Selbstentfaltung - Das Formen der Person und die Ausdifferenzierung des Subjektiven: Soziologische Übersetzungen II 9783839433591

The individual (as the name for that which is dispersed in the environment of the problem of the subject) is socially de

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Table of contents :
Inhalt
Vorwort: Selbstentfaltung – subjekttheoretische Aspekte einer soziologischen Theorie multipler Differenzierung
Detranszendentalisierung: Subjektivität im soziologischen Diskurs der Moderne
1. Ambivalente Subjekttheorie: Anthony Giddens und der zweideutige Existentialismus der Theorie einer reflexiven Moderne
I. Individualisierung als »Konsequenz der Moderne«
II. Dualität von »Handlung und Struktur«: Die Theorie der »Strukturation«
III. Identität in der »reflexiven Moderne«
IV. Differenzierung statt Strukturation
V. Inspirationen und Aspirationen: Spätmoderne »Existentialität«
Literatur
2. Diskurs – Macht – Subjekt: Foucaults Sozial-Existentialismus und die Pragmatisierung der Diskursanalyse
I. Der voreilige Abschied vom Subjekt
II. Freiheit zwischen Macht und Herrschaft
III. Ausdifferenzierung der Existenz: Die »Sorge um sich«
IV. Selbstbehauptung zwischen Aussage und Artikulation
V. Differenzierung der Selbstbehauptungen als funktionale Autonomisierung
Literatur
Individuation: Zur negativen sozialen Konstitution intentionaler Selbstbeziehung
3. Emergenz und aporetische Perspektivenübernahme: George Herbert Mead und die Aufgabe einer pragmatistischen Theorie der Subjekt-Genese
I. Vorrang der Intersubjektivität
II. Naturalistisch überspielte Zirkularität
III. Nötige Rekombinationen: Emergenz und Zeithorizont
IV. Entdramatisierte »Dualismen«
Literatur
4. Paradoxe Intersubjektivität: Michael Tomasello und die Vokabulare einer Evolutionstheorie der Intentionalität
I. Brückenbauversuche: Von der Natur des Menschen aus
II. Philosophische Anthropologie oder G. H. Mead: Brückenbau-Surrogate
III. Tomasello und die Infrastruktur der »geteilten« Intentionalität
IV. Was heißt also Evolution von Intentionalität?
Literatur
5. Unstillbares Begehren nach Identität und Verlust der Repräsentation: Die relationale Psychoanalyse und die Quellen der Individuation
I. Die Psychoanalyse der Soziologie: Sublimierung einer Rezeption
II. Die Soziologie der Psychoanalyse: Intersubjektivistische Wende
III. Aporien der Intersubjektivitätstheorie
IV. Interiorisierung und Intransparenz: Ein hermeneutisch-pragmatistischer Zugang
V. Metamorphosen des Symbolischen und Ausdifferenzierung des Selbst
VI. Soziale Differenzierung und Selbstentfaltung
Literatur
Ausdifferenzierung: Subjektivierung in gesellschaftlichen Übersetzungsverhältnissen
6. Selbstbehauptung – postmoderne Fragmentierung oder Identität von Personen im Zeichen funktionaler Differenzierung?
I. Postmoderne Phantasien
II. Kritische Theorie der kommunikativen Behauptung eines Selbst
III. Objektive und subjektive Individualisierung
IV. Polyphrenie und Exklusionsindividualität?
V. Kommunikative Selbstbehauptung
VI. Multiple Kontexte und Formen der Selbstbehauptung
VII. Selbstbehauptung und Respezifikationsfunktion
Literatur
7. Wie ist das Bewusstsein am Diskurs beteiligt?
I. Cartesianische Introduktionen
II. Ein soziologisches Interesse am Diskursbegriff
III. Unverträgliche Diskursbegriffe
IV. Performativität als tertium comparationis
V. Abweichung, Wiederholung oder Spezifikation: Implizites Wissen
VI. Diskurs als Instruktion
VII. Methodische Folgen
Literatur
8. Die Übersetzung der Person: Zum Beitrag des Individuums zur gesellschaftlichen Koordination des Handelns
I. Von der normativen Integration der Gesellschaft zur differenzierten Koordination des Handelns
II. Die Integration von Handlungen und der Status der Person
III. Personen als eigene Integrationseinheiten
IV. Differenzierte Personen-Formate
V. Personale Übersetzungsverhältnisse
Literatur
Drucknachweise
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Selbstentfaltung - Das Formen der Person und die Ausdifferenzierung des Subjektiven: Soziologische Übersetzungen II
 9783839433591

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Joachim Renn Selbstentfaltung – Das Formen der Person und die Ausdifferenzierung des Subjektiven

Sozialtheorie

Joachim Renn (Dr. phil.), geb. 1963, ist Professor für Theoriebildung mit dem Schwerpunkt »Soziale Kohäsion« am Institut für Soziologie der WWU Münster. Der Herausgeber der »Zeitschrift für theoretische Soziologie« und Autor mehrerer Bücher zu einer übersetzungstheoretischen Soziologie arbeitet empirisch, methodologisch wie konzeptuell an der Analyse von Formen und Folgen multipler Differenzierung historischer und gegenwärtiger Gesellschaft.

Joachim Renn

Selbstentfaltung – Das Formen der Person und die Ausdifferenzierung des Subjektiven Soziologische Übersetzungen II

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2016 transcript Verlag, Bielefeld

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Inhalt

Vorwort: Selbstentfaltung – subjekttheoretische Aspekte einer soziologischen Theorie multipler Differenzierung | 9

D etranszendentalisierung : S ubjek tivität im soziologischen D iskurs der M oderne 1. Ambivalente Subjekttheorie: Anthony Giddens und der zweideutige Existentialismus der Theorie einer reflexiven Moderne | 15 I. Individualisierung als »Konsequenz der Moderne« | 16 II. Dualität von »Handlung und Struktur«: Die Theorie der »Strukturation« | 22 III. Identität in der »reflexiven Moderne« | 26 IV. Differenzierung statt Strukturation | 29 V. Inspirationen und Aspirationen: Spätmoderne »Existentialität« | 31 Literatur | 33

2. Diskurs – Macht – Subjekt: Foucaults Sozial-Existentialismus und die Pragmatisierung der Diskursanalyse | 37 I. Der voreilige Abschied vom Subjekt | 37 II. Freiheit zwischen Macht und Herrschaft | 40 III. Ausdifferenzierung der Existenz: Die »Sorge um sich« | 46 IV. Selbstbehauptung zwischen Aussage und Artikulation | 51 V. Differenzierung der Selbstbehauptungen als funktionale Autonomisierung | 54 Literatur | 57

I ndividuation : Z ur negativen sozialen K onstitution intentionaler S elbstbeziehung 3. Emergenz und aporetische Perspektivenübernahme: George Herbert Mead und die Aufgabe einer pragmatistischen Theorie der Subjekt-Genese | 63 I. Vorrang der Intersubjektivität | 63 II. Naturalistisch überspielte Zirkularität | 69 III. Nötige Rekombinationen: Emergenz und Zeithorizont | 74 IV. Entdramatisierte »Dualismen« | 79 Literatur | 83

4. Paradoxe Intersubjektivität: Michael Tomasello und die Vokabulare einer Evolutionstheorie der Intentionalität | 87 I. Brückenbauversuche: Von der Natur des Menschen aus | 87 II. Philosophische Anthropologie oder G. H. Mead: Brückenbau-Surrogate | 92 III. Tomasello und die Infrastruktur der »geteilten« Intentionalität | 99 IV. Was heißt also Evolution von Intentionalität? | 107 Literatur | 112

5. Unstillbares Begehren nach Identität und Verlust der Repräsentation: Die relationale Psychoanalyse und die Quellen der Individuation | 117 I. Die Psychoanalyse der Soziologie: Sublimierung einer Rezeption | 120 II. Die Soziologie der Psychoanalyse: Intersubjektivistische Wende | 127 III. Aporien der Intersubjektivitätstheorie | 133 IV. Interiorisierung und Intransparenz: Ein hermeneutisch-pragmatistischer Zugang | 142 V. Metamorphosen des Symbolischen und Ausdifferenzierung des Selbst | 150 VI. Soziale Differenzierung und Selbstentfaltung | 162 Literatur | 164

A usdifferenzierung : S ubjek tivierung in gesellschaftlichen Ü bersetzungsverhältnissen 6. Selbstbehauptung – postmoderne Fragmentierung oder Identität von Personen im Zeichen funktionaler Differenzierung? | 173 I. Postmoderne Phantasien | 173 II. Kritische Theorie der kommunikativen Behauptung eines Selbst | 176 III. Objektive und subjektive Individualisierung | 180 IV. Polyphrenie und Exklusionsindividualität? | 183 V. Kommunikative Selbstbehauptung | 191 VI. Multiple Kontexte und Formen der Selbstbehauptung | 195 VII. Selbstbehauptung und Respezifikationsfunktion | 201 Literatur | 205

7. Wie ist das Bewusstsein am Diskurs beteiligt? | 209 I. Cartesianische Introduktionen | 209 II. Ein soziologisches Interesse am Diskursbegriff | 214 III. Unverträgliche Diskursbegriffe | 218 IV. Performativität als tertium comparationis | 222 V. Abweichung, Wiederholung oder Spezifikation: Implizites Wissen | 225 VI. Diskurs als Instruktion | 233 VII. Methodische Folgen | 238 Literatur | 239

8. Die Übersetzung der Person: Zum Beitrag des Individuums zur gesellschaftlichen Koordination des Handelns | 243 I. Von der normativen Integration der Gesellschaft zur differenzierten Koordination des Handelns | 243 II. Die Integration von Handlungen und der Status der Person | 251 III. Personen als eigene Integrationseinheiten | 260 IV. Differenzierte Personen-Formate | 266 V. Personale Übersetzungsverhältnisse | 274 Literatur | 283

Drucknachweise | 291

Vorwort: Selbstentfaltung – subjekttheoretische Aspekte einer soziologischen Theorie multipler Differenzierung

Der unvermeidlich mehrdeutige Obertitel: »Selbstentfaltung« markiert in einem Wort die Grundfigur einer pragmatistischen Soziologie der Subjektivität bzw. des »Subjektiven« in der Gesellschaft. Denn die Unklarheit, wer denn da (wen) entfalte und was denn da (von wem) entfaltet werde, entsteht eben dadurch, dass die klärende Festlegung, das sei eben das »Selbst« selbst, im Falle des Interesses an der Genese des Selbstverhältnisses ausscheidet. Gerade die Selbigkeit des subjektiven Selbstbezuges, an der sich die Reflexionsphilosophie so lange aufgerieben hatte, versteht sich, wenn sie als Ergebnis einer sozial angeregten Entfaltung interpretiert werden muss, nicht von selbst. Das »Selbst« wird entfaltet in Abhängigkeit von sozialen Formen der Rede von der Person und des kommunikativen Zugriffs auf die Person, aber interessant wird diese Rücksicht auf soziale Formen und Formierungen erst dann, wenn dabei nicht nur an die Überformung einer prä-existenten Selbstbeziehung intentionaler Art gedacht wird, sondern auch noch der dunkle Übergang vom Bewusstsein, das sich nicht kennt, zum »Selbstbewusstsein« in die Reichweite gesellschaftlicher Konstitution gestellt werden muss. Dann wird das Prinzip der »Subjektivität« sofort paradox, weil das Ergebnis sozialer Konstitution in diesem Falle in einer Selbstreferenz besteht, die den sozialen Zugriff definitionsgemäß transzendiert, sofern ein intentionales »Selbstverhältnis« eine Beziehung sein muss, die sich selbst (aus »eigenen Stücken«) zu sich selbst verhält. Will die Soziologie überhaupt etwas zu diesem Problem beitragen, werden aufwendige theoretische Figuren nötig. Eine solche Figur könnte aus der im weiteren Sinne verstandenen (und phänomenologisch wie systemtheoretisch ergänzten) pragmatistischen Tradition entnommen werden: Das Selbst der Person wird entlang sozialer Formen und Formungen entfaltet, aber die konstitutive Kraft dieser Formatierung wird durch die Emergenz einer ausdifferenzierten Subjektivität gebrochen. Diese

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Selbstentfaltung — Das Formen der Person und die Ausdifferenzierung des Subjektiven

Grundfigur gibt den im hier vorgelegten Band versammelten Aufsätzen einen gemeinsamen Ausgangspunkt und einen verbindenden Zugriff auf den Problemkreis, der von den vieldeutigen Begriffen: Subjekt, Individuum, Akteur, Person abgesteckt wird. Die Person (als Oberbegriff für die verstreuten und kaum endgültig sortierbaren Begriffe im Umfeld des Subjektproblems) gilt lange schon und mit guten Gründen im modernen Diskurs – und in der Soziologie deshalb sowieso – nicht mehr als eine de facto »unteilbare« (individuelle) und substantielle Einheit, das »Subjekt« nicht mehr als Souverän und bewegender Beweger, der seine Gedanken und Handlungen und deren Sinn regiert; der Ausdruck »Akteur« ist ohnehin als Platzhalter für eine geradezu verschämt indirekte Bezugnahme wenigstens auch auf den Menschen eher ein technischer Bestandteil idealtypisierender Handlungstheorien. Die Person wird als das, was sie und wie sie für sich selbst und für andere »ist«, sozial geformt, entfaltet, zur Entfaltung gebracht, angeregt und gezwungen (sozialisiert, diszipliniert, subjektiviert etc.); und sie muss sich genau deshalb und dafür, zumindest gelegentlich, »selbst« entfalten, eigensteuern, individuieren, authentifizieren. Das kann man empirisch untersuchen, und an entsprechenden Arbeiten fehlt es auch nicht. Ein zentrales und der Mühe wertes theoretisches Desiderat besteht aber vielleicht immer noch in der hinreichend komplexen Bestimmung des Verhältnisses zwischen einer womöglich allgemeinen Struktur der sozialen bzw. kommunikativen Formung der Genese individuierter Intentionalität »überhaupt« und der historischen, kulturellen bzw. gesellschaftlichen Varianz von Subjektformaten und entsprechenden (oder darauf reagierenden) subjektiven »Innenverhältnissen«. Der subjekttheoretische, vorzüglich philosophische Diskurs der späten Moderne hat es längst zur Selbstverständlichkeit gemacht, dass es unklar ist, welchen Status eine historisch-evolutionär gewachsene Form des Subjektbegriffs (der sozialen Subjektformate) eigentlich haben kann: Ist die existentielle, individuierte Personalität als soziales, diskursives, systemisches »Thema«, und sind dem korrespondierende intentionale Selbstverhältnisse kontingente Errungenschaften der ebenfalls kontingenten allmählichen Übergänge in die rezente, moderne Weltgesellschaft (darin: der funktionalen Differenzierung bzw. der globalen Diffusion »westlicher« Vorstellungen von der Form des Trägers »subjektiver« Rechte)? Oder aber entfaltet die sozial gestützte Ausdifferenzierung bzw. die kommunikativ auffällig Abkoppelung von intentionalen Selbstverhältnisses aus sozialen Konventionen der Lebensführung ein schon viel früher (evolutionär) entwickeltes (womöglich universales) Potential der Subjektivierung? Hat dann das Thema der »personalen« Selbstbeziehung über die kultursoziologische Aufmerksamkeit für Prozesse der »Individualisierung« oder für Tendenzen einer »postmodernen Fragmentierung«, für die soziale Nachfrage nach einem »unternehmerischen Selbst« hinaus eine theoretisch fundamentale Relevanz? Möglicherweise berührt die theoretische Re-

Vorwort

konstruktion »subjektiver Selbstentfaltung«, vermittelt über das konzeptuelle Themenfeld »Intentionalität« immerhin übergreifend relevante Grundbegriffe der Soziologie wie: »Interaktion«, »Intersubjektivität«, »doppelte Kontingenz« und »Handeln« bis zu der Frage, was unter der »Integration« einer Gesellschaft oder auch der »Integration von Individuen in die Gesellschaft« sinnvollerweise (überhaupt noch) verstanden werden könnte. Ambivalente Prozesse der »Subjektivierung« müssen vielleicht nicht entweder (normativ) als perfide Unterwerfungen, als beispielsweise durch Suggestion von Autonomie beförderte (Selbst-)Disziplinierung oder aber konträr (normativ, wenn nicht: kontrafaktisch) als »Sozialisation« gesunder Individuen in balancierte Anerkennungsverhältnisse verstanden werden. Sie könnten stattdessen – gewissermaßen theoretisch tiefer gelegt und normativ vorläufig zurückhaltend – als Ausdifferenzierung von selbstreferentieller Intentionalität überhaupt betrachtet werden (als Entfaltung der Form eines reflexiven Selbstbewusstseins im Sinne von »Existentialität« und in Differenz zu sozialen und kommunikativen Konventionen). Dann käme dem Titel »Selbstentfaltung« eine dritte Bedeutung neben den beiden genannten zu: Erstens also wird das Selbst als Format, als Desiderat, als Verpflichtung sozial entfaltet, zweitens wird damit etwas zur Entfaltung diesem etwas selbst überantwortet, das sich selbst entfalten soll, darf und auch »will«. Drittens aber lässt sich die soziokulturelle Evolution (nicht erst im Übergang zur Moderne) dann auch als die Entfaltung von Intentionalität selbst verstehen, als die von emergenten Übergängen geprägte Genesis des fungierenden und schließlich reflexiven (Selbst-) Bewusstseins (das paradigmatisch erschlossen ist in der Sprache der Phänomenologie). Theoretisch führt diese Überlegung zur Analyse der Subjektivierung als Entfaltung nicht allein eines (ontogenetisch realisierten) Selbst oder einer (phylogenetisch entstandenen) Selbst-Form, sondern zur Untersuchung der Entfaltung von »Übersetzungsverhältnissen« zwischen differenzierten sozialen Ordnungen und intentional-subjektiven Formen der Konstitution des Sinnes von Erlebnissen und Handlungen. Am Horizont der Vorarbeiten für eine solche Untersuchung, zu denen die Aufsätze dieses Sammelbandes gezählt werden wollen, steht schließlich eine vergleichsweise materiale Vermutung zum gegenwärtigen Stand gesellschaftlicher Entfaltung subjektiver Selbstverhältnisse: die komplexe Differenzierungsdynamik, in der die Subjektivität als Ergebnis einer reichlich paradoxen »negativen Konstitution« intentionaler Selbstbezüglichkeit entfaltet werden konnte, kommt in der multipel differenzierten Gesellschaft der Moderne sozusagen »zu sich selbst«. Denn in den sozialen Tendenzen, deren personenbezogene Effekte soziologisch u.a. unter Titeln wie »Individualisierung«, »Fragmentierung« oder »Subjektivierung« beobachtet werden, wird das Übersetzungsverhältnis zwischen den Formen der Person und dem (!) Formen der Person durch sich selbst als ein

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Selbstentfaltung — Das Formen der Person und die Ausdifferenzierung des Subjektiven

Übersetzungsverhältnis (als Unterbrechung direkter Verbindungen und Abhängigkeiten) sichtbarer und problematischer als je zuvor. Die Aufsätze dieses Bandes nehmen in vorbereitender Absicht auf eine subjekttheoretische Analyse der multipel differenzierten Moderne Fäden der theoretischen Diskussion im Umfeld von Pragmatismus, Phänomenologie und Systemtheorie (sowie der »relationalen« Psychoanalyse) auf. Ziel dieser Bemühungen ist es, zwischen den Zeilen, aber auch explizit, aus der Diskussion vorbildlicher Vorlagen heraus den einen oder anderen systematischen Vorschlag für eine Theorie der Ausdifferenzierung subjektiv selbstreferentieller Intentionalität und zum Verständnis personaler Selbstverhältnisse zu rechtfertigen. Abschließend ist Christian Keitel für die großartige Unterstützung bei der Organisation der Manuskripte und dem transcript Verlag für die wohlwollende Kooperation zu danken. JR., Münster, März 2016

Detranszendentalisierung: Subjektivität im soziologischen Diskurs der Moderne

1. Ambivalente Subjekttheorie Anthony Giddens und der zweideutige Existentialismus der Theorie einer reflexiven Moderne

Wie modern ist das »moderne Individuum«? Diese scheinbar widersinnige Frage – die prima facie ein als definit kennzeichnend gemeintes Prädikat gradualisiert – wirkt vielleicht nicht völlig deplatziert, sobald man sich an das Folgende erinnert: Der Abstand zwischen expliziter Beschreibung und dem Beschriebenen fällt gerade im Fall subjektiver (also zu guten Teilen vorprädikativer, praktischer, schwer artikulierbarer und leicht zu verfehlender) Selbstverhältnisse so schwerwiegend ins Gewicht1, dass die typisch moderne Semantik der Individualität der Person eine diskursive Erfindung, eine sozial etablierte, aber bezogen auf die intentionalen Horizonte der »inneren« Person fiktionale Institution subjekt-transzendenter Kommunikationsgewohnheiten sein könnte. Andererseits ist es ebenso denkbar (wenn man einige Vorbehalte einmal aus dem Spiel lässt), dass »die« Moderne erst entdeckt hat, was in den internen Horizonten der Perspektive der ersten Person, im »Ich«, verstanden als Referenzgeschehen, auf das sich das »Ich« der Rede-Instanz sozial entwickelter Sprechweisen bezieht, immer schon alles so »drin steckte«. Drittens ist es auch möglich, dass sich die moderne Rede vom »Individuum« dieses Referenzgeschehen durch die diskursive Entfaltung der Potentiale eines individuellen Selbst im Stile einer »subjektivierenden« Aufnötigung (oder aber Emanzipation) dieser Entfaltung faktisch erst geschaffen hat. Wie also referiert die moderne Individualitäts-Semantik auf das allgemeine und dabei jeweils spezifische Potential subjektiver Selbstbeziehung und seine immer »jemeinige« (Heidegger) intentionale, performative und artikulierende Aktualisierung: 1 | Hier muss man nur an J. P. Sartre erinnern, dessen existentialistische Ontologie und egologische Prätention gar nicht notwendigerweise »eingekauft« werden müssen, um den Abstand zwischen der Selbstgegebenheit des Ego und allen möglichen Explikationen dieses Selbstverhältnisses von »außen« wie von »innen« (en soi und pour soi) als eine Quelle dramatischer Verzerrungen zu begreifen, siehe: Sartre 1993.

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Selbstentfaltung – Das Formen der Person und die Ausdifferenzierung des Subjektiven

im Sinne einer Erfindung, einer Entdeckung oder einer Erschließung oder aber auch viertens: im Modus einer Verheißung, deren Erfüllung aus strukturellen und systematischen Gründen notwendig versagt bleiben muss? Zur weiteren Klärung dieser Frage trägt die Lektüre der Arbeiten von Anthony Giddens als einer ausgewiesenen Theorie der modernen Individualität einiges bei, sei es auch im Modus der negativen Anzeige, die offen legt, welche Fragen am Ende übrig bleiben.

I. I ndividualisierung als »K onsequenz der M oderne « Die theoretischen und empirischen Unternehmungen des englischen Soziologen Anthony Giddens haben mindestens zwei zentrale Schwerpunkte: Ausgehend von eher empirischen Forschungsfragen (beispielsweise der Analyse rezenter Klassenstrukturen: Giddens 1981) entwickelte Giddens erstens im Laufe der vergangenen Jahrzehnte den Ansatz zu einem eigenen – im weitesten Sinne »praxistheoretischen«2 – soziologischen Paradigma, der den Dualismus der klassische soziologische Konzeptualisierungen des Verhältnisses zwischen »Struktur« und »Handlung« überwinden soll – die Theorie der »Dualität« von Handlung und Struktur, bzw. der »Strukturation« (Giddens 1984 und 1997; vgl. Kaspersen 2000; Kießling 1988). Den zweiten Schwerpunkt bildet der Versuch einer umfassenden Zeitdiagnose, die den Zustand und die relevanten Tendenzen der Gegenwartsgesellschaft(en) auf Begriffe bringen soll, die aus der Anwendung der genannten theoretischen Überlegungen auf das Phänomen einer gewandelten Moderne hervorgehen (Giddens 1996a, 1997, 1999; vgl. Lamla 2003). Hier steht Giddens inhaltlich und kooperativ in enger Verbindung mit der Soziologie einer »zweiten« oder auch »reflexiven« Moderne, die mit den Arbeiten Ulrich Becks verbunden wird (Beck 1986; Beck, Giddens, Lash 1996). Das Modell einer »reflexiven« Moderne bildet gewissermaßen eine moderate Alternative gegenüber postmodernistischen Grabgesängen (Lyotard 1986) auf das gesamte Projekt einer Moderne – eine Alternative, die das Erbe der Aufklärung im Sinne einer »unverkürzten« Rationalisierung anzutreten empfiehlt (Habermas 1985; vgl. Mestrovic 1998). »Reflexivität« bezieht sich dabei in erster Linie auf das im globalen Maßstab und mit globalem Problembezug gewach2 | Zur »Praxistheorie« lassen sich aktuell (d.h. im Unterschied zu älteren auf Marx zurückgehenden »praxisphilosophischen« Ansätzen, die ihrerseits ihre aktuellen Ausläufer haben) eine Reihe von Ansätzen zählen, die sich darin einig sind, dass »Praktiken« eine Realitätsebene sui generis darstellen, die weder von subjektiven Entscheidungen, Sinnsetzungen, Deutungen, noch von allgemeinen Strukturen, Zeichensystemen und Diskursen determiniert werden (Bourdieu 1979 und 1987; Joas 1996; Turner 1994; Schatzki 1996).

Ambivalente Subjekttheorie

sene Krisenbewusstsein, in dem nicht mehr objektive »Gefahren«, sondern »Risiken« drohen, also hausgemachte Probleme, die der Modernisierung und Rationalisierung selbst entspringen (Giddens 1996a: 16ff.). Zu den zentralen Stichworten dieser diagnostischen Skizze gehören die beiden Leitbegriffe »Individualisierung« und »Nebenfolgen« (Beck e.a. 2001; Giddens 1997: 62f.). Während die Überlegungen zum Problem der »Nebenfolgen« einem älteren Thema (Merton 1936) einen neuen Zuschnitt geben – die Betonung der allgemeinen Steuerungskrisen, die sich in unerwünschten, nicht intendierten Nebenfolgen zeigen – steht der Titel der »Individualisierung« für die Diagnose eines säkularen Bruchs mit vormodernen und klassisch modernen Formen der Vergesellschaftung des Individuums. Mit der viel diskutierten Individualisierungsthese (der Annahme angewachsener sozialer bzw. institutioneller Zwänge, über die jeweils eigene Lebensführung selbst zu entscheiden) wird direkt deutlich, dass die beiden zentralen Ausrichtungen der Giddens’schen Soziologie (»Strukturation« und »reflexive Moderne«) implizite und explizite Konsequenzen für die Theorie und die empirische Untersuchung typischer Muster oder Formen der Identität von Personen haben. Die Giddens’sche Handlungstheorie reiht sich damit indirekt, nämlich systematisch, aber auch direkt, d.h. ausdrücklich (1991) in den vielstimmigen Diskurs über »moderne Identität« ein. Auf den ersten Blick löst der theoretische Zuschnitt des Prinzips der »Strukturation« dabei einige Probleme der Suche nach einem haltbaren Standpunkt zwischen »Subjektivismus« und »Objektivismus« (Bourdieu), der nicht nur lokale Praktiken, sondern auch gesellschaftliche Ordnungen in den Fokus bringen kann. Gewisse strukturell erzwungene Ausblendungen der Bourdieu’schen Praxeologie3 scheinen durch den makrotheoretischen Zuschnitt bei Giddens korrigiert zu werden. Während bei Bourdieu auch 3 | Bourdieu-Enthusiasten (Bongaerts 2011) geben der »Differenzierungstheorie« Bourdieus einigen Kredit und wollen geltend machen, dass Bourdieus Aufteilung moderner Gesellschaft in »Felder« eine hinreichende Analyse »funktionaler Differenzierung« impliziere. Allerdings gibt die Ausdehnung des »Habitus«-»Feld«-Doppels aus der Kompaktordnung des kabylischen Dorfes auf moderne Sektoren abstrakter Koordination (Wirtschaft, Politik, Kunst, Wissenschaft e.a.) einige Rätsel auf: Gibt es, wenn diese Felder nach wie vor primär durch habituelle Schemata organisiert sind, dann also bezogen auf Personen mehrere »Habitus« und einen reflexiven »Meta-Habitus« der die vielen Teilinklusionen der Personen z.B. über Berufs-, Experten- oder aber Klientenrollen organisiert? Und: Bleiben die Differenzen zwischen den Feldern eindeutig sekundär (wenn nicht marginal) gegenüber vertikaler sozialer Ungleichheit, die sich über diversifizierte Kapitalien abwickelt? Vor allem aber: gibt es dann überhaupt eine Differenz zwischen Mikro- und Makroebene, wenn »Felder« doch Komplemente eines feldspezifischen Habitus bleiben und also die »Anschlussselektion« sich auch in spezialisierten Feldern ausschließlich durch das Medium habitualisierter Schemata konkreter Praxis organisiert?

