilfe für Tuberkulose-, Geschwulst- und Zuckerkranke vom 28.5.1958‘, Gesetzblatt der Deutschen Demokratischen Republik (1958), S. 445–446; ‚Verordnung über Leistungen der Sozialfürsorge vom 4.4.1974‘, Gesetzblatt der Deutschen Demokratischen Republik (1974), S. 224. ‚Ref. Organisation des Gesundheitsschutzes: Analyse zur Erfüllung des Volkswirtschaftsplanes 1958‘: LA HGW, Rep. 200 9.1. Nr. 53, Bl. 28.
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mussten.17 Bei groben Verstößen gegen die öffentliche Sicherheit oder bei ‚staatsfeindlicher Hetze‘ unter Alkoholeinfluss bezogen sich die Strafverfolgungsbehörden bei ‚Trunksucht‘ auf die mit dem ‚Gesetz gegen gefährliche Gewohnheitsverbrecher‘ 1934 eingeführten und nach 1945 weiterhin gültigen §§ 42c und 42f des Reichstrafgesetzbuches, später auf das Einweisungsgesetz und die Straftatbestände, festgehalten im neuen Strafgesetzbuch der DDR von 1968, zur zwangsweisen oder freiwilligen Einweisung zur Entziehungskur.18 Die einseitige offizielle Betrachtung des Alkoholismus als kriminelles Problem anstatt vor allem als Krankheit basierte auf dem ideologischen Narrativ, dass Alkoholabhängigkeit und -missbrauch dem Sozialismus ‚wesensfremde Erscheinungen‘ wären – sozusagen überkommene, dem Kapitalismus zugeschriebene Verhaltensweisen.19 Infolge des stetigen Anstiegs des generellen Alkoholkonsums sowie der damit verbundenen Fallzahlen an Alkoholabhängigkeit manövrierte sich die SED-Führung in eine argumentative Sackgasse, wonach Eingeständnisse die eigene Legitimität untergruben. Das Fehlen bzw. Zurückschrecken von konkreten, prophylaktischen Maßnahmen zur Eindämmung des Alkoholkonsums und das Verschweigen des sozialen Problems der Sucht in der DDR wirkte sich dementsprechend auf die Behandlung von Alkoholkranken aus: Sei es durch die Polizei, Justiz, Sozial- oder Gesundheitseinrichtungen, welche den Alkoholismus als „Folgeerscheinungen persönlicher Schuld und menschlichen Versagens“ abstempelten, oder im Umgang mit den Betroffenen am Arbeitsplatz.20 Die Situation von Patienten am Arbeitsplatz vor der offiziellen Diagnosestellung Dieser Abschnitt konzentriert sich vor allem auf die Situation und Erfahrungen von Diabetikern und Alkoholkranken im Betrieb, bevor deren Krankheit allgemein bekannt bzw. die Diagnose gestellt wurde. Generell beschränkten 17
‚Verordnung über die Kosten für ärztliche Behandlung und Beförderung bei Alkoholmißbrauch vom 22.9.1962‘, Gesetzblatt der Deutschen Demokratischen Republik (1962), S. 684. Vgl. auch ‚1. Entwurf eines Programmes zur Bekämpfung des Alkoholmißbrauchs auf der Grundlage des Beschlusses des Ministerrates über die ersten Erfahrungen seit dem Erlaß des StGB bei der Durchsetzung der Verantwortung der Leiter der Staats- und Wirtschaftsorgane für die Verhütung von Straftaten, 26.8.1969‘: BArch, DP 1/3035, Bl. 4. 18 ‚Gesetz gegen gefährliche Gewohnheitsverbrecher und Maßregeln der Sicherung und Besserung vom 24.11.1933‘, alex (2011) [Online]; ‚Gesetz über die Einweisung in stationäre Einrichtungen für psychisch Kranke vom 11.6.1968‘, Gesetzblatt der Deutschen Demokratischen Republik (1968), S. 273–276; ‚Strafgesetzbuch der Deutschen Demokratischen Republik -StGB- vom 12.1.1968‘, Gesetzblatt der Deutschen Demokratischen Republik (1968), S. 1–48. 19 Vgl. ‚Maßnahmeplan für die Erarbeitung eines Programms zur schrittweisen Überwindung des Alkoholmißbrauchs, 13.1.1970‘: BArch, DP 1/2485, unpaginiert. 20 Siegfried Schirmer, Ärztlicher Direktor der Bezirksnervenklinik Brandenburg, behauptete dies sogar noch in seiner Eröffnungsrede zum ersten Erfahrungsaustausch abstinent lebender Alkohol- und Drogenkranker in der DDR 1979. Wenzel/Windischmann (1979), S. 4.
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sich trotz des Betriebsgesundheitswesens die prophylaktischen Maßnahmen hinsichtlich der zwei genannten Krankheiten auf die Reihenuntersuchungen zur Früherkennung des Diabetes.21 Kampagnen der Gesundheitsaufklärung zu den Gefahren des Alkoholmissbrauches oder zu dem Krankheitsbild der Zuckerkrankheit wurden kaum im sozialen Raum eines Betriebes rezipiert.22 Bei dem ab 1979 regelmäßig stattfindenden ‚Erfahrungsaustausch von abstinent-lebenden Alkoholkranken‘ in der Bezirksnervenklinik Brandenburg berichtete ein Patient aus der Nähe von Wittenberg, dass er „bei der Arbeitsschutzbelehrung über den Alkoholismus sprechen [wollte], aber das […] nicht für voll genommen“ wurde.23 Die Betroffenen kritisierten auf den Brandenburger Veranstaltungen daher immer wieder diesen Umstand und die damit einhergehende Gleichgültigkeit oder Ignoranz der Arbeitskollegen gegenüber dem übermäßigen Alkoholkonsum, wodurch die tradierten Trinkkulturen hartnäckig bestehen blieben.24 Ferner erklärte Otto D., Kaderleiter eines Großbetriebes in Nauen, dass bei dem Wiedereingliederungsversuch eines Patienten größere Probleme auftraten, da „[d]er Alkoholmißbrauch als persönliche Angelegenheit“ angesehen und „[d]er wirkliche Alkoholkranke […] in vielen Fällen abgelehnt“ werden würde, was eine Marginalisierung der Betroffenen zur Folge hatte.25 Auch staatliche Interventionen, die Trinksitten am Arbeitsplatz zu verändern, wie das Verbot zum Ausschank von Alkohol in Betriebs-Kantinen und umliegenden Gaststätten und Kiosken während der Arbeitszeit, wurden oft umgangen.26 Weitergehende Eingriffe des Staates führten z. B. 1957 zu Protesten der Arbeiter der Volkswerft in Stralsund, nachdem der Bezirkstag Rostock beschlossen hatte, den Verkauf von Spirituosen in Kiosken zu unterbinden. Daraufhin wurde in der nächsten Ratssitzung der Stadt Stralsund empfohlen, den „Beschluß sinnvoll auszulegen und unnötige Härten zu vermeiden“.27 Welche ‚Härten‘ für den einzelnen Arbeiter durch das Verbot entstehen würden, bleibt in dem Protokoll offen. Vielleicht bezog sich die Aussage auch eher auf die generelle Stimmung der Bevölkerung in der Stadt, was darauf hindeutet, dass der Volksaufstand am 17. Juni 1953 in den Köpfen der lokalen 21 Bruns (1978), S. 167. 22 Vgl. ‚Nicht geordnete Informationen, 25.4.1979‘: BArch, DQ 1/27014, unpaginiert; ‚Bericht des Stellvertretenden Ministers für Bauwesen, Genosse Eichhorn, über die Durchssetzung des Rechtspflegeerlasses im Bereich des Ministeriums für Bauwesen, [1966]‘: BArch, DP 1/2485, Bl. 176–183; ‚Alkoholunfälle, 1974‘: BArch, DH 1/25669, unpaginiert. 23 Wenzel/Windischmann (1979), S. 131. 24 Vgl. z. B. ebd., S. 64, 101, 110–111, 131–132, 157. 25 Ebd., S. 157. 26 Vgl. ‚Bekanntmachung der Arbeitsschutzbestimmung 1. – Allgemeine Vorschriften vom 23.7.1952‘, Gesetzblatt der Deutschen Demokratischen Republik (1952), S. 691–692; ‚1. Entwurf eines Programmes zur Bekämpfung des Alkoholmißbrauchs auf der Grundlage des Beschlusses des Ministerrates über die ersten Erfahrungen seit dem Erlaß des StGB bei der Durchsetzung der Verantwortung der Leiter der Staats- und Wirtschaftsorgane für die Verhütung von Straftaten, 26.8.1968‘: BArch, DP 1/3035, Bl. 2. 27 ‚Ratssitzung vom 16.5.1957‘: StA HST, Rep. 49, Nr. 499, unpaginiert.
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Amtsträger auch 1957 immer noch sehr präsent war.28 Der Stadtrat hob in Folge das Verkaufsverbot von Spirituosen umgehend auf und Kioske, wie zum Beispiel in der Nähe der Volkswerft, wurden lediglich in dem Maße beschränkt, dass sie neben Bier bei Spirituosen nur Flaschen bis 0,2 l verkaufen durften.29 Das ist nur ein Beispiel von vielen, wie die ambivalente Politik der SED das eigene Narrativ „[i]n unserem Bauern- und Arbeiterstaat, bedürfen die Menschen nicht mehr des Alkohols, um glücklich zu sein“ zu Gunsten der Popularität in der Bevölkerung schon frühzeitig untergrub.30 Das daraus resultierende Problem wurde 1970 vom Leiter des Nationalen Komitees für Gesundheitserziehung der DDR wie folgt zusammengefasst: Es gibt bereits vielfältige Vorstellungen zu Veränderung des Tabak- und Alkoholmißbrauches mit den Mitteln der Gesundheitserziehung. Dazu ist auch schon eine Menge geschehen. Solange aber die größte Diskrepanz zwischen den Forderungen der gesunden Lebensweise und der gesellschaftlichen Praxis besteht, solange die sozialistische Gesellschaft noch nicht eindeutig Stellung bezogen hat und das auch durch ihre Maßnahmen bekundet, bleiben alle Bemühungen der Gesundheitserziehung in den Anfängen stecken. Wir sind langsam unglaubwürdig geworden.31
Die angesprochene Unglaubwürdigkeit der Behörden durch die sich im Laufe der Existenz der DDR verschärfende Divergenz zwischen ideologischen Anspruch und Realität hatte auch Auswirkungen auf die Situation im Betrieb und die Dynamik zwischen Arbeitskollegen. Aufgrund dieser angesprochenen Probleme, ob von staatlicher Seite aus oder in der Mentalität der Arbeitskollegen vor Ort, zeigten Betroffene Zurückhaltung in der Offenbarung ihrer Krankheit. Der eingangs erwähnte Wolfgang R. verschwieg bei seiner ersten Arbeitsstelle, einer Berliner Druckerei, wo er im Zwei-Schicht-System arbeitete, seinen Diabetes; ein Verhalten, was ihm in dem zusammenfassenden Antwortschreiben vom verantwortlichen Bezirksdiabetologen als fahrlässig vorgeworfen wurde.32 Aber auch in den Aussagen einiger Zeitzeugen mit Diabetes wird darauf hingewiesen, dass sie entweder anfänglich oder sogar für das gesamte Berufsleben ihre Krankheit im Arbeitsumfeld nicht offiziell offenbaren wollten. Frau H. aus Görlitz z. B. schrieb in einem Brief, dass sie während ihrer Studienzeit die Diabeteserkrankung verschwieg, da sie „kein behinderter Mensch sein [wollte] auf den man Rücksicht nehmen oder aufpassen muß“.33 Das in dieser Aussage mitschwingende Mo-
28 Für weitergehende Informationen über die Bedeutungen und Auswirkungen des Volksaufstandes in der DDR, vgl. Kowalczuk (2013). 29 ‚Ratssitzung vom 16.5.1957‘: StA HST, Rep. 49, Nr. 499, unpaginiert. 30 Aussage stammt von einem Plakat des Deutschen Hygiene Museums von 1957. ‚Der Alkohol – Freund oder Feind? / Kleinausstellung KA 24 (24 Motive); Bild 7, ca. 1957‘: DHMD 2016/134.7. 31 ‚Schreiben der Pressestelle der SED an die Redaktion „Neues Deutschland“, 14.4.1971‘: BArch, DQ 1/2619, unpaginiert. 32 ‚Eingabe der „URANIA“-Redaktion vom 24.11.1966 (Leserzuschrift Wolfgang R.), 9.3.1967‘: BArch, DQ 1/4346, unpaginiert. 33 Brief von B. H. vom 22.1.2019.
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tiv ist der Wunsch, ‚normal‘ zu sein, und die Angst, dass das Umfeld den Betroffenen nach der Erstentlassung aus dem Krankenhaus anders wahrnimmt. In dem 1987 erschienen ostdeutschen Roman Leben nach der Uhr von Gerhard und Christiane Vogel, erklärt Katharina, eine langjährige Diabetikern, dem Protagonisten und frischen Diabetesfall Bruno, dass die verständnisvolle Atmosphäre des Krankenhauses nur vorübergehend sei: „Wenn du rauskommst, ist das ganz anders […] da mußt du aufpassen, die Krankheit reißt Gräben auf zwischen dir und den anderen. Das ist so. Keiner kann dafür“.34 Es war somit eine Vermeidungsstrategie der Betroffenen auf mehreren Ebenen. Zu einem befürchteten Diabetiker die Ablehnung des sozialen Umfeldes durch Unverständnis und Ignoranz oder Vermeidung aus Unkenntnis und Unsicherheit hinsichtlich ihrer Krankheit. Frau N. aus Wismar erklärte, dass sie aus diesem Grunde während ihrer Schulzeit lieber den Diabetes ‚totgeschwiegen‘ hat und generell immer als Außenseiter galt, weil sie aufgrund der Krankheit selten auf Klassenfahrten oder Wandertage mitgehen konnte. Erst nachdem sie in Biologie einen Vortrag über den Diabetes halten musste, offenbarte sie sich und erreichte das Verständnis ihrer Klassenkameraden.35 Zu anderen bestand neben dieser Angst vor sozialer Marginalisierung und Stigmatisierung weiterhin das Problem, dass die Diagnose für viele auch einen Karrierebruch verursachen konnte. Diabetiker wurden als nicht fahrtüchtig eingestuft, ein Chirurg durfte nicht mehr operieren oder ein Seemann nicht mehr zur See fahren. Somit waren in vielen Fällen Umschulungen nötig und der angestrebte Beruf nicht mehr erreichbar.36 Für Wolfgang R. stellte sich genau diese Situation ein, denn nach Bekanntwerden seiner Krankheit konnte er nicht mehr in der Druckerei arbeiten, wo er 600 bis 650 Mark im Monat erhielt. Der Betrieb begründete dies damit, dass die Herausnahme aus dem Schichtsystem – um einen geregelten Tagesablauf für den insulinpflichtigen Patienten zu ermöglichen – nicht durchführbar gewesen wäre. Es ist nicht mehr feststellbar, ob dies den Tatsachen entsprach oder ob der Betrieb die Gelegenheit nutzte, einen ungeliebten Mitarbeiter loszuwerden. Jedenfalls wurde er an eine neue Arbeitsstelle vermittelt, der Deutschen Bauinformation, wo er 100 Mark weniger verdiente. Spätestens dort wurde er anscheinend alkoholabhängig und letztendlich zur Entziehungskur eingewiesen.37 Für Alkoholkranke galt in vielerlei Hinsicht das gleiche, wie das oben Beschriebene für Diabetiker. Es war auch hier möglich, die Krankheit – in dem Fall die Abhängigkeit vom Alkohol – zu verschweigen. Anders als bei insulinpflichtigen Diabetikern, welche sich heimlich spritzten, konnten Alkoholkranke ohne Krankheitseinsicht eher offensive Strategien verfolgen. In den Berichten von abstinent-lebenden Patienten über ihre sogenannte ‚nasse Phase‘ wird deutlich, dass es ihnen durch die oben aufgezeigte Trinkkultur in den jeweiligen Be34 35 36 37
Vogel/Vogel (1987), S. 36. Interview mit R. N. am 23.6.2019. Bruns (1978), S. 156–158. ‚Eingabe der „URANIA“-Redaktion vom 24.11.1966 (Leserzuschrift Wolfgang R.), 9.3.1967‘: BArch, DQ 1/4346, unpaginiert.
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trieben möglich war, ihren übermäßigen Alkoholkonsum vor sich und anderen zu rechtfertigen und das Suchtverhalten innerhalb dieser Gruppendynamiken zu verstecken.38 Es war auch in diesem sozialen Raum, in dem viele der Betroffenen, laut den eingesehenen Patientenakten aus dem Bezirkskrankenhaus für Psychiatrie und Neurologie Arnsdorf bei Dresden, erst zum Alkohol gekommen waren – und in diesem steigerte sich auch ihr Konsum.39 Ein alkoholabhängiger Patient, ehemaliger Monteur im Hochbau aus Berlin, erzählte z. B., dass „auf dem Bau alle getrunken [haben]. Wir kamen runter von der Rüstung und rein in die Gaststätte, weil wir in der Öffentlichkeit leben mußten. Die Baubaracken und der Bau waren ja kein vernünftiges Zuhause – kein vernünftiges Leben“.40 Diese Situation führte bei ihm zu einem täglichen Alkoholkonsum von ca. 20 Bieren und 20 Schnäpsen. Trotzdem sah er sich aufgrund der in diesem Umfeld sozial gestützten Trinksitten zunächst nicht als ‚Alkoholiker‘ an.41 In den Fällen, bei denen es zu Fehlschichten und Disziplinarstrafen kam, wurde der Alkoholkranke oftmals versetzt und musste teilweise mit beruflicher Degradierung rechnen.42 „Im neuen Kollektiv wurde gern getrunken“, berichtete ein Patient aus Magdeburg, der 1974 aus disziplinarischen Gründen in die neue Arbeitsstelle ‚delegiert‘43 wurde, wodurch er dort zunächst wieder Akzeptanz für seinen Konsum fand.44 Später aber durch den gehäuften Kontrollverlust, d. h. den ungebremsten Alkoholkonsum bis zur Bewusstlosigkeit, drohten ihm auch im neuen Betrieb disziplinarische Maßnahmen – und der stetige soziale Abstieg.45 Dieser Kreislauf wurde oftmals nur durch das Engagement von Verwandten, Freunden, Kollegen oder Vorgesetzten, sich verstärkende soziale Konflikte, wie z. B. drohende Ehescheidungen oder fristlose Entlassungen, Unfälle unter Alkoholeinfluss oder aber erst durch schwerere körperliche Schäden, die zur sofortigen stationären Aufnahme oder nicht selten zum Tod führten, durchbrochen.46 Krankheitseinsicht, das eigene Eingeständnis und die Annahme externer Hilfe waren daher entscheidend für den erfolgreichen Ausbruch aus der Sucht. Aber auch nach einer Entziehungskur, entschieden sich einige der Betroffenen aus Furcht vor Ausgrenzung, ihre Alkoholabhängigkeit weiter zu ver38 Wenzel/Windischmann (1979), S. 15. 39 Vgl. HSA DD, 10820, Landesheil- und Pflegeanstalt / Bezirkskrankenhaus für Psychiatrie und Neurologie Arnsdorf, Nr. 822, 904, 925, 929, 933, 941, 955, 965, 968, 971, 985, 996, 1002, 1008, 1011, 1012, 1014, 1021, 1022, 1025, 1033, 1035, 1037, unpaginiert. 40 Wenzel/Windischmann (1979), S. 110. 41 Ebd. 42 Vgl. HSA DD, 10820, Landesheil- und Pflegeanstalt / Bezirkskrankenhaus für Psychiatrie und Neurologie Arnsdorf, Nr. 941, 996, 1025, 1033, unpaginiert; vgl. auch z. B. Haak/ Wenzel/Windischmann (1983), S. 71. 43 Dass dies eine weitverbreitete Praxis in der DDR war, Alkoholkranke bei Disziplinarstrafen in andere Betriebe zu versetzten, kritisierte auch der Arzt Erik Winter 1981. Haak/ Wenzel/Windischmann (1981), S. 43. 44 Haak/Wenzel/Windischmann (1983), S. 72. 45 Ebd. 46 Vgl. HSA DD, 10820, Landesheil- und Pflegeanstalt / Bezirkskrankenhaus für Psychiatrie und Neurologie Arnsdorf, Nr. 929, 941, 955, 996, 1014, 1033, 1037, unpaginiert.
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schweigen, was jedoch bei um abstinenz-ringenden Patienten oftmals zu Rückfällen führte, wenn sie bei Betriebsfeiern unweigerlich mit Alkohol konfrontiert oder gar provoziert wurden.47 Wie Erik Winter, Chefarzt der Klinik für Alkohol- und Drogenkranke im Wilhelm-Griesinger-Krankenhaus Berlin, in seinem Beitrag zum Erfahrungsaustausch 1979 aussagte, bestand das Problem, dass der Patient „[a]ls ‚Säufer‘ […] zunehmend zum Außenseiter geworden [war]. Als Nichttrinker bleibt er ebenfalls ein Außenseiter“.48 Es waren also auch abstinent-lebende Alkoholkranke, die wie Diabetiker außerhalb der schützenden Atmosphäre von Gleichgesinnten in der Klinik am Arbeitsplatz häufig auf Unkenntnis, Ignoranz und Unsicherheiten stießen, was sie oftmals zum Verschweigen der Krankheit bewegte und gleichzeitig ihre Anstrengungen zur Bewältigung der Lebensumstellung erschwerte. Diese Gesamtsituation in der Betroffene sich in ihrem Alltagsleben wiederfanden und die fehlende Offenheit in den Medien, der Behörden und des Staates, vor allem Alkoholkranke zu unterstützen, brachte ein Journalist bei dem Treffen abstinent-lebender Alkoholabhängiger 1981 auf den Punkt: Warum zeigt man [im Fernsehen] nicht einen Menschen in einem Großbetrieb, wo irgendwo eine Flasche Alkohol im Schubfach oder im Umkleideschrank auf eine günstige Gelegenheit wartet? Wo dieser mit jenem trinkt, eine Hand die andere wäscht, über einen Schluck […] Oder einen empfindsamen, nachdenklichen Menschen, zermürbt von Trampeltieren, die Karriere machen, den Vorgesetzten zum Munde reden, zu allem ‚Ja‘ sagen und für die jener unbequem wurde. Muß das ein unabwendbares Ende sein: Alkoholismus, die stationäre Behandlung, oft mit langen Wartezeiten oder die Intensivstation, die Behandlung auch derer, die schon fast hoffnungslos ist, das Warten, bis es zu spät ist, statt einer rechtzeitigen Prophylaxe auch durch ehrliche Auseinandersetzungen in aller Offenheit?49
Nicht zuletzt aufgrund dieser mangelnden differenzierten Auseinandersetzung in der Öffentlichkeit riefen Ärzte oder auch langjährige Diabetiker und abstinent-lebende Alkoholkranke zum offenen Bekenntnis und zur Konfrontation mit den Kollegen auf, um die Situation nicht nur für den Kranken selbst, aber auch für mögliche neue oder unbekannte Fälle vor Ort am Arbeitsplatz zu verbessern.50 Die Situation von Patienten am Arbeitsplatz nach der offiziellen Diagnosestellung Wolfgang R. kam nach seiner Entziehungskur zum VEB Stahl- und Walzwerk Riesa und wurde als Verlader eingesetzt. Diese Aufgabe erhielt er nur aufgrund der Tatsache, dass er bei der Einstellungsuntersuchung wiederum seinen Diabetes verschwieg. Diabetiker werden jedoch meistens als untauglich 47 48 49 50
Wenzel/Windischmann (1979), S. 131. Ebd., S. 32. Haak/Wenzel/Windischmann (1981), S. 48–49. Dem Themenkomplex des Bekenntnisses am Arbeitsplatz und in der Öffentlichkeit widmete sich der 3. Erfahrungsaustausch von abstinent-lebenden Alkoholkranken im Jahre 1983 ausführlich. Haak/Wenzel/Windischmann (1983), S. 67–98.
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für das Führen eines Fahrzeuges vor allem im beruflichen Kontext eingestuft.51 Daher konnte auch Wolfgang R. nach Bekanntwerden seiner Krankheit diese Tätigkeit nicht mehr ausüben. Doch gab es hier eine Betriebspoliklinik, welche sich laut Bericht um eine geeignete Tätigkeit bemühte. Infolgedessen wurde Wolfang R. als Lohnrechner beschäftigt, aber mit einem Monatsgehalt von nur noch 357 Mark.52 Die stetige Abstufung im Beruf bzw. Versetzung in andere Betriebe, mit den damit verbundenen Lohneinbußen um fast die Hälfte des ursprünglichen Gehalts, war auch ein Grund dafür, der ihn anscheinend zu der eingangs erwähnten Eingabe bewegt hatte und wohl auch zu dem Verschweigen der Krankheit bei Neueinstellung führte. Jedoch ist der Fall von Wolfgang R. in der Kombination von Diabetes und Alkoholabhängigkeit sowie seinen Fehltritten nur bedingt repräsentativ. Viele Diabetiker bekannten sich früher oder später zu ihrer Krankheit und stießen damit, wie angesprochen, teilweise auf Unbehagen aber auch auf Unterstützung von Kollegen und dem Betrieb. Generell zeigt sich die Tendenz, dass Diabetiker, die schon vor der Erkrankung Bürotätigkeiten wahrnahmen, diese Arbeit weiterführen konnten. Auch Herr L. aus Bautzen konnte nach der Feststellung des Diabetes an seinem Arbeitsplatz als Arbeitsvorbereiter im Büro verbleiben und berichtete, dass seine Kollegen ein echtes Interesse an seiner Erkrankung zeigten; „helfen konnten sie mir aber auch nicht“.53 Bei anderen Berufen, die Selbst- oder Fremdgefährdung durch die Möglichkeit des Insulinschocks hervorrufen könnten bzw. bei Tätigkeiten mit unregelmäßigen Arbeitszeiten, war eine Weiterbeschäftigung nicht möglich. Auch hier galt, wie bei Wolfgang R., dass die Betroffenen nach der Diagnosestellung meist für Büroarbeiten eingesetzt bzw. bei Möglichkeit aus dem Schichtsystem ausgegliedert wurden, was vielfach im Kollegenkreis ohne Probleme verlief.54 Herr T. aus der Nähe von Bautzen berichtete ebenfalls, dass seine Kollegen Verständnis für seine Krankheit aufbrachten, aber ihn gleichzeitig bedauerten.55 Letzteres wie Bemitleidung, Überfürsorglichkeit und Ausgrenzungen stellten für viele Betroffene bei der eigenen Bewältigung der Diagnose, Umstellung der Lebensweise und der Entscheidung sich offen im Betrieb dazu zu bekennen eine zusätzliche Belastung dar, was auch Bruno aus dem erwähnten Roman frustrierte.56 So wurde ein Polizist, der an Diabetes erkrankte und daher nicht mehr Streife fahren durfte, ins Archiv versetzt. Er selbst bezeichnete sich dann als „Kellerkind“ und äußerte sein Missbehagen darüber, dass er doch auch genauso gut hätte Anzeigen aufnehmen können.57 Ob es sich in seinem Fall um eine individuelle Degradierung oder eine übersteigerte Vor51 52 53 54 55 56 57
Für die in der DDR geltenden Bestimmungen hinsichtlich der Fahrtauglichkeit von Diabetikern, vgl. Bruns (1978), S. 159–161. ‚Eingabe der „URANIA“-Redaktion vom 24.11.1966 (Leserzuschrift Wolfgang R.), 9.3.1967‘: BArch, DQ 1/4346, unpaginiert. Brief von M. L. vom 21.9.2018. Bruns (1978), S. 156–159. Brief von C. T. vom 11.11.2018. Vogel/Vogel (1987), S. 141–143. Interview mit G. S. am 13.3.2019.
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sichtsmaßnahme durch die Vorgesetzten handelte, ist nicht mehr zu rekonstruieren. Es zeigt sich aber, dass der jeweilige Arbeitsplatz und das Verständnis der Kollegen und Vorgesetzten für die jeweilige Krankheit eine entscheidende Rolle für die Erfahrung und den Bewältigungsstrategien der Patienten im Betrieb spielten. Hinsichtlich der beschriebenen Situation von Diabetikern am Arbeitsplatz lassen sich viele Parallelen zu Alkoholkranken erkennen. „Es ging um das Erkennen seiner Krankheit, um das Sich-nicht-zu-schämen seiner Alkoholkrankheit. (Zuckerkranke und andere Kranke schämen sich ihrer Krankheit auch nicht)“.58 Diese Aussage eines Patienten aus Magdeburg beim ersten Erfahrungsaustausch in Brandenburg 1979 zeugt von Unkenntnis über die zuvor aufgezeigte komplizierte Situation von Diabetikern im Betrieb. Allerdings war die Dimension an sozialer Stigmatisierung, der Alkoholkranke ausgesetzt waren, eine andere und Betroffene galten schnell als ‚asozial‘ und ‚arbeitsscheu‘, so dass die Diagnose 303 in ihrem Sozialversicherungsausweis (SV-Ausweis) ein Karrierebruch für die Betroffenen mit vielfachen Versetzungen bedeuten konnte.59 Der sich bekennende Abstinente hatte wiederum mit sozialer Ausgrenzung zu leben, denn „[w]enn man von einem Menschen sagt, er tränke nicht, so ist das oft gleichbedeutend mit ungesellig, komisch, Spaßverderber, Sonderling; es ist sozusagen das Gegenteil der Lebensfreude“, wie der Magdeburger Arzt Volker Kielstein auf dem zweiten Erfahrungsaustausch 1981 anmerkte.60 Trotzdem, oder aus diesem Grund, plädierten Ärzte, Psychologen und abstinent-lebende Alkoholkranke auf der Basis ihrer eigenen Erfahrungen für das offene Bekenntnis am Arbeitsplatz – den „Schritt aus der Anonymität der Krankheit“61 – dem auch beim dritten Treffen 1983 in Brandenburg eine ganze Sektion gewidmet wurde.62 Aus der Anonymität herauszutreten, war somit für die ostdeutschen Therapeuten und Betroffenen essentiell, was im Gegensatz zu den Leitlinien der in den 1930er Jahren in den USA gegründeten, religiös geprägten ‚Alcoholics Anonymous‘ (AA) stand. Der Chefarzt der Klinik für Alkohol- und Suchtkranke der Bezirksnervenklinik in Brandenburg, Hubertus Windischmann, lehnte den Ansatz der AA ab, da er das offene bzw. öffentliche Bekenntnis als Teil der Therapie und wichtigen Schritt der eigenen Krankheitseinsicht und somit der Ermöglichung der Entwicklung der Abstinenz ansah: Von „Ich darf nicht“ zu „Ich will nicht“ zu „Ich muss nicht mehr trinken“.63 Viele der Patienten berichten, dass der erste Versuch der Abstinenz eben auch daran scheiterte, dass sie die Alkoholkrankheit unbedingt vor dem Arbeitskollektiv verheimlichen wollten, indem sie z. B. den SV-Ausweis absicht58 59 60 61 62
Wenzel/Windischmann (1979), S. 120. Korzilius (2005), S. 422–429. Haak/Wenzel/Windischmann (1981), S. 60. Ebd., S. 73. Haak/Wenzel/Windischmann (1983), S. 67–87; vgl. auch Winter/Stoiber/Engel (1987), S. 133. 63 Wenzel/Windischmann (1979), S. 96–98; Haak/Wenzel/Windischmann (1981), S. 39.
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lich verlören – sei es aufgrund fehlender Krankheitseinsicht, der Mentalität im Betrieb oder der Scham. Herr W. aus Magdeburg erzählte jedoch von den positiven Erfahrungen, die er nach den Bekenntnis am Arbeitsplatz hatte: Nicht nur hätte er das Verständnis der Kollegen erreicht, sondern der offene Umgang hätte auch das Vertrauen der Vorgesetzten in ihn und seiner Arbeitsleistung zurückgewonnen.64 Patient R. aus Leipzig gab jedoch zu bedenken, dass der eigene Wille zur Abstinenz entscheidend sei und man sich nicht auf die Fremdkontrolle durch das Arbeitskollektiv verlassen könne, da man als Abhängiger schon früher Wege gefunden hatte, heimlich zu trinken.65 Trotzdem zeigt sich auch bei den durchgesehenen Patientenakten aus dem Bezirkskrankenhaus Arnsdorf bei Dresden, dass die Unterstützung des Betriebes schon vor oder während der Entziehungskur eine wichtige Rolle für die erfolgreiche Bewältigung der Lebensumstellung des Alkoholabhängigen spielte.66 Während ihres stationären Aufenthaltes in der Klinik wurden auch Beurteilungen von den Arbeitsstellen über den einzelnen Alkoholkranken eingeholt.67 In den Schreiben wird deutlich, dass die meisten der involvierten Arbeitsstellen die Alkoholentziehungskur unterstützten und eine Weiterbeschäftigung unter der Bedingung des Therapieerfolgs in Aussicht stellten. In einigen Fällen kamen Patienten sogar in Begleitung von Arbeitskollegen zur Aufnahme, oder die jeweiligen Leiter sprachen in der Klinik vor und setzten sich persönlich für den Alkoholkranken ein.68 Es gab aber auch Fälle, bei denen diese Förderung oder das Verständnis für die Krankheit fehlte und die eine Weiterbeschäftigung aufgrund von Disziplinarverstößen ablehnten. Laut Aussage eines Patienten aus Schwerin, gab es „einige Betriebsleiter, Kaderleiter und auch andere aus unserer Umwelt, die Alkoholiker zu Asozialen generell abstempeln und ihnen keine Arbeit geben“.69 Auch Windischmann kritisierte 1979 diese Situation für seine Patienten, da es oft ein Jahr dauere bis eine Arbeitsstelle für den ‚unauffälligen‘ Alkoholkranken gefunden werden kann.70 Demgegenüber standen straffällig gewordene Alkoholabhängige die durch die ‚Gefährdetenverordnung‘ erfasst oder bei der zuständigen ‚Abteilung Inneres‘ gemeldet waren, denen von der Behörde ein Betrieb und eine Arbeitsstelle zugewiesen wurde.71 Für den Heilerfolg war das prinzipielle Zögern der Betriebe, ‚Problemfälle‘ anzustellen, hinderlich. Unter diesen Umständen war eine Wiedereingliederung in den 64 Haak/Wenzel/Windischmann (1983), S. 68. 65 Ebd., S. 69–70. 66 Vgl. HSA DD, 10820, Landesheil- und Pflegeanstalt / Bezirkskrankenhaus für Psychiatrie und Neurologie Arnsdorf, Nr. 955, 1011, 1014, 1033, 1035, unpaginiert. 67 Vgl. HSA DD, 10820, Landesheil- und Pflegeanstalt / Bezirkskrankenhaus für Psychiatrie und Neurologie Arnsdorf, Nr. 929, 1011, 1012, 1025, 1037, unpaginiert. 68 Vgl. HSA DD, 10820, Landesheil- und Pflegeanstalt / Bezirkskrankenhaus für Psychiatrie und Neurologie Arnsdorf, Nr. 1011, 1012, 1014, 1022, 1033, unpaginiert. 69 Wenzel/Windischmann (1979), S. 166. 70 Ebd., S. 171–172. 71 Vgl. ebd.; HSA DD, 10820, Landesheil- und Pflegeanstalt / Bezirkskrankenhaus für Psychiatrie und Neurologie Arnsdorf, Nr. 968, 1037, unpaginiert.
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Arbeitsalltag für die Betroffenen mit Hürden verbunden, welche oftmals in Rückfällen und erneuten Einweisungen zur stationären Entziehungskur mündeten.72 Aber auch mit Arbeitsstelle gab es immer wieder Schwierigkeiten, so dass der Vorsitzende der therapeutischen Gruppe aus Magdeburg noch 1979 auf die weitverbreitete Ignoranz am Arbeitsplatz für Alkoholkranke hinwies und dass „[g]erade in Kollegenkreisen […] Alkoholiker oft Reprassalien [sic] ausgesetzt [sind], ihre Krankheit […] als asozial verpönt [wird] und sie […], teils aus Unkenntnis, aber auch mutwillig und bewußt, zum Trinken animiert“ werden.73 Auch Herr R. aus Leipzig musste erfahren, dass es immer Kollegen gab, „die nur darauf warten, daß ich wieder einbreche“, was in seinem Fall aber eher seine Motivation in den schlechten Zeiten förderte: Er wolle es auch denen beweisen, dass er abstinent bleiben kann.74 Wie beim Diabetes gab es auch hier Fälle, dass Arbeitskollegen nicht nur ablehnend, sondern mit größter Vorsicht reagierten. So berichtete Herr H. aus Magdeburg, dass in seinem Kollektiv ohne sein Wissen sämtliche Veranstaltungen mit Alkohol abgesagt wurden. Laut seiner Aussage war es auch hier Unsicherheit, wie mit dieser neuen Situation umgegangen werden sollte. Er klärte sie auf „daß mich eine ständige Rücksichtnahme eher bedrücken als unterstützen würde“.75 Herr K. aus Berlin konfrontierte ebenfalls seine Kollegen und sagte ihnen, „daß sie beim Feiern den Alkohol vor mir nicht zu verstecken brauchten und bat sie, mich nicht auszuschließen“.76 Damit schließt sich wieder der Kreis, da die Angst vor Marginalisierung aufgrund der Krankheit schon Diabetiker wie Alkoholkranke davon abgehalten hatte, sich im Betrieb zu offenbaren – sie wollten nicht plötzlich anders sondern weiterhin wie ‚normale‘ Menschen behandelt werden. Nach dem Bekenntnis waren sie mehr oder weniger den gefürchteten Reaktionen der Kollegen ausgesetzt, die jedoch nur schwer generalisiert werden können. Es handelt sich immer um individuelle Entwicklungen in der Bewältigung der Krankheit und Strategien im Alltag nach dem Einschnitt wieder zurechtzukommen. Wie aufgezeigt finden sich in den Akten und Aussagen der Zeitzeugen aber viele positive Beispiele, wobei es grundsätzlich nicht nur auf die Krankheitseinsicht, den Erfolg der Behandlung, und das soziale Verhalten des Patienten selbst ankam, sondern auch auf die Atmosphäre im Betrieb und die praktizierte Nachsorge.
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Vgl. HSA DD, 10820, Landesheil- und Pflegeanstalt / Bezirkskrankenhaus für Psychiatrie und Neurologie Arnsdorf, Nr. 996, 1002, 1037, unpaginiert. 73 Wenzel/Windischmann (1979), S. 64. 74 Haak/Wenzel/Windischmann (1983), S. 70–71. 75 Ebd., S. 72. 76 Ebd., S. 74.
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Die praktizierte Nachsorge am Arbeitsplatz Zunächst ist es wichtig festzuhalten, dass vor allem für die Nachsorge der Alkoholkranken eine Entwicklung über den Zeitraum der Existenz der DDR erkennbar ist. Ein Grund dafür war der stetig steigende Pro-Kopf-Konsum an Alkohol und das damit einhergehende vermehrte Auftreten der Alkoholabhängigkeit.77 Die Staatsführung reagierte zwar auf den Anstieg, doch beschränkte sich zunächst weiterhin auf zusätzliche Reglementierungen und erließ 1969 die ‚Verordnung über die Aufgaben der örtlichen Räte und der Betriebe bei der Erziehung kriminell gefährdeter Bürger‘.78 Da ‚Arbeitsscheu‘, also Fehlschichten als strafbare Handlungen galten und die Sucht diese Verletzungen der Arbeitsdisziplin zwangsläufig hervorrief, zählten Alkoholkranke zu den ‚kriminell gefährdeten Bürgern‘ und es wurde hiermit eine weitere Stigmatisierung vorgenommen. Eine moralisierte medizinische Behandlung war oft die Folge.79 Die Veränderungen in der Betreuung der Betroffenen basierten daher vor allem auf internationalen Entwicklungen wie der Anerkennung von Alkoholabhängigkeit als Krankheit durch die Weltgesundheitsorganisation (WHO) 1964 und die Studien von Elvin M. Jellinek und Wilhelm Feuerlein, die auch von den Ärzten und Psychologen in der DDR aufgegriffen wurden.80 Im Gegensatz zu der in den 1950er und 1960er Jahren vorrangig praktizierten Aversionstherapie mit dem Medikament Disulfiram, das in Verbindung mit Alkohol Übelkeit, Erbrechen, und Kreislaufprobleme hervorruft, wurden im Laufe der 1970 Jahre verstärkt Gruppengespräche und Psychotherapie auch bei Alkoholkranken eingesetzt.81 Damit veränderte sich auch die Nachsorge, so dass die behandelnden Ärzte wie bei Diabetikern auf die Vermeidung von Schichtarbeit drängten, um den Betroffenen einen geregelten Alltag zu ermöglichen und somit deren Abstinenzbestreben zu unterstützen.82 Jedoch wurde die Initiative ab den 1970er Jahren, wie angesprochen, nicht von staatlicher Seite ergriffen, sondern von Ärzten, Psychologen und abstinenten Alkoholkranken vor Ort in ihrem lokalen Bereich, wo sie sich für die Etablierung von Patientenclubs und die Verbesserung der Betreuung und Behandlung von 77
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Laut den offiziellen Statistiken der DDR steigerte sich der Pro-Kopf-Verbrauch von Bier zwischen 1955 und 1988 von 68,5 l auf 143,0 l, von Wein von 1,7 l auf 12,1 l, und von Spirituosen von 4,4 l auf 16,4 l. Statistisches Jahrbuch der Deutschen Demokratischen Republik, 1989 (1990), S. 292. ‚Verordnung über die Aufgaben der örtlichen Räte und der Betriebe bei der Erziehung kriminell gefährdeter Bürger vom 15.8.1968‘, Gesetzblatt der Deutschen Demokratischen Republik (1968), S. 751–753. Korzilius (2005), S. 422–429; HSA DD, 10820, Landesheil- und Pflegeanstalt / Bezirkskrankenhaus für Psychiatrie und Neurologie Arnsdorf, Nr. 955, unpaginiert. Jellinek (1983); Feuerlein (2008); Feuerlein/Küfner/Schmitz-Moormann (1988). Für weiterführende Informationen, vgl. Wahl (2020). ‚Medizinische Hinweise für Brigadiere der besonderen Brigaden und der ausgewählten Arbeitskollektive zur Betreuung der in der Brigade tätigen psychisch auffälligen alkoholkranken Bürger, o. D. [ca. 1986]‘: StA HST, Rep. 59, Nr. 371, unpaginiert.
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Alkoholkranken einsetzten.83 Erst ab den 1980er Jahren gab es in den größeren Betrieben, wie der Neptunwerft in Rostock, auch Betreuungsstellen für Alkoholabhängige – die sich konkret mit den alkoholkranken Arbeitern des Betriebes befassten.84 Grundsätzlich erhielt der Diabeteskranke einen Diabetikerausweis. Dem Alkoholkranken wurde in manchen Krankenhäusern, wie beispielsweise in Arnsdorf, ein Disulfirampass nach Entlassung aus der stationären Behandlung ausgehändigt. Der Unterschied war, dass der Diabetikerausweis für den Notfall, d. h. im Fall von Insulinschocks, für die eintreffende Schnelle Medizinische Hilfe (SMH) wichtige Auskünfte über den Patienten gab. Der Disulfiramausweis war hingegen eher ein Instrument der Kontrolle. Damit sollte nun in der Nachsorge die Einnahme des Disulfirams sichergestellt werden, was ein dafür bestimmter und instruierter Kollege, Vorgesetzter oder Arzt des Betriebes bestätigen musste. Das Ziel war die sogenannte „disulfiram-abgesicherte Abstinenz“, sozusagen als anfängliche Stütze für den Patienten in der Bewältigung der Herausforderungen des Alltages ohne Alkohol.85 Diese Kontrolle allein hatte jedoch bei den von mir durchgesehenen Patientenakten nur einen minimalen Erfolg. Auf der einen Seite erlagen einige dem Glauben, dass sie schon nach wenigen Monaten selbstbestimmt ohne die medikamentöse Stütze ihr abstinentes Leben bestreiten konnten oder lehnten die weitere Einnahme von Disulfiram wegen subjektiv empfundener Nebenwirkungen (Potenzstörungen) ab.86 Auf der anderen Seite versuchte ein Teil der Patienten sich mit dem ‚kontrollierten Trinken‘, also mit geringen Mengen, zu beweisen, dass sie den Alkohol besiegt haben, was dann oft in der Konsequenz zu einem Rückfall führte.87 Aber auch im Betrieb wurde häufig, aufgrund des angesprochenen fehlenden Verständnisses für die Krankheit, die Nachsorge vernachlässigt. In einigen Fällen überließ es der verantwortliche Kaderleiter dem Alkoholkranken nach ein paar Monaten selbst, ob er das Disulfiram weiter einnimmt.88 Eigenverantwortung und der Wille zur Abstinenz des Betroffenen waren immer ein entscheidender Faktor, sodass die Reaktion des Leiters nicht verwerflich war, je83 Vgl. den schon mehrfach erwähnten und zitierten ab 1979 regelmäßig stattfindenden Erfahrungsaustausch abstinent-lebender Alkohol- und Drogenkranker in der DDR und die darin enthaltenden Berichte über lokale Initiativen und Patientenclubs. Wenzel/Windischmann (1979); Haak/Wenzel/Windischmann (1981); Haak/Wenzel/Windischmann (1983); Haak/Wenzel/Windischmann (1986); Haak/Wenzel/Windischmann (1988). 84 Vgl. den Dokumentarfilm über die Betreuungsstelle für Alkoholiker in der Neptunwerft von 1983, Schreiber (1983) [Online]. 85 Koritsch (1982), S. 456. 86 Vgl. z. B. HSA DD, 10820, Landesheil- und Pflegeanstalt / Bezirkskrankenhaus für Psychiatrie und Neurologie Arnsdorf, Nr. 996, unpaginiert. Über die Diskussionen der objektiven und subjektiven Nebenwirkungen, vgl. auch Haak/Wenzel/Windischmann (1981), S. 31–40; Koritsch (1982), S. 456. 87 Vgl. z. B. HSA DD, 10820, Landesheil- und Pflegeanstalt / Bezirkskrankenhaus für Psychiatrie und Neurologie Arnsdorf, Nr. 1014, 1022, unpaginiert. 88 HSA DD, 10820, Landesheil- und Pflegeanstalt / Bezirkskrankenhaus für Psychiatrie und Neurologie Arnsdorf, Nr. 1037, unpaginiert.