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Selbstentfaltung – Das Formen der Person und die Ausdifferenzierung des Subjektiven

abstrakte Koordinationen des Handelns (Renn 2006: 362ff.), etwa ökonomische, juristische und politische Systemzusammenhänge, noch immer nach den Prinzipien agonaler Interaktionsgemeinschaften geregelt sein sollen, verfolgt Giddens durch die Beschreibung der »Entbettung« von so genannten Regel- und Ressourcenkomplexen deutlich makrotheoretische Wege. Es zeigt sich jedoch bei genauerer Betrachtung, dass eine Gesellschaftstheorie, die das Dauerbrenner-Problem des Verhältnisses zwischen »Handlung« und »Struktur« durch ein entschiedenes »sowohl als auch« des Konstitutions-Primats zu beantworten sucht, um dann den Zuschnitt einer sachangemessenen Differenzierungstheorie doch wieder auf eine individualistische Theorie der Konstitution sozialer Ordnungen zurück zu schneiden, auch beim vermeintlich handlungsnahen Phänomen subjektiver Selbstbeziehungen in nicht aufgelöste Mehrdeutigkeiten führt. Am Ende weiß man nicht so recht, ob die »reflexive« Moderne tatsächlich individuelle, nämlich »existentielle« Selbstverhältnisse von Personen nun eigentlich »erfindet« oder aber »entbindet« bzw. ob nun die individualistische Semantik typisch moderner Zugriffe auf empirische Personen eine partikulare, nämlich historisch »moderne« oder aber eine universale, weil »humane« Charakteristik der Individuen darstellt (oder aber »ist«). Dass diese Unklarheiten am internen Aufbau der Giddens’schen Gesellschaftstheorie hängen, muss man allerdings zeigen. Und dafür ist es unvermeidlich, etwas länger auszuholen. Zunächst kann sich Giddens auf eine empirische Beobachtung berufen, die sowohl die soziale als auch die soziologische Bemühung um ein Verständnis des Individuellen der Individuen kennzeichnet. Die Form und der Inhalt der individuellen Identität der einzelnen Person – die faktischen Ansprüche und Anforderungen an die »Selbstbestimmung«, der jeweils eigene »Charakter«, aber auch der allgemeine Begriff der Identität – sind in der Moderne dauerhaft unsicher und umstritten. Sowohl in der privaten und alltäglichen Lebensführung als auch in der kollektiven, politischen oder kulturellen Auseinandersetzung um Ansprüche und Rechte auf ein »gelingendes Leben« bzw. um Anforderungen an eine »verantwortungsvolle Persönlichkeit« stehen nicht nur jeweils einzelne Modelle der je eigenen Identität zur Diskussion; die Frage, was »Identität« der Person überhaupt heißen soll, worin sie allgemein besteht, wo in einem verbindlichen und verpflichtenden Sinne die Grenze zwischen »pathologischen« und »nicht-pathologischen«, zwischen freien und unfreien Identitäten zu ziehen ist, wird durch die Relativierung traditionaler Gewissheiten, durch die Vermehrung sozial ermöglichter Alternativen und die Erweiterung des Spielraums individueller Entscheidungen in einen Sog der dauerhaften Kontroversen und Suchbewegungen gezogen, die auch in den philosophischen und sozialwissenschaftlichen Diskursen ihre Spuren hinterlassen (vgl. Renn, Straub 2002). In der Soziologie ist die relativ grobe und bei historischer Detaillierung sicher präzisierungsbedürftige Unterscheidung zwischen traditionalen und

Ambivalente Subjekttheorie

modernen Gesellschaften als eine Arbeitshypothese tief verankert (so auch bei Giddens 1996b). Wenn man sich dieser Unterscheidung um der typisierenden Zuspitzung willen trotz berechtigter Vorbehalte zunächst einmal bedient, dann lassen sich Identitätskonzepte in einer entsprechenden Zweiteilung sehr allgemein sortieren in typische traditionale und moderne Formate. Die Identität von Personen – die praktisch bewährte Übereinstimmung der Person mit sich selbst und ihre Wiedererkennbarkeit über eine Mannigfaltigkeit von Ereignissen hinweg – ist im traditionellen Modus eine unbefragte Selbstverständlichkeit; Kriterien der Identifizierung werden durch stabile, also prinzipiell lebenslang gültige Zuordnungen der Personen zu stabilen Positionen in einer hierarchisch gegliederten Sozialstruktur (segmentäre Gliederungen, Stände, Kasten, Korporationen und auch noch: »Klassen«) dem Zweifel, der Verpflichtung zur Interpretation und Entscheidung nahezu vollständig entzogen. Die entsprechende Reflexionsformen: subjektive Selbstbilder und soziale Semantiken (schriftliche Selbstaussagen und offizielle, legitime Typisierungen personaler Identität in juridischen Praktiken, philosophischen und theologischen Schriften) stellen gerade aufgrund der praktisch eingespielten Selbstverständlichkeit jener Zuordnung der Personen in eine für natürlich und alternativlos gehaltene Sozialstruktur die prinzipielle Kontingenz der sozial konstituierten Identitätsformate nicht in Rechnung. Aus der geburtsständischen Festlegung von typischem Charakter und typischer Biographie folgt der Eindruck, dass die Person in ihrem Kern, in ihrem Wesen zum einen eine lebenslang substantielle Einheit bildet, zum anderen entsprechend dieser Einheit – so sie nicht korrumpiert oder »besessen« ist – ihren angemessenen Platz in der hierarchisierten sozialen Ordnung einnimmt. Das ändert sich in der und durch die Modernisierung, in den Worten von Anthony Giddens: »The reflexivity of modernity extends into the core of the self. Put in another way, in the context of a post-traditional order, the self becomes a reflexive project. Transitions in individuals’ lives have always demanded psychic reorganisations, something which was often ritualised in traditional cultures in the shape of rites de passage. But in such cultures where things stayed more or less the same from generation to generation on the level of the collectivity, the changed identity was clearly staked out – as when an inividual moved from adolescence into aldulthood. In the setting of modernity, by contrast, the altered self has to be explored and constructed as a part of a reflexive process of connecting personal and social change« (Giddens 1991: 32f.). Die komplexen Übergänge in moderne Identitätsformate lassen sich in grober Abkürzung auf das Phänomen der oben bereits angesprochenen Individualisierung beziehen. Der zunächst auf Oberschichten begrenzte Prozess der Differenzierung zwischen reflektierter »Innerlichkeit« und äußerer, erkennbarer Aktivität der Person (Fürstenerziehung und religiöses Tagebuch, dann ästhetische Reflexion und – zunächst: romantische – Intimisierung der Zweierbezie-

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Selbstentfaltung – Das Formen der Person und die Ausdifferenzierung des Subjektiven

hung) diffundiert über verschiedene Kanäle (über Kopie durch aufstrebende Eliten niedrigerer Stände, durch Ausdehnung der Literalität und des Bildungswesen sowie durch objektive Differenzierungen im Zug der Arbeitsteilung) in immer ausgedehntere Bereiche der alltäglichen Muster der Selbstbetrachtung. Form und Ergebnis dieser Prozesse können als das Ineinandergreifen einer subjektiven und einer objektiven Individualisierung der Identität von Personen begriffen werden. Mindestens seit Georg Simmels Beobachtung der Multiplikation von sozialen Kreisen und ihrer Überschneidungen (Simmel 1983) fällt auf, dass der Trend zunehmender sozialer Differenzierung und Arbeitsteilung (Durkheim 1977), die einzelnen Personen individualisiert. Objektive Individualisierung vollzieht sich dabei durch die Abkoppelung von funktionalen bzw. rationalisierten Handlungskontexten (z.B.: Berufsrollen, Trennung von Haushalt und Arbeit, Trennung von Ausbildung und familialer Sozialisation) aus der vormaligen Verquickungen von stratifikatorischer Schichtung und ökonomischen, politischen und rechtlichen Handlungszusammenhängen. Die zuvor verwandtschaftlich fundierte und netzwerkbasierte Positionierung der Personen in sozialen Lagen wird zunehmend (nicht für alle Strata, nicht für alle Geschlechter im gleichen Rhythmus) ersetzt durch auf individualisierende Weise leistungsbezogene »Inklusion« aller Personen in funktionale Bereiche (Luhmann 1989). Lage und Lebenslauf der Menschen ist ihnen nicht qua Zugehörigkeit zu einem Stand, einer Familie in die Wiege gelegt, sondern wird in Abhängigkeit von individuellen Leistungen und Aspirationen im Kontext von Ausbildungsorganisationen, universal-individualistischen Rechtsverhältnissen und Arbeitsmärkten erworben (vgl. Hradil 1992). Diese objektive Individualisierung hat ihre intentionale Entsprechung in Phänomenen der subjektiven Individualisierung, wobei diese Entsprechung nicht notwendig ihre (kausale) »Wirkung« ist, denn Struktur und Handlung stehen, wie Giddens auf seine Weise betont, in keinem einseitigen Determinationsverhältnis (vgl. Giddens 1997 und siehe weiter unten). Diese intentionale Resonanz drückt sich in der kulturellen Durchsetzung individualistischer Selbstdeutungsmuster aus: in der moralischen und kulturellen Betonung der Autonomie der einzelnen Person und ihrer Ansprüche auf ein persönliches Lebensglück. Die philosophische Artikulation der entsprechenden Semantik ist zunächst die aufgeklärte Idee der Autonomie des Subjekts, danach das romantische und später hermeneutische Modell der inneren Unendlichkeit einer Person, deren Identität vor allem in ihrem reflexiven Verhältnis zu ihrer besonderen und optionalen Lebensgeschichte (Giddens 1996b: 52ff., 85ff.) besteht. Die Identität der Person wandelt sich bis auf die Ebene der alltäglichen Aspirationen hinein von der vermeintlich vorsozial gegebenen Substanz (der man »gerecht« werden kann oder nicht) zu einem Projekt, das man »selbst« entwerfen und realisieren muss (Taylor 1989 und 2002). Das bedeutet zum einen, dass die Identität im Takt der Moderne verzeitlicht wird; sie steht nicht

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qua Geburt (oder Adoption) fest, erschöpft sich nicht im Ensemble zugeschriebener Eigenschaften und Rechte und Pflichten, sondern sie ist einer Entwicklung und sie ist der Deutung durch die Person selbst unterworfen, was dann rekursiv in diese Entwicklung eingreift (sodass die Rekonstruktion von z.B. »entwicklungslogischen« Stadien die feinkörnige Ebene des Selbstverhältnisses gar nicht berührt). Der zweite Aspekt des Projektcharakters der Identität betrifft indessen die Zielvorstellung, die mit der Zukunft der Geschichte, die einer und eine sind und dann gegebenenfalls erzählen können (Ricœur 1990), verbunden wird. Der Lebenslauf ist mehr als die Aktualisierung eines vielleicht zunächst unbekannten, aber ab origo festgelegten »Schicksals«, er ist dem Anspruch nach das Ergebnis der transitorischen Selbstbestimmung und dynamischen Selbstverwirklichung. In extremis ist das Individuum sein jeweils eigenes Kunstprodukt. Die popularisierte, alltäglich gewordene Aspiration auf »Selbstverwirklichung« ist nicht nur das Musterbeispiel für »postmaterialistische« Wertorientierung (Inglehart 1989), die auf die massenwirksame Hebung des Wohlstandsniveaus und deshalb auf die Freisetzung von Zeit für und von Interesse an der eigenen Individualität zurückzuführen ist. »Selbstverwirklichung« bedeutet auch, erstens dass die Person ihr jeweils eigenes Ziel (auf selbst schon individualisierende Weise) finden, d.h. definieren und dann auch das Ziel und die mögliche Verfehlung desselben »selbst« verantworten muss, zweitens dass Personen damit ein hoher Anspruch an die Steigerung der Qualität ihrer Lebensführung und die letztinstanzliche Verantwortung sozial aufgenötigt wird.4

4 | Den Nötigungscharakter der sozialen Zuschreibung von »Autonomie«, nicht primär als Zusicherung von Freiheit, sondern als Zuschreibung von Verantwortlichkeit für funktionale Zurechnungsfähigkeit, betont besonders die Foucaultsche Analyse der »Subjektivierungen«, die im Zuge der Ausdehnung von Disziplinar- und Kontrolltechniken (Dispositive) vormals unthematische Individualitäten dem Zugriff der Diskurse und Techniken unterwirft (Foucault 1983 und 1994). Foucault steht für die skeptische Rekonstruktion der Modernisierung von personalen Identitäten, die auf den Bahnen der harschen Nietzscheanischen Kritik am christlichen Humanismus und der psychoanalytischen Zweifel an der Transparenz des autonomen Subjektes für sich selbst hinter der Vorderseite der aufklärerischen Emanzipation die Rückseite einer subtilen, durch die Körper und Selbstverhältnisse hindurch wirkenden heteronomen Mobilisierung der »Subjekte« sichtbar machen will.

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II. D ualität von »H andlung und S truk tur «: D ie Theorie der »S truk tur ation « Der Prozess der Individualisierung als Charakteristikum des Übergangs zu modernen und dann spätmodernen (zweite Moderne) Identitätsformaten lässt sich offensichtlich auf verschiedene Weise beschreiben, interpretieren und erklären. Die Probleme einer konsistenten und adäquaten Rekonstruktion beginnen bereits bei der logischen Frage, inwieweit Individualisierung ein paradoxer Prozess ist, allein weil »Individualität« (in Abwandlungen Hegel’scher Analysen des Gebrauchs des Personalpronomens der ersten Person: »ich ist immer ein anderer ich«) als gesellschaftliches Format keine individuelle Form personaler Identität ist, sondern die allgemeine Identitäts-Vorschrift, allgemeine Identitätsvorschriften hinter sich zu lassen (ohne die Grenzen akzeptabler, annerkennungswürdiger oder -fähiger Selbstentwürfe zu überschreiten). Das hatte schon Simmel als Paradoxie des allgemeinen Individualismus beschrieben (Simmel 1983; vgl. Luhmann 1989). Ebenso erzeugt schon allein die soziologische Attitüde der Analyse von Identitätskonzepten eine notorische Ambivalenz der Einschätzung, da die Rückführung von »semantischen« Identitätsformaten auf soziale Strukturen, Arbeitsteilung, funktionale Differenzierung etc., den normativen Anspruch auf subjektive Autonomie genetisch auf heteronome Konstitutionsbedingungen zurückführen muss (also nur empirische Geltung beschreiben kann). Ist also die Freisetzung von Spielräumen personaler Selbst(er-)findung ein Zuwachs an persönlicher Freiheit und Selbstbestimmungskompetenz oder vielmehr eine Umwandlung von Herrschaft aus der direkten personalen und körperlichen Unterwerfung in die subtilen Mechanismen auferlegte Entscheidungszwänge (Foucault 1994)? Es ist für die Bearbeitung solcher Fragen notwendig, theoretisch Rechenschaft darüber zu geben, wie das Verhältnis zwischen 1) subjektiven Motiven, Intentionen und Bedürfnissen, Handlungen und 2) sozialen Handlungszwängen, Normen, Institutionen, Typisierungen und Normalitätsstandards gewissermaßen »grundsätzlich« zu betrachten ist. Deshalb und auf diesem Umweg ist der Giddens’sche Beitrag zum Problem des Verhältnisses zwischen »Handlung« und »Struktur« bzw. zwischen individuellem »Akteur« und sozialen Institutionen, die Theorie der »Dualität von Struktur« (»Strukturation«), für die soziologische Identitätstheorie direkt von Bedeutung, nicht nur, weil ihre zeitdiagnostischen Anwendungen u.a. das Individuum und seine Identität zum Thema machen. Giddens’ Strukturationstheorie ist wie andere nichtpositivistische soziologische Theorien nicht als empirische Generalisierung gedacht, sie folgt nicht dem (problematischen) Modell der induktiven Abstraktion von Begriffen und Prinzipien aus der Fülle des vermeintlich objektiv zugänglichen Materials. Dazu verpflichten schon die Zugeständnisse, die nach Giddens an die herme-

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neutische Vorstellung über die Begriffsabhängigkeit des Gegenstandsbezugs gemacht werden müssen, auf die sich Giddens in seiner methodischen Reflexion über »interpretative Soziologie« unter dem Titel einer »doppelten Hermeneutik« skizzenhaft beruft (Giddens 1984; vgl. Tucker 1998). Deswegen bewegen sich die Begriffe und Prinzipien der Giddens’schen Theorie zwar auf einem allgemeinen Niveau, es folgt aus ihnen allerdings keine allgemeine deskriptive Theorie der konkreten historischen Prozesse sozialen Wandels. Für diese bieten die theoretischen Begriffe nur heuristische bzw. aufschließende Instrumente an. Aus diesem Grund wird die empirische Frage nach modernen Identitätskonzepten nicht schon durch die begriffliche Bestimmung der Rolle sozialer Akteure in strukturierten sozialen Zusammenhängen präjudiziert (so auch: Balog 2001: 202). Gleichwohl stellt Giddens allgemeine Behauptungen ausdrücklich »ontologischen« Charakters auf, zu denen eine Einschätzung der Freiheitsspielräume der Individuen auf der Ebene von »Sozialität« überhaupt gehört, sodass Fragen der Kriterien für die Bewertung des Freiheitsgrades moderner Identitätsformate – anders als in konstruktivistischen Theorien wie der Systemtheorie oder einer bestimmten Lesart der Wissenssoziologie – nicht deskriptiv an den Gegenstand zurückgespielt werden müssen (sodass Geltung nur als soziale Geltung in Erscheinung treten könnte). Die Analyse der prinzipiellen Freiheitsgrade der Akteure, d.h. bei Giddens immer: der Spielräume der individuell Handelnden mit Einschlüssen gewisser Formen kollektiven Handelns, bewegt sich ausdrücklich und programmatisch zwischen den soziologischen Polen des »Subjektivismus« und des »Objektivismus«. Bezogen auf bekannte Ansätze heißt das, dass sich Giddens zugleich 1) von der strukturfunktionalistischen (Talcott Parsons) bzw. strukturtheoretischen (Peter M. Blau) oder strukturalistischen (Claude Lévy-Strauss) Position aber auch von Durkheim und 2) von interaktionistischen Ansätzen, vom »symbolischen Interaktionismus« (George Herbert Mead, Anselm Strauss), der Phänomenologie (Alfred Schütz) und der »Ethnomethodologie« (Harold Garfinkel) distanzieren will. Das systematische Argument für diese doppelten Absetzungsbewegung gewinnt Giddens in unverkennbarer Verwandtschaft mit Bourdieus Habitustheorie (Bourdieu 1979) aus der Zuschreibung entsprechender Einseitigkeiten der genannten Theorien: Strukturtheorien sehen die sozialen Akteure als rein passive Vollstrecker von Strukturmustern und Rollendefinitionen und verzeichnen damit ihren konstitutiven, gewissermaßen »kreativen« (Joas 1996) Anteil an der Produktion von Gesellschaft. Interaktionistische Theorien unterschätzen und missachten in ihrer Insistenz auf die Aushandlungsfreiheiten der Individuen in der Interaktion komplementär zur strukturalistischen Vereinseitigung die Macht und Wirkung von strukturellen Rahmenbedingungen. Die Theorie der Strukturation will beides: die Freiheit der einzelnen Handlung bzw. der handelnden Person von der kausalen, dem

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Naturgesetz nachempfundenen, Determinierung durch Strukturvorgaben und die Ordnungsleistung generalisierter Muster, die trotz individueller Handlungsspielräume als Rahmen und Zwänge wirken, sich gleichsam als Schienen bemerkbar machen, auf denen soziale Interaktionen laufen, um Situationen und Personen auf geordnete und erwartbare Weise über weite Räume und Zeiten hinweg zu koordinieren. Im Zentrum der »Dualität« der Struktur steht darum erstens die Giddens’sche Vorstellung, dass »Strukturen« beide Eigenschaften aufweisen: Sie prägen einzelne Handlungen und werden von ihnen geprägt. Zweitens soll die »Dualität« zur Identifizierung eines ontologisch ausgezeichneten Mediums diachroner und synchroner Sozialität dienen: dies sollen die »Praktiken« sein. Praxis bildet den zentralen Begriff, was Kommentatoren dazu verführt, Giddens unter eine allgemeine »Praxistheorie« zu subsumieren (Reckwitz 2007). Die Pointe (und die erheblichen Schwierigkeiten) der Giddens’schen Analyse sozialer Praktiken, ihrer allgemeinen Form mit Bezug auf Strukturmomente innerhalb immer spezifischer Situationen, besteht in einer nicht immer hinreichend konsistenten, wenn auch inspirierenden, Verknüpfung unterschiedlicher Handlungstheorien. Zum einen setzt Giddens stark auf die Bedeutung »impliziten Wissens«, das er mit Rekurs zugleich auf Heidegger (praktische Vertrautheit) und auf Wittgenstein (»Lebensform«, also kollektiver Charakter jener Vertrautheit) erläutert: Soziales Handeln vollzieht sich über weite Strecken im Modus der Routine, wobei eingespielte, pragmatisch typische Handlungsweisen abgerufen werden, solange kein Anlass zu Bedenken entsteht (Giddens 1997: 51ff.). Zum anderen aber stattet Giddens die individuellen Akteure, denen er mit großer Sympathie stets höchste praktische Intelligenz attestiert, mit dem Vermögen einer (jederzeit) abruf baren Reflexion auf Bedingungen, Ziele und Normen des Handelns aus. Die »Reflexivität« der zweiten Moderne gründet geradezu in der generellen Reflexionsfähigkeit handelnder Individuen, sodass Giddens bei Lichte besehen eben doch ein wesentliches Element der Bestimmung moderner Identität in die zweifellos universalistisch verstandene Bestimmung des handelnden Subjekts überhaupt hineinlegt, obwohl die volle Entfaltung der Dialektik zwischen Routine, Regeln, Konventionen und individuellen »postkonventionellen« Abweichungen, kreativen Formen der Selbstkonstitution durchaus eine historisch kontingente Formation sein könnte (und sie anderenfalls als Spezifikum moderner Identität ja nicht in Betracht käme). Zu gewissen theoretischen Spannungen führt dabei die Zusammenstellung von einerseits hermeneutisch-pragmatistischen Motiven der Handlungstheorie (Handeln ist situationsspezifische Regelanwendung, die durch die Regeln nicht determiniert ist, also »kreative« Aspekte aufweist, Giddens 1997: 73), andererseits einer am Begriff der unbewussten Aggregation von Handlungsfolgen angelehnten Erklärung von Ordnungsbildung (Giddens 1996a und 1999), die nicht als »geplant« gelten kann und drittens Momen-

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te eher rationalistischer Handlungstheorien, die das bewusste und überlegte Handeln im Sinne teleologischer und zweckrationaler Orientierungen erklärt und damit zu beiden zuerst genannten Momenten, die zueinander bereits in Widerspruch stehen, ihrerseits nicht recht passen will. Diese Probleme resultieren letzten Endes daraus, dass Giddens die Elemente der »subjektivistischen« und der »objektivistischen« Soziologie »aufheben« will und sie dafür wegen seiner akteurszentrierten Sozialontologie durch das Nadelöhr der individuellen Vollzüge kollektiver Praktiken führen muss: Das eigentliche Problem der Strukturationstheorie zeigt sich nämlich darin, dass Giddens zwar die Alternative zwischen Subjektivismus und Objektivismus überwinden will, die Dualität der Struktur: vom Handeln geprägt zu sein und das Handeln zu prägen, aber in den engen Fokus einer Ontologie zwingen muss, die nur intentionale, gewissermaßen in den handelnden Personen bewahrte, aktualisierte und wirksame Erscheinungen von Strukturen, Strukturmomenten und Strukturprizipien als real akzeptieren will (Giddens 1997: 63, 69). Giddens scheint jede Form gesellschaftlicher, subjekttranszendenter Selbstorganisation mit der ehernen Unempfindlichkeit gegenüber subjektiven Umdeutungen, die für naturgesetzliche Abläufe typisch ist, zu identifizieren. Daraus (und aus einem impliziten marxistischen Erbe, das die theoretische Behauptung menschlicher Gestaltungsmacht zu einer normativ-politischen Pflicht erhebt) resultiert eine nahezu phobische Haltung gegenüber jeder Version »transsubjektiver« Ordnungsebenen, die sich selbst organisieren (sie wird deutlich in Giddens teils polemischen Abgrenzungen gegenüber Durkheims Konzept der »sozialen Tatsachen«, z.B.: Giddens 1997: 223ff.). Gleichwohl versucht die Theorie der Strukturation aber gegenüber interaktionistischen Theorien das Moment der Selbständigkeit von Makroordnungen, von strukturellen Rahmenbedingungen zu rekonstruieren. Dazu bemüht Giddens die Figur der »Entbettung« von Strukturprinzipien (immer: Regeln und Ressourcen) aus konkreten Praxiskontexten (vgl. Polanyi 1978; Giddens 1997: 216ff.), die im Wesentlichen wenn nicht ausschließlich, als Extensionen der Wirkung von »Strukturmomenten« der Praxis in Raum und Zeit begriffen wird (es wäre demgegenüber möglich, z.B. von der »Emergenz« systemischer Selbstorganisation auszugehen). Giddens unterscheidet zwischen »Struktur«, »Strukturen«, »Strukturmomenten« und »Strukturprinzipien« (Giddens 1997: 432).5 Damit sind unterschiedliche Grade der Ausdehnung und unterschiedliche Arenen der Aktualisierung der angesprochenen »Regel-Ressourcen«Komplexe gemeint (Institutionen, Systeme, Situationen, Interaktionen). Die 5 | Der irritierende Umstand, dass »Struktur« dabei sowohl als Oberbegriff als auch als spezielle Kategorie auftaucht, ist typisch für die Giddens’sche Begriffsstrategie, die dem Anspruch, konsistente Unterscheidungen und klar definierte Begriffe zu verwenden, nicht immer hinreichend durch raffinierte dialektische Argumentationen entgegentritt.

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Einzelheiten dieser – nicht immer ganz transparenten – Unterscheidungen, an dieser Stelle zu vernachlässigen, kann durch den Umstand gerechtfertigt werden, dass auf allen Ebenen der bereits erwähnte Vorbehalt in Kraft bleibt, dass Strukturaspekte gleich welcher Art auf die Aktualisierung durch konkrete Akteure angewiesen bleiben: »Die einzigen treibenden Kräfte in menschlichen Sozialbeziehungen sind individuelle Akteure, die sich in intentionaler oder sonstiger Weise bestimmter Ressourcen bedienen, um etwas zuwege zu bringen. Die Strukturmomente sozialer Systeme wirken nicht wie Naturgewalten auf die Akteure ein, um ein bestimmtes Verhalten zu erzwingen.« (Giddens 1997: 235) Das Moment der Unverfügbarkeit sozialer Ordnungszwänge, denen die Individuen unterworfen sind, obgleich sie im Prinzip immer die Freiheit haben sollen, sich den Imperativen der Strukturen zu entziehen, muss Giddens deshalb in einer nicht ganz spannungsfreien Konzeption des »Unbewussten« unterbringen (sie ist nicht spannungsfrei, weil diese Kategorie im Unterschied zur Psychoanalyse zugleich Undurchdringlichkeit aber auch prinzipielle Zugänglichkeit miteinander vereinbaren soll, vgl. Giddens 1997: 95ff.). Es ist nicht ganz von der Hand zu weisen, dass sich hier eine leise Reminiszenz an (einen aktivistisch gedeuteten) Marx geltend macht, insofern mögliche Einschränkungen der selbstreflexiven Selbststeuerung des Akteurs immer kontingenten Momenten der (ideologischen, politisch korrigierbaren?) Verschleierung objektiver Wirkungsmächte angelastet werden. Der Gedanke, dass Komplexitätszuwächse durch gesellschaftliche Differenzierung – unter der Voraussetzung prinzipieller Kontingenz der resultierenden Konstellation – ein notwendiges Maß an Intransparenz »ent-betteter« Koordinationsweisen für die subjektiv-lebensweltlichen Perspektiven zur Folge haben könnten, wird von Giddens eher aus normativen Gründen, nicht aber in analytischer Perspektive, übergangen.6

III. I dentität in der » refle xiven M oderne « In der expliziten Beschreibung der typischen Identitätsform in modernen und spätmodernen Verhältnissen, die Giddens in unterschiedlichen Schriften vorgelegt hat (Giddens 1991, 1996a, 1996b, 1997, 1999) werden allgemeine Charakteristika von »Subjektivität«, als intentionaler Infrastruktur individueller Akteure überhaupt, und spezifische, gewissermaßen »epochale« Merkmale der für die späte Moderne typischen Subjektivierungsformen zusammen gebracht. Das Grundmotiv ist dabei die Vorstellung einer strukturell erzwunge-

6 | Aus der Sicht einer normativen Theorie der »Kreativität« des Handelns erscheint dieser Zug in Giddens makrosoziologischer Zugangsweise allerdings schlicht als die begrüßenswerte Folge eines »radikalen« Anti-Funktionalismus, so: Joas, Knöbl 2004: 413.

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nen Entbindung des reflexiven Vermögens, den existentiellen Zwang zur Freiheit (Sartre) erkennen zu können und anerkennen zu müssen. Vor allem die 1991 erschienene Arbeit: »Modernity and Self-Identity« (Giddens 1991) zeigt schon im Auf bau der Kapitel bzw. der Argumentation, auf welche allgemeine Subjekttheorie Giddens baut (Giddens 1991: 35ff.) und welches Verhältnis diese allgemeine Grundlage zu der zunächst skizzierten Eigenart moderner Gesellschaft (Giddens 1991: 10ff.) eingeht (Giddens 1991: 109ff.). Invariant ist laut Giddens eine in Verbindung zwischen Heidegger’scher Existentialontologie und spät-psychoanalytischer Entwicklungs- und Bindungstheorie (E. Erikson und D. Winnicott) skizzierte Psychologie menschlicher Existenz; variant sind die sozialen Institutionen, Strukturen und Semantiken (einschließlich intersubjektiver Bindungsformate), die gesellschaftliche Resonanzen auf und Formierungen von solchen psychologisch-existentiellen Selbstbeziehungen liefern bzw. ermöglichen oder auch einschränken. Zu den Details der Invarianten zählen also existentialistische Merkmale wie die prinzipielle Kontingenz des Daseins, der Reflex auf diese Kontingenz, der in der fundamentalen »Angst« besteht, die ihrerseits der existentiellen Antworten auf die Grundfrage nach dem Sinn und den Sicherheiten der eigenen Existenz bedarf. Die Verbindung zur sozialen Umgebung zieht Giddens, indem er die paradigmatisch a-soziale Konzeption Heideggers7 durch Ausgriffe auf die Theorie des »Urvertrauens«, das immer soziale Rücklagen habe, in seiner Beschreibung ergänzt (Giddens 1991: 38ff.). Der Übergang in die moderne Identitätsformation ist nun – in konsequenter Ausnutzung des Status, den Giddens zuerst der Tradition und dann begrenzten Praktiken als Rückhalt für ontologische Gewissheiten gegeben hat – durch den Übergang von stabilen, kollektiv und lebenslang eindeutigen, zu institutionell und objektiv fluideren Gestalten der Selbstabsicherung charakterisiert (Giddens 1991: 144ff.: »The Sequestration of Experience«). Damit wird für das moderne Subjekt zunehmend relevant, was Giddens den Subjekten überhaupt als Potential der existentiellen Lebensführung zuschreibt: die Reflexivität, die den Spielraum zur Veränderung sozialer, institutioneller und normativer Vorgaben für eine legitime und sichere Lebensführung (einschließlich standardisierter biographischer Verlaufsmuster) zum Charakteristikum der individuellen Selbstverhältnisse werden lässt. Der personalisierte und für das Handeln bestimmende Zeithorizont der jeweils eigenen Biographie wird aus den narrativen Standardisierungen einer stabilen Sozialstruktur entlassen, sodass nun zur alltäglichen Herausforderung werden kann, was die existentia7 | Die existentielle Entscheidung als »Selbstbestimmung« in echter ontologischer Freiheit ist Überwindung sozialer Formen und Sicherheiten, die als »öffentliche Ausgelegtheit« des »Seins« nur entfremdende Effekte haben sollen. »Jeder ist der andere, und keiner er selbst«, siehe Heidegger 1984: 128.

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listische Theorie als Sonderfall »eigentlicher« Personen verstanden hatte. Zum individuellen Projekt des Lebens gehört dann, was Heidegger in den Vordergrund der Daseinsanalyse gestellt hat, der Entwurfscharakter des Daseins und der untilgbare »Ausstand« der realisierten Identität, die also »zu realisierende« bleiben muss, und eben deshalb zum Weitermachen treibt. Die Individualität des Identitätsprojektes macht sich dadurch bemerkbar, dass sowohl Weg als auch Ziel des Lebenslaufes selbst entworfen, nicht nur selbst gewählt, sind. Denn die Wahl, wer ich sein und werden will, individuell zu treffen, selbstbestimmt, in der positiven Freiheit des Entwurfes, macht dass resultierende Projekt noch nicht zu einem individuellen, solange die Möglichkeit besteht, dass jene Wahl nur eine Entscheidung zwischen heteronom gesetzten Zielen, zwischen sozial gewährleisteten, typischen und allgemein standardisierten Zielen oder Lebenslaufvarianten ist, wenn also die positive Freiheit, sich zu entscheiden, nicht von der negativen Freiheit von der Beschränkung der Optionen begleitet ist. Spätmoderne »Individualisierung« als strukturelle Motivation zu Reflexion auf sich selbst ist deshalb zunächst nur die halbe Fahrt ins Reich der existentiellen Selbstschöpfung. Denn mit der Enttraditionalisierung der möglichen Antworten auf existentielle Fragen ist – ganz im Einklang mit der bereits oben beschriebenen These der »Individualisierung« – keinesfalls von selbst und nicht eindeutig, nicht mal in der Regel oder zumeist, ein Zuwachs an »Freiheit« verbunden. Der Ausdruck »Sequestration« im erwähnten Kapiteltitel indiziert entsprechend, dass subjektive Erfahrungen gegen den Druck der Enteignung durch auferlegte Vorlagen und Formate gewissermaßen verteidigt werden müssen (und dafür sind sozial ungleich verteilte Ressourcen erforderlich, sodass also die Gewährleistung von Chancen auf »Selbst-Entfaltung« schichtenspezifisch ausfällt). Denn die Folge der Beschleunigung des Wechsels und der Multiplikation sozialer Einflüsse und Resonanzräume, der Kontingentsetzung traditionaler Antworten und entsprechender »ontologischer Sicherheiten«, ist eine paradoxe Situation, in der das Individuum aus strukturellen Gründen vor diverse, kaum auflösbare Dilemmata gestellt ist: das Individuum muss einen Weg zwischen den Polen der Vereinheitlichung und der Fragmentierung des Selbst finden, ohne das Problem nach nur einer Seite hin auflösen zu können (Giddens 1991: 189f.). Das Individuum ist dabei zugleich den widerstreitenden Erfahrungen ausgesetzt, dass einerseits im Prinzip alles möglich ist, ihm alle denkbarem Wege und Selbsterzeugungspfade offen stehen, und andererseits die überwältigende Komplexität das Gefühl der Ohnmacht erzeugen muss (Giddens 1991: 191ff.); zusätzlich sorgt die Erosion traditionaler (auch interpersonaler) Autoritäten für den Zwang, sich irgendwo im Niemandsland zwischen sicheren Festlegungen bzw. Verpflichtungen und unsicheren Beziehungen, die Freiheiten und Exit-Optionen offen halten, zu bewegen (Giddens 1991: 194ff.), schließlich ist die existentiell »freie« Wahl des jeweils eigene Weges ständig der Verführung durch die leichte Konsumierbarkeit standardisierter

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und kommodifizierter Formate der Lebensführung ausgesetzt. In der Summe droht – was nun keine überraschende und übermäßig originelle Diagnose darstellt – »Sinnlosigkeit« des jeweils individuellen und sozial nicht en détail vorbestimmten Lebens (Giddens 1991: 201ff.). In späteren, kurzen Ausführungen zu den Folgen des Übergangs in die reflexive Moderne für die jeweils individuelle Identität beschränkt sich Giddens denn auch auf die kursorische Andeutung zweier möglicher Reaktionen auf die desorientierenden Folgen des Verlusts an personenrelevanten Traditionen: die Sucht als Kompensation und Zeichen »erstarrter Selbstbestimmung« sowie die boomende Therapeutisierung der Lebensführung (Giddens 1999: 62f.).

IV. D ifferenzierung stat t S truk tur ation Einige mögliche Einwände gegen die Theorie der »Dualität von Struktur« sind bereits genannt worden. Giddens bemüht heterogene handlungstheoretische Traditionen, ohne alle Spannungen, die zwischen diesen Ansätzen bestehen, restlos in einer konsistenten Theorie auflösen zu können, weil seine Praxistheorie trotz aller Anleihen bei Wittgenstein und Heidegger eine modifizierte Variante des methodischen Individualismus bleibt. In der Tat ist gegenüber dem integrativen Zugriffs der Giddens’schen Rekonstruktion heterogener Traditionen in Philosophie und Soziologie explizit der Vorwurf der unnötige Überfrachtung erhoben worden (so: Balog 2001). Gerade die makrotheoretischen Begriffe, das Netz von Konzepten, die den allgemeinen Begriff der »Struktur« variieren, zeichnen sich nicht durch beispiellose Konsistenz aus. Es finden sich z.B. erheblich widersprüchliche Inklusionsbeziehungen zwischen Strukturprinzipien, -momenten und Strukturen (vgl. Giddens 1997: 215ff.). Das Problem der Theorie der »Strukturation« besteht jedoch nicht allein in gewissen begrifflichen Unklarheiten. Unbequeme Konsequenzen hat vor allem die Reduktion von Phänomen der Verdinglichung und Abstraktion auf naturkausale Ordnungen (daraus leitet Giddens dann, wie gesagt, z.B. erhebliche Vorwürfe gegen Durkheim ab) und die dagegen gerichtete Insistenz auf die prinzipielle Erreichbarkeit von Strukturen durch das reflexive Handeln. Strukturen sind nach Giddens inexistent, wenn sie nicht als Regeln und Ressourcen, als Erinnerungsspuren in actu durch Handlungen realisiert werden (Giddens 1997: 69), sodass es keine Selbstorganisation von Makroeinheiten geben kann bzw. geben soll. Phänomene der subjektiven Undurchdringlichkeit sozialer Strukturen muss Giddens deshalb in eine Theorie unbewusster Motivation stecken, die identitätstheoretisch durchaus insoweit eine störende Bürde bedeutet, als sie dazu verpflichtet, den Zuwachs an »wirklicher« (siehe oben) subjektiver Freiheit wie in einem Nullsummenspiel an einen Abbau der Selbständigkeit und Stabilität systemischer und institutioneller sozialer

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Einheiten zu binden – es wäre im Unterschied dazu beispielsweise denkbar, Spielräume individualisierender existentieller Wahl von systemischen Logiken stärker »abzukoppeln«. Die Giddens’sche Logik revitalisiert – trotz aller praxistheoretischen Raffinesse – am Ende doch wieder praxisphilosophische Hoffnungen auf den Fluchtpunkt einer Versöhnung des Gegensatzes zwischen Individuum und Gesellschaft. Bestätigt wird das dadurch, dass Giddens Ordnungseffekte auf Größenordnungseffekte beschränkt, die in den Dimensionen von Zeit und Raum liegen, ohne ein diesbezüglich adäquates und konsistent in seine Theorie integriertes principium extensionis angeben zu können, dass jene Ausdehnung von »Strukturprinzipien« in Raum und Zeit als motiviert, als funktional, kausal oder intentional oder wie immer begründet ausweisen könnte. Jenseits von »Subjektivismus« und »Objektivismus« (Bourdieu 1979 und Giddens 1997) genügt es nicht ein »sowohl als auch« zwischen Struktur und Akteur (vgl. zur Kritik daran: Archer 1988) oder zwischen System und Subjekt oder zwischen Diskurs und performativer Subversion (Butler 1998) zu postulieren. Insgesamt ist eigentlich kaum einzusehen, was an »dualistischen« Theoriekonzeptionen auszusetzen ist, wenn diese den Gegensatz z.B. zwischen abstrakten (makroskopischen) mediengestützten Ordnungen und konkreten Praktiken als einen seinerseits aus sozialer Differenzierung hervorgegangenen, also historisch gewordenen, aber real wirksamen Gegensatz zwischen Ordnungsebenen ansehen (Renn 2006). Handlungen werden auch in der Sichtweise einer solchen Konzeption selbstverständlich von Akteuren ausgeführt; der Sinn solcher Handlung spaltet sich jedoch in den Übergängen zwischen ausdifferenzierten gesellschaftlichen Kontexten in jeweils kontextspezifische Deutungen bzw. Anschlussselektionen an solche Handlungen. Insofern könnte die Analyse des Verhältnisses zwischen Struktur und Handlung Bewegungsfreiheiten gewinnen – die auch für die Frage nach der Identität der Person als ein intentionales Selbstverhältnis in Beziehungen zu praktisch entkoppelten, heterogenen Identitätszuschreibungen relevant ist – wenn sie Grenzen zwischen differenzierten Kontexten als Sinngrenzen betrachtet, die durch einen »Bedeutungsbruch« markiert werden. Daraus folgt, dass abstrakte Bestimmungen des Handlungssinnes – anders als es der methodische Individualismus und auch die Praxistheorie der »Strukturation« behaupten (Giddens 1997: 69) – nicht auf die Leistungen und Intentionen handelnder Subjekte zurückzuführen ist und durch diese gestützt werden müssen. Bezogen auf die identitätstheoretischen Überlegungen von Giddens sind entsprechend Vorbehalte zu nennen, die sich auf die Unterstellung invarianter Charakteristika subjektiver Selbstverhältnisse beziehen. Es ist durchaus die Frage, ob die Verbindung von existential-ontologischen und entwicklungspsychologischen Bestimmungen Stand halten kann im Test auf historische und interkulturelle Verallgemeinerbarkeit, ist doch die Heidegger’sche Philosophie selbst erklärtermaßen eine geschichtliche Reflexion – auch wenn sie Veran-

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kerungen in allerdings paradoxen Artikulationen des »Seins«, wie es sich von sich aus zeige, sucht – und beruht die Entwicklungspsychologie als empirische Disziplin auf Verallgemeinerungen, die sich auf eine historisch und kulturell kontingente Lage personaler Infrastrukturen bezieht. Ohne Weiteres ist nicht ausgemacht, ob nicht postmodernistische Subjektmodelle, die das Ziel der Einheit der Person als solches demissionieren (Foucault 1984; vgl. Gergen 1996) ihre guten Gründe haben.

V. I nspir ationen und A spir ationen : S pätmoderne »E xistentialität« Nichtsdestotrotz bleibt an Giddens origineller Suche nach Übergängen zwischen Theorietraditionen, soziologischen Zeitdiagnosen und Identitätstheorien vieles ausgesprochen inspirierend. Jenseits der zumindest im Ansatz angestrebten Verknüpfung von existentialistischen, praxistheoretisch-pragmatistischen und makrotheoretischen Zugängen wären die paradoxen oder auch nur widersprüchlichen Bedingungen spätmoderner personaler Identität als solche kaum identifizierbar, denn es ist zur Identifizierung der Dilemmata subjektiver Freiheit notwendig, die Analyse der Identität von Personen (als Individuen) zwischen kognitiver Selbsterkenntnis und pragmatischer Selbsterzeugung mit der Tiefenschärfe der existentialistischen Subjekttheorie zu versehen – anderenfalls wären einerseits individuelle Entscheidungen in existentieller Autonomie und andererseits personale Nachahmungen heteronomer Formate kaum von einander zu unterscheiden. Die Umdeutung der individuellen Identität von einer Substanz zwischen Subjektivismus und Objektivismus zu einem Projekt im Medium der Praxis macht deutlich, dass es sich bei der modernen Identität um das Prinzip einer von Subjektformaten nicht hinreichend bestimmbaren »Sorge um sich selbst« handelt. Die Identität des Individuums nimmt »transitorische« Züge an (Renn, Straub 2002), sodass sie jenseits der Alternative zwischen sozialer Determination und existentieller Freiheit als eine »kreative« und performativ auf Dauer gestellte Individualisierung von externen Vorgaben mit Aussicht auf eine individuelle, wieder erkennbare, kontinuierliche Identität zum Projekt einer notwendig immer provisorischen Selbstentfaltung wird. Was »die« Moderne (besser: die modernen Übersetzungsverhältnisse zwischen ausdifferenzierten Bezugnahmen auf die Person, Renn 2006: 432ff.) dann also an der Individualität der Individuen für diese Individuen freilegt, ist die Notwendigkeit der Anerkennung der Differenz zwischen expliziter Identifizierung und implizit-praktischer Artikulation der Person. Ihre Identität verbleibt im Modus einer niemals abschließend erfüllbaren Aspiration (des »Ausstandes« der vollendet selbst-identifizierten Identität, im Sinne von: Heidegger

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1984), die als solche allerdings – in modernen Verhältnissen – als explizite Aspiration sozial erwartet, gewährt und als negative, weil Eigenorganisation einschließende, Koordinationsform institutionalisiert sein und deshalb unterstützt werden kann. Die oben angesprochene Ambivalenz, dass Giddens einerseits wesentliche Bestimmungen der Form der individuellen Identität in den für allgemein gültig, also überhistorisch erachteten Begriff des handelnden Subjekts überhaupt hineinlegt – die Struktur der Existentialität, das Vermögen der reflexiven »Ergreifung« des eigenen Handelns als das »eigene« Handeln und damit die entschlossene Selbstkonstitution des Selbst – andererseits aber die sozial konstituierte Existentialität moderner Subjekte als Spezifikum moderner bzw. »zweitmoderner« Identitäten ausgibt, ist deshalb vielleicht mehr als nur ein störender Widerspruch. Diese Ambivalenz der Identitätstheorie Giddens’scher Provenienz (moderne als allgemeine Identität?) lässt sich als Andeutung einer reizvollen Figur der theoretischen Selbstbegründung verstehen: zunächst kann die Theorie unterscheiden zwischen dem allgemeinen Potential praktisch konstituierter Subjektivität und den kontingenten Bedingungen der faktischen Ausdifferenzierung subjektiver Selbstverhältnisse aus traditionellen und konventionellen Bindungen. Dann kann sie aus dieser Unterscheidung die Bedingung der Möglichkeit ihrer selbst, d.h. der theoretischen Artikulation des – der eigenen Rekonstruktion zufolge – historisch zunächst verstellten Potentials ableiten, denn die gleichen sozialen Bedingungen, die wenigstens der Tendenz nach »Existentialität« zum zugeschriebenen und potentialiter übernommenen Charakteristikum der Individuen macht, regen die entsprechende theoretische Artikulation jener Existentialität im Sinne einer Explikation sachlich implizierter Entwicklungen an. Wenn die diagnostische Beschreibung moderner Individualisierung als die Figur einer soziostrukturell erzwungenen Entbindung eines allgemeinen Potentials subjektiver Selbstbestimmung verstanden werden kann, dann wäre das nicht mit der Affirmation einer teleologisch verstandenen, geradezu hegelianisch sanktionierten Modernisierung zu verwechseln. Sozial bedingte Existentialität bleibt eine erzwungenermaßen erschlossene freie Sorge um sich selbst, sodass die Freiheit der Individuen paradox, von Heteronomie durchzogen und auf Dauer in den Widerstreit zwischen Zwang zur Freiheit und Gewährleistung von Selbstbestimmung verstrickt bleibt. Gleichwohl wirft auch die funktionale Subjektivierung gleichsam gegen ihren Willen mindestens die Möglichkeit der Artikulation einer regulativen Idee als Richtlinie der Aspiration zur jeweils eigenen Identität ab. Und auch wenn diese Aspirationsrichtlinie dauerhaft und je nach Situation und Lokalität nach stets revidierter Bestimmung ruft, behält sie doch als spezifische Gestalt immer eine Familienähnlichkeit zum guten alten Leitstern der Aufklärung: der individuellen Freiheit.

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2. Diskurs – Macht – Subjekt Foucaults Sozial-Existentialismus und die Pragmatisierung der Diskursanalyse

I. D er voreilige A bschied vom S ubjek t Macht der Diskurs das »Subjekt«? Das scheint lange Zeit und teils immer noch als Standardlesart der Foucault’schen Analytik zu gelten. Und in der Tat schärfen Foucaults Untersuchungen der Macht und diverser vermeintlich epochaler Formen der »Subjektivierung« nachhaltig die Sensibilität für mögliche Selbsttäuschungen der modernen Subjektemphase. Spricht »das« Subjekt in den Sprechakten, denen wir aufgrund fest etablierter Konventionen einen individuierten Sprecher, eine Sprecherin zuordnen, oder ist eben diese Zuordnung nur ein mit Macht (und dabei ohne Absicht) durchgesetzter, in seiner Kontingenz verschleierter, diskursiver Effekt? Und ist es überdies nicht eine den darin liegenden Argwohn bestätigende Tatsache, dass das »Ich« der Aussage, erst an der Differenz zwischen dem womöglich »beabsichtigten«, expressiv gemeinten Sinn und seiner Resonanz in den »Anschlussakten« diskursiver Ketten sich als einen Unterschied erfahren kann, als einen Unterschied jedoch, der dann aber diskursiv keinen Unterschied macht, weil die Formate der Person, die eben nicht durch die machtvoll institutionalisierten Raster des Diskurses fallen, gar keinen individuellen Gehalt über die numerische Identifizierung hinaus abwerfen? Oder handelt es sich bei dieser Uminterpretation der Identität des Subjekts zur exklusiv diskursiven Erscheinung in den Formaten der machtvollen Allgemeinheit des Sagbaren nicht doch um eine bloße Überdramatisierung? Dass die Person sich nicht als sie selbst im Unterschied und als Unterschied zu allen anderen im Medium einer Sprache »ausdrücken« oder gar »repräsentieren« kann, in einer Sprache, die zwischen ihr und diesen anderen Verbindung und Verbindlichkeit schaffen können soll, das muss und kann ja kaum bestritten werden. Ist aber über die Sprache genug gesagt, wenn der zweifellos folgenreiche, nicht aber einzig mögliche Aggregatzustand der Sprache, der mit dem Begriff des »Diskurses« angezeigt wird, allein für die soziale Dimension der

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personalen Selbstbeziehung verantwortlich gemacht wird? Es ist demgegenüber zu überlegen, ob nicht gewisse Formen des Sprachgebrauchs gerade wegen der Etablierung fest gefügter diskursiver Horizonte Zugänge zur individuellen Person legen, die den Abschied vom Subjekt als eine zweifelhafte Stilisierung erscheinen lassen. Das kann man am Beispiel Foucaults durchspielen, und bei genauerer Betrachtung fällt auf, dass er es selbst bereits zwar indirekt, aber trotzdem so intensiv durchgespielt hat, dass am Ende der große Vertreter der machtkritischen Subjekt-Absage geradezu existentialistisch motiviert zu sein scheint. Zuerst aber ist der Standardlesart der Diskurstheorie die Reverenz zu erweisen. Mit Foucault gerät die »Subjektphilosophie« noch einmal ganz anders unter Druck als durch die schon früher durch den »linguistic turn« geltend gemachte Indifferenz gegenüber dem »Mentalen«. Eine bildreiche »Kritik der Macht« zündet stärker als eine ungleich nüchterne »Vertreibung der Gedanken aus dem Bewusstsein« (Dummett 1992). Die auf das Werk von Michel Foucault zurückgehende diskurstheoretische Tradition gibt einer alten Geschichte einen neuen Plot: Das individuelle Bewusstsein ist nicht Herr im eigenen Hause. Nach der heliozentrischen Kosmologie und nach der Evolutionstheorie Darwins ist dies die dritte dezentrierende Kränkung der (modernen) humanen Selbsteinschätzung, die der Freud’schen Psychoanalyse zu verdanken sein soll. Das ist mittlerweile die alte Geschichte. Die von Michel Foucault in die Diskussion der späten Moderne unüberhörbar eingebrachte Diskursanalyse ergänzt und radikalisiert diese Kränkung. Denn Foucault führt subjektive Selbstverhältnisse auf den Effekt von Dispositiven und von diskursiven »Subjektivierungen« zurück. Damit fällt auch noch die individuelle Autonomie, die das Ziel einer erfolgreichen Psychoanalyse (»wo Es war, soll Ich sein«) wäre, der Wiederbelebung Nietzsches zum Opfer und wird als ein historisch voraussetzungsvoller Schein entzaubert (Foucault 1983). Die scheinhafte Autonomie, hinter der sich bestenfalls auferlegte Formen der Selbstdisziplinierung, der verhohlenen Unterwerfung unter ein äußeres Gesetz der Selbstkontrolle verbergen, machen das Bewusstsein auf den ersten Blick vom Herrn über sich selbst zu einem Knecht äußerer Verhältnisse. Aber wessen Knecht soll das »Ich«, das individuelle Selbst, das nur glaubt, über sich zu verfügen, sein, wenn die Macht über das Selbst keiner Person, sondern anonymen Diskursen zukommt, wenn überdies die subtilste wie nachhaltigste Verknechtung in der Form subjektiver Selbstbeherrschung besteht, also in der Delegation an ein Agens, das immerhin agieren muss, um beherrscht zu werden? In der jüngeren Diskussion um die Foucault’sche Diskurstheorie sind Vorbehalte gegen die starke Version diskursiver Subjektivierung vernehmbar geworden, die das Misstrauen gegen die Souveränität des »Subjekts« nicht länger als das letzte Wort der Diskurstheorie gelten lassen wollen; nicht nur hat sich

Diskurs – Macht – Subjekt

der Fokus der Arbeiten Foucaults von der Disziplinar- zur »Pastoralmacht« fortbewegt, sondern neuere Diskurstheorien weben Fäden der Aufmerksamkeit für die kontrolltranszendenten Praktiken und Spielräume der Personen in den Text der Machtanalytik ein. Die folgenden Überlegungen untersuchen die Implikationen der viel diskutierten Stichworte der »Performativität«, des »postsouveränen Subjekts« und der »re-signifizierenden Praktiken« (etwa: Butler 1998; de Certeau 1988) aus der Perspektive einer pragmatisierten Diskurstheorie. Eine solche Diskurstheorie rechnet auf der Basis handlungstheoretischer Motive des amerikanischen Pragmatismus bei der Analyse diskursiver Ereignisse die Abhängigkeit diskursiver »Ordnung« von der Ebene des »Vollzuges« stärker ein als es die gängigen Lesarten der Diskurstheorie als einer »post-subjektivistischen« Konzeption von Sprache (und Macht) erlauben wollen. Der Vollzug von Diskursen mag dabei selbst wieder auf anonyme Sequenzformate wie »Praktiken« zugerechnet werden; das subjektive Moment der Intentionalität muss aber in pragmatistischer Lesart notwendig schon von vornherein wirksam (nicht unbedingt: seiner selbst gewiss) sein, bevor es durch Diskurse »erzeugt« bzw. suggeriert wird, ohne dass dabei souveräne Subjekte, Akteure oder Sprecher frei von Abhängigkeiten unterstellt werden müssten. Wenn das Verhältnis zwischen Diskurs und Bewusstsein (Renn 2005) als eine »Übersetzung« zwischen diskursiven Formaten und intentionalen Vollzügen einer mehrdimensionalen »Selbstbehauptung« betrachtet werden kann, dann stellt sich die Konstellation zwischen Diskurs und empirischen Subjekten anders dar, als es das etablierte Konzept der »Subjektivierung« vermuten lässt. Aus einer konstitutionstheoretischen Einbahnstrasse wird ein dynamisches, als solches aber noch weitgehend ungeklärtes Verhältnis. Die diskursanalytische Frage nach dem Bewusstsein berührt unter der Voraussetzung einer entsprechenden Akzentverschiebung die eher soziologische Diskussion über das Verhältnis zwischen Struktur und Akteur oder auch »agency« (Archer 1988). In beiden Traditionen – in der Foucault’schen wie in den Debatten über die »Dualität« der Struktur (Giddens 1995 und 1997; vgl. Joas 1997) – wird allerdings noch immer als Kontrastbild und Kritikadressat ein rationalistisches Modell des agierenden Subjektes und seines (vorzugsweise propositional strukturierten) Bewusstseins mitgeschleppt. Genau daraus folgt häufig der Zwang, die Konstitutionsrichtung einfach umzukehren und »Subjekte« zu bloßen Effekten zu verdünnen. Im Gegensatz zu einer solchen statischen Konfrontation zwischen Diskurs und Subjekt führt die Rekonstruktion der performativen Gestalt personaler Identität zur Analyse spezifischer »Übersetzungsverhältnisse« zwischen Intentionalität, Existenz und diskursiver Formation. Diese in den folgenden Passagen angedeutete Rekonstruktion ist hier weitgehend als Lektüre der Foucault’schen »Subjekt-Theorie« angelegt, gestützt auf die Vermutung, dass eine »pragmatisierte« Diskurstheo-

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rie keineswegs gegen die Intuition und die systematische Botschaft Foucaults formuliert werden muss, sondern sich im Gegenteil auf eine geradezu recht verstandene Foucault’sche Machtanalyse berufen darf, sofern diese selbst – weitgehend unbemerkt und häufig vom Autor widersprochen – innerhalb der post-ontologischen Theorielandschaft in der Tat existentialistische Motive am Leben erhält.

II. F reiheit z wischen M acht und H errschaf t In seinen späteren Arbeiten und in Interviews spricht Foucault in auffälliger Weise von der Freiheit. Gegen die von mancher Seite angemahnte Gefahr der Übergeneralisierung des Machtbegriffes (Honneth 1985; Dreyfus, Rabinov 1987) bietet Foucault in dieser Phase und an diesen Stellen zwei Differenzierungen auf. Sie machen es möglich, die Macht und ihre Wirkungen entgegen einer inflationierenden Verwendung des Begriffs durch Unterscheidungen zu bestimmen. Eine dieser Unterscheidungen wird von Foucault dabei explizit durch das Verhältnis zwischen Macht und Freiheit bestimmt. In einem Gespräch stellt Foucault 1984 fest, dass er kaum und ungern von der »Macht« spreche, sondern den Begriff der »Machtbeziehung« vorziehe, und er legt großen Wert auf die Feststellung, »dass es Machtbeziehungen nur in dem Maße geben kann, in dem die Subjekte frei sind. Wenn einer von beiden vollständig der Verfügung des anderen unterstünde und zu dessen Sache geworden wäre, ein Gegenstand, über den dieser schrankenlose und unbegrenzte Gewalt ausüben könnte, dann gäbe es keine Machtbeziehungen. Damit es also Macht geben kann, bedarf es auf beiden Seiten einer bestimmten Form von Freiheit« (Foucault 2007: 267). Ganz unabhängig von dem Modell der Dialektik zwischen Herr und Knecht (Hegel 1952; dazu: Honneth 1985), in der sich die Abhängigkeit des Unterworfenen qua Angewiesenheit des Herrn auf die Unterwerfung gegen diesen kehrt, ist die Subjektkritik Foucaults also nicht. Trotz aller Abstände zu Hegel finden wir die – zweifellos soziologisch interessante – Figur wieder, dass die Rolle des Herrn durch die Abhängigkeit von der Kooperation des Knechtes in ihr Gegenteil tendiert, weil und sofern diese Abhängigkeit auf der Freiheit des Unterworfenen fundiert bleiben muss. Sicher ist die Position der Knechte durch Unterwerfung charakterisiert, aber diese Unterwerfung ist, solange die Freiheit für das Mitspielen notwendig bleibt, nicht nur eine passive (mit Foucault und der psychoanalytischen Subjektdekonstruktion wäre diese passive Charakteristik schon dadurch erzwungen, dass die grundsätzliche Konstitution des Selbstverhältnisses heteronom, auferlegt und abverlangt statt zugestanden, ist). Diese Unterwerfung ist vielmehr – in dem Maße, in dem Freiheit notwendig bleibt – auch eine aktive von Seiten der Unterworfenen, denn

Diskurs – Macht – Subjekt

die Macht bedarf der Kooperation und vor allem eines Restes an prinzipiell revidierbarer Unterwerfungsbereitschaft durch die Unterworfenen, die – immer im Prinzip – die Zumutung der Knechtschaft auch bei Strafe der eigenen Vernichtung mit radikaler Verweigerung beantworten könnte (Renn 2006: 471ff.). Daran ändert sich auch nicht dadurch schon alles, dass bei Foucault nicht personale Herren oder handfeste Eliten die Macht in den Händen haben bzw. handelndes »Subjekt« der Unterwerfung sind (sie sind ja selbst Unterworfene), sondern anonyme transsubjektive selbstorganisierte Ordnungen – eben »Diskurse« (Foucault 1973a, 1976, 1994). Auch die Diskurse – was immer wir genau darunter verstehen wollen1 – bedürfen der Kooperation der verknechteten Sprecher und Handelnden, so sehr diese auch den beschränkenden aber auch ermöglichenden (weil nämlich »konstitutiven«, im Sinne von: Searle 1992) Bedingungen spezifischer Ordnungen des Sprechens und Handelns subordiniert sein mögen. Die Sprecher und Handelnden können die Regeln, die beispielsweise illokutionäre Modi von Sprechakten bestimmen, oder die »Rahmen« und Exklusionsformen, die festlegen, was innerhalb der legitimen Kommunikation Hausrecht erhält, nicht freizügig, spontan, kurzfristig verändern. Die subversiv-subtile und notwendig defensiv-allmähliche Resignifikation (Butler 1998), bei der diskursiv festgelegte Bedeutung »taktisch«, also durch allmähliche und performative Um-Funktionalisierungen (de Certeau 1988) transformiert, wenn nicht umgekehrt werden, ist keine revolutionäre Option. Sie geht wenn überhaupt den Weg einer allmählichen und unplanbaren strukturellen Drift (Renn 2005). Aber die Sprecher und handelnden Individuen, obwohl angewiesen auf Positionierungen, über die sie nicht verfügen, können aussteigen, sich verweigern, das Spiel unterlaufen, und sei es durch den eigenen Tod. Wenn diese Option, als zweifellos »theoretische« Alternative zur bereitwilligen Unterwerfung, auch für Foucault im Bereich der notwendigen faktischen Möglichkeiten liegt, kann man dann soweit gehen zu behaupten, 1 | Foucault selbst bestimmt, wie in der Literatur ausgiebig dokumentiert ist (Dreyfus, Rabinov 1987; Bublitz, Bührmann 1999; Kögler 1994), den Begriff des Diskurses durchaus je nach Phase des Werkes und Fokus der Aufmerksamkeit unterschiedlich. In der »Archäologie des Wissens« findet sich die vielleicht expliziteste Ausarbeitung des Diskursbegriffes, die um die Bestimmung der Rolle, der Funktion, der Form und der Struktur der »Aussage« kreist (Foucault 1973b). Signifikanterweise bleibt die Reihe der Bestimmungen dessen, was eine Aussage sei, und damit die indirekte Charakterisierung des Diskursbegriffes, fast ausnahmslos eine Liste negativer Bestimmungen, die angeben, was eine Aussage gegenüber traditionellen Bestimmungen nicht sei, ohne dass in jedem Falle auf der Grundlage des Textes eindeutig auszumachen ist, ob es sich um bestimmte Negationen handelt und, wenn ja, im Horizont welcher konkreten Gegensätze diese Negation operiert. Darum zeigt sich Foucaults Begriff des Diskurses primär performativ in seinen Anwendungen auf materiale Fragen.

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dass Foucault an dieser Stelle und – bezogen auf die Konjunktur des Subjektthemas in seiner späten Werkphase – am Ende trotz expliziter Distanzierung tatsächlich »existentialistisch« argumentiert? Eine existentialistische Konnotation lässt sich in der Tat hinter Foucaults wiederholten Beteuerungen, im Grunde immer das Subjekt im Fokus seiner Aufmerksamkeit gehabt zu haben, entziffern2, wenn zwei Bedingungen erfüllt sind: Erstens muss man einrechnen, dass Foucault gegenüber der offiziellen existentialistischen Metaphysik der Freiheit (Sartre 1985) grundsätzliche Vorbehalte äußert. Die Existenz geht nicht nur der Essenz und der Substanz (des subiectum) voraus, sondern sie ist in ihrer spezifischen Freiheit, in deren Radius und bezogen auf die personale Zurechenbarkeit ihrerseits historisch bedingt und deshalb eine Partikularität, nicht aber eine universale conditio humana3. Existentielle Verhältnisse bleiben dann, um es auf eine Formel zu bringen, soziale Verhältnisse, sodass bestenfalls eine »sozial-existentialistische« Option (vgl. Renn 2000) sichtbar wird. Zweitens ist es nötig, zwischen den normativen und den theoretischen Gehalten existentialistischer Positionen und Heuristiken zu unterscheiden. Normativ nimmt Foucault jeder Begründung kritischer Maßstäbe durch die konsequente, von Nietzsche beeindruckte, Geltungsepoché in seinen positiven Beschreibungen der diskursiven Fundamente von Geltungsorientierungen die Luft aus den Segeln. Foucault geht mit Nietzsche den Weg, die Berufungen auf universale Geltung insgesamt außer Kraft zu setzen, Wahrheitsansprüche als diskursimmanente Institutionen innerhalb von »Wahrheitsspielen« zu beschreiben und entsprechend Phänomene geglaubter Geltung bzw. sozialer Geltungsansprüche auf soziale Prozesse, auf diskursive Ordnungsbildungen und entsprechende Ausschlüsse zurückzuführen: Es gibt keinen substantiellen Wahnsinn, wie es keine substantielle Vernunft gibt (Foucault 1973a: 107ff. und 1983). Foucault untersucht nicht, was vernünftig oder was wahnsinnig »ist«, sondern was auf welche bestimmte Weise unter Ausschluss von anderem von »Wahnsinn« und von »Vernunft« reden macht (eben: »Diskurse«). Das methodische Problem der Ausweisung des eigenen Standpunktes – jenseits von eher ironischen Selbstauskünften wie dem Titel eines »fröhlichen Positivismus« (Foucault 1973b: 182) – treibt seine Analysen weniger zurück in die Irrgärten der Letztbegründung als voran zu immer neuen Analysen »positiver« Diskursbestände (vgl. Dreyfus, Rabinov 1987). Die machtkritische Attitü2 | So lesen wir: »Nicht die Macht, sondern das Subjekt ist deshalb das allgemeine Thema meiner Forschung« (Foucault 1987: 243). 3 | Mit dieser historisierenden Einschränkung ist auch der impliziten Kritik an der Sartre’schen Emphase genüge getan, die Merleau-Ponty in seiner Kommentierung der Freiheit, die durch die situationsgebundene Perspektivität des leiblichen Ego immer relativ sein muss, vorgelegt hat (vgl. Merleau-Ponty 1966).