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doch in dem Fall zur sofortigen Medikamentenabsetzung und zu erneutem Alkoholkonsum des Patienten führte. Ferner, zeigten seine Arbeitskollegen kaum Rücksicht oder es war ihnen gleichgültig, ob der eigentlich abstinente Alkoholkranke mit ihnen in der Gaststätte mit Alkohol anstieß – ein Rückfall war vorprogrammiert.89 Hinsichtlich der Nachsorge für Diabetiker gab es teilweise ähnliche Vorbehalte am Arbeitsplatz. So musste der Kreisdiabetikerarzt in einem Betrieb 1963 intervenieren, da dieser die Freistellung der Diabetiker während der Arbeitszeit zur monatlichen ärztlichen Untersuchung mit der Bemerkung, es sei keine akute Krankheit, wie im Arbeitsgesetzbuch § 78 Abschnitt 2 a festgelegt, ablehnte. Der Kreisdiabetikerarzt befürchtete, dass wenn das Gesetz der Arbeit in dieser Weise formal und damit praktisch falsch ausgelegt wird, so wird das zur Folge haben, daß unsere Zuckerkranken sich nicht der ärztlich angeordneten Kontrolle unterziehen, um Geldeinbußen zu vermeiden und nicht als Bummelanten dazustehen.90
Um diesen alltäglichen Problemen, oftmals hervorgerufen durch fehlendes Verständnis oder Unkenntnis am Arbeitsplatz, entgegenzuwirken, wandten sich schon in den 1960er Jahren Betroffene mit Eingaben an die Staatsführung, um die Gründung eines Diabetikerbundes nach westdeutschen Vorbild anzuregen.91 Damit sollte nicht nur eine Interessensgemeinschaft geschaffen werden, sondern auch eine Plattform des Austausches und gegenseitiger Unterstützung unter den Diabetikern.92 Jedoch wurde dies vom Ministerium für Gesundheitswesen in allen Fällen mit dem Verweis auf die staatliche, umfassende Gesundheitsversorgung zurückgewiesen, in welcher Selbsthilfe-Organisationen obsolet wären – Patientenvereinigungen wären nur im kapitalistischen, privatwirtschaftlichen Gesundheitssystem notwendig.93 Interessanterweise wurde für Gehörlose und Gehörgeschädigte in der DDR von diesem ideologischen Postulat eine Ausnahme gemacht, wie Anja Werner in ihrem Beitrag in diesem Sammelband aufzeigt. Das gleiche galt für die Situation der Alkoholkranken, für die Selbsthilfegruppen wie die AA in der Logik des staatlichen Gesundheitswesens in der DDR kein Platz war. Ausnahmen bildeten die Caritas und die sich 1960 als Nachfolger des in der DDR verboten Blauen Kreuzes in Dresden gegründete ‚Evangelische Arbeitsgemeinschaft zur Abwehr der Suchtgefahr‘, kurz AGAS. Unter dem Dach der Kirche boten sie Betroffenen Gruppengespräche und gemeinsame Aktivitäten an, machten Hausbesuche und versuchten so Rückfälle zu vermeiden oder wenigsten abzufangen.94 Dass diese Gruppen durch 89 Ebd. 90 ‚Freistellung von der Arbeit zur Untersuchung zuckerkranker Werktätiger beim Arzt, 24.6.1963‘: BArch, DQ 1/4228, unpaginiert. 91 Für die Entwicklung der Patientenorganisationen für Diabetiker in Westdeutschland erscheint 2020 die Arbeit von Söderfeldt (2020). 92 Vgl. ‚Bildung eines Diabetikerbundes, 10.2.1958‘: BArch, DQ 1/21525, unpaginiert. 93 Vgl. ‚Bildung eines Diabetikerbundes, 13.11.1958‘: BArch, DQ 1/21525, unpaginiert. 94 Vgl. Kasischke (2013).
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die Staatssicherheit besonders beobachtet und von der SED nur geduldet wurden, ist nicht verwunderlich.95 Erst während der 1970er Jahre entstanden, wie angesprochen, durch die Initiativen einzelner Ärzte, Psychologen und abstinenter Alkoholabhängiger – teilweise mit Unterstützung des jeweiligen Rates des Kreises – dezentrale, staatlich angeleitete Patientenklubs in den einzelnen Städten.96 Für die DDR war es eine Gradwanderung zwischen ideologischen Anspruch und den realen Notwendigkeiten. Letztendlich konnte sich auch die ostdeutsche Regierung der Entwicklung in der Medizin nicht verschließen und musste anerkennen, dass die Selbsthilfe – der gegenseitige Austausch von Erfahrungen und die Möglichkeit, sich ein neues soziales Umfeld von abstinent lebenden Alkoholkranken zu schaffen – viele Patienten stabilisierte, nicht zuletzt um den Alltag am Arbeitsplatz zu bewältigen.97 Fazit Für Wolfgang R. wurde im zusammenfassenden Bericht des Bezirksdiabetologen resümiert, dass er ein „etwas haltloser und wenig zielstrebiger Mensch“ sei, welchem die „nötige Krankheitseinsicht fehlt und der für alle Mißerfolge im Leben die Ursachen stets nur in seiner Umgebung sucht“.98 Ungeachtet ob R. wegen seiner Kombination aus Diabetes und Alkoholsucht diese Charakterzüge und soziales Verhalten an den Tag legte oder nicht, sein Fall hat einige Probleme aufgezeigt, mit welchen Alkoholkranke oder Diabetiker im Alltag in der DDR konfrontiert wurden. Dieser konnte durch Reglementierung, Degradierung, Marginalisierung und Stigmatisierung im sozialen Umfeld des Betriebes geprägt sein. Jedoch muss festgehalten werden, dass es genügend Beispiele gibt, wo eine Integration am Arbeitsplatz erfolgreich verlief, und somit ein generelles Urteil hinsichtlich der Situation chronisch Kranker im Betrieb nicht gefällt werden kann. Vielmehr war es ein Zusammenspiel von multiplen Faktoren, wie die gesellschaftlich politischen Rahmenbedingungen und die Rückkopplung von Idealvorstellungen und Vorurteilen vor Ort, die die Erfahrungen der Patienten im Arbeitsalltag bestimmten. Zum einen war es der Kranke selbst, der zunächst eine Krankheitseinsicht entwickeln musste, die alles weitere, wie den Erfolg der Behandlung, den Verlauf der Krankheit und damit seine Möglichkeiten am Arbeitsplatz beeinflussten. Bei Diabetikern kamen noch als Faktoren hinzu, inwieweit sie das ge95 Vgl. z. B. die Infiltrierung der AGAS Gruppe in Dresden durch einen ‚inoffziellen Mitarbeiter‘, der sich als Alkoholabhängiger ausgab: BStU, MfS, BV Dresden, AIM, Nr. 3303/89, Band I + II. 96 Vgl. dazu den ersten organisierten ‚Erfahrungsaustausch von abstinent-lebenden Alkoholikern‘ in Brandenburg im Jahre 1979: Wenzel/Windischmann (1979). 97 Vgl. Aussagen von Patienten während der Erfahrungsaustausche in Brandenburg: Wenzel/Windischmann (1979); Haak/Wenzel/Windischmann (1981); Haak/Wenzel/Windischmann (1983); Haak/Wenzel/Windischmann (1986); Haak/Wenzel/Windischmann (1988). 98 ‚Leserzuschrift Wolfgang R., 27.5.1967‘: BArch, DQ 1/4346, unpaginiert.
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spritzte Insulin vertrugen und ob sie sich dem strikten Regiment der Diät und Spritzzeiten – dem Leben nach der Uhr – unterwarfen oder nicht. Zum anderen waren die Erfahrungen am Arbeitsplatz auch von der vor der Diagnose ausgeübten Tätigkeit abhängig, d. h. ob eine Versetzung oder berufliche Umorientierung notwendig war. Darüber hinaus hat es sich gezeigt, dass vor allem die lokale Mentalität unter den Kollegen, deren Verständnis und Einstellung zur Krankheit und die Verfügbarkeit medizinischer Versorgung vor Ort entscheidend für die Wiedereingliederung der chronisch Kranken bzw. ‚bedingt Gesunden‘ im Betrieb waren. Neben den Zeitzeugeninterviews, Patientenakten und Eingaben sind die Dokumentationen der Diskussionen und Beiträge von Ärzten und Betroffenen während des ab 1979 regelmäßig stattfindenden ‚Erfahrungsaustauschs abstinent-lebender Alkohol- und Suchtkranker‘ in Brandenburg eine wichtige Quelle. Wie immer wieder in diesem Beitrag angeführt, sprachen viele Alkoholabhängige in diesem Rahmen über ihr ehemaliges Leben mit dem Alkohol und ihre derzeitigen Probleme im Alltag oder auch mit sich selbst. In vielen Aussagen wurden ebenfalls Wünsche für die Zukunft geäußert, u. a. eine zweite Chance zu erhalten, wie ein Patient formulierte: „Vor allen Dingen habe ich mir gesagt, ich möchte dem Betrieb zeigen, da ich ja damals auch viel krank war durch den Alkohol, daß auch Alkoholiker, die sich gebessert haben, zu Leistungen fähig sind“.99 Für das Selbstwertgefühl war die Integration der abstinent lebenden Alkoholkranker am Arbeitsplatz enorm wichtig, trotz der angesprochenen Schwierigkeiten mit der vorherrschenden Trinkkultur, zur Rückgewinnung von Respekt der anderen und dem Gefühl nützlich zu sein. Es ist auch Teil des ‚neuen Lebenssinnes‘ den Alkoholkranke für sich finden mussten, um die Abstinenz durchzuhalten – und die Patientengruppen waren hier eine entscheidende Stütze. So verschrieb ein anderer Patient sein neues Leben ganz dem Staat und äußerte: „Durch mein abstinentes Leben gelingt es mir, mich zu einer sozialistischen Persönlichkeit zu formen. […] Durch meine Entwicklung im Betrieb habe ich die Reife erlangt, in ehrenamtlichen Kollektiven progressiv zu wirken“.100 Auch wenn in dieser Aussage das staatliche, ideologische Narrativ durchscheint, unterstreichen die Beiträge der Patienten die in der Einleitung aufgestellte These, dass neben der Krankheitseinsicht, die Nachsorge in Form von Gruppenveranstaltung Gleichgesinnter und die gegenseitige Unterstützung ein wichtiger Aspekt für viele war, der Halt gab, und ein abstinentes Leben ohne Alkohol ermöglichte. Beiden, Diabetes- und Alkoholkranken, wurde aber zunächst Selbsthilfe und Selbstkontrolle verwehrt, was nicht nur an den Mangel an Teststreifen für Diabetiker lag, sondern aufgrund des Anspruches eines staatlichen, allumfassenden Gesundheitssystems aus ideologischer Sicht unerwünscht war. Erst spät entwickelten sich die erwähnten Patientenclubs für abstinent-lebende Alkoholabhängige durch lokale Initiativen; einen Diabetikerbund o. ä. gab es aber trotz Anregungen aus der Bevölkerung nie. 99 Wenzel/Windischmann (1979), S. 132. 100 Ebd., S. 119.
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‚Werte Genossen! Heute komme ich mit einer Bitte zu Euch …‘ Der Umgang mit Patienteneingaben im DDR-Gesundheitswesen Florian Bruns
Am 15. November 1949, gut einen Monat nach Gründung der DDR, schrieb der arbeitslose Karl M. aus Weimar an den soeben ernannten Minister für Arbeit und Gesundheitswesen der ersten DDR-Regierung, Luitpold Steidle: Betr.: Tbc-kranke Frau, selbst arbeitslos Geehrter Herr Minister! Ich bitte um Ihren Rat und Ihre Hilfe. Über meine Lage kurz folgendes: Meine Frau war vom 26. Febr. bis 10. Okt. 49 in einem Tbc-Sanatorium. Dort hatte sie gut zugenommen, ca. 25 Pfund. Verpflegung nach Kartengruppe 1 und durch persönlich aufgenommene Bekanntschaft im Lungenkurort mit Ziegenhaltern fast täglich zusätzlich 1 Ltr. Milch. Hier keine Möglichkeit Ziegenmilch zu erhalten, Verpflegung nach Gr. 4 und die im Verhältnis zur Heilanstaltsverpflegung sehr minimale Tbc-Zusatzkost. […] Meine Frau soll die Liegekuren zuhause fortsetzen und keine seelischen Aufregungen haben und möglichst das Gewicht halten. […] Sie hat bereits wieder mehrere Pfund abgenommen. […] Aus dem Tbc-Fonds erhält sie eine Unterstützung, die mit meiner Arbeitslosenunterstützung knapp zur Lebensbestreitung reicht. […] Meine Notlage habe ich Ihnen geschildert und sehe Ihrer raschen Hilfe, um die ich nochmals bitten darf, gern entgegen: meiner Frau bessere und ausreichende Verpflegung geben, damit sie uns noch erhalten bleibt und mir eine entsprechende Verdienstmöglichkeit vermitteln.1
Der schriftliche Hilferuf des Karl M. führt uns hinein in die Welt von Patienten und Angehörigen in den deutschen Nachkriegsjahren, als Mangelernährung, Krankheit und Arbeitslosigkeit herrschten und die grassierende Tuberkulose noch vornehmlich mit Luft und gutem Essen therapiert wurde. Der Brief repräsentiert zugleich eine Kommunikationsform, die besonders für die DDRGesellschaft typisch werden sollte und sich hier in ihren Anfängen zeigt: Die Eingabe.2 Karl M. nimmt – bewusst oder unbewusst – ein Recht wahr, das ihm die einige Wochen zuvor in Kraft getretene Verfassung der DDR in Artikel 3 ausdrücklich garantierte: „Jeder Bürger hat das Recht, Eingaben an die Volksvertretung zu richten“.3 Eingaben konnten Bitten oder Beschwerden in 1 2 3
‚Karl M. an Steidle, 15.11.1949‘: BArch, DQ 1/1367, unpaginiert. Hier und im Folgenden wurden die Namen der Eingabenverfasser aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes verändert. Vgl. einführend Mühlberg (2004). Wie sich die Themen Gesundheit und Krankheit in solchen Petitionen widerspiegeln können, hat Sylvelyn Hähner-Rombach (2011) dargelegt. Art. 3 Abs. 4 der Verfassung der DDR vom 7.10.1949. ‚Verfassung der DDR 1949‘, documentArchiv [Online]. Anzumerken ist, dass viele der in dieser Verfassung erwähnten Rechte nur auf dem Papier existierten und im Zweifel hinter den absoluten Herrschaftsanspruch der SED zurücktreten mussten. Vgl. dazu Stolleis (2009), S. 22 f.
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eigener Sache, für andere oder im allgemeinen Interesse sein. Die Menschen richteten sie in der Regel schriftlich an staatliche Institutionen oder an solche der Staatspartei SED. Im real existierenden Sozialismus erkannten die Menschen recht schnell die weitgehende Machtlosigkeit der eigentlichen Volksvertretung und richteten die Mehrzahl der Eingaben dementsprechend nicht an die Volkskammer, sondern an Ministerien, Parteigremien, Einzelpersonen oder an die sogenannten Räte auf Kreis- und Bezirksebene. Bereits in den ersten Jahren nach der Staatsgründung begann sich eine zunehmend ritualisierte Eingabenkultur in der DDR herauszubilden.4 Bürger und Staat kultivierten diese Kommunikationsform gleichermaßen. Den Bürgern dienten Eingaben als unbürokratisches Mittel, um sich im Partei- und Staatsapparat Gehör zu verschaffen und eigene Probleme vorzubringen. Die SED-Führung wiederum konnte sich mithilfe des Eingabewesens volksnah und fürsorglich geben. Eingaben, so die Hoffnung von SED-Chef Walter Ulbricht, würden dazu beitragen, ein möglichst enges Band zwischen dem sozialistischen Staat und ‚seiner‘ Bevölkerung knüpfen.5 Das Schreiben von Eingaben war auch im Bereich des Gesundheitswesens gang und gäbe. Zwar bot die medizinische Versorgung den DDR-Bürgern bei weitem nicht so viel Anlass zu Beschwerden wie etwa die andauernden Schwierigkeiten im Bereich der Versorgung mit Wohnraum und Konsumgütern. Wohnungsprobleme und schlechte Warenversorgung bildeten die häufigsten Gründe für das Verfassen einer Eingabe.6 Dennoch schrieben unzählige Patienten oder deren Angehörige Bitt- oder Beschwerdebriefe an den Gesundheitsminister oder andere Instanzen des Partei- und Staatsapparates. Anfangs war die Mehrzahl der Eingaben an den ersten Präsidenten der DDR, Wilhelm Pieck, gerichtet. In den frühen 1950er Jahren erhielt dessen Präsidialkanzlei pro Jahr allein über 1.000 Eingaben, die den Bereich der Gesundheitsversorgung betrafen.7 Doch schon kurz nach seiner Gründung erhielt auch das Ministerium für Arbeit und Gesundheitswesen Briefe von Patienten oder Angehörigen, wie das eingangs angeführte Beispiel von Karl M. zeigt. In den Anfangsjahren der DDR waren oft weder den schreibenden Bürgern noch den angeschriebenen Institutionen die Instanzen und Zuständigkeiten klar. So erhielt Karl M. erst nach einem erneuten Brief zu Beginn des Jahres 1950 eine Antwort auf sein Schreiben, die ihm und seiner Frau allerdings auch noch keine konkrete Hilfe brachte: Auf Ihre Erinnerung vom 11. Dezember 1949 teilen wir Ihnen mit, daß Ihr Gesuch wenige Tage nach seinem Eingang den zuständigen Abteilungen zur Bearbeitung übergeben worden ist. Da Ihr Antrag nicht von dem Ministerium direkt erledigt werden kann, sondern zur Weiterbearbeitung an das Land Thüringen abgegeben werden musste, ist die Verzögerung erklärlich. Wir hoffen, daß Sie inzwischen Nachricht vom Ministerium für
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Mühlberg (2004), S. 190. Vgl. Betts (2010), S. 287. Vgl. die Zahlen bei Mühlberg (2004), S. 178–184. Vgl. ebd., S. 93.
‚Werte Genossen! Heute komme ich mit einer Bitte zu Euch …‘
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Arbeit und Sozialwesen oder von dem zuständigen Amt für Arbeit und Sozialfürsorge erhalten haben.8
Aus sozialhistorischer Sicht weisen Eingaben bestimmte heuristische Charakteristika auf. Es handelt sich um echte Selbstzeugnisse, die ereignisnah und somit ohne retrospektive Überlagerungen abgefasst wurden. Lesen wir Eingaben von Patienten, so erfahren wir aus erster Hand, wie Menschen Krankheit erleben und wie sie in Kontakt mit Ärzten und Pflegenden treten.9 Zu Recht ist aber auch auf die Limitationen dieser Quellengattung hingewiesen worden. Bitt- oder Beschwerdebriefe werden in der Regel zweckrational und mit einer bestimmten Intention verfasst. Oft wird der zu verhandelnde Sachverhalt den eigenen Interessen gemäß dargestellt. So werden Aspekte, die der Erfüllung des Anliegens womöglich schaden könnten, unter Umständen weggelassen. Zur Quellenkritik gehört es darüber hinaus, wiederkehrende Formeln, Bilder oder Termini in den Eingaben als genretypisch zu erkennen und vom rein Inhaltlichen zu trennen.10 Im Folgenden wird beschrieben, wie das Eingabewesen in der DDR organisiert war und wie mit Eingaben umgegangen wurde, die speziell das Gesundheitswesen bzw. die individuelle gesundheitliche Versorgung betrafen. Zudem wird exemplarisch dargestellt, welche Sachverhalte Patienten oder Angehörige in ihren Briefen verhandelten. Das Eingabewesen in der DDR Ähnlich wie Supplikationen in der Frühen Neuzeit appellieren Eingaben im DDR-Kontext in der Regel an moralische Verpflichtungen oder politische Versprechungen des Adressaten. Definierte Rechtsansprüche werden eher selten formuliert und wären auch kaum einklagbar gewesen. Verwaltungsgerichte, mit deren Hilfe sich administrative Entscheidungen juristisch hätten hinterfragen lassen, wurden in der DDR 1952 abgeschafft. Der herrschenden Ideologie zufolge waren sie obsolet: Im Sozialismus seien die Interessen von Staat, Partei und Bürgern (genauer: Arbeiter, Bauern und ‚Intelligenz‘) identisch, so die offizielle Lesart. Tatsächlich kamen juristischen Auseinandersetzungen in der DDR vergleichsweise selten vor, zumal es so gut wie keine Rechtsanwälte gab.11 Vor diesem Hintergrund haftete dem Eingabewesen etwas Spätfeudales an, auch wenn sozialistische Funktionäre gerade diese Charakterisierung wohl empört zurückgewiesen hätten. Zwar konnte man mit einer Eingabe unter Umständen bis an die Spitze eines Ministeriums oder der 8 9 10 11
‚Wolf (Ministerium für Arbeit und Gesundheitswesen) an Karl M., 5.1.1950‘: BArch DQ 1/1367, unpaginiert. Ob und wie die Korrespondenz fortgeführt wurde, ist nicht überliefert. Vgl. übergreifend Osten (2010). Vgl. Vanja (2008), S. 167. Bei einer Bevölkerungszahl von etwa 16 Millionen arbeiteten in der DDR 1989 gerade einmal 600 Rechtsanwälte. Im hinsichtlich der Einwohnerzahl vergleichbaren Nordrhein-Westfalen waren zur gleichen Zeit etwa 16.000 Rechtsanwälte tätig. Faupel (2019), S. 153.
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Staatspartei SED vordringen und dort um Hilfe nachzusuchen. Unabhängig von der politisch-administrativen Ebene galt aber: Wie die Angelegenheit ausging, hing vornehmlich von der Gunst der Adressaten ab. Dieses eher vormoderne Phänomen des Willkürakts seitens der Obrigkeit, bei dem es um die Gewährung eines individuellen Ausnahmeprivilegs ging, machte die rhetorische Ausgestaltung der Eingabe umso wichtiger. Neben Argumenten konnten auch die ‚richtigen‘ Wörter oder Phrasen sowie passend gewählte Stilmittel über die Erfüllung oder Nicht-Erfüllung des Anliegens entscheiden. Die Gründe für die Ausbildung des DDR-spezifischen Eingabewesens sind noch wenig erforscht. In welchem Ausmaß in den ehedem gutsherrschaftlich verfassten Landschaften östlich der Elbe die Tradition des untertänigen Bittbriefes noch fortwirkte, lässt sich schwer abschätzen. Historiografisch besser fassbar sind die Bezüge zur Sowjetunion, wo sich eine dem ostdeutschen Eingabewesen vergleichbare Kommunikationspraxis zwischen Bürger und Staat bereits in den 1920er Jahren herausgebildet hatte.12 Unzweifelhaft dürfte in den ersten Nachkriegsjahren auch die Unerfahrenheit der Bürger mit den neuen, noch wenig gefestigten staatlichen Strukturen eine Rolle gespielt haben. Unsicherheit, wer überhaupt für das eigene Anliegen zuständig sein könnte, sowie fehlende Kontaktadressen ließen die Menschen oft an noch halbwegs vertraute Institutionen schreiben, in der Hoffnung, dass von dort vielleicht eine Weiterleitung vorgenommen werden würde. So war etwa der Berliner Rundfunk mit seinem großen Funkhaus in der Masurenallee vielen Menschen eine vertraute Institution bzw. Adresse. Frieda S. schrieb im August 1948 nach Berlin: Lieber Rundfunk! Wegen tuberkulöser Augenerkrankung befinde ich mich seit 28. Nov. 1947 auf der Augenstation in Technitz bei Döbeln. Da dies leider der einzige Ort ist in der sowjetischen Zone, wo Heilverfahren derartiger Erkrankungen durchgeführt werden, ist es umso bedauerlicher, daß alles was die Augenstation angeht sehr primitiv ist. […] Nur so ist es möglich, daß mein folgender Fall geschehen konnte.13
Obwohl sich das Eingabewesen der DDR in vielen Punkten am sowjetischen Vorbild orientierte, so fehlen doch klare Belege, die auf eine gezielte Übernahme dieses Modells durch die Ost-Berliner Führung hindeuten würden. Eher scheint der Versuch der Regulierung und Institutionalisierung der Eingabepraxis durch die DDR-Regierung eine Reaktion auf eine bereits massenhaft praktizierte Form der Kritik bzw. des Beschwerens gewesen zu sein.14 Nach einem ersten Erlass aus den 1950er Jahren, der die Verwaltung dazu anhielt, Eingaben möglichst rasch und unbürokratisch zu erledigen, findet sich in einer zweiten, 1961 erlassenen Eingabeverordnung erstmals der Passus, dass 12 13 14
Zur Eingabenpraxis in der Sowjetunion vgl. u. a. Sprau (2012), Tikhomirov (2018). ‚Frieda S. an Berliner Rundfunk, 6.8.1948 (Eingang)‘: BArch DQ 1/1618, unpaginiert. Auf die recht verworrene Fallschilderung wird an dieser Stelle verzichtet, zumal uns hier primär die Auswahl des Adressaten interessiert. So bezweifelt Mühlberg, dass das sowjetische Beschwerderecht in den 1950er Jahren in der DDR überhaupt bekannt war. Mühlberg sieht im ostdeutschen Eingaberecht „ein originär DDR-deutsches Produkt“, Mühlberg (2004), S. 88.
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keinem Bürger durch seine Eingabe ein Nachteil entstehen dürfe. Ferner sollten Partei- und Staatsorgane Eingaben nun auch mündlich entgegennehmen und dafür spezielle Sprechzeiten einrichten. Zu diesem Zeitpunkt hatte die SED erkannt, dass Eingaben wertvolle Informationen über die Stimmung in der Bevölkerung lieferten und aufkommende Unzufriedenheit in geordnete Bahnen zu lenken vermochten. Endgültig institutionalisiert wurde das populäre Eingaberecht durch ein vom Politbüro abgesegnetes und von der Volkskammer beschlossenes Eingabengesetz, das im Juni 1975 verkündet wurde. Es schrieb eine vierwöchige Erledigungsfrist fest, innerhalb derer die Beantwortung und Erledigung von Eingaben zu erfolgen hatte.15 Ein Blick in die in den Archiven erhalten gebliebenen Eingaben und Antwortschreiben zeigt, dass diese Vorschrift vom Partei- und Staatsapparat durchaus ernst genommen wurde. Beibehalten wurde auch der Hinweis, dass Bürgern durch Eingaben keine Nachteile entstehen durften. In der Praxis galt diese Zusicherung freilich nur gegenüber dem, der auf allzu harsche politische Grundsatzkritik verzichtete. Wer den sozialistischen Staat als solchen, dessen Organe oder einzelne Repräsentanten infrage stellte oder mit einem Ausreiseantrag drohte, musste sehr wohl auf Konsequenzen, sprich auf mehr oder weniger subtile Repressionen durch die Staatssicherheit gefasst sein.16 1977 ließ die SED eine Handreichung erarbeiten, die der Verwaltung Hinweise zur korrekten Bearbeitung von Eingaben lieferte. Eingaben wurden darin, die jeweils unterschiedlichen Intentionen von Anfragen, Bitten oder Beschwerden nivellierend, als „Ausdruck sozialistischer Demokratie“ betrachtet.17 Zu Beginn der 1980er Jahre waren Eingaben endgültig zum weit verbreiteten und akzeptierten Beschwerdeinstrument geworden. Das SED-Regime sah damit das „Grundrecht der Bürger auf umfassende Mitgestaltung des politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Lebens der sozialistischen Gesellschaft und ihres Staates“ als ausreichend erfüllt an.18 Da die SED keine freien Wahlen in der DDR zuließ, waren die Möglichkeiten politischer Partizipation beschränkt. Eingaben dürften dieses Defizit kaum aufgewogen haben, zumal die darin enthaltenen Hinweise und Kritiken naturgemäß vor der Öffentlichkeit verborgen blieben, was durchaus im Sinne der SED war. Dass in Eingaben genuine politische Forderungen erhoben wurden, war ohnehin selten. Meist fokussierten die Eingabenverfasser ein bestimmtes, sie selbst betreffendes Problem aus ihrem persönlichen oder familiären Umfeld. Dessen ungeachtet lassen sich Eingaben als politische Texte lesen, insbesondere dann, wenn die darin geschilderten Missstände oder empfundenen Ungerechtigkei15 16 17 18
Das Gesetz ist abgedruckt in Klemm/Naumann (1977), S. 59–62. Entwurfsversionen des Gesetzes finden sich in BArch-SAPMO, DY 30/I IV 2/2/1563–64 und DY 30/I IV 2/2A/1883–86. Vgl. dazu Elsner (2001). Klemm/Naumann (1977), S. 7. Kleines Politisches Wörterbuch (1983), S. 205. Das Buch erschien im SED-eigenen Karl Dietz Verlag und war ein Brevier der wichtigsten Gesetze und Begriffe der DDR sowie der marxistisch-leninistischen Weltanschauung.
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ten die Qualität des sozialistischen Fürsorgestaates infrage stellten. Genau dies taten die Menschen im krisenhaften letzten Jahrzehnt der DDR immer häufiger. Auf allen Ebenen waren in diesen Jahren steigende Eingabezahlen zu verzeichnen, auch im Gesundheitswesen. Eingaben von Patienten oder Angehörigen Sowohl das Ministerium für Gesundheitswesen als auch die übergeordnete gesundheitspolitische Abteilung der SED waren stark frequentierte Adressaten für Patienten, die sich in Notlagen nicht mehr anders als mit einer Eingabe zu helfen wussten. Ein Teil der dort eingegangenen Briefe ist heute in den Archivbeständen dieser Institutionen im Berliner Bundesarchiv überliefert, in manchen Fällen auch mit den zugehörigen Antwortschreiben. Während an diesem Material erste Untersuchungen vorgenommen wurden, harren die auf Kreis- und Bezirksebene eingegangenen Bitt- und Beschwerdebriefe noch einer systematischen Auswertung.19 Das Gesundheitswesen der DDR galt stets als ein besonderer Vorzug des Sozialismus. Die Behandlung durch gut ausgebildete Ärzte war komplett unentgeltlich und staatlich organisiert, sodass Zuzahlungen von Patienten oder kommerzielle Erwägungen auf ärztlicher Seite eine geringere Rolle spielten als in anderen Gesundheitssystemen. In Polikliniken war der ambulante mit dem stationären Sektor eng vernetzt. Das zentralistische System erleichterte die Erhebung und Auswertung epidemiologischer Daten und führte darüber hinaus zu einer Vereinheitlichung bei der Prävention und Prophylaxe von Erkrankungen.20 Dessen ungeachtet gab es auch für Patienten in der DDR, wie immer und überall in Arzt-Patienten-Interaktionen, Anlässe, sich benachteiligt, ungerecht oder falsch behandelt zu fühlen. Wer mit dem zentralistischen Staatsaufbau der DDR vertraut war, wusste, dass Eingaben umso erfolgversprechender waren, je höher die angeschriebene Instanz in der politischen Hierarchie stand. Viele Menschen richteten deshalb ihre Eingabe direkt an das Ministerium für Gesundheitswesen oder die gesundheitspolitische Abteilung der staatsbeherrschenden SED. Nicht wenige schrieben auch direkt an Staats- und Parteichef Erich Honecker. Die meisten Zuschriften, mehr als 5.000 pro Jahr, erhielt in den 1980er Jahren jedoch das Ost-Berliner Gesundheitsministerium.21 Was wurde inhaltlich in den Eingaben verhandelt? Sehr häufig wurden Schreiben verfasst, um bestimmte staatliche Leistungen zu erlangen, etwa eine Rente oder die vom Staat gewährte „erweiterte materielle Unterstützung“ bei Gesundheitsschäden infolge medizinischer Maßnahmen. So berichtete eine an 19 Vgl. Bruns (2012) und (2016). 20 Eine wissenschaftlich fundierte Gesamtdarstellung des DDR-Gesundheitswesens fehlt bislang. Siehe zeitgenössisch aus Sicht eines ostdeutschen Protagonisten: Winter (1980). Etwa zur gleichen Zeit aus westdeutscher Perspektive: Ruban (1981). 21 Vgl. die Statistiken in BArch, DQ 1/12611.
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den Komplikationen eines Wirbelsäulen-Eingriffs leidende Patientin, dass sie „lieber jeden Tag 12 Std. arbeiten möchte, als mit 48 Jahren Invalidenrentner zu sein“ und bat in ihrem Schreiben an den Leiter der Abteilung Gesundheitspolitik der SED darum, „die Härte zu mildern, die mir durch die Operation entstanden ist“. Sie sei im Jahr 1973 die zweite Patientin gewesen, „die nach einer neuen Methode durch den Bauch an der Wirbelsäule operiert wurde. Die andere Patientin und ich hatten keine Ahnung, dass wir die Ersten waren. Mir wurde nur mitgeteilt, dass ich nach einer anderen Methode operiert werde“.22 Um Entschädigung ging es auch einer Ärztin, die infolge langjähriger Arbeit an einem defekten Röntgengerät Strahlenschäden davongetragen hatte und wiederholt staatliche Unterstützung forderte.23 Die Vergabe von Kuren war ebenfalls ein häufiges Thema von Eingaben. Erklärtes Ziel der sozialistischen Gesundheitspolitik war es, „das Kurenprivileg der Bourgeoisie“ zu beseitigen und das Kur- und Bäderwesen der gesamten Bevölkerung zugänglich zu machen.24 Angesichts begrenzter Kapazitäten erwies es sich allerdings als schwierig, diesen Anspruch in der Praxis umzusetzen. Zwar konnte tatsächlich für viele Menschen eine Kurbehandlung realisiert werden, die unter anderen politischen Bedingungen diese Möglichkeit sicher nicht gehabt hätten. Dies galt insbesondere für Arbeiter. Dennoch produzierte das komplexe und nicht immer transparente Vergabesystem, an dem neben Ärzten auch die Betriebe und die SED-gelenkte Einheitsgewerkschaft FDGB mitwirkten, Enttäuschungen und Konflikte, die sich in zahllosen Anfragen, Bitten und Beschwerden an höhere Stellen niederschlugen.25 Auch war nicht zu übersehen, dass höhere Parteifunktionäre und Politveteranen bei der Verteilung der knappen Kurplätze bevorzugt wurden.26 Vor diesem Hintergrund versuchten viele Patienten, sich in Eingaben als besonders anspruchsberechtigt zu präsentieren und sich als fleißige, loyale Staatsbürger darzustellen. Dies galt auch für andere Bereiche, in denen Engpässe an der Tagesordnung waren. Heinrich A., auf der Suche nach einem der raren Plätze in einem Altersheim, verwies auf seine politische Biografie, um die Erfolgsaussichten seiner Eingabe an das Zentralkomitee der SED zu erhöhen: 22 ‚Eingabe vom 24.8.1981 an Werner Hering, Abteilung Gesundheitspolitik beim Zentralkomitee (ZK) der SED‘: BArch-SAPMO, DY 30/vorl. SED 32017, unpaginiert. 23 ‚Eingabe vom 11.8.1986 an ZK der SED‘: BArch-SAPMO, DY 30/vorl. SED 36914/2, unpaginiert. 24 Seidel/Büttner/Köhler (1985), S. 29. 25 Vgl. die Korrespondenz wegen eines Kuraufenthalts im tschechischen Kindersanatorium Luže Košumberk vom 25.9.1971, BArch DQ 1/4930–1, Bl. 27. 26 Vgl. exemplarisch das Schreiben von Gesundheitsminister Ludwig Mecklinger an einen Parteigenossen vom 28.10.1974: „Lieber Genosse […]! Du wirst sicherlich erfahren haben, daß ich mich in der letzten Zeit darum bemüht habe, Dir kurzfristig einen Kurplatz in einem Bad der CSSR zu vermitteln. Inzwischen liegen die erforderlichen Unterlagen bei mir vor, und ich kann Dir mitteilen, daß diese Kur für Dich vom 8. November – 6. Dezember 1974 in Marianske Lazne vorgesehen ist. […] Ich wünsche Dir eine erholsame und Deinem Gesundheitszustand dienliche Kur in der befreundeten CSSR und verbleibe mit sozialistischem Gruß, L. Mecklinger“. BArch DQ 1/10750, unpaginiert.
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Florian Bruns Mein Leben und auch das meiner Frau stand bisher ganz im Zeichen des Kampfes der Arbeiterklasse. Stets habe ich, und das bis ins hohe Alter, an den Errungenschaften unserer Partei teilgehabt und mitgeholfen, um das zu verwirklichen, von dem wir bereits in der Jugend geträumt haben. Seit 1925 bin ich Mitglied der Partei und wurde kürzlich für meine 60jährige Mitgliedschaft mit der Ehrenurkunde des ZK ausgezeichnet.27
Der demonstrative Verweis auf die Verdienste um Staat und Partei findet sich auch in der Eingabe der Eltern eines herzkranken Kindes, die versuchten, die jahrelange Wartezeit auf eine Herzoperation bei ihrem Sohn zu verkürzen, indem sie sich als „kinderreiche Arbeiterfamilie“ beschrieben, die doch im Sozialismus das Objekt besonderer Fürsorge sein müsse.28 Ähnlich argumentierten die Eltern eines Soldaten der Nationalen Volksarmee, der sich während seiner Dienstzeit eine Tuberkulose zugezogen hatte. Sie kritisierten die mangelnde berufliche Wiedereingliederung ihres Sohnes und unterlegten ihre Forderung mit einem Abriss ihrer eigenen Biografie: Wir […] haben 3 Kinder groß und zu anständigen Mitgliedern unseres Staates erzogen. Wir sind seit 11 bzw. 23 Jahren Mitglieder der Arbeiterpartei, haben in Schichten gearbeitet und im Wohngebiet in der Nationalen Front bei Volks- und Kommunalwahlen immer im Wahlvorstand mitgearbeitet sowie als gewählte Mitglieder der Betriebsparteileitung und der Stadtbezirksleitung unsere Pflichten erfüllt.29
Es dürfe nicht sein, so die Eltern, dass ihr Sohn wegen seiner Erkrankung nun keinen adäquaten Platz in eben jener Gesellschaft finde, für deren Aufbau sie selbst sich seit vielen Jahren eingesetzt hätten. Eine ebenfalls häufig in Eingaben gewählte Argumentationsstrategie bestand darin, den sozial- und gesundheitspolitischen Anspruch der SED mit der Alltagsrealität in Beziehung zu setzen. Der Abgleich von propagandistischen Ankündigungen mit der Wirklichkeit diente dazu, das eigene Anliegen als legitim erscheinen zu lassen: Werte Genossen! Heute komme ich mit einer Bitte zu Euch und hoffe sehr, daß Ihr mir behilflich sein könnt? Seit 1984 bin ich leider erkrankt und mußte das Bett hüten. Nun hoffte ich, daß ich von meinem ehemaligen Betrieb VEB Maschinenfabrik u. Eisengießerei Dessau, in dem ich 25 Jahre tätig war, einen Besuch bekommen würde, aber leider warte ich noch heute vergeblich. Als 35-jähriger Leser des N[euen] D[eutschland] bin ich doch sehr enttäuscht, denn täglich lese ich von der guten Betreuung der Alten und Kranken.30
Vielfach waren es Angehörige, die sich für die Interessen ihrer erkrankten Familienmitglieder einsetzten und Eingaben schrieben. Charakteristisch hier27
‚Heinrich und Alwine A. an ZK der SED, 29.07.1985‘: BArch-SAPMO, DY 30/vorl. SED 34847, unpaginiert. Seit 1958 war das Ministerium für Gesundheitswesen auch für Teilbereiche der sozialen Versorgung zuständig. Darunter fiel die Verantwortung für die Altenund Pflegeheime, für die Kinderkrippen und für die Zuteilung der dortigen Plätze an die Bürger. 28 ‚Eingabe vom 27.1.1980 an ZK der SED‘: BArch-SAPMO, DY 30/vorl. SED 21918–1, unpaginiert. 29 ‚Eingabe vom 26.10.1981 an ZK der SED‘: BArch-SAPMO, DY 30/vorl. SED 32013, unpaginiert. 30 ‚Lorenz K. an ZK der SED, 1.8.1985‘: BArch-SAPMO DY 30/vorl. SED 34850–1, unpaginiert.
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für – und auch für den Zustand mancher Gesundheitseinrichtungen in der DDR – ist ein Bericht wie der folgende: Am 14.4.81 ging mein Mann früh in das Krankenhaus Rosslau in der Hoffnung, dass ihm nun endlich geholfen wird […]. Er hatte schon seine Sachen ausgepackt und lag im Bett, da kam gegen Mittag eine Schwester und sagte ihm, dass aus der Operation nichts wird, da das Krankenhaus umgebaut wird und es werde voraussichtlich bis Weihnachten dauern. Er könne sich bei Gelegenheit mal wieder melden und einen neuen Termin holen. Ein Arzt hat mit meinem Mann nicht gesprochen, angeblich war keiner da.31
Ausgehend von dieser Schilderung hinterfragte die Verfasserin rhetorisch die Grundsätze des sozialistischen Staates: Sollen die Beschlüsse des IX. und X. Parteitages, in deren Direktive Artikel IV es heißt: ‚Ein besonderer Wesenszug der sozialistischen Gesellschaft ist die Sorge um die Gesundheit der Menschen und ihre soziale Geborgenheit‘, nur ein leeres Blatt Papier sein? Dieses können wir uns nicht vorstellen.32
Medizinethisch brisante Fragen warf die Eingabe der Eltern eines Kleinkindes auf, das aufgrund einer Genmutation mit derart schweren Fehlbildungen zur Welt gekommen war, dass es nach der Geburt reanimiert und längere Zeit auf einer Intensivstation für Neugeborene behandelt werden musste. Anderthalb Jahre danach erhoben die Eltern des körperlich und geistig schwerbehinderten Kindes in einer mehrseitigen Eingabe an die Abteilung Gesundheitspolitik beim Zentralkomitee der SED schwere Vorwürfe an die medizinisch Verantwortlichen.33 Die Ärzte hätten bei der Geburt des Kindes falsch gehandelt, indem sie es trotz der unmittelbar sichtbaren Fehlbildungen reanimiert hätten. Auch in den Tagen danach hätten sie den vom Vater verlangten Abbruch der künstlichen Beatmung abgelehnt und das Kind gegen den Willen der Eltern weiterbehandelt. Das Kind lag im Inkubator unter einem zusätzlichen sog. Sauerstoffkopfkasten mit Tubus im Mund und wurde einer Intensivbehandlung mit Sauerstoff unterzogen. Als ich das ganze Ausmaß der Schädigung erkannte, machte ich die Ärztin auf die Sinnlosigkeit dieser Behandlung aufmerksam. Ich sagte, dieses Kind hat niemals eine reale Chance ein vollwertiger gesunder Mensch zu werden. (Die potentielle Hirnschädigung war mir zu diesem Zeitpunkt noch nicht bekannt.) Dieser Argumentation stimmte Frau Dr. […] zu, und ich bat um die Unterbrechung der Sauerstoffbehandlung. Sie sagte darauf, dazu sei sie nicht befugt. Im Interesse der Säuglingssterblichkeitsstatistik müsse jedes Kind am Leben erhalten werden. Zuletzt bot ich an, die Sauerstoffzufuhr selbst zu unterbrechen und alle strafrechtlichen Konsequenzen auf mich zu nehmen, wenn der Arzt eine solche Entscheidung nicht treffen dürfe. Ich wurde bei diesen Überlegungen nur von dem Gedanken geleitet, unserem Kind ein so trauriges Schicksal zu ersparen.34
Als besonders verstörend, so die Eltern, hätten sie die Aussage einer Ärztin empfunden, wonach im Interesse der Säuglingssterblichkeitsstatistik jedes Kind am Leben bleiben müsse. Nicht zuletzt hege man den Verdacht, dass die 31
‚Karin S. an ZK der SED, 31.5.1981‘: BArch-SAPMO DY 30/vorl. SED 32013, unpaginiert. 32 Ebd. 33 ‚Eingabe vom 14.11.1980‘: BArch-SAPMO, DY 30/vorl. SED 21918–2, unpaginiert. 34 Ebd.
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Mediziner auch aus wissenschaftlichem Interesse heraus gehandelt hätten, um Erkenntnisse über die seltene Genmutation zu gewinnen.35 Die Abteilung Gesundheitspolitik überließ die Bearbeitung dieser komplexen Eingabe dem Ministerium für Gesundheitswesen, dem erkennbar daran gelegen war, einerseits die therapeutische Grundhaltung der beteiligten Ärzte verständlich zu machen, andererseits aber auch die mit der Pflege des Kindes überforderten Eltern nicht allein zu lassen. Hierzu band das Ministerium die ihm nachgeordneten Ebenen (Bezirksarzt, Kreisarzt) ein und entsandte überdies eigens einen Mitarbeiter aus Berlin, um vor Ort ein „Grundsatzgespräch“ mit dem Vater zu führen.36 Schließlich veranlasste die zuständige Bezirksärztin die Aufnahme des Kindes in eine Pflegeeinrichtung, wobei die inzwischen getrennten Eltern offenbar auch auf das Erziehungsrecht für das Kind verzichten wollten.37 Letztlich zeigt dieser vielschichtige Fall, dass eine zufriedenstellende ‚Lösung‘ aus Sicht der Betroffenen tatsächlich erst erreicht werden konnte, nachdem per Eingabe die oberste Leitungsebene des Gesundheitswesens aktiviert und dann entsprechend tätig wurde. Die Problematik der Akzeptanz von Behinderung und die diesbezüglich äußerst schwierige Pflege- und Betreuungssituation in der DDR – adäquate Heimplätze standen nie in ausreichender Zahl zur Verfügung – scheint dabei im Hintergrund auf.38 Die Sorge um die eigene Gesundheit, die individuelle Verarbeitung von Krankheit sowie der Versuch, aus der duldenden Rolle des Patienten herauszutreten und aktiv seine Interessen zu vertreten, sind weitere Aspekte, die sich an Eingaben studieren lassen. So klingt in dem Brief, den eine Berlinerin im Sommer 1989 an das für die Gesundheitspolitik zuständige Politbüromitglied Kurt Hager richtete, nicht nur die Auseinandersetzung mit einer lebensbedrohlichen Erkrankung an, sondern auch die Erbitterung über die widrigen äußeren Rahmenbedingungen der Behandlung: Ich wende mich in einer Angelegenheit an Sie, die uneingeschränkte Direktheit fordert. Ich bin 42 Jahre alt, verheiratet, habe einen 14jährigen Sohn und war bis zu meiner Krebserkrankung vor einigen Monaten voll berufstätig. Wie alle Menschen, die unter dieser Krankheit leiden, habe ich den Wunsch, die Hoffnung auf Gesundheit.39
Beim Betreten der zuständigen onkologischen Nachsorgeeinrichtung in Berlin-Mitte, so die Patientin, setzt sich bei einem krebskranken Menschen das Wort ‚Endstation‘ fest. Das Entree könnte aus einem Gruselfilm stammen, die Wände strotzen vor Schmutz, Ruß und Farbresten; eine halsbrecherische Treppe (für körperbehinderte ein uneinnehmbares Hindernis) führt zu den Behandlungsräumen, die in einer ehemaligen Wohnung seit Jahren untergebracht sind; das Mobiliar reicht von der Jahrhundertwende bis zur Gegenwart. Hier 35 Ebd. 36 ‚Rayner (Ministerium für Gesundheitswesen) an Knappe (Bezirksärztin), 3.3.1981‘: BArch-SAPMO, DY 30/vorl. SED 21918–2, unpaginiert. 37 ‚Knappe an Rayner, 14.7.1981‘: BArch-SAPMO, DY 30/vorl. SED 21918–2, unpaginiert. 38 Vgl. dazu Kohnert (1999). Angesichts des baulichen wie personellen Pflegenotstands war es landesweit gängige Praxis, Klinikbetten auch für längere Zeit mit Pflegefällen zu belegen. 39 ‚Eingabe vom 15.8.1989 (Eingang)‘: BArch-SAPMO, DY 30/27680, unpaginiert.