Diskurs – Macht – Subjekt

de, die für Generationen von Foucault-Verfechtern der legitime Nachfahre der kritischen Theorie Frankfurter Provenienz ist, appelliert nur mehr implizit an die partikularen weil nicht universalisierbaren, restbürgerlichen Empörungswerte, die »wir« lebensweltlich verankert mit Phänomenen der Exklusion und der Unterwerfung verbinden (vgl. Renn 2009). Im oben zitierten Gespräch von 1984 scheint Foucault jedoch eine konkrete historische Formation bzw. ihre Ideologie, die Überzeugung nämlich, dass die authentische, die gelungene »Sorge um sich« dem ethischen Prinzip, Macht nicht in Herrschaft verkommen zu lassen, von selbst genüge, als eine positive Beschreibung gültiger ethischer Prinzipien zu vertreten. Wenn dieses Bekenntnis nicht allein dem rollenspielenden Wechsel zwischen Teilnehmerund Machtkritikerposition geschuldet ist, signalisiert dieses Bekenntnis zum positiven Ethos der Herrschaftsfreiheit Foucaults impliziten normativen und theoretisch ausdrücklichen Existentialismus, der wegen der historisch-sozialen Einbindung des Ethos und seiner expliziten Artikulation nur ein »Sozialexistentialismus« sein kann. Theoretisch macht sich in dieser Figur ein Moment generalisierbarer Unterstellungen bezogen auf das Verhältnis zwischen individueller Existenz und diskursiver Regulierung des Sagbaren bemerkbar: Wenn es Machtbeziehungen geben soll, muss es Freiheiten geben – daraus folgt über einige Schwellen der Rekonstruktion von Implikationen hinweg aber auch: Diskurse bedürfen der Agency, ohne sie selbst gewissermaßen aus dem rein passiven Material der Körper restfrei erzeugen zu können oder erzeugt zu haben. Von der »Subjektseite« aus, die zuerst nicht mehr als die Intentionalität eines schon mit Willen begabten, individuellen Organismus sein muss, heißt das: Die existentiellen Spielräume der Individuen sind sozial von Diskursen umstellt, durchdrungen, regiert und vielleicht sogar heteronom erzeugt, zugleich aber sind diese Spielräume selbst Bedingung der Möglichkeiten der Konstitution und der – partiellen – Kontinuierung von diskursiven Formationen und strukturstabilen Formen des Regierens. Was also ist das für eine Freiheit, die Foucault an den genannten Stellen anspricht? Das ist für die Vermutung eines sozialexistentialistischen Zuges in der Gesamtheit der von Foucault verfolgten Intuitionen entscheidend. Als eine elementare Unterscheidung drängt sich zuerst die Differenz zwischen positiver und negativer Freiheit auf. Die Freiheit zum Spielen der Spiele der Macht ist zu unterscheiden von der Freiheit von der Determinationskraft der Spiele der Macht, und schon das heißt: Die Kritik der Macht setzt das Pathos der individuellen Freiheit nicht außer Kraft, sondern sie bestimmt den Spielraum der Agency des Akteurs ganz unpathetisch als eine nötige Ressource von Diskursen. Diese Bestimmung hat eine generalisierte und eine historisch variable Seite. Die Formen der Macht: Disziplin, Kontrolle, Pastorale Regierung wandeln sich – die Formate der Subjektivität ändern sich entsprechend, aber:

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Das innerhalb dieser Variationen durchgehaltene generelle Moment besteht darin, dass die Agency der Einzelnen unter keiner Bedingung gegen Null reduziert werden kann, auch wenn anders lautende Lesarten der Machtkritik genau das gern unterstellen und daraus ihren »kritischen« Gehalt gewinnen, wenn sie die Frage nach dem Subjekt mit der Beschränkung auf Formate der Subjektivierung kontern. Der Spielraum der nicht determinierten Agency kann jedenfalls der zitierten Äußerung Foucaults zufolge nicht gegen Null gehen, wenn denn Machtbeziehungen vorliegen sollen, und nicht etwas anderes. Dieses andere ist zwar als faktische Möglichkeit schon rein begrifflich keineswegs ausgeschlossen. Der Totalausschluss der angedeuteten Freiheit bleibt eine empirische Möglichkeit. Solche Fälle fallen dann jedoch nicht mehr unter die Kategorie der »Machtbeziehungen«, sondern sie rufen die andere Seite der Unterscheidung zwischen Macht und Herrschaft auf. Macht und Herrschaft nicht zusammen fallen zu lassen, ist aus der Perspektive einer soziologischen Konsultation Foucault’scher Analysen erfreulich, sofern eine handhabbare Unterscheidung zwischen Macht und Herrschaft zum Max Weber’schen ABC gehört. Nicht jede »Chance, ›Macht‹ auf andere Menschen auszuüben«, sondern allein die signifikante Wahrscheinlichkeit, »Gehorsam« auf einen »Befehl« zu finden (Weber 1980: 122), grenzt nach Weber die Herrschaft hinreichend ein. Das Problem eines diskursanalytischen Analogons zu dieser Unterscheidung besteht dann allerdings darin, dass nach Weber »Herrschaft« auf wie auch immer geartete »Motive der Fügsamkeit« zurück geführt gehört, worin sich die analytische Grenze der »Psychologie« des methodischen Individualismus bemerkbar macht. Denn Herrschaft ist hier insofern »psychologisch« definiert, als die Intentionalität der »Fügsamkeit« den Weber’schen Unterschied zwischen Macht und Herrschaft an das Bewusstsein individueller Akteure bindet (vgl. Lepsius 1990). Formen der »legitimen« Herrschaft, die zu einem der Hauptcharakteristika der Weber’schen Theorie der Moderne gehören, sind entsprechend über den »Glauben« an die Legitimität der Befehlsgewalt als mehr oder weniger rationale Begründung für die Fügsamkeitsbereitschaft definiert. Die Diskurstheorie kann die Unterscheidung zwischen Macht und Herrschaft nicht auf die gleiche Weise an bewusste Attitüden knüpfen, wenn eine wesentliche Pointe der Analytik der Macht in der Rekonstruktion der von den Beherrschten und Übermächtigten unbemerkten Wirkungsweisen diskursiver Ordnungsleistung besteht. Foucault scheint die Macht (auch deshalb?) unabhängig von der normativen Einstellung empirischer Akteure zu definieren, denn die Macht ist zunächst einfach die Kraft der Konstitution von Selektionsordnungen, die sich als das fraglos Gegebene, als historisches A-priori, ihre empirische Geltung durch die »normative Kraft des Faktischen« selbst beschafft. Auch darum kann in der Perspektive der machtanalytischen Beobachtung die Macht nicht das Böse (Foucault 2007: 276), die normativ defiziente Größe sein, auch wenn

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die Foucault-Rezeption dazu neigt, kritische Einsprüche gegen die Wirkungen und Formate der Macht schon allein aus der Selektion und ihrer Rückseite, des Ausschlusses, abzuleiten (so z.B. Bublitz, Bührmann 1999 und Kögler 1994). Die Macht zeigt sich in Foucaults Rhetorik viel eher als eine neutrale Relation im Rahmen strategischer Spiele, eben als eine vis constitutiva, die zugleich einschränkende und ermöglichende Bedingung ist. In der neutralen Haltung gegenüber dem strategischen Moment, das – anders als in der Habermas’schen Diskurstheorie (Habermas 1981) – nicht als solches schon die normativ ausgezeichnete Kommunikationsform verfehlt, manifestiert sich eine antagonistische Sozialontologie auf den Spuren Nietzsches. Nicht schon die Macht und ihre Wirkungen können als »verfehlte Intersubjektivität« oder als Verhinderung des »guten Lebens«, gar als Extinktion individueller Autonomie gelten (obwohl so mancher Foucault-Enthusiast – eigentlich gegen Foucaults Vorstoß – allein aus dieser normativen Aufladung Kraft für die Kritik ziehen will). Aber anders als Foucault über weite Strecken glauben macht, hält seine Theorie eine Kategorie für die verfehlte und durchaus normativ problematische Form der Ordnung bereit. Denn Herrschaft bzw. Herrschaftsverhältnisse werden von Foucault als Blockaden eines Feldes von Machtbeziehungen (Foucault 2007: 256) behandelt. Und das ist insofern eine normativ relevante Spezifizierung, als die Herrschaft von Foucault als eine Pervertierung von Machtverhältnissen begriffen wird. Aber die individuelle Agency ist, wie gesagt, ein konstitutives Moment diskursiver Kontinuität (weil der Diskurs »geführt« werden muss, auch wenn er sich über diese Führungen hinweg selbst führt). Und darum ist die Unterscheidung zwischen Herrschafts- und Machtverhältnissen nicht unabhängig vom Kriterium der möglichen Tilgung individueller Freiheit (die jene Selbst-Unterwerfung im oben genannten Sinne allerdings noch einschließt). Welche Rolle hat dann das so genannte »Subjekt« (das subiectum als Unterwerfendes und Unterworfenes im Unterschied und im Verhältnis zum »Individuum«) und was bedeutet dem gemäß Subjektkritik? Beschränkt sich die Kritik am Dogma der souveränen Subjektivität auch bei Foucault am Ende doch auf die moderne – psychoanalytische und in der frühen Kritischen Theorie vorgelegte – Umkehrung, dass die Herrschaft des Subjektes über sich selbst nur die verkannte Heteronomie, die Herrschaft »der« Gesellschaft über die Einzelnen durch ihr Inneres hindurch darstellt (Horkheimer, Adorno 1988; Adorno 1980)? Ist also das Subjekt zwar nicht »Herr im eigenen Hause«, aber doch nur dann und dadurch Knecht, dass es ihm erfolgreich aber irreführend eingeredet ist, dass es sein eigener Herr sei? Ist es als unbeherrschte Existenz dagegen freier Spieler in Machtbeziehungen? Foucault spricht sich allüberall hinreichend deutlich aus gegen das Vorurteil der Substantialität des Subjektes, gegen die falsche Methode der Voraussetzung des Subjektes (so auch in: Foucault 2007: 265). Von der elementaren Prämisse des klassischen Existentialismus, von der Vor-

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aussetzung der immer und unter allen Umständen verfügbaren Wahl (Heidegger 1984; Sartre 1985; vgl. Renn 2000) setzt Foucault sich unmissverständlich ab. Und doch liegt die von ihm angesprochene Freiheit auf einer fundamentalen theoretischen Ebene, sodass die Freiheit des Individuums als das, worauf diskursive Unterstellungen Bezug nehmen, nicht durch diese Bezugnahme »erzeugt« worden sein und also nicht zirkulär ausschließlich zum Bestandteil und Effekt diskursiver Macht erklärt werden kann. Die Freiheit, die Macht von Herrschaft zu unterscheiden erlaubt, versetzt die Foucault’sche Kritik an »dem Subjekt« in eine merkwürdige Oszillation. Aber die Machtanalytik stellt sich nun schon nicht mehr als die unbestimmte Negation des Existentialismus dar, sie läuft eher auf die bestimmte Negation eines Momentes existentialistischer Vorstellungen hinaus, auf die Ablehnung des überhistorischen, vorsozialen Status der existentiellen Freiheit. Freiheit ist ein »außen« des Diskurses, aber ebenso ist sie sozial und historisch bedingt. Aus dem Nebel der Kritik der Macht tritt in Sichtweite so etwas wie Foucaults »Sozial-Existentialismus«, wenn die viel diskutierten Analysen der »Sorge um sich selbst« explizit auf die in ihr implizierte, soziologisch bedeutsame, »Differenzierungstheorie« bezogen wird.

III. A usdifferenzierung der E xistenz : D ie »S orge um sich « Wegen der genannten Frage nach dem Status des »Subjekts« ist Foucaults Bemühung um die Formen der »Sorge um sich selbst«, das bekannte Spätthema, nicht nur historisch, sondern systematisch interessant. Die historische Rekonstruktion hat Folgen für die Bestimmung des Verhältnisses zwischen diskursiver Ordnung bzw. Regierung und individueller Agency, die das Thema der Subjektivität in dem Maße betrifft, wie sich die Individualität des Agens von der numerischen Identität eines singulären Objektes unterscheidet. Denn der spezifische Zeithorizont existentieller Selbstverhältnisse (Heidegger 1984), aus dem heraus die »individuelle« Identität sich an Praktiken ankristallisieren kann (Renn 2006: 432ff.), transzendiert die Kriterien der Identifizierung des Subjekts durch diskursive Attributionen. Wenn diese Zeitlichkeit dem Handeln des Subjektes einen praktisch folgenreichen Sondersinn gibt, dann sind die individuierenden Folgen der »Sorge um sich selbst« nicht restlos im »Außen« des Diskurses, im Felde außerdiskursiver Praktiken, die Kontrollregime umstellen, angesiedelt. Vielmehr wirken diese individuierenden Effekte in die resignifizierenden Umstellungen diskursiver Konventionen hinein, sodass die »agency« des Führens des Diskurses auf der Ebene der »Gebrauchsbedeutung« diskursiver »Elemente« (»Aussagen«) den Doppelcharakter diskursiver und existentieller Bedeutung erhält.

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Foucault scheint daran Gefallen zu finden, dass sich in der spätantiken Reflexion auf den Umgang der Person mit sich selbst eine Suche nach dem Selbst zeigt, die sich von der späteren – für ihn verwerflichen – »pastoralen« Übermächtigung, d.h. von der Aufspürung verborgener Motive im »Inneren« (die diese Motive eigentlich erst erzeugt) unterscheidet. Die »Sorge um sich« macht gegenüber der substantialisierenden Suche nach dem »eigenen Wesen« in Foucaults Darstellung den Eindruck eines vergleichsweise hell leuchtenden und freundlichen Selbstumgangs, weil zu ihr der Verzicht auf die disziplinierende Entlarvung innerer Verdorbenheiten gehört. Aber das systematische Interesse richtet sich hier nicht auf eine womöglich allgemein gültige und überhistorisch anschlussfähige Ästhetik der Existenz (Schmid 1991), sondern auf die Frage nach den variablen historischen Bedingungen. Solche Bedingungen lassen bestimmte Formen individueller Freiheit nicht nur durch soziale und diskursive Ordnungen unangetastet (im Sinn der privativen Freistellung des »idiotischen« Lebens jenseits der Polis). Sondern sie fördern jene Freiheiten geradezu und spannen sie dabei in die Kontinuierung diskursiver Ordnungsleistung ein. Das Subjekt ist mehr als der Effekt der Diskurse, aber seine Spielräume, der Radius der je eigenen Existenz, hängen ab von den konkreten sozialen Formaten. Und diese Formate hängen wiederum ab von der Fähigkeit der Individuen, Spielräume im Sinne jener Formate zu nutzen. Deshalb sind die im Folgenden angedeuteten differenzierungstheoretischen Implikation von Foucaults Analyse des Kontextes der cura sui-Semantiken aufschlussreich für die besondere Form von »Existentialismus«, die der Kritik der Macht einen Boden und eine Stoßrichtung gibt. Die hohe Zeit der cura sui in der Spätantike stellt zweifellos eine spezifische historische Konstellation dar, aber es ist eine Konstellation, deren Modellcharakter die Epoche transzendiert: Denn hier wird der Zusammenhang zwischen sozialer Konvention und induzierter Subjektform auf der einen Seite und dem Selbst des Selbstverhältnisses auf der anderen Seite erst empirisch und dann (in der Analyse) begrifflich noch einmal auf eine Ebene zweiter Ordnung gehoben. Die relative Lockerung der Bande zwischen den Rollenmustern der Zugehörigkeit zu Polis, Imperium und Stand in der spätantiken politischen Konstellation macht den Spielraum der subjektiv zu füllenden Diskurstreue oder Regelauslegung sichtbar. Das Handeln wird zu gegebener Zeit in den Lücken der diskursiven Festlegungen als kontingent erfahrbar, weil hier die Konstitution eines Bereiches in Erscheinung tritt, der Handeln verlangt, aber durch die soziale Konvention unausgefüllt bleibt. Eine sozialexistentialistische Bestimmung der Freiheit hebt hervor, dass unter bestimmten Bedingungen – in Zeiten der durch Differenzierung erzeugten Regellosigkeit etwa – eine spürbare Differenz zwischen der Sozialität und der Existenz sozial konstituiert wird. Erst die Sichtbarkeit dieser Differenz wird zur konstitutiven Bedingungen der diskursiven Ordnung von Sozialität selbst: Individualisierung zeigt sich

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als Freiräume der Entscheidung und Selbstfestlegung einschließende Delegation, nicht einfach als Übertragung eines klaren Auftrags sozialer Steuerung, an die Selbststeuerung eines Subjektes. Der Haushaltsvorstand als politisches »Subjekt« muss in der anomischen Lage spätantiker Poleis den diskursiven Schienen noch immer folgen, doch sie grenzen nur den Raum ein, indem Festlegungen optional werden, sodass die Entscheidung der Vorbereitung von Seiten eines erkennbaren Individuums durch seine Beschäftigung mit sich selbst bedarf. Die »Subjektivierung« erlegt es dem Subjekt auf, seine Taten zu wählen und zu bedenken. In »Sexualität und Wahrheit III« (Foucault 1983: 110ff.) lesen wir in Foucaults Ausführungen zum politischen Spiel, dass der gesteigerte Organisationsgrad der Herrschaft die Differenz zwischen Herrschaft und Macht freisetzt, indem die Spielräume der Administration die diskursive Ordnung an die agency der Selbstsorge bindet. Über die Situation der Bürokratie des römischen Imperiums im 3. Jahrhundert heißt es dort: »Was die römische Verwaltung braucht, ist eine managerial aristocracy, wie Syme sagt, eine Dienstaristokratie, welche die ›zur Verwaltung der Welt‹ nötigen verschiedenen Kategorien von Beamten liefert ›Offiziere in der Armee, Fiskalbeamte und Provinzialstatthalter‹. Und will man das Interesse verstehen, das diese Eliten der persönlichen Ethik, der Moral des alltäglichen Verhaltens, des Privatlebens und der Lüste entgegengebracht haben, braucht man nicht so sehr von Dekadenz, Frustration und verdrossenem Rückzug zu sprechen, vielmehr muss man darin die Suche nach einer neuen Weise sehen, die rechte Beziehung zu seinem Stand, seinen Funktionen, seinen Tätigkeiten und seinen Pflichten zu bedenken. Während die alte Ethik eine sehr enge Verbindung der Macht über sich und der Macht über die anderen implizierte und sich mithin auf eine Ästhetik des Lebens im Einklang mit dem Stand richtete, erschweren die neuen Regeln des politischen Spiels die Definition der Beziehungen zwischen dem, was man ist, dem, was man tun kann, und dem, was man vollbringen soll. Die Konstitution seiner selbst als ethisches Subjekt seiner eigenen Handlungen wird problematischer.« (Foucault 1983: 114f.)

Die Subjektivierung einer Lage, die sich durch Differenzierung und Entkoppelung zwischen Imperium, Bürokratie, Organisation, Stand, Milieu der Elite und Einzelperson auszeichnet, delegiert Selbststeuerung also nicht direkt und nicht eindimensional im Sinne der Disziplinierung (als strukturdeterminierte Internalisierung). Gerade die entfaltete Differenz zwischen Regel bzw. diskursiver Formierung und praktischem Optionsspielraum öffnet die Schere zwischen expliziter, administrativer Form und milieuspezifischer Performanz. Weil sich die immer nötige Spezifizierung von expliziten Regeln durch soziale Differenzierung nicht mehr auf der Basis eines performativen Milieus (Renn 2014) »von selbst versteht«, bedarf es der Delegation von Autonomie, der Abrufung von

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agency, um einen undefinierten Spielraum zu füllen. Der Übergang von einer lückenlosen Formatierung zumindest des sichtbaren Individuums zur Sichtbarkeit unformatierter Gehalte des Individuums lässt sich also als Ausdifferenzierung einer nun explizit sich selbst überlassenen Subjektivität begreifen. Diese Differenzierung ist ein fait social, aber ihre Folge ist die Institutionalisierung offizieller Stellen innerhalb des Rollendifferentials, die sich – nur scheinbar paradox – als Ausnahme aus der institutionalisierten Ordnung – als Existentialität – institutionalisiert sehen. In diesem Sinne führt Differenzierung auf kontingente Weise zur Explikation einer impliziten, in diesem Modus aber – sofern Diskurse sein können sollen – nicht kontingenten Individualität. Dass dies eine generalisierbare Intuition ist – ein epochenunspezifisches Modell der gegenseitigen Abhängigkeit von agency und Diskurs – dafür spricht die von Foucault selbst am Ende seines Weges immer wieder beklagte Verkennung der Kontinuität in seinen Arbeiten: schon in »Überwachen und Strafen« (Foucault 1994) zeigt sich aus dem Blickwinkel der ex post gegebenen Selbstdarstellungen, dass für Foucault die Disziplinarinstitutionen nicht im vollen Sinne »Subjekte erschaffen«, sondern, dass soziale Semantiken den vormals unsichtbaren und wenig relevanten Bereich des individuellen Selbstverhältnisses im Sinne einer selektiven Explikation an das Licht der öffentlichen Diskurse heben. Und das ist etwas anderes als die bloße Ersetzung von Subjektivität durch Subjektpositionen. Es zeigt sich also, dass die Analysen der »totalen Institutionen« der Kontrolle, der Gefängnisse, Asyle und Arbeitshäuser, nicht die Erzeugung sondern die institutionelle Überformung und Disziplinierung einer schon bestehenden Individualität vorführen, die unterhalb des Radars der gesellschaftlich formatierten Zugriffe auf Personen bleibt. Foucault zeichnet ein historisches Bild der selektiven Veröffentlichung des Individuellen. Einschlägig wurden diese Analysen natürlich auch deswegen, weil sie zuspitzen und die Verdinglichung dieser Individualität, die bis in das Verhältnisse der Einzelnen zu sich selbst und bis in die körperlichen Dispositionen hinabreichen, unterstreichen. Die restlose Auflösung unbeherrschter Kontingenz im Individuum durch seine diskursiv gestützte soziale Disziplinierung müsste allerdings nach Foucaults eigenen, oben zitierten Worten »Herrschaft« und also »Machtblockade« genannt werden. Denn die Kontrolle ist zuerst eine Übersetzung des existierenden Individuums in das individuelle Allgemeine, das beherrscht und überprüft werden kann: »Die Prüfung macht mit Hilfe ihrer Dokumentationstechniken aus jedem Individuum einen ›Fall‹, einen Fall, der sowohl Gegenstand für eine Erkenntnis als auch Zielscheibe für eine Macht ist« (Foucault 1994: 246). Wo aber »Macht« und nicht »Herrschaft« waltet, ist das Individuum zunächst nur im Horizont der Prüfung und der von ihm abgeleiteten Praktiken und Schemata diskursiver Taxonomien nichts weiter als der Fall, während es für sich selbst an der Differenz zwischen sich und seiner Erscheinung als »Fall« zu arbeiten hat, mindestens leiden muss. Denn das Individuum ist als

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fungierendes, als leiblich und intentional agierendes Selbst unterhalb der Fremd- und Selbststeuerung schon in »Überwachen und Strafen« tatsächlich auch für Foucault deutlich zu unterscheiden von dem Effekt der diskursiven Aussage und Bearbeitung der Person. So erläutert er die Verdinglichung als Verallgemeinerung des explizierenden Zugriffs auf die Person, deren Generalisierung den Preis der Standardisierung einfordert: »Lange Zeit war die beliebige und gemeine Individualität unterhalb der Wahrnehmungsund Beschreibungsschwelle geblieben. Betrachtet werden, beobachtet werden, erzählt werden und Tag für Tag aufgezeichnet werden waren Privilegien. Die Chronik eines Menschen, die Erzählung seines Lebens, die Geschichtsschreibung seiner Existenz gehörten zu den Ritualen seiner Macht. Die Disziplinarprozeduren kehren dieses Verhältnis um, sie setzen die Schwelle der beschreibbaren Individualität herab und machen aus der Beschreibung ein Mittel der Kontrolle und eine Methode der Beherrschung. […] Diese Aufschreibung der wirklichen Existenzen hat nichts mehr mit Heroisierung zu tun: sie fungieren als objektivierende Vergegenständlichung und subjektivierende Unterwerfung« (Foucault 1994: 246f.).

Wenn Foucault in diesem Text nur wenige Zeilen weiter von der »Festnagelung eines jeden auf seine eigene Einzelheit« (Foucault 1994: 247) schreibt, dann ist an dieser Festnagelung weiter nichts Bemerkenswertes, wenn nicht dieser »ein jeder« implizite etwas anderes als seine »eigene Einzelheit« (numerische Identität), nämlich seine einzelne Eigenheit (existenzielle Individualität) ist. Die spätere Analyse der »cura sui« lässt in diesem Sinne existentialistische Motive erkennen: Die »Subjektivierung« als kritischer Begriff bemüht notgedrungen die Unterscheidung zwischen dem festgenagelten Fall und der einzelnen Eigenheit. Anders ist Foucaults spätes Bekenntnis zum Gewicht der individuellen Freiheit nicht verständlich, das in den Analysen der cura sui direkt ausgesprochen wird. Herrschaft, so Foucault, liegt dann nicht vor, wenn Machtbeziehungen als freies Spiel sich einrichten zwischen solchen, die der- oder diejenige werden wollen können, der und die diskursiv gerade nicht als Fall bestimmt sind. In der Rezeption hat sich indessen zunächst – und für Foucaults Wirkung nicht unwichtig – ein anderer Eindruck festgesetzt. Der Satz: »[…] die Aufschreibung der wirklichen Existenzen […] fungiert als subjektivierende Unterwerfung« (Foucault 1994: 246f.) suggeriert im Verbund mit Foucaults mühsamen und immer indirekten Kennzeichnungen der Aussage als Materie des reinen Diskurses in der »Archäologie des Wissens« (Foucault 1973b), dass die Sprache des Diskurses, die Aufschreibung des praktischen Individuums kraft Sprachlichkeit nichts anderes als Vergegenständlichung und Unterwerfung sein kann. Wenn die demgegenüber konträre Deutung des angesprochenen Individuums in Übereinstimmung mit Foucaults eigenen »sozialexistentialis-

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tischen« Andeutungen gebracht werden kann, bedeutet dies auch Foucaults tendenziell statische Beschreibung der Sprache des Diskurses einer pragmatisierenden Lesart zu unterziehen. Gerade dieser Zug befreit die Theorie der Person als dem selbst-besorgten »Subjekt« vom Zwang zur Re-Installierung des Individuums als einer souveränen Sprecherin. Das Problem der Sprache besteht dabei darin, das Motiv einer sozialexistentialistischen Beschreibung von Diskursivität und agency in der sprechenden Sorge um sich, das mehr als nur die allgemeine Form der Rückwendung auf »das Sich« ist, wieder zu finden. Es wird sich finden lassen, und zwar in der Ambivalenz und in der Dynamik wechselnder Referenzen von »Selbstbehauptungen«.

IV. S elbstbehaup tung z wischen A ussage und A rtikul ation Dass die Sprache immer nur das Allgemeine sein (bzw. bezeichnen) könne, diese Prätention teilt Adorno mit Foucault, wobei beide Autoren ihrerseits »performativ« diese einseitige sprachtheoretische Festlegung bereits dementieren. Die »Selbstbehauptung« bezeichnet bei Adorno sowohl die Durchsetzung einer Identität als auch die Aussage dieser Identität; beide Modi sind in den Augen Adornos mit dem Makel des identifizierenden Denkens behaftet, das die individuelle Freiheit des »Nicht-Identischen« verfehlt. Denn das Medium der Aussage ist die allgemeine Bedeutung; die Aussage nagelt das wandelbare Individuum in seiner ineffablen Besonderheit subsumtionslogisch an die Kategorie (Adorno 1982). Da die begriffliche Sprache für Adorno ein Medium der Subsumtion des Besonderen unter das Allgemeine ist, transportiert das praktische Durchhalten des einmal ausgesagten Selbst den Identitätszwang des begrifflichen Denkens und darin den gesellschaftlichen Zwang. Damit legt Adorno ein enges bedeutungstheoretisches Maß an die Form der Aussage an, denn er gestattet es der Standardform des sprachlichen Ausdrucks – mit Ausnahme der Kunst – nicht, über die propositional strukturierte Konvention hinaus ein Vehikel des individuierenden Sinnüberschusses zu sein. Doch auch wenn dies eine zu strikte Auffassung des Begriffs des Begriffs ist, deutet die Kritik an der Logik der Identifizierung auf ein prinzipielles Problem der Aussage des Individuums über es selbst hin. Wie behauptet sich das Individuum als es selbst, wenn Behauptungen als diskursive Elemente allgemein und den Fall der einzelnen Aussage übergreifend intelligibel sein müssen? Das existentialistische Motiv des freien Individuums beinhaltet, dass Weg und Ziel des Lebenslaufes selbstentworfen, nicht nur selbst gewählt sind (Taylor 1989). Die Wahl, wer ich sein und werden will, individuell zu treffen in der positiven Freiheit des Entwurfes, impliziert, dass

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jene Wahl mehr ist als nur eine Entscheidung zwischen heteronom gesetzten Zielen, zwischen diskursiv gewährleisteten, typischen und allgemein standardisierten Zielen oder Lebenslaufvarianten. Zu der positiven Freiheit, sich zu entscheiden (also nicht in Lauf bahnen gezwungen zu werden), muss die negative Freiheit von der diskursiven Exklusion je eigener Optionen (die Freiheit konventionelle Lauf bahnen zu verwerfen) hinzutreten. Das gilt für den »Lebenslauf«, wie für die einzelne Behauptung über das Selbst, die in Formate gegossen wird, wie in Sätzen die mit der Wendung beginnen: »Ich bin ein Mensch, der…«. Dass Diskurse Individuen zu »Fällen« objektivieren, ist nicht schon dadurch vermieden, dass Subjekte zwischen einer endlichen Anzahl diskursiv gewährleisteter Standardoptionen der Selbstwahl oder des Selbstausdrucks wählen können. Weil das Selbst der Darstellung bedarf, der Bezugnahme auf sich, für sich und vor anderen in einem zumindest hinreichend geteilten Medium der Sprache, scheitert eine radikale Forderung nach der existentiellen Freiheit von jeglicher sozialen und sprachlichen Konvention an der Unmöglichkeit einer absoluten Privatsprache. Sich behaupten, im Sinne von: sich selbst »aussagen« in ganz eigener Weise, heißt im diskursiven Feld kontrollierter möglicher Aussagen, das Übliche und Allgemeine oder eben gar nichts gesagt zu haben. Die Bindung der faktischen Konstitution eines tatsächlich »existentiellen« Selbstverhältnisses an die sozialen Bedingungen der Gewährleistung entsprechender Spielräume und Resonanzen bedeutet schon deshalb, dass der Person eine erfahrbare und handlungswirksame »Jemeinigkeit« (Heidegger 1984) nicht vor aller Vergesellschaftung schon eigen ist. Das zunächst nur »fungierende« Individuelle muss als ein sich als Individuelles begreifendes und behauptendes Individuelles aus dem Bedeutungs-Überschuss spezifischer, auf Personen bezogener, diskursiver Praktiken emergieren können. D.h. das emergierende Selbst eines Individuums, das sich seiner Individualität gewiss ist und darin durch äußere Reaktionen bestärkt wird (»Anerkennung«), muss sein besonderes Selbst aus dem Medium öffentlicher diskursiver Selbstbehauptung und entsprechender Formate heraus und dann darin »behaupten« können. Diese Bewegung »aus der Geschichte«, »gegen die Geschichte« und schließlich »für die Geschichte« (so Heideggers Erläuterung der »Wiederholung« in der existentiellen Wahl, die Nietzsches Formen der Geschichtsschreibung nachempfunden ist, so: Heidegger 1984: 385), die das Individuum aus der allgemeinen Sprache hinaus und seinen expliziten Ausdruck der je eigenen Selbstbehauptung in die Sprache zurück absolvieren müssten, erscheint zunächst paradox und unmöglich. Denn die äußerlich und nur deshalb auch innerlich intelligible Selbstbehauptung kann scheinbar ausschließlich auf ein durch und durch konventionalisiertes Sprachmaterial, über dessen Stabilität diskursive Regeln wachen, zurückgreifen. Das gilt nicht erst für die Diskurstheorie des Subjekts, sondern schon für die Identität stiftende Selbstobjektivierung im Medium

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»identischer Bedeutungen«, die für Mead nur über die bedeutungskonservierende Übernahme der Perspektive der anderen möglich ist (Mead 1973: 189ff.). Der Übergang von der individuellen, fungierenden Selbstgegebenheit im Modus impliziter Ahnung des Abstandes zur Konvention der allgemeinen Personalität in den expliziten Ausdruck vollzieht sich unter dieser Bedingung »identischer Bedeutung« notwendig als eine Enteignung der Bedeutung der eigenen Aussage. Denn sie wird in der diskursiven Assimilation des Gesagten an das standardisierte Sagbare entlang der Differenz zwischen dem sprechenden Individuum und der Sprecherinstanz vollzogen. Das »Selbst« der Sprecherinstanz in Sprechakten und der Aktorinstanz bei Handlungen wird zunächst nur durch diskursiv sortierte Typiken adressierbar und erst durch diese wird es als eine und als diese Person direkt angesprochen. Dabei existiert dies Selbst aber nicht als es selbst, sondern, ganz im Sinne der »Subjektivierung«, als ein Selbst wie alle anderen, als ein Format mit numerischer Identität, weil es diesen Körper bewohnt, anders sich aber von anderen nicht unterscheidet. Die Person erhält im Horizont der Semantik des Handelns, des Systems der Handlungsverben und sozialer Typen, einen Namen, eine Geschichte der von ihr vollzogenen Handlungen, zuletzt die für sie als einer einmaligen Konjunktion allgemeiner Charakteristika typischen Merkmale und Eigenschaften zugeordnet. In dieser Projektion wechselt die Modalität des Selbst. Das praktisch-pragmatische Selbst des »wirklichen Individuums« Foucaults (ipse), das den Sprechakt vollzieht, wird im Bericht über den Sprechakt zum behaupteten Selbst des Sprechers, der derselbe sei, der auch diverse andere Akte vollzogen hat (idem). Er wird zum Referenten einer deskriptiven »Selbst«-Behauptung im Rahmen diskursiver Sprecherformate (und im Sinne der typisierenden, »partizipatorischen« Identität auch für sich selbst, vgl. Hahn, Bohn 1999). Dieser Wechsel der Modalität ist der Übergang von dem fungierenden Ich, das sich in Akten selbst auslegt und vor allem praktisch versteht, zu einem Bezugsgegenstand der verdinglichenden Identifikation. Das Individuum wird in der Aussage des Diskurses festgenagelt und es nagelt sich selbst fest, wenn die Differenz zwischen sich selbst und der diskursiven Selbstbehauptung für es selbst nicht artikuliert werden kann. In der Sprache des Existentialismus dominiert das pour soi, das mir sozial auferlegt und abverlangt wird, das en soi, in dem ich mich praktisch als ich selbst bewege (Sartre 1962). Ab einem gewissen Grad der strukturierten Formation des Wissens, im Zuge der konstitutiven Abgrenzung des Sagbaren durch diskursive Ordnungen, verdünnt sich die Behauptung des Selbst von Personen also zunächst auf die soziale Typik von abstrakten Rollen. Die soziale Behauptung des Selbst einer Person konzentriert sich um der Stabilisierung diskursiver Regelmäßigkeiten willen auf abstrakte typische Eigenschaften (Rollen, Schichtzughörigkeit etc.) und auf numerische Indikatoren der Aussortierbarkeit einer einzelnen Person (Geburtsort und -tag, Wohnsitz etc.). Der diskursive Zugriff beschränkt sich

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und das behauptete Selbst der Personen darauf, die Individuen als Gegenstand der Macht als einzelne, nicht aber als besondere Personen kalkulierbar zu machen: die numerisch identifizierte, typisierte Person teilt relevante Eigenschaften mit vielen andere, bleibt aber als diese einzelne Person wiedererkennbar. Die artikulierten Formen der Selbstbehauptung lassen deshalb zuerst die Innen- hinter der Außenperspektive verschwinden, sodass die Selbstbehauptung zunächst die Selbstobjektivierung (im Modus der Perspektive des »generalized other« oder des Diskurses) im Abstand zur fungierenden Selbstgegebenheit der Person sein muss. Erst wenn ein bemerkbarer Spalt entsteht zwischen der kommunikativ erschlossenen Innenwelt der Person und den situations-transzendenten sozialen Typisierungen dieser Person als »einer« Person und erst wenn diese Spaltung ihrerseits diskursiv artikulierbar wird, emergiert ein jemeiniges Selbstverhältnis, das als faktisch wirksamer Referent der Foucault’schen Formulierung eines »wirklichen Individuums« in Frage kommen kann. Die sprachliche Typisierung muss also zunächst verallgemeinern, um ein Korrelat des Durchhaltens der Identität der Person beim Wechsel der Situationen und Kontexte bereitzustellen, die Behauptung des Selbst ist primär, genetisch und performativ, nicht mehr als die Behauptung einer numerisch identifizierten Adresse, die »ein« Selbst wie alle anderen ist. Es ist diese eine Seite der (immer unvollkommenen) sprachlichen Repräsentation der Identität der Person, die verallgemeinernde Typisierung, die den Verdacht auf die vermeintlich ausweglose Verdinglichung personaler Identität weckt.

V. D ifferenzierung der S elbstbehaup tungen als funk tionale A utonomisierung Die Identität des Referenten der Selbstbehauptung innerhalb diskursiv geregelter Sprachformate erzeugt Wiedererkennbarkeit, sie bleibt dabei jedoch zunächst numerische bzw. »soziale« (als allgemeine) Identität. Denn die Subjekte sind innerhalb des Diskurses relativ zu seinen Sortierungsansprüchen allesamt nur raumzeitlich individuierte Besonderungen als Konjunktionen semantischer Allgemeinheiten (sozialer »Eigenschaften«). Insoweit scheint die Bestandsaufnahme der diskursiven Bezugnahme auf eine Person – auch durch diese selbst – die rigide Lesart des Begriffs der »Subjektivierung« zu bestätigen: Das existentielle Selbstverhältnis, das begrifflich aufgeladen ist mit der Freiheit des Individuums, wäre nichts als das Gerücht, das diskursiv verbreitet den Schleier über die ungebrochene Heteronomie der »Selbstverhältnisse« legt. Es lieg aber in der Form des Diskurses selbst begründet, dass die Spur der Individuen nicht auf die explizite Behauptung ihrer numerischen und »sozialen« Identität beschränkt bleiben kann.

Diskurs – Macht – Subjekt

An der Stelle des Vollzugs diskursiver Formate, die der situierten Anwendung bedürfen, interveniert die Performativität in die Form der Selbstbehauptungen. Diskurse – so lassen sich die Überlegungen von Michel de Certeau und Judith Butler (de Certeau 1988; Butler 1998) metaphorisch auf den Punkt bringen – müssen geführt werden und dabei sind exakte Wiederholungen so wenig möglich, wie es »identische Bedeutungen« und univoke Ausdrücke geben kann (vgl. Renn 2005). Das gilt für das Verhältnis zwischen Sprechen und Sprache, und es gilt im Besonderen für das Problem der »Selbstbehauptungen«. Der diskursiv ermöglichte Zugriff auf »dieselbe« Person kann die Abweichung in der Wiederholung nicht ausschließen und deshalb nicht alle Voraussetzungen der Widererkennbarkeit dieser Person kontrollieren und erzeugen. Für die Zielsicherheit des Zugriffs muss das Individuum auf kommen, wenn denn – und hier schließt die Überlegung an Foucaults Deutung der Freiheit an – diskursive Selbstbehauptungen Machtbeziehungen ausdrücken und nicht Herrschaft oder nackte Gewalt. Der Spalt zwischen der zunächst kommunikativ erschlossenen und diskursiv identifizierten Innenwelt der Person (für welche diese aber »selbst aufkommen« muss) und den situations-transzendenten sozialen Typisierungen dieser Person als »einer« Person öffnet sich, wenn heterogene soziale oder diskursive Zugriffe auf diese Person sich vervielfältigen und auseinander treten. Die sozial-existentialistische Implikation des Foucault’schen Begriffs positiver »Individualität« ist deshalb eng verknüpft mit seiner Kontextuierung spätantiker Aufmerksamkeiten für die »cura sui«, und das heißt mit einem differenzierungstheoretischen Motiv. Der strukturelle Sinn des oben bereits aufgeführten Zitats: »was die römische Verwaltung braucht, ist […] eine Dienstaristokratie, welche die ›zur Verwaltung der Welt‹ nötigen verschiedenen Kategorien von Beamten liefert« (Foucault 1983: 114f.) liegt in der Differenzierung verschiedener diskursiver Zugriffe und entsprechend behaupteter »Selbst-Konzepte«. Mit der Differenzierung von diskursiven Ordnungen wird es notwendig, dass die »Sorge um sich« als Überschreitung der diskursiven Selbstbehauptungen indirekt artikulierbar wird – d.h. mindestens den diskursiven Reflex einer Semantik der Individualität auslöst. Die vergegenständlichende, typisierende, numerisch identifizierende Behauptung der Selbigkeit einer bestimmten Person ist nur die eine Seite der sprachlichen Artikulation personaler Identität. Unter Bedingungen der Differenzierung diskursiver und institutioneller Zugriffe auf die Person und ihrer Erwartungshorizonte wandeln die Individuen (jedenfalls die privilegiert mobilen) praktisch-performativ durch sehr unterschiedliche Sprachspiele. Sie erfahren sich selbst nicht allein in der Resonanz einzelner monolithischer Diskurse, die ihnen eine verallgemeinernde Behauptung ihrer numerischen und »sozialen« Identität sowie typischer Eigenschaften aufdrängen. Und sie erfahren die determinierende Kraft diskursiver Regeln des Sprechens, des Verhaltes und

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der »Selbstbehauptung« als lückenhaft, denn sie selbst sind aufgefordert die Lücken der Regulation durch die Macht der Diskurse in der performativen Dimension zu füllen. Dafür müssen sie auf die Regulation des eigenen Handelns zurückgreifen, die als Regulation des Selbst zugleich funktional für die Diskurse und individualisierend für sie selbst Wirkung entfaltet. Das Problem der Selbstbehauptung im Sinne des Durchhaltens der eigenen Identität gegen die deskriptiven Behauptungen des eigenen Selbst ist deshalb unter modernen Bedingungen das Problem der Vervielfältigung von Resonanzräumen, von Kontexten und Formen der praktischen Selbstdarstellung und entsprechender Anerkennungsweisen. Die zu behauptende Einheit der multiplen Behauptungen des einen Selbst gewinnt entscheidend an Komplexität. Und die »freie« Verarbeitung dieser Komplexität ist nicht einfach ein Zugewinn an Freiheit als Abfallprodukt einer durch Differenzierung gelockerten Kontrolle des Individuums; sie ist viel eher auferlegt, sofern sie für die Selbsterhaltung diskursiver Ordnungen funktional geworden ist. An dieser Stelle wird der differenzierungstheoretische Gehalt in Foucaults späten Bemühungen um das Subjekt der Sorge um sich selbst in der Verkoppelung mit seinen Überlegungen zur gouvernementalen Pastoralmacht deutlich (Foucault 1993, 1999, 2000): die Biomacht unterscheidet sich nicht allein durch einen anderen, nämlich pflegend erzeugenden Zugriff auf die Einzelnen von der Disziplinierung, sondern der Übergang von der disziplinierenden Behauptung des Selbst der Person zur regierenden Bearbeitung einer Bevölkerung (zu: »leben machen«) – enthält auch das Moment der Mobilisierung jener individuellen Freiheiten. Das zeigt zwar noch keine euphorische Version fortschrittlicher Vergesellschaftung an, aber es zeigt, dass die existentiellen Freiheiten von Individuen, die sich um sich selbst sorgen, für die diskursiven Machtbeziehungen funktional geworden sind. Diskurse der Macht und der Wahrheit stabilisieren im postfordistischen Regime der Funktionalisierung individualisierter Subjekte ihre Formen der Sprechakte und ihre Formate gültigen Wissens, indem sie die agency der Personen bei der performativen Verwaltung von Fallkategorien verbrauchen. Diskurse wirken überhaupt nur dann auf außerdiskursive Praktiken und Körper ein, wenn sie die machtkompatible Freiheit der Personen einspannen können, die zwischen den deskriptiven Selbstbehauptungen der Person praktisch übersetzen, d.h. diskursive Selbstbehauptungen an der Schwelle zwischen Diskurs und außerdiskursiven Kontexten in Handlungen und Sprechakte überführen. Das Individuum muss sich entwerfen (»müssen« im Sinne der Funktionalität), weil nur es selbst einen Entwurf seiner selbst praktisch behaupten (durchhalten) kann, der auf alle jene Behauptungen (Attributionen) seines Selbst, die diskursiv zugemutet werden, angemessen reagieren und damit das Machtspiel in spezielle und von der Disziplin nicht hinreichend durchdrungene und durchdringbare Kontexte tragen kann. Deshalb ist die Selbsterhaltung von

Diskurs – Macht – Subjekt

Personen als eine pragmatische Applikation diskursiver Selbstbehauptungen uno actu eine existentielle Auslegung dieser Behauptungen und Teil der Selbstbehauptung von Diskursen. Die Freiheit, die Foucault also meinen könnte, ist die Freiheit des Individuums im Sinne eines postsubstantialistischen, postmetaphysischen Sozialexistentialismus, d.h. die Freiheit des Subjekts, das nach der Zeit disziplinierender Kontrolle zur Herrschaft im eigenen Hause freigestellt aber gerade dadurch Knecht ist, solange es vermöge der Sorge um sich selbst die Lücken der pastoralen Macht an den Rändern der diskursiven Steuerung füllt. Für Foucault mag das bedeutet haben, auch Gegenmacht zu identifizieren – für die Arbeit an den Vorlagen Foucaults bedeutet es die Aufforderung, die Theorie der Macht in die Soziologie zu übersetzen. Foucaults normativer Appell, wir sollten uns freimachen von den Formen der Individuierung, die uns »jahrhundertelang aufgezwungen wurden«, ist erst dann keine voluntaristische Formel, sondern der Hinweis, dass inmitten der Gefahren der funktionalistischen Behauptung von Subjektivität auch das Rettende für die individuelle Freiheit wächst.

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Individuation: Zur negativen sozialen Konstitution intentionaler Selbstbeziehung

3. Emergenz und aporetische Perspektivenübernahme George Herbert Mead und die Aufgabe einer pragmatistischen Theorie der Subjekt-Genese

I. V orr ang der I ntersubjek tivität Neben der Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit sozialer Ordnung ist das Problem des Verhältnisses zwischen »Individuum« und »Gesellschaft« ein klassischer Kandidat für die Definition der zentralen, geradezu das Fach konstituierenden Problemstellung der Soziologie. Aber diese Frage setzt »zu spät« an: einmal abgesehen von Hegel, hat bereits Simmel (1984) deutlich unterstrichen und hat später Luhmann (1989) forciert entfaltet, dass das »Individuum« kein vorgesellschaftliches Rohmaterial sozialer Verknüpfungen ist, welches überdies bereits vor solchen Verknüpfungen ausgestattet wäre mit einem ausgebildeten Selbstverhältnis, mit sachlicher Bestimmungskompetenz, Handlungsfähigkeit und vor allem mit distinkten Interessen, die es dann in Vertragsverhandlungen (im Sinne Rousseaus) einbringen könnte. Nicht erst Foucault (1984) hat das Subjekt als das »sujet« durch eine Rückprojektion der grammatischen Position des Satz-Subjekts der Prädikation auf die »Subjektivierung« des disziplinierten Individuums entzaubert als ein machtvoll institutionalisiertes gesellschaftliches Format, das der Person eher auferlegt wird, als das es Ausdruck der Emanzipation eines unterdrückten Potentials wäre. Individualität ist gesellschaftlicher Effekt. Nicht aber nur das, denn an irgendetwas muss der subjektivierende Sog eines Bündels gesellschaftlicher Erwartungen, Adressierungen und Zuschreibungen ansetzen, das selbst nicht gesellschaftlich »erzeugt« werden kann. Andernfalls hätten sozialisatorische Bemühungen um Kleinkinder, Katzen und Melonen nicht so auffällig unterschiedliche Erfolgsaussichten. Man kann den Gedanken, dass auch »Dinge« ihren Teil zur Interaktion beitragen, dass sie sich vielleicht auf eigenlogische Weise an ihr »beteiligen« (Latour 2009), aus heuristischen Gründen durchaus in allen Ehren halten. Dennoch sind die Aussichten auf Resonanz im Medium

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performativ-propositionalen Sprachgebrauchs und auf die indirekt erschließbare Konstitution eines von »außen« intransparenten Innenlebens (privat zugängliche Erlebnisse) im Fall von Kleinkindern dramatisch höher als im Falle von Melonen, Luftpumpen oder »Übergangsobjekten« (Stofftiere). Was also muss die Soziologie, wenn sie einem essentialistischen »Subjekt«-Verständnis standhaft entsagt, dem so genannten Individuum (also dem Typus einer mit »agency« ausgestatteten, intentionalen Entität, die alles Typische durch Selbstbezug eben auch transzendiert) begrifflich zugestehen, wenn sie sich nicht in einen ebenso monistischen wie reduktionistischen »Trans-subjektivismus« verlaufen will. Und vor allem: Wie muss die Theorie methodisch-argumentativ-rekonstruktiv vorgehen, wenn sie diesem »Gegenstand« gesellschaftlich »bedingter« Gesellschafts-Transzendenz auf die Spuren kommen will? Einen grundlegenden Beitrag zur soziologischen Theoriebildung in dieser thematischen Linie hat bekanntlich George Herbert Mead geliefert. Seine Vorlesungen über »Mind, Self & Society« sind als Manifest des »Vorrangs der Intersubjektivität« vor der vermeintlichen Substantialität der »Seele« aus der Disziplin nicht mehr wegzudenken. Allein schon deshalb, weil die von Mead selbst als pragmatistische Variante eines sozialpsychologisch raffinierten Behaviorismus (Mead 1967: 33ff.) gedachte Ausarbeitung des Primats der Intersubjektivität1 für rezente Positionen in der soziologischen Theorie konstitutiv ist. Dieser konstitutive Status bedeutet: Kernelemente der Mead’schen Theorie wie das Prinzip der »Perspektivenübernahme« (»taking the attitude«, Mead 1967: 164ff. und Mead 1964a: 143ff. und 1964b: 132) nehmen nicht etwa auf eine mögliche Empathie bereits aussozialisierter Personen Bezug. Sie fokussieren vielmehr den elementaren Sozialisationsvorgang der Genese reflexiver Selbstverhältnisse individueller Personen; sie entwerfen eine pragmatistische Genealogie von empirischer Subjektivität als solcher. Dieser Entwurf besteht weniger aus empirischen Annahmen über Typen möglicher Einstellungen von Akteuren unter anderen, als dass er einen definierenden konzeptuellen Rahmen liefert, der zentralen Begriffen auch noch gegenwärtiger Theorie ihre Bedeutung gibt. In diesem Sinne definiert das Konzept der Perspektivenübernahme nicht einfach einen Typus interpersonaler Bezugnahmen neben andern Aktgattungen, sondern den Grundbegriff der sozialen Handlung selbst. Denn Typologien sozialer Handlungen, etwa die Weber’schen Klassifikationen, erhalten insgesamt einen anderen Status, wenn Interaktion keine Folge, sondern eine Voraussetzung z.B. zweckrationaler Kalkulation strategischen Handelns ist. So ist z.B. der nutzenmaximierende Egoist dann kein tauglicher Kandidat für eine explanative Prämisse der Handlungstheorie, sondern das Explanans

1 | So jedenfalls die Standardlesart einer pragmatistischen Soziologie vor allem bei Joas 1996 und Joas 1989: 11.

Emergenz und aporetische Perspektivenübernahme

einer Erklärung empirisch weit verbreiteter, aber im Prinzip kontingenter Akteurs-Einstellungen. Vor allem jene Sozial- und Gesellschaftstheorien, die auf der Prämisse einer notwendig normativen Integration von Gesellschaft oder Gesellschaften aufbauen, beziehen sich darum auf Meads Rekonstruktion der Genese subjektiver Selbstverhältnisse. Denn sie unterfüttert grundsätzlich die Kritik an der weit verbreiteten paradigmatischen Voraussetzung vorsozialer Individuen, die sich sekundär durch Vertragsschluss (Hobbes’ Problem) oder aber durch reziproke (egologische) Typsierungen (Schütz 2004 und Berger, Luckmann 1974) auf soziale Ordnungen einlassen, einpendeln oder einigen. Ihnen wird mit Rekurs auf Mead der onto- und phylogenetische Vorrang sozialer Kooperation vor jeder egologischen Akteursperspektive entgegen gehalten, sofern mit Notwendigkeit die Teilnahme an sozialer Kooperation der Ausbildung subjektiver Selbstverhältnisse und somit auch der Genese expliziter Präferenzen und Interessen zugrunde liegen muss. Von diesem genetischen Einwand auf der analytischen Ebene notwendiger konzeptueller Implikationen ist jede paradigmatische Modellierung der sozialtheoretischen »Grundsituation« im Kern betroffen. Denn die epistemologisierten Übersetzungen der Hobbes’schen Formulierung des Problems sozialer Ordnung (Parsons 1937) entweder in das Prinzip doppelter Kontingenz (Parsons 1937; Luhmann 1985: 148ff.) oder aber in das phänomenologische Dilemma des »Fremdverstehens« (Schütz 1974: 137ff.; Berger, Luckmann 1974)2 entwickeln die basale handlungstheoretische Problemstellung am Muster der Begegnung von mindestens zwei bereits ausgebildeten Akteuren bzw. von zwei immer schon abgegrenzten Einheiten intentionaler Selbstreferenz, die füreinander fremd oder besser: intransparent sind. Im Lichte der Mead’schen Intersubjektivitätstheorie (respektive einer hegelianisch gestimmten Rezeption Meads) setzt diese Exposition schon zu spät an, weil dem Hiatus zwischen alter und ego3 eine Genese der Ausdifferenzierung subjektiver Motivbildung und subjektiver Reflexivität aus der primären Sozialität (Mead 1967: 135ff.; Joas, 1996: 270ff.; Renn 2006: 283ff.) vorausgeht. Auf die aus diesem Grunde notwendig kooperativen Charakteristika des praktischen Kontextes der Genese kann sich deshalb vor allem die Familie normativer Theorien ertragreich be2 | Soll heißen: Während bei Parsons zunächst spürbar bleibt, dass die Hobbes’sche Problemstellung den Kampf ums Überleben reflektiert, entdramatisiert sich die Kalkulation der Bedrohlichkeit des anderen bei Schütz und bei Luhmann zum vergleichsweise allgemeineren, aber auch sterileren Problem, dass man einander nicht in den Kopf sehen und folglich niemals ganz verstehen oder ausrechnen kann. 3 | An dem auch Luhmann trotz kommunikationstheoretischer Abwendung von handlungstheoretischen Prämissen das Modell der spontanen Systembildung entwickelt, mindestens noch in: Luhmann 1985: 125f., 195f. und 531f.

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rufen: Wenn jene Kooperation das Saatbeet auch zweckrationaler Attitüden darstellt, dann sind die in dieser Kooperation unhintergehbaren, impliziten normativen Maximen der Reziprozität nicht reduzierbar auf den nutzenmaximierenden Wert strategischer Akzeptanz nur sozial geltender Normen. Das universalistische Interesse an der Kontext-Transzendenz der Geltung sozial effektiver Normen beruft sich auf die funktionale Notwendigkeit der Verankerung jeglicher Art von subjektivem Selbstverhältnis in der performativen Reziprozität und Anerkennung (im Sinne Honneths) primordialer Sozialität. Bei Habermas nimmt diese Berufung bekanntlich die Form einer universalistisch gedachten Rekonstruktion der normativen Präsuppositionen des kommunikativen Sprachgebrauchs an (Habermas 1981). Selbst zweckrational vermeinte Interaktion ruht auf der normativen Binnenstruktur einer Adressierung des Gegenübers auf, die diesem Gegenüber nolens volens den Status einer autonomen Person zuzuschreiben zwingt. Deshalb also genießt die paradigmatische Prämisse eines »Vorranges« der Intersubjektivität in unterscheidbaren Varianten einer normativen Theorie normativer Integration von subjektiver und gesellschaftlicher Identität (Habermas 1981, II: 14ff. und 1992; Joas 1989: 120ff.; Honneth 1992 und 2000) große Anerkennung und den Status einer klassischen, wenn auch ergänzungsbedürftigen (Habermas 1981, II: 14ff.) Rekonstruktion der allgemeinen Voraussetzungen sozialer Reziprozität. Jene Lesart der Reziprozität mischt – weil diese bereits auf der Ebene einer kooperativ motivierten Genese subjektiver Selbstverhältnisse wirksam ist – in die Kategorie der Handlungsrationalität eben die Gehalte praktischer Vernunft unter, aus der normative Theorien die Rechtfertigung für ihre Insistenz auf einen Begriff »unverkürzter«, d.h. nicht einfach nur zweckorientierter Rationalität beziehen (besonders: Habermas 1981). Die universalistisch gestimmten Rückgriffe auf Mead in der Tradition der normativen bzw. der »kritischen« Theorie ergänzen das Modell rationalen Handelns durch Anleihen bei Mead um die Dimension der praktischen Vernunft; eine andere Anknüpfungsweise betont dagegen die Differenz zwischen den faktischen Einstellungen von Akteuren inmitten der Aushandlungspraxis der unmittelbaren Interaktion und den expliziten Standardmodellen entweder zweckrationalen oder auch kommunikativen Handelns. In dieser Rezeptionsgeschichte der Mead’schen Sozialpsychologie steht die Traditionslinie des »Symbolischen Interaktionismus«4. Sie bildet gewissermaßen eine erste Wel4 | Vgl. zum symbolischen Interaktionismus: Wilson 1981: 66ff. sowie Herbert Blumer, der sich in seinen an ein Manifest gemahnenden Erläuterungen zum Paradigma interaktionistischer Theorie und Forschung ausdrücklich zentral auf Mead beruft, von dem es heißt, dass dieser »[…] mehr als alle anderen, die Grundlagen des symbolisch-interaktionistischen Ansatzes gelegt hat« (Blumer 1981: 80). Dass Akteure keine »cultural dopes« sind betont vehement Harold Garfinkel (1981: 195ff.), während später Anthony Giddens

Emergenz und aporetische Perspektivenübernahme

le des Einspruchs gegen den Rationalismus etablierter soziologischer Handlungstheorie – vor allem gegen die bei Weber, Parsons und den empiristischen Varianten der Entscheidungstheorie vorausgesetzte Vorstellung, individuelles Handeln wäre als Exekution allgemeiner Normen und Prinzipien hinreichend modellierbar. Gegen diese Reduktion des handelnden Akteurs auf eine Marionette struktureller Determinanten (wie etwa: Normen und Kategorien) wurde der Unterschied – in dem bereits die Nachhaltigkeit der Mead’schen Sprache dokumentiert ist – zwischen dem »role-taking« und dem ungleich aktiveren »role-making« stark gemacht. Gegenwärtig formiert sich in unübersehbarer Familienähnlichkeit zu jenen früheren Einwänden des symbolischen Interaktionismus die so genannte »praxistheoretische« Anknüpfung an pragmatistischen Motiven einer nichtrationalistischen bzw. individualistischen Handlungstheorie. In vergleichsweise ausgearbeiteter Form liegen entsprechende Einwände zugunsten des Primats einer kooperativen Praxis vor allem von Seiten P. Bourdieus vor:5 Habitualisierte Dispositionen des handelnden (und wahrnehmenden, klassifizierenden und strategischen) Akteurs binden diesen vor aller rational expliziten Kalkulation an eine feld- bzw. lebensformspezifische Gesamtheit strukturierter, vor allem aber: kollektiver Selbstverständlichkeiten (Schemata). Diese vorprädikative Grundlage sozialer Ordnung wird von Bourdieu in einer zunächst an Mead erinnernden Weise abgegrenzt von der zu einfachen Vorstellung einer durch »Internalisierung« verankerten Abhängigkeit von expliziten sozialen (und dann: funktionalen) Normen (Bourdieu 1979; vgl. Renn 2006: 304ff.). Inkorporation bedeutet habituelle Routinisierung im Gegensatz zur An-Konditionierung von verbindlichen Regeln, die sich zu einzelnen Handlungsereignissen und -situationen verhalten sollten, wie juridische Regeln zu standardisierten Fällen. Allerdings entfernen sich diese Bourdieu’schen (wie auch andere)6 Analysen der Praxis, oder auch: der praktischen Attitüde des einzelnen Akteurs, an dem Punkt deutlich von Mead und dessen Konzeptualisierung von »Intersubjektivität«, wo die Frage der praktischen und der theoretischen Rationalität des Handelns ins Spiel kommt. Während – wie angedeutet – Mead gehaltvolle Anknüpfungspunkte für die normative Theorie sozialer und gesellschaftlicher Intersubjektivität bereitstellt, neigen die rezenten Praxistheorien dazu, das Rationalitätsprädikat den rationalistischen Handlungstheorien zu überlassen (Renn 2013) und die Rekonstruktion situativ versunkeden Akteuren eine ubiquitäre Begabung zur reflexiven Steuerung zuspricht, weil anders der Unterschied zwischen »Strukturation« und »Strukturalismus« handlungstheoretisch nicht zu verankern wäre (Giddens 1997: 131f.). 5 | Vgl. aber auch die praxistheoretischen Ausarbeitungen bei: Schatzki 1996, Turner 1994, Thevenot 2001. 6 | Wie z.B.: Latour 1988.