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arbeitet Frau Dr. […] und ihr kleines Kollektiv, wie mir scheint unter schweren Bedingungen; doch gerade diesen Menschen ist es zu verdanken, durch ihre medizinisch gewissenhafte Behandlung und ihre liebenswerte, menschliche Art, daß man als Patient sich nicht aufgibt.40
Doch trotz aller Bemühungen sei der Zustand, in dem sich die Stadtbezirksstelle für Onkologie befinde, eine unwürdige Zumutung für Hilfesuchende und Mitarbeiter, so das Fazit der Patientin. Bemerkenswert erscheint an dieser Frau, wie sie als Verfasserin einer Eingabe die Patientenrolle verlässt und nicht gewillt ist, sich nur mit ihrer Erkrankung zu beschäftigen oder sich dieser zu überlassen. Vielmehr versucht sie, an höchster Stelle auf Missstände der lokalen Gesundheitsversorgung hinzuweisen – und sich so vielleicht auch die Angst und Empörung angesichts der eigenen existenziellen Bedrohung von der Seele zu schreiben.41 Zugleich liefert ihr Schreiben einen Einblick in die Atmosphäre einer Gesundheitseinrichtung im Zentrum Berlins, das als Hauptstadt der DDR eigentlich als Aushängeschild dienen sollte und bei Infrastruktur-Investitionen häufig gegenüber dem Rest der Republik bevorzugt wurde.42 Eine besondere Herausforderung für das ideologische Selbstverständnis der SED waren Eingaben, in denen Patienten oder deren Angehörige Wünsche nach einer Behandlung in einer speziellen Klinik, etwa in der Berliner Charité, oder im Ausland äußerten. Meist hofften die Anfragenden auf bessere Diagnostik- und Behandlungsmöglichkeiten, z. B. durch das Vorhandensein moderner medizinischer Geräte, in bestimmten Kliniken der DDR oder im Ausland.43 In manchen Fällen waren die Erwartungen, die die Patienten in eine Auslandsbehandlung setzten, jedoch auch unrealistisch.44 So gut wie 40 Ebd. 41 Die vorläufige Antwort (eine endgültige ist nicht überliefert), die das Büro Hager der Patientin zukommen ließ, liest sich eher nüchtern: „Hiermit bestätigen wir den Eingang Ihres Schreibens an Professor Hager, das uns am 15.8. erreichte. Wir verstehen sehr wohl die von Ihnen geschilderten Probleme, wissen andererseits um die Kompliziertheit schneller Lösungen. Unsererseits wurde die Abteilung Gesundheitspolitik beauftragt, dem dargestellten Anliegen nachzugehen und Sie vom Ergebnis in Kenntnis zu setzen. Betrachten Sie dieses Schreiben bitte als einen Zwischenbescheid, bis Ihnen eine endgültige Antwort vorliegt. Wir werden den Vorgang unter Kontrolle halten. Ihnen alles Gute wünschend verbleiben wir mit sozialistischem Gruß […]“. ‚Antwortschreiben vom 21.8.1989‘: BArch-SAPMO, DY 30/27680, unpaginiert. 42 Vgl. Janssen (2012). 43 Vgl. ‚Eingabe vom 31.03.1981 an ZK der SED‘: BArch-SAPMO, DY 30/vorl. SED 32012–2, unpaginiert. Vgl. auch die Korrespondenz des Gesundheitsministeriums und der Leipziger Universitätsklinik mit dem Vater eines an Leukämie erkrankten Kindes bezüglich einer Behandlung in der Bundesrepublik, 6.12.1986 und 10.2.1987, BArchSAPMO, DY 30/vorl. SED 36925, unpaginiert. 44 So fiel es der Eingabenabteilung des Gesundheitsministeriums relativ leicht, einen Patienten darüber aufzuklären, dass seine Netzhautdegeneration sich durch die gewünschte Frischzellentherapie an der Schwarzmeerküste mit großer Sicherheit nicht bessern würde, vgl. ‚Ministerium für Gesundheitswesen am 4.5.1971 an Franz K.‘: BArch DQ 1/4930–2, unpaginiert. Dabei schwankte der Tenor des Ablehnungsschreibens – durchaus DDR-typisch – zwischen wohlmeinendem Paternalismus und staatlicher Bevormundung.
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immer waren Eingaben dieser Art hochpolitische Angelegenheiten. Ein allzu großzügiges Eingehen auf solche Wünsche, so fürchteten die Verantwortlichen in Partei und Ministerium, hätte bedeutet, die durchaus vorhandenen Ungleichheiten in der medizinischen Versorgung einzugestehen, die sich schon im eigenen Land etwa zwischen der Provinz und der privilegierten Hauptstadt auftaten. Auch die Sorge vor einem Prestigeverlust des DDR-Gesundheitssystems, insbesondere im innerdeutschen Vergleich, spielte bei dieser Abwägung eine Rolle. Häufig konnten die gewünschten Untersuchungen oder Therapien tatsächlich ebenso gut in der DDR erfolgen. Fast immer versagten die Behörden dann die Ausreisegenehmigung. War dagegen die Erbringung der notwendigen medizinischen Maßnahmen in der DDR nicht möglich, gaben die Verantwortlichen im Ministerium in der Regel ihre Zustimmung zur Ausreise ins sozialistische oder gar westliche Ausland. Erleichtert wurden solche Ausnahmeregelungen dadurch, dass die Eingabenkorrespondenz mit Patienten oder Angehörigen nicht an die Öffentlichkeit gelangte: Der Briefwechsel spielte sich in einem für Dritte nicht einsehbaren Bereich zwischen dem Schreibenden und dem jeweiligen Adressaten ab. Eine aus Sicht des SEDRegimes gefährliche Breitenwirkung stand somit nicht zu befürchten. Ebenso wenig ließen sich aus den Antwortschreiben weitergehende Ansprüche oder gar Rechtspositionen ableiten. Dies machte es dem Regime leichter, den Anfragenden fallweise entgegenzukommen und bestimmte Wünsche zu erfüllen. Genau darin spiegelt sich aber auch die bereits erwähnte Willkür wider, die das Eingabewesen kennzeichnete. Die Problemregulierung mittels improvisierter Einzelfalllösung war besonders häufig im Bereich der Arzneimittelversorgung anzutreffen. Ausweislich der Quellen kam es sowohl bei der industriellen Produktion als auch bei der Verteilung von Medikamenten an die Apotheken immer wieder zu Engpässen. In den 1980er Jahren betraf dies mitunter selbst Basispräparate wie Schmerzmittel, wie das folgende Schreiben illustriert: Werte Genossen, die auf einem Tiefpunkt angelangte Versorgung der Bevölkerung mit Medikamenten der verschiedensten Art veranlaßt mich zu einer Eingabe an das höchste Organ meiner Partei. In der Presse unseres Landes wird das Gesundheitswesen stets besonders lobend hervorgehoben und u. a. auch auf den Umstand hingewiesen, daß unsere Ärzte bei der Ausstellung von Rezepten keinen Beschränkungen unterliegen. Die Praxis dieses Jahr zeigt jedoch, daß Medikamente, die in früheren Jahren ohne weiteres in den Apotheken erhältlich waren, heute nur nach ungewöhnlichen Wartezeiten zu bekommen sind. Wegen der mir für mein Hüftleiden (Cox arthrose) verordneten Schmerzlinderungszäpfchen ‚Indometacin‘ habe ich in acht hiesigen Apotheken vergeblich mehrmals vorgesprochen und nun endlich soll ich nach 6 Wochen mit einer ersten Teillieferung rechnen können. Meiner Frau geht es mit Tabletten (corinfar) für ihr Herzleiden ähnlich [Hervorhebung im Original, F. B.].45
Die Antwort auf diese Eingabe traf nur zwei Wochen später ein und versuchte, die Situation zu erklären: 45 ‚Martin H. am 21.11.1985 an SED-Politbüro‘: BArch-SAPMO, DY 30/vorl. SED 34850–2, unpaginiert.
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Werter Genosse H.! Dein Schreiben vom 21.11.1985, mit dem Du Dich vertrauensvoll an das Zentralkomitee der SED gewandt hast, wurde unserer Abteilung zur Bearbeitung übergeben. Bei den von Dir genannten Arzneimitteln treten aus verschiedenen Gründen zeitweise Schwierigkeiten in der kontinuierlichen Bereitstellung auf. Die verantwortlichen Genossen in der Industrie und im Gesundheitswesen arbeiten daran, den sehr schnell gestiegenen, weit über dem Plan liegenden Bedarf zu decken. Zur Lösung der Dich persönlich betreffenden Probleme haben wir uns mit dem Bezirksapotheker von Dresden telefonisch in Verbindung gesetzt.46
Dieser werde, so die Zusage der Berliner Parteizentrale, eine kurzfristige Lieferung aus Sonderbeständen veranlassen, sodass Martin H. wieder über das notwendige Präparat verfügen könne.47 Mit einer solchen ad hoc-Lösung war dem schmerzgeplagten Patienten zwar zunächst geholfen, eine nachhaltige Behebung der landesweiten Versorgungsschwierigkeiten aber noch nicht erreicht. Hierzu wäre eine grundlegende Reform der staatlichen Arzneimittelproduktion nötig gewesen, für die im letzten Jahrzehnt der DDR weder der politische Wille noch die ökonomischen Voraussetzungen vorhanden waren. Der Versuch, die gröbsten Defizite in der Arzneimittelversorgung durch individuelle, über das Eingabewesen vermittelte Ausnahmeregelungen zu mildern, mag situativ verständlich und angemessen gewesen sein. Es blieb aber ein intransparentes und letztlich auch ungerechtes Verfahren, von dem nur jene profitierten, die vernehmlich um Hilfe riefen. Wer nicht an die SEDZentrale oder den Gesundheitsminister schreiben konnte oder wollte, blieb mit seinem Problem weitgehend allein und ungehört. Trotz aller Beliebtheit des Mediums Eingabe dürfte dieser schweigende, passiv bleibende Teil der Bevölkerung in der Mehrheit gewesen sein. Jede Beschwerde, zumal im Kontext eines nicht rechtsstaatlich verfassten Staates wie der DDR, erfordert ein gewisses Maß an Überwindung, von der nötigen Schreib- und Formulierungskompetenz ganz abgesehen. So ist davon auszugehen, dass hinter jeder geschriebenen Beschwerde eine Vielzahl nicht zu Papier gebrachter Beschwerden steht.48 Nicht jeder Patient war zudem bereit, staatlichen Stellen schriftlich Einblick in seine gesundheitliche Situation zu gewähren. Hinzu kam, dass die Menschen die Reaktion der angeschriebenen Stellen nicht vorhersehen konnten. So hing deren Hilfsbereitschaft durchaus auch davon ab, wer schrieb und wie das Schreiben verfasst war. War der Eingabenschreiber Mitglied der SED oder besaß er einen besonderen Status im politischen, wirtschaftlichen oder kulturellen Bereich? Gelang es ihm, seine Beschwerde oder Bitte überzeugend zu formulieren und mit guten Argumenten zu unterlegen? An einem Sample 46 ‚Abteilung Gesundheitspolitik beim ZK der SED an Martin H., 4.12.1985‘: BArchSAPMO, DY 30/vorl. SED 34850–2, unpaginiert. 47 Ebd. Die Hintergründe der Lieferengpässe – in diesem Fall die unflexible Bedarfsplanung sowie ausbleibende Wirkstoff-Lieferungen aus dem sozialistischen Bruderland Rumänien – werden nur in der internen Korrespondenz, die diese Eingabe auslöste, angesprochen, vgl. den Briefwechsel zwischen der Abteilung Gesundheitspolitik und dem stellvertretenden Minister für Gesundheitswesen, Ulrich Schneidewind, 4.12.1985 und 30.12.1985, BArch-SAPMO, DY 30/vorl. SED 34850–2, unpaginiert. 48 Zu diesem Aspekt vgl. Klein (1973), S. 105 f.
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von 216 Eingaben an die Abteilung Gesundheitspolitik beim ZK der SED konnte kürzlich gezeigt werden, dass die Erwähnung der Parteimitgliedschaft die Erfolgsaussichten einer Eingabe signifikant verbesserte.49 Ob solche Befunde Repräsentativität beanspruchen können, bliebe noch zu erforschen. Als gesichert darf gelten, dass auch das Gesundheitswesen der DDR längst nicht allen Menschen die gleiche Behandlungsqualität bot.50 Wer ohnehin nicht auf eine positive Antwort oder Lösung seines Problems hoffte, machte seinem Unmut unter Umständen in einem anonymen Brief kenntlich. Oft wurde darin weniger auf den Einzelfall abgehoben, sondern generelle Kritik geübt. So hieß es 1980 in einem anonymen Schreiben an Honecker: Wir sind größtenteils Frauen, die in den schweren Nachkriegsjahren alle Lasten allein tragen mußten. Wir haben unsere Kinder unter den größten Entbehrungen mit 40 Mark Halbwaisenrente großgezogen. Sind voll arbeiten gegangen, weil wir wußten, daß wir gebraucht werden. […] Wie sieht es nun jetzt 1980 mit der sozialen und ärztlichen Betreuung für diese Jahrgänge aus. Viele Frauen haben offene und kaputte Beine, starke Abnutzungserscheinungen am Knochenbau, der [sic] sehr schmerzhaft ist. Rheuma usw. – Einen Kurplatz hat man für unsere Jahrgänge nicht. Da die Ärzte auf dem Standpunkt stehen, daß dies Abnutzungserscheinungen sind, die ja sowieso nicht zu beheben sind. In dieser Richtung muß ja für unsere lieben Ärzte in den Polikliniken eine Anweisung von höherer Stelle vorliegen, daß sie sich diese Unmenschlichkeiten uns älteren Frauen gegenüber erlauben. Mir persönlich wurde gesagt: wie alt sind Sie, tut mir leid, einen Kurplatz können Sie nicht bekommen, den brauchen wir für die jüngeren Jahrgänge.51
Zeitungsredaktionen oder Poststellen staatlicher Institutionen, die Briefe ohne Absender erhielten, leiteten diese meist direkt an die Staatssicherheit weiter, die ohnehin stark in die Postkontrolle involviert war. Mitunter wurden anonyme Schreiben ‚feindlich-negativen‘ Inhalts dann technisch weiter untersucht, um Hinweise auf den oder die Absender zu erhalten.52 Als Eingaben im eigentlichen Sinne ließen sich Briefe ohne Absender schon deshalb nicht behandeln, weil keine Rücksprache mit dem Verfasser möglich war und die aufgeworfenen Fragen somit nicht beantwortet werden konnten. Um einen Brief als Eingabe zu klassifizieren, so hieß es in den offiziellen Richtlinien für deren Bearbeiter, „müssen aber mindestens der Inhalt des Problems, die Absicht des Bürgers bzw. Kollektivs sowie der Absender der Eingabe erkennbar sein“.53 Die Aktenüberlieferung zeigt gleichwohl, dass auch in anonymen Hinweisen Probleme benannt wurden, deren Behebung objektiv möglich und nötig war, ganz unabhängig von einer Kontaktaufnahme mit dem Absender. Das Sekretariat des ZK der SED stellte 1985 sogar ausdrücklich fest, dass es wichtig sei, „anonyme Eingaben ernst zu nehmen und zu bearbeiten“. 49 Vgl. Bruns (2016). 50 Vgl. dazu Hockerts (1994), S. 527. 51 Anonymer, von der Staatssicherheit abgefangener Brief an Honecker, Mai 1980, abgedruckt bei Suckut (2016), S. 276 f. 52 Vgl. ebd., S. 15–17. 53 Klemm/Naumann (1977), S. 39.
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Häufig träfen die Hinweise zu, „auch wenn darin manchmal Zuspitzungen enthalten sind“.54 Schlussbetrachtung Will man den Anspruch einlösen, die Patientenperspektive in der jüngeren Medizingeschichte stärker zu berücksichtigen, so stellen schriftliche Bitten oder Beschwerden von Patienten (und Angehörigen) eine äußerst wertvolle Quelle dar. Heuristisch gesehen sind Eingaben gut geeignet, individuelle Deutungsund Handlungsmuster von Patienten sichtbar zu machen. Untersuchungen hierzu sind nach wie vor vergleichsweise selten. Große archivalische Bestände an Eingaben sind insbesondere aus der Zeit der DDR überliefert, wobei der Schwerpunkt der Überlieferung auf den 1970er und 1980er Jahren liegt. Die Briefe geben die zeitgenössische Sichtweise von Patienten und Familienangehörigen auf das sozialistische Gesundheitssystem wieder. Sie spiegeln den individuellen Umgang mit Krankheit, Pflegebedürftigkeit oder Invalidität und erlauben darüber hinaus Einblicke in die Interaktion zwischen Patienten und Ärzten. Dabei lassen sich nicht nur bestimmte Problembereiche – wie etwa bauliche Mängel oder Engpässe in der Arzneimittelversorgung – identifizieren, sondern auch wiederkehrende Argumentationsfiguren und sprachliche Stilmittel. Meist ging es dabei um die Selbstbeschreibung als verdienter und politisch loyaler Staatsbürger. Auch wenn dabei mitunter Floskeln Verwendung finden: Ganz überwiegend hebt sich die in den Eingaben benutzte Sprache deutlich vom Funktionärsdeutsch ab, das für viele DDR-Akten typisch und inhaltlich häufig nicht sehr ergiebig ist. Die Verfasser von Eingaben sprechen dagegen meist schnörkellos und rundheraus ihre Probleme an – und nötigen damit nicht selten die Adressaten, in ebenso klarer Sprache zu antworten. Ein Charakteristikum des Eingabewesens in der DDR war die gesetzlich garantierte Beantwortung der Bürgerbriefe. Häufig wurden den Eingabenschreibern individuelle, auf den Einzelfall zugeschnittene Lösungen angeboten, im Gesundheitsbereich etwa die bevorzugte individuelle Zuteilung dringend benötigter Medikamente bei Engpässen in der Arzneimittelversorgung. Dem SED-Regime bot das Eingabewesen somit die Möglichkeit, Unmut in der Bevölkerung frühzeitig zu erkennen, die vorgebrachte Kritik zu vereinzeln und manche Probleme diskret aus der Welt zu schaffen. Den Beschwerdeführern punktuelle Problemlösungen anzubieten, erzeugte zwar ein Gefühl von Nähe zwischen Staat und Bürgern, trug aber nichts zur generellen Verbesserung der Situation bei. Viele Menschen betrachteten Eingaben zu Recht als ein probates Instrument, mit ihren Sorgen und Nöten auf höchster politischer Ebene Gehör zu finden. Ohne Zweifel hatte diese Kommunikationsform manches für sich, gerade auch für hilfsbedürftige Kranke und ihre Angehörigen. Weitgehend ausgeschlossen blieben allerdings jene, denen das nötige Selbst54 ‚Protokoll Nr. 47/85 der Sitzung des Sekretariats des ZK am 17.4.1985‘: BArch-SAPMO, DY 30/J IV 2/3/3809, unpaginiert.
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bewusstsein oder die nötige Schreibkompetenz fehlte, um das eigene Anliegen oder gar einen grundsätzlichen Missstand verständlich zu schildern. An dieser Stelle wird deutlich, dass wir auch bei der Untersuchung von Eingaben nur einen Teil der Menschen erfassen, die von Krankheit und Not betroffen waren, nämlich vor allem jene, die ihr Anliegen zu artikulieren wussten. Bibliographie Quellen Bundesarchiv (BArch) DQ 1/1367 DQ 1/4930–1 DQ 1/4930–2 DQ 1/10750 DQ 1/12611 Bundesarchiv – Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR (BArch-SAPMO) DY 30/27680 DY 30/I IV 2/2/1563–64 DY 30/I IV 2/2A/1883–86 DY 30/J IV 2/3/3809 DY 30/vorl. SED 21918–1 DY 30/vorl. SED 21918–2 DY 30/vorl. SED 32012–2 DY 30/vorl. SED 32013 DY 30/vorl. SED 32017 DY 30/vorl. SED 34847 DY 30/vorl. SED 34850–1 DY 30/vorl. SED 34850–2 DY 30/vorl. SED 36914/2 DY 30/vorl. SED 36925 Veröffentlichte Quellen Klemm, Werner; Naumann, Manfred: Zur Arbeit mit den Eingaben der Bürger. Berlin; Staatsverlag der DDR 1977. Kleines Politisches Wörterbuch. 4. überarbeitete und ergänzte Aufl. Berlin; Dietz 1983. Ruban, Maria Elisabeth: Gesundheitswesen in der DDR. Berlin; Holzapfel 1981. Seidel, Karl; Büttner, Lothar; Köhler, Christa: Einführung. In: Seidel, Karl; Büttner, Lothar; Köhler, Christa (Hg.): Im Dienst am Menschen. Erinnerungen an den Aufbau des neuen Gesundheitswesens 1945–1949. Berlin; Dietz 1985, S. 5–43. Suckut, Siegfried (Hg.): Volkes Stimmen. ‚Ehrlich, aber deutlich‘ – Privatbriefe an die DDRRegierung. München; dtv 2016. Verfassung der DDR 1949. documentArchiv. Letzter Zugriff 22.9.2019, http://www.document Archiv.de/ddr/verfddr1949.html. Winter, Kurt: Das Gesundheitswesen in der Deutschen Demokratischen Republik. Bilanz nach 30 Jahren. 2. überarbeitete Aufl. Berlin; VEB Verlag Volk und Gesundheit 1980.
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Die Therapeutische Gemeinschaft und das Arzt-Schwester-Patient-Verhältnis in der Psychiatrie Zwischen therapeutischem Anspruch und sozialistischer Realität1 Ekkehardt Kumbier / Kathleen Haack
Sozialpsychiatrische Reformen in der DDR zielten seit den 1960er-Jahren auf die Überwindung der verwahrenden Anstaltspsychiatrie. Wie in den ‚Rodewischer Thesen‘ von 1963 formuliert, sollte eine aktive Therapie mit dem Ziel der Rehabilitation angestrebt und eine Reintegration des psychisch kranken Menschen in sein soziales Umfeld ermöglicht werden. Die Umsetzung der ‚Rodewischer Thesen‘ gelang jedoch nur vereinzelt und regional sehr unterschiedlich.2 Das Festhalten an den großen Anstalten als Mittelpunkt der Versorgung psychisch Kranker erschwerte Neuerungen. Dennoch suchten einzelne Psychiater nach Möglichkeiten, das therapeutische Milieu innerhalb der psychiatrischen Kliniken günstig zu beeinflussen.3 Diese Bemühungen führten zur Formulierung der ‚Brandenburger Thesen zur Therapeutischen Gemeinschaft‘ (1974/76). Das dahinterstehende Konzept beinhaltet im Wesentlichen die gleichberechtigte und partnerschaftlich ausgerichtete Zusammenarbeit zwischen Therapeuten und Patienten und setzt den Abbau hierarchischer Strukturen in psychiatrischen Institutionen voraus.4 Eine wesentliche Bedingung hierfür war die Überwindung des einseitig biologisch-naturwissenschaftlichen Denkstils innerhalb der Psychiatrie in der DDR. Der Mensch als soziales Wesen sollte hinsichtlich der Entstehung psychischer Erkrankungen im Wissen um psychosoziale Zusammenhänge betrachtet werden. War man im ersten Jahrzehnt des Bestehens der DDR noch davon ausgegangen, dass mit der marxistischen Idee der Beseitigung der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen auch die Ursachen seelischer Leiden obsolet werden würden und fokussierte dementsprechend auf somatische Ursachen psychischer Erkrankungen auf der Grundlage der Arbeiten Pavlovs, ging man allmählich dazu über, den Menschen entsprechend des dialektischen Materialismus gleichermaßen als biologisches wie gesellschaftliches Wesen zu betrachten.5 Auch wenn an dem Paradigma einer individuell verschuldeten Krankheitsursache, die die sozialistische Gesellschaft von jedweder Verantwortung freisprach, grundlegend nicht gerüttelt wurde, wurde 1 2 3 4 5
Der vorliegende Beitrag beruht auf der 2017 erschienenen Arbeit von Kumbier/Haack (2017), S. 434–445. Vgl. Kumbier/Armbruster (2015), S. 362–366; Kumbier/Haack/Steinberg (2013), S. 313– 320; Steinberg (2014), S. 71–75; Hennings (2014), S. 385–409; Schmiedebach/Beddies/ Schulz/Priebe (2000), S. 138–143. Vgl. Hanrath (2003), S. 31–61; Balz/Klöppel (2015), S. 539–567. Vgl. Kumbier/Haack (2017). Vgl. Palme (2015), S. 701–733.
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die Aufgabe des Gesundheitswesens neben der fachspezifischen Dimension zunehmend im Sozialen verortet. Damit einher ging die Idee der aktiven Mitarbeit aller Bürger beim Gesundheitsschutz sowie der Wandel des Arzt-Patient-Verhältnisses: „An die Stelle der bedingungslosen Unterwerfung unter die ärztliche Autorität tritt mehr und mehr die Beziehung gleichberechtigter Spezialisten“,6 so Kurt Winter (1910–1987), einer der führenden Gesundheitspolitiker der DDR im Jahr 1974.7 Dass dies eine allgemeine, zudem auf die Zukunft projizierte und nicht zuletzt primär auf die somatischen Fächer bezogene Aussage war, wird durch die Nichterwähnung der Psychiatrie im genannten Band, welcher das Gesundheitswesen der DDR im 25. Jahr ihres Bestehens bilanzierte, mehr als deutlich. Nichts desto trotz: Das Jahr 1974 war ein wichtiger Meilenstein des Fachgebiets Psychiatrie in der DDR. Im selben Jahr wurden die ‚Brandenburger Thesen zur Therapeutischen Gemeinschaft‘ beschlossen. Damit sollte ein wichtiger Schritt zur Verbesserung der therapeutischen Verhältnisse in den Krankenhäusern für Psychiatrie und Neurologie gegangen werden, bei dem die veränderte Arzt-Schwester-Patient-Beziehung ein entscheidendes Moment darstellen sollte. Im Folgenden soll unter Berücksichtigung der in der DDR vorherrschenden Ideologie des Marxismus-Leninismus und des damit verbundenen Menschenbildes untersucht werden, wie sich diese auf das Arzt-Schwester-PatientVerhältnis in der sozialistischen Gesellschaft und insbesondere auf die Vorstellungen von einer ‚Therapeutischen Gemeinschaft‘ auswirkten. ‚Die sozialistische Persönlichkeit‘ im Kontext der Arzt-Schwester-Patient-Beziehung Psychiatrie und Psychotherapie als wissenschaftliche Disziplinen sind besonders eng mit gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen verknüpft, insbesondere hinsichtlich der Grundwerte einer Gesellschaft und dem ihr zugrunde liegenden Menschenbild.8 In der sozialistischen Gesellschaft wirkte sich dieser Zusammenhang auch auf die Auffassungen über das Arzt-Schwester-Patient-Verhältnis aus. Der Mensch als sozial geprägtes und sozial handelndes Wesen rückte seit Ende der 1960er-Jahre zunehmend in den Fokus medizinischer und somit auch psychiatrischer Anschauungen.9 Das ermöglichte erstmals eine Kritik des einseitigen medizinisch-naturwissenschaftlichen Krankheits- und Therapieverständnisses, bei dem soziale Aspekte im Kontext psychischer Erkrankungen bis zu diesem Zeitpunkt weitgehend ausgeklammert worden waren; eine Sichtweise, die zudem mit dem marxistischen Men6 7 8 9
Winter (1974), S. 19. Winter war während seines schwedischen Exils zeitweise selbst in der Psychiatrie tätig gewesen. Vgl. Schagen/Schleiermacher (2005) [Online]. Vgl. Hoff (2005), S. 7–25. Vgl. Späte/Thom/Weise (1982).
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schenbild nicht vereinbar war.10 Interpersonelle Beziehungen als wesentlicher Bestandteil psychiatrisch-therapeutischen Handelns rückten verstärkt in den Fokus. Ein verändertes und tendenziell gleichberechtigtes Arzt-Schwester-Patienten-Verhältnis, welches dem gesellschaftlichen Wandel Rechnung tragen sollte, wurde in Aussicht gestellt.11 Entsprechende Formulierungen finden sich etwa in den Thesen des Rates für Planung und Koordinierung der medizinischen Wissenschaft ‚Sozialismus, Revolution und Medizin‘ von 1968: „Im Vollzug der wissenschaftlich-technischen Revolution und der umfassenden Verwirklichung des Sozialismus trete dem Arzt als Patient in wachsendem Maße die allseitig entwickelte sozialistische Persönlichkeit gegenüber“.12 Das Konstrukt eines idealisierten sozialistischen Menschenbildes, in den 1950er-Jahren unter dem Schlagwort ‚neuer Mensch‘ und seit den 1960ern als ‚allseitig gebildete sozialistische Persönlichkeit‘ propagiert, bildete eine wichtige Konstante bei der angestrebten Erziehung (Formung) staatstreuer Bürger und sollte alle Lebensbereiche umfassen. Auf der Grundlage des MarxismusLeninismus wurde auf eine uneingeschränkte Parteinahme für den Sozialismus gezielt. Es rückten verstärkt Erziehungsaspekte in den Mittelpunkt, die das Individuum innerhalb der ‚sozialistischen Gemeinschaft‘, als Teil des Kollektivs verorten sollte.13 Ziel war die normierte Identität des Einzelnen, die alle Gesellschaftsschichten, fußend auf dem Grundsatz der Gleichberechtigung aller Bürger in der sozialistischen Gesellschaft, einschloss. Das bedeutete aber auch, dass der Einzelne nicht primär als Individuum wahrgenommen wurde, sondern zuallererst als ein für die Gemeinschaft fühlendes und handelndes Wesen, das sich deren Interessen nicht nur unterzuordnen, sondern als seine eigenen anzusehen hatte. Zwischen diesem Anspruch auf der einen Seite und der tatsächlichen individuellen Lebenswirklichkeit auf der anderen Seite bestand jedoch, wie so häufig in der DDR, eine große Diskrepanz. So hat Bettin im Zusammenhang mit der Debatte zur Sterbehilfe in der DDR darauf hingewiesen, dass die Beziehung zwischen Arzt und Patient bzw. Schwester und Patient durch das so genannte medizinische Betreuungsverhältnis und die damit verbundene ärztliche Betreuungspflicht geprägt war.14 In diesem stand der Patient weniger in einem partnerschaftlichen Verhältnis, sondern wurde vielmehr als Empfänger medizinischer Leistungen im Rahmen einer paternalistisch wohlmeinenden staatlichen Versorgung gesehen, die ihn zur Mitwirkung verpflichtete,15 seinen individuellen Handlungsspielraum aber einschränkte. Dem Arzt kam im staatlichen Gesundheitswesen der DDR neben der eigentlichen Behandlung die Aufgabe zu, den Patienten im Sinne der Vorund Nachsorge, Rehabilitation usw. zu beraten und letztlich im Sinne der sozialistischen Gemeinschaft zu überzeugen. 10 11 12 13 14 15
Vgl. ebd. Vgl. Winter (1973), S. 130–145. Ebd., S. 130. Vgl. Busse (2004). Vgl. Bettin (2019), S. 31–69. Vgl. Seifert (2009).
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In der Psychiatrie jedoch versprach die Abwendung von einem hierarchisch geprägten Arzt-Schwester-Patient-Verhältnis, gekoppelt an die Idee des gleichberechtigten Aufeinanderzugehens innerhalb des therapeutischen Prozesses Erfolge, die auf die wiedergewonnene Fähigkeit zur Teilhabe an der sozialen Kommunikation der psychisch Kranken zielte. Dies setzte einen höheren Qualifikationsstandard des medizinischen Personals und eine humanere und tolerantere Einstellung gegenüber Psychiatriepatienten auf allen Ebenen voraus.16 Ziel war die Herauslösung des Patienten aus der ‚Rolle des chronisch Kranken‘.17 Der Weg zur ‚Therapeutischen Gemeinschaft‘ führt über Brandenburg Nach dem überwiegenden Scheitern der Rodewischer Reformimpulse begann Ende der 1960er-Jahre verstärkt die Suche nach Veränderungsmöglichkeiten ‚im Innern‘, d. h. in einzelnen Kliniken.18 Diese Suche führte in einer der größten psychiatrischen Einrichtungen in der DDR, in Brandenburg an der Havel, zu Beginn der 1970er-Jahren zu den von dem englischen Psychiater Maxwell Jones (1907–1990) beschriebenen Prinzipien der ‚Therapeutischen Gemeinschaft‘.19 In dieser Phase des ‚Aufbruchs und der Zuversicht‘20 wurden die Rodewischer Thesen von 1963 wieder aufgegriffen. Die dort getroffene Feststellung, dass eine „optimale Therapie nur unter optimalen Bedingungen optimal zur Wirkung kommt“ zog die Forderung nach sich, dass die „psychiatrischen Krankenhäuser und Kliniken […] ihre allgemeinen Bedingungen, unter denen sie therapieren, kritisch überprüfen“ sollten.21 Das zielte auf Veränderungen in den bisher streng hierarchisch organisierten „wenig flexible[n] […] Großkrankenhäuser[n]“, die einer sozialen Reintegration entgegenstanden.22 Da man aufgrund fehlender personeller und ökonomischer Kapazitäten auf diese Einrichtungen nicht verzichten konnte, wurden zunächst Veränderungen innerhalb der Kliniken angestrebt (‚innere Reformen‘), um dann von diesen ausgehend eine gemeindenahe psychiatrische Versorgung (‚äußere Reformen‘) aufbauen zu können. Insofern ist es verständlich, dass die Forde16 17 18 19
Vgl. Späte/Thom/Weise (1982), hier insbesondere S. 78–79. Punell (1968), S. 21–30, zit. nach Späte/Thom/Weise (1982), S. 98. Vgl. Kumbier/Haack/Steinberg (2013); Balz/Klöppel (2015). Vgl. Jones (1976). Den Begriff der ‚Therapeutischen Gemeinschaft‘ hatte der britische Psychiater Thomas F. Main geprägt, als er 1946 ein Behandlungskonzept für Kliniken beschrieb, das den Einfluss des Milieus auf das therapeutische Geschehen berücksichtigte, vgl. Main (1946), S. 66–70. Dennoch gab es keine einheitliche Definition, da die Konzepte der jeweiligen Initiatoren ‚Therapeutischer Gemeinschaften‘ recht verschieden sein konnten. Zu den Ursprüngen und der frühen Entwicklung insbesondere in England vgl. Mills/Harrison (2007), S. 22–43 bzw. nach dem Zweiten Weltkrieg im Rahmen der antipsychiatrischen und Reformpsychiatrie vgl. Fussinger (2011), S. 146–163. 20 Vgl. Schmiedebach/Beddies/Schulz/Priebe (2002), S. 285–294, hier S. 290. 21 Renker (1965), S. 61–65, hier S. 62. 22 Schwarz/Weise/Bach/Bach (1976), S. 307–313, hier S. 307.
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rungen nach Verbesserung der therapeutischen Bedingungen von den Mitarbeitern der (großen) Kliniken kamen. In der Bezirksnervenklinik Brandenburg hatte sich nach der Übernahme der Direktion durch Siegfried Schirmer (1927–2013) zu Beginn der 1970erJahre ein Kurswechsel vollzogen. Im Mittelpunkt der Veränderungen stand das Konzept der ‚Klinisierung‘, in dem innerhalb des weiterbestehenden Großkrankenhauses eine Spezialisierung mit Bildung selbständiger Kliniken und Funktionsabteilungen angestrebt wurde. In der Folge entstand 1973 eine soziotherapeutische Abteilung, die von dem Oberarzt Helmut F. Späte (1936– 2017) (Vgl. Abb. 1) konzipiert und geleitet wurde.23 Das Konzept der ‚Therapeutischen Gemeinschaft‘ spielte dabei von Beginn an eine zentrale Rolle. So schrieb Späte im Dezember 1972 in seiner Konzeption für die geplante soziotherapeutische Abteilung: „Ziel ist die Einführung des Prinzips der therapeutischen Gemeinschaft“,24 wobei es „unbedingt nötig [ist], den aus der westlichen Psychotherapie überkommenen Begriff der therapeutischen Gemeinschaft theoretisch neu zu durchdringen“.25 Ebenso führte der stellvertretende Klinikdirektor Karl Müller (1922–1992) im ‚Plan zur weiteren Profilierung der Klinik für Neuropsychiatrie zur Vorlage bei der Betriebsleitung über den Ärztlichen Direktor‘ vom 12.6.1972 an, dass in den sozial- und psychotherapeutischen Abteilungen das Prinzip der Therapeutischen Gemeinschaft eingeführt werden soll und dafür u. a. ein spezielles Ausbildungsprogramm für das mittlere medizinische Personal erforderlich ist.26 Auch der Klinikdirektor Siegfried Schirmer sah 1974 in seinem Referat zum Tag des Gesundheitswesens ‚Zur weiteren Entwicklung der Bezirksnervenklinik Brandenburg‘ grundsätzlich zwei Richtungen, in die sich die Klinik entwickeln sollte: „Die eine – in Überwindung der hoffnungslos veralteten, anachronistischen Binnenstruktur – muß völlig neue Denk- und Lebensweisen in der psychiatrischen Klinik anstreben, eine konsequente Verwirklichung sozialpsychiatrischer Elemente mit Herausbildung therapeutischer Gemeinschaften“.27 Die andere beinhaltete die Profilierung, d. h. den Ausbau und die Spezialisierung der Neurologie. Diese Äußerungen enthalten zwei für die weitere Entwicklung wichtige Gesichtspunkte. Zum einen wird die Einführung der Therapeutischen Gemeinschaft als erforderlich angesehen, um die Zustände in der Klinik zu ändern und verstärkt auf therapeutische Aspekte auszurichten. Zum anderen war den Genannten klar, dass dafür eine Änderung in der Einstellung der Therapeuten und des Pflegepersonals erforderlich ist. Dabei kannten sie den begrenzten Handlungsspielraum, den Späte rückblickend mit den Worten „was Freiheit in 23 Vgl. Falk/Hauer (2007). 24 ‚Helmut Späte, Konzeption für die geplante soziotherapeutische Abteilung, Dezember 1972‘: Historisches Archiv des Asklepios Fachklinikums Brandenburg, 02.3/065, Nr. 248, Bl. 1. 25 Ebd., Bl. 2. 26 Ebd. 27 ‚Siegfried Schirmer, Vortrag, Zur weiteren Entwicklung der Bezirksnervenklinik Brandenburg, 11.12.1974‘: Historisches Archiv des Asklepios Fachklinikums Brandenburg, SC A/040, Bl. 1.
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der Psychiatrie leisten kann, ohne gleich den Staat zu stürzen“ charakterisiert hat.28 Sie wussten, dass sich das aus der westeuropäischen Psychiatrie stammende Konzept in der DDR nur verwirklichen lässt, wenn es den gesellschaftspolitischen Bedingungen angepasst werden würde. Das sollte sich wenig später in der Diskussion um die in den Brandenburger Thesen zur ‚Therapeutischen Gemeinschaft‘ geäußerten Kritik der Zustände und den damit verbundenen Änderungsabsichten noch zeigen.
Abb. 1: Helmut F. Späte (1936–2017) (mit freundlicher Genehmigung von Frau Dorothea Späte)
Dabei schienen die Voraussetzungen in der DDR zu Beginn der 1970er-Jahre zunächst günstig zu sein. Der VIII. Parteitag der SED (1971) hatte eine Phase der Entspannungspolitik eingeleitet und versprach mit dem Beschluss der ‚Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik‘ mehr sozialen Wohlstand.29 Die Entfaltung der sozialistischen Persönlichkeit wurde zur politischen Hauptaufgabe erklärt. Im Bereich der Gesundheitspolitik sollte die Betreuung psychisch kranker Menschen stärkere Berücksichtigung finden.30 Doch das grundlegende Misstrauen der SED-Führung gegenüber der Bevölkerung blieb trotz der verkündeten sozial- und kulturpolitischen Initiativen bestehen.31 Das betraf auch die Psychiater in der DDR, die sozialpsychiatrischen Konzepten aus Westeuropa offen gegenüberstanden. Die aus „dem westlichen Kulturkreis kommende[n] Ideologien [stießen] auf großes Mißtrauen der staatlichen und 28 29 30 31
Späte/Otto (2011), S. 137. Vgl. Weber (1999); Schroeder (2013). Vgl. Späte/Thom/Weise (1982). Vgl. Weber (1999).
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parteilichen Führungsgremien des Gesundheitswesens […], ein Mißtrauen, das […] niemals gänzlich erlosch“.32 Die Kritik an den Brandenburger Thesen im politisch-ideologischen Spannungsfeld In der BRD hatte man seit Mitte der 1960er-Jahre in verschiedenen psychiatrischen Krankenhäusern Erfahrungen gesammelt, die u. a. in der ostdeutschen Publikation Auf dem Wege zur therapeutischen Gemeinschaft (1973) aufgegriffen werden.33 Diese Arbeit fußt auf der Konzeption für die ‚Soziotherapeutische Abteilung‘ in der Brandenburger Klinik, die Modellcharakter haben sollte.34 Der Blick der Autoren richtete sich vor allem darauf, wie dieses Konzept der ‚Therapeutischen Gemeinschaft‘ in einem psychiatrischen Großkrankenhaus35 verwirklicht werden könne, in dem vorwiegend chronisch kranke Patienten behandelt wurden. In Vorbereitung auf eine Tagung, bei der die ‚Therapeutische Gemeinschaft‘ im Mittelpunkt stehen sollte, veröffentlichten Schirmer, Müller und Späte wenig später die Neun Thesen zur Therapeutischen Gemeinschaft (1974).36 Diese Tagung fand vom 2. bis 3. Mai 1974 in der Bezirksnervenklinik Brandenburg statt und war unter Mitwirkung der Sektion Rehabilitation der Gesellschaft für Psychiatrie und Neurologie und der Gesellschaft für Krankenhauswesen der DDR organisiert worden.37 Im Ergebnis entstanden die ‚Brandenburger Thesen zur Therapeutischen Gemeinschaft‘, die aber erst zwei Jahre später in einer ‚entpolitisierten‘ Fassung erschienen.38 Auffallend in der zweiten, veränderten Version ist, dass eine über die psychiatrische Institution hinausgehende und bei der Gesellschaft ansetzende Kritik vermieden wird. In der ersten Version, 1974 als Diskussionsgrundlage für die Brandenburger Tagung veröffentlicht, wurde die Psychiatrie noch als ein Instrument angesehen, um auch im sozialistischen Staat die Gesellschaft von ihrer Verantwortung für ihre kranken Bürger zu entbinden.39 In der zweiten Version, die 1976 als Resolution verstanden und publiziert wurde, wird die Verantwortung allein auf die „Institution‚ psychiatrisches Krankenhaus“ übertragen, die „nur unzureichend in der Lage [ist], ihren gesellschaftlichen Auftrag zu realisieren: nämlich die psychisch kranken Bürger optimal zu behan32 33 34 35 36 37 38 39
Schirmer (1992), S. 188–189, hier S. 189. Späte/Schirmer/Müller (1973), S. 591–598. Vgl. Späte/Otto (2011). Anfang der 1970er-Jahre verfügte die Einrichtung über etwa 2400 Betten und war damit einer der größten psychiatrischen Einrichtungen in der DDR. Vgl. Schirmer/Müller/Späte (1974), S. 50–54. Siehe zur Entstehungs- sowie Ideengeschichte und zur konkreten Umsetzung in der Brandenburger Klinik auch die Erinnerungen von Späte in Späte/Otto (2011). Vgl. Schirmer/Müller/Späte (1976), S. 21–25. Zu den einzelnen Thesen und insbesondere dem Vergleich zwischen den 1974 und 1976 veröffentlichen Versionen vgl. Kumbier/Haack (2017). Schirmer/Müller/Späte (1974), S. 52.
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deln und in die Gesellschaft zurückzuführen“.40 In der ersten Version findet sich die Aussage, dass „die Behandlung und Wiedereingliederung der psychisch Kranken nur so gut sein [kann], wie es die Gesellschaftsordnung ist, in der sie leben“.41 Diese als Kritik an der sozialistischen Gesellschaft zu verstehende Aussage wurde in der zweiten Fassung in eine positive Aussage verkehrt: „Die sozialistische Gesellschaftsordnung bietet alle Voraussetzungen für eine optimale Behandlung und Wiedereingliederung der psychisch Kranken“.42 Hinsichtlich der Forderung nach Veränderungen innerhalb der psychiatrischen Krankenhäuser und der Einführung des Konzepts der ‚Therapeutischen Gemeinschaft‘ stimmen beide Versionen überein. In Anlehnung an Jones wird die ‚Therapeutische Gemeinschaft‘ als Möglichkeit gesehen, die psychiatrischen Kliniken in therapeutische Institutionen zu verwandeln. Die Autoren gingen davon aus, dass sich soziale Einflüsse wie beispielsweise die hierarchische Struktur in den Kliniken negativ auf die Behandlung psychisch Kranker auswirken. Noch in der ersten Version verglichen sie psychiatrische Krankenhäuser mit ‚totalen Institutionen‘ im Goffmanschen Sinne. Die Psychiatriekritik des Soziologen Erving Goffman hatte in den 1960er-Jahren dazu geführt, dass der Begriff der ‚totalen Institution‘ auch in Europa zum Schlagwort für die Missstände in der Psychiatrie wurde.43 In der Folge hatten in verschiedenen europäischen Ländern Reformen begonnen, die von vorsichtigen Veränderungen in den Großkrankenhäusern bis hin zu deren Auflösung reichten. In der DDR ließen sich radikale Veränderungen wie in einigen anderen europäischen Ländern (z. B. Italien) nicht umsetzen. Die Rezeption von Goffmans Buch hat den Beginn der regional mehr oder weniger schnell einsetzenden Veränderungen in der Psychiatrie begleitet.44 In der zweiten und endgültigen Version der ‚Brandenburger Thesen‘ (1976) wird der Begriff der ‚totalen Institutionen‘ nicht mehr verwendet. Des Weiteren wurde in der ersten Version festgehalten, dass eine psychiatrische Therapie niemals strafenden oder disziplinierenden Charakter haben dürfe. In der zweiten wurde lediglich der strafende Charakter abgelehnt. Der disziplinierende Charakter wurde sogar als erforderlich angesehen und die Abschaffung von „Autorität schlechthin“ verneint. Letztlich wurden die Missstände in den psychiatrischen Kliniken der DDR als „Relikte der bürgerlichen Gesellschaft“ oder als innerinstitutionelle Probleme betrachtet und damit die Kliniken für Probleme in der psychiatrischen Versorgung verantwortlich gemacht.45 Es ist Sabine Hanrath beizupflichten, die davon ausgeht, dass die inhaltlichen Veränderungen der Thesen nicht nur infolge der fachlichen Diskussion vorgenommen wurden, sondern vermutlich aufgrund des politischen Dru-
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Schirmer/Müller/Späte (1976), S. 22. Schirmer/Müller/Späte (1974), S. 52. Schirmer/Müller/Späte (1976), S. 23. Vgl. Goffman (1973). Vgl. Vanja (2008), S. 120–129. Schirmer/Müller/Späte (1976), S. 23.
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ckes.46 Der Leipziger Psychiater Klaus Weise (1929–2019) wie auch Helmut Späte relativierten zwar rückblickend die Chancen der politischen Einflussnahme. Dennoch war beiden bewusst, dass sie in ihren Möglichkeiten, sozialpsychiatrische Reformen in der DDR durchzusetzen, an politisch-ideologische Grenzen stießen, die zum Teil eng gesteckt waren. Beide verneinten eine direkte Einmischung staatlicher oder politischer Instanzen.47 Trotzdem wurde „Kritik immer als Infragestellung des Systems gewertet“, weshalb die „Selbstzensur“ in Veröffentlichungen kritische Aussagen deutlich abschwächte.48 Somit wirken „die späteren ‚Brandenburger Thesen‘ im Vergleich zu den neun Thesen eigentümlich angepasst“.49 In diesem Kontext wies Späte darauf hin, dass die redaktionelle Arbeit hauptsächlich bei Schirmer gelegen habe, der zu dieser Zeit Redaktionssekretär der Fachzeitschrift Psychiatrie, Neurologie und medizinische Psychologie war und der gemeinsam mit dem hauptverantwortlichen Chefredakteur Heinz A. F. Schulze (1922–2015) agierte.50 Schulze stand dem politischen System der DDR sehr nahe.51 Es ist davon auszugehen, dass er auf Inhalte der Fachartikel in der Zeitschrift Einfluss nahm, zumal die Anforderungen an eine solche Aufgabe nicht nur „ein hohes fachliches [sondern auch ein] ideologisches Niveau“ erforderten.52 Dabei dürfte ein wichtiger Grund für die genannten Veränderungen gewesen sein, dass die Vorstellung von einer ‚Therapeutischen Gemeinschaft‘ nicht mit den Werten einer sozialistischen Gesellschaft übereinstimmte. So wurde die Kritik des Leipziger Medizinhistorikers und Philosophen Achim Thom (1935–2010) aufgegriffen. Er hatte die erste Version der Brandenburger Thesen zwar grundsätzlich begrüßt, aber zugleich ein für die Gesellschaftsordnung in der DDR ideologisch passendes Konzept der ‚Therapeutischen Gemeinschaft‘ gefordert, das sich von dem der westlichen Länder unterscheiden sollte. Insbesondere forderte er eine klare Positionsbestimmung für die Psychiatrie in der sozialistischen Gesellschaft und die Abgrenzung von den Auffassungen antipsychiatrischer Strömungen in der BRD im Zuge der 68er-Bewegung.53 In seinem Aufsatz Auf dem Weg zu einer Psychiatrie der sozialistischen Gesellschaft (1974) hatte sich Thom in Folge der Brandenburger Tagung mit den dort formulierten Thesen auseinandergesetzt und gefragt, ob diese wie auch andere neue Tendenzen als Kriterien für eine Psychiatrie der sozialistischen Gesellschaft gelten können. Er 46 47 48 49 50 51 52
Hanrath (2002), passim. Vgl. Weise (2014), S. 13–65; Persönliche Mitteilung von Helmut F. Späte vom 19.3.2013. Weise (2014), S. 54. Persönliche Mitteilung von Helmut F. Späte vom 19.3.2013. Vgl. Teitge/Kumbier (2015), S. 614–623. Vgl. ebd. sowie Süß (1998), hier vor allem S. 616–617. Zit. nach Matthes/Spaar/Rohland (1981), S. 274 (Rahmenordnung für die Arbeit der Redaktionskollegien vom 21.12.1976). 53 Thom (1973), S. 577–590; Thom (1974), S. 578–587; Thom: Bedeutsame Differenzierungen, Teil I, (1976), S. 14–20; Thom: Bedeutsame Differenzierungen, Teil II, (1976), S. 99– 105; Kabanov/Weise (1981). Hanrath sieht in der zweiten Version der Brandenburger Thesen den Versuch, sich von den radikalen Auffassungen antipsychiatrischer Strömungen in der BRD abzugrenzen. Vgl. Hanrath (2003).
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warnte vor einer „Reihe vereinfachender Vorstellungen vom schlechthin sozialistischen Charakter einer radikal durchgeführten ‚Therapeutischen Gemeinschaft‘“, die zu „völlig unhaltbare[n] Darstellungen einer angeblich marxistischen Behandlungskonzeption in der Psychiatrie“ geführt haben, gegen die man sich entschieden abgrenzen müsse.54 Die Kritik bezog sich u. a. auf das Verständnis von Autorität und Demokratie in der sozialistischen Gesellschaft. Das dem Konzept ursprünglich zugrunde liegende psychodynamische Krankheitsverständnis und die individualpsychologische Betrachtungsweise von Gruppen widersprachen der marxistischen Anschauung vom Individuum als Teil des gesellschaftlichen Ensembles, der zufolge die persönliche Freiheit des Menschen als isoliert und allein auf sich zurückgezogen und damit als negative Freiheit definiert wurde. Somit musste die Auffassung darüber, welche Stellung der Einzelne in der Gruppe einnimmt, in Übereinstimmung mit den zu Beginn geschilderten gesellschaftspolitischen Zielen der Staatspartei SED gebracht werden. Nach deren Vorstellung sollte die Einordnung des Einzelnen in die Gesellschaft über Kollektive erfolgen. Diesem Verständnis unterlagen auch die Rehabilitation psychisch kranker Menschen und deren Wiedereingliederung in die sozialistische Gesellschaft. Die ‚Therapeutische Gemeinschaft‘ sollte demnach als ‚Rehabilitationskollektiv‘ angesehen werden, dem zwar das Prinzip der Partnerschaft zugrunde liegt, in dem aber der erzieherische Aspekt wichtig war. Den gesellschaftspolitischen Vorgaben entsprechend, folgte die strikt normativ ausgerichtete Erziehung den Prinzipien der Kollektiverziehung, der jede Individualität untergeordnet wurde. Die ideologische Erziehung im und durch das Kollektiv hatte letztlich das Ziel, die Menschen zu sozialistischen Persönlichkeiten zu formen.55 Der ‚Brandenburger Schwesterntag‘ und das Ringen um ein neues Rollenverständnis Trotz aller Kritik an dem Verständnis und der Ausgestaltung der ‚Therapeutischen Gemeinschaft‘ wurden in den 1970er-Jahren die sozialen Beziehungen bei der Behandlung und Eingliederung psychisch kranker Menschen in die Gesellschaft verstärkt in die psychiatrische Rehabilitation einbezogen. Die ‚Brandenburger Thesen‘ hatten deutlich gemacht, dass sich die strenge hierarchische Klinikstruktur negativ auf die Behandlung und letztlich Gesundung auswirken können. Gleichzeitig war darauf hingewiesen worden, dass auch die Einstellung der Mitarbeiter die Behandlung und Rehabilitation des Patienten beeinflussen und eine wirksame ‚Therapeutische Gemeinschaft‘ nur entstehen könne, wenn sich diese ändert.56 54 Thom (1974), hier S. 583. 55 Vgl. Schroeder (2013). 56 Weise/Petermann (1976), S. 139–151. Das wurde übrigens auch für die Patienten gefordert, deren Rolle im therapeutischen Prozess eine aktive sein müsste. Ebenso wurde hier ein „großer Nachholbedarf im Einstellungswandel“ gesehen, vgl. Kreyßig (1978), S. 657–664.
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Schon die erste Tagung in Brandenburg (1974) hatte sich deshalb nicht nur an Ärzte und Psychologen, sondern vor allem an das Pflegepersonal (als mittleres medizinisches Personal bezeichnet) gerichtet.57 Während der Tagung hatten nach „Grundsatzreferaten über theoretische und praktische Belange der therapeutischen Gemeinschaft“ die etwa 300 Teilnehmer, darunter viele Schwestern und Pfleger, in Gruppen diskutiert.58 Bereits im folgenden Jahr fand die nächste Tagung statt, diesmal zusammen mit der Berliner Gesellschaft für Psychiatrie und Neurologie und erstmals als „Arbeitstagung der mittleren medizinischen Fachkräfte“.59 Das war der Beginn einer Tradition, die als ‚Brandenburger Schwesterntag‘ bis 1989 fortgeführt wurde.60 Im Mittelpunkt stand der Austausch über die Verwirklichung der ‚Therapeutischen Gemeinschaft‘, wobei sich die psychiatrischen Kliniken in der DDR durchaus an den Erfahrungen in der Brandenburger Klinik orientierten.61 Der Brandenburger Schwesterntag bezog vor allem das Pflegepersonal ein und diente zugleich als deren sozialpsychiatrische Schulung.62 Das Interesse war groß. Zum II. Brandenburger Schwesterntag 1976 (Vgl. Abb. 2) kamen bereits 228 Teilnehmer aus 47 verschiedenen Einrichtungen der DDR, u. a. aus den Psychiatrischen Universitätskliniken Greifswald, Leipzig und der Berliner Charité. Ein Jahr später wurde der ‚Brandenburger Schwesterntag‘ erstmals auf zwei Tage erweitert. In den folgenden Jahren kamen regelmäßig um die 250 Teilnehmer aus bis zu 60 verschiedenen Einrichtungen der DDR.63 In der Ausbildung der Schwestern und Pfleger waren sozialpsychiatrische Aspekte zuvor kaum berücksichtigt worden.64 Das änderte sich 1975 mit der Einführung der Fachkrankenschwester/des Fachkrankenpflegers für Psychiatrie und Neurologie. Die Lehrpläne beinhalteten nun auch wesentliche Grundkenntnisse in der Sozialpsychiatrie und der Gestaltung therapeutischer Beziehungen.65 Dass aber die Änderung in der Einstellung gegenüber den Patienten und das aktive Einbeziehen in den therapeutischen Prozess nicht immer reibungslos gelang, zeigen verschiedene Zeitzeugenberichte. Noch 1989 beklagte Späte, dass „wir in vielfältiger Weise noch mit den Überbleibseln der 57 Vgl. Schirmer/Müller/Späte (1974). 58 Vgl. Späte/Otto (2011). 59 ‚Mitteilungen der Gesellschaft für Psychiatrie und Neurologie der DDR‘, Psychiatrie, Neurologie und medizinische Psychologie (1976), S. 120–122. 60 ‚Programmhefte „Brandenburger Schwesterntag“, 1975–1989‘: Historisches Archiv des Asklepios Fachklinikums Brandenburg, SC V/010, unpaginiert. 61 Hinsichtlich der Darstellung der ‚Therapeutischen Gemeinschaft‘ in der psychiatrischen Fachliteratur, auf Kongressen und Tagungen sowie Berichten von Zeitzeugen über die Umsetzung im klinischen Alltag vgl. Kumbier/Haack (2017). 62 Eine solche Weiterbildung hatte 1978 auch Ursula Zorn abgeschlossen, die ab 1975 in den Kliniken Hubertusburg tätig war und regelmäßig am Brandenburger Schwesterntag teilnahm. Sie beschreibt aus Sicht einer Schwester die Wandlung von der Verwahrpsychiatrie in eine therapeutische Gemeinschaft. Vgl. Zorn (2010). 63 ‚Brandenburger Schwesterntag 1976/1977‘: Historisches Archiv des Asklepios Fachklinikums Brandenburg, 08.3/067, unpaginiert. 64 Vgl. Späte/Otto (2011). 65 ‚Fachkrankenschwester/Fachkrankenpfleger für Neurologie und Psychiatrie, Fachkrankenschwester für Kinderneuropsychiatrie, 1963–1989‘: BArch DQ 110/23, unpaginiert.
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Abb. 2: Tagungsprogramm des II. Brandenburger Schwesterntages, der am 12. Mai 1976 in der Bezirksnervenklinik Brandenburg stattfand (mit freundlicher Genehmigung des Historischen Archivs des Asklepios Fachklinikums Brandenburg). ‚Programmhefte „Brandenburger Schwesterntag“, 1975–1989‘: Historisches Archiv des Asklepios Fachklinikums Brandenburg, SC V/010, unpaginiert.
Vergangenheit in unseren Einrichtungen und in unseren Köpfen zu kämpfen“66 haben. Der ehemalige ärztliche Leiter der Psychiatrischen Klinik in Stralsund, Friedrich Rudolf Groß (1920–1998), berichtete über Unsicherheit und sogar Ablehnung auf Seiten das Pflegepersonal bei dem Versuch, die ‚Therapeutische Gemeinschaft‘ einzuführen. Es sei den Schwestern und Pflegern schwergefallen, sich auf den gleichberechtigten Umgang mit den Patienten und das regelmäßige Führen von Einzel- und Gruppengesprächen einzulassen. Bisher sei das Pflegepersonal innerhalb eines auf Abgrenzung zum Patienten ausgerichte-
66 Späte (1989), S. 106–108, hier S. 107.
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ten Milieus hauptsächlich an das Empfangen und Weitergeben von Anordnungen gewöhnt gewesen.67 Das diese neuen therapeutischen Ansätze ein Umdenken erforderten und ein langer und schwieriger Prozess sein würden, das war nicht zuletzt auch dem Pflegepersonal klar.68 Der Psychiater und Psychotherapeut Harro Wendt69 hatte diesbezüglich geäußert, dass die formale Abschaffung von Symbolen nicht ausreiche, sondern sich vielmehr die Haltung und Einstellung des therapeutischen Personals ändern und die Patientenautonomie über das Prinzip der Selbstverwaltung gestärkt werden müsse.70 Dieser Wandel in der Haltung den psychiatrischen Patienten gegenüber und damit auch im Selbstverständnis hinsichtlich der eigenen Rolle im therapeutischen Prozess war dringend notwendig geworden. Eine Untersuchung zur Einstellung des Pflegepersonals hatte zu Beginn der 1970er-Jahre gezeigt, dass in den psychiatrischen Einrichtungen der DDR hierarchische Strukturen mit autoritärem Verhalten überwogen. Die Ergebnisse machten deutlich, dass eine Einstellungsänderung nur durch Weiterbildung und das Einbeziehen in die Sozio- und Psychotherapie erreicht werden konnte.71 Deswegen ging es auch beim ‚Brandenburger Schwesterntag‘ von Beginn an um das neue Rollenverständnis und die Gestaltung des therapeutischen Milieus im Krankenhaus. Gerade die Gruppenarbeit wurde als wichtig angesehen, weil hier soziales Lernen und damit die Persönlichkeitsentwicklung des Patienten möglich wurde und sie damit für die Rehabilitation eine wichtige Rolle spielte.72 Die partnerschaftliche Auseinandersetzung und das hierbei angestrebte ‚Arzt-Pfleger-Patient-Kollektiv‘ wurde prinzipiell in Übereinstimmung mit dem Konzept der ‚Therapeutischen Gemeinschaft‘ gesehen.73 Gleichzeitig wurde gefordert, dass bei der „Umgestaltung der Gesamtheit der sozialen Beziehungen […] die Normen unserer Gesellschaftsordnung auch im therapeutischen Prozeß realisiert werden [müssen]“.74
67 Vgl. Groß (1996). 68 Vgl. hierzu auch den Erfahrungsbericht von Eva-Maria Arnold (geb. 1944), die als Fachschwester für Psychiatrie und Neurologie den seit 1975 jährlich stattfindenden Brandenburger Schwesterntag aktiv mitgestaltet hat und auch über Probleme bei der Umsetzung berichtete. Arnold (2014), S. 102–105. 69 Der Direktor des Bezirkskrankenhauses für Psychiatrie und Neurologie in Uchtspringe, Harro Wendt (1918–2006), hatte schon Mitte der 1960er-Jahre eine psychotherapeutische Abteilung eingerichtet und die Integration psychotherapeutischer Methoden in die Therapie im klinischen Alltag gefördert, vgl. Lischka (2006), S. 117–123. 70 Wendt (1979), S. 114–117, hier S. 115. 71 Feldes (1972), S. 235–248; Feldes/Hahn/Müller (1972), S. 669–675. 72 Weise/Petermann (1976). 73 Ebd. 74 Bach/Feldes/Thom/Weise (1976), S. 208–210, hier S. 208.
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Die schwierige Diskussion um die ‚Therapeutische Gemeinschaft‘ Die innerhalb der Psychiatrie in der DDR geführte Diskussion um die ‚Therapeutische Gemeinschaft‘ bezog sich vor allem auf das recht unterschiedliche Verständnis.75 Dabei wurde übereinstimmend die Meinung vertreten, dass sie für die Behandlung psychisch kranker Menschen eine gemeinsame Basis darstellt, die für die Gruppenarbeit innerhalb psychiatrischer Institutionen erforderlich ist und in die zugleich alle Berufsgruppen einbezogen werden können. In Standardwerken für die psychiatrische Ausbildung wurde die ‚Therapeutische Gemeinschaft‘ im Bereich der Sozio- und Psychotherapie verortet und zusammen mit dem „Prinzip der Partnerschaft“ nach Kabanov als das „gegenwärtig effektivste Behandlungskonzept der Psychiatrie und Psychotherapie“ gesehen, wenngleich von den „in der Literatur des westlichen Auslandes [beschriebenen] Modellen Therapeutischer Gemeinschaften mit ‚unumschränkter Toleranzhaltung‘“ Abstand genommen wird.76 In der Auseinandersetzung mit der ‚Therapeutischen Gemeinschaft‘ im Zusammenhang mit der Milieutherapie und des therapeutischen Kollektivs wird diese von Vertretern der Sozialpsychiatrie von der Psychiatrischen Universitätsklinik in Leipzig und dem Leningrader Psychoneurologischem Forschungsinstitut als „nützlich“ angesehen, aber eine Präzisierung des Konzepts gefordert.77 Hier wird in Abgrenzung zu den Auffassungen von Jones und Andreas Ploeger (1926–2018), der sich in der BRD mit der ‚Therapeutischen Gemeinschaft‘ auseinandergesetzt hatte, auf die Notwendigkeit der erzieherischen Aufgabe der Therapeuten und auch auf die Anwendung disziplinierender Maßnahmen in der partnerschaftlichen Zusammenarbeit mit dem Patienten verwiesen: „Bedeutungsvoll ist ein ausgewogenes Verhältnis zwischen der Selbstverwirklichung des Patienten, seiner Eigeninitiative und Formen der erzieherischen Einwirkung der ‚Gemeinschaft‘ der Patienten, des mittleren medizinischen Personals und der Ärzte“.78 Die an der Psychiatrischen Universitätsklinik in Leipzig tätigen Hannelore Weise (1938–2018) und Harald Petermann (geb. 1941) verwiesen darauf, dass hemmende Umstände wie Autorität und Hierarchie, die sich in den kapitalistischen Ländern finden, nicht auf psychiatrische Einrichtungen in den sozialistischen Ländern übertragen werden könnten, denn die gesellschaftlichen Verhältnisse würden die zwischenmenschlichen Beziehungen ändern und somit zu einem Wandel in den genannten problematischen Bereichen führen.79 Das Konzept der ‚Therapeutischen Gemeinschaft‘ müsse daher für „unsere konkreten gesellschaftlichen Bedingungen kritisch überprüft und als Behandlungskonzept neu formuliert werden“.80 Gleichwohl lehnten die Autoren die 75 76 77 78 79 80
Weise/Petermann (1983), S. 449–459. Bach/Weise (1983). Vgl. Volovik/Weise/Dneprovskaja (1981), S. 272–320, hier S. 290–291. Ebd., S. 291. Weise/Petermann (1976). Ebd., S. 143.
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völlige Gleichstellung zwischen Patienten und Therapeuten mit der Begründung ab, dass diese „zur vollständigen Ablehnung der Realität der psychischen Krankheit sowie der notwendigen Rollen- und Funktionsverteilung in der Gesellschaft“ führe.81 Die Patienten müssten sich an den Normen und Regeln der Therapie und letztlich der Gesellschaft orientieren und sich ebenso mit erzieherischen und disziplinierenden Maßnahmen identifizieren. Von der Gesellschaftskritik antipsychiatrischer Strömungen distanzierten sich die Autoren und forderten für den klinischen Alltag eine ‚Therapeutische Gemeinschaft‘, die dem psychisch Kranken eine soziale Reintegration ermögliche. Zugleich wurde betont, dass „in unserer Gesellschaft [der sozialistischen in der DDR, E. K./K. H.] […] von den Voraussetzungen her eine Übereinstimmung der Prinzipien der therapeutischen Gemeinschaft […] mit den Prinzipien der Gesellschaft“ bestünde, wenngleich auf der Ebene der Behandlung noch krankheitsfördernde Bedingungen existieren, die verändert werden müssten. Diese zu verbessern sei ein gesamtgesellschaftliches Anliegen, bei dem die Psychiatrie „ein Teil der veränderten Kraft“ sei.82 Die Realität war jedoch eine andere. Die Verantwortung wurde allein auf die Kliniken verlagert, ohne dass diese in dem existierenden, politisch eng umgrenzten Rahmen tatsächlich eigenverantwortlich entscheiden oder handeln konnten. Wie sich im Fall der Brandenburger Thesen und der nachfolgenden Diskussion zeigte, war die fachliche Auseinandersetzung mit den Prinzipien der ‚Therapeutischen Gemeinschaft‘ in der DDR immer zugleich auch eine politische. Die Vorstellung von einem Rollenwechsel des Patienten vom ‚passiven Objekt‘ zum ‚aktiven Subjekt‘, der zunächst in der Klinik, dann auch in der Gesellschaft gleichberechtigt Verantwortung übernimmt und Entscheidungen trifft, stimmte zwar grundlegend mit der marxistischen Theorie überein, widersprach aber der in der DDR propagierten Ideologie. Das autoritäre Verhältnis zwischen Individuum und Staat wirkte sich in alle Bereiche des Alltags aus, so auch in den Kliniken. Die Entwicklung zur sozialistischen Persönlichkeit war verknüpft mit der Forderung, die sozialistischen Normen einzuhalten und sich zu den sozialistischen Idealen zu bekennen. Im Gegensatz zu den in den Prinzipien der ‚Therapeutischen Gemeinschaft‘ benannten Forderungen, wurde der Einzelne bevormundet, und in der Erziehung zur sozialistischen Persönlichkeit wurde selbstbestimmtes Nachdenken und Entscheiden misstrauisch betrachtet. Dieser Widerspruch wird in der Publikation von Hans Eichhorn deutlich. Eichhorn83 verstand die ‚Therapeutische Gemeinschaft‘ als „utopischen Versuch der Reformierung der spätbürgerlichen Psychiatrie“ und hielt die Einfüh-
81 Ebd., S. 144. 82 Ebd., S. 146. 83 Hans Eichhorn (1942–2016), von 1981 bis 1989 ärztlicher Direktor des Bezirksfachkrankenhauses für Neurologie und Psychiatrie in Ueckermünde, hatte sich dort für die Verbesserung der teils katastrophalen Zustände eingesetzt. Zugleich war er als IM für das Ministerium für Staatssicherheit tätig. Vgl. Süß (1998).
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rung dieses Konzeptes in das sozialistische Gesundheitswesen für obsolet.84 Aus Sicht der Parteiideologie der SED war die Kritik verständlich, denn das hätte eine Auseinandersetzung mit den beschränkten Möglichkeiten in einer Gesellschaft bedeutet, die auf dem Prinzip des sogenannten demokratischen Zentralismus fußte, nicht aber auf einem Fundament einer gleichberechtigten Demokratie. Eichhorn sah bei der Umsetzung der ‚Therapeutischen Gemeinschaft‘ „die Gefahr antithetischer Wert- und Normensysteme“, die zu oppositionellen Normen und Werten hätte führen können.85 Das Risiko, das politische System kritisch zu hinterfragen und politische Veränderungen mit mehr Mitbestimmungsrecht zu fordern, wäre somit zu groß gewesen. Das konnte für die politischen Machthaber in der DDR, für die Eichhorn stellvertretend sprach, nur als Bedrohung aufgefasst werden, der entschieden entgegengetreten werden musste. Das geschah einerseits auf fachlicher Ebene wie der Beitrag von Eichhorn zeigt, andererseits auf gesellschaftspolitischer Ebene durch fehlende Unterstützung. Ebenso betonte Eichhorn den Erziehungsgedanken in der psychiatrischen Therapie und forderte die Einhaltung der Disziplin und Sanktionen bei entsprechenden Verstößen. Damit griff er erneut einen Aspekt auf, der erst in die zweite Version der ‚Brandenburger Thesen‘ eingeflossen war. Letztendlich vertritt Eichhorn die Auffassung, dass in der sozialistischen Gesellschaft mit der sozialistischen Arzt-Patient-Beziehung bereits ein Modell der Partnerschaft bestünde, das die ‚Therapeutische Gemeinschaft‘ überflüssig werde lasse.86 Solche Äußerungen wurden nicht kommentarlos hingenommen. Christoph Schwabe (geb. 1934) aus Leipzig, der sich innerhalb der Gesellschaft für ärztliche Psychotherapie in der DDR für die Musiktherapie engagierte, widersprach entschieden.87 Er warf Eichhorn vor, dass seine Argumentation auf bereits bekannten Fehlinterpretationen des Konzeptes beruhe. Vielmehr müsse die ‚Therapeutische Gemeinschaft‘ im Sinne der ‚Brandenburger Thesen‘ als eine Methode, als notwendiges „Regulativ“88 verstanden werden, denn es sei ein „durch nichts zu ersetzendes Handlungsmodell“,89 das als Ziel das gemeinsame therapeutische Handeln hat. Eichhorn hingegen ideologisiere das Prinzip und ziehe daraus „nicht akzeptable Schlussfolgerungen“.90 Schwabe sah keinen Widerspruch zwischen „den Grundauffassungen über das Wesen der sozialistischen Gesellschaft und den Prinzipien der therapeutischen Gemeinschaft“91, da die „Verwirklichung der therapeutischen Gemeinschaft identisch mit den Grundaussagen der sozialistischen Gesellschaft“92 sei. Die sozialistische ArztPatient-Beziehung auf die gleiche Ebene mit der ‚Therapeutischen Gemeinschaft‘ zu stellen, würde bedeuten, diese ausschließlich als eine ideologisch84 85 86 87 88 89 90 91 92
Eichhorn (1983), S. 457. Ebd., S. 453. Ebd. Schwabe (1984), S. 236–239. Ebd., S. 237. Ebd., S. 238. Ebd., S. 237. Ebd. Ebd., S. 237–238.
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moralische Kategorie zu interpretieren. Das Kernproblem sei aber nicht vordergründig ein ideologisches, sondern ein psychotherapeutisches Anliegen. Schwabe fügte hinzu, dass der Begriff der ‚Therapeutischen Gemeinschaft‘ zwar wie andere psychotherapeutische Begriffe auch aus „dem Kontext der kapitalistischen Gesellschaft“ stammt, mit dieser aber nicht identisch sei.93 Das Erfordernis der ‚Therapeutischen Gemeinschaft‘ dürfe nicht in Frage gestellt werden.94 Ein weiterer interessanter Aspekt ist, dass die Entwicklung der Psychotherapie in der Psychiatrie von dem Bemühen, die ‚Therapeutische Gemeinschaft‘ als Therapiemethode zu verwirklichen, befördert wurde.95 In den 1970erJahren setzte sich zunehmend die Ansicht durch, dass die Anwendung psychotherapeutischer Verfahren innerhalb der Psychiatrie notwendig sei und sich nicht auf einzelne psychische Erkrankungen beschränken ließe. Doch um diese in das gesamte Therapiekonzept einbinden zu können, müssten auch hier die „antitherapeutischen Einstellungen des hierarchisch-autoritären Leistungsstils“ abgeschafft werden. Neben der entsprechenden Ausbildung von Fachärzten für Psychiatrie und Neurologie bedürfe es einer gezielten Ausbildung des Pflegepersonals, das eine Schlüsselstellung einnehme. Die Kenntnis psychotherapeutischer Methoden müsse Bestandteil der Ausbildung zum Fachpfleger für Psychiatrie sein, denn wesentlich sei die Einstellung zu diesen Behandlungsformen.96 Tatsächlich fand die Psychotherapie in den psychiatrischen Kliniken vorwiegend als Gruppentherapie statt, und die ‚Therapeutische Gemeinschaft‘ wurde als deren Basis angesehen, um verschiedene Methoden in der stationären Psychotherapie integrieren zu können. Damit förderten die ‚Brandenburger Thesen‘ eine Entwicklung, die in den psychiatrischen Kliniken bereits begonnen hatte und bewirkten, dass ein psychotherapeutisches Basiskonzept für die Arbeit mit psychisch kranken Menschen zur Verfügung stand.97 Die Integration der Psychotherapie in die Psychiatrie war eine der bedeutsamsten Voraussetzungen für die Verbesserung der Betreuung psychisch kranker Menschen, denn sie ermöglichte die „Nutzung somato-therapeutischer und sozialpsychiatrischer Maßnahmen durch die aktive Teilnahme des Patienten als Subjekt am Behandlungsprozeß“.98 Die im Berliner Wilhelm-Griesinger-Krankenhaus vorwiegend psychotherapeutisch tätige Psychologin Barbara Kruska und der Psychiater Wolfgang Kruska sahen die ‚Therapeutische Gemeinschaft‘ als „verbindende Idee“ für die Psychotherapie, die „unter den in der DDR obwaltenden Machtverhältnissen als Ort der zwang- und vorurteilslosen Begegnung genutzt“ wurde.99 Dennoch be93 Ebd., S. 238. 94 Ebd., S. 239. 95 Vgl. zur Geschichte der Psychotherapie in der DDR und deren Entwicklung Geyer (2011). 96 Vgl. Seidel/Weise (1976), S. 80–86. 97 Vgl. Geyer (2011). 98 Weise/Weise (1981) S. 674–680, hier S. 674. 99 Geyer (2011), S. 180–181.
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schränkte sich diese Entwicklung in den psychiatrischen Fachkrankenhäusern meist auf spezielle Stationen oder Abteilungen für ausgewählte psychisch Kranke.100 Resümee Die staatliche Ideologie in der DDR erklärte die auf dem Marxismus-Leninismus beruhende Weltanschauung als verbindlich. Die damit einhergehenden Vorstellungen von einem Leben in der sozialistischen Gemeinschaft erforderten eine gleichberechtigte und auf Partnerschaft ausgerichtete Beziehung zwischen Therapeuten (Arzt bzw. Schwester) und Patienten. Zumindest auf theoretischer Ebene konnte so das in den Prinzipien der ‚Therapeutischen Gemeinschaft‘ begründete Verständnis des einzelnen Patienten als Individuum in seinem sozialen Umfeld legitimiert werden. Darüber hinaus ermöglichte die dialektische Sichtweise des Menschen eine Ergänzung des einseitig biologischen Krankheitsverständnisses durch ein anthropologisches.101 Das öffnete Möglichkeiten für neue Therapiekonzepte, wie sie in den Prinzipien der ‚Therapeutischen Gemeinschaft‘ formuliert worden waren. Zugleich stand das patientenorientierte Konzept im Widerspruch zum Marxismus, da beansprucht wurde, den Fokus auf das Individuum und nicht auf die Gemeinschaft zu richten. Deshalb wurde es immer wieder in Frage gestellt, aber auch und vor allem deswegen, weil es die Missstände in den Einrichtungen an gesellschaftliche Probleme koppelte. Damit drohten die gesellschaftlichen Umstände in der DDR in die Kritik zu geraten. Die 1974 in der ersten Version zur Diskussion gestellten und 1976 zum Teil neu formulierten ‚Brandenburger Thesen zur Therapeutischen Gemeinschaft‘ thematisierten den Umgang mit psychisch Kranken und die Gestaltung des therapeutischen Milieus in den psychiatrischen Krankenhäusern. Das Konzept sollte nach Ansicht der Verfasser den psychiatrischen Kliniken in der DDR als Leitorientierung dienen. Die ‚Brandenburger Thesen‘ verstanden die von Maxwell Jones formulierten Prinzipien als Übertragung der Normen und Regeln des Zusammenlebens in der sozialistischen Gesellschaft auf die Bedingungen des psychiatrischen Krankenhauses.102 Die Verwirklichung in den bislang hierarchisch ausgerichteten Großkrankenhäusern kann daher als Versuch verstanden werden, mit der Vergangenheit zu brechen und die Zustände der psychiatrischen Versorgung in den Kliniken zu ändern. Das Verständnis von einer ‚Therapeutischen Gemeinschaft‘ war allerdings unterschiedlich und führte innerhalb der Psychiatrie in der DDR zu kontroversen Diskussionen. Um diese einordnen zu können, bedarf es der Betrachtung auf verschiedenen Ebenen. Einerseits wurde die ‚Therapeutische Gemeinschaft‘ in Abhängigkeit von der Ausrichtung der Therapeuten und der 100 Vgl. Weise/Uhle (1990), S. 440–461. 101 Vgl. Palme (2015). 102 Trenckmann (1985), S. 5–13.
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jeweiligen Akzeptanz als übergreifende Methode angesehen, die für die Gruppenarbeit allgemein, insbesondere auch für die Gruppenpsychotherapie innerhalb psychiatrischer Institutionen eine gemeinsame Grundlage bildete. Andererseits wurde das Konzept auf der gesellschaftspolitischen Ebene vor dem Hintergrund der staatlichen Ideologie hinterfragt und der Versuch unternommen, es mit den Werten der sozialistischen Gesellschaft in Übereinstimmung zu bringen. Dieser Anspruch aber führte zu Problemen, deren Ursachen in systemimmanenten Widersprüchen lagen, vor allem in der Diskrepanz zwischen therapeutischem Bemühen und gesellschaftlicher Realität. Die Übernahme von Verantwortung, wie sie im Sinne der aktiven Mitgestaltung in der ‚Therapeutischen Gemeinschaft‘ vermittelt wurde, stand im Gegensatz zum gesellschaftlichen System, das dem Einzelnen Verantwortung abnahm und ihn bevormundete. Die Mitverantwortung des Einzelnen bei der Gestaltung der sozialistischen Gemeinschaft galt zwar als oberstes Gebot, in der Realität war sie aber sehr begrenzt. Dieser Widerspruch konnte in den Kliniken nicht gelöst werden. Die Furcht vor dem Verlust von Kontrolle und das damit einhergehende Misstrauen überforderte die gesellschaftspolitische Toleranz und überschritt die Möglichkeiten des Machbaren. In diesem Kontext ist nachvollziehbar, dass die ‚Brandenburger Thesen‘ auf eine Verbesserung des bestehenden Versorgungssystems zielten, nicht auf dessen Überwindung. Inwieweit sich das Konzept der ‚Therapeutischen Gemeinschaft‘ in den psychiatrischen Kliniken tatsächlich verwirklichen ließ, kann schwer eingeschätzt werden. Immerhin bewirkten die ‚Brandenburger Thesen‘ und die nachfolgende Diskussion einige Fortschritte. So wurden sozialpsychiatrische Aspekte fester Bestandteil für die Ausbildung der in der psychiatrischen Klinik tätigen Berufsgruppen, und vor allem das Pflegepersonal wurde verstärkt in den therapeutischen Prozess einbezogen. Das gelang nicht immer reibungslos, denn das veränderte Rollenverständnis stieß auf Widerstände, wie sie auch in der BRD auftraten. In der DDR konnten Veränderungen, wenn überhaupt nur in geringem Maße und auf der Ebene der untersten Einheit stattfinden.103 Die ‚Brandenburger Thesen‘ spiegeln somit die „Verinselung des Gesellschaftlichen“104 auf dem Gebiet der Psychiatrie wider. Die zweite und endgültige Version von 1976 zielte nur noch auf Veränderungen in den Kliniken, also einzelne Bereiche ab, nicht mehr auf gesamtgesellschaftliche. Der Versuch, die Reformen ‚von unten‘ durchzusetzen, scheiterte an einem zentralistisch gesteuerten System.105 Das führte zu der Suche nach Lösungen ‚im Kleinen‘. Nach einer kurzen Phase des ‚Aufbruchs und der Zuversicht‘, die vor dem Hintergrund der gesellschaftspolitischen Lage zu Beginn der 1970er-Jahre zum Wunsch nach Veränderungen und Mitbestimmung geführt hatte, folgte bald eine Zeit der ‚Bescheidung und Unterordnung‘.106 103 104 105 106
Vgl. Lindenberger (1999); Hanrath (2002). Lindenberger (1999), S. 42. Vgl. Hanrath (2002). Schmiedebach/Beddies/Schulz/Priebe (2002), hier S. 290.
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So gesehen sind die ‚Brandenburger Thesen‘ der Versuch, die Reformen im Wissen um die Grenzen des Machbaren zunächst innerhalb einzelner Einrichtungen umzusetzen, um von hier aus das gesellschaftliche Bewusstsein gegenüber psychisch Kranken zu verändern. Das bedeutete aber zugleich, dass die Verantwortlichkeit für die Reformen von der Gesellschaft weg, hin zu den psychiatrischen Einrichtungen verschoben wurde. Den Verantwortlichen in den Kliniken waren die Grenzen ihres Handlungsspielraums mehr oder weniger bewusst, den sie innerhalb des staatlichen Gesundheitswesens in der DDR hatten, in das sie als Vertreter der sozialistischen Gesellschaft eingebunden waren. Bibliographie Quellen Bundesarchiv (BArch) DQ 110/23 Historisches Archiv des Asklepios Fachklinikums Brandenburg 02.3/065, Nr. 248 08.3/067 SC A/040. SC V/010 Zeitzeugen Persönliche Mitteilung von Helmut F. Späte vom 19.3.2013 Veröffentlichte Quellen Bach, Otto; Feldes, Dieter; Thom, Achim; Weise, Klaus: Praktische Erfahrungen und Methoden sozialpsychiatrischer Arbeit. In: Bach, Otto; Feldes, Dieter; Thom, Achim; Weise, Klaus (Hg.): Sozialpsychiatrische Forschung und Praxis. Leipzig; Thieme 1976, S. 208–210. Eichhorn, Hans: Zum Konzept der Therapeutischen Gemeinschaft. In: Psychiatrie, Neurologie und medizinische Psychologie 35 (1983), S. 449–459. Feldes, Dieter: Die Messung der Einstellung des Pflegepersonals psychiatrischer Institutionen gegenüber Patienten. In: Helm, Johannes; Frohburg, Inge (Hg.), Psychotherapieforschung: Fragen, Versuche, Fakten. Berlin; VEB Deutscher Verlag der Wissenschaften 1972, S. 235– 248. Feldes, Dieter; Hahn, Susanne; Müller, Heidrun: Wie steht das psychiatrische Pflegepersonal zur Soziotherapie? (Eine empirische Untersuchung). In: Psychiatrie, Neurologie und medizinische Psychologie 24 (1972), S. 669–675. Goffman, Erving: Asyle. Über die soziale Situation psychiatrischer Patienten und anderer Insassen. Frankfurt am Main; Suhrkamp 1973. Jones, Maxwell: Prinzipien der therapeutischen Gemeinschaft: soziales Lernen und Sozialpsychiatrie. Bern; Huber 1976. Kabanov, Modest Michailowitsch / Weise, Klaus (Hg.): Klinische und soziale Aspekte der Rehabilitation psychisch Kranker. Leipzig; Thieme 1981. Kreyßig, Michael: Psychologische und ethische Probleme der Rehabilitation psychisch Kranker. In: Psychiatrie, Neurologie und medizinische Psychologie 30 (1978), S. 657–664. Main, Thomas F.: The Hospital as a Therapeutic Institution. In: Bulletin of the Menninger Clinic 10 (1946), S. 66–70.
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Ein glokaler Blick auf die Erprobung eines Antidepressivums Die Teilstudie zu Levoprotilin an der Universitätsklinik Jena in den 1980er Jahren Christine Hartig
Arzneimittelstudien westlicher Pharmaunternehmen in der DDR erfuhren in den letzten Jahrzehnten wiederholt mediale Aufmerksamkeit und wurden nicht zuletzt auch skandalisiert. Artikel in Tageszeitungen und populären Zeitschriften thematisierten Ängste von Betroffenen und äußerten den Verdacht, dass die DDR vor allem aufgrund vermeintlich geringerer gesetzlicher Standards als Prüfstandort interessant gewesen sei und dass gesundheitliche Schädigungen der Versuchspersonen von Pharmaunternehmen und Politik billigend in Kauf genommen wurden.1 Medizinhistorische Forschungen konnten hingegen zeigen, dass die Versuche in der Regel unter Einhaltung der zeitgenössischen bundesrepublikanischen Gesetze erfolgten.2 Dieser Umstand war vor allem einer frühen Orientierung der DDR an internationalen Standards zur Durchführung von Arzneimittelstudien und einer im Vergleich zur Bundesrepublik teils sogar strengeren nationalen Gesetzgebung geschuldet. Damit schien die Frage wieder offen, warum westliche Pharmaunternehmen Studienstandorte in der DDR wählten. Nun rückten Differenzen in den Gesundheitssystemen der beiden Länder und unterschiedliche Mentalitäten in der Bevölkerung in den Fokus medizinhistorischer Forschung, um nach einer besonderen Attraktivität des Studienstandorts DDR zu suchen. Eine um die nationalen Normen und Gesundheitsstrukturen kreisende Betrachtung soll im vorliegenden Beitrag um eine glokale Perspektive (Margrit Pernau) erweitert werden.3 Es soll untersucht werden, welchen Einfluss sowohl die lokalen Verhältnisse vor Ort als auch globale Entwicklungen auf die Umsetzung normativer Standards von Arzneimittelstudien nahmen. Eine solche Herangehensweise kann sowohl Differenzen zwischen den Gesundheitssystemen der beiden deutschen Staaten in den Blick nehmen als auch jene Bedingungen herausarbeiten, die in den westlichen Ländern und in der DDR die Durchführung von Arzneimittelversuchen beeinflussten. 1
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‚Das ist russisches Roulette‘, Der Spiegel (1991) [Online]; Kuhrt/Wensierski (2013); ‚Empörung wegen Arzneimittel-Tests in der DDR‘, Focus Online (2013) [Online]; ‚Systematische Tests. West-Pharmafirmen betrieben Menschenversuche in der DDR‘, Spiegel Online (2013) [Online]; ‚Klinische Studien. West-Pharmafirmen testeten in großem Stil Medikamente in der DDR‘, Zeit Online (2013) [Online]; Kuhrt (2014) [Online]. ‚Arzneimittelprüfungen in Ost-Berlin. Bericht der Untersuchungskommission‘, Berliner Ärzte (1991); Erices (2013); Frewer/Gumz (2015); Erices (2014); Hess/Hottenrott/Steinkam (2016); Werner/König/Jeskow/Steger (2016); Steger/Jeskow (2018). Pernau (2011).
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Im Mittelpunkt des Beitrags stehen beispielhaft zwei an der Klinik für Psychiatrie und Neurologie in Jena zwischen 1987 und 1990 angesiedelte Teilstudien zu dem Antidepressivum Levoprotilin.4 Eine Besonderheit im Vergleich zu vielen anderen in der DDR geprüften Arzneistoffen war, dass Levoprotilin schließlich die Zulassung durch das Bundesgesundheitsamt verweigert wurde.5 Ciba-Geigy stellte die Prüfung des Arzneistoffs im November 1990 ein, da kein Wirkungsnachweis des Arzneistoffs erbracht werden konnte.6 Aber schon Ende 1986 lagen dem Unternehmen entsprechende Hinweise vor.7 Die Jenaer Klinik für Psychiatrie und Neurologie war als Studienstandort in der DDR von nicht unerheblicher Bedeutung. Insgesamt fand rund ein Drittel aller zwischen 1983 und 1990 an psychiatrischen Hochschuleinrichtungen durchgeführten Arzneimittelstudien hier statt, lediglich an der Psychiatrie der Berliner Charité waren mehr Studien angesiedelt.8 Zwar wurden in der DDR die meisten Arzneimittelstudien nicht an akademischen Einrichtungen durchgeführt, doch auch bei der Betrachtung aller Studienstandorte stand die Universitätsklinik Jena zusammen mit der Medizinischen Akademie Erfurt noch an fünfter Stelle.9 Somit sind die in diesem Beitrag darzustellenden Prüfungsbedingungen auch über den Einzelfall hinaus von Relevanz. Zunächst werden die bereits gut erforschten spezifischen nationalen Entwicklungen und Bedingungen dargestellt, die der Entscheidung zugrunde lagen, einen Teil der Studien zu Levoprotilin in der DDR durchzuführen. Im Anschluss stehen die spezifischen Voraussetzungen zur Prüfung des Arzneistoffs an der Jenaer Klinik im Fokus. Hierzu zählten die materiellen und personellen Ressourcen der Klinik, deren therapeutische Ausrichtung und das spezifische diagnostische Profil der Patientinnen und Patienten. Um diese Faktoren herauszuarbeiten, wurden Selbstdarstellungen der Klinik und statistisches Material ausgewertet. Diese Datenerhebung erfolgte überwiegend im Rahmen des Projektes ‚Arzneimittelstudien in der DDR‘.10 Schließlich werden beispielhaft internationale Richtlinien skizziert, die für die Durchführung von Arzneimittelstudien in der DDR und in der Bundesrepublik instruktiv waren. Dabei wird deutlich, dass eine termingerechte Durchführung von Arzneimittelstudien auch auf zahlreichen Gelegenheitsentscheidungen11 der Prüfärzte 4 5 6 7 8 9 10 11
Hess/Hottenrott/Steinkamp (2016), S. 72; Steger/Jeskow (2018), S. 19. Steger/Jeskow (2018), S. 8. Meier/König/Tornay (2019), S. 252. Ebd., S. 248. Werner/König/Jeskow/Steger (2016), S. 31. Hess/Hottenrott/Steinkamp (2016), Tab. 21, S. 256. Projektleiter: Florian Steger, Universität Ulm. Wissenschaftliche Mitarbeiterin: Christine Hartig, Archivar: Jan Jeskow. Vgl. auch Steger/Jeskow (2018). Kapitel drei, fünf und sieben unter Mitarbeit von Christine Hartig. Der Begriff lehnt sich an den im Rahmen des Projektes ‚Dimension und Wissenschaftliche Nachprüfbarkeit politischer Motivation in DDR-Adoptionsverfahren, 1966–1990‘ (Leitung: Prof. Thomas Lindenberger) entwickelten Ausdruck der ‚Gelegenheitsstrukturen‘ an. Solchermaßen soll beschrieben werden, dass das „Regelwerk der verschiedenen Maßnahmen und Prozeduren der Familien und Jugendfürsorge strukturell bedingte Ge-
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basierte. Solche Entscheidungen überbrückten die Diskrepanz zwischen den lokalen Rahmenbedingungen, die den Klinikalltag definierten, und einem durch globale Übereinkünfte definiertes experimentelles Studiendesign. Obgleich solche Entscheidungen teils gegen vorab formulierte wissenschaftliche Standards verstießen, waren sie bei der Durchführung der Levoprotilinstudie hochgradig systemimmanent und -stabilisierend. Testen in West und Ost Aufgrund der guten Überlieferungslage und der Bemühungen der Universitätsklinik Jena und des Freistaats Thüringen um eine medizinhistorische Aufarbeitung waren die in Jena durchgeführten Studien zu Levoprotilin im letzten Jahrzehnt bereits Gegenstand medizinhistorischer Forschung.12 Dabei stand auch die Frage im Fokus, warum Mitte der 1980er Jahre Teilstudien zu dem Arzneistoff in der DDR durchgeführt wurden. Die Entwicklung von Levoprotilin begann Anfang 1983 nachdem der Arzneistoff 1978 erstmals unternehmensintern vorgestellt wurde.13 Seit 1985 lag die Leitung der Prüfung des Antidepressivums überwiegend bei der deutschen Niederlassung von Ciba-Geigy in Frankfurt a. M. Von Beginn an stand die Prüfung unter einem hohen Zeitdruck.14 Prüfungen der Phase eins (Verträglichkeit) wurden an bundesrepublikanischen Kliniken durchgeführt. Die zweite Prüfphase (Dosisfindung) war vor allem ab 1983 an Prüfzentren in Österreich, der Bundesrepublik und der Schweiz geplant. Die dritte Prüfphase (Wirksamkeit) sollte an Prüfkliniken in der Bundesrepublik, den Niederlanden, Skandinavien, Brasilien, Südafrika und Großbritannien durchgeführt werden.15 Zunächst waren demnach keine Studien an Kliniken in der DDR vorgesehen. Als sich Mitte 1985 die Anzahl der Prüfkliniken in der Bundesrepublik aufgrund fehlender Genehmigungen durch die Klinikleitung oder der vorgesetzten Behörden verringerte und so Verzögerungen im Studienablauf drohten, wurden – in der Reihenfolge ihrer Priorität – folgende Ausweichländer geprüft: Die CSSR, Ungarn und die DDR.16 Die Probleme von Ciba-
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legenheiten [bot], um Adoptionen […] aus politischen Gründen […] durchzuführen“. Vgl. ‚Dimension und Wissenschaftliche Nachprüfbarkeit politischer Motivation in DDRAdoptionsverfahren, 1966–1990. Vorstudie im Auftrag des Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie‘ (2018), S. 9. Erices (2014); Hess/Hottenrott/Steinkamp (2016); Steger/Jeskow (2018). Meier/König/Tornay (2019), S. 247. Hess/Hottenrott/Steinkamp (2016), S. 71. Ebd., S. 70. Zu einer ausführlichen Darstellung der verschiedenen Prüfphasen: Bieck (1986). Hess/Hottenrott/Steinkamp (2016), S. 75; Steger/Jeskow (2018), S. 21. Die Forschung benennt unterschiedliche Gründe, die zu einer Verschlechterung der Prüfungsmöglichkeit und Prüfsituation in der Bundesrepublik führten. Hierzu zählt z. B. eine geringere Bereitschaft von Landesbehörden, Arzneimittelstudien zu Psychopharmaka in den ihnen unterstellten Landeskliniken zu genehmigen, nachdem gesetzeswidrig durchgeführte Arz-
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Geigy, Prüfkliniken für das Psychopharmakon zu finden, verweist auf eine schon weiter zurückreichende Verringerung der Prüfungsmöglichkeiten von Antidepressiva. Seit den 1960er Jahren wurden Depressionen vermehrt ambulant behandelt. Dies erschwerte die Rekrutierung von Versuchspersonen in stationärer Behandlung.17 Als zusätzliche Hindernisse bei der Prüfung von Arzneistoffen und speziell von Psychopharmaka in westeuropäischen Ländern wurden in der medizinhistorischen Forschung der Einfluss einer kritischen Presse,18 föderale Strukturen und Konkurrenzkämpfe zwischen niedergelassenen Ärzten19 sowie eine zunehmende Skepsis gegenüber Psychopharmaka betrachtet.20 Damit strich die Forschung vor allem Differenzen zur DDR heraus. Im Oktober 1985 nahmen Vertreter der Frankfurter Niederlassung von Ciba-Geigy angesichts der befürchteten Verzögerungen bei der Prüfung von Levoprotilin Kontakt zum Beratungsbüro für Arzneimittel und medizinische Erzeugnisse (Import) im Ministerium für Gesundheitswesen der DDR (BBA) auf. Beim BBA handelte es sich um jene Einrichtung, die auf DDR-Seite alle Arzneimittelstudien westlicher Pharmaunternehmen koordinierte.21 Das BBA trat entsprechend der DDR-Gesetze an die Position des Studienleiters, mit dem laut bundesrepublikanischer Gesetzgebung die Prüfung abgestimmt werden musste.22 Im März 1986 wurden erste Verträge über Prüfungen der Phase zwei an Kliniken in Berlin und Rostock unterzeichnet und bereits Mitte August 1986 waren drei Viertel der in der DDR und der CSSR zu absolvierenden Prüfungen abgeschlossen.23 Als ausschlaggebend für den schnellen Erfolg kann laut Hess, Hottenrott und Steinkamp vor allem die „zentrale[] Organisation“ von Arzneimittelstudien westlicher Pharmaunternehmen in der DDR betrachtet werden, die sich diametral von der bundesrepublikanischen Prüfsituation unterschied.24 Als weitere Gründe, warum Arzneimittelstudien in der DDR vermeintlich einfacher als in der Bundesrepublik durchgeführt werden konnten, nennt die medizinhistorische Forschung neben fehlenden Sprachbarrieren und einer guten Ausbildung der Mediziner erneut vor allem Differenzen zur Lage in der Bundesrepublik: Hierarchische Entscheidungsstrukturen, ein zentral organisiertes Gesundheitssystem,25 eine geringe Infor-
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neimittelstudien in solchen Einrichtungen juristisch verfolgt wurden. Vgl. Hess/Hottenrott/Steinkamp (2016), S. 73 f. Aber auch davon unabhängig hatten sich durch die allmähliche Einrichtung von Ethikkommissionen seit Beginn der 1980er Jahre mitunter die Bereitschaft von Kliniken verringert, Arzneimittelstudien durchzuführen, da sie darin ein erhöhtes Haftungsrisiko sahen. Vgl. Steger/Jeskow (2018), S. 21. Tornay (2016), S. 167. Steger/Jeskow (2018), S. 19. Hess/Hottenrott/Steinkamp (2016), S. 118. Ebd., S. 120 f. Ebd., S. 118; Steger/Jeskow (2018), S. 21 f. Steger/Jeskow (2018), Kapitel 3.1 (unter Mitwirkung von Hartig), S. 25. Ebd., S. 22. Hess/Hottenrott/Steinkamp (2016), S. 76. Ebd., S. 116 ff.