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ner und habituell regulierter Praktiken gegen jegliche Zuschreibung rationaler bzw. rationalisierungsfähiger Charakteristika auszuspielen. Merkwürdig 7 daran ist, dass gerade die »kritische« Ablehnung einer rationalistischen Verzeichnung des Standard-Akteurs (der modell-platonistischen Reduktion von Intentionalität auf logisch konsistente Kalküle) der Neigung verfällt, die »Autonomie«-Auszeichnung des klassischen »Subjekts« zusammen mit der problematischen Blaupause des egoistischen Entscheiders zu verabschieden. Durch diesen Zug versinkt die »freie« Personalität (in ihr: die »Einsicht in die Notwendigkeit der individuellen Freiheit« [Hegel] als die letzte und erste Instanz der normativen Theorien, vgl. Honneth 2011: 33ff.) ganz anders als bei Mead in der grauen Sequenzialität kollektiver Praktiken unter Ausschluss einer konstitutiv zurechenbaren individuellen Autorschaft einzelner Akte. Zwischen Mead und Bourdieu spannt sich deshalb ein Netz gemeinsamer Intuitionen und Implikationen pragmatistischer Provenienz auf, doch die systematischen Unterschiede bleiben in der Sache, besonders mit Rücksicht auf das Thema der Subjektivität, markant. Mead wollte unter der sowohl behavioristisch als auch pragmatistisch begründeten Voraussetzung, dass der »soziale Prozess« dem Selbst-Abschluss intentionalen Bewusstseins, einschließlich »Ich-Welt«-Abgrenzung voraus liege, die Genese eben jenes Selbst-Abschlusses, die Konstitution selbsreferentieller »Innerlichkeit« – die als intervenierende Größe die Interaktion unberechenbar macht – rekonstruieren; Bourdieu (und so auch die neuere »Praxistheorie«) hält sich demgegenüber an das Problem der habituell reproduzierten kollektiven Struktur.8 Diese Differenz betrifft nur auf den ersten Blick vornehmlich Akteurs- und sozialisationstheoretische Belange. Denn mit dem paradigmatischen Abstand zwischen dem Konzept der individuellen Intentionalität (»autonome subjektive Sinnkonstitution«) und dem Konzept intersubjektiver Gemeinsamkeit der Interaktion (»natürliche« Identität der Bedeutung) steigt der Anspruch sowohl an das Auflösevermögen als auch an die Integrationskraft eines sozialtheoretischen Paradigmas: nur bei einer hinreichend komplexen Theorieanlage – bei 7 | Bei näherer Betrachtung aber durchaus erklärlich, sofern z.B. die Bourdieu’sche Absicht, sowohl den »Objektivismus« als auch den »Subjektivismus« in der Soziologie zu überwinden und zu verwerfen, weniger der Maxime der vernünftigen Selbstbestimmung des individuellen Akteurs verpflichtet ist als der Entzauberung auch solcher Geltungszuschreibungen durch die Aufdeckung von Formen »anerkannter Verkennungen« der unbedingt agonalen Struktur sozialer Distinktionspraktiken. 8 | Damit bleibt Bourdieu in gar nicht allzu großer Entfernung von Durkheims Entdramatisierung des personal Individuellen, das nurmehr als ein numerisch identifizierter Sonderstandpunkt innerhalb eines kollektiven Gesamtrahmens (eben des gemeinsamen Habitus innerhalb eines gemeinsamen Feldes) in Betracht kommt (siehe: Bourdieu 1979: 325).

Emergenz und aporetische Perspektivenübernahme

der vor allem die Besonderheiten der Intentionalität des sozial konstituierten Selbst nicht reduktionistisch heruntergespielt werden – taugt der Mead’sche Pragmatismus auch als eine Gesellschaftstheorie (weil diese die Differenzierung von aufeinander nicht reduzierbaren Ordnungsebenen adäquat artikulieren können muss; vgl. Renn 2006: 357ff.).

II. N atur alistisch überspielte Z irkul arität Die zentrale Errungenschaft der Mead’schen Theorie bleibt darum auch vor dem Hintergrund »neuer« Praxistheorien die wenigstens scheinbar, bezogen auf das »Agenda-setting« innerhalb der Soziologie aber auch faktisch, gelungene Versöhnung zwischen empirischer Genesis und universaler Geltung der Form des gehaltvollen »Subjekts«. En détail bedeutet diese Versöhnung die Verbindung einer nicht subjektivistischen Rekonstruktion der Genese von Subjektivität mit der Rechtfertigung eines normativen Programms, das die moralisch-praktisch aufgeladene Autonomie des Akteurs als ein gültiges Kriterium der Theorie und als ein Desiderat gesellschaftlicher Ordnung verteidigen will. Allerdings gibt es gute Gründe für den Zweifel daran, dass diese Vermittlung als gelungen betrachtet werden muss. Schon Georg Simmel hatte sich darin versucht, das Paradox eines wirklich »individuellen Gesetzes«9 durch die Unterstellung zu entschärfen, dass auch die zweifelsfrei freie Wahl des wirklich autonomen Individuums eines für es verbindlichen Gesetzes aufgrund seiner sozialisatorischen Vertrautheit mit einer sozial bestimmten Umgebung keine desintegrative Sprengkraft haben müsste (Simmel 1987). Ganz ähnlich wie dieser wohlmeinende Zirkelschluss, der unterwegs die Prämissen der Provokation kassiert, statt die Provokation zu beantworten, habe, so der Verdacht, auch Mead mit seinem Modell der basalen Perspektivenübernahme das Problem der Intersubjektivität nicht gelöst, sondern nur aufgelöst bzw. durch Entschärfung der eigentlichen Herausforderung (der »trans-sozialen« Selbstreferenz subjektiver Intentionalität) eskamotiert. Die Einsprüche reichen von Luhmanns Bedenken, dass das ganze Konzept der »Intersubjektivität« entweder das »Inter-« oder aber die »Subjektivität« auflösen müsse (Luhmann 1985: 120 und 202), bis zu dem Beharren auf einer primordialen Vertrautheit des Subjekts mit sich selbst, die nicht aus der Objektivierung durch andere hervorgehen könne (siehe: Manfred Frank 1991) – sodass die Frage, ob nicht die Fähigkeit zur Perspektivenübernahme zirkulär aus dem Vollzug eben dieser Perspektivenübernahme erklärt werden müsste (so, mit allerdings optimisti9 | D.h. einer Autonomie der »Selbst«-Bindung, die nicht durch die Heteronomie der Genese des Nomos, an den das fragliche Selbst sich hier bindet, dementiert wird.

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schem Resümee, auch: Habermas 1981, I: 30ff.) – dem Primat der Intersubjektivität den Boden entziehe. Von diesen Vorbehalten aus gesehen bleibt Mead der Verdächtigung ausgesetzt, dass die Perspektivenübernahme nicht die Genese einer gehaltvoll individuellen, mithin der erheblich differenten Subjektivität, sondern nur die soziale Konstitution eines individuellen Allgemeinen erkläre. Mit Adorno müsste man also (auch gegen Habermas) hinzufügen, dass die inkriminierte Zirkularität des Prinzips der Perspektivenübernahme durch die Prämisse »identischer Bedeutung« der beim »taking the attitude of the other« in Gebrauch genommenen signifikanten Gesten nicht etwa entschärft sei, sondern gerade wegen dieser »Identität« (der Zeichen, die personale Identität bestimmbar machen) in den »Identitätszwang« zurückfiele – anstatt das »Nichtidentische« des Selbst als nicht Identisches zu identifizieren. Das allgemeine Besondere, dass die Person ein »Selbst« wie alle anderen auch ist, muss also unterschieden werden von der Individualität des Selbstverhältnisses einer Person, die sich zu sich auf eine Weise verhält, die eben nicht als Kopie der an sie herangetragenen Erwartungen ausfallen kann. Eine solche Unterscheidung von Modalitäten des »Subjektiven« ruft noch nicht einmal einen für Mead externen Maßstab, etwa eine romantisch überladene Vorstellung von der »Postkonventionalität« der Person, auf. Sondern diese Unterscheidung lässt sich in der Theorie der Perspektivenübernahme selbst verankern. Sie steckt in den Absichten, die Mead bei der spezifischen Analyse des Verhältnisses zwischen den Instanzen oder auch Rollen von »I« und »Me« (Mead 1967: 173ff.) angetrieben haben müssen. Mead verfolgt mindestens sowohl das Interesse, Subjektivität als Phase in der natürlichen Kontinuität des evolutionären Prozesses zu erklären, als auch das Interesse, diese Subjektivität mit einem jenseits naturalistischer Reduktion gültigen moralischen Mandat auszustatten. Es zeigt sich schnell, dass dies Absichten sind, die Mead nicht gleichermaßen auf zufrieden stellende Weise verfolgen konnte. So wie diese Absichten im Widerstreit zu sein scheinen, so treffen sich in der Kritik an der Theorie der pragmatistischen Konzeption der (zirkulären?) Intersubjektivität teils widerstreitende Zugriffe: Nicht alle Einwände gegen die Theorie der intersubjektiv garantierten Intersubjektivität gehen von den gleichen Prämissen aus, und nicht alle wollen auf die gleichen Konsequenzen heraus (sie zeigen sich eher untereinander unverträglich und werben z.B. entweder für einen radikalen Post-Subjektivismus oder für eine radikal egologische Perspektive). In jedem Fall aber liegt das Problem in der Frage, welchen Erklärungs- und Präzisionsansprüchen eine Theorie der Intentionalität des Subjekts in der Rolle des sozialen Akteurs genügen müsste. Die pragmatistische Umgehung des Problems aporetischer Intersubjektivität bzw. der »doppelten Kontingenz« (Luhmann 1984: 148ff. aber auch: Schütz 1974) muss bei Zuspitzung dieses Problems im Lichte einer hermeneutischen Konzeption symbolischer Interaktion ihre scheinbare Selbstverständlichkeit verlieren.

Emergenz und aporetische Perspektivenübernahme

Die direkt an Mead anschließenden Ansätze einer pragmatistischen Sozial- bzw. Gesellschaftstheorie neigen dazu, jene Perspektivierungen in der soziologischen Theorie, die bei der Intentionalität des Subjekts (der Handlung) ansetzen – vor allem diejenige der Sozialphänomenologie von Schütz (1974) – auf »egologische« oder »methodisch individualistische« Festlegungen zu reduzieren. Die grundlagentheoretische Phobie gegen jede Art von »Subjektphilosophie«, die vom »linguistic turn« aus gesehen unter harschen Metaphysikverdacht gestellt gehöre (Habermas), verführt dazu, auch die methodische (nicht nur die ontologische und sozialontologische) Anknüpfung an den subjektiven Evidenzen introspektiver Reflexionen auf subjektive Auffassungsweisen als schlechte Abstraktion zu verurteilen. Es ist auch in der Tat nicht von der Hand zu weisen, dass sich eine exklusiv egologische Theorie der »Konstitution« von praktisch hinreichenden Übereinstimmungen zwischen »ego« und »alter« (sei es in kognitiver, normativer oder semantischer Hinsicht) bei dem Versuch, den Hiatus zwischen der subjektiven Immanenz eines transzendentalen Ego und der empirischen Immanenz eines anderen Ego, das mehr als nur eine Projektion des ersten, nämlich gegenüber dem originären Ego faktisch transzendent wäre, zu überbrücken, in unauflösbare Widersprüche verstrickt.10 Die bloße Umkehr der Beweislast aber, d.h. der Austausch einer egologischen Erklärung des Sozialen durch eine soziale Erklärung des Intrapsychischen, bleibt indessen eine abstrakte Negation, sofern die Erklärungskraft der rekonstruierten Voraussetzungen von Intersubjektivität sich nicht auf die Rekonstruktion des principium individuationis erstrecken kann. Vor allem rationalitätstheoretische Festlegungen verführen – besonders deutlich bei Habermas – die an Mead anknüpfende Tradition des soziologischen Pragmatismus dazu, die Herausforderungen zu unterschätzen bzw. herunter zu spielen, der auch die Mead’sche Theorie der sozialen Genese des »Selbst« durch die Frage nach der Individuierung subjektiver Sinn- und Handlungsorientierungen gegenübersteht. Diese Frage ist – wie gesagt – nicht von außen an Mead heran getragen, denn seine eigene Aufmerksamkeit für die empirisch unabweisbare Unberechenbarkeit auch des sozialisierten Handlungssubjektes (Mead 1967: 209ff.) sowie sein Interesse am Potential der Akteure, von sozialen Konventionen kritisch Abstand zu nehmen (Mead 1967: 311ff.), veranlassen ihn dazu, einigen Aufwand mit der Kategorie des »I« zu treiben. Das »I« wird als ein Name für eben das Bündel von Eigenschaften eingeführt, das die Performanz des sozialisierten Akteurs von der bloß repetitiven und konventionellen Reproduktion eben jener Erwartungen, die das »Me« zusammen fügen, unterscheiden soll. Aber das »I« ist nur ein Name für das Bündel an Aufgaben der kreativen Person und weniger die Überschrift für eine durchge10 | Dazu: Schütz 1951 und 1957 sowie: Luhmann 1985: 120 und Habermas 1981, I: 367ff.

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führte Rekonstruktion der Genese einer entsprechenden Instanz im Haushalt der individuellen Intentionalität. Darum zeigt es sich schnell, dass vor allem im Lichte kontrastierender Theorieentwicklung, z.B. im Vergleich mit dem phänomenologischen Paradigma (Schütz 1974 und Berger, Luckmann 1974, vgl. Renn 2012), diese begriffliche Konstruktion eines systematisch bedeutsamen Quellpunktes der individuierenden Unruhe unbefriedigend ausfällt. Die zentrale Schwierigkeit Meads besteht darin, dass die charakterisierenden Merkmale der Möglichkeitsbedingungen der Perspektivenübernahme (in erster Linie: die »Identität« der Bedeutung und der Sinn der »Signifikanz« von Gesten) im Widerspruch stehen zu den Merkmalen des Explanandums: des ausgebildeten Selbstverhältnisses einer sozialen Person, deren Beitrag zur Interaktion sich nicht in der reinen Reproduktion konventioneller Erwartungen und Rollendefinitionen erschöpfen kann. Sie kann darin nicht aufgehen, weil die Unberechenbarkeit der Person, die einen Keil zwischen »I« und »Me« treibt, für die soziale Kreativität und das heißt auch für substantielle Formen des gesellschaftlichen Wandels konstitutiv sein soll (Mead 1967: 209ff., vgl. Joas 1996: 218ff.). Mead muss in den Durchgang der Strecke, die von der primären Übernahme sozialer Erwartungen, über »play« und »game«, über die Beziehung zum »signifikanten«, dann zum »verallgemeinerten« anderen bis zur Ausbildung einer selbstbezüglichen und gegenüber Rollenformaten »transzendenten« Identität führt, einen Bruch einfügen, der die Kette der Ableitung unterbricht (vgl. dazu auch: Habermas 1981, II: 20ff.). Denn spätestens, wenn die Person nicht nur bei der Auswahl zwischen konventionellen Erwartungen überraschen, sondern im Zuge unvorhersehbarer Spezifikationen standardisierter Erwartungen Rollendefinitionen modifizieren können soll, verfügt sie über eine Form der »agency«, die sich in jenen Begriffen, mit denen Mead die soziale Genese des Selbst erklären will, nicht mehr fassen, geschweige denn »erklären« lässt. Die Voraussetzung der internalisierenden Selbstobjektivierung – als Übernahme der Auffassungen und Erwartungen, die andere an mich haben, bevor ich selbst ein Bild von mir meinerseits entwickelt hätte – ist die Identität der Bedeutung signifikanter Gesten. Und diese Identität versteht Mead in einem erstens strikten und zweitens naturalistisch definierten Sinne: als Reaktionsgleichheit im Sinne eines »response«, der ein »äußerer« materieller Akt ist, dessen Identität – unabhängig von subjektiven »qualia« oder eventuell existentieller, identitätsrelevanter oder gar individuierender »Bedeutsamkeit« – durch die Zustandsveränderung einer objektiven »Welt-Situation« definiert ist. Die Beziehungen zwischen Geste und Reaktion und resultierender Zustandsveränderung sind notwendig – also hinreichend stabil für allfällige Generalisie-

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rungen einzelner Inzidenzen – weil sie »mechanisch« ineinander greifen.11 Die Ereignisidentität der »Reaktion«, die die Bedeutung der Geste bestimmt, ist in diesem Horizont nur zu verstehen als die numerische Identität eines diskreten Raum-Zeit-Punktes in der Dimension der »äußeren«, objektiven Naturkausalität, in der die Person als Organismus (»für sich selbst« als Teil der »Umwelt«) zunächst eben selbst Bestandteil dieser objektiven Welt der Tatsachen und der kausalen Beziehungen ist. Die Gleichheit der Reaktionen (von alter und ego) muss – um der von Mead an dieser Stelle gewählten Erklärungsstrategie Willen – in einem strikten Sinne an die zwingende Kausalität zwischen äußerer Ursache (genereller »type« der Geste) und äußerer Wirkung (genereller »type« der Reaktion) gebunden werden, weil anderenfalls die Instanz des »Me« nicht als eine soziale Größe, sondern nur als eine subjektiv als »sozial« vermeinte Projektion intentionaler Innenverhältnisse (wie bei Husserl, siehe: Schütz 1951 und besonders: 1957) in Betracht kommen könnte. Vor der Differenzierung eines intentionalen Innenraumes von der äußeren Objektivität, auf die das Zeichen referiert, muss das Bewusstsein also strikt an der Kette bewusstseinsunabhängiger Relationen zwischen Geste, Reaktion und dadurch bewirkter (!) Situation des Handelns geführt werden. Die entscheidende Frage ist dann, wie sich die Identität der Person von der eins-zu-eins Repräsentation äußerer (aber: sozialer) Sachverhalte und Erwartungen lösen können soll, sodass die Ausbrüche des Handelns als Folgen des »I« nicht als bedeutungslose Aureole einer strukturkonservierenden Reproduktion von Ordnung unter den Tisch fallen müssten, d.h. personal und sozial folgenlos blieben. Die Erklärung der Genese des Selbst – als eines gehaltvollen intentionalen »Motors« individueller Kreativität und Aktivität – ist mit dem gesamten Aufwand der Analyse von Bedeutungsidentität und signifikanter Geste sowie Symbol noch nicht geleistet, sondern nur an die Schwelle geführt, jenseits derer Mead nun – geradezu verlegen – die Kategorie des »I« aus dem Hintergrund (aus seiner intuitiven Agenda des umfassenden Erklärungsanspruchs) hervorholt, um eben jenen Mehrwert gegenüber einer rein behavioristischen Reduktion der Psychologie auf die Ethologie doch noch zu liefern.

11 | So findet sich die folgende Bemerkung an zentraler Stelle des Abschnitts über »meaning«: »The mechanism [! J. R.] of meaning is thus present in the social act before the emergence of consciousness or awareness of meaning occurs« (Mead 1967: 77), vgl. zur neueren Diskussion des Mead’schen Konzepts der Identität der Bedeutung mit besonderer Berücksichtigung des Problems der Emergenz auch: Niedenzu 2012: 289ff.

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III. N ötige R ekombinationen : E mergenz und Z eithorizont Das »I« ist zunächst nur eine Residualkategorie – sie greift, wie ein Lumpensammler, die am Rande des Rekonstruktions-Weges liegen gebliebenen Merkmale des kreativ-kritischen und vor allem unberechenbaren intentionalen Handlungs-Subjekts auf. Die Charakterisierungen des »Me« erklären bis dorthin recht überzeugend, dass das »Selbst« keine Emanation einer vorsozial substantiellen »Seele«, sondern das Resultat eines objektiven sozialen Prozesses und der interaktionsbasierten Sozialisation ist. Aber es muss, um Glied innerhalb der Kette der entsprechenden Erklärung seiner Genese sein zu können, konventionell, und das heißt gegenüber den sozialen Rollenformaten passiv, bleiben. Soweit bliebe das handelnde Individuum – trotz Kapazität des Symbolgebrauchs und der nach innen verlegten Reflexion – eine Standard-Rollenträgerin, deren Differenz gegenüber anderen Personen sich nicht qualitativ unterscheiden würde von der Differenz zwischen Einzelexemplaren komplexer Tiersozietäten. Die Ameisen »wissen« in einem reduzierten, nämlich in einem von der impliziten Festlegung auf wie auch immer begründete Überzeugungen befreiten Sinne, was sie tun, insofern selbst sie sich »objektiv« täuschen können.12 Das »I« liefert nun den Titel für diejenige Dimension vorprädikativer Intentionalität (denn es impliziert ja »Strebungen« und Ausrichtungen auf »etwas« und es lässt keinen Zweifel hinsichtlich der Zurechnung, wessen »I« es denn sei), aus der die Quelle der individuierenden und kreativen, d.h. modifizierenden Abweichung entspringen soll. Für diesen Schritt benötigt Mead eine Erklärungsstrategie, die den exklusiven Bezug auf das naturalistische Kontinuum der Ursache-Wirkungs-Ketten durchbricht. Bei näherer Betrachtung wird man diesbezüglich in den einschlägigen Texten Meads zweifellos fündig, man stößt aber auf das Problem, dass Mead – aus noch zu erläuternden Gründen (vor allem aufgrund der anti-dualistischen Intuition) – die Konsequenzen zu ziehen verweigert, die seine Strategie für die Analyse der Beziehung zwischen Intentionalität und Bedeutung bzw. des Zusammenhanges zwischen Bedeutungsidentität und Intersubjektivität hätte (und deshalb bleiben die individuelle Intentionalität und ihre Genese konzeptuell notorisch unterbestimmt!). Mead liefert allerdings selbst Hinweise für eine entsprechende Strategie der Relativierung konventioneller Erklärungsweisen (in der Wirkungsreihen nur durch kausale Ableitung plausibel werden, sodass an Stelle der Genealogie eines »Neuen« die Projektion von substantiellen Merkmalen des Explanan12 | Habermas macht auf diese Spannung in Meads Konzeption der basalen Stufe der Einstellungsübernahme auf der Basis der Reaktionsgleichheit – wenn auch mit anderen theoretischen Absichten – in der folgenden Weise aufmerksam: »Dass beide denselben Stimulus übereinstimmend interpretieren, ist ein Sachverhalt, der an sich aber nicht für sie existiert« (Habermas 1981, I: 25).

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dum in das Explanans treten muss). Das entscheidende Prinzip ist das der »Emergenz« (Mead 1967: 214 und Mead 1959: 32ff.). An entsprechender Stelle in »Mind, Self & Society« vollzieht Mead bezeichnender Weise einen Übergang von der Untersuchung des »Selbst« im Medium der Interaktion zu einem ausgesprochen allgemeinen Diskurs über Prinzipien der Evolution: »When a form develops a capacity, however this takes place, to deal with parts of the environment which its progenitors could not deal with, it has to this degree created a new environment for itself« (Mead 1967: 215). Die beiläufig eingestreute Zwischenbemerkung: »however this takes place« deutet an, dass eben jene Ausbildung einer modifizierenden Kapazität das interessante und erklärungsbedürftige Phänomen wäre, vor allem, wenn es sich bei der Form um das Selbst eines individuellen Akteurs handelt. Aber Mead hat die Verbindung zwischen der allgemeinen Theorie emergenter Prozesse und der speziellen Rekonstruktion subjektiver Intentionalität als einer besonderen Form, die sich durch Irreduzibilität ihrer markanten Eigenschaften (Ich-Identität und Reflexivität) auf die (naturalen!) Antezedenzbedingungen des Emergenzsprungs auszeichnet, nicht hinreichend ausgeführt. In »Mind, Self & Society« erinnert Mead – im Zuge eines recht abrupten argumentativen Sprungs – an die empirische Faktizität der gestaltenden Einflüsse großer bzw. wort-wörtlich beeindruckender Persönlichkeiten, interessanter Weise vor allem von »Religionsstiftern« (Mead 1967: 215ff.). Gemessen an seinen eigenen Kriterien für eine solide Erklärung liefert Mead damit für die strukturwirksame Abweichung durch die persönliche Modifikation konventioneller Erwartungsschemata allerdings keine systematische Erläuterung. Die Genese einer solchen Abweichung beträfe auch eine Modifikation der Identität der Bedeutung sprachlicher Erwartungssymbole. Darauf geht Mead nicht näher ein, sondern er tritt die Flucht nach vorn an, d.h. er erklärt die abweichende Reaktion kreativer Personen als einen Vorgriff auf die kontexttranszendierende Normenstruktur einer umfassenderen (letzten Endes universalen) moralischen Gemeinschaft, die implizit im Selbstverständnis der gegebenen Gemeinschaft bereits »enthalten« ist: »Such an individual is divergent from the point of view of what we would call the prejudices of the community; but in another sense he expresses the principles of the community more completely than any other« (Mead 1967: 217). Die Abweichung des »I« erklärt sich damit also ex post als Explikation der bislang unausgesprochenen Implikationen des gegebenen »Me«. Dies ist nun wahrhaftig eine nur noch durch die moralische Dignität des erstrebten Lernziels zivilisatorischer Verbesserung geschönte Zurückschneidung der ganz alltäglichen Individualität auf das besondere Allgemeine einer rechtfertigungsfähigen PostKonventionalität der nächsten gesellschaftlichen Stufe. Für eine Erklärung der bedeutenden Kapazitäten des »I« im Sinne einer nicht nur konventionellen Kreativität muss man sich darum zuerst einmal an Meads allgemeine Ausführungen über die komplexe Zeitstruktur emergen-

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ter Prozesse halten, ohne eine sozialisationstheoretische Konkretisierung bei Mead selbst zu suchen. Das Konzept der Emergenz ist unter dieser Bedingung ein vielversprechender Kandidat für die operativ von Mead beanspruchte Figur einer konsistenten Erklärungsweise, die eine Unterbrechung konventioneller Wirkungsketten einschließt.13 In den Ausführungen der »Philosophy of the Present« (Mead 1959) liefert Mead entsprechend eine hoch generalisierte Definition des »Sozialen«, die das entscheidende dynamische Prinzip der nicht determinierten Genese eines »Neuen« (»the emergent«, Mead 1959: 76) einschließt: »Sociality is the capacity of being several things at once« (Mead 1959: 49).14 Die Pointe dieser Definition liegt – abgesehen von Meads starkem Interesse an einer sozialtheoretischen Rezeption der Relativitätstheorie – in der verwickelten Zeitlichkeit der Emergenz: Das theoretische Modul, mit dessen Hilfe die Figur einer erklärungswirksamen Unterbrechung einfacher Wirkungsketten konkretisiert werden kann, ist die Identität der Differenz (»being several things at once«) zwischen zwei heterogenen Zeitreihen, die auf temporale Perspektiven zugerechnet werden müssen. Die emergente Entstehung des »Neuen« muss aus der temporalen Perspektive ex ante als nicht notwendig und notwendigerweise als unwahrscheinlich und nicht-prognostizierbar erscheinen. Demgegenüber rekonstruiert eine Perspektive »ex post« die Antezendenzlage, die an den Emergenzpunkt heranführt, als Kumulation von notwendigen und sogar hinreichenden Bedingungen. Im zweiten Falle (ex post) erscheint das Neue nicht als radikal neu, weil es in seinen Merkmalen und hinsichtlich der Bedingungen der Möglichkeit seiner Existenz auf die Ausgangsbedingungen zurückgeführt, d.h. explanativ reduziert werden kann – dies aber nur, weil das Neue nun eben darin besteht, die Antezedenzbedingungen neu zu rekonstruieren. Im ersten Falle (ex ante) ist dagegen das Neue wirklich neu, weil irreduzibel auf den Vorlauf (also auch – wie beim Laplace’schen Dämonen – bei epistemischer Maximalkapazität nicht prognostizierbar), aber deswegen in einem strikten Sinne (nämlich im Sinne der kausalen Determiniertheit des natürlichen Universums) gar nicht möglich. Der scheinbare Widerspruch löst sich schließlich dadurch auf, dass die widerstreitenden Zuschreibungen (kontingent-unmotivierter und notwendiger Übergang) durch die Relationierung der hierbei präsupponierten Zeitreihen mit jeweils einer Perspektive (einem Beobachter, besser: einem 13 | Vgl. zur Diskussion emergenter Prozesse in der soziologischen Theorie, die in der Regel von hoch problematischen Prämissen (dazu: Castaneda 1994), z.B. von einer Dogmatisierung kausal-nomothetischer Erklärung und einem unklaren ontologischen Monismus, ausgeht: Swayer 2001, mit begründeten Bedenken hingegen: Heintz 2004. 14 | Den unmittelbaren Zusammenhang mit der Frage nach der Emergenz des Neuen macht der vorausliegende Satz deutlich: »The social character of the universe we find in the sitution in which the novel event is in both the old order and the new which its advent heralds« (Mead 1959: 49).

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»Subjekt« der explizierenden und kreativen Rekonstruktion des Prozesses) entparadoxiert werden kann (Mead 1959: 50ff.). Das emergente Ergebnisse des kreativen Prozesses kann »zugleich« in der Kontinuität einer kausalen Reihe und in der Diskontinuität eines auf die Vorbedingungen nicht reduzierbaren Überganges eingetragen werden, weil eben diese Identität der Differenz formal den »sozialen« Status des Ereignisses (des emergierenden »Neuen«) definiert und konkret in der Konstitution einer »Perspektive«, d.h. in der Genese eines zeichengebrauchenden, reflexiven, Vergangenheiten rekonstruierenden Operators, vor allem also: eines intentionalen »Subjekts« kulminiert. Emergenz heißt dann: Aus der objektiven Rekursivität eines Organismus, der seinen »output« als »input« behandeln kann, wird im Phasenübergang etwas mit nichtreduzierbaren Eigenschaften bzw. »Eigenwerten«: »Reflexivität« bzw. Selbstreferenz intentionaler Gerichtetheit. Das Subjekt selbst unterscheidet dann – in ferner Verwandtschaft zu Kants Antinomien der Zeit – in der Zeitlichkeit immanenter Intentionalität zwischen der gegenwärtigen Vergangenheit (dem aktuelle Vergangenheitskonstrukt), in der der intentionale Erlebnisfluss »immer schon da« gewesen sein muss, und der vergangenen Gegenwart (der Referenzsequenz des rekonstruktiven Zugriffs in der Aktualität), in der die intentionale Perspektive selbst noch nicht konstituiert war. Bezogen auf Probleme der »Zeit« selbst ist diese Strategie hilfreich wenn nicht unhintergehbar, um z.B. mit den berühmten Paradoxien der »Nicht-Realität« der Zeit (McTaggert 1908) operieren zu können, nicht zuletzt weil der Einbau der Intentionalität das Verhältnis zwischen »A-Reihe« und »B-Reihe« (zwischen »vorher-nachher« und der Perspektivierung von Vergangenheit und Zukunft auf »jemandes« Gegenwart, vgl. Bieri 1972; Renn 2008) verständlich machen kann. Die spezielle Übertragung des Emergenztheorems auf die faktisch emergente, danach aber perspektivisch retrospektiv im Sinne einer notwendigen Projektion vorausgesetzte Intentionalität entschärft deshalb exakt jene Paradoxie einer Fähigkeit zur Perspektivenübernahme, die eine schon vollzogene Perspektivenübernahme voraussetzt.15 Aber dafür braucht man das intentionalitätstheoretische Auflösevermögen einer Phänomenologie des Zeitbewusstseins.16 Mead hat einen solchen Schritt ver15 | Das symbolisch institutionalisierte Äquivalent für diese Verschränkung von Zeithorizonten in der »kulturellen Semantik« ist die praktisch wirkungsvolle Vorstellung der Unsterblichkeit der »Seele« (oder mit Freud: des »Es«) die als Noema in der gegenwärtigen Vergangenheit auf die vergangene Gegenwart Bezug nimmt, in der diese Unendlichkeitsvorstellung noch nicht gegeben war, sodass die Idee der Unendlichkeit eine endliche Idee sein kann, wodurch sich an diesen Konstitutionsschleifen dann das Problem der Beziehung zwischen Genesis und Geltung entzündet. 16 | Neben Schütz 1974 vor allem: Husserl 1980 und Heidegger 1984, vgl. Bieri 1972 und mit Bezug auf das Problem der Emergenz intentionaler Perspektiven auch: Renn 2008.

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mieden oder verworfen, nicht aber etwa deshalb, weil er über entsprechende Ressourcen nicht verfügt hätte (dafür wären die »Principles of Psychology« von William James hinreichend einschlägig gewesen, worauf Meads Bezugnahmen auf das Konzept der »specious present« in: Mead 1959 verweist), sondern weil sich die Perspektive einer Rekonstruktion irreduzibler Intentionalität nicht mit den (spezifisch pragmatistischen) naturalistischen Intuitionen der Mead’schen Theorie verträgt: Potentialiter wäre das Problem der widerstreitenden Definitionen der Perspektivenübernahme und der Kapazitäten des »I« vermittels der komplexen Konstruktion der Zeitlichkeit bzw. der Zeithorizonte der Emergenz zu lösen (und Mead versucht es in: Mead 1959: 82ff.). Denn diese Konstruktion lässt sich übertragen auf die Frage nach der Genese der intentionalen Selbstreferenz des empirischen Subjekts (dem »Träger« einer temporalen Perspektive, die zwei »Bezugssysteme« relationieren kann: Die gegenwärtige Vergangenheit und die vergangene Gegenwart). Dann wäre die der Perspektivenübernahme geschuldete, zugleich aber sie ermöglichende, Fähigkeit zur Perspektivenübernahme, d.h. die zirkuläre Intersubjektivität, die sich selbst voraussetzt, zu erklären mit Hilfe der Figur einer »ex post« ermöglichten Zuschreibung von Kapazitäten, die ex ante unmöglich, bzw. nicht hinreichend begründet oder vorbereitet erscheint.17 Der Witz einer solchen Rekonstruktion bestünde darin, nun die widerstreitenden Erklärungs-Interessen Meads zusammen bringen zu können: erstens die Erweiterung des reduktionistischen Behaviorismus um die Dimension der Identität eines »Selbst«, zweitens die (diskontinuierliche) Ableitung des Psychischen aus der Kontinuität naturgeschichtlicher Evolution. Allerdings steht für Mead – soweit sich das nachträglich rekonstruieren lässt – diesem Zug entgegen, dass ein solcher Einsatz des Emergenztheorems mit der Ablehnung dualistischer Theorieanlagen besonders bezogen auf das Verhältnis zwischen dem Mentalen (also: Intentionalität) und dem Physischen (den öffentlichen »responses«) kollidieren müsse.

17 | Ganz ähnlich muss z.B. die Systemtheorie Luhmanns Fragen nach den genetischen Bedingungen der Möglichkeit systemischer Selbstreferenz in Zuständen ohne Selbstreferentialität zurückweisen und das einfache Kausalschema durch Figuren der »Autokatalyse« ersetzen, die nur unter Bezugnahme auf das komplexe Temporalitäts-Theorem plausibel werden kann (vgl. Luhmann 1985: 170ff.).

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IV. E ntdr amatisierte »D ualismen « Mead scheint entschlossen gewesen zu sein, die Konsistenz der Theorie der sozialen Genese des Selbst dem Prinzip des »Anti-Dualismus« zu opfern. Eine undifferenzierte Absage an jede Form des (methodischen) Dualismus ist aber nur dann überhaupt eine Option, wenn die Definition des Psychischen von Mead trotz emergenztheoretischer Nachweise diachroner Irreduzibilität wirklich auf das Vokabular der Beschreibung kausal bestimmter Organismen und Handlungsereignisse reduziert werden könnte.18 Nur dann ließe sich hoffen, auch die Innenansicht der Identität des sozialen Selbst in den naturalistischen Begriffen einer Theorie naturgeschichtlicher Sozialität adäquat zu erreichen. Aber das ist nicht der Fall. Wenn Mead erklären will, was er erklären will, widerstreitet eine solche Reduktion seinen eigenen Absichten. Denn ohne ein Zugeständnis an die (ihrerseits emergente) Inkommensurabilität zwischen intentionaler und materiell-kausaler Bestimmung der Bedeutung und der Identität des Handlungsaktes (vgl. auch: Davidson 1993) und also auch der sozialisatorisch so fundamentalen signifikanten Geste, kann Mead das Emergenzkonzept nicht übertragen auf die besondere Genealogie des »I«, als dem Statthalter der Irreduzibilität des Subjektiven. Der zeit- und emergenztheoretische Grund dafür – auf den Mead sich selbst festgelegt hatte – lautet, dass die Differenz zwischen den ex-post- und den ex-ante-Zeitreihen wegen der eminenten Rolle einer entstehenden »Perspektive« als Differenz zwischen intentionalen Horizonten (A-Reihe) und kausalen Reihen (B-Reihe) verstanden werden muss. Die Handlung, das auf einen Akteur zurechenbare Ereignis, die konkrete Äußerung einer Person, der aktuelle Vollzug einer signifikanten Geste – all diese individuellen Objekte als »Träger« intersubjektiven Sinns – haben eine andere Art von Identität, je nachdem, welcher Zeitreihe, welchem Vokabular (Davidson 1993) und welcher (Erklärungsform-relativen) Art von Sequenzialität sie zugeordnet werden (vgl. Renn 2006: 283ff.). Eine Handlung kann als eine Wirkung von Ursachen und simultan als eine Ursache weiterer Wirkungen spatiotemporal-numerisch identifiziert werden oder aber sie ist als Teil eines Ganzen, als intentionaler Gegenstand im Horizont eines narrativen Geschehens und eines Horizontes subjektiv-zeitlicher Sinnkonstitution (Schütz 1974) erst sekundär zu individuieren. Der ersten Gattung der Identifikation gehört die kausale Erklärung an und so auch die Auffassung der Reaktion als der Bedeutung eines signifikanten Symbols, die Mead zur Verankerung der Perspektivenübernahme im objektiven Prozess der sozialen Kooperation (als Teil der naturalen Umwelt) benötigt. Die zweite, die genuin intentionale Zu18 | Diese Implikationen des Antidualismus werden auch in der gegenwärtigen Debatte gern schlicht ignoriert in vergleichsweise hemdsärmeligen Manifesten zur Überwindung des Dualismus zwischen »Natur« und »Kultur«, so bei: Descola 2011: 99ff.

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schreibung der Bedeutungsidentität gehört demgegenüber in den Bereich der subjektiven Sinnkonstitution (ihrerseits abstrakt weil ohne soziale Genealogie der subjektiven Immanenz rekonstruiert bei: Schütz 1974), bei der die intentional erfasste bzw. zugeschriebene Identität der Bedeutung der signifikanten Geste sich nicht ohne hermeneutische Bemühung um die spezifischen Bedeutungs- und Zeithorizonte (etwa: Narrationen) einer personalen Perspektive bestimmen lässt. Diese alternativen »frames of reference« der Identifizierung einzelner entsprechenden Handlungs- und Äußerungsakte sind zwar relativ inkommensurabel, aber sie sind ebenso durch Emergenz verknüpft wie die A-Reihe und die B-Reihe der Zeit (weil ihre temporale Struktur genau diesen Reihen entspricht). Aus der Abweichung und der relativen Inkommensurabilität, aus den Übergängen und den Übersetzungen zwischen den Sprachen der entsprechenden Bedeutungssynthesen erklärt sich deshalb schließlich die Simultanität, in der das Selbst mehreres zugleich sein kann: das »Me« als Ensemble intersubjektiv intelligibler Rollenerwartungen (und -regeln) und das »I«, das diesen Regeln und Erwartungen eine spezifisch immanente, subjektive »Bedeutung« gibt und diese unter passenden Umständen »kreativ« in die Interaktion einbringen kann. Wir hatten bereits festgehalten, dass Meads Theorem der »Perspektivenübernahme« wegen der problematischen Unterstellung objektiver Bedeutungsidentität zwischen »ego« und »alter« inkonsistent wird (vgl. Niedenzu 2012: 289ff.). Jetzt zeigt sich, dass die Frage der Identität der Bedeutung der signifikanten Geste und des Symbols (ganz unabhängig von den Habermasschen Einwänden gegen die Unterschätzung der propositionalen Struktur der Sprache durch Mead, Habermas 1981, I: 30ff.) aufs Engste mit der Zeitlichkeit der Emergenz eines wirklich »kreativen« »I« zusammenhängt und dass die Meadsche Anlage des Problems des Vorrangs der Intersubjektivität das Erfordernis nach sich zieht, die komplizierte Figur der Emergenz des Neuen durch verwickelte Temporalitäten ausdrücklich auf die genetische Theorie der Intersubjektivität und auf das Prinzip der Bedeutungsidentität zu beziehen. Perspektivenübernahme muss dann erscheinen als eine besondere Art der Übersetzung. Und zwar weil die vorausgesetzte Identität der Bedeutung einer sprachlichen Geste, auf der die Selbstobjektivierung durch Perspektivenübernahme aufbauen soll, nur als Reaktionsgleichheit »an sich« – im Rahmen der kausalen Rollen der Geste – gewertet werden kann, während die Emergenz der intentionalen Selbstbeziehung eines »Selbst« notwendig implizieren muss, dass die »Bedeutung« einer Geste, eines sprachlichen Ausdrucks, einer Handlung notwendig von anderer Art als die Bedeutung im Sinne der Reaktionsfolge sein muss: von der Art eines emergenten Sinngehaltes innerhalb der holistischen Struktur eines selbstreferentiellen intentionalen Horizontes, der methodisch gesehen hermeneutisch erschlossen werden muss, und der empirisch gesehen aufgrund dieser Modifikation (Übergang in einen intentionalen Horizont) als

Emergenz und aporetische Perspektivenübernahme

Quelle der kreativen Uminterpretation sozialer Konventionen in Frage kommt, weil hier Verkettungen (»Anschluss-Handlungen«) motiviert werden, die dann als »Überraschungen« dem »I« (auch vom Akteur selbst) zugerechnet werden können und schließlich als Anstöße für dann wieder sozial folgenreiche Modifikationen von konventionalisierten Bedeutungen in Frage kommen. Was also den von Mead gewünschten Antidualismus angeht, so sieht sich die Rekonstruktion vor zwei alternative Möglichkeiten gestellt: Entweder sie folgt der Strategie, die paradigmatische Differenz zwischen natürlichen bzw. kausal (nomothetisch) identifizierbaren Relationen und intentionalen Horizonten zu Ungunsten der Eigenwerte der letzteren aufzulösen (und dann kann man wirklich glauben, dass mentale Ereignisse mit neuronalen FeuerungsMustern im Gehirn zu identifizieren wären). Oder aber die Interpretation von Mead versucht, im Unterschied zu etablierten pragmatistischen Handlungstheorien in der Soziologie, der Intentionalität der Person das Gewicht zu geben, dass ihr in der Phänomenologie und Hermeneutik zugestanden wird. Im ersten Falle scheint eine antidualistische Auflösung des Rätsels der Beziehung zwischen »mind« und »body«, zwischen Bewusstsein und sozialer Faktizität, zwischen »ego« und »alter« in Aussicht zu stehen. Diese Auflösung bringt jedoch die Dimension nicht determinierter Intentionalität personaler Akteure schlicht zum Verschwinden, obwohl – wie gesagt – erst diese Dimension bzw. die ihr zugehörigen Charakteristika der pragmatisch wirksamen Identität Meads Bemühungen um den Begriff des »I« erklären können. Nur ein nicht reduktionistischer Zugriff auf das »Mentale« erlaubt es, die von Mead so vehement vorgebrachten Eigenschaften des »I« als einen sowohl emergenten als auch wirkungsvollen »Faktor« der Interaktion bzw. des sozialen Prozesses und also auch: gesellschaftlicher Transformationen in Rechnung zu stellen. Eine konsequente Theorie der »Perspektivenübernahme« muss also auch eine Theorie der Perspektivengenese sein, die den sozialen Prozess der Konstitution subjektiver Immanenz und Selbstreferenz rekonstruiert als die – ontogenetisch stets aufs Neue vollzogene – Emergenz einer besonderen Wirkung symbolisch vermittelter Interaktion, die ihrerseits die Konventionen und die Semantik dieser Interaktion transzendiert, sodass Übersetzungen möglich und nötig werden (Renn 2006: 123ff.). In Folge einer solchen Rekonstruktion wird ein »dynamischer Dualismus«19 unabweisbar, der die Alternative zwischen du19 | Einen »dynamischen Dualismus« verpflichtet die Handlungstheorie beispielsweise dazu, das Verhältnis zwischen heterogenen handlungstheoretischen Vokabularen (kausalistische, intentionalistische oder interaktionistische und funktionalistische) nicht zugunsten nur einer dieser Perspektiven zu klären, sondern die Heterogenität gleich »geltender« frames of reference als adäquaten Ausdruck einer Heterogenität in der Sache (als Ausdruck einer sozialen Differenzierung zwischen Handlungsformatierungen) zu behandeln und entsprechend z.B. eine Theorie der basalen Differenzierung von inter-

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alistischen und monistischen Paradigmen durch Temporalisierung unterläuft: Die Annahme der Inkommensurabilität zwischen dem sprachlich erschließbaren (nicht im strikten Sinne: »repräsentierbaren«) Horizont der subjektiv immanenten Bedeutung und der Sprache der »objektiven« Bedeutung (kausale Rolle mit Rücksicht auf äußere »responses«) eines »sozialen Aktes« (sowie drittens schließlich der »intersubjektiv«-sozialen, nämlich semantisch stereotypisierten Bedeutung) ist dabei an keine ontologische Voraussetzung (die als solche auch epistemische Unzugänglichkeit implizierte) gebunden, sondern sie reagiert auf ein empirisches Differenzierungsergebnis (vor allem auf die Emergenz einer als solche indirekt – wegen der »doppelten Kontingenz« – auffälligen selbstreferentiellen Intentionalität). Die Annahme der Inkommensurabilität der Beschreibungssprachen ist also methodisch im Sinne einer erklärungsnotwendigen Unterstellung zu verstehen bzw. zu verwenden (Renn 2008). Mead verband mit der Ablehnung des klassischen »Leib-Seele« Dualismus thematisch die Absicht, klar zu stellen, dass »Subjektivität« bzw. ein gehaltvolles Selbstverhältnis der empirischen Person nicht im Gegensatz zur Öffentlichkeit der Bedeutung von Kategorien und Normen, die zur Bestimmung dieser Identität nötig sind, stehen muss. Interessant wird aber die pragmatistische Theorie des Vorrangs der Intersubjektivität subjekt- wie auch gesellschaftstheoretisch erst dann, wenn dieser Gegensatz nicht in einen Monismus materieller Objektivität der Perspektiven aufgelöst wird, sondern in eine temporalisierte Rekonstruktion der Differenzierung heterogener Ordnungsebenen überführt wird, sodass zwischen sozialen Formaten und intentionalen Horizonten unterschieden werden muss. Wenn der Pragmatismus »Individualität« nicht reduzieren und zugleich Werkzeuge für eine Gesellschaftstheorie liefern will, die grundlagentheoretisch weiterhin auf einer Handlungstheorie auf baut, dann muss er die Handlungstheorie erweitern um das Prinzip der emergenten und dann sozial institutionalisierten Differenz zwischen der subjektiven Selbstreferenz der Akteursintentionalität und der sozialen Koordination von Handlungsformatierung. Intersubjektivität kann dann als vorrangig gelten, aber sie besteht in komplexen Übersetzungsverhältnissen. Das Ego des Pragmatismus ist »immer schon« draußen in der Welt. Aber auch eine emergente und relativ inkommensurable selbstreferentielle Intentionalität fällt nicht aus der Welt; sie konstituiert nur als selbst (qua Emergenz) konstituierte in der Welt eine nicht-repräsentationale Differenz zwischen Sinnhorizonten, die in ihren praktischen Wirkungen zeigt, dass die Welt als soziale Welt notwendig multiperspektivisch ist. Eine pragmatistische Sozial- und Handlungstheorie bewährt sich mit Bezug auf die Ordnungsebene »Gesellschaft« durch ihre differenzierungstheoretischen Kapazitäten. Unter moferierenden Registern der Handlungsbestimmung (ansatzweise bei: Renn 2006: 201ff.) zu entwerfen.

Emergenz und aporetische Perspektivenübernahme

difizierendem Rückgriff auf Mead ist es möglich, das Prinzip sozialer Differenzierung als eine probleminduzierte Emergenz von Ordnungsebenen zu entziffern, zwischen denen dann permanent übersetzt werden muss. Das Individuum, betrachtet nicht nur als Ensemble gesellschaftlicher Individualisierungen, die einem leeren Signifikanten aufgeschwatzt werden, zeigt sich dann indirekt, als eine ausdifferenzierte und damit auf sich selbst geworfene Transzendenz der Gesellschaft, die zugleich gleichzeitig und ungleichzeitig mit den sozialen Sequenzen prozediert und aufgrund dieser Gleichzeitigkeit von Gleichzeitigkeit und Ungleichzeitigkeit – was »die« Gesellschaft angeht – sowohl drinnen als auch draußen ist. Es kommt dann eben darauf an, sich weder hier noch dort dauerhaft einzurichten.

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4. Paradoxe Intersubjektivität

Michael Tomasello und die Vokabulare



einer Evolutionstheorie der Intentionalität

I. B rückenbauversuche : V on der N atur des M enschen aus Die Arbeiten von Michael Tomasello zu den evolutionären Voraussetzungen der menschlichen Kommunikation und zu den Ursprüngen der spezifisch menschlichen Kulturentwicklung sind soziologisch höchst aufschlussreich, denn sie berühren grundlagentheoretische Fragen zur Genese von Intentionalität und Sozialität. Sie sind überdies von allgemeiner Relevanz für das Programm einer möglichen Evolutionstheorie der Kultur und für ihre epistemische Infrastruktur, denn Tomasellos Argumentation durchschreitet einen ungewöhnlich differenzierten konzeptuellen Radius. Sie spannt einen weiten Bogen der Perspektiven, der von der ethologischen Interpretation empirischer Beobachtungen (an Primaten und Menschenkindern) über die evolutionstheoretische Rekonstruktion der Genese gattungsdifferenzierender Entwicklungsstufen bis zu einer außergewöhnlichen, nämlich sprachphilosophisch entfalteten Konzeptualisierung des eigentlichen Explanandums führt. Was erklärt werden soll, ist die Genese der typisch menschlichen Form normativ strukturierter und reziprok reflexiver Kooperation und – als sine-qua-non Bedingung dieser gattungseigenen Form der Interaktion – die Entstehung der anthropospezifischen Kognition, deren Kern Tomasello in einer komplexen, vor allem reflexiven, geteilten Intentionalität vermutet (Tomasello 2002; Tomasello, Rakoczy 2009). Entscheidend ist an dieser Problemexposition, dass dieses Explanandum trotz ethologischer Ausrichtung – zumindest prima facie – eben nicht im Vokabular einer naturalistischen Reduktion bestimmt wird, sodass die empiristische Zurückführung kultureller Phänomene auf objektive Naturgesetze (z.B. die Zurückführung der Kooperationsneigung in »eusozialen« Populationen auf statistisch plausibilisierbare »Fitness«-Vorteile, vgl. Boyd, Richerson 2005: 133ff.), so wie die Reduktion mentaler Phänomene auf neurophysiologische Kausalitäten, vermieden wird. Das gattungsspezifische Charakteristikum,

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auf das die vergleichende Untersuchung von Primaten und vorsprachkompetenten Kleinkindern fokussiert, ist die genetische Verbindung von geteilter Aufmerksamkeit, protodeklarativen Gesten und doppelt reziproker Intentionalität, d.h. der intentionalen Zuschreibung von intentionalen Zuschreibungen von Intentionalität.1 Entscheidend ist für die genauere Bestimmung der zu erklärenden Kompetenzen, dass Tomasello hier eine sprachpragmatische Perspektive veranschlagt. Explizit beruft er sich auf Jerome Bruner und mit diesem auf Wittgensteins Auffassung der Gebrauchstheorie der Bedeutung, wenn er versichert, »dass das Kind den konventionellen Gebrauch eines sprachlichen Symbols dadurch erwirbt, dass es lernt, an einer Interaktionsform (Lebensform, Szene gemeinsamer Aufmerksamkeit) teilzunehmen, die es zunächst nicht-sprachlich versteht« (Tomasello 2002: 131). In diesem grundlegenden Status des Verständnisses für die Interaktionsform ist impliziert, dass die genetisch zu erklärende geteilte Intentionalität sich nicht in der objektiven Übereinstimmung der auf mehrere Individuen verteilten Auffassung von äußeren Objekten (und der auf sie referierenden Zeichen) erschöpft, sondern durch die reichere (mindestens dreistellige) Struktur der kommunikativen Absichten des Zeichengebrauchs ausgezeichnet ist. Es wird also hinreichend anspruchsvoll definiert, woran eine evolutionäre Erklärung des spezifisch Humanen gemessen werden muss, sodass hier das Rätsel der so genannten Natur-Kultur-Schranke berührt, nicht aber durch reduktionistische Trivialisierungen des Explanandums heruntergespielt wird. Die für eine eigenständige (nicht naturalistische) Theorie der soziokulturellen Evolution interessante Frage lautet: lassen sich naturgeschichtliche, evolutionäre Voraussetzungen in der Sprache der Ethologie, der Paläoanthropologie und der Biologie so formulieren, dass sie plausibel als notwendige und sogar hinreichende Bedingungen für anspruchsvoll beschriebene Formen von Intentionalität, Kooperation, Sozialität und Kultur tragfähig werden? Das würde nichts Geringeres bedeuteten, als z.B. auf der Grundlage (oder wenigstens mit Bezug auf die Ergebnisse) verhaltenswissenschaftlicher Beobachtungen die Genese einer sinnhaft strukturierten Intentionalität und der – gemessen an der subjektiv-mentalen Charakteristik dieser Intentionalität – einigermaßen rätselhaften »Intersubjektivität« der Bedeutung nicht natürlicher Zeichen zu erklären. Eine solche Erklärung erscheint nur einer reduktionistischen Perspektive als leicht lösbare Aufgabe (d.h. nur der Reduktionismus hält z.B. die Beziehung zwischen mentalen und materiellen Entitäten für ontologisch unproblematisch – weil »Supervenienz« an Kausalität assimiliert wird – und die Beziehung zwischen Zeichen und Bedeutung auf die »Repräsen1 | Auch wenn diese komplexe Reflexivität der Intentionalität in den Arbeiten Tomasellos erst in Reaktion auf kritische Einwände gegen eine gewisse Unterschätzung der kognitiven Leistungen von Primaten erfolgt ist (Tomasello, Rakoczy 2009).

Paradoxe Intersubjektivität

tation« von Objekten reduziert wird). Demgegenüber führt die sachangemessene Rekonstruktion von Intentionalität (sowie auch eine komplexere Theorie sprachlicher Bedeutung, z.B.: Taylor 1985) zu der Einsicht, dass zwischen den naturalistischen und den sinn-rekonstruktiven Sprachspielen der entsprechenden Disziplinen ein oft durch bloße Äquivokationen (z.B.: durch die ungeprüfte Identifikation von »Organismus« und »Subjekt«) überspielte Inkommensurabilität besteht. Den Abstand zwischen natur- und kulturwissenschaftlichen Vokabularen (siehe: Rorty 1989, aber auch: Habermas 2012a: 46ff.) zu überbrücken, erfordert indessen eine aufwändige Theorie-Übersetzung. Mindestens muss die Koreferenz zentraler Termini (z.B.: »Organismus« und »Subjekt«) sicher gestellt (oder aber realistisch: erst noch hergestellt) werden; und dieser methodische Schritt fällt umso weniger leicht, je klarer man sich darüber wird, dass die Bedeutung theoretisch bestimmter Begriffe nicht etwa extensional durch die Klasse ihrer Bezugsgegenstände festgelegt ist, sondern, vereinfacht gesagt und nur angedeutet: »theoriegeladen« ist.2 Das Problem einer kontinuierlichen Verbindung zwischen natürlichen Bedingungen (und das heißt ihren Explikationen im naturalistischen Sprachspiel) und dem Phänomen sinnhaften Handelns (d.h. ihren Explikationen im sinn-rekonstruktiven Vokabular hermeneutischer Wissenschaften) ist wegen dieser nicht-repräsentationalen Beziehung zwischen Begriffen und Bezugsobjekten nicht einfach das Problem eines empirischen missing link in der evolutionären Reihe der humanoiden »Arten« oder der physiologischen Vorbedingungen der phonetischen Funktionen (Leroi-Gourhan 1984: 147ff.), sondern dieses Problem beruht methodisch auf der mangelnden Koreferentialität der zentralen Begriffe von naturalistischen und Sinn-rekonstruktiven Sprachspielen.3

2 | Systematisch ist eine »holistische« Sprachauffassung (für viele: Taylor 1985; Rorty 1989) dann von einer »konstruktivistischen« oder »kontextualistischen« Radikalisierung des (Referenz-bezogenen) Bedeutungsskeptizismus zu unterscheiden, wenn man nicht länger – wie immer noch vor allem in soziologischen Bezugnahmen auf sprachphilosophische Überlegungen üblich – »Signifikanten« und »Referenten« (Bezugs-»Objekte«) identifiziert. Das »konstruktive« Element einer horizont- und vokabularabhängigen Gegenstandskonstitution bezieht sich auf die sprachinterne Verknüpfung von Zeichen und Bezug, soweit der Bezug sich durch das Verhältnis von Zeichen zu weiteren Zeichen des Sprachspiels (und ihrem Gebrauch) klären lässt; etwas ganz anderes ist die Referenz auf außersprachliche Referenten, die eben nicht schon durch Benennung und sprachliche Rekursion zwischen Zeichen (die für einander Signifikat sein können) in einem strikten Sinne »erzeugt« werden. 3 | Zu vermuten ist schon hier, dass diese mangelnde Koreferentialität nicht durch interne Ausbauten der beteiligten Sprachspiele, die diese Sprachspiele in ihrer »Grammatik« (»Wittgenstein«) unangetastet lassen, korrigiert werden kann, sondern – wenn denn

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An eben dieser Nahtstelle entfalten die Arbeiten Tomasellos ihren Reiz, denn sie suchen nach solchen Brücken bei dem Versuch, eine hinreichend komplex beschriebene Intentionalität aus der Evolution gestisch und symbolisch koordinierter Kooperation zu erklären. Diese anspruchs-erhöhende Exposition des theoretischen Unternehmens hat natürlich ihre Vorläufer. Was die mitschwingende Grundsatzfrage nach der Entstehung der (so bemerkenswert eindeutig menschlichen) Sprache betrifft, würde es sich durchaus lohnen, manche aktuellen Diskurse zum Thema an einen nun schon bald 250 Jahre alten Vorstoß zu erinnern: dass Sprache nicht irgendwann, in einer Mischung aus »Pfingsterlebnis« und spontan verabredeter Taufe all der Dinge, die fertig abgegrenzt um einen herum liegen, entstanden sein kann (sobald die physiologischen Vorbedingungen evoluiert sind), das hat J. G. Herder mit buchstäblich ausgezeichnetem Paukenschlag schon vor 1770 geklärt (Herder 1993), und er hat dies interessanter Weise – Jahrzehnte vor Humboldt und Jahrhunderte vor Wittgenstein – begründet durch die Einsicht in die grundlegende Differenz zwischen der performativen Gestalt sprachlicher Kommunikation (einschließlich Prosodie) und der dieser gegenüber sekundären Schrift und der dann noch einmal sekundären objektivistischen Analyse der formalen syntaktischen Regeln und semantisch-lexikalischen »Vergegenständlichungen«. 4 An Herder ist deshalb zu studieren, was innerhalb der Unternehmungen Tomasellos einen Unterschied gegenüber eingespielten Gewohnheiten in der Theorie macht. Es macht einen Unterschied, weil in handelsüblichen evolutionstheoretischen Überlegungen zumeist unterschätzt wird, dass es von der Sprache, in der man die Sprache beschreibt, abhängt, ob eine genetisch-diachrone Erklärung sprachlich verfasster und koordinierter Intentionalität gelungen ist. Denn solange die Entwicklung der Sprache nur als Genese eines anderen Ausdrucksmediums für einen ansonsten konstanten »Weltzugang« (Manipulation von sprachfrei identifizierten »Gegenständen«) betrachtet wird, wird die »welterschließende« Funktion sprachlicher Interaktion, deren Genese erklärt werden müsste, verfehlt. »Brückentermini« überhaupt möglich wären – eine dritte Sprache (in deren »Grammatik« dann jene Brückentermini gehörten) erforderlich macht. 4 | So heißt es: »Keine einzige lebendigtönende Sprache läßt sich vollständig in Buchstaben bringen und noch weniger in zwanzig Buchstaben; dies zeugen alle Sprachen sämtlich und sonders. Die Artikulationen unserer Sprachwerkzeuge sind so viel, ein jeder Laut wird auf so mannigfaltige Weise ausgesprochen […]. Als gemalte Buchstaben sind sie [die Laute, J.R.], so bequem und einartig sie der lange Schriftgebrauch gemacht hat, immer nur Schatten!« (Herder 1993: 10ff.). Und ebenso ist eine Rekonstruktion der Sprachgenese, die sich an der Entstehung eines neutralen Mediums der Repräsentation sprachfrei aufgefasster Gegenstände und Vorstellungen abarbeitet, ein szientistisch motiviertes Schattenboxen.