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miertheit der Bevölkerung durch Einschränkungen in der Pressefreiheit, eine geringere Skepsis gegenüber Arzneimittelstudien26 verbunden mit einer positiven Einstellung gegenüber westlichen Produkten27 und ein stärkeres Vertrauen in die staatliche Gesundheitspolitik und ihre Ärzteschaft.28 Der Überblick hebt als wichtige Elemente für die Verlagerung von Teilstudien in die DDR demnach eine nicht vorhergesehene Verschlechterung der Prüfsituation in der Bundesrepublik, einen engen Zeitplan und die aus bundesrepublikanischer Sicht guten formalen Prüfvoraussetzungen in der DDR hervor. Nationale Gesetze im toten Winkel globaler Forschungen Welche Rolle spielte dementsprechend die DDR-spezifische Normierung von Arzneimittelstudien? Die medizinhistorische Forschung hat gezeigt, dass bei der Durchführung von Arzneimittelstudien mitunter die Verletzung von Bestimmungen, die in der DDR, nicht aber in der Bundesrepublik galten, in Kauf genommen wurde.29 So mussten in der DDR Arzneimittelstudien, unabhängig davon, ob ausländische oder inländische Arzneistoffe geprüft wurden, vom Zentralen Gutachterausschuss (ZGA) im Gesundheitsministerium der DDR befürwortet werden.30 Für die Prüfung von Levoprotilin galt das Arzneimittelgesetz (AMG) der DDR von 1976. Dieses legte u. a. fest, dass die endgültige Genehmigung von Arzneimittelstudien durch das Gesundheitsministerium der DDR auf Grundlage einer Empfehlung des ZGA erfolgte. Hierzu mussten verschiedene Gutachten, die über vorgelagerte Versuche Auskunft gaben, durch das Institut für Arzneimittelwesen der DDR (IfAR) erstellt, bzw. geprüft werden. Ferner fand eine Qualitätsprüfung des Arzneistoffs statt.31 Obgleich im Fall der Jenaer Levoprotilinstudie einige Gutachten noch ausstanden, befürwortete der ZGA die Studie. Das Votum des ZGA war insofern von Bedeutung, da das Gesundheitsministerium diesem in der Regel folgte. Zudem wurde der Prüfstoff bereits vor der Genehmigung der Studie durch das Gesundheitsministerium am 17. September 1987 im Juli an den Studienleiter übergeben und von diesem auch eingesetzt.32 Als Grund kann zum einen der Zeitdruck angenommen werden, unter dem die Studie aus Sicht des Unternehmens stand. Zum anderen hatten vorangegangene Studien der Phase zwei das Genehmigungsverfahren der DDR bereits erfolgreich durchlaufen, so dass im BBA sicherlich davon ausgegangen wurde, das Gesundheitsministe26 27 28 29
Ebd., S. 125 f. Ebd., S. 85 und S. 117. Ebd., S. 143 f. Werner/König/Jeskow/Steger (2016), S. 94 f.; Steger/Jeskow (2018), Kapitel 3 unter Mitarbeit von Hartig, S. 32–36. 30 ‚Erste Durchführungsbestimmung zum Arzneimittelgesetz vom 15. Mai 1964‘, Gesetzblatt der Deutschen Demokratischen Republik (1964), S. 487. 31 Werner/König/Jeskow/Steger (2016), S. 37–39. 32 Vgl. hierzu Steger/Jeskow (2018), Kapitel 3 unter Mitarbeit von Hartig, S. 28–33.
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rium der DDR würde auch der Durchführung dieser Teilstudie zustimmen. Für Ciba-Geigy wiederum dürfte eine Rolle gespielt haben, dass bei der geplanten Zulassung von Levoprotilin in der Bundesrepublik die für die DDR spezifischen Gesetze, wie die staatliche Genehmigung von Arzneimittelstudien, keine Gültigkeit besaßen. Das AMG der Bundesrepublik von 1976 sah lediglich vor, dass die Prüfunterlagen bei der zuständigen Bundesbehörde hinterlegt werden mussten.33 Auch wenn die meisten Genehmigungsverfahren für Arzneimittelstudien in der DDR formal korrekt abgelaufen sein dürften,34 so legt das hier diskutierte Beispiel nahe, dass die spezifischen Gesetze der DDR für westliche Pharmaunternehmen angesichts ökonomischer Prämissen nur wenig relevant waren. Dies erklärt jedoch noch nicht, warum auch der Prüfleiter die zeitnah zu erwartende Entscheidung des Gesundheitsministeriums nicht abwartete. Diese Handlungsweise wird erst vor dem Hintergrund der lokalen Prüfbedingungen verständlich. Lokale Prüfbedingungen an der Klinik für Psychiatrie und Neurologie in Jena Bei der in Jena angesiedelten Studie zu Levoprotilin handelte es sich um eine Teilstudie der Phase drei, der letzten Prüfstufe vor der angestrebten Marktzulassung. An der Studie haben laut einer Publikation mindestens 9 stationär aufgenommene Männer und 32 stationär aufgenommene Frauen mit Angststörungen teilgenommen.35 Damit widmeten sich diese Teilstudien nicht der Hauptindikation des Arzneistoffs, der Depression, sondern einer spezifischen Fragestellung innerhalb eines umfangreicheren Prüfsettings. Solche Spezialstudien waren auch in den 1980er Jahren nicht ungewöhnlich.36 Der Journalist und Medizinhistoriker Rainer Erices hebt in seiner medizinhistorischen Pilotstudie zur klinischen Prüfung von Levoprotilin in Jena hervor, dass die einzelnen Untersuchungen und Tests Teil des medizinischen Alltags waren, da sich Angaben zu den Prüfungen auch in den Krankenakten fanden und nicht allein in den Prüfunterlagen des Auftraggebers.37 Über jene Faktoren, die den Alltag an der Klinik für Psychiatrie und Neurologie in Jena beeinflussten, ist jedoch wenig bekannt. Dies gilt auch generell für Universitätspsychiatrien in der
33 ‚Gesetz zur Neuordnung des Arzneimittelrechts vom 24. August 1976‘, Bundesgesetzblatt (1976), S. 2448–2476. 34 Hess/Hottenrott/Steinkamp (2016), S. 180; Werner/König/Jeskow/Steger (2016), S. 96 f. 35 Kiszka (1996), S. 78–83. Insgesamt umfasste die Studie 42 Personen. In der Publikation beginnt eine Detailaufschlüsselung der Versuchspersonen, bei der auch das Geschlecht genannt ist, erst mit Nummer 2. Darüber hinaus haben mindestens zwei weitere Personen das Versuchspräparat erhalten. Vgl. hierzu Steger/Jeskow (2018), Kapitel 5.1. unter Mitarbeit von Hartig. 36 Bieck (1986). 37 ‚Arzneimittelstudien in der DDR: UKJ-Arbeitsgruppe legt Verfahrensvorschlag vor‘, Medizin Aspekte [Online].
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DDR.38 Viola Balz wiederum lenkt den Blick auf mögliche Friktionen zwischen Versuchssituation und Klinikalltag. Sie fragt, ob die stabilen Bedingungen des Labors, die für ein erfolgreich durchgeführtes Experiment grundlegend sind, überhaupt auf eine Klinik zu übertragen seien.39 Von Interesse ist hier auch ob bzw. wie die geforderten statistischen Methoden mit den Anforderungen einer möglichst optimalen Behandlung von Kranken in Einklang zu bringen sind.40 Knappe Ressourcen: Die personelle und materielle Ausstattung der Klinik Im Zeitraum der Levoprotilinstudie, zwischen 1987 und 1990, war der Klinikalltag – nicht nur in Jena – von einer hohen Auslastung der Betten und von Personalmangel geprägt. In diesen Jahren wurden jährlich zwischen 1.838 und 1.962 Patientinnen und Patienten aufgenommen. Dies bedeutete eine jährliche Auslastungsquote von durchschnittlich 83,8 Prozent.41 Da die Verteilung innerhalb eines Jahres Schwankungen unterlag, ist von wiederkehrenden Phasen der Überbelegung auszugehen. Weiterhin herrschte Personalmangel. Noch Anfang der 1980er Jahre konnten nicht alle Stationen der Klinik mit Fachärzten besetzt werden.42 Diese Faktoren legen nahe, dass angesichts der knappen materiellen und personellen Ressourcen Arzneimittelstudien zusätzliche Belastungen für das Klinikpersonal mit sich brachten. Bei einer weiteren Studie, die zeitgleich zu der Prüfung von Levoprotilin an der Jenaer Klinik stattfinden sollte, lehnte der Studienleiter die Durchführung ab, da „gerade der Langzeitteil doch erhebliche Kapazitäten“ binden würde.43 Doch auch die 28 Tage dauernde Prüfung von Levoprotilin stellte die Klinik vor Herausforderungen. Klinikalltag versus Studienplan: Therapeutisches Konzept und Krankenprofil Der Mangel an Fachärztinnen und Fachärzten sowie eine hohe Auslastung von psychiatrischen Kliniken waren in der DDR ein Dauerproblem. Schon Mitte der 1960er Jahre präferierten aus diesen Gründen vor allem jüngere Psychiater, die ihre berufliche Ausbildung zum größten Teil in der DDR absolviert hatten, alternative Behandlungs- und Betreuungswege.44 Zu diesem 38 Vgl. jedoch zu einer Sicht auf die DDR-Psychiatrie von ehemaligen Patienten sowie von medizinischem und nicht-medizinischem Personal in Mitzscherlich/Müller (2018). Zu nicht-universitären Einrichtungen vgl. Hanrath (2002); Rose (2005). 39 Balz (2010), S. 54. 40 Kienle (1974), S. 1. 41 ‚Statistische Jahresberichte der Friedrich-Schiller-Universität Jena‘: UAJ, VA Nr. 5619, Nr. 5620, Nr. 5621, unpaginiert. 42 ‚Protokoll über das Kadergespräch am 2.1.1980‘: UAJ, PA MED Nr. 21500, Bl. 34. 43 ‚Schreiben an BBA vom 16.4.1987‘: BArch, DQ 105/42, unpaginiert. 44 Kühne (1965), S. 206.
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Kreis zählte auch der spätere Studienleiter der Levoprotilinstudie. Auf Grundlage der sogenannten ‚Rodewischer Thesen‘ von 1963 und der ‚Brandenburger Thesen zur Therapeutischen Gemeinschaft‘ von 1974 entstanden neue Versorgungsmodelle mit Tages- und Nachtkliniken, Wohnheimen und ambulanter Betreuung.45 An der Jenaer Klinik wurden solche Konzepte bereits früh umgesetzt. Seit der ersten Hälfte der 1970er Jahre existierte eine teilstationäre Betreuung in einer Tages-Nacht-Station.46 Diese Maßnahmen, ebenso wie der Einsatz von Psychopharmaka, konnten zwar die Aufnahmedauer der Patienten verkürzen, wodurch sich zwischen 1950 und 1980 die Bettenzahl um 15 Prozent verringerte.47 Konterkariert wurden diese Erfolge aber durch eine erhöhte Aufnahmefrequenz. Aufgrund der gestiegenen Wiederaufnahmen wurde schon bald von einer „Drehtürpsychiatrie“48 gesprochen. Zudem profitierten nicht alle Erkrankten gleichermaßen von den neuen Angeboten. In der Literatur wird diesbezüglich lediglich von einem klinischen Drittel ausgegangen. Diesem stand mitunter zwei Drittel bis drei Viertel chronisch Erkrankter mit langer Aufenthaltsdauer gegenüber.49 Für die Durchführung der in Jena angesiedelten Teilstudien zu Levoprotilin hielten die Prüfpläne des Pharmaunternehmens u. a. fest, wie lange der Arzneistoff verabreicht werden musste und welche Anforderungen Versuchspersonen erfüllen sollten.50 Die meisten dieser Kriterien galten nicht allein für die Jenaer Teilstudien, sondern für die gesamte Phase drei der Prüfung. Dies sollte eine Vergleichbarkeit der verschiedenen Teilstudien gewährleisten. Einen schriftlich fixierten und verbindlich einzuhaltenden Prüfplan forderten sowohl die bundesrepublikanischen wie auch die DDR-Gesetze.51 Allerdings wurden in der Bundesrepublik erst im Dezember 1987 präzise Anforderungen formuliert, welche Angaben Prüfpläne zu enthalten hatten.52 Für die Levoprotilinstudien in Jena war eine Dauer von 28 Tagen vorgeschrieben. Der Arzneistoff sollte an stationär aufgenommenen Angstpatienten geprüft werden. Die Aufenthaltsdauer der Versuchspersonen gehörte somit zu jenen Faktoren, die beeinflussten, ob die Studien in den Klinikalltag integriert werden konnten oder ihn erschwerten. 45 Späte/Thom/Weise (2002), S. 116 und S. 163; Eghigian (2001), S. 366. Vgl. auch den Beitrag von Kumbier/Haack in diesem Sammelband. 46 Wieczorek (1981), S. 20. 47 Ebd., S. 21. 48 Kühne (1969), S. 209. 49 Rose (2005), S. 171. 50 ‚Prüfplan CGP 12.103 A (Levoprotilin) bei Patienten mit Angstzuständen, Prüfplan-Nr. D 121 C7 vom 25.3.1987‘: BArch, DQ 105/42, unpaginiert; ‚Prüfplan Nr. 121 E2, November 1988‘: BArch, DQ 105/42, unpaginiert. Vgl. auch Steger/Jeskow (2018), S. 39. 51 Für die DDR: § 8, Abs. 2 in ‚Zwölfte Durchführungsbestimmung zum Arzneimittelgesetz – Prüfung von Arzneimitteln zur Anwendung in der Humanmedizin – vom 17.5.1976‘, Gesetzblatt der DDR (1976), S. 248–253. Für die Bundesrepublik Deutschland: § 40 Abs. 1 Nr. 7 im ‚Gesetz zur Neuordnung des Arzneimittelrechts vom 24. August 1976‘, Bundesgesetzblatt (1976), S. 2448–2476. 52 ‚Bekanntmachung von Grundsätzen für die ordnungsgemäße Durchführung der klinischen Prüfung von Arzneimitteln vom 9.12.1987‘, Bundesanzeiger (1987), S. 16117–16619.
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Die folgende Tabelle zeigt die Aufenthaltsdauer aller Patienten an der Kriseninterventionsstation der Jenaer Klinik für Psychiatrie und Neurologie während des Studienzeitraums. Hier waren die Levoprotilinstudien angesiedelt. Kriseninterventionsstationen sollten Menschen mit psychischen Erkrankungen bei einer akuten Krise eine „Kurzzeitaufnahme mit intensiver Betreuung“53 ermöglichen. Tab. 1: Aufenthaltsdauer von Patientinnen und Patienten im Studienzeitraum von Levoprotilin an der Kriseninterventionsstation der Universitätsklinik Jena Aufenthaltsdauer
Anzahl
in Prozent
zwischen 1 und 3 Tagen
636
39
zwischen 4 und 14 Tagen
623
39
zwischen 15 und 27 Tagen
161
10
über 27 Tage
198
12
1618
100
gesamt
Quelle: Zusammenstellung unter Verwendung von UAJ S/III Abt. IX Nr. 78 und 79.54
Während die durchschnittliche Verweildauer in der Klinik für Psychiatrie und Neurologie der Friedrich-Schiller-Universität Jena zwischen 1987 und 1989 bei durchschnittlich 36 Tagen lag,55 war diese an der Kriseninterventionsstation aufgrund ihres spezifischen Charakters mit 13 Tagen deutlich geringer.56 Die Tabelle hebt hervor, dass allein aufgrund der Aufenthaltsdauer nur 12 Prozent der Patienten dieser Station für die Studie in Frage kam. Auch wenn mitunter Versuchspersonen auf andere Stationen verlegt wurden, und ihre Aufenthaltsdauer nur teilweise in die hier vorgelegte Statistik einging, wird deutlich, wie wenig die im Studienplan geforderte 28tägige Studiendauer dem Stationsalltag entsprach. Die durchschnittliche Aufenthaltsdauer der Versuchspersonen von 98 Tagen legt vielmehr nahe, dass in die Studie vor allem Langzeiterkrankte aufgenommen wurden. Ein weiteres Aufnahmekriterium der Studie betraf die Diagnose. Im Prüfplan erfolgte die Klassifikation der Diagnosen entsprechend des damals in der klinischen Forschung üblichen Statistical Manual of Mental Disorders (DSM). Für die Levoprotilinstudie waren die 1980 erschienene dritte Auflage sowie deren 1987 publizierte revidierte Neuauflage einschlägig.57 Die Aufnahmediagnosen 53 Alzheimer (1986), S. 1. 54 Die Aufnahme der hier und im Folgenden ausgewerteten Krankenakten erfolgte durch den Archivar des Projektes ‚Arzneimittelstudien westlicher Pharmaunternehmen in der DDR‘ Jan Jeskow. Für weitere Informationen zum Projekt siehe Fußnote 8 in diesem Beitrag. 55 ‚Statistische Jahresberichte der Friedrich-Schiller-Universität Jena‘: UAJ, VA Nr. 5619, Nr. 5620, Nr. 5621. 56 UAJ, S/III Abt. IX Nr. 78 und 79. 57 American Psychiatric Association (1980); American Psychiatric Association (1987). In deutscher Übersetzung erschienen beide Werke 1984 und 1987.
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sind in den Prüfplänen der beiden Teilstudien leicht unterschiedlich benannt: „Soziale Ängste, die nicht primär depressionsbedingt sind“ für die erste Teilstudie und „Angstzustände“ für die zweite Teilstudie.58 Damit standen zwei Diagnosen im Zentrum, die auch im DSM vergleichsweise neu waren. Erst der DSM III definierte Angstzustände als eigenständige Diagnose mit unterschiedlichen Subkategorien: Dem Paniksyndrom, der Generalisierten Angststörung, dem Zwangssyndrom und der Posttraumatischen Belastungsreaktion. Von besonderem Interesse für die Levoprotilinstudie waren, betrachtet man eine aus der Studie hervorgegangene Publikation, die beiden zuerst genannten Erkrankungen: Das Paniksyndrom und die Generalisierte Angststörung.59 Die Verwendung differierender Begriffe lässt sich historisch dahingehend erklären, dass sich das Verständnis über die Bedeutung und die Klassifikation von Angstsymptomen im Zeitraum der Levoprotilinstudie wandelte. Zwar hatte der amerikanische Psychiater Donald F. Klein schon Ende der 1960er Jahre zwischen Panikattacke und der Allgemeinen Angststörung unterschieden.60 Dennoch galten Ängste in der klinischen Praxis vorwiegend als Symptom sowohl der Depression als auch der Psychose.61 Dies spiegelt sich auch in jenen Diagnosemanuals wider, die in den 1980er Jahren im deutschsprachigen Raum in der klinischen Praxis Anwendung fanden. Hierzu zählte die aus den 1970er Jahren stammende Internationale Statistische Klassifikation von Krankheiten, Verletzungen und Todesursachen der WHO.62 Die zum Zeitraum der Levoprotilinstudie aktuelle neunte Fassung war in der DDR unter der Abkürzung IKK 9 bekannt.63 Nach diesem Schema erfolgte auch an der Klinik für Psychiatrie und Neurologie der Friedrich-Schiller-Universität Jena die Diagnosevergabe.64 Ängste waren hier keine eigenständige Kategorie. Im IKK ist die Diagnose Angstzustände den Neurosen (300) untergeordnet. Ferner sind Ängste unterschiedlicher Ausprägung der Akuten Streßreaktion (308) zugeordnet und werden als Symptom bei der Anpassungsstörung (309) erwähnt. Es waren demnach vor allem Patientinnen und Patienten mit solchen Diagnosen für die Teilnahme an der Levoprotilinstudie geeignet. Da für die Studie jedoch das DSM einschlägig war, erforderte dies eine zweifache Diagnostik. Zum einen musste der auf dem Aktendeckel verzeichnete Krankenbefund nach dem IKK 9 erhoben werden, zum anderen jene Diagnose, die nach dem DSM auf der Grundlage von Fragebögen des Auf58 ‚Prüfplan CGP 12.103 A (Levoprotilin) bei Patienten mit Angstzuständen, PrüfplanNr. D 121 C7 vom 25.3.1987‘: BArch, DQ 105/42, unpaginiert; ‚Prüfplan Nr. 121 E2, November 1988‘: BArch, DQ 105/42, unpaginiert. Vgl. auch Steger/Jeskow (2018), S. 39. 59 Kühne/Wendt/Kiszka/Binz (1990), S. 58. 60 Ehrenberg (2015), S. 87; Klein (1964). 61 Kühne/Grünes (1979), S. 91. 62 American Psychiatric Association (1984), S. XI. Im Folgenden zitiert als DSM-III. 63 Ministerium für Gesundheitswesen der Deutschen Demokratischen Republik (1975), S. 7. Im Folgenden zitiert als IKK. 64 In den meisten anderen Staaten war für diesen Diagnoseschlüssel hingegen die Abkürzung ICD 9 geläufig. Diese Abkürzung basierte auf dem englischen Titel: Manual of the International Statistical Classification of Diseases. Injuries, and Causes of Death.
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traggebers vergeben wurde. Die Prüfbögen des Unternehmens standen jedoch für eine historische Analyse nicht zur Verfügung.65 Der folgenden Tabelle liegt eine Stichprobe von 30 Prozent der im Studienzeitraum an der Kriseninterventionsstation aufgenommenen Patienten zugrunde. Sie gibt einen Überblick zu den nach dem IKK gestellten Diagnosen. Grundlage sind die Angaben auf dem Deckblatt der Krankenakten. Da in einigen Fällen mehrere Diagnosen vergeben wurden, können die Einzelwerte nicht addiert werden. Zudem wurden, um zu verwertbaren Ergebnissen zu kommen, die auf der Krankenakte vermerkten Diagnosen entsprechend ihrer dreistellig verschlüsselten Oberkategorien zusammengefasst. Tab. 2: Gestellte Diagnosen nach IKK 9 im im Studienzeitraum von Levoprotilin an der Universitätsklinik Jena66 Diagnose
Diagnosekürzel*
Anzahl
in Prozent
Alkoholismus
303
91
Schizophrene Psychosen
295
55
14
Neurosen
300
39
10
Affektive Psychosen
296
33
8
Missbrauch von Arzneimitteln und Rauschgiften ohne Abhängigkeit
305
25
6
Alkoholpsychosen
291
22
6
Persönlichkeitsstörungen
301
22
6
Arzneimittel- und Rausgiftabhängigkeit
304
16
4
Anpassungsstörung
309
17
4
Akute Stressreaktion
308
13
3
Sonstige
59
15
Gesamt
392
23
100**
Quelle: Zusammenstellung unter Verwendung von Patientenakten aus dem Archiv der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Jena. * nach: Internationale Statistische Klassifikation von Krankheiten, Verletzungen und Todesursachen (IKK). ** Rundungsfehler
Die Tabelle verdeutlicht, dass jene übergeordneten Diagnosen, bei denen Ängste eine Rolle spielen konnten, also Neurosen (300), die Akute Streßreaktion (308) und die Anpassungsstörung (309), im Krankenprofil der Kriseninterventionsstation mit insgesamt 17 Prozent kaum eine Rolle spielten. Noch anschaulicher werden die Ergebnisse, betrachtet man die stärker ausdifferenzierte vierstellige Diagnoseebene und hier jene drei IKK-Diagno-
65 Steger/Jeskow (2018), S. 12. 66 Erstellung der Tabelle durch Jan Jeskow.
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sen, die am stärksten den DSM III-Diagnosen entsprachen.67 Die Diagnose Angstzustände (300.0) wurde im Studienzeitraum viermal, die Diagnose Akute Streßreaktion (308.0) dreimal und die Diagnose Anpassungsstörung mit vorwiegend emotionaler Symptomatik (309.2) einmal gestellt.68 Die Anzahl potenzieller Versuchspersonen wurde also nicht allein durch die für die Kriseninterventionsstation vergleichsweise lange Studiendauer minimiert, sondern auch durch die geringe Anzahl von Patienten, die aufgrund ihrer Diagnose für die Studie in Frage kamen. Die Problematik, geeignete Versuchspersonen zu finden, betraf nicht allein die Levoprotilinstudie. Bei einer anderen, vom selben Studienleiter durchgeführten Studie war es ebenfalls beschwerlich gewesen, die vorgeschriebene Anzahl von Versuchspersonen zu erreichen.69 Damit unterschieden sich die Schwierigkeiten an der Jenaer Klinik kaum von den für westliche Länder bekannten Rekrutierungsproblemen. Individuelle Interessen versus Standardisierung Bisher standen strukturelle Aspekte der Jenaer Klinik im Vordergrund. Lenkt man den Blick auf die beteiligten Akteure, werden weitere Spannungsfelder zwischen Klinikalltag und Versuchssituation erkennbar. So mussten die Versuchspersonen zusätzlichen Anforderungen genügen, die über die therapeutische Behandlung hinausgingen, und mitunter mit ihren Interessen und Wünschen kollidierten. Dem Vorhaben, die Perspektive dieser Akteursgruppe zu rekonstruieren, sind jedoch enge Grenzen gesetzt, wie auch weitere historische Forschungen zur Durchführung von Arzneimittelstudien in psychiatrischen Kliniken zeigen. Nicht nur sind die Stimmen der Versuchspersonen in Krankenakten überwiegend durch die Niederschrift des Klinikpersonals gefiltert. Es zeigt sich auch, dass die Versuchspersonen keine homogene Gruppe darstellen. Die folgenden Betrachtungen müssen daher fragmentarisch bleiben.70 Laut Prüfplan waren als ergänzende Untersuchungen Blutabnahmen vorgesehen und die Versuchspersonen sollten eine Selbstdokumentation anfertigen. Einige der Patienten, die den Kriterien des Prüfplans entsprachen, nahmen diese Anforderungen nicht einfach hin, sondern formulierten Wünsche, die vom Studienleiter angesichts der geringen Zahl potentieller Versuchspersonen auch berücksichtigt wurden: Mehrfach wurden Versuchspersonen während des Studienzeitraums beurlaubt. In einzelnen Fällen zeigte sich der Prüfleiter damit einverstanden, durch den Prüfplan zeitlich klar definierte Kontrolluntersuchungen zu verschieben, wenn diese mit dem Wunsch nach
67 Vgl. hierzu Stiasny (1997), S. 35. 68 Krankenakten (unverzeichnet): Archiv der Klinik für Psychiatrie und Neurologie der Friedrich-Schiller-Universität Jena. 69 ‚Bericht des IfAR über den Besuch von NSW-Firmenvertretern in der DDR vom 8.4.1985‘: UAJ, VA Nr. 5208, unpaginiert. 70 Meier/König/Tornay (2019), S. 117.
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einer Beurlaubung kollidierten.71 Auch wurden mehrfach laut Prüfplan untersagte Begleitmedikamente wie Benzodiazepine und Neuroleptika gegeben.72 Durch solche Gelegenheitsentscheidungen konnte der Versuchsleiter zugleich sein Ziel verfolgen, die Zahl der geforderten Versuchspersonen zu erreichen. Nicht immer lassen sich die Interessenslagen der Versuchspersonen und des Prüfleiters eindeutig gewichten. Insbesondere bei jenen Versuchspersonen, bei denen, wie Tabelle 2 gezeigt hat, nach dem IKK Ausschlussdiagnosen gestellt wurden, können rückwirkend keine Aussagen über einen möglichen Nutzen für die Betroffenen getätigt werden. In anderen Fällen missachtete der Studienleiter die Vorschrift, dass Versuchspersonen stationär an der Klinik aufgenommen sein mussten. So wurde die Studie teils nach der Entlassung fortgeführt oder es war sogar gänzlich eine ambulante Prüfung geplant.73 Auch hier lässt sich nur schwer beurteilen, ob diese Entscheidungen auch zum Wohl der Erkrankten getroffen wurden. Entsprechend des therapeutischen Konzeptes der Klinik sollten sich die aufgenommenen Patienten durch die Betreuung in einer Tagesklinik und durch Beurlaubungen so schnell wie möglich wieder im Alltag integrieren. Dieser angenommene Nutzen konnte für die Versuchspersonen jedoch mit einer erhöhten Gefährdung durch die geringere Beobachtungsmöglichkeit einhergehen. Die weiter oben dargestellte erste Verabreichung von Levoprotilin an der Jenaer Klinik, die noch vor der Genehmigung der Studie durch das Gesundheitsministerium erfolgte, lässt sich ebenfalls durch die Schwierigkeiten erklären, geeignete Versuchspersonen zu finden. So war der erste Studienteilnehmer einer der wenigen, der auch entsprechend der IKK-Diagnose unter einer Angststörung litt.74 Diese Beispiele reißen ein Problemfeld an, dass in den Quellen nur wenig dokumentiert ist: Ein serieller Versuchsablauf konnte auch eine erhöhte Kontrolle für die Versuchspersonen bedeuten, die ihr Handeln über das im Rahmen der Behandlung nötige Maß einschränkte und kurzfristig sogar dem Wohl der Versuchspersonen entgegenstehen konnte, wenn beispielsweise Begleitmedikationen untersagt waren. Der Einfluss internationaler Standards auf die Legitimation von Arzneimittelstudien in Ost und West Die dargestellten Beispiele legen nahe, dass die vermeintlich klaren Grenzen zwischen therapeutischer Behandlung sowie therapeutischen Versuch offenbar auch noch in den 1980er Jahren in der klinischen Praxis trotz des seit den 1930er Jahren existierenden methodischen Instrumentariums zur Durchführung kontrollierter klinischer Studien durchlässig waren.75 Der Begriff des the71 72 73 74 75
Steger/Jeskow (2018), Kapitel 5.4 (unter Mitarbeit von Hartig). Ebd., Kapitel 5.3 (unter Mitarbeit von Hartig). Ebd., Kapitel 3.3 (unter Mitarbeit von Hartig). Ebd., Kapitel 5.4 (unter Mitarbeit von Hartig), S. 49–54. Hähner-Rombach/Hartig (2019), S. 72.
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rapeutischen Versuches wurde im deutschen Kontext erstmalig durch die ‚Richtlinien für neuartige Heilbehandlung und für die Vornahme wissenschaftlicher Versuche am Menschen‘ eingeführt.76 Die Richtlinien unterschieden zwischen solchen Versuchen, die mit dem Ziel der „Erkennung Heilung oder Verhütung einer Krankheit oder eines Leidens oder zur Beseitigung eines körperlichen Mangels“ erfolgen sollten und solchen, die „zu Forschungszwecken vorgenommen werden, ohne der Heilbehandlung im einzelnen Falle zu dienen“.77 Bei Verstößen waren jedoch keine juristischen Sanktionen vorgesehen. Trotz der Verabschiedung der Richtlinien besaßen in der Weimarer Republik nur wenige Ärzte konkrete Vorstellungen zu wissenschaftlichen und ethischen Standards, die bei therapeutischen Versuchen zu beachten waren.78 Nach dem Ende der nationalsozialistischen Herrschaft nahm die von der Generalversammlung des Weltärztebundes verabschiedete Deklaration von Helsinki von 1964 die Unterscheidung zwischen therapeutischen und wissenschaftlichen Versuchen wieder auf.79 In die Gesetzgebung der Bundesrepublik fand diese jedoch erst mit der Verabschiedung des AMG von 1976 Eingang.80 Timo Michael Ziegler hat in seiner medizinhistorischen Dissertation anhand von Artikeln im Deutschen Ärzteblatt untersucht, ob die ethischen Empfehlungen zu Humanexperimenten oder die Verabschiedung von Gesetzten die Debatten innerhalb der deutschen Ärzteschaft beeinflussten. Er kam zu dem Schluss, dass auch in der Bundesrepublik viele Ärztinnen und Ärzte bis in die späten 1970er Jahre hinein eine Auseinandersetzung mit der Legitimität von Arzneimittelstudien verweigerten.81 Hierzu mag eine in der medizinhistorischen Forschung seit dem 19. Jahrhundert beobachtete, weit verbreitete ärztliche Haltung beigetragen haben, Patienten als bloßes ‚Krankenmaterial‘ zu betrachten, über das im Wesentlichen frei verfügt werden kann.82 Ferner war auch in der Bundesrepublik ein paternalistisches Berufsverständnis weit verbreitet und viele Ärzte hatten ihre berufliche Sozialisation während der nationalsozialistischen Herrschaft erhalten. Aber auch jenseits des ärztlichen Berufsstandes fanden die besonderen Anforderungen therapeutischer Versuche nur wenig Beachtung. Der bundesrepublikanische Jurist Gerhard Fischer ging 1987 davon aus, dass bei Heilversuchen zwar „Vorzüge und Risiken einer unerprobten Therapie ungewisser 76 77 78 79 80 81 82
‚Richtlinie Rundschreiben des Reichsministers des Inneren, betreffend Richtlinien für neuartige Heilbehandlung und für die Vornahme wissenschaftlicher Versuche am Menschen vom 28.2.1931‘, Reichsgesundheitsblatt (1931). Ebd. Reuland (2004), S. 264 ff. ‚Deklaration von Helsinki‘, Deutsches Ärzteblatt (1964), S. 2534. In jüngster Zeit wird wiederholt die Auffassung vertreten, dass die Verpflichtung der Ärzteschaft auf die Reichsrichtlinien von 1931 auch in der Bundesrepublik fortbestand. Siehe hierzu beispielhaft: Roelcke (2017), Wagner (2018), S. 316. Ziegler (2014), S. 133. Reuland (2004), S. 230; Elkeles (1985), S. 135; Bergmann (2015), S. 215 f. Dass der Begriff menschlichen ‚Materials‘ nicht auf die Medizin beschränkt war, wurde ebenfalls bereits zeitgenössisch thematisiert und kritisiert. Vgl. Reuland (2004) S. 257.
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sind als die einer erprobten“.83 Diese Unterschiede seien jedoch „gradueller Natur“.84 Ähnliche Aussagen lassen sich in einer DDR-Publikation des IfAR finden, das an der Genehmigung von Arzneimittelstudien in der DDR maßgeblich beteiligt war: „Eine Differenzierung [bezüglich der Aufklärung, C. H.] ergibt sich in Stufe III, da bis dahin ein neues Arzneimittel in der Regel einen Entwicklungsstand erreicht hat, der mit vielen registrierten Arzneimitteln weitgehend vergleichbar ist“.85 Der engere Zusammenhang, dem diese Zitate entnommen wurden, sind Aufklärung und Zustimmung von Versuchspersonen. Darüber hinaus wird aber erkennbar, dass Heilversuch und therapeutische Behandlung als nur wenig different wahrgenommen wurden. Da es sich bei den meisten Arzneimittelstudien um therapeutische Versuche handelt, erscheint es naheliegend, dass viele Ärztinnen und Ärzte die oben aufgezählten Gelegenheitsentscheidungen als legitimes Mittel betrachteten, die Differenzen zwischen Versuchsanordnung und Klinikalltag angesichts beschränkter Ressourcen und hohen Zeitdruck zu überbrücken.86 Lenkt man den Blick auf jene Legitimationsformen von Arzneimittelstudien, die allgemeine Anerkennung fanden, tritt die Problematik der dargestellten Unschärfen zwischen Versuchssituation und Klinikalltag deutlich hervor. Die im Prüfplan der Levoprotilinstudie festgelegten Kriterien zur Standardisierung entsprachen den zeitgenössischen Standards. In den USA, einem der wichtigsten Märkte für pharmazeutische Produkte, waren seit der KefauverHarris-Verordnung von 1962 kontrollierte klinische Studien mit standardisierten Versuchsaufbau, Randomisierung, Vergleichsgruppen und ggf. mit Placeboeinsatz obligatorisch.87 Diese Verordnung stellte wie auch frühere Regelungen zur Durchführung medizinischer Versuche eine Reaktion auf vorhandene Missstände dar: In diesem Fall auf die Schädigung von ungeborenen Kindern durch das Schlafmittel Contergan.88 Die Ergänzungen zu der Kefauver-HarrisVerordnung führten 1963 den heute üblichen dreiphasigen Versuchsaufbau ein.89 Hier wie in anderen Fällen wurde die Frage der Legitimität von medizinischen Versuchen im Wesentlichen durch die Festlegung wissenschaftlicher Standards beantwortet. Wollten ausländische Pharmaunternehmen ihre Produkte auch in den USA auf den Markt bringen, waren sie gezwungen, sich an diesen Regeln zu orientieren, auch wenn die nationalen Gesetze dahinter zurückblieben. Dies führte langfristig zu einer Homogenisierung der nationalen Gesetzgebungen. In der DDR sah bereits das AMG von 1964 Bestimmungen für eine „für damalige Verhältnisse umfassende pharmakologische und klinische Begutach83 84 85 86 87 88
Fischer (1987), S. 43. Ebd. Hackenberger/Koch (1977), S. 134. Martinius (1984), S. 31. Balz (2010), S. 321. Lenard-Schramm (2017). Für einen historischen Überblick zu Schädigungen von Versuchspersonen, vgl. Eckart (2009). 89 Gierschik (2014), S. 72.
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tung vor“.90 Ein dreistufiger Versuchsaufbau war aber noch nicht gefordert. In der Bundesrepublik wurden wissenschaftliche Standards erst vergleichsweise spät durch den Gesetzgeber definiert. Erst eine Richtlinie von 1971 legte einen kontrollierten Versuchsaufbau und in besonderen Fällen auch Doppelblindversuche als Standard fest.91 Bei internationalen Zulassungen orientierten sich bundesrepublikanische Pharmaunternehmen jedoch bereits in den 1960er Jahren an den entsprechenden Maßstäben.92 Das in den USA seit 1964 übliche dreistufige Prüfverfahren wurde in der DDR wie auch in der Bundesrepublik 1976 eingeführt.93 Die historische Entwicklung solcher wissenschaftlichen Standards wird von Barbara Elkeles als eine Engführung in der Bewertung der Legitimität medizinischer Versuche betrachtet. Die Medizinhistorikerin verglich die Berufung auf solche, sich seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts langsam herausbildenden methodischen Standards mit einer Zauberformel: „Schon die Berufung darauf rechtfertigt grundsätzlich ein Forschungsvorhaben“.94 Solchermaßen, so die Autorin, blieben ethische Aspekte von Arzneimittelstudien unterbelichtet und therapeutische wie wissenschaftliche Versuche an Kranken in Psychiatrien, an Kindern, Prostituierten und Armen sowie an Gefangenen erfuhren nur selten fachinterne Kritik.95 Auch in der Bundesrepublik taten sich Ärztinnen und Ärzte schwer, Belastungen und sogar Gefährdungen von Versuchspersonen bei Arzneimittelstudien zu thematisieren.96 Eine solche Haltung wurde durch die dargestellten Unschärfen zwischen therapeutischer Behandlung und therapeutischen Versuchen noch unterstützt. Zusammenfassung Dass in den 1980er Jahren die gesetzlichen Bestimmungen zur Prüfung von Arzneimitteln in der DDR keineswegs geringer waren als in westlichen Ländern, hat die medizinhistorische Forschung bereits hervorgehoben. In diesem Beitrag standen die bisher wenig behandelten Parallelen in der konkreten Prüfsituation vor Ort im Fokus. Es konnte gezeigt werden, dass viele strukturelle Probleme bei der Durchführung von Arzneimittelstudien zu Psychopharmaka, die bisher vorwiegend für die Bundesrepublik hervorgehoben wurden, ebenso an den Kliniken in der DDR existierten. Auch in dieser Hinsicht war die DDR ein Studienstandort unter anderen.97 Diese Feststellung gilt trotz der dargestell90 Hess/Hottenrott/Steinkamp (2016), S. 40. 91 ‚Richtlinie über die Prüfung von Arzneimitteln vom 11. Juni 1971‘, Kienle (1974), S. 369– 378. 92 Hähner-Rombach/Hartig (2018), S. 72 f. 93 Ebd., S. 41. 94 Elkeles (1985), S. 140. Vgl. auch Elkeles (1996), S. 125. 95 Für das 19. Jahrhundert vgl. Bergmann (2015), S. 218–228; Tashiro (1991); Ekeles (1985). Für das 20. Jahrhundert, vgl. Reuland (2004). 96 Vgl. frühe Ausnahmen Finzen (1969), S. 126–134. 97 Hess/Hottenrott/Steinkamp (2016), S. 179–182.
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ten spezifischen nationalen Gesetzgebung der DDR, die teils strengere Prüfbedingungen vorschrieb als die Bundesrepublik. Dies hebt die große Bedeutung globaler Standards bei der Durchführung von Arzneimittelstudien hervor. Die Analyse der glokalen Bedingungen, die in den 1980er Jahren die Arzneimittelstudien zu Levoprotilin an der Jenaer Universitätsklinik für Psychiatrie und Neurologie beeinflussten, zeigt jedoch exemplarisch die Kluft zwischen den durch globale wissenschaftliche Standards steigenden formalen Ansprüchen an Arzneimittelstudien und den nur eingeschränkten Möglichkeiten, diese Ansprüche an den lokalen Prüfkliniken erfüllen zu können. Angesichts dieser Situation griffen – und dies legt das Jenaer Beispiel nahe – Prüfärzte wiederholt zu Gelegenheitsentscheidungen, um wissenschaftliche Standards, wie sie in den Prüfplänen niedergelegt waren, zu umgehen. Ein solches Vorgehen diente in erster Linie dazu, die vorgegebenen Fallzahlen zu erreichen. Solchermaßen zeigt der hier vorgelegte Beitrag auch die Brüchigkeit von Legitimationsmustern auf, die vorwiegend auf wissenschaftliche Standards rekurrieren. Erleichtert wurde ein solches Handeln dadurch, dass zeitgenössisch die Grenzen zwischen therapeutischer Behandlung und therapeutischen Versuch mitunter als fließend wahrgenommen wurden.
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Der Krankentransporteur Ein Beispiel staatlich gesteuerter Professionalisierung? Pierre Pfütsch
Das Gesundheitswesen ist ein zentraler Bestandteil moderner Staaten, mit dem jeder Bürger im Laufe seines Lebens in Kontakt kommt. Zu den prägendsten Erfahrungen mit dem Gesundheitswesen zählen für viele Menschen nicht die routinemäßigen Besuche beim Hausarzt, sondern echte Notfälle. Dadurch ist es nicht verwunderlich, dass die Schnelle Medizinische Hilfe (SMH) – im weitesten Sinne das Rettungsdienstsystem der DDR – auch dreißig Jahre nach der Wiedervereinigung noch vielen ehemaligen DDR-Bürgern ein Begriff ist. Es gibt sogar private Krankentransporte, die ihre Firmen nach der Schnellen Medizinischen Hilfe benennen, und sich damit bewusst auf die Traditionen der DDR berufen.1 Dieser Sachverhalt wiederum deutet darauf hin, dass die SMH ein spezifisches Identifikationsmerkmal des ostdeutschen Gesundheitssystems war und sich durch bestimmte Charakteristika auszeichnete, mit denen sich die Bürger und Bürgerinnen verbunden fühlten und immer noch fühlen. Eine zentrale Rolle innerhalb dieses SMH-Konzeptes nahm der Krankentransporteur ein, um den es in den folgenden Ausführungen gehen soll. Der Krankentransporteur erscheint als besonders geeignet, um anhand seiner Berufsgeschichte mehr über die Strukturen, die Akteure und die Funktionsmechanismen des gesundheitlichen Versorgungssystems der DDR zu erfahren. Forschungsstand Der Krankentransporteur zählte nicht offiziell, wie beispielsweise der Physiotherapeut oder die Hebamme zur Gruppe der mittleren medizinischen Berufe, wie in der DDR eine Vielzahl nichtärztlicher Gesundheitsberufe benannt wurde. Doch sicherlich gehörte er in deren Umkreis. An dieser Stelle den geschichts- bzw. medizingeschichtlichen Forschungsstand zu solchen Berufen zu beschreiben, fällt schwer, da es bisher praktisch überhaupt keine Forschung in diesem Bereich gab. Daher stellen die mittleren medizinischen Berufe gegenwärtig noch ein Desiderat der Forschung zur DDR-Gesundheitsgeschichte dar. Dies verwundert umso mehr, da eine Untersuchung dieser Berufsgruppen einen wichtigen Erkenntnisgewinn auch zu einer allgemeinen Geschichte des Gesundheitswesens der DDR beitragen kann. Die Bedeutung, die der Ausbzw. Weiterbildung der jeweiligen Berufen zugemessen wurde, kann so bei1
Zum Beispiel die Schnelle Medizinische Hilfe Halle oder auch die SMH Schnelle Medizinische Hilfe 19221 Berlin.
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spielsweise als Gradmesser für das Ansehen bestimmter medizinischer Felder in der DDR dienen. Darüber hinaus könnte beispielsweise auch die Analyse der Zusammenarbeit unterschiedlicher Gesundheitsberufe auf verschiedenen Ebenen Hinweise auf die praktische Umsetzung des Zentralismus geben. Eine der wenigen Ausnahmen bildet die Studie von Andrea Thiekötter zur Pflegeausbildung in der DDR, in der sie die Entwicklung der Berufsausbildung der Krankenpflegerinnen aufarbeitet.2 Barbara Heisig untersucht zudem in ihrer Diplomarbeit den Einfluss der Gesellschaft für Krankenpflege in der DDR auf den Professionalisierungsprozess der Krankenpflege.3 Für den Bereich der Physiotherapie kann noch die Arbeit von Giesela Coburger genannt werden, aus der erste Bruchstücke eine Berufsgeschichte der Physiotherapie in der DDR entnommen werden können.4 Das System der Schnellen Medizinischen Hilfe war bisher nur in einigen kurzen medizinhistorischen Aufsätzen Thema und wurde vor allem vom Leipziger Notarzt Michael Burgkhardt bearbeitet.5 Der Krankentransporteur erschien bisher noch gar keiner historischen Betrachtung wert. Aufbau Im Folgenden geht es darum, die Entwicklung des Berufes Krankentransporteur mit ihren Besonderheiten im System der SMH nachzuzeichnen. Dafür ist es notwendig, zwei verschiedene Erzählstränge parallel zu verfolgen und immer wieder miteinander in Verbindung zu setzen. Einen ersten Strang bilden die gesetzlichen Rahmenbedingungen zur Struktur des Rettungswesens. Da die Krankentransporteure organisational dem Deutschen Roten Kreuz (DRK) zugeordnet waren, stellen die Richtlinien des DRK der DDR6 zur Arbeit des Krankentransporteurs den zweiten Erzählstrang dar. Zur größeren Einordnung der Ergebnisse ist es zudem sinnvoll und notwendig, die Entwicklung des Rettungsdienstes in der Bundesrepublik miteinzubeziehen, da diese oftmals wegen der Systemkonkurrenz auch von den Gesundheitsexperten der DDR verfolgt wurde.7 Im Anschluss an diese Darstellung soll der Frage nachgegangen werden, welche Rolle die staatliche Steuerung im Professionalisierungsprozess der Krankentransporteure spielte. 2 3 4 5 6 7
Vgl. Thiekötter (2006). Vgl. Heisig (1999). Vgl. Coburger (2016). Vgl. Burgkhardt/Burgkhardt (2007). Im Folgenden ist mit der Abkürzung DRK, wenn nicht explizit anders erwähnt, das DRK der DDR gemeint. Darüber hinaus wäre sicher auch eine tiefergehende Betrachtung der Entwicklung der Notfallmedizin im sozialistisch geprägten Osteuropa lohnenswert, da es auf dieser Ebene immer wieder zur Zusammenarbeit kam und man von vielfältigen Transferprozessen ausgehen kann. Aufgrund des hier gewählten Zuschnitts muss dieser Aspekt jedoch späteren Untersuchungen vorbehalten bleiben.
Der Krankentransporteur
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Die 1950er Jahre: Neubeginn im staatlichen Krankentransport in der DDR Staatliche Regelungen Auf Basis verschiedener Verordnungen und Erlasse8 wurde in den Jahren 1952 und 1953 der Krankentransport in der DDR erstmals einheitlich geregelt.9 Nachdem das DRK als Massenorganisation in der Sowjetischen Besatzungszone nach dem Zweiten Weltkrieg zunächst generell verboten wurde, kam es 1952 zur Neugründung des DRK der DDR.10 Am 1. Januar 1953 übernahm damit das DRK vom Gesundheitswesen die Verantwortung für die Durchführung des Krankentransportes in der DDR. Dazu gehörte auch die Verantwortung für die medizinische Ausrüstung und die Technik der Krankentransportfahrzeuge.11 Durch die einheitliche Regelung des Krankentransportes in den 193 Kreisen sollten Planungsfehler und Organisationsmängel behoben werden.12 Diese Festlegungen hatten auch Auswirkungen auf das zuständige Personal. Die beim DRK angestellten Fahrer wurden nun als sogenannte Krankentransporteure hauptsächlich für den Krankentransport eingesetzt. Damit vollzog sich hier eine Verschiebung von Zuständigkeiten, die für die weitere Berufsgeschichte von zentraler Bedeutung war. Anders als der Großteil des im Gesundheitswesen der DDR tätigen Personals waren die Krankentransporteure damit nicht beim Staat, sondern bei einer Massenorganisation angestellt.13 Dies sollte zu verschiedenen Konflikten in der Praxis führen. Die Situation der Krankentransporteure beim DRK Im Jahr 1961 waren in der DDR bereits 3561 Krankentransporteure beim DRK angestellt.14 Welche Stellung diese Berufsgruppe innerhalb des Gefüges der Gesundheitsberufe einnahm, veranschaulicht die Ende der 1950er Jahre aufgetretene Diskussion über die angemessene Bezahlung der Krankentrans8
9 10 11 12 13 14
Vgl. ‚Verordnung über die Bildung der Organisation Deutsches Rotes Kreuz vom 23.10.1952‘, Gesetzblatt der Deutschen Demokratischen Republik (1952), S. 1090; ‚Richtlinien zur Übernahme des Krankentransportes der Gesundheitsverwaltung‘: DRK Archiv, Bestand DDR 545, unpaginiert. Vgl. Schoedan (1955), S. 194. Vgl. Riesenberger (2002), S. 559–569. Zur Rolle des DRK im Krankentransport von 1943 bis 1945 vgl. Hellenschmidt (2010). Vgl. ‚Richtlinien zur Übernahme des Krankentransportes der Gesundheitsverwaltung‘: DRK Archiv, Bestand DDR 545, unpaginiert. Vgl. ‚Entwicklung und Organisation des Rettungswesens in der DDR‘: BArch, DQ 1/13256, unpaginiert. Vgl. ‚Richtlinien zur Übernahme des Krankentransportes der Gesundheitsverwaltung‘: DRK Archiv, Bestand DDR 545, unpaginiert. Vgl. ‚Vorlage des DRK Generalsekretariat Abteilung I für das geschäftsführende Präsidium betreffs Einschätzung der Entwicklung und Festlegung der Perspektive des Krankentransports vom 21.7.1961‘: DRK Archiv, Bestand DDR 580, unpaginiert.
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porteure. Demnach war die Fluktuationsrate im Beruf in den 1950er Jahren aufgrund der schlechten Bezahlung sehr hoch.15 Das DRK galt bis dato vor allem als Fahrschule der DDR: D. h. nachdem vor dem 1.7.1959 die als Krankentransporteur Beschäftigten im DRK eine gewisse Fahrpraxis erworben hatten, gingen diese Kräfte zu anderen Dienststellen, vorrangig zum Kraftverkehr, um in den Genuß einer höheren Vergütung zu kommen. Die Möglichkeiten des höheren Verdienstes lagen nicht nur im besseren Grundgehalt, sondern vor allem in der Überstundenleistung, die fast gar keiner Beschränkung unterlag.16
Somit konnte das DRK nicht mit anderen Berufen im Fahrsektor konkurrieren. Offenbar reichte das Prestige eines ‚medizinischen Berufes‘ auch nicht aus, um die finanziellen Einbußen aufzuwiegen. Zwar wurde die Bezahlung durch die Nachtragsvereinbarung zum Rahmenkollektivvertrag von 1959 geringfügig verbessert, doch zeigt dies trotzdem, auf welcher Stufe Krankentransporteure grundsätzlich standen.17 Sie wurden mehr als Fahrer, denn als medizinisches Personal betrachtet, was wohl aber auch auf ihre Erfahrungen, Kenntnisse und Fertigkeiten zurückzuführen ist, denn viele Krankentransporteure kamen aus dem Fahrdienst.18 Dass die Qualifikation der Krankentransporteure jedoch nicht nur aus dem Führen eines Fahrzeugs bestand und damit in der Realität anders aussah, wurde in der Praxis bereits zu Beginn der 1960er Jahre schnell deutlich. Die Chirurgische Universitätsklinik Jena war eine der ersten Kliniken, die seit 1963 einen arztbesetzten Rettungswagen in Gebrauch hatte. Aus den Erfahrungen, die man dort in Zusammenarbeit mit dem DRK machte, haben sich nachstehende Qualifikationsmerkmale des Rettungspersonals als unbedingt erforderlich erwiesen: 1. Beherrschung des Rettungswagens und seiner Einrichtung, 2. genaue Ortskenntnis, 3. Bedienung vorhandener Funksprecheinrichtungen, 4. Beherrschung der Bergungs- und Rettungsverfahren, 5. Beherrschung der Erste-Hilfe-Praxis, 6. das Erkennen von Schockzeichen und Atemstörungen, 7. der Umgang mit Absaug- und Beatmungsgeräten, 8. Beobachtung von intravenösen Infusionen.19 15 16 17
18 19
Das war jedoch kein originäres Problem des Krankentransportes. Auch in anderen Berufen im Gesundheitsbereich, beispielsweise in der Krankenpflege, gab es zu dieser Zeit eine hohe Fluktuation. Vorlage des DRK Generalsekretariat Abteilung I für das geschäftsführende Präsidium betreffs Einschätzung der Entwicklung und Festlegung der Perspektive des Krankentransports vom 21.7.1961‘: DRK Archiv, Bestand DDR 580, unpaginiert. „Mit der Nachtragsvereinbarung Nr. 22 vom 1.7.1959 zum RKV und noch stärker ausgeprägt mit der Nachtragsvereinbarung Nr. 1 vom 1.5.1960 wurde eine Stabilität erreicht, die ihre Ursache in der Anerkennung der Krankentransporteure als besondere Berufsgruppe mit den zwei Merkmalen des medizinischen Heilhilfspersonals und des KfZ-Personals hat. Die Fluktuation der Krankentransporteure aus Verdienstgründen hat gänzlich aufgehört“. Ebd. Vgl. Interview mit R. Z. am 4.9.2018. Hoheisel (1965), S. 334.
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Zwar wurde auch hier großer Wert auf fahrerspezifische Kenntnisse gelegt, wie die Punkte eins bis drei zeigen, doch bereits die Hälfte der aufgeführten Anforderungen bezog sich auf medizinische Thematiken. Zu Punkt 6 heißt es vertiefend: Der erfahrene Krankentransporteur erfaßt zwar gefühlsmäßig oft den Schweregrad der Verletzung, es fehlen ihm aber die theoretischen Grundlagen, die das vorliegende Bild leicht erklären und Wege zur Beseitigung folgerichtig aufzeigen. Nach Kenntnis der im Schockzustand anzutreffenden Blutverteilung im Körper und den möglichen Störungen der Spontanatmung, wird sich die Bereitschaft des Rettungspersonals erhöhen, auf diese Zeichen zu achten und gegebenenfalls die notwendigen Erste-Hilfe-Maßnahmen willig durchzuführen.20
Dadurch wurde die bisher fehlende theoretische Ausbildung der Krankentransporteure nochmals deutlich. Zugleich wurden aber auch die Potentiale für die Unfallrettung aufgezeigt, die eine bessere Ausbildung mit sich bringen würde. Am Ende des Beitrages wurden sogar noch konkrete Forderungen darüber aufgestellt, wie eine entsprechende Qualifizierung der Krankentransporteure aussehen könnte: Das Erreichen einer so umfangreichen Ausbildung, das Entstehen eines gewissen Verständnisses und eine unerläßliche Handfertigkeit ist [sic] nur möglich, wenn das Rettungspersonal den täglichen Dienst in einer chirurgischen Ambulanz eines Krankenhauses nicht nur kennt, sondern zeitweise oder ständig ausübt. Dabei entwickelt sich ein Gefühl für den Schweregrad von Verletzungen und die zumutbare Belastung für einen Verunglückten. dazu soll eine ständige theoretische und praktische Weiterbildung, die durch die Krankenhausärzte vorgenommen werden sollte, kommen.21
Die Forderung nach einer Verbesserung der Ausbildung der Krankentransporteure erfolgte hier relativ zeitgleich zu den Entwicklungen in der Bundesrepublik. Dort wurde der Rettungsdienst lange Zeit zu großen Teilen von ehrenamtlichen Rettungssanitätern ausgeführt. Diese besaßen jedoch in den 1960er Jahren eine Ausbildung, die meist nur aus einem standardisierten Erste-Hilfe-Kurs von acht Doppelstunden und einem darauf aufbauenden Weiterbildungskurs von zwölf Doppelstunden bestand.22 Im Zuge der sich in den 1960er Jahren durchsetzenden wissenschaftlichen Erkenntnis, dass eine Erstbehandlung am Unfallort sinnvoller ist als lediglich ein schneller Transport ins Krankenhaus, wurden in der Bundesrepublik Stimmen laut, die hierfür eine bessere Qualifikation der Rettungssanitäter forderten.23 Es zeigten sich also auffallend ähnliche Entwicklungen in Ost- und Westdeutschland. Während die Diskussion darüber in der BRD jedoch in einem offenen Diskurs mit verschiedensten Akteuren geführt wurde, findet sich in der DDR kaum mehr als die oben zitierte Stellungnahme. Daher geht daraus auch nicht klar hervor, ob auf dieser Basis konkrete Änderungen durchgeführt wurden. 20 21 22 23
Ebd., S. 335. Ebd. Vgl. Pfütsch (2018), S. 357 f. Vgl. ebd., S. 355–359. Auch in der DDR wurde die Verlegung der medizinischen Behandlung an den Unfallort diskutiert. Vgl. Becker (1964), S. 10 f.
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Erste Neuerungen ab Ende der 1960er Jahre Einführung der Dringlichen Medizinischen Hilfe (DMH) Wie das Beispiel der Chirurgischen Universitätsklinik bereits andeutet, waren auch in einem so zentralistischen Staat wie der DDR durchaus lokale Initiativen möglich, die durchaus zu einem Innovationsmotor für den gesamten Staat werden konnten. Ähnliche Modelle wie jenes aus Jena gab es auch in Greifswald, Dresden und Chemnitz.24 Am erfolgreichsten war jedoch das im März 1964 von den Anästhesisten Splith und Heidel gestartete Pilotprojekt mit dem Namen ‚Dringliche Medizinische Hilfe‘.25 Drei Jahre später, am 17. Juli 1967 trat mit der ‚Anweisung Nr. 1 über die Dringliche Medizinische Hilfe (DMH)‘ der erste zentrale Unfallrettungsdienst der DDR in Kraft. Dieser sah auch einen flächendeckenden Einsatz von arztbesetzten Rettungswagen vor. In einem Schreiben des Ministerrats der DDR an die Abteilungen Gesundheitsund Sozialwesen der Räte der Bezirke heißt es: „In Absprache zwischen dem Ministerium für Gesundheitswesen und dem Präsidium des DRK wurde Übereinstimmung dahingehend erzielt, die Wagen der ‚Dringlichen medizinischen Hilfe‘ aus dem Bestand der Krankentransportfahrzeuge des DRK bereitzustellen“.26 Und bezüglich des Personals hieß es weiter: „Die personelle Besetzung erfolgt seitens des DRK nur mit einem Krankentransporteur. Die zusätzliche Besetzung mit Ärzten und Angehörigen des Heilhilfspersonals im Bedarfsfalle ist von der zuständigen Einrichtung des staatlichen Gesundheitswesens […] zu organisieren“.27 Damit wurde die Aufgabenteilung zwischen DRK und Gesundheitsministerium, die sich bereits seit 1954 angedeutet hatte, weiter festgeschrieben. Die Krankentransporteure blieben weiterhin Angestellte des DRK, im Einsatz unterstanden sie jedoch dem Leiter des Gesundheitswesens für die Dringliche medizinische Hilfe und Intensivpflege im Kreis sowie dem für deren Durchführung verantwortlichen Arzt.28 Rahmenausbildungsprogramm des DRK Die strukturellen Veränderungen der Unfallrettung, die mit der Einführung des Systems der DMH unweigerlich einhergingen, veranlasste auch das DRK hinsichtlich der Ausbildungssituation der Krankentransporteure tätig zu werden. So kam man im Präsidium des DRK bereits 1966 zum Schluss, dass der 24 Vgl. Burgkhardt/Schäfer (2008), S. 83. 25 Vgl. Burgkhardt/Burgkhardt (2007), S. 533. 26 ‚Schreiben des Ministerrats der DDR an den Rat des Bezirkes Abt. Gesundheits- und Sozialwesen. z. Hd. des Bezirksarztes vom 3.11.1966‘: BArch, DQ 1/3346, unpaginiert. 27 Ebd. 28 Vgl. ‚Präsidium des Deutschen Roten Kreuzes und Ministerium für Gesundheitswesen: Arbeitsordnung für die „Dringliche medizinische Hilfe“, o. D.‘: BArch, DQ 1/4332, unpaginiert.
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damals gegenwärtige Stand der Ausbildung der Krankentransporteure für die neuen Aufgaben in der DMH nicht ausreichend sei.29 Aus diesem Grund verabschiedete das Präsidium des DRK im Jahr 1966 das sogenannte ‚Rahmenprogramm für die Spezialausbildung der Krankentransporteure‘, welches nach Ansicht des Präsidiums die neuesten Erkenntnisse aus dem Bereich der Notfallrettung beinhalten sollte. Dazu zählten: Grundkenntnisse in gesellschaftswissenschaftlichen Fragen, Psychologische Probleme beim Krankentransport, Allgemeine und spezielle Verletzungen, Lebensbedrohliche Zustände. Transport von Hochschwangeren und Frühgeborenen, Allgemeine Hygiene, Desinfektion, […], Wiederbelebung – Schock, praktische Tätigkeit in einer Einrichtung des staatlichen Gesundheitswesens und Durchführung von Krankentransporten unter besonderen Bedingungen.30
Fragen des Fahrens, die vorher zumindest immer noch fast die Hälfte der Ausbildungsinhalte ausmachten, wurden hier nur noch rudimentär erwähnt. Die medizinischen Tätigkeiten sollten von nun an stärker im Fokus stehen. Darüber hinaus begann das Institut für Aus- und Fortbildung der mittleren medizinischen Kader in Potsdam, welches im Jahr 1962 aus dem 1955 in Berlin gegründeten Institut für Fachschullehrerbildung hervorging und sich speziell auf die Aufgaben der nichtärztlichen Gesundheitsberufe konzentrierte, noch im Jahr 1967 mit der Ausarbeitung eines Ausbildungsprogramms für den Bereich Rettungsdienst.31 Dieses zielte jedoch nicht – und an dieser Stelle zeigt sich die Relevanz der unterschiedlichen Beschäftigungsverhältnisse des Personals – auf Veränderungen in der Ausbildung der Krankentransporteure ab, sondern auf solche von Pflegerinnen und Pfleger. Das hatte einen bestimmten Grund. Anders als in der Bundesrepublik bestand ein Einsatzteam in der DMH in der Regel aus einem Arzt, einem Krankentransporteur und einem Krankenpfleger bzw. -pflegerin. So galt die in Potsdam konzipierte Weiterbildung zum ‚Fachkrankenpfleger für Krankentransport‘ nicht für die Krankentransporteure, sondern nur für Krankenpfleger und -pflegerinnen, die bereits eine Berufsausbildung durchlaufen hatten. Im Gegensatz zu den Krankentransporteuren waren diese auch beim staatlichen Gesundheitswesen angestellt. Das DRK und das Gesundheitswesen der DDR gingen also unterschiedliche Wege. Während in der Bundesrepublik die nichtärztlichen Assistenztätigkeiten also weitestgehend in den Händen der Rettungssanitäter lagen, waren in der DDR zwei unterschiedliche Berufe dafür zuständig. Dies hatte weitreichende Folgen für die interprofessionelle Zusammenarbeit. Anders als in der BRD mussten die Krankentransporteure ihre Kompetenzen weniger mit den Ärzten als vielmehr mit den Krankenpflegern bzw. -pflegerinnen aushandeln. Für das 29 Vgl. ‚Schreiben des DRK: Krankentransport – eine wichtige gesundheitspolitische Einrichtung, nach 1966‘: DRK Archiv, Bestand DDR 580, unpaginiert. 30 Ebd. 31 Vgl. ‚Programm für die Dringliche Medizinische Hilfe und Intensivtherapie der Problemkommission „Dringliche Medizinische Hilfe und Intensivtherapie“ vom 6.1.1967‘: BArch, DQ 1/3346, unpaginiert.
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berufliche Selbstverständnis spielte es hier eine große Rolle, ob man hierarchisch direkt dem Arzt untergeordnet war und mit diesem interagierte oder ob man noch einem anderen nichtärztlichen Gesundheitsberuf fachlich unterstellt war. Daraus entstanden unterschiedliche Dynamiken und auch berufliche Selbstverständnisse in Ost und West. Neuorganisation des Rettungsdienstes in den 1970er Jahren SMH Eine nächste Stufe im Ausbau des Rettungswesens wurde aufgrund der 15. Konferenz der Gesundheitsminister der Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW)-Staaten 1974 in Budapest in Angriff genommen. Die dortige Diskussion über den Umgang mit medizinischen Notfällen führte dazu, dass in der DDR zwei Jahre später das Rettungsdienstsystem weiter vereinheitlicht und zentralisiert wurde. Basierend auf der ‚Anweisung Nr. 1 des Ministeriums für Gesundheitswesen über den Aufbau der Schnellen Medizinischen Hilfe in der DDR‘ und der ‚Rahmenordnung für die Leitung, Organisation und Planung vom 9. März 1976‘ entstand mit der Schnellen Medizinischen Hilfe (SMH) ein neuer Leistungsbereich des staatlichen Gesundheitswesens. Die zentralen Elemente der SMH waren: – –
– –
die Leitstelle der Dringliche Hausbesuchsdienst (DHD): Dies war die mobile Basisform der medizinischen Notfallversorgung. Das Personal bestand aus einem erfahrenen Arzt, meist ein Allgemeinmediziner, und einem qualifizierten Krankentransporteur, der dem Arzt beim dringlichen Hausbesuch unterstützte und ihm assistierte. der Dringliche Hausbesuchsdienst für Kinder (DKHD): Den DKHD gab es meist nur in Großstädten. Personell war er mit einem Kinderarzt, einer Kinderkrankenschwester und einem Krankentransporteur besetzt. die Dringliche Medizinische Hilfe (DMH): Die DMH war jenes System, welches bereits 1967 eingeführt wurde. Es wurde jetzt als ein Teilbereich in die SMH integriert. Das Personal bestand aus einem in Wiederbelebungsfragen erfahrenen Arzt, einer in der Wiederbelebung erfahrenen Krankenpflegerin (bzw. -pfleger) und einem Krankentransporteur.32
Das SMH-System zeichnete sich dadurch aus, dass zwar genau festgelegt war, was DMH, DHD und DKHD unterschied, diese Differenzierung aber nicht nach außen sichtbar werden sollte. So sollte der Bürger bzw. die Bürgerin den DDR-einheitlichen Notruf 115 wählen, welcher dann in der SMH-Leitstelle bearbeitet wurde. Der dort tätige Dispatcher musste dann anhand der Ausführungen der meldenden Person die Sachlage einschätzen und entscheiden, wel32 Vgl. Heidel (1978), S. 37.
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che Art von Einsatzgruppe aktiv werden sollte. Für den Außenstehenden, der sich nicht explizit mit den Unterschieden von DHD und DMH auskannte, war dann nicht klar zu erkennen, welche Art von Einsatzgruppe am Notfallort eintraf.33 Ab 1976 wurden zehn der 14 Bezirksstädte nach diesem System versorgt, welches in seinen Grundzügen bis zum Ende der DDR so bestehen bleiben sollte. Neues Rahmenausbildungsprogramm des DRK Auch nach der Einführung der SMH wurden die Fahrzeuge weiterhin vom DRK bereitgestellt und die Krankentransporteure blieben ebenfalls weiterhin Mitarbeiter des DRK. Auf struktureller Ebene änderte sich also nichts. Im Jahr 1975, kurz vor der Einführung der SMH, wurde durch das DRK ein neuer Rahmenlehrplan für Krankentransporteure verabschiedet. Offenbar hatte man Mitte der 1970er Jahre erkannt, dass die bisherige Ausbildung nicht mehr ausreichte: „Die Tätigkeit auf dem Rettungswagen erfordert eine darüber hinausgehende Leistungsfähigkeit des Krankentransporteurs. Sie ist vor allem durch einen höheren Grad der Verantwortung im Behandlungskollektiv und durch einen Übungseffekt bei der Umsetzung theoretischer Kenntnisse in Sofortmaßnahmen zu sehen“.34 Um die angesprochene Routine zu erlangen, basierte der neue Rahmenausbildungsplan nicht nur auf insgesamt 200 Stunden theoretischer Ausbildung, sondern auch auf 92 Stunden praktischer Arbeit in einer Intensivtherapieabteilung oder einer chirurgischen Station.35 Damit wurde die Konzentration auf medizinische Tätigkeiten weiter forciert. Er trat vier Jahre später, 1979, in Kraft. In diesem Rahmenausbildungsprogramm zeigte sich auch deutlich die nicht ganz einfache Verquickung von Krankentransport (DRK) auf der einen und dem Gesundheitswesen der DDR auf der anderen Seite. Die Krankentransporteure mussten ihre praktische Ausbildung vorwiegend auf Anästhesie-Abteilungen, Intensivstationen und in Notaufnahmebereichen von Krankenhäusern durchführen, die strukturell nicht zum DRK, sondern zum Gesundheitswesen des Staates gehörten. Umgekehrt war die bei der Ausbildung von mittleren medizinischen Fachkräften aller Gesundheitseinrichtungen die Hospitation in den Leitstellen und auch auf den Rettungsfahrzeugen der SMH vorgesehen, da dadurch das gegenseitige Problemverständnis bei der Zusammenarbeit geschärft werden sollte.36 Der Ausbau der Ausbildung verlief jedoch nicht problemlos. So fehlten immer wieder
33 Vgl. Burgkhardt/Schäfer (2008), S. 84. 34 ‚OA Dr. med. Dietmar Kaliski, Sekretär der multidisziplinären Arbeitsgruppe „Ambulante Dringl. Mediz. Hilfe“: Vorschläge zur Schaffung eines Berufsbildes „Krankentransporteur für Rettungswagen“, ca. 1975‘: DRK Archiv, Bestand DDR 563/III, unpaginiert. 35 ‚Entwicklung und Organisation des Rettungswesens in der DDR‘: BArch, DQ 1/13256, unpaginiert. 36 Vgl. Heidel (1978), S. 38.
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notwendige Ausbildungsmaterialien wie Lehrbücher oder auch Übungspuppen.37 Die Ausbildung der Krankentransporteure basierte, ähnlich wie in der Bunderepublik, weiterhin auf der Grundlage von Kurzlehrgängen; es gab kein eigenständiges Berufsbild oder einen Ausbildungsberuf. Krankentransporteure waren damit weiterhin in der Regel ungelernte Kräfte, Hilfsarbeiter oder aber Personen, die in ihrem eigentlichen Beruf nicht mehr arbeiten konnten bzw. wollten. Trotz des neuen Ausbildungsprogramms mit insgesamt 290 Stunden blieben die Krankentransporteure in ihrer Ausbildung weit hinter den Rettungssanitätern der Bundesrepublik zurück, die sich 1977 mit dem Gesetzgeber und den Trägern des Rettungsdienstes auf ein Mindestausbildungsprogramm von 520 Stunden geeinigt hatten. Jedoch trugen diese weiterhin eine größere Verantwortung als die Krankentransporteure, die ihr Aufgabenfeld in der Regel mit einer Pflegekraft teilen konnten.38 Reformstau in den 1980er Jahren Auf gesundheitspolitischer Ebene wurde am System der SMH festgehalten und dieses in den 1980er Jahren weiter stabilisiert und ausgebaut. Bezüglich der Weiterentwicklung des Berufes gab es dann in den 1980er Jahren unterschiedliche Überlegungen und Bestrebungen, wobei man natürlich auch die Entwicklung in der Bundesrepublik beobachtete. Dort geriet seit Mitte der 1970er Jahre einiges in Bewegung. Die hauptamtlichen Rettungssanitäter hatten einen eigenen Berufsverband gegründet, um stärker ihre Interessen vertreten zu können. Dazu gehörten u. a. die Schaffung eines eigenständigen Berufsbildes, eine besser fundierte Ausbildung sowie eine bessere Bezahlung. Aufgrund der Forderungen des Berufsverbandes der Rettungssanitäter (BVRS) diskutierte man nun in Politik und Gesellschaft über den Rettungsdienst.39 Es zeigte sich ein Trend, der auf eine zunehmende Professionalisierung des Rettungswesens ausgerichtet war. Dies war nicht zuletzt auch aufgrund der immer komplexer werdenden Behandlungsmethoden und den sich daraus ergebenden Potentialen der Notfallmedizin notwendig. Im Systemvergleich hinkten die Ausbildungsstandards für Krankentransporteure denen der Rettungssanitäter hinterher.
37
Vgl. ‚Schreiben „Gegenwärtiger Entwicklungsstand der Schnellen Medizinischen Hilfe“, o. D.‘: BArch, DQ 1/25357, unpaginiert. 38 Dies war in der Praxis jedoch auch nicht immer der Fall. In Leipzig war die DMH beispielsweise mit einem Arzt und zwei Krankentransporteuren besetzt. Dieser Umstand wurde auch in der DDR nicht verleugnet: „Die ministerielle Anweisung zur Einrichtung der SMH legt auch in der derzeit gültigen Fassung von 1979 /5/ eine der Kombinationen nicht zwingend fest, so daß bis heute in der Zusammensetzung der Einsatzgruppen innerhalb des Rettungswesens der DDR eine gewisse Uneinheitlichkeit vorherrscht“. Burgkhardt (1986), S. 369 f. 39 Vgl. ‚Irgendwie kneten‘, Der Spiegel (1982), S. 83–87.
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Angestoßen u. a. durch die Notfallmediziner Heidel und Burgkhardt wurde Anfang der 1980er Jahre die Weiterbildung zum ‚Fachkrankenpfleger für Krankentransport/SMH‘ entwickelt. Diese sollte ca. 480 Stunden dauern und orientierte sich damit im Wesentlichen an der 520-Stunden Ausbildung zum Rettungssanitäter, die seit 1977 in der Bundesrepublik in Kraft war.40 Mit dieser Weiterbildung sollten grundlegende Neuerungen für den Beruf des Krankentransporteurs verbunden sein. Entscheidend war, dass eine staatliche Ausbildung als Krankenpfleger sowie eine mindestens zweijährige Tätigkeit in diesem Beruf notwendig waren, um die Fortbildung überhaupt antreten zu dürfen.41 Damit wären die Hürden, im Gegensatz zu früher, ziemlich hoch gewesen. Gleichzeitig sollten durch die Weiterbildung die Tätigkeitsfelder der Krankentransporteure und der in der SMH eingesetzten Krankenpflegerinnen/pfleger zusammenfallen und der Tätigkeitsbereich der Fachkrankenpfleger für Krankentransport/SMH dem der Rettungssanitäter aus der Bundesrepublik angeglichen werden. Die Weiterbildungsrichtlinie von Heidel und Burgkhardt trat in dieser Form jedoch nie in Kraft. Dies lag vor allem an den schwierigen Beziehungen zwischen dem DRK und dem Ministerium für Gesundheitswesen der DDR. Die zu dieser Zeit zwei wesentlichen Fachgremien – die Problemkommission ‚SMH‘ beim Ministerium für Gesundheitswesen der DDR und die Kommission ‚KT/SMH‘ beim Präsidium des DRK – waren sich nicht einig und arbeiteten mehr gegen- als miteinander.42 Das DRK in der DDR verstand sich mehr als „Sozialistische Massenorganisation, denn als Heimstatt für professionelle Retter“, so Michael Burgkhardt.43 Auch Burgkhardts und Heidels Idee, damit für Krankentransporteure ein, analog zu den anderen mittleren medizinischen Berufen, eigenständiges Berufsbild zu schaffen, gelang nicht. Auch wenn Heidel und Burgkhardts Entwurf sich nicht durchsetzen konnte, war nun trotzdem ein Problembewusstsein bei allen Beteiligten geschaffen. Das lässt sich dadurch erkennen, dass von Seiten des Staates man nun ebenfall tätig wurde, aber einen anderen Weg einschlug. Man schuf eine Kombiausbildung: Ab dem 1. September 1986 sollte nun der sogenannte ‚Facharbeiter Krankenpflege‘ der Basisberuf der Krankentransporteure sein, den diese im Rahmen der Erwachsenenqualifizierung erwerben sollten. Diese sollten dann darauf aufbauend beim DRK die Zusatzqualifikation ‚Spezialausbildung SMH‘ erwerben.44 Der Verdienst eines so ausgebildeten Facharbeiters sollte bei einem Grundgehalt von 850,00 DM liegen.45 Diese Ausbil40 Dieser Umstand wurde auch im Nachhinein von einem der Mitautoren bestätigt. Vgl. Burgkhardt (1992), S. 138. 41 Vgl. ‚Ministerrat der DDR, Ministerium für Gesundheitswesen: Studienplan für die Weiterbildung zum Fachkrankenpfleger für Krankentransport/SMH‘: BArch, DQ 110/24, unpaginiert. 42 Vgl. Burgkhardt (1990), S. 181. 43 Vgl. ebd., S. 182. 44 Vgl. Burgkhardt (2012), S. 425. 45 Vgl. ‚Deutsches Rotes Kreuz der DDR, Sekretariat des Präsidiums: Ergänzung zur Ar-
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dungsmöglichkeit wurde jedoch nur zögerlich angenommen und in der Praxis konnte sie sich aufgrund des Endes der DDR auch kaum mehr beweisen.46 Institutionentransfer nach 1990 Die Wiedervereinigung bedeutete auch auf dem Gebiet des Rettungswesens weitestgehend ein Institutionentransfer von West nach Ost, wie er auch in vielen anderen Gebieten stattfand. Sowohl die DDR einheitliche Notrufnummer 115 als auch das komplette System der SMH wurden abgeschafft. Innerhalb kurzer Zeit kamen die großen westdeutschen Rettungsorganisationen in die neuen Bundesländer und übernahmen dort, wo es nicht die Feuerwehr tat, nach und nach den Rettungsdienst. In diesem Zusammenhang wurde auch konstatiert, dass die Ausbildungsstandards der Krankentransporteure für bundesdeutsche Ansprüche nicht ausreichend seien. Dies verwundert nicht, da in der BRD erst ein Jahr zuvor, 1989, das Berufsbild des Rettungsassistenten geschaffen wurde, dem eine Berufsausbildung von zwei Jahren zugrunde lag. Darum hatten die Akteure in der Bundesrepublik seit mehr als 15 Jahren gerungen. Zur Diskrepanz der Ausbildung heißt es in einer Stellungnahme des Kreiskomitees Hainichen des DRK der DDR: „Leider wird dieses Thema ‚Berufsbild Krankentransporteur‘ seit über zehn Jahren erfolglos von den zuständigen Stellen behandelt. Auch wir hoffen nun endlich mit der Ausbildung zum Rettungssanitäter bzw. Rettungsassistent noch bessere fachliche Kenntnisse zu erlangen“.47 Neben diesem Eingeständnis der ungenügenden Qualifikation, das übrigens Jahre zuvor in ganz ähnlicher Form auch von den westdeutschen Rettungssanitätern geäußert wurde, wehrten sich die Krankentransporteure aber auch gegen solche Anschuldigungen: Von unserer Seite aus war es eine gute Zeit der Zusammenarbeit, sowie ein gegenseitiges Geben und Nehmen. Wir haben als DRK sehr viel von den Ärzten während ihres SMHEinsatzes lernen können, möchten aber auch darauf verweisen, daß es auch Ärzte während ihres SMH-Einsatzes gibt, die glücklich sind, einen erfahrenen Krankentransporteur an ihrer Seite zu wissen.48
Und als konkretes Beispiel für die erfolgreiche Arbeit der Krankentransporteure wurde die gelungene Durchführung von über 70 Entbindungen zweier langjähriger Mitarbeiter angeführt.49 Trotzdem mussten die Krankentransporteure, wollten sie nach 1990 weiterhin im Rettungsdienst arbeiten, die Ausbildung zum Rettungsassistenten durchlaufen.
46 47 48 49
beitsanweisung 15/86 vom 29.12.186. Dresden, den 4.5.1989‘: DRK Archiv, Bestand DDR 576, unpaginiert. Vgl. Burgkhardt (1989), S. 660. ‚Stellungnahme des Kreiskomitees Hainichen des DRK der DDR zum Schreiben vom 14.3.1990 des Herrn OMR Dr. med. H. Handschak an die Problemkommission Schnelle medizinische Hilfe, 16.5.1990‘: DRK Archiv, Bestand DDR 577, unpaginiert. Ebd. Vgl. ebd.
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Staatliche Rolle im Professionalisierungsprozess der Krankentransporteure Allein über die Frage, ob man bei solchen Berufen wie Krankentransporteuren bzw. Rettungssanitätern überhaupt von einem Professionalisierungsprozess sprechen kann, ließe sich lange diskutieren. Von vielen Professionstheoretikern würde sie wohl ablehnend beantwortet werden, da diese Berufe wohl nie den Status einer klassischen Profession, wie beispielsweise die Ärzteschaft, erreichen würden. Es könnte höchstens von einer Semi- oder Subprofession die Rede sein. Trotzdem soll an dieser Stelle der Begriff der Professionalisierung verwendet werden, da er hier einige Vorteile verspricht: Zum einen dient der Begriff als Terminus technicus sehr gut dazu, bestimmte Entwicklungsund Aushandlungsprozesse innerhalb des Berufsfeldes zu beschreiben. Nur weil der Beruf sich wohl nie zu einer Profession entwickeln wird, heißt das noch lange nicht, dass er nicht trotzdem danach strebt. Dadurch wäre Professionalisierung wiederum gerechtfertigt. Eine Alternative dazu wäre die für den Bereich der Krankenpflege von Susanne Kreutzer eingeführte Bezeichnung ‚Verberuflichung‘.50 Da es hierbei aber in erster Linie um die Herausbildung eines Berufes aus einer ehrenamtlichen Tätigkeit geht, ist er gerade für die Krankentransporteure in der DDR nicht ganz passend, da diese, anders als beispielsweise in der BRD, zu keiner Zeit im Untersuchungszeitraum ehrenamtlich tätig waren. Darüber hinaus hat sich die professionssoziologische Forschung weiterentwickelt. Neuere Studien tendieren bereits seit Längerem nicht mehr dazu, bestimmte Merkmale (Autonomie, Selbstkontrolle, berufsständische Normen, hohes Prestige) als entscheidend für die Herausbildung einer Profession zu definieren, wie das noch in den 1960er Jahren der Fall war.51 Vielmehr werden gegenwärtig ganz andere Kriterien (professionelles Handeln) angelegt, wodurch das Konzept der Professionalisierung flexibler und weitläufiger wird.52 Ohne an dieser Stelle auf Professionalisierungstheorien näher eingehen zu wollen, sei hier das Konzept der Professionalität genannt, welches die Aspekte Wissen und Können in den Mittelpunkt rückt und damit der praktischen Tätigkeit des Berufes mehr Bedeutung als äußeren Faktoren zumisst.53 Einfluss der Entwicklung des Rettungswesens auf den Professionalisierungsprozess der Krankentransporteure Zunächst ist hier einmal ganz allgemein auf die Verflechtungen der Entwicklungen des Berufes auf der einen und des Rettungswesens auf der anderen Seite hinzuweisen, die zuvor bereits geschildert wurden. So hat beispielsweise 50 51 52 53
Vgl. Kreutzer (2005). Vgl. Parsons (1968). Vgl. Nittel (2002). Vgl. Pundt (2006), S. 11.
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die 1967 im Zuge der Einführung der DMH gefasste Entscheidung, in der DDR einen grundsätzlich arztbesetzten Rettungsdienst einzuführen, weitreichende Konsequenzen für die Entwicklung des Berufes des Krankentransporteurs gehabt. In der BRD hingegen praktizierte man oftmals das RendezvousSystem, d. h. Arzt und Rettungssanitäter fuhren getrennt zur Unfallstelle. Hier konnte es dazu kommen, dass der Sanitäter in bestimmten Situationen auf sich allein gestellt war und somit auch allein handeln musste. Dementsprechend trug er damit größere Verantwortung als der Krankentransporteur in der DDR, der immer einen Arzt an seiner Seite hatte. Durch diesen Umstand ergab sich in der DDR, wiederum im Gegensatz zur BRD, auch kaum eine Diskussion über die Notwendigkeit einer besseren Ausbildung der Krankentransporteure. Zusätzlich dazu erschwerte auch die Installierung einer Krankenpflegerin/eines -pflegers als dritte Kraft neben Arzt und Krankentransporteur im Rettungsdienst den Professionalisierungsprozess der Krankentransporteure. Durch die dadurch entstehende Segmentierung nichtärztlicher Assistenztätigkeiten hatten die Krankentransporteure, die in diesem Dreiergespann, hierarchisch betrachtet, auf der untersten Ebene standen, noch viel weniger Möglichkeiten zur Aufwertung ihrer Tätigkeiten als die bundesrepublikanischen Rettungssanitäter. Staatliche Akteure im Professionalisierungsprozess Die Erkenntnis, dass ganz allgemein die staatliche Steuerung des Gesundheitswesens für den Professionalisierungsprozess der Gesundheitsberufe von großer Bedeutung ist, ist zunächst wenig überraschend. In der DDR war das staatliche Handeln, anders als in Westdeutschland, die entscheidende Komponente. So hatte zwar auch in der BRD die Bundesund Landespolitik wichtigen Einfluss beispielsweise auf die Verabschiedung des Rettungsassistentengesetzes von 1989 und damit auf die Schaffung eines eigenständigen Berufsbildes, doch angestoßen wurde dieser Prozess vielmehr vom Berufsverband der Rettungssanitäter, also von den Rettungssanitätern selbst. Im Diskussionsprozess über dieses Berufsgesetz waren mit der Bundesärztekammer und der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensivund Notfallmedizin sowie Vertretern der Hilfsorganisationen (DRK, ASB, Johanniter-Unfallhilfe, Malteser) noch weitere nichtstaatliche Akteure einbezogen. Diese Breite der involvierten Akteure fehlte in der DDR. Allein Vertreter des Ministeriums für Gesundheitswesen und des Präsidiums des DRK waren in Entscheidungsprozesse bezüglich der Entwicklung des Berufes involviert. Die im Nachhinein als „Zwangsehe“54 bezeichnete Zusammenarbeit von DRK und dem Gesundheitswesen der DDR auf dem Feld des Rettungsdienstes hatte entscheidende Auswirkungen auf die berufliche Entwicklung des Rettungsdienstes. 54 Burgkhardt (1990), S. 181.
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Probleme zeichneten sich auf zwei Ebenen ab. Zunächst war, wie bereits angesprochen, die Zusammenarbeit beider Institutionen in gemeinsamen Gremien schwierig. So liefen die Besprechungen oftmals ohne Koordination ab und man agierte mehr gegen- als miteinander.55 Dies führte wiederum dazu, dass notwendige Reformen ausblieben. Doch auch auf der konkreten arbeitspraktischen Ebene war die Struktur problematisch: Konflikte waren jedoch – entgegen der damaligen offiziellen Lesart – vielfach vorprogrammiert, weil es keine klare Abgrenzung in den Kompetenzen gab. Die SMH wurde ärztlich geleitet, wobei allerdings der Einfluß des ärztlichen Leiters der SMH auf die Mitarbeiter des DRK der DDR (Krankentransporteure) begrenzt oder nicht vorhanden war.56
Der beim staatlichen Gesundheitswesen der DDR beschäftigte Arzt war also im SMH-Verband dem beim DRK angestellten Krankentransporteur gegenüber durchaus weisungsberichtigt, doch war sein Einfluss wohl nicht mit dem vergleichbar, wenn beide den gleichen Arbeitgeber gehabt hätten. Nicht nur die Zusammenarbeit mit dem Arzt, gerade auch die mit der Pflegekraft konnte zum Problem werden. Der ehemalige Krankentransporteur R. Z. meinte dazu: Naja, man hat sich mit einigen gut verstanden, aber wenn man sich mit dem nicht gut verstanden hat, dann war es eben halt auch nicht so angenehm, mit dem zusammenzuarbeiten, weil es eben/ Ja, die waren eben halt was Besseres, dachten jedenfalls einige. Dachten nicht alle so, ja, das ist auch Fakt, aber einige dachten/ Es waren ja vorwiegend Krankenpfleger. […] Die meisten von denen hatten auch die Intensivpflegeausbildung, waren also Intensivpfleger, aber, ja, sie dachten schon, sie waren was Besseres, einige.57
Auch wenn, wie dargelegt, die Rolle der staatlichen Institutionen in der DDR relativ umfassend war, hatten die Krankentransporteure selbst, zumindest punktuell, einen gewissen Einfluss auf die Entwicklung ihres Berufes. Zwar kann dieser nicht mit den Möglichkeiten in demokratischen Staaten verglichen werden, eine gewisse Wirkung dürfte er dennoch erzielt haben. So war beispielsweise von Seiten der Krankentransporteure bis in die 1980er Jahre hinein häufig die Klage zu hören, dass ihnen noch nicht ein sich geschlossenes Lehrbuch zur Verfügung stünde.58 Das ist zwar nur ein kleiner Punkt; er deutet aber bereits an, dass von Seiten der Krankentransporteure durchaus Interesse an einer Fortentwicklung des Berufsfeldes bestand. Von daher kann man den Beruf des Krantransporteurs nur eingeschränkt als ein Beispiel für eine staatlich gesteuerte Professionalisierung anführen. Zum einen hatte der Staat lange Zeit gar kein großes Interesse an der Entwicklung des Berufes, da er dem DRK zugeordnet war und zum anderen hat es, wenn auch nur beschränkt, durchaus Möglichkeiten der Steuerung durch andere Akteure gegeben. Gleichwohl waren diese Freiräume viel eingeschränkter als in der Bundesrepublik.
55 56 57 58
Vgl. ebd. Burgkhardt (1992), S. 138. Interview mit R. Z. am 4.9.2018. Vgl. Burgkhardt (1989), S. 661.
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Bibliographie Quellen Bundesarchiv Berlin (BArch) DQ 1/3346 DQ 1/4332 DQ 1/13256 DQ 1/25357 DQ 110/24 DRK Archiv Bestand DDR 545 Bestand DDR 563/III Bestand DDR 576 Bestand DDR 577 Bestand DDR 580 Zeitzeugen Interview mit R. Z. am 4.9.2018. Veröffentlichte Quellen Becker, Theo: Aufgaben und Funktionen der Ersten-Hilfe. In: Die Heilberufe 16 (1964), S. 10 f. Burgkhardt, Michael: Zur Ausbildung medizinischer Kader für den Einsatz in der SMH. In: Die Heilberufe 38 (1986), S. 369 f. −: Die Verantwortung der medizinischen Fachschulkader und der Mitarbeiter des DRKKrankentransportes in der organisierten Notfallmedizin. In: Zeitschrift für ärztliche Fortbildung 83 (1989), S. 660–661. −: Quo vadis, Rettungswesen DDR? In: Rettungsdienst 13 (1990) H. 3, S. 181. Heidel, H.-J.: Aufbau des Systems der Schnellen medizinischen Hilfe (SMH). In: Die Heilberufe 30 (1978), S. 37 f. Hoheisel, P.: Zur Ausbildung des Unfallrettungspersonals. In: Die Heilberufe 17 (1965), S. 334–336. Irgendwie kneten. In: Der Spiegel 17 (1982), S. 83–87. Schoedan, Paul: Der Krankentransport soll den allgemeinen Gesundheitsschutz erhöhen. In: Die Heilberufe 7 (1955), S. 194. Verordnung über die Bildung der Organisation Deutsches Rotes Kreuz vom 23.10.1952. In: Gesetzblatt der Deutschen Demokratischen Republik 150 (1952), S. 1090.
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teilungen und Nachrichten. Supplement: Beiträge zur Geschichte der Unfallchirurgie in der DDR 30 (2008), S. 80–84. Coburger, Gisela: Geschichte in Geschichten. Die Entwicklung der Physiotherapeuten in der Manuellen Therapie in der DDR und der ÄMM e. V. Berlin; Coburger 2016. Heisig, Barbara: Pflege in der DDR. Die Entwicklung der Krankenpflege und der Einfluß der ‚Gesellschaft für Krankenpflege in der DDR‘ – Professionalisierung oder Sackgasse? Diplomarbeit. Halle (Saale) 1999. Hellenschmidt, Chlemens: Der DRK-Krankentransport 1943–1945. Vorgeschichte, Entstehung, Organisation und Auswirkungen bis in die Gegenwart. Hamburg; Dr. Kovač 2010. Kreutzer, Susanne: Vom ‚Liebesdienst‘ zum modernen Frauenberuf. Die Reform der Krankenpflege nach 1945. Frankfurt a. M.; campus 2005. Parsons, Talcott: Professions. In: International Encyclopedia of the Social Science 12 (1968), S. 536–547. Pfütsch, Pierre: Rettungssanitäter – Rettungsassistenten – Notfallsanitäter: Ein Berufsbild im Wandel, 1949 bis 2014. In: Hähner-Rombach, Sylvelyn; Pfütsch, Pierre (Hg.): Entwicklungen in der Krankenpflege und in anderen Gesundheitsberufen nach 1945. Ein Lehr- und Studienbuch. Frankfurt a. M.; Mabuse 2018, S. 350–382. Pundt, Johanne: Professionalisierung im Gesundheitswesen – Einstimmung in das Thema. In: Pundt, Johanne (Hg.): Professionalisierung im Gesundheitswesen. Positionen – Potentiale – Perspektiven. Bern; Hogrefe 2006, S. 7–20. Riesenberger, Dieter: Das Deutsche Rote Kreuz. Eine Geschichte 1864–1990. Paderborn, Schöningh 2002. Thiekötter, Andrea: Pflegeausbildung in der Deutschen Demokratischen Republik. Ein Beitrag zur Berufsgeschichte der Pflege. Frankfurt a. M.; Mabuse 2006. Nittel, Dieter: Professionalität ohne Profession? ‚Gekonnte Beruflichkeit‘ in der Erwachsenenbildung im Medium narrativer Interviews mit Zeitzeugen. In: Kraul, Margret; Marotzki, Winfried; Schweppe, Cornelia (Hg.): Biographie und Profession. Bad Heilbrunn; Klinkhardt 2002, S. 253–286.
Vom Aufstieg und Fall der Utopie Gesundheit Konzepte, Strukturen und Grenzen der Gesundheitsaufklärung im sozialistischen Gesundheitswesen der DDR Christian Sammer
„Seit nunmehr drei Jahren wird die Gesundheitserziehung in der Politik des Regionalbüros der WHO für Europa systematisch dem Health-PromotionKonzept untergeordnet“, schrieben im Juni 1987 zwei der national wie international exponierten Gesundheitserzieher der DDR, der Generaldirektor des Deutschen Hygiene-Museums (DHMD), Jochen Neumann (*1936), in Dresden und der Direktor des dortigen Instituts für Gesundheitserziehung, Peter Voß (*1937), in ihrem gemeinsamen Reisebericht. „Das traditionelle pädagogische Programm der Gesundheitserziehung soll durch ein politisches Programm ersetzt werden. […] Im Regionalbüro […] hat sich“, so die Direktoren weiter, „eine Health-Promotion Lobby gebildet, die […] übergreifende politische Ziele verfolgt. Nach diesem Konzept soll die Gesundheitserziehung ein WHO-Instrument gegen staatliche Entscheidungsträger in Ost und West, Nord und Süd werden […]. Da wir das H. P.-Konzept nicht mehr zurückdrängen können, müssen wir jede Gelegenheit nutzen, um überzeugend darzulegen, daß die mit diesem Konzept erhobenen politischen Forderungen in den sozialistischen Ländern bereits erfüllt sind. […] Die langen Traditionen der Gesundheitserziehung […] dürfen nicht den alternativen und grünen Konzepten geopfert werden“. Stattdessen gelte es, so die Berichterstatter über ihr Treffen mit anderen Vertretern der „Kooperationszentren für Gesundheitserziehung“ des WHO-Regionalbüros in Europa, „die eigentlichen Aufgaben der Gesundheitserziehung [zu betonen]: Information, Motivation [und die] Entwicklung persönlicher Fähigkeiten […] bei den Bemühungen der Bürger um eine gesunde Lebensführung“.1 Offenbar war es den beiden leitenden Gesundheitserziehern Ende der 1980er Jahre nicht möglich, offiziell den neuen internationalen Trend der Health Promotion für den sozialistischen deutschen Staat zu akzeptieren.2 Die beiden Autoren glaubten, in der mit der Ottawa-Charta von 1986 kodifizier1
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Alle Textstellen in: Jochen Neumann und Peter Voß: ‚Reisebericht zur Teilnahme am Treffen der Kooperationszentren der WHO für Gesundheitserziehung und zur Teilnahme an der Beratung über die Infrastruktur der Gesundheitserziehung in Europa, 9.– 13.6.1987, 22.6.1987‘: BStU, MfS, HA XX, Nr. 7154, Bl. 183 f. Das Institut für Gesundheitserziehung in der DDR war 1982/83 – zeitgleich mit seinem westdeutschen Pendant, der BZgA – zum ‚Collaborating Centre for Health-Education‘ ernannt worden. Vgl. hierzu Neumann et al. (1987), S. 64; Pott (2005), S. 341. Unter dem Sammelbegriff der Gesundheitserzieherinnen verstehe ich die Gruppe an Personen, die sich in der DDR beruflich als solche bezeichneten bzw. bezeichnet wurden und die sich publizistisch als Proponenten der Gesundheitserziehung hervortraten. Be-
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ten Gesundheitsförderung sogar ein interventionistisches Instrument zu erkennen, das aus einem ideologischen Grund abzulehnen sei: Im sozialistischen Deutschland müsse man die Aufmerksamkeit nicht auf strukturelle Risikobedingungen der Gesundheit (Verhältnisprävention) richten, weil die sozialen und environmentalen Verhältnisse schließlich per se gesundheitsförderlich seien. Einer solchen Forderung sei die etablierte Tradition der Gesundheitserziehung entgegen zu halten – das pädagogische Konzept einer auf die Persönlichkeitsformung abzielenden Identifikation und Modifikation eines riskanten, individuellen Risikohandelns (Verhaltensprävention).3 Wie kam es aber dazu, dass Health Promotion in der DDR in der gesundheitspolitischen Binnenkommunikation so entschieden abgelehnt wurde? Warum fiel es denjenigen, die es eigentlich propagieren sollten, so schwer, ein Konzept zu vertreten, welches die Bedingungen von Gesundheit und gesundheitskonformen Verhaltensweisen in ihren sozialen Kontexten – in seinen Bedingungs- und Prägungsinterdependenzen (Settings) – in den Blick nahm? So kleinteilig diese Frage zunächst wirken mag, so steht sie doch in einem breiteren Forschungsfeld der Präventionsgeschichte. Dass die Analyse von Konzepten und Praktiken der Krankheitsverhütung oder eben der Förderung von Gesundheit als gewinnbringende heuristische Sonde dienen kann, haben mehrere Forschungsbeiträge jüngst eindrucksvoll gezeigt. Denn an diesen lassen sich die historisch spezifischen Beziehungen zwischen Staat und Bürgern und die prospektiv ausgerichteten Vorstellungen von gesundheitlicher Norm(alität), Funktionalität und Ordnung sowie von Abweichung, Bedrohung und Unordnung eruieren.4 Vor allem trugen diese Arbeiten dazu bei, die These des ‚Präventiven Selbst‘, der zeithistorischen Verschiebung von staatlichen und zivilgesellschaftlichen zu liberal-individualistischen Präventionspraktiken und der damit einhergehenden Subjektivierung der Präventionsverantwortung zu verfeinern und die darin enthaltene Entwicklungsannahme historisch zu hinterfragen.5 Die These einer Subjektivierung der Prävention haben vor allem vom Konzept der Biopolitik inspirierte Arbeiten zur Körpergeschichte formuliert. An den Beispielen des Sports, der Ernährung, der Sexualität, der Therapeutisierung des Selbst oder auch des Drogen-Gebrauchs zeigten sie, wie ab den 70er Jahren ein spezifisches, liberales Modell der Subjektivierung wirkmächtig wurde. In sich zunehmend kommerzialisierenden westlichen Wettbewerbsgesellschaften manifestierte sich ein Regime der Selbstoptimierung, das am Körper ansetzt – das Dispositiv der
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grenzt wird diese hier auf die Akteure der nationalstaatlichen Ebene. Bei Bezeichnungen von Personen(gruppen) verwende ich generische Feminina und Maskulina willkürlich. Zur Ottawa-Charta vgl. WHO (1986); Rosenbrock (1998) und zu den hier verwendeten Begrifflichkeiten knapp: Altgeld/Kolip (2014) und in leichter semantischer Verschiebung: Rosenbrock/Gerlinger (2004), S. 63–71. Zur Entstehungsgeschichte der Health Promotion/Gesundheitsförderung: Ruckstuhl (2011). Vgl. exemplarisch Schenk/Thießen/Kirsch (2013); Tümmers (2017); Thießen (2017) sowie in soziologischer Konzeptualisierung der Prävention: Leanza (2017), S. 230–243; Bröckling (2008). Für die Geschichtswissenschaft maßgeblich: Lengwiler/Madarász (2010).
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Fitness.6 Die an dieser Stelle doch maßgebliche Technologie der Prävention, die Gesundheitsaufklärung – als analytischer Oberbegriff für die in je spezifischen (historischen) Kontexten verwendeten Bezeichnungen der Gesundheitsberatung, Gesundheitsbildung, Gesundheitserziehung oder Gesundheitsförderung –, ist überraschenderweise selten an zentraler Stelle beachtet worden.7 Die Geschichte der Gesundheitsvorsorge und der Prävention in der DDR hat zwar Aufmerksamkeit gefunden.8 Aber diese mit der Frage zu kombinieren, inwiefern das Narrativ einer neoliberalen Subjektivierung der Prävention – der Durchsetzung eines ‚Präventiven Selbst‘ – auch die Entwicklung in anderen Gesellschaften als in demokratisch verfassten treffend beschreibt, ist selten unternommen worden. Stefan Offermann hat dies jüngst am Beispiel von Filmen der Gesundheitserziehung der 70er Jahre über Herz-Kreislauf-Erkrankungen getan.9 Offermann stößt dabei auf eine latente Spannung zwischen dem kollektiv orientierten Erziehungsideal und dem Umstand, dass dem Einzelnen die Verantwortung für eine gesunde Lebensweise explizit zugeschrieben wurde. Die Bemühungen der sozialistischen Gesundheitserzieherinnen, Bürger zu einem gesunden Lebenswandel zu bewegen, waren in der DDR durchgehend eingebettet in das Leitbild der sozialistischen Persönlichkeit – in die Vorstellung davon, dass es keine Alternative zur bewussten Einsicht in das Richtige, in die Regeln der sozialistischen Gesellschaft, gibt.10 Genau im Fortdauern der Konzeptualisierung des Individuums als eines von seinen sozialen Kontexten bestimmten Subjekts, so die These, ist der Grund für die offizielle Ablehnung der Health Promotion zu finden. Denn dieser Gedanke ließ Alterität im Kern nur als politische und ideologische Bedrohung erkennen. In der internen Zurückweisung der Gesundheitsförderung spiegeln sich damit die zum Ende der DDR offiziell bestehende Verantwortlichkeitsverteilung für Gesundheit sowie die Grenzen der gesellschaftlichen Reformfähigkeit des sozialistischen Deutschlands. Letztlich zeigt damit die Geschichte der Gesundheitserziehung das politisch-ideologische Verknöchern des einstmals engagiert gestarteten sozialistischen Experiments der DDR aus dem spezifischen Blickwinkel (der öffentlichen Kommunikation) der staatlichen Sorge um die Gesundheit der eigenen Bürgerinnen. Doch die Geschichte der Gesundheitsaufklärung in der DDR geht nicht restlos auf in einer Narration der zunehmenden ‚Socialist Responsibilisation‘, der forcierten Umstellung einer präventiven Verantwortung von der politischen auf die individuelle Ebene.11 In der Gesundheitserziehung der ‚Diktatur der Widersprüche‘12 lag die Verantwortung für eine gesunde Lebensweise – auch wenn sie dem Indivi6 7 8 9 10 11 12
Vgl. exemplarisch Eitler/Elberfeld (2015); Scholl (2018); Martschukat (2019) und als Inspirationsquelle wegweisend: Boltanski/Chiapello (2006). Konzeptuell ebenfalls als Geschichte der Biomacht: Gastaldo (1997) und sozial- und geschlechterhistorisch: Pfütsch (2017). Vgl. Linek (2016); Linek/Pfütsch (2016). Vgl. Offermann (2019). Vgl. Margedant (1995), S. 1499–1504; Brock (2009), S. 231–235. Vgl. Niehoff (1999); Niehoff (2002). Vgl. Pollack (1997).
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duum explizit zugeschrieben wurde – letztlich beim allverantwortlichen und zugleich allfürsorglichen Regime. Dass eine Professionsgruppe, deren Arbeitsethos auf die Herausbildung gesunder Lebensweisen abzielte, die gesellschaftlichen Beschränkungen dieses Zwecks thematisierte, lag in der Dynamik ihrer Tätigkeit. Doch dementsprechende gesellschaftspolitische Forderungen öffentlich zu stellen, blieb trotz dieser Erkenntnisse unmöglich. Um diese These zu plausibilisieren, werfe ich einen ideen- sowie strukturgeschichtlichen Blick auf die Gesundheitsaufklärung in der DDR. Schlaglichtartig beleuchte ich ihre (1) Genese und (2) Etablierung sowie (3) ihre Dynamiken und Grenzen im sozialistischen deutschen Staat mit ihren Konzepten und Praktiken einerseits und mit ihren Akteuren und Institutionen andererseits. Ich greife dabei vor allem auf Publikationen sowie interne Schriftwechsel der Gesundheitserzieher zurück, um für den gesamten Verlauf der DDR-Geschichte die Vorstellungen und Praktiken ihrer Arbeit zu rekonstruieren. Ich werde zeigen, wie sich in den 1950er Jahren die Professionsgruppe der Gesundheitserzieherinnen mit ihrem Selbstverständnis als Modernisierer von Gesellschaft und sozialistischen Bürgern konstituierte. Sie fassten in den 1960er Jahren Fuß im Gesundheitswesen, aus dem das Regime viel an (historisch begründeter) Legitimität des humanitären Fortschritts zu ziehen hoffte. Doch gerade als dieser Schritt in den 1970er Jahren geschafft war, Netzwerke sich stabilisiert hatten und Kompetenzen errungen waren, wurden ideologische Grenzen gezogen. Je mehr Gesundheitserziehung als Erziehungsarbeit konzeptualisiert wurde, desto schwächer wurde der Glaube an die wissenschaftlich informierte Modernisierung von Mensch und Gesellschaft.13 Das einstige gesellschaftspolitische Gestaltungsengagement sollte sich zum Ende der 1970er Jahre in etwas auflösen, das zwischen Desinteresse am Projekt der Gesellschaftsreform und einer Wahrnehmung der Abweichungen vom Ideal der sozialistischen Persönlichkeit als Bedrohung für das Regime der SED changierte.14 So stieß der Veränderungseifer der Gesundheitserzieher in einer Atmosphäre der Stagnation zum Ende der DDR auf Grenzen des Sagbaren. Deswegen durften die Gesundheitserzieherinnen auch nicht die jüngste methodologische Verschiebung der Gesundheitsaufklärung – der Gesundheitsförderung oder der Health Promotion – anerkennen.15
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Vgl. zum Konzept des Social Engineerings: Etzemüller (2010); Etzemüller (2009) und zur Geschichte des ‚Neuen Menschen‘: Bauerkämper (2017); Seibring/Shabafrouz/Weiß (2018). Vgl. Reinecke (2010); Mergel (2012) sowie zur ‚Produktivkraft Wissenschaft‘: Malycha (2009); Malycha (2010). Die Geschichte des Umweltschutzes ist jüngst ebenfalls als politisch-ideologisch bestimmtes Ausbremsen des Reformeifers einer Professionsgruppe beschrieben worden. Vgl. Möller (2018).
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Genese der Gesundheitserziehung in der DDR Die anfänglichen Bemühungen der Gesundheitsaufklärung in der DDR speisten sich aus einer musealen Tradition. Nachdem die Tore der I. Internationalen Hygiene-Ausstellung 1911 in Dresden geschlossen waren, etablierte sich in den folgenden Jahren das Deutsche Hygiene-Museum in Dresden als modernes Gegenwartsmuseum. Seine Ausstellungen wanderten bis 1944 durchs Deutsche Reich und Europa. Die Objekte und Bilder dienten dazu, die Besucherinnen und Besucher über ihren Körper, dessen Gesunderhaltung und die Errungenschaften des Gesundheitswesens zu informieren. Dies machten sich nach 1945 auch die Besatzungsbehörden zunutze: Die Sowjetische Militäradministration in Deutschland (SMAD) befahl die Verstaatlichung des Hygiene-Museums bereits 1946 im Geschäftsbereich des späteren Ministeriums für Gesundheitswesen.16 Ab dieser Zeit herrschte im Hygiene-Museum wieder reger Betrieb: Exponate wurden neu aufgelegt, entworfen, präpariert, modelliert, gezeichnet, geklebt und bemalt. Viele davon gingen in Serie und wurden als Lehr- und Unterrichtsmittel an medizinische Lehreinrichtungen, Krankenhäuser, Gesundheitsämter und Schulen verteilt und verkauft. Hinzu kamen die zum Prestigeprojekt avancierten dreidimensionalen Körpermodelle der Gläsernen Menschen.17 Bis 1950 war das Leitungspersonal des Museums umfassend ausgetauscht worden. Nunmehr stand dem Museum der als loyal eingeschätzte Remigrant Walter Axel Friedeberger (1889–1967) vor, der sich in der Deutschen Zentralverwaltung für Gesundheitswesen ab 1947 als Leiter der allgemeinen Verwaltung bewährt hatte.18 Trotz des Personalaustausches auf der Führungsebene war die Aufklärungspraxis des Museums zunächst immer noch von der ursprünglichen Wirkungsannahme der ‚hygienischen Volksbelehrung‘ geprägt, wie sie der Gründer Karl August Lingner zu Beginn des 20. Jahrhunderts skizziert und der langjährige wissenschaftliche Leiter bzw. Direktor Martin Vogel (1987–1947) in Zeiten der Weimarer Republik ausgearbeitet hatten: Sie schrieben Ausstellungen mit ihren visuellen, plastischen oder gar bedienbaren Darstellungsgütern das Potenzial zu, nicht nur viele Besucher erreichen, sondern ihnen das Lehrbuch-Wissen der Physiologie, Anatomie und Hygiene allgemeinverständlich veranschaulichen und anverwandeln lassen zu können. Die Ordnung allen Lebens und Zusammenlebens darin zu erkennen, würde eine ehrfürchtige Haltung gegenüber ihrer idealtypischen Komplexität evozieren und dadurch zwangsläufig eine gesundheitsgemäße Lebensführung zum Schutz dieser Ordnung mit sich bringen.19 16 17 18 19
Vgl. zur Geschichte der Gesundheitsausstellungen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und zur Rolle des Hygiene-Museum darin: Weinert (2017). Vgl. zu den Repräsentationen des Hygiene-Museums allgemein: Nikolow: Erkenne Dich (2015); zu den Gläsernen Figuren speziell: Sammer: Durchsichtige Ganzkörpermodelle (2015). Zu Walter Axel Friedeberger vgl. Schleiermacher (2009), S. 86 f. Vgl. Lingner (1914); Vogel (1925); Engelhardt (1930); Steller (2014), S. 57–76; Sammer: Modernisierung (2015), S. 254–256.
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In den Ausstellungen des Hygiene-Museums amalgamierte das Personal eine solche Gesundheitsaufklärung (wieder) mit einer nunmehr aber neu konturierten Gesundheitspropaganda. Es veranschaulichte zum einen hygienisches Wissen und demonstrierte zum anderen den Anspruch, das medizinische Ideologem der humanistischen und apolitischen Sorge um die bestmögliche Gesundheit Aller im Sozialismus realisiert zu haben.20 Expositionen wie Polikliniken, Jugend schafft für die Jugend, Arbeitsschutz oder Im Mittelpunkt steht der Mensch präsentierten die Fürsorge des neuen Regimes seinen Bürgerinnen gegenüber an prominenter Stelle – in einem verkleinerten Nachbau des Dresdner Museums an der Berliner Friedrichstraße und damit im Schaufenster der Systemkonkurrenz.21 Behutsam wurden klassische Elemente der MenschenAusstellung des Hygiene-Museums der Vorkriegszeit neu gerahmt. In Erkenne Dich selbst – ein Dauerbrenner des Hygiene-Museums – wurden Selbsttestapparate, die als besonders geeignet erschienen, ‚volkstümlich‘ Wissen über menschliche Anatomie und Physiologie zu vermitteln, mit Lobgesängen auf den neuen Staat verbunden. In der Veranschaulichung wurde die Selbstdemonstration menschlicher Normleistungen eingefügt in eine explizite Fortschrittsnarration der neuen Arbeitsgesellschaft. In dieser neuen Arbeitswelt besaßen Betriebe Werkküchen. Deren Arbeiterinnen konnten nunmehr in hellen Speiseräumen und in entspannter Atmosphäre warme Mahlzeiten zu sich nehmen (Vgl. Abb. 3 und 4).22 Eingebunden wurden diese bildlichen Idealvorstellungen in eine Erzählung von der Erfüllung lang gehegter Hoffnungen der Arbeiterklasse. Dieser Anspruch des geschichtlichen Fortschritts bettete sich ein in die sich in den 1950er Jahren herauskristallisierende zentrale historische Legitimationsfigur des neuen Regimes. Zwischen 1950 und 1952 suchten die Kulturpolitiker der SED danach, nationale und sozialistische Legitimations- und Integrationsangebote miteinander zu verbinden – und fanden eine Möglichkeit in den Schriften Franz Mehrings (1846–1919).23 Mit seiner Rezeption wurde er Stammvater für die sogenannte ‚Zwei-Linien-Theorie‘.24 Nach dieser Interpretation durchzogen zwei Traditionslinien die deutsche Geschichte, eine reaktionäre und eine progressive. Letztere reiche „vom Bauernkrieg über die Revolution von 1848, die Arbeiterbewegung, die November-Revolution und die Geschichte der KPD“, und fände ihren Höhepunkt in der Gründung der DDR.25
20 Vgl. zur sprachlichen Konstruktion der Ärzteschaft als unpolitische beziehungsweise in Form der Sozialhygiene zum Wohle der Allgemeinheit sozialpolitisch engagierte Profession im ‚langen‘ 19. Jahrhundert: Weidner (2012). 21 Vgl. zur Gesundheitspolitik im Schaufenster der Systemkonkurrenz: Arndt (2009). Zu den Ausstellungen des Hygiene-Museums: DHMD, Leporello 1 bis 3; Budig (1994), S. 100 f. 22 Vgl. Sammer (2020), Kap. 2. Zur Variante auf der Reichsausstellung Gesundes Leben – Frohes Schaffen 1938 siehe: Nikolow: Prüfe Dich (2015). 23 Vgl. Meuschel (1992), S. 60–70. 24 Vgl. Kowalczuk (1997), S. 37–70. 25 Schubert (1995), S. 1779.
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Abb. 3: FDJ Mädels am Apparat ‚Das Fassungsvermögen der Lunge‘. DHMD, Leporello 41, Bild 2709-290-8.
Die ‚Zwei-Linien-Theorie‘ korrespondierte also mit dem Fallenlassen nationaler Einheitsfiktionen und einer zunehmenden Konkretisierung, wie der neue Staat mitsamt seiner glänzenden Zukunft – und eben auch mit einer solchen Geschichte – zu illustrieren wäre. Eine offizielle und endgültige Formulierung der ‚Zwei-Linien-Theorie‘ von höchster Stelle erfolgte allerdings erst nach dem Mauerbau und sollte dann explizite Geltungsansprüche der DDR auf Anerkennung einer eigenen Staatlichkeit unterfüttern.26 Als ein Symbol der progressiven Linie war das Gesundheitswesen von Anbeginn gedacht. Bereits in der Zeit der SBZ waren die zentralen Strukturentscheidungen für das System der medizinischen Versorgung der DDR gefallen. In Anknüpfung an die alten Forderungen der Arbeiterparteien in der Weimarer Republik war beschlossen worden, die Sozialversicherung zu vereinheitlichen, ein präventiv orientiertes Betriebsgesundheitswesen aufzubauen und über Polikliniken die ambulante Betreuung zu stärken. Hier konvergierten die gesundheitspolitischen Vorstellungen aus der SPD und KPD der Weimarer Republik und die aus der SED und SMAD der Nachkriegszeit. Der
26 Vgl. ebd.; Meuschel (1992), S. 70–81.
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Abb. 4: Heller Speiseraum. DHMD, Leporello 41, Bild 1014.
Anspruch der Humanität des ‚Gesundheitsschutzes‘ speiste sich vor allem aus dem allgemeinen und unentgeltlichen Zugang zu allen Einrichtungen, der Befreiung der Ärzte von kommerziellen Interessen – ihre Anstellung statt Freiberuflichkeit und Selbstverwaltung – und der reklamierten umfassenden staatlichen Gesundheitsfürsorge.27 Einer miteinander verschmolzenen Gesundheitsaufklärung und Gesundheitspropaganda wurde ein hoher Stellenwert einge-
27
Vgl. Mette/Misgeld/Winter (1958) sowie Schagen: Kongruenz (2002); Schagen: Aufbau (2002); Schagen (2006).
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räumt.28 Denn eine solche Öffentlichkeitsarbeit versprach, die mutmaßliche Überlegenheit des sozialistischen Staates und hierin des neuen Gesundheitswesens kommunizieren und daraus Legitimitätseffekte produzieren zu können. Diese erhofften sich die Gesundheitspolitiker weniger vom Kriterium der Effizienz, sondern vielmehr vom moralischen Anspruch, gerechter zu sein als alles Gewesene und in der Bundesrepublik nach wie vor Bestehende.29 Schließlich wurde das Hygiene-Museum mitsamt seiner Gesundheitsaufklärung und Gesundheitspropaganda selbst in die progressive Linie deutscher Geschichte einsortiert. Unter den neuen Bedingungen des Sozialismus sollte es endlich der humanistischen Auftragsstellung – der interessensfreien hygienisch-medizinischen Aufklärung aller Bürger sowie der fürsorglichen Arbeit an den Gesundheitspotenzialen – uneingeschränkt nachkommen können.30 Dieses Verständnis zeigte sich in der Zuspitzung der Gesundheitsaufklärung als pädagogisch-erzieherischen Tätigkeit. Ihre Grundlagen, Ziele wie auch ihre Rhetorik speisten sich neben dem aus der vermeintlich historischen Gesetzmäßigkeit abgeleiteten, allgemeinen Zukunftsoptimismus aus mehreren weiteren Quellen. All diese flossen in den 1950er Jahren zum Konzept der Gesundheitserziehung zusammen. Zum Ideengeber für ein materialistisches Paradigma der Medizin wurde der russische Physiologe Ivan Pavlov erhoben.31 Grundgedanke dieser wissenschaftspolitischen Sowjetisierung, die sich vor allem als Karrieresprungbrett für die sich dabei Bewährten herausstellen sollte, war die Abbildung gesellschaftlicher Verhältnisse in den Nervensystemen der Individuen.32 In einem historisch dialektisch gedachten Gleichgewichtsmodell von Umweltreiz und Körperanpassung führe die sozialistische Umgestaltung der gesellschaftlichen Bedingungen letztlich zur Erscheinungsform der sozialistischen Persönlichkeit. Als ausdrücklich positiver Gegenentwurf zum bürgerlichen Menschen 28 Vgl. Geyer (1954), S. 603 f. 29 Vgl. Ministerium für Arbeit und Gesundheitswesen, Hauptabteilung Gesundheitswesen (1950); Zentralinstitut für medizinische Aufklärung (1957); Deutsches Hygiene-Museum Dresden (1959) sowie Niehoff/Schrader (1991); Schagen/Schleiermacher (2004), S. 402– 408. 30 Vgl. Friedeberger (1956); Friedeberger (1959). 31 Vgl. Ernst (1997), S. 308–332; Busse (1998); Busse (2000). 32 Exemplarisch kann nicht nur das wissenschaftliche Leitungspersonal des Hygiene-Museums, das um 1960 ins Ministerium für Gesundheitswesen wechselte, dafür stehen, sondern allen voran und für die öffentliche Kommunikation der DDR-Gesundheitspolitik maßgeblich Gerhard Misgeld (1913–1991). Zwischen 1959 und 1967 leitete der Anatom und Pathologe gleichzeitig die (Pavlov-)Abteilung für Physiologie der höheren Nerventätigkeiten an der Charité, die Redaktion der Zeitschrift Deine Gesundheit sowie die Abteilung Wissenschaft im Ministerium für Gesundheitswesen. Für den Rat für Planung und Koordinierung der medizinischen Wissenschaften war er als Sekretär tätig. Anschließend wechselte er hauptberuflich ans Institut für Geschichte der Medizin an der HU Berlin und nahm dort die Professur für Zeitgeschichte der Medizin war. Vgl. Mette/Misgeld/ Winter (1958); Schneck (2009). Am Beispiel des Physiologen und Internisten Rudolf Baumann (1911–1988) und seiner an der Pavlov-Rezeption ausgerichteten Stress- bzw. Kreislaufforschung: Gausemeier (2019), S. 313–320, 329.
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zeichnete sich die sozialistische Persönlichkeit durch ihre Kollektivität aus, die sich in den Tugenden der sozialen Aufgeschlossenheit, Uneigennützigkeit, Hilfsbereitschaft, Bescheidenheit, Einsatzfreude, des Lebensoptimismus und der Opferwilligkeit ausforme. Letzten Endes, so der pädagogische Psychologe Gerhard Rosenfeld, mache die sozialistische Persönlichkeit „das gesellschaftlich Bedeutsame zum persönlich Bedeutsamen“.33 Weil die Klasseninteressen fehlten, sowie die „objektiven gesellschaftlichen und natürlichen Zusammenhänge“ nicht verschleiert würden, könne ein sozialistischer Mensch nicht zuletzt alle Lebensbereiche rational durchdringen – also zur Einsicht in die Richtigkeit der sozialistischen Normative gelangen.34 Dieses auf dem 5. Parteitag der SED 1958 verkündete Leitbild griff das Zivilisierungsprojekt des ‚Neuen Menschen‘ wieder auf und formulierte es als eine an die bestehenden Normen angepasste sozialistische Persönlichkeit aus.35 Und obwohl die Erziehungsrealität und deren Effekte ein ambivalentes Bild zeichneten, blieb es Fluchtpunkt aller offiziell sanktionierbaren Erziehungsbemühungen des Staates.36 In den neuen sozialistischen Menschen sollte das Bewusstsein in eins fallen mit den Normativen der sozialistischen Gesellschaft – die Maxime ihres Wollens sollte den Prinzipien der von der SED gestalteten sozialistischen Gesellschaftsordnung entsprechen. Dieses Konzept war jedoch potenziell bidirektional. In einem neolamarckistischen, lyssenkoistischen Analogieschluss auf den Menschen- und Gesellschaftskörper schritten Mensch und Gesellschaft korrelativ zum Kommunismus voran.37 Interveniert werden konnte demnach prinzipiell auf der individuellen wie auch auf der kollektiven Ebene. Der neue Staat war jedoch in Vorleistung getreten: Unter den Schlagworten der Einsicht in die „gesellschaftlichen und historischen Notwendigkeiten“ sowie der „bewusst willentlichen Lebensführung“ hatten die Staatssubjekte handlungsleitend davon überzeugt zu werden, dass die neue Gesellschaftsordnung alle Voraussetzungen biete, um beim Aufbau einer „schöneren Welt“ zu helfen.38 War die sozialistische Persönlichkeit damit Produkt der wechselseitigen Interaktion zwischen individueller Rezeption/Adaption und gesellschaftlichen Bedingungen, so standen doch die sozialen Verhältnisse nicht zur Disposition: Abweichungen in individuellen Einstellungen, Motivationen und Verhaltensweisen waren eine Sache der Erziehung. Dem Fortdauern von Devianz konnte nur mit mehr und systematischerer Erziehungsarbeit begegnet wer-
33 Rosenfeld (1961), S. 36. Gerhard Rosenfeld war eng verbunden mit dem Institut für Psychologie der Humboldt-Universität, das er zwischen 1968 und 1970 leitete. 34 Ebd. 35 Vgl. Lemke (1980), S. 24–32, 43–49, 69–75, 92–98. 36 Brock (2009), S. 247–252. 37 Vgl. zur Pavlov-Rezeption in der UdSSR bis zur gemeinsamen Pavlov-Tagung der Akademie der Wissenschaft und der Akademie der Medizinischen Wissenschaften 1950: Rüting (2002), S. 258–286; zur Rezeption in der Biologie der DDR Polianski (2009). 38 Formulierungen in: Gesetz über das einheitliche sozialistische Bildungssystem, 28.2.1965. In: Kleßmann (1988), S. 571.
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den.39 Eine ‚Socialist Responsibilisation‘ des Einzelnen zum richtigen Handeln – und gesundheitsförderliche Lebensweisen fielen hierunter – bestand also eigentlich seit den 1950er Jahren. Dieses Verständnis von der Beziehung zwischen Gesellschaft, Staat und Individuum kam über zwei Wege in die Gesundheitserziehung. Zum einen verband beispielsweise Rudolf Neubert (1898–1992), Professor für Sozialhygiene in Jena und langjähriger Mitarbeiter beziehungsweise wissenschaftlicher Direktor am Dresdner Hygiene-Museum, in seiner Definition von Gesundheit den Behaviorismus à la Pavlov mit sozialhygienischen Traditionen: Wenn Gesundheit objektiv das Gleichgewicht der inneren Prozesse mit den Anforderungen der Umwelt ist, dann ist Gesundheit subjektiv Lebensfreude, Kraft, Mut, Unternehmungslust. Und wenn Krankheit objektiv gestörtes Gleichgewicht ist, dann ist sie subjektiv Unlust zur Arbeit, Lebensüberdruss, Mattigkeit, Leistungsschwäche bis zum völligen Darniederliegen mit Schmerzen, Fieber und schwerem Krankheitsgefühl.40
Waren Gesundheit und Krankheit dermaßen als Gleichgewicht beziehungsweise Ungleichgewicht definiert, so schrieben sich die Gesundheitserzieher an die oberste Stelle ihrer Agenda, die körperliche und seelische Adaptionsfähigkeit an die neue sozialistische Umwelt zu erhöhen: Die soziale Umwelt stehe im Gleichgewicht – die Bürger müssten sich dieser anpassen.41 Erziehung und Gesundheit kamen damit in einen Wirkungszusammenhang, in dem die Leistungsfähigkeit und die Arbeitslust zur zentralen Zielgröße erhoben wurden. Zum anderen beteiligte sich auch das Hygiene-Museums an der PavlovRezeption. Dessen wissenschaftlicher Leiter und stellvertretender Direktor Rolf Thränhardt (*1918) entwarf zur Mitte der 1950er Jahre eine Ausstellung zu Pavlov mit dem Namen Geheimnisse des Lebens.42 Die Nachfrage blieb zwar bescheiden und die Exklusivität Pavlovs in einer Ausstellung des HygieneMuseums ein singuläres Ereignis.43 Gleichwohl folgte Thränhardt seinem ehemaligen Chef Walter Friedeberger ans Ministerium für Gesundheitswesen und wurde dort 1960 Sektorenleiter für Gesundheitserziehung und damit direkter Vorgesetzter des Deutschen Hygiene-Museums. Im Namen einer sowjetischen Neukontextualisierung hatte vor allem Thränhardt bereits in den 50er Jahren intensive Kritik an der bisherigen Gesundheitsaufklärung geübt und sich damit keine Freunde am Museum gemacht:44
39 40 41 42
Vgl. Margedant (1995), S. 1499–1504; Eghigian (2004); Eghigian (2015), S. 69–93, 123 f. Neubert (1956), S. 11. Schrödel (1961). Vgl. ‚Beurteilung Rolf Thränhardts, 23.2.1955‘: HSA DD, 13658, Deutsches HygieneMuseum 1945–1991, Nr. 387/1, unpaginiert, und zur Foto-Dokumentation der Ausstellung: DHMD, Leporello 44. 43 Vgl. ‚Geheimnisse des Lebens, 1956‘: HSA DD, 13658, Deutsches Hygiene-Museum 1945–1991, Rb/1 Bd. 1, unpaginiert. 44 Vgl. ‚Öffentliche Mitgliederversammlung der BPO, 11.5.1954‘; ‚Sitzung der Leitung der BPO des DHM, 26.3.1955‘: HSA DD, 13658, Deutsches Hygiene-Museum 1945–1991, Nr. 387/1 sowie: ‚Parteileitungssitzung am 15.2.1956‘: HSA DD, 13658, Deutsches Hygiene-Museum 1945–1991, Nr. 387/2, unpaginiert.
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Christian Sammer Da keinerlei Unterlagen über den Gesundheitszustand und die hygienischen Kenntnisse der Menschen existieren, konnte bisher keine gezielte medizinische Aufklärungsarbeit durchgeführt werden. So blieb die geleistete Arbeit unsystematisch und war meist von praktischen, oft oekonomischen Gesichtspunkten bestimmt […]. Wir sind auch nicht der Gefahr entgangen, aus positiven Urteilszetteln der Ausstellungsbesucher Rückschlüsse auf die Güte unseres Materials zu ziehen und uns der Selbstzufriedenheit hinzugeben.45
Der Kernpunkt Thränhardts Kritik blieb konstant: Vom Hygiene-Museum müsse prioritär eine Erziehung zu gesunden, sozialistischen Persönlichkeiten und Lebensweisen ausgehen.46 Als ein dementsprechendes Zentralinstitut, so Thränhardt, müsse das DHMD eine Begründungs-, Wirkungs- und Handlungsforschung der Gesundheitserziehung betreiben, welche in engstem Austausch mit anderen sozialistischen Akteuren zu stehen habe. Das bedinge neue Referenzdisziplinen, eine verwissenschaftlichte Methodologie und eigene Forschungsarbeiten: Aufgrund der Studien pädagogisch-psychologischer Veröffentlichungen […] muß eine hochwirksame Methode gefunden werden, die im Einzelfall getestet wird, um die Richtigkeit theoretischer Überlegungen zu beweisen. […] Der Erfolg der systematisch-methodischen Tätigkeit muß bei statistischen Vergleichen feststellbar sein.47
Ab 1959 sprach Thränhardt im Zusammenhang mit einer forschenden und evaluativ vorgehenden Gesundheitsaufklärung nur noch von Gesundheitserziehung und strich die Zweckbestimmung ‚medizinische Aufklärung‘ aus dem Titel des Dresdner Museums.48 1962 wiederholte Thränhardt nochmals diese Forderungen: Multimediale und thematisch fokussierte Kampagnen mussten zentral entworfen und koordiniert werden, hatten ideologisch gesichert und wissenschaftlich angeleitet – ergo effizient – zu sein.49 Das bisherige „populärwissenschaftliche Herangehen“ sollte dadurch endlich überwunden werden.50 Nicht nur mit Pavlov versicherten sich die Gesundheitserzieherinnen der Richtigkeit ihres Tuns. Sie rezipierten auch den internationalen Professionsdiskurs der Health Education. Aus diesem entliehen sie die Vorstellung, dass eine wirksame Gesundheitsaufklärung multimedial, konzertiert, zielgruppenspezifisch und evaluativ vorbereitet und begleitet werden musste sowie auf die Veränderung von Einstellungen, Motivationen und sozialem Handeln abzielen 45 ‚Thränhardt, Rolf: Reisebericht Prag, 17.9. bis 23.9.1956‘: HSA DD, 13658, Deutsches Hygiene-Museum 1945–1991, Rb/3 Bd. 1, unpaginiert, hier S. 10 (hier und im Folgenden bei unpaginierten Archivalien bezieht sich die Seitenangabe auf die Seitenzählung des referenzierten Dokuments). 46 Vgl. ‚Thränhardt, Rolf: Bericht über die Reise der Delegation der Gesellschaft zur Verbreitung wissenschaftlicher Erkenntnisse in die Sowjetunion vom 10. bis 26.6.1955‘: ebd. 47 Ebd., hier S. 13. 48 ‚Studienreise von Rolf Thränhardt und Otto Kunkel in die SU, 23.9. bis 5.10.1959‘: BArch, DQ 1/20542, unpaginiert, hier S. 34 f. Eine ähnliche Emphase der Erziehung findet sich auch von Friedeberger publiziert: Friedeberger (1955); Friedeberger (1959). 49 Vgl. ‚Thränhardt: Vermerk über meinen Besuch des Deutschen Hygiene-Museums, 13.3.1962‘; ‚Friedeberger: Aktenvermerk. Aussprache im Deutschen Hygiene-Museum am 31.3.1962, 7.4.1962‘: BArch, DQ 1/5225, unpaginiert. 50 Lämmel (2000), S. 207.
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sollte.51 Pädagogisch-psychologische Studien müssten den theoretischen Annahmen der Gesundheitserziehung empirische Evidenz verleihen – statistische Auswertungen der Ergebnisse die Erfolge und Misserfolge ausweisen bzw. zu korrigieren helfen. Der Wissenschaftlichkeitsanspruch – und der inhärente Wissenschaftsoptimismus – der Gesundheitserziehung lag damit im Kern in der systematischen Vorbereitung und evaluativen Auswertung der eigenen (medialen) Wirksamkeit. Und diese wurde daran gemessen, wie breit und umfassend Verhaltensweisen verändert wurden – was den Zirkel der Wissensproduktion aus Ätiologie, Prognostik und verhütender Intervention antrieb, der der Prävention inhärent ist. Eine wirksame Verhaltensprävention, „um passives Wissen in aktives Handeln“52 umzusetzen, konnte nicht mehr auf die rationalistische Annahme der handlungsleitenden Anverwandlung von anschaulich gemachtem Wissen vertrauen. Sie musste Einstellungen, Motivationen und soziales Handeln ändern. Dafür müssten nun die Gesundheitserzieher einige methodische Grundprinzipien befolgen: Möglichst homogene soziale Gruppen müssten emotional so vertrauensvoll, massenmedial und repetitiv angesprochen werden, dass Ratschläge und Forderungen in der jeweiligen Lebenswelt wiederklangen; ihre Erfüllung müsse umsetzbar sein. Das hieß also, eine zielgruppenspezifische Kommunikation zu verwenden, die prinzipiell genauso vom anvisierten Rezipienten aus zu denken war, wie vom Wissen über Gesundheit und Krankheit. Nicht von den zukünftigen Belastungen der Krankheit sei auszugehen, sondern mit den gegenwärtigen Vorzügen der Gesundheit sollte verlockt werden, um kontraproduktive Angstreaktionen zu verhindern. Eine solche „Ausrichtung der Motivation des menschlichen Verhaltens“53 erforderte auch andere Experten: Pädagogen, Soziologen, Psychologen und Experten der Kommunikation mittels der neuen Massenmedien. Parallel dazu rezipierte diese Generation der Gesundheitserzieherinnen das US-amerikanische epidemiologische Modell der Risikofaktoren. Die auf einer Bevölkerungsebene virulenten malignen Tumore und Herz-Kreislauf-Erkrankungen ließen sich mit ihm als Effekte eines ‚riskanten‘ Verhaltens und somit als Verhaltenskrankheiten ansehen. Das Risikofaktorenmodell, dessen ‚restriktives Konzept‘ soziale Dimensionen von Krankheitsrisiken ausschloss, rekonfigurierte den präventiven Blick: Mit dem korrelativen Erklärungsmodell zerfiel das komplexe Geschehen chronischer Krankheiten in einzelne Faktoren, von denen einige Verhaltensweisen waren.54 Diese Interpretation des Zusammenhangs von Krankheit und individuellem Handeln in einem spezifischen Risikoverständnis erhöhte den potenziellen Wert einer präventiven Veränderung individuellen Verhaltens. Rauchen, Ernährung, Bewegung und Alko51 Vgl. Sammer (2019). 52 ‚Schubert, Gerda; Speier, Kurt: Senkung des Krankenstandes durch gesundheitliche Aufklärung und Erziehung im Betrieb. Vortrag für die 3. Vollversammlung des NKGE am 3.12.1963‘: BArch, DQ 1/22446, unpaginiert, hier S. 4. 53 Vgl. ebd. 54 Vgl. Giroux (2012).
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holkonsum wurden nun wieder und mit neuer Vehemenz Zielgrößen einer verhütenden wie auch fördernden Gesundheitsvorsorge.55 Die weiche Flanke der Komplexität des dermaßen reduktionistisch gedeuteten Risikofaktorenkonzepts blieb jedoch das Verhalten selbst. Über dessen Ausdeutung als sozial geprägt konnte potenziell auch die soziale Dimension des Risiko(-handelns) wieder reintegriert werden. Institutionalisierung der Gesundheitserziehung in der DDR Konzeptionell informiert benötige eine solche Tätigkeit der Gesundheitserziehung, so Thränhardt, eine neu zu errichtende Infrastruktur: Ein „Netz von Mitarbeitern der Gesundheitserziehung“ in der Provinz müsse von einer systematisch arbeitenden zentralen Stelle angeleitet werden. Ebenfalls müsse die Koordination verbessert werden. Notwendig sei eine Gesellschaft für Gesundheitserziehung, die als das Ministerium beratendes Organ die „Generallinie der Arbeit“ bestimmen, grundsätzliche Probleme besprechen und das Zusammenspiel zwischen zentralen und lokalen Akteuren verbessern sollte.56 Es brauchte also eine Organisation, die eingebettet in die Strukturen des demokratischen Zentralismus top-down in Kooperation mit den Massenorganisationen auch in den Bezirken und Kreisen wirken konnte. Die Gesundheitserzieher schufen sich 1961 als solches Organ das Komitee für gesunde Lebensführung und Gesundheitserziehung in der DDR am Ministerium für Gesundheitswesen (NKGE, 1969 bis 1990 Nationales Komitee für Gesundheitserziehung in der DDR). Seine Konstitution stand aber in einem verzweigten politischen Kontext. Durch den mangelnden Zuspruch vonseiten der Ärzteschaft galt es Ende der 1950er Jahre, den Gesundheitsschutz überhaupt zu retten und die umworbene Profession für sich zu gewinnen.57 Die dafür eingerichteten neuen Organe, die Ständige Kommission für medizinische Wissenschaft und Fragen des Gesundheitswesens sowie die Abteilung Gesundheitspolitik des ZK, bereiteten hierfür einen Perspektivplan vor, der auf der ‚Weimarer Gesundheitskonferenz‘ 1960 beschlossen wurde.58 Wie in der Sowjetunion sollte ein Rat die zentrale Lenkung und Koordinierung übernehmen, dem der damalige Präsident des Deutschen Roten Kreuzes in der DDR (DRK), Werner Ludwig (1914–2001), von 1963 bis 1976 vorstand. Ludwig genoss nicht nur einen parteipolitisch ausgezeichneten Leumund. Er leitete mit dem DRK auch eine Massenorganisation, die international anerkannt war, in Kontakt mit ihrem westdeutschen Gegenpart stand und unzweifelhaft 55 Vgl. Winter (1962), S. 81–92; Timmermann (2005); Timmermann (2010); Madarász-Lebenhagen (2015); am Beispiel der Stress- und Kreislaufforschung: Gausemeier (2019), S. 320–324, 332–335. 56 ‚Studienreise von Rolf Thränhardt und Otto Kunkel in die SU, 23.9. bis 5.10.1959‘: BArch, DQ 1/20542, unpaginiert, hier S. 42 ff. 57 Vgl. Mette/Misgeld/Winter (1958). 58 Vgl. Schagen/Schleiermacher (2004), S. 429 ff.
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das hohe humanistische und zugleich unpolitische Prestige der selbstlosen Sorge um die Gesundheit Aller für sich reklamieren konnte.59 So hatte das Rote Kreuz mit seinem Apparat die besten Ausgangsbedingungen, um die geforderte Breitenwirkung der Gesundheitserziehung zu bewerkstelligen. Ab 1959 hatte es sich bereits um die „administrative Seite“ der Gesundheitserziehung gekümmert, als das Ministerium überlastet zu sein schien.60 Ludwig als Präsident und Thränhardt als Generalsekretär des NKGE stiegen zu zentralen Figuren der Gesundheitserziehung in der DDR der 1960er Jahre auf.61 Das NKGE galt als Organ, das viele Aufgaben zu erfüllen versprach: Die thematischen Schwerpunkte bestimmen, die Gesundheitserzieherinnen und ihre als ‚Kampagnen‘ zu gestaltenden Erziehungs- und Aufklärungsbemühungen koordinieren, die fachliche Kompetenz versammeln und die Politik beraten sowie das propagierte Idealbild des Gesundheitsschutzes als gesamtgesellschaftliche Aufgabe versinnbildlichen. Seine Gründung war damit Ausdruck der Institutionalisierung der Gesundheitserziehung entsprechend der Vorstellung einer staatsweiten, rationalen Ordnung. In dieser entwarf, produzierte und evaluierte das Hygiene-Museum die Erziehungsmittel und deren Wirkung. Das DRK fungierte als Transmissionsriemen und die Kreis- und Bezirkskomitees für Gesundheitserziehung garantierten die Breitenwirkung in der Provinz. Das NKGE erfüllte aber auch noch andere Funktionen. Eine Vollmitgliedschaft in der Internationalen Union für Gesundheitserziehung und damit ein weiterer Schritt zur Anerkennung der DDR als souveräner Staat war mit dem offiziell nicht-staatlichen Nationalkomitee leichter als mit dem Hygiene-Museum.62 Das NKGE und die neue institutionelle Ordnung der Gesundheitserziehung, die es maßgeblich mitformte, verfestigte letztlich aber vor allem den demokratischen Zentralismus: Sie integrierte eine Professionsgruppe aus medizinischen, pädagogischen und sozialwissenschaftlichen Expertinnen, das dieser im Rahmen der ideologischen Sagbarkeitsgrenzen gewisse Freiheiten und (sozial-)politische Relevanz versprach und ‚nur‘ die Demonstration der staatlichen Sorge um die Gesundheit der Bürger einforderte. Auch dem Hygiene-Museum wurden nach mehreren Abspracheschleifen Aufgaben über die Gesundheitserziehung hinaus zugewiesen. Es hatte ebenso das außenpolitische Interesse an der Anerkennung der DDR zu bedienen sowie die „Gewinnung neuer Absatzmöglichkeiten“ durch die „Demonstration des hohen methodischen und technischen Standards der anatomischen und
59 Vgl. Riesenberger (2002), S. 490–519. 60 Vgl. ‚Kommuniqué und Beschlussfassung der VI. Sitzung des Präsidiums des DRK der DDR, 4.12.1959‘: BArch, DQ 1/5105, Bl. 49–52; ‚Thränhardt, Rolf: Grundkonzeption unserer zukünftigen Arbeit, 25.1.1960‘: HSA DD, 13658, Nr. 60/26, unpaginiert, hier S. 2. 61 Vgl. Zentralkomitee der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands/Bundesvorstand des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes / Ministerium für Gesundheitswesen (1960), S. 22, 53; zur Gründung des NKGE: BArch, DQ 1/6018, passim. 62 Viborel: IUHEP (1958); Viborel: How (1958).
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biologischen Lehrmittelproduktion“ zu verfolgen.63 Das fand am HygieneMuseum nicht nur Zustimmung. Die Frage blieb, wie diese disparaten Zwecke unter einem Dach zusammengebracht werden könnten.64 Der gefundene Konsens, der das Institut für Gesundheitserziehung (IfG) gleichrangig neben das Institut für biologisch-anatomische Unterrichtsmittel und Anschauungsmaterialien (IfU) stellte, wurde 1967 in einem neuen Statut sanktioniert. Das DHMD in der DDR wurde in beiden Bereichen zum „leitenden Zentralinstitut“.65 Es hatte nunmehr sowohl nach dem Prinzip der wirtschaftlichen Rechnungsführung biologische Lehr- und Anschauungsmittel mit Aussicht auf Exportgeschäfte zu produzieren als auch sozialistische Bürger zu formen.66 Zum Ende der 1960er Jahre hatte sich die Modernisierer-Generation der Gesundheitserzieher in der DDR ihre Organe gebildet und damit ein stabiles Feld abgesteckt. Über die Mitgliedschaft in der Internationalen Union für Gesundheitserziehung hatten sie Anerkennung der und Aufnahme in die internationalen Kreise der Profession gefunden. Auf der konzeptionellen Ebene hatten sie ihre Arbeit als eine pädagogische definiert, die mit dem Leitbild der sozialistischen Persönlichkeit und in Einklang mit internationalen Trends unter Zuhilfenahme einer vorrangig sozialwissenschaftlichen und psychologischen Begründungs- und Begleitungsforschung gesunde Lebensweisen formen wollte.67 Dynamiken und Grenzen der Gesundheitserziehung in der DDR Hatten die Gesundheitserzieherinnen ihre strukturellen Ziele erreicht, so gestaltete sich ihre Arbeit in der Praxis bei Weitem schwieriger. Das fing damit an, dass sie Gesundheitserziehung im Hinblick auf ihren ideologisch-sozialistischen Charakter als nicht hinreichend konkret bestimmt betrachteten. Es fehle, so war aus dem IfG und dem Ministerium für Gesundheitswesen zu hören, der Klassenstandpunkt einer sozialistischen Gesundheitserziehung, konkret die Umsetzung als „bewusstseinsbildender Prozess“, der über die 63 ‚Protokoll der Ministerdienstbesprechung vom 6.9.1965, 7.9.1965‘: BArch, DQ 1/6162, unpaginiert, hier S. 2 ff. Siehe ferner: ‚Thränhardt, Rolf: Ordnung über den Verantwortungsbereich bei der Organisation von Ausstellungen und Messebeteiligungen des Deutschen Hygiene-Museums, Dresden, im Ausland, in Westdeutschland und in Westberlin, 27.8.1965‘: ebd., hier S. 1. 64 Vgl. ‚Protokoll der Diskussion zur Wahlberichtsversammlung der BPO des DHM, 20.4.1964‘; ‚Protokoll der Leitungssitzung der BPO des DHM, 22.6.1964‘ sowie ‚Protokoll der außerordentlichen Leitungssitzung der BPO am DHM, 18.2.1965‘: HSA DD, 13658, Deutsches Hygiene-Museum 1945–1991, Nr. 387/1, unpaginiert. 65 Minister für Gesundheitswesen (1967). 66 Vgl. ebd., S. 40; ‚Protokoll der Ministerdienstbesprechung am MfG vom 14.3.1966, 18.3.1966‘: BArch, DQ 1/24181, unpaginiert. Siehe hierzu auch die Diskussionsbeiträge auf der ‚Wahlberichtsversammlung der BPO des DHM am 7.11.1966‘: HSA DD, 13658, Deutsches Hygiene-Museum 1945–1991, Nr. 387/1, unpaginiert. 67 Vgl. hierzu auch Sammer (2020), Kap. 4.3. und 5.2.
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Schaffung sozialistischer Persönlichkeiten eine gesamtgesellschaftliche Fortentwicklung des Sozialismus erziele. Gesundheitsbewusste Verhaltensweisen müssten aus einem Verantwortungsgefühl des Einzelnen gegenüber der Gesellschaft motiviert werden. Doch hier mangele es vor allem an der „politischideologischen Qualifizierung der Mitarbeiter“.68 Rudolf Lämmel, Anfang der 1970er Jahre Mitarbeiter in der Hauptabteilung System der medizinischen Betreuung im Ministerium für Gesundheitswesen und ab 1973 Nachfolger Thränhardts sowohl im Sektor Gesundheitserziehung als auch als Generalsekretär des NKGE, zeigte sich entschieden: Es muß […] die systemneutrale Definition der Gesundheitserziehung ‚als Erziehungsprozess an sich‘ überwunden werden und als Gesamtheit jener erzieherischen und bildenden Maßnahmen in unserer Gesellschaft erfaßt werden, die auf die Entwicklung des Verantwortungsbewußtseins der sozialistischen Persönlichkeit und die Ausbildung gesundheitsfördernder Verhaltens- und Lebensweisen gerichtet wird.69
Eine sozialistische Gesundheitserziehung, das wird hier deutlich, hatte zum Ziel, ein Verantwortungsbewusstsein des Einzelnen für die Gesellschaft anzuerziehen. Das hieß im Kern, deren Normen anzuerkennen. Und daher sprach sich Lämmel auch entschieden gegen eine zu empirische Orientierung der Gesundheitserziehung in der DDR aus: Sie sei keine Wissenschaftsdisziplin mit Querschnittscharakter auf der Basis der „sogenannten Sozialwissenschaften“, sondern ein „parteiliches“ Instrument der herrschenden Arbeiterklasse.70 Während die Ideologen auf der einen Seite nach der sozialistischen Gesundheitserziehung fahndeten, versuchten die Pragmatiker, Gesundheitserziehung als Praxis zu strukturieren. Insbesondere die mangelhafte Zuständigkeitsabgrenzung zwischen den Organen auf nationaler Ebene sowie die fehlende Wirkung in der Breite wurden zu Beginn der 1970er Jahre beklagt. Vor allem schien es für die Gesundheitserzieherinnen an einem wirklichen Interesse des Ministeriums für Gesundheitswesen oder übergeordneter parteipolitischer Stellen der Gesundheitspolitik zu fehlen, die Anleitung des NKGE und des DHMD zu übernehmen. Problematisch war dies vor allem deswegen, weil die Fürsprache des Ministeriums notwendig erschien, um den „wissenschaftlichen Vorlauf“ zu garantieren. Nur Stellen in einer höheren Hierarchieebene als die Organe der Gesundheitserziehung konnten dafür Sorge tragen, den an anderen Ministerien angegliederten Instituten einer wissenschaftlichen Gesellschaftsbeobachtung Belange der Gesundheit und der Gesundheitserziehung aufzuerlegen.71 68 Vgl. ‚Stichwortprotokoll über eine Besprechung am 19.2.1970‘: BArch, DQ 113/10, unpaginiert. Vgl. ebenso Gausemeier (2019), S. 328–332. 69 Lämmel (1970), S. 150. 70 Ebd., S. 151. 71 Vgl. ‚Diskussionsprotokoll der Berichtswahlversammlung der BPO des Deutschen Hygiene-Museums, 9.3.1971‘: HSA DD, 13658, Deutsches Hygiene-Museum 1945–1991, Nr. 387/1, unpaginiert. Exemplarisch für eine programmatische Publikation aus den frühen Jahren der Gesundheitserziehung: Komitee für gesunde Lebensführung und Gesundheitserziehung in der DDR (1967).
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Um die Lösung der konzeptionellen Klagen bemüht, regierten die Gesundheitserzieher mit einer enormen publizistischen Betriebsamkeit: Mit drei Jahresberichten legte das Institut für Gesundheitserziehung Rechenschaft darüber ab, was es in den Bereichen der Wissenschaftsorganisation, Forschung, Aus- und Weiterbildung und Dokumentation erreicht hatte. 1972 wurden diese jedoch wieder eingestellt, weil sich deren Autorinnen zu empirisch und zu wenig ideologisch gezeigt hatten.72 Methodisch-didaktische Reihen wie die Methodik der Gesundheitserziehung, Mitteilungen für Gesundheitserzieher bzw. Mitteilungen zur Gesundheitspropaganda und Gesundheitserziehung sowie Informationsund Argumentationsmaterialien zur Gesundheitserziehung sollten dazu dienen, den Gesundheitserziehern in den Komitees für Gesundheitserziehung der Kreise und Bezirke, aber auch in Schulen und medizinischen Einrichtungen Orientierung an die Hand zu geben. Durchsetzt mit ideologischen Leerformeln des Bekenntnisses zur Formung sozialistischer Persönlichkeiten versuchten die Gesundheitserzieherinnen gleichwohl ihre Tätigkeit konkret zu bestimmen und dies zu kodifizieren. Insbesondere mit dem 1973 und 1978 in zwei Auflagen von Werner Ludwig verantworteten Grundriß der Gesundheitserziehung versuchten sie, Gesundheitserziehung in eine Handbuchwissenschaft zu überführen: Das Autorenkollektiv benannte die Modifikation riskanter Verhaltensweisen – Risikofaktoren – als Ziel der Arbeit. Es wiederholte die Überzeugung, dass mit dem Sozialismus alle Voraussetzungen für eine gesunde Lebensführung gegeben seien – wenn die Bürgerinnen nur zur rationalen Einsicht, zum richtigen Bewusstsein gebracht würden.73 1980 schlossen die beiden – analytisch voneinander unterschiedenen – Gruppen von Gesundheitserziehern ihre langjährige Suche nach einer ebenso langfristigen Zusammenarbeit mit dem Prager Partnerinstitut nach einer genuin sozialistischen Gesundheitserziehung mit dem Terminologischen Wörterbuch der Gesundheitserziehung ab.74 Eine sozialistische Gesundheitserziehung war demnach eine sozialistische Erziehungsarbeit mit sozialistischen Persönlichkeiten als Ziel.75 In der Praxis bemühten sich die Gesundheitserzieher um zweierlei: Sie strebten erstens danach, Gesundheitserziehung als Querschnittsthema in allen pädagogischen Bereichen zu etablieren, um „alle Ausbildungskomplexe“ zu durchdringen.76 Und über die Kooperation mit den Massenorganisationen versuchten sie, wirksame, themenspezifische und multimediale Gesundheitskampagnen zu starten. So brachte eine einseitige Anzeige des Hygiene-Museums im Magazin Deine Gesundheit 1974 beispielsweise eine affirmative Botschaft des Nicht-Rauchens visuell kraftvoll und zielgruppenspezifisch (Männer 72
Deutsches Hygiene-Museum in der DDR Dresden – Institut für Gesundheitserziehung: Jahresbericht (1971); Deutsches Hygiene-Museum in der DDR Dresden – Institut für Gesundheitserziehung (1972). 73 Vgl. Ludwig (1973); Ludwig (1978). 74 Vgl. HSA DD, 13658, Deutsches Hygiene-Museum 1945–1991, K 17/2, passim. 75 Vgl. Institute für Gesundheitserziehung der sozialistischen Länder Europas (1980). 76 Deutsches Hygiene-Museum in der DDR Dresden – Institut für Gesundheitserziehung: 1. Symposium (1971), S. 37.
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Abb. 5: Mehr Luft statt Qualm! Anzeige des Deutschen Hygiene-Museums Dresden. In: Deine Gesundheit 20 (1974), S. 348.
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im mittleren Alter) als Zurückweisung der Versuchung vonseiten einer ‚dunklen Gestalt‘ zum Ausdruck (Vgl. Abb. 5).77 Der ergänzende Text erklärte parataktisch reihend den Wissensstand um die Gesundheitsgefahren des Rauchens und verdichtete Bild und Kommentar zur individuell appellativen Präventionsbotschaft, gar nicht erst mit dem Rauchen anzufangen. Der Claim „Sei klug – lebe gesund!“ setzte dieses Arrangement aus Text und Bild in Bezug zu anderen Plakaten und Anzeigen und fasste sie zu einer Kampagne zusammen, die von 1974 bis 1979 in der DDR lief. Dass diese Anzeige nur leicht verändert – identisch in der Bebilderung und nur geringfügig anders ausformuliert – zu einer Tafel der Kleinausstellung Guter Rat für Herz und Kreislauf des Hygiene-Museums (1976–1979) umgearbeitet wurde, brachte das Wissen um den Wert multimedialer Wiederholung zur Erhöhung der Wiedererkennbarkeit von Sender und Botschaft zum Ausdruck. Diese galt als Voraussetzung der Möglichkeit einer Rezeption, so die damaligen Werbefachleute. Ebenfalls spiegelte sich in der mehrfachen Verwendung dieser Bild-Text-Komposition in unterschiedlichen medialen Kontexten die von den Gesundheitserziehern formulierte Forderung, für eine Kampagne mit unterschiedlichen Akteuren der Öffentlichkeit zusammenzuarbeiten.78 Um die Wirkung ferner zu sichern, kam die Ausstellung als Teil einer solchen Kampagne den anvisierten Zielgruppen so nahe wie möglich. Bisweilen ergänzte ein Begleitprogramm aus Vorträgen, Gymnastikübungen und Führungen die in Werkskantinen aufgebauten Tafeln, Selbsttest- und Quizapparate. Dass Gewerkschafts- und Parteifunktionäre die Besucherinnen zu mobilisieren hatten, steht dabei aber nicht nur für diese Bemühungen um ‚Barrierefreiheit‘, sondern auch für das Problem, angesichts der geringen Nachfrage überhaupt Personen in die Ausstellungen zu bekommen.79 Mit viel Aufwand setzten die Gesundheitserzieher ihre Forderung um, über massenmediale Kanäle zielgruppenspezifische, präventive Verhaltensweisen zu bewerben. Vom vermeintlich modernsten Medium, den 60-sekündigen Fernsehspots im Werbefernsehen, musste man sich aber bereits zur Mitte der 1970er Jahre wieder trennen, als dieses Programm aus Gründen der sozialistischen Sparsamkeit eingestellt wurde.80 Neben dieser Arbeit der öffentlichen Kommunikation bemühten sie sich zweitens nachdrücklich um eine intensive Kooperation mit pädagogischen Instanzen des Hoch- und Fachschulwesens. Ziel war es hier, ein spezifisches pädagogisches Unterrichtsfach zu etablieren, um ein eigenes akademisches Berufsfeld zu kreieren. Doch das Projekt, einen ‚Gesundheitserzieher‘ als Hochschulberuf zu schaffen, um die Breitenwirkung zu verbessern, litt trotz der Unterstützung durch die Ministerin für Volksbildung, Margot Honecker, be77
Deutsches Hygiene-Museum in der DDR (1974). Zur Zeitschrift siehe: Barck/Langermann/Lokatis (1999); Bobsin (2013); Classen (2010); Mühlberg/Hertel/Bertram (1999); Linek (2016), S. 88–107. 78 Vgl. Müller (1971). 79 Vgl. HSA DD, 13658, Au Nr. 164/1, passim, sowie DHMD, Leporello 51. 80 Vgl. Tippach-Schneider (2004).
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reits zu Beginn 1972 an dem gleichen Problem wie die Ausstellung des Hygiene-Museums zu dieser Zeit – dem geringen Zuspruch.81 Im Laufe der 1970er Jahren spielten sich die Kommunikationswege unter den Organen der Gesundheitserziehung ein. Auf Symposien des IfG bereiteten die Gesundheitserzieherinnen die nationalen Konferenzen des Nationalkomitees vor und verschickten Materialien und Referate aus den themenspezifischen Arbeitsgruppen, die vor der Veröffentlichung mehrmals gegengelesen und daraufhin korrigiert oder revidiert wurden – in Relation zum Grad ihres Status mehr oder weniger umfassend ideologisch gerahmt. So wurde ihre öffentliche Diskussion abhängig von der Zustimmung nicht nur des Ministeriums für Gesundheitswesen, sondern auch des Koordinierungsrats der medizinischwissenschaftlichen Gesellschaften, des Rats für Planung und Koordinierung der medizinischen Wissenschaften sowie bisweilen auch der Abteilung Gesundheitspolitik beim Zentralkomitee der SED.82 Thematisch fokussierten diese Arbeitstagungen neben der andauernden Selbstvergewisserung, sozialistische Persönlichkeiten mit sozialistischen Lebensweisen zu formen, auf die bekannten Risikofaktoren vor allem der vermeintlich leichter zu beeinflussenden Gruppen der Kinder und Jugendlichen. Sie problematisierten das Rauchen, den Alkoholkonsum, eine unausgewogene Ernährung sowie ein zu geringes Bewegungspensum als Ausdruck einer fehlenden sozialistischen Lebensweise.83 Doch eigentlich steckte die Gesundheitserziehung in der DDR in einer Zwickmühle. Abgesehen davon, dass sie unablässig für Deviseneinnahmen und das internationale Prestige der DDR zu kämpfen hatten, konnten ihre Proponenten gesundheitliches Fehlverhalten offiziell nur als mangelndes Bewusstsein einer nicht hinreichend entwickelten Persönlichkeit deuten. In Einklang mit ihrer Definition der Gesundheit als eines optimierbaren Zustands, die eine gezielte „Konditionssteigerung des Organismus“84 zu befördern hatte, reagierten sie auf die Beobachtung ungesunder Verhaltensweisen eintönig: Es brauche mehr Vorbildhaftigkeit, Wissenschaftlichkeit (im Sinne einer zu erarbeitenden evaluativen Beurteilung der Wirksamkeit der eigenen Methoden), mehr systematische und ideologische Anleitung, mehr Koordination und mehr Tiefenwirkung.85 Was die Gesundheitserzieher auch konkret unter81
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Vgl. ‚Materialien und Stellungnahmen zur Gesundheitserziehung im Bereich der Volksbildung 1972–1979‘: BArch, DR 2/27913, passim; ‚Margot Honecker an Minister für Hoch- und Fachschulwesen Genossen Prof. Böhme, 26.1.1977‘: BArch: DR 2/28139, unpaginiert. Vgl. ferner Karsdorf/Kneist/Taubert (1974). Vgl. ‚Vorlage: Gutachten zum Tabakproblem in der DDR für die Ministerdienstbesprechung des Ministeriums für Gesundheitswesen, 28.9.1976‘: BArch, DQ 1/14175, unpaginiert. Deutsches Hygiene-Museum (1969), S. 25; ‚Ministerdienstbesprechung über die VI. Konferenz zur Gesundheitserziehung über Jugend und Gesundheit am 13. und 14.5.1977, 22.3.1977‘: BArch, DQ 1/24206, unpaginiert. Vgl. Deutsches Hygiene-Museum in der DDR Dresden – Institut für Gesundheitserziehung: Jahresbericht (1971), S. 18 f. Vgl. exemplarisch ‚Vorlage: Konzeption für die Entwicklung des Deutschen HygieneMuseums in der DDR für den Zeitraum 1977–1980‘: BArch, DQ 1/24206, unpaginiert,
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nahmen, wie sehr sie die sozialistische Persönlichkeit auch anriefen, die Bürger der DDR bewegten sich zu wenig, rauchten und tranken viel – und bewerteten Letzteres durchwegs positiv.86 Durch unterschiedlichste Erhebungen der sozialen Realität war ihnen dies auch deutlich bewusst. Sie führten in den 1970er Jahren einige intervenierende Modellprojekte beispielsweise in Magdala, Seelow, Berlstedt und Erfurt durch, die in einem mehrstufigen Prozess zwischen Provinz, IfG und DHMD organisiert und ausgewertet wurden.87 Sie tauschten sich mithilfe von Querschnittsbefragungen unter Medizinstudierenden über die Kritik an einer populärmedizinischen Aufklärungstätigkeit aus.88 Sie evaluierten die Kenntnisse und Meinungen von Industriearbeitern zu Krankheit und Gesundheit, führten mit Fragebögen Erhebungen zum Interesse der Besucher von populärmedizinischen Vorträgen durch und entwickelten ähnliche Befragungsinstrumente zur Wahrnehmung und Aufmerksamkeitswirkung von Plakaten der Gesundheitserziehung.89 Tschechoslowakische Kolleginnen erzählten ihnen von ihren repräsentativen Befragungen zum Stand des Gesundheitsverhaltens in der Bevölkerung.90 Und auch die westlichen Entwicklungen registrierten sie genau, kooperierten jedoch nur behutsam und pro forma.91 Sie wussten Bescheid über die Beeinflussung des individuellen Handelns durch peers und das Image bestimmter Verhaltensweisen.92 Genau diesen Zusammenhang schlossen sie auch aus den Studien des Leipziger Zentralinstituts für Jugendforschung, welche sie ab Mitte der 1970er Jahre in Sachen Gesundheitseinstellungen und Gesundheitshandeln sekundär auswerteten.93 Einen eigenen Studienverbund, der eine solche Einstellungs- und Verhaltensforschung mit klinischen Daten, pädagogischen Interventionsstudien und einer evaluativen Wirkungsforschung verband, konnten sie jedoch erst in der zweiten Hälfte der 1980er
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hier S. 5; ‚Beratung der weiteren Entwicklung der Gesundheitserziehung in der DDR für den Zeitraum 1976–1980, 18.9.1976‘: BArch, DQ 1/14175, unpaginiert; Lämmel (1981). Vgl. Kochan (2011). Vgl. ‚Stichwortprotokoll über eine Besprechung zwischen Mitarbeitern des Ministeriums für Gesundheitswesen, Nationalkomitees für Gesundheitserziehung und des Deutschen Hygiene-Museums am 19.2.1970‘: BArch, DQ 113/10, unpaginiert. Vgl. Deutsches Hygiene-Museum in der DDR Dresden – Institut für Gesundheitserziehung: 1. Symposium (1971), S. 36. Vgl. Deutsches Hygiene-Museum (1969), S. 18–21; Deutsches Hygiene-Museum – Institut für Gesundheitserziehung (1976). Vgl. Štaifova (o. J., ca. 1980). Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (1973) und darin: Ludwig: Deutsche Demokratische Republik (1973). Siehe ebenso: ‚Positionspapier zur 31. Tagung des WHORegionalkomitees (Gesundheitserziehung und Lebensweise – Gesundheit für alle bis zum Jahr 2000), 15.8.1981‘: BArch, DQ 1/14175, unpaginiert. Vgl. Breuer (o. J., ca. 1983); Nationales Komitee für Gesundheitserziehung (1986). Vgl. Erler (o. J., ca. 1983); HSA DD, 13658, Deutsches Hygiene-Museum 1945–1991, Nr. M55, Anlage 1.0 bis 1.3, unpaginiert, hier Anlage 1.0. Zum 1966 gegründeten Institut und seinen Studien vgl. Hennig/Friedrich (1991); Friedrich/Förster Peter/Starke (1999).
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Jahre etablieren.94 Sie hätten damit die Entwicklung zur Health Promotion durchaus mitgehen können, welche sich genau aus der Erkenntnis der sozialen Prägung individuellen Verhaltens ergab, und aus der professionellen Zielrichtung heraus begann, Forderungen nach der gesundheitsförderlichen Umgestaltung sozialer Settings zu formulieren. Doch bei den Ideologen und in den politischen Entscheidungsgremien bestand an einer solchen aktiven, reformerischen Fortentwicklung der DDR kein Interesse mehr. 1978 zirkulierten beispielsweise Materialien zum Tabakkonsum in der DDR.95 Kurze Zeit später folgte eine ähnliche Sammlung zum Virulenz des Alkoholismus. Beide Papiere problematisierten Gesundheitsverhalten und indizierten gesellschaftspolitischen Handlungsbedarf. Intern verständigte man sich sofort, dass man „kein einseitig administratives Vorgehen“ – Beschränkungen für die Industrie und im sozialen Raum – überstürzen solle.96 Gleichwohl hatten die Gesundheitserzieher eine Grenze überschritten, als sie sich dem realen Gesundheitsverhalten zuwendeten und vom Parteitag der SED die Errichtung eines Komitees für Volksgesundheit sowie das Bekenntnis zur WHO-Strategie ‚Gesundheit für alle bis zum Jahr 2000‘ forderten.97 Zwischen 1980 und 1983 wurde daraufhin das gesamte Leitungspersonal der Organe der Gesundheitserziehung – des Hygiene-Museums, des Instituts für Gesundheitserziehung, des Deutschen Roten Kreuzes, des Nationalkomitees für Gesundheitserziehung und sogar das der Abteilung Gesundheitspolitik des ZK – ausgetauscht. Das NKGE wurde aus Ost-Berlin ins HygieneMuseum nach Dresden zwangsversetzt.98 Den Gesundheitserziehern waren deutlich ihre Grenzen aufgezeigt worden: Gesundheitliche Problemlagen auf gesellschaftlicher Ebene durften nicht thematisiert werden – gesellschaftliche Verhältnisse standen nicht zur Disposition. Die letzten Jahre der DDR standen auch in der Gesundheitserziehung im Zeichen der Rationalisierung: Für das Hygiene-Museum bedeutete dies, noch intensiver als zuvor Devisen zu generieren und mit den Fonds für Importe aus dem nicht-sozialistischen Westen sparsam umzugehen. Die Publikationen und Anleitungsmaterialien des IfG wurden zurückgefahren und die Dauerausstellung des Dresdner Museums wurde wieder als günstiges Medium einer Auf-
94 ‚Abbruchbericht M55, Anlage 1.0‘: HSA DD, 13658, Deutsches Hygiene-Museum 1945– 1991, Nr. M55, Anlage 1.0 bis 1.3, unpaginiert. Das Zentralinstitut für Jugendforschung beteiligte sich jedoch an dieser Studie wegen „geforderten inhaltlichen und methodischen Kompromissen“ nicht. Vgl. Friedrich (1997), S. 96. 95 Nationales Komitee für Gesundheitserziehung der Deutschen Demokratischen Republik (1978). 96 ‚Vorlage: Gutachten zum Tabakproblem in der DDR für die Ministerdienstbesprechung des Ministeriums für Gesundheitswesen, 28.9.1976‘; ‚Brief des stellvertretenden Ministers für Volksbildung Dietzel an das NKGE, 21.5.1979‘: BArch, DQ 1/14175, unpaginiert. 97 Zum WHO-Konzept, das heute als wichtiger Beitrag zur Revitalisierung und Neumodulation von (New) Public Health gesehen wird, siehe knapp: Hirnschall (1999). 98 Vgl. Lämmel (2002), S. 115–118; Lämmel (2003), S. 104–107; Mecklinger (1983).
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klärung in engem und persönlichem Kontakt mit den Zielgruppen entdeckt.99 Die letzten Verantwortlichen des NKGE, des Dresdner Museums und des Instituts für Gesundheitserziehung versuchten nochmals mit einem Konzept der Gesundheitserziehung als „offener Kommunikation“ und einem erweiterten Begriff der Gesundheitsförderung Verschiebungen vorzunehmen. Doch in ihren Erinnerungen berichten sie von „Widerständen im Haus“ und die Akten des Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen zeugen von einer bereitwilligen Selbst-Zensur.100 Schluss Gesundheitserziehung war in der DDR seit den 1950er Jahren einem mit Pavlov hergeleiteten Idealbild der sozialistischen Persönlichkeit verpflichtet, das durch seine Dialektik durchaus utopisches Potenzial besaß. Mit Methoden einer systematischen Beobachtungs- und Wirkungsforschung wollten die Pragmatiker unter den Gesundheitserziehern gesunde Lebensweisen schaffen und erkannten, wie sehr diese von ihren sozialen Kontexten abhingen. Doch ihren Professionseifer auf diese zu richten, wurde ihnen aus ideologischen Gründen verwehrt, denn die Utopie Gesundheit galt mit der Etablierung des Sozialismus als bereits umgesetzt. So mussten die Gesundheitserzieherinnen ihre durchaus problematisierenden Erkenntnisse, ihre Ziele und Methoden in die normative Sprache des Regimes einbetten.101 Daher blieb Gesundheitserziehung ein Instrument, mit dem eine „Pfadfinderideologie vom ‚richtigen‘ Leben“ in eine pädagogische Praxis umgesetzt werden sollte.102 Als in den 1980er Jahren im internationalen Gespräch wieder vermehrt über die gesellschaftlichen Bedingungen von Krankheit und nunmehr Gesundheit nachgedacht wurde und die Gesundheitsförderer entsprechende politische Forderungen formulierten, bekamen die Gesundheitserzieher in der DDR ideologische Grenzen aufgezeigt. Das Soziale durfte öffentlich nicht als das zu Verändernde dargestellt werden. So war es auch nur folgerichtig, dass, um den Anschein der Stimmigkeit des ideologischen Anspruchs aufrechtzuerhalten, gesunde Lebensbedingun99 Vgl. ‚Ministerdienstbesprechungen am 7. und 14.7.1981‘: BArch, DQ 1/6588, unpaginiert; Interview von Lioba Thaut mit Jochen Neumann, Chemnitz, am 11.11.2013. Ich danke Lioba Thaut für die Überlassung des Transkripts ihres Interviews mit dem letzten Generaldirektor des Deutschen Hygiene-Museums. 100 Vgl. Interview von Lioba Thaut mit Peter Voß, Leipzig, am 30.12.2013; ‚Jochen Neumann und Peter Voß: Reisebericht zur Teilnahme am Treffen der Kooperationszentren der WHO für Gesundheitserziehung und zur Teilnahme an der Beratung über die Infrastruktur der Gesundheitserziehung in Europa, 9.–13.6.1987, 22.6.1987‘: BStU, MfS, HA XX, Nr. 7154, Bl. 180–186. 101 Vgl. zur diktatorischen Praxis als kommunikative Praxis Jessen (1997); Jessen (2011) und als Quellenbeispiel: Deutsches Hygiene-Museum in der DDR Dresden – Institut für Gesundheitserziehung: 1. Symposium (1971). 102 Niehoff/Schrader (1991), S. 54; siehe ebenso: Niehoff (1990).
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gen im Sozialismus realisiert zu haben, das Ministerium für Umweltschutz und Wasserwirtschaft der DDR nur einige Monate vor dem Ende der DDR 1989 durchsetzte, dass Dresden nicht am ‚Healthy City Projekt‘ der WHO teilnehmen durfte. Eine internationale Verpflichtung, Belange des gesundheitlichen Wohlergehens der Bürger in alle kommunalen Entscheidungsprozesse einzubeziehen, um die strukturellen Gesundheitsbedingungen im Setting der Stadt zu verbessern, machte den Verantwortlichen Angst. In Anbetracht der hohen Umweltbelastung durch Probleme der Abwasserwirtschaft, der chemischen Industrie sowie der Energiewirtschaft (Braunkohle) in Dresden, so das Argument aus dem Ministerium, würde die Teilnahme an diesem Projekt bei den Bürgerinnen nur „Erwartungshaltungen, ja Forderungshaltungen [… wecken], die unter den jetzigen gegebenen Möglichkeiten nicht erfüllt werden können“. Vor allem bereitete der Umstand Sorge, dass „bei einer Teilnahme am Projekt bestimmte Daten auch international veröffentlicht werden müssten“.103 Nicht nur an dieser Stelle befanden sich die Gesundheitserzieher eigentlich an einem Punkt, an dem ihre Ziele sie zu Sozialreformern hätten machen müssen. Sie hätten den Staat, für den sie sprachen, drängen müssen, der immer behaupteten Präventionsverantwortung nachzukommen und die soziale Bedingtheit gesunder und krankheitsriskierender Verhaltensweisen nicht nur dialektisch zu deklarieren, sondern auch zu sanktionieren. So blieben die Gesundheitserzieherinnen Sozialreformer im Namen der Gesundheit, ohne etwas Soziales, das reformiert hätte werden dürfen. Bibliographie Quellen Bundesarchiv Berlin (BArch) DQ 1/5105 DQ 1/20542 DQ 1/5225 DQ 1/6018 DQ 1/22446 DQ 1/6162 DQ 1/24181 DQ 1/14175 DQ 1/24206 DQ 1/6588 DQ 113/10 DR 2/27913 DR 2/28139
103 Vgl. ‚Vermerk über eine Beratung zur Fragestellung der Teilnahme der Stadt Dresden am europäischen WHO-Projekt „Gesunde Städte“ am 19.9.1989‘: BStU, MfS, HA XX, Nr. 7154, Bl. 2 f. Zum Konzept der Gesunden Städte vgl. Böhme/Stender (2015).
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Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
PD Dr. med. Florian Bruns Studium der Humanmedizin, Geschichte und Philosophie. Approbation als Arzt (Universität Göttingen), M. A. in Zeitgeschichte (Freie Universität Berlin). Dissertation zur ‚Medizinethik im Nationalsozialismus. Entwicklungen und Protagonisten in Berlin (1939–1945)‘. Klinische Tätigkeit in der Inneren Medizin und wissenschaftlicher Mitarbeiter an medizinhistorischen Instituten in Erlangen, Berlin und Köln. Seit April 2018 am Institut für Geschichte und Ethik der Medizin der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Dr. rer. hum. Kathleen Haack Studium der Geschichte und Germanistik an der Universität Leipzig, Studium der Soziologie an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, seit 2013 Lehrauftrag an der Universitätsmedizin Rostock (Arbeitsbereich Geschichte der Medizin), seit 2016 wissenschaftliche Projektkoordinatorin in Vorbereitung zum 600jährigen Jubiläum der Medizinischen Fakultät Rostock. Forschungsschwerpunkte: Geschichte der Forensischen Psychiatrie, Psychiatrie im 20. Jahrhundert, ‚Euthanasie‘ in Mecklenburg und Pommern, Entwicklung der Nervenheilkunde an den Universitätsnervenkliniken in der SBZ und DDR, die Universität Rostock und die Staatssicherheit in der DDR. Seit 2019 wissenschaftliche Mitarbeiterin im BMBF Projekt ‚Seelenarbeit im Sozialismus: Psychologie, Psychiatrie und Psychotherapie in der DDR (SiSaP)‘ an der Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Universitätsmedizin Greifswald. Teilprojekt: Psychiatrie in der DDR zwischen Hilfe, Verwahrung und Missbrauch? (Universitätsmedizin Greifswald/Rostock) Dr. des. Christine Hartig Studium der Mittleren und Neueren Geschichte an der Universität Göttingen. 2014 Abschluss des Promotionsverfahrens mit einer Arbeit zu deutsch-jüdischen Geschichte. Christine Hartig war Stipendiatin der Max-Planck-Gesellschaft (2005–2008), Fellow am Leo Baeck Institute in New York (2006) und am United States Holocaust Memorial Museum in Washington, DC (2008). Sie arbeitete u. a. als Postdoc an der Universität Innsbruck zur Aufarbeitung von Gewaltverhältnissen in der Innsbrucker psychiatrischen Kinderbeobachtungsstation (2014–2015) und als wissenschaftliche Mitarbeiterin der Universität Ulm zu Arzneimittelstudien westlicher Pharmaunternehmen in der DDR (2017). Von 2018 bis 2019 untersuchte sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung Stuttgart Arzneimittelstudien an Heimkindern in Niedersachsen. Aktuell forscht Hartig am Lehrstuhl für Religions- und Kirchengeschichte der Universität Paderborn zum Thema sexueller Missbrauch in der katholischen Kirche.
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Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
Prof. Dr. med. Ekkehardt Kumbier Studium der Humanmedizin an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, Leiter des Referats Geschichte der Psychiatrie der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) und stellvertretender Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Geschichte der Nervenheilkunde (DGGN). Wissenschaftliche Arbeitsschwerpunkte sind die historische Aufarbeitung der Psychiatrie in der Nachkriegszeit, insbesondere in der SBZ und DDR, und der Verbrechen an psychisch Kranken und Behinderten während der NS-Zeit in Mecklenburg. Zusammen mit Prof. Dr. med. Hans Grabe Leitung des Teilprojekts „Psychiatrie in der DDR zwischen Hilfe, Verwahrung und Missbrauch?“ (Universitätsmedizin Greifswald/Rostock) im BMBF Projekt „Seelenarbeit im Sozialismus: Psychologie, Psychiatrie und Psychotherapie in der DDR“. Seit Ende des Jahres 2018 hat er die Leitung des Arbeitsbereichs Geschichte der Medizin an der Universitätsmedizin Rostock übernommen. Dr. phil. Pierre Pfütsch Studium der Geschichtswissenschaft und Germanistik an der Universität Mannheim. Abschluss mit dem Ersten Staatsexamen im November 2011. Von Januar 2012 bis Dezember 2014 Promotionsstipendiat am Institut für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung zur Bearbeitung des Themas ‚Prävention und Gesundheitsförderung in der BRD aus geschlechterspezifischer Perspektive‘. Von Januar 2012 bis Oktober 2016 Doktorand an der Philosophischen Fakultät der Universität Mannheim. Promotion zum Dr. phil. 2017. Seit Oktober 2015 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung Stuttgart. Seit Februar 2018 Lehrbeauftragter am Historischen Institut der Universität Mannheim. Seit Februar 2019 Redaktion der Zeitschrift Medizin, Gesellschaft und Geschichte. Dr. phil. Christian Sammer Von Oktober 2002 bis Dezember 2009 Magisterstudium der Geschichts- und Politikwissenschaften sowie der Soziologie an der Humboldt-Universität zu Berlin. Seit 2007 bis 2009 war er studentische Hilfskraft beim BMBF-Projektverbund ‚Das präventive Selbst. Geschichte präventiver Gesundheitspolitik‘ am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung. Für die Jahre 2010 bis 2013 erhielt er ein Promotionsstipendium des Deutschen Hygiene-Museums Dresden. Von 2013 bis 2014 wirkte er als wissenschaftlicher Mitarbeiter am DFG-Projekt ‚Geschlechterbilder und Präventionskonzepte kardiovaskulärer Erkrankungen in Deutschland, 1949–2000‘ am Institut für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz mit. 2015 bis 2017 war er dann wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Ethik, Geschichte und Theorie der Medizin an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster und arbeitete am DFG-Projekt ‚Paul Martini und die klinisch-therapeutische Forschung, 1920–1970‘. Im Februar 2018 absolvierte er die Pro-
Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
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motion an der Universität Bielefeld zur deutsch-deutschen Geschichte der Gesundheitsaufklärung 1945–1967. Seit März 2018 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Geschichte und Ethik der Medizin an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg. Dr. Markus Wahl Abschluss des Bachelorstudiums Lehramt für allgemeinbildende Schulen in den Fächern Geschichte und Gemeinschaftskunde (Politik/Wirtschaft/Recht) an der Technischen Universität Dresden im Jahr 2011. Von 2012 bis 2013 Masterstudium für Zeitgeschichte an der University of Canterbury, Neuseeland. Anschließend viermonatiges Praktikum am Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung in Dresden. Ab September 2013 erhielt er ein dreijähriges Stipendium der University of Kent in Großbritannien für das Dissertationsprojekt ‚Medical Memories and Experiences in Postwar East Germany, 1945– 1961‘. Promotion zum Ph. D. erfolgte 2017, und 2019 wurde seine Dissertation bei Routledge veröffentlicht. Seit Januar 2017 ist er als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung Stuttgart tätig, und sein Schwerpunkt ist die Erforschung von Patientenerfahrungen an den Beispielen Alkoholabhängigkeit und Diabetes in der DDR und im transnationalen Vergleich. Dr. phil. Anja Werner Promotion 2006 an der Universität Leipzig. Bis 2009 koordinierte sie das internationale Alexander-von-Humboldt-in-Englisch-Projekt der Vanderbilt University (USA). Danach war sie in der deutschen Erinnerungskultur tätig, u. a. als Referentin für Gedenkstättenarbeit der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur. Von 2014 bis 2019 war sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Geschichte und Ethik der Medizin der Martin-LutherUniversität Halle-Wittenberg tätig. Dr. Werner erhielt mehrere Forschungsstipendien und ist (Co-)Autorin bzw. Herausgeberin mehrerer Bücher, u. a. von The Transatlantic World of Higher Education (Berghahn Books 2012), Arzneimittelstudien westlicher Pharmaunternehmen in der DDR (Leipziger Universitätsverlag 2016) sowie zur Geschichte von Taubheit im deutschsprachigen Raum (transkript 2019). Sie beendet derzeit ihre Habilitationsschrift zu Expertendiskursen über Taubheit im geteilten Deutschland an der Universität Erfurt.
medizin, gesellschaft und geschichte
–
beihefte
Herausgegeben von Robert Jütte.
Franz Steiner Verlag
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66.
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ISSN 0941–5033
Nina Grabe Die stationäre Versorgung alter Menschen in Niedersachsen 1945–1975 2016. 425 S. mit 13 Abb., 30 Graf. und 2 Tab., kt. ISBN 978-3-515-11332-8 Susanne Kreutzer / Karen Nolte (Hg.) Deaconesses in Nursing Care International Transfer of a Female Model of Life and Work in the 19th and 20th Century 2016. 230 S. mit 6 Abb. und 9 Tab., kt. ISBN 978-3-515-11355-7 Pierre Pfütsch Das Geschlecht des „präventiven Selbst“ Prävention und Gesundheitsförderung in der Bundesrepublik Deutschland aus geschlechterspezifischer Perspektive (1949–2010) 2017. 425 S. mit 24 s/w-Abb., 22 Farbabb. und 64 Tab., kt. ISBN 978-3-515-11638-1 Gabrielle Robilliard Tending Mothers and the Fruits of the Womb The Work of the Midwife in the Early Modern German City 2017. 309 S. mit 10 s/w-Abb und 4 Tab., kt. ISBN 978-3-515-11668-8 Kristina Lena Matron Offene Altenhilfe in Frankfurt am Main 1945 bis 1985 2017. 303 S. mit 25 s/w-Abb., kt. ISBN 978-3-515-11659-6 Sylvelyn Hähner-Rombach / Karen Nolte (Hg.) Patients and Social Practice of Psychiatric Nursing in the 19th and 20th Century 2017. 211 S. mit 7 Tab., kt. ISBN 978-3-515-11716-6 Daniel Walther Medikale Kultur der homöopathischen Laienbewegung (1870 bis 2013)
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Vom kurativen zum präventiven Selbst? 2017. 360 S. mit 19 Diagr. und 4 Tab., kt. ISBN 978-3-515-11883-5 Florian Mildenberger Laienheilwesen und Heilpraktikertum in Cisleithanien, Posen, Elsass-Lothringen und Luxemburg (ca. 1850 – ca. 2000) 2018. 282 S. mit 16 s/w-Abb., kt. ISBN 978-3-515-12195-8 Pierre Pfütsch (Hg.) Marketplace, Power, Prestige The Healthcare Professions’ Struggle for Recognition (19th–20th Century) 2019. 256 S. mit 4 s/w-Abb. und 2 Tab., kt. ISBN 978-3-515-12294-8 Michael Teut / Martin Dinges / Robert Jütte (Hg.) Religiöse Heiler im medizinischen Pluralismus in Deutschland 2019. 139 S. mit 2 s/w-Abb., kt. ISBN 978-3-515-12423-2 Kay Peter Jankrift Im Angesicht der „Pestilenz“ Seuchen in westfälischen und rheinischen Städten (1349–1600) 2020. 388 S. mit 15 Ktn., kt. ISBN 978-3-515-12353-2 Nina Grabe Die stationäre Versorgung älterer Displaced Persons und „heimatloser Ausländer“ in Westdeutschland (ca. 1950–1975) 2020. 237 S. mit 11 Abb., kt. ISBN 978-3-515-12557-4 Ylva Söderfeldt Krankheit verbindet Strategien und Strukturen deutscher Patientenvereine im 20. Jahrhundert 2020. 117 S. mit 12 s/w-Abb., kt. ISBN 978-3-515-12654-0
ISBN 978-3-515-12671-7
9 783515 126717