Paradoxe Intersubjektivität

Dieser Einwand kann auf den ersten Blick überzeugend wirken, solange man an biologische, ethologische, paläogenetische und andere, der Familie naturwissenschaftlicher Erklärungen evolutionärer Prozesse angehörende, epistemische Haltungen und Beschreibungsvokabulare denkt. In diesen Feldern der Forschung und Theoriebildung definiert sich das Spektrum der untersuchten Gegenstände eben nicht durch sinnhafte Orientierung (sodass es nichts zu deuten und der Sinn der Vorgänge nicht »hermeneutisch« zu rekonstruieren wäre). Aus naturalistischer Sicht scheint deshalb die Projektion des Kausalschemas auf den objektiven Zusammenhang der Entwicklung des Gegenstandes auch für solche Phänomene zu gelten, bei denen die Schwelle zur intentionalen und sprachlichen Eigenkoordination von »Verhaltenssequenzen« und ihrer Struktur überschritten ist. Eben das aber ist eine reduktionistische Anpassung des Explanandums an die Reichweite der kausalen Erklärung, die »objektive« Ursachen mit Wirkungen verkettet, indem sie das Phänomen: »Sprache« und »Intentionalität« exklusiv im Vokabular der Beschreibung und Erklärung objektiver Tatsachen zu identifizieren versucht.5 Diese Projektion kausaler Beziehungen zwischen vermeintlich selbst-identifizierten (und nicht etwa »interpretationsabhängigen«) empirischen Entitäten reicht weit in die Soziologie hinein. Auch innerhalb der Soziologie neigen z.B. »neo-darwinistische« Konzeptionen dazu, das spezifische Explandandum sozio-kultureller Evolutionsprozesse: die deutungsabhängige »Sinn-Identität« kultureller Institutionen (»doppelte Hermeneutik«) empiristisch zu reduzieren, sodass z.B. »Wissen« als eine vergleichsweise undefinierte Kategorie, die das »Material« evolutionärer Variationen und Errungenschaften bestimmen soll, zur »verhaltenssteuernden Information« umdefiniert wird (Campbell 1974; vgl. Kappelhoff 2015: 411). Eine solche Übersetzung sozial sinnhafter Handlungskoordination in die »Steuerung des Verhaltens« durch »Information« macht es 5 | Ein eindringliches Beispiel für die irreführenden Konsequenzen der Projektion biologischer Mechanismen und Gegenstandsentwürfe auf kulturelle Prozesse stellt die Theorie der »Meme« (Dawkins 1996; Dennett 1996) dar (Müller 2010: 37ff.). Analog zu (»egoistischen«) Genen sollen »Meme« als überlebenshungrige »Sinneinheiten« sich möglichst vieler »Gehirne« als »Vehikel« zu ihrer Replikation bemächtigen, woraus sich die Genese und Proliferation kultureller Sinngehalte (unterschiedlichster Art, vom Händedruck bis zur Sonatenform) erklären lassen soll. Abgesehen von dem schon erheblichen Problem, das es keinerlei handfeste Identitätskriterien für die Bestimmung einzelner, abgegrenzter Meme zu geben scheint, zersetzt die notwendige Interpretationsabhängigkeit der materialen Weitergabe (von »Gehirn« zu »Gehirn«) die evolutionstheoretisch wichtige Differenz zwischen »Variation« und »Selektion« (Blackmore 2000; dazu: Müller 2010: 37ff.). Das Phantasma der »Meme« hält also nicht mal Vokabularintern stand; die Gründe dafür liegen jedenfalls auffälliger Weise darin, dass der Gegenstand in der Dimension der Sinnkonstitution liegt (Müller 2010: 56ff.).

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dann dem Anschein nach nicht mehr erforderlich, zwischen der Pheromon gestützten »Kooperation« der Ameisen und der normativen Integration »doppelt kontingenter« Handlungssequenzen, in denen intentional strukturierte Interaktionsteilnehmer Handlungen »verstehen« müssen, einen qualitativen Unterschied zu sehen (siehe dagegen eben schon: Parsons 1964). Damit aber wird die eigentliche Herausforderung, zwischen einem informationstheoretisch-empiristischen und einem sinn-rekonstruktiv hermeneutischen Vokabular zu übersetzen (durchaus im Sinne einer handfesten petitio principii), eben nicht angenommen. Insofern setzt sich die Differenz zwischen naturaler und kultureller Koordination von Verhalten bzw. von Handeln gewissermaßen in der Differenz zwischen naturalistischen und kulturtheoretischen Vokabularen fort, ohne dass die evolutionstheoretischen Argumentationen auf genau diese ihr eigene selbstreferentielle Problematik überhaupt eingehen würden. Man kann allerdings bezweifeln, dass dieser Einwand gegen die »Vokabular-Vergessenheit« von Theorien der sozio-kulturellen Evolution auch längst etablierte Grenzgänger zwischen den Wissenschaftskulturen trifft, wie die »Philosophische Anthropologie« oder aber die ebenfalls schon lang kanonisierte Intersubjektivitätstheorie G. H. Meads. Immerhin hat Mead selbst die Genese der geteilten Intentionalität (im Sinne des Vorrangs der Intersubjektivität vor der Genese des »Selbst«) an den kooperativen Gebrauch der »signifikanten Geste« zu knüpfen empfohlen (Mead 1967). Müsste man also angesichts solcher Alternativbemühungen um die Genese des intentionalen Bezugs zu sozial koordinationstauglichen Zeichen den Neuigkeitswert der Tomasello’schen Problemexposition doch deutlich geringer veranschlagen? Für die Einschätzung der Relevanz einer »soziopragmatischen Theorie des Spracherwerbs«, mit der Tomasello grundlegende Fragen der sozio-kulturellen Evolution wenigstens richtig zu stellen beansprucht (Tomasello 2011: 168ff.), ist angesichts dieser Bedenken ein Umweg durch die genannten Alternativen durchaus zielführend. Die folgenden Überlegungen stellen deshalb die detaillierte Auseinandersetzung mit Tomasello zugunsten einer sinnvollen Anreicherung des Problembewusstseins zunächst zurück, um das Problem der Vokabulare evolutionärer Erklärungen von Intentionalität (und sprachlich verfasster »Kultur«) in ein schärferes Licht zu stellen.

II. P hilosophische A nthropologie oder G. H. M e ad : B rückenbau -S urrogate Die problematische Differenz zwischen natürlich konstituierter Aktivität des Organismus bzw. »soziobiologischer« Organisation eusozialer Populationen und kulturell konstituierter Kommunikation setzt sich in der Differenz zwischen entsprechenden Vokabularen fort. Dass es bereits gelungen sei, diese

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beiden Differenzen in einer narrativ repräsentierbaren Kontinuität – sachbezogen wie terminologisch – zu überbrücken, ist häufig genug behauptet worden. Es fällt jedoch gerade im Lichte der sprachtheoretischen Skrupel der Tomasello’schen Unternehmung auf, dass es weder der philosophischen Anthropologie (Gehlen 1956, 1962: 46ff.), noch dem amerikanischen Pragmatismus (Mead 1964a und 1967), noch den daran anschließenden Intersubjektivitätstheorien (Joas 1980), noch etwa der so genannten strukturgenetischen Theorie (Dux 1989: 23ff.) gelungen ist, die Genese spezifisch humaner Intentionalität und Sozialität überzeugend zu erklären, das heißt aus den naturalen Antezedenzbedingungen in der Vorgeschichte anthropospezifischer Kulturentwicklung abzuleiten, ohne das Ergebnis der rekonstruierten Entwicklung, das Explanandum, um dieser Rekonstruktion willen reduktionistisch zu definieren oder aber umgekehrt: Eine ausreichend reichhaltige Charakterisierung des Explanandums in die Ausgangsbedingungen zu projizieren. Einen ersten Hinweis auf den Zusammenhang zwischen heterogenen Vokabularen und der Brückenfunktion evolutionstheoretischer Rekonstruktionen gibt die Erinnerung an die Ausgangsintuition der philosophischen Anthropologie: an die anti-cartesianische Vorstellung vom humanspezifischen Weltverhältnis als einer vortheoretischen und d.h. theoretisch nur unvollkommen »repräsentierbaren« »Eingelassenheit« des Menschen in die Welt, die ihren Anfang genommen hat mit Heideggers Analyse des »In-der-Welt-Seins« (Heidegger 1984): In dieser Fassung nämlich ist das humane Weltverhältnis als eine »ontologische Auszeichnung« charakterisiert und damit von Beginn an in einer doppelten Hinsicht von jeder naturalistischen Anthropologie distanziert. Erstens ist nämlich diese Auszeichnung ein Merkmal des Daseins selbst, dem es als einem »geworfenen Entwurf« »in seinem Sein um sein Sein gehe« (Heidegger 1984: 8ff.) – »der Mensch« baut also nicht nur Werkzeuge und kulturelle Institutionen, sondern er »versteht« die Welt im Modus selektiver Auslegung; zweitens aber markiert die »ontologische« Auszeichnung eine reflexive Charakterisierung jeder Theorie dieses Weltverhältnisses: Sie kann als eine ihrerseits existentiell fundierte Auslegung ihrer eigenen praktischen Einbettung (vgl. Weiß 2001: 19ff. und Koppetsch 2001: 367) diese Grundlage, das genuin praktische Verhältnis zur »Welt«, nicht »einholen«, nicht restlos transparent machen, sondern höchstens in selektiver Weise, mithin zugleich »entbergend« und »verbergend« erschließen (Lafont 1994; Renn 2001).6 Auch 6 | In aller Kürze: »Welterschließung« kann sprach-, geltungs- und referenztheoretisch als eine »Übersetzung« des praktisch vermittelten Zugangs zur »Gegenständlichkeit« in die explizit-propositionale Bezugnahme auf sprachabhängig identifizierte »Gegenstände« verstanden werden, sodass sich die sprachliche Welterschließung – in der Tradition von Humboldt über Heidegger bis Paul Ricœur und Charles Taylor – als ein Modus der zugleich selektiven und produktiven Bezugnahme auf »etwas« verstehen lässt, der

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eine Theorie der Genese eines Typs der Interaktion (der vorsprachlichen Lebensform im Sinne von Wittgenstein und auch Tomasello), die bezogen auf das intentionale »Welt-« und »Selbstverhältnis« eines Akteurs konstituiert und konstituierend zugleich sein soll, kann also in ihrer Abhängigkeit von einem Vokabular, in ihrer »Theorie-Geladenheit« (Quine 1980), nicht als eine »Repräsentation« ihres Bezugsgegenstandes, sondern nur als eine immer unvollkommene, zudem als eine »emergente« Explikation eines nicht erschöpfend explizierbaren, praktisch aber wirksamen (also »realen«) Bezugsgegenstandes gelten (Rorty 1989; vgl. Renn 2008a). Das bedeutet nun durchaus nicht, dass jede explizite Artikulation des fraglichen dynamischen Zusammenhangs (Evolution) eine bloße diskursive Konstruktion ohne »reale« Referenz wäre. Es bedeutet eher, dass schon die Form der expliziten Theorie, die propositionale, oder mit Heidegger: »apophantische« (Heidegger 1984: 158) Struktur der Zuordnung von Eigenschaften, Merkmalen bzw. Prädikaten zu einem referentiell individuierten »Gegenstand«, eine theorieabhängige Ontologie der Gegenstände, eine in der Kopula hinterlegte Auslegung des Sinns von Sein (als »Vorhandenheit«) projiziert. Eine solche den Gegenstand vorkonstituierende »Auslegung« von »Sein« liegt dann beispielsweise in der Form der Angleichung sprachlicher Bedeutung an »verhaltenssteuernde Information« vor: Die Genese sprachlicher Kommunikation in evolutionären Prozessen wird eine vergleichsweise anspruchslosere Angelegenheit, wenn – siehe oben – das naturalistische Vokabular »Bedeutungen« als empirische Entitäten behandelt, die qua Isomorphie ihrer möglichen kausalen Rollen mit denen von z.B. genetischen »Informationen« ein homogenes Kontinuum bilden. Die ontologische »Auszeichnung« des pragmatischen Weltverhältnisses vortheoretischer »Welt-Deutung« hat demgegenüber die epistemologische Implikation, dass Theorien der praktischen Grundlage des Weltverhältnisses als kontingente Vokabulare, als Übersetzungen zwischen dem implizit Gewissen und dem explizit-propositional Definierten, gelten müssen (so auch: Habermas 1999). Und das verpflichtet zur Distanz gegenüber jeder repräsentationalistischen Vorstellung über den Status möglicher positiver Bestandsaufnahmen der Anthropologie des existentiellen Weltverhältnisses. Vor diesem Hintergrund betrachtet, haben sowohl A. Gehlen als auch H. Plessner zwar die Aufgabe einer Analyse der »Sonderstellung des Menschen« präzise formuliert (Gehlen 1956, 1962) und dabei das Problem heterogener Beschreibungssprachen berührt, sofern sie die existentiell-praktische Welteingelassenheit und die Biologie bzw. Anatomie auf einander zu beziehen versuchten. zwischen der »Entdeckung« von Objektivem und der »Erfindung« fiktiver Bezugsgegenstände, zwischen Konstruktivismus und Repräsentationalismus liegt (vgl. dazu: Taylor 1985 und Ricœur 1986).

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Aber die Naht zwischen den positiven Beschreibungen der Gattung, von der Biologie bis zur Paläoanthropologie und der Heidegger’schen Hermeneutik der Faktizität (des praktischen Weltverhältnisses) bleibt brüchig, weil die Prinzipien z.B. der »Instinktreduktion«, der evolutionär erzwungenen »Institutionalisierung« und der »exzentrischen Positionalität« unaufgelöst oszillieren müssen zwischen dem Status objektiver »natürlicher« Gattungsmerkmale und dem Status einer hermeneutischen Re-Konstruktion des spezifisch intentionalen, individuellen oder kollektiven Welt- und Selbstverhältnisses – das eine erklärt nicht das andere und nicht einmal die »Koreferenz« entsprechender Ausdrücke kann als gesichert gelten. Im Gegenteil: Die Suggestion der Koreferenz zwischen naturalistischen Ausdrücken (»Ausstattung«) und hermeneutischen Begriffen (»Exzentrizität«) überdeckt die Gefahr einer Pseudo-Erklärung durch Äquivokationen, die das zirkuläre Moment der Projektion des Explanadums in das Explanans überdecken.7 Die philosophische Anthropologie wäre darum im Vergleich mit der Heidegger’schen Reflexion auf die ontologische Auszeichnung des Daseins (und der entsprechenden Fundierung apophantischer Bezugnahmen auf das Fundament) eine Regression in die Beobachtung erster Ordnung, wenn sie diese »Auszeichnung« vom Standpunkt einer objektivierenden Analyse aus als eine natürliche Bedingung charakterisieren wollte. Anderenfalls aber wäre sie eben keine objektive Erklärung, sondern eine existentiell motivierte Naturauslegung, die zu ihrer Plausibilisierung die Autorität der positiven Naturwissenschaften und ihres Vokabulars, inklusive Erklärungsanspruch – gegen die Absicht der philosophischen Anthropologen – nicht heranziehen kann. Das Problem ist der – durch eine repräsentationalistische Grundhaltung notorisch überspielte – Mangel an Ko-Referentialität (Bezugs- und Bedeutungsgleichheit) von Schlüsselbegriffen konkurrierender Beschreibungssprachen. Entitäten, deren Eigenschaften und Funktionen im Horizont des Kausalschemas explanative Rollen einnehmen können, haben andere Identitätskriterien als Entitäten, die im Horizont intentionaler Sinnkonstitution individuiert wer7 | Bei Gehlen lässt sich dementsprechend eine terminologisch induzierte »Aufladung« der Beschreibung naturaler Grundlagen des Gattungswesens mit bereits »kulturspezifischen« und darum (aufgrund semantischer Implikation) nicht mehr nur »kultur-konstitutiven« Merkmalen (»bedürfnisüberlegene Antriebsstruktur« und »überschüssige Lebendigkeit«, Gehlen 1962: 239) beobachten. Durch die Beschreibung der angeblich natürlich konstitutierten Instinktreduziertheit und der (schon von Herder 1772 diagnostizierten) Entgrenzung des Situationsbezugs werden auf diese Weise spezifische Merkmale des Explanandums (Sprache und Institutionen) bereits in das Explanans (»Austattung«) projiziert. Man kann zwar einwenden, dass das anders nicht funktioniert, allerdings haben wir es dann sicher nicht mit Brückentermini oder mit einer die Differenz der Vokabulare übergreifenden und übersetzenden dritten Sprache zu tun.

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den. Das eine sind Dinge, das andere Phänomene.8 Bezogen auf die Intentionalität sind deshalb Vorstellungen keine Repräsentationen, sondern Deutungen von vorgestellten Entitäten (Auffassungen von etwas als »etwas«). Die Referenzobjekte bleiben in einem objektivistischen Vokabular Eigenschafts-konstant wenn die Zeit vergeht, jene Vorstellungen bleiben es aber (relativ zu phänomenologischen Beschreibungen) nicht. Gedachte »Ziele« z.B. als antizipierende Vorstellungen eines Handlungszweckes sehen ex ante und ex post notwendig anders aus (z.B. als erfüllte »Leerintentionen«), während objektive Zustandskonstellationen, die intentional vorgestellt/angestrebt werden, einfach sind, was sie sind (jedenfalls im Lichte einer objektivierenden Beschreibung). Dass sie ex post etwas anderes bedeuten können, ändert ihre realen bzw. materialen oder objektiven Eigenschaften nicht, wohl aber ändern sich die Eigenschaften der Vorstellungen, die sich auf sie beziehen.9 Das alles ist für die Evolutionstheorie deshalb von Bedeutung, weil eine evolutionäre Erklärung der sprachlich verfassten Kooperation und der dazu gehörenden komplexen Intentionalität mit eben dieser Differenz zwischen »Identitätskriterien« ringen müsste: wenn für die Rekonstruktion der Genese spezifisch menschlicher Kommunikation und Kultur das Prinzip der »geteilten Aufmerksamkeit« entscheiden ist, dann verkompliziert die Differenz zwischen »Objekten« (mit entsprechenden Identitätskriterien) und »Objekt-Vorstellungen« (mit anderen Identitätskriterien) die Erklärungs-Aufgabe erheblich. Man muss dann erklären, warum und in welchem Sinn »Objekt-Vorstellungen« identisch sind bzw. identisch sein oder werden können. Und dies wird noch schwieriger, wenn man wie Tomasello den Spracherwerb an die Teilnahme an praktischen Routinen (»Lebensform«) bindet, sodass also intentionale »Vorstellungen« von Objekten ihre Identität nicht primär aus der denotativen Beziehung der Vorstellung zu einem externen, objektiven Gegenstand, sondern 8 | Vor allem zeitliche Strukturen machen den Unterschied: Entitäten, die kausale Rollen spielen können, können in ihrer Identität als zeitresistent behandelt werden (vor allem deshalb sind Ereignis-»Tokens« natürlicher Arten geeignet unter »Types« als Variablen nomologischer Generalisierungen subsumiert zu werden), d.h. sie verändern ihre Bedeutung und ihre Eigenschaften nicht im Fortlauf der Zeit (vielleicht ihre kausale Rolle); Entitäten in sinnhaften Horizonten der Synthesis, also der Gegenstands-Individuation, verändern dagegen durchaus retrospektiv ihren Sinn, weil ex post Interpretationen ihre zugeschriebene Substanz und ihre Individuation verändern können. 9 | Man muss keine »internalistische« Bedeutungstheorie verfechten, um der phänomenologischen Tradition der Analyse intentionaler Zeithorizontalität Zuständigkeit für diese Dinge zuzugestehen. Die Zwischenschaltung der immanenten (bezogen auf das Subjekt oder aber auf das Vokabular) Sinnkonstitution erzwingt keine konstruktivistische Eskamotierung externer Kontrolle des Bezugs der Zeichen, aber Bezugnahme auf externe Umwelten ist als Teil eines Sprachspiels keine Abbildung des Objektiven.

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aus den kontingenten Konventionen eines kooperativen Umgangs mit solchen Objekten beziehen. Geteilte Aufmerksamkeit ist also nicht einfach reziproke Objekt-Aufmerksamkeit, sondern die intentionale Beziehung zur Intention des anderen ist bereits »proto-illokutionär« aufgeladen mit dem Anspruch auf Reziprozität der praktischen Erwartungen an den Umgang mit »Objekten« (nicht der »Repräsentation« von Objekten, Tomasello 2002: 119). Dass durch diese Differenz zwischen den Beschreibungsvokabularen (Phänomenologie intentionaler »Objekt«-Konstitution versus naturalistische Beschreibung »identischer« Sinneseindrücke) die evolutionäre Erklärung vor große Aufgaben gestellt wird, zeigt sich ebenso in einer gegenüber der philosophischen Anthropologie ganz andersartigen Theorietradition: G.H. Mead hat bereits die Genese der kooperativen Verwendung von Zeichen, die für ego und alter bedeutungsidentisch sein sollen, erklären und daraus wiederum die Möglichkeit der Genese des subjektiven Selbstverhältnisses ableiten wollen (wenn man so will: aus der »natürlichen« Koordination der Organismen, das die Kausalbeziehung inhibierende Moment der intentionalen Orientierung). Aber der Versuch, die Genese des reflexiven Selbst auf einen vorgängigen, »intersubjektiven« Prozess zurückzuführen (auf die vorreflexiv koordinierte Interaktion und dann auf die Perspektivenübernahme), bleibt ebenfalls im Dualismus zwischen Sinnrekonstruktion und naturalistischer Reduktion verfangen. In Meads Version der »geteilten Aufmerksamkeit« wird der Übergang zum Zeichengebrauch selbst als eine Verlängerung der kausalen Beziehung zwischen Organismen behandelt: erklären will Mead, dass und wie das »Selbst« seiner selbst gewahr wird. Dazu stellt er die »Perspektiven-Übernahme« (das »taking-the-attitude«) ins Zentrum der Analyse einer intersubjektiv begründeten Ausdifferenzierung subjektiver Intentionalität (Mead 1967). Eine nicht zirkuläre Erklärung der Genese der Perspektivenübernahme aus der Übernahme der Perspektiven ist allerdings nur durch die Unterstellung der strikten Bedeutungsidentität von Gesten als »signifikanten« Symbolen zu gewinnen. Deshalb definiert Mead die Übereinstimmung der Perspektiven von ego und alter (der »Objekt-Vorstellungen«) als Übereinstimmung der von ego und alter als Folge einer Symbolverwendung erwarteten »Reaktion«. Und diese Reaktionsgleichheit beschreibt er wiederum im naturalistischen Vokabular als Identität objektiver Ereignisse in den kausalen Reihen der Bewegung von Organismen, sodass der erwarteten Reaktion, damit der Zeichenbedeutung und damit schließlich der intentionalen Bedeutungszuschreibung, die Identitätskriterien objektiver Entitäten untergeschoben sind. Dadurch aber wird das empirische Selbstverhältnis (die intentionale Orientierung auf den praktischen Sinn von Zeichen) durch die repräsentationalistische Auffassung der Bedeutungsidentität zu einer bloßen intentionalen Kopie externer Verhaltenserwartungen. Das »Me« als Ensemble aller von außen attribuierten Erwartungen an die Person speichert gewissermaßen die objektiven Regelmäßigkeiten intersubjektiver

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Praxis ab. Die für die evolutionäre Erklärung von menschlicher Kommunikation und Kultur konstitutive Dimension der Sinn-Deutung als Teil intentionaler Reziprozität (d.h. das Problem der Übereinstimmung der Deutungen des praktischen Sinns von Zeichen im Sinne arbiträrer Konventionalität, vgl. dazu: Tomasello 2011: 115ff.) wird durch die Zurückführung auf objektive Reaktionsgleichheiten naturalistisch überspielt. Das war Mead selbst zu wenig, sodass er die Abweichung der »Identität« (wir können erweitern: Die konstitutive Kontingenz der subjektiven Intentionalität, die das »Teilen« der Intention so kompliziert erscheinen lässt) und den innovativen Beitrag des Einzelnen, d.h. die von H. Joas besonders betonte Kreativität (Joas 1992), durch die Residualkategorie des »I« sicher zu stellen versuchte (Mead 1964b). Warum aber die Person in der Rolle des »I« überraschen können soll, was daraus wiederum für die Grundlage, die Genese und die Reproduktion der Reziprozität der Perspektiven (»geteilte Intentionalität«) folgt, das erfährt man bei Mead nicht. Entweder reduziert das Mead’sche Erklärungsprogramm Subjektivität und komplexe Intentionalität auf eine »Kopie« externer Erwartungen und objektiver Regelmäßigkeiten, oder aber Mead kappt die erklärende Verbindung zwischen a) einem objektivistischen Modell der Perspektivenübernahme und den Charakterisierungen eines individuellen, spontanen Selbst, das Zeichen auf kontingente Weise interpretiert und b) eben jener Form von kollektiv koordinierter Intentionalität, die evolutionär erklärt werden sollte (siehe dazu ausführlicher: Renn 2006a und 2013). Es zeichnet sich indessen deutlich ab, dass das Problem der genetischen Rekonstruktion der geteilten Intentionalität bzw. der Fähigkeit zur Perspektivenübernahme nicht einfach durch eine Überblendung zwischen naturalistischem (bei Mead: »behavioristischem«) Vokabular und sinn-rekonstruktiver Analyse der Infrastruktur praktischer Intentionalität gelöst werden kann. Die »ontologische Auszeichnung« des humanen intentionalen Akteurs (als Explanandum der Evolutionstheorie) kann weder objektivistisch in eine positive Anthropologie noch naturalistisch in einen behavioristischen Pragmatismus übertragen werden.10

10 | Das konstitutionslogische Paradox: »Akteure konstituieren die Interaktion, die Akteure konstituiert«, beruht auf der epistemologischen Paradoxie, dass die Interaktionstheorie das vortheoretische Interagieren theoretisch bestimmen muss. Sie steht also ihrem »Gegenstand« nur deshalb gegenüber, weil sie – ihrer eigenen Analyse zufolge – als theoretisches Vokabular sich gerade in dieser Modalität von ihrem Gegenstand unterscheidet und also diesen Gegenstand in diesem Vokabular nicht repräsentieren, sondern höchstens übersetzend erschließen kann (dazu näher: Renn 2008a).

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III. Tomasello und die I nfr astruk tur der » ge teilten « I ntentionalität Neben der Reduktion der Intentionalität auf naturale Kausalbeziehungen ist es vor allem die Projektion anspruchsvoller Intentionalität in die evolutionären Ausgangslagen vor der Emergenz doppelt kontingenter, Sinn auslegender, schwer zu koordinierender Intentionalität, die das Problem der heterogenen Vokabulare zu überspielen versucht. Diese Verführung ist trotz aller Behutsamkeit auch in Tomasellos Versuchen zu spüren, die Entstehung der spezifisch menschlichen reflexiven Intentionalität phylo- wie ontogenetisch aus der vorsprachlichen Kooperation zu erklären, um damit den evolutionären Übergang zwischen der Evolution der Natur und der Konstitution der Kultur theoretisch identifizieren zu können (Tomasello 2002, 2011). Tomasello verknüpft die ethologischen Analysen beobachtbarer Interaktion mit einer sprachphilosophischen Charakterisierung des Beobachteten, d.h. der spezifisch humanen Intentionalität (und Sozialität). Diese Verbindung könnte prinzipiell als konzeptuelle Brücke zwischen einer naturalistischen Interpretation der kausalen Sequenzen des Zusammenwirkens von Einzel-Organismen und einem normativ gehaltvollen Begriff kultureller und kommunikativer Kooperation gelten. Man hat es also mit dem Versuch zu tun, zwei Formen der Interaktion genetisch aufeinander zu beziehen: Die natürliche Sequenz, in der einzelne Akte einzelner Organismen für einander Ursachen und Wirkungen sind (und damit in evolutionsbiologische Erklärungsformate eingetragen werden können) und die performativ-propositional strukturierte Kommunikationssequenz, die durch geteilte Intentionalität, Kooperation und Normativität ausgezeichnet ist. Menschenkinder verstehen schon vor dem Erwerb ausgebildeter Sprachkompetenz, dass andere Intentionen haben und sie »versuchen […] die Bedeutsamkeit der referentiellen Handlung des Kommunizierenden für dessen soziale Intention zu erschließen« (Tomasello 2011: 255). Das heißt, sie schreiben soziale Intentionen zu (etwa das Interesse daran, Gefühle zu teilen), nicht etwa nur übereinstimmende, dabei aber egozentrisch-instrumentelle Aufmerksamkeiten. Geteilte Intentionalität und kooperative Einstellung sind in Tomasellos Perspektive letztlich für die spezifisch humane Form des Lernens und langfristig betrachtet für den »kulturellen Wagenheber-Effekt« verantwortlich, d.h. für die evolutionäre Stabilisierung von Innovationen ohne den mühsamen Umweg über die genetische (und nicht-lamarckistische) Codierung von Verhaltensweisen, deren allmählich ausgelesene Variationen durch objektive Anpassungsvorteile eine Richtung erhalten (Tomasello 2002: 50ff.). Diese kooperative Intentionalität und die durch sie charakterisierte Kooperation tragen das Potential zur höheren sozialen Organisation, zum entfalteten Zeichengebrauch und zu kumulativen Effekten des kollektiven Lernens aber aufgrund

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der Doppelrolle des »gemeinsamen Hintergrundes«, der den Zeichen für ego und alter eine praktisch hinreichend übereinstimmende referentielle und performative Bedeutung verleiht. Dieser Hintergrund hat eine Doppelrolle, weil er auf der einen Seite die Basis der phylo- und der ontogenetischen Genese der kommunikativen Kompetenz, auf der anderen Seite jedoch der Effekt (die evolutionäre und die sozialisatorische Resultante des Übergangs der Kooperation zum Zeichengebrauch) sein soll (vgl. Tomasello 2011: 154, 179 und 210, 217). Tomasello ist es aufgrund dieser ambivalenten Rolle, die er dem »gemeinsamen Hintergrund« in seiner Erklärung zuteilt, am Ende zwar gelungen, das Problem des Übergangs zwischen der natürlichen und der kulturellen Koordination humaner Kooperation genau zu identifizieren, gelöst wird es aufgrund des theoretisch multi-funktionalen Begriffs des Hintergrundes und der darin implizierten Form der »Interaktion« aber nicht. Allerdings stellt Tomasello – gegen die eigenen Absichten vielleicht – das Problem der »Vokabular-Abhängigkeit« des Begriffs und damit der evolutionstheoretischen Analyse der »Interaktion« (als Hintergrund und Horizont geteilter Intentionalität) durch seine pragmatistisch anmutende Erklärungsweise in ein helleres Licht. Dafür steht vor allem die von Tomasello so genannte »sozialpragmatische Theorie des Spracherwerbs« (Tomasello 2011: 181ff.). Sie hebt zuerst das Niveau der Problemexposition an, verschärft damit aber ohne Ausblick auf eine Lösung das Problem der Zirkularität der Erklärung der geteilten Intentionalität (oder auch mit Mead: der »Perspektivenübernahme«). Denn es ist kaum zu übersehen, dass auch hier die Genese der Interaktionsfähigkeit der Einzelnen aus dieser Interaktion selbst erklärt werden soll. Damit stößt auch dieses anspruchsvolle und stark beachtete Erklärungsprogramm reflexiv auf die Mehrdeutigkeit der Interaktion und darin auf das Problem der beschreibenden und erklärenden Vokabulare. Tomasellos leitende Idee lautet, dass die genetische Voraussetzung der symbolisch strukturierten, geteilten (vor allem »altruistischen«) Intentionalität – der intentionalen Zuschreibung »egos«, dass »alter« ego adressiert und also diesem Intentionen zuschreibt11 – in der vorsprachlichen, in Gesten mit »protoillokutionärem« Charakter manifesten, Kooperation in einer geteilten Umgebung besteht. Dieses »Teilen«, demzufolge die Kooperationspartner in einer identischen Umgebung agieren, auf die sie sich auch intentional beziehen können, hat allerdings notwendig noch nicht die Form der begrifflich strukturierten Ko-Referenz (denn deren Entstehung soll ja durch den Über11 | Die »Eigenschaft« der menschlichen Intentionalität also, die sie von der Intentionalität der Primaten unterscheiden soll, sodass die genetische – und d.h. eben bei Tomasello zugleich die biologisch-evolutionäre wie die sinnrekonstruktiv konstitutionstheoretische – Erklärung der humanen Kulturentwicklung mit einem gegenüber reduktionistischen Ansätzen anspruchsvoll definierten Explanandum startet.

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gang vom »Proto«-Charakter der illokutionären Qualität der Zeigegeste zur propositional entfalteten Adressierung erklärt werden). Die »geteilte« Umgebung ist mithin ein Korrelat der praktischen Verschränkung zwischen mindestens zwei Welt-Eingelassenheiten (siehe oben Heidegger), für die das gemeinsame »Bezugsobjekt« nicht den Charakter der Existenz identifizierter Objekte, sondern den der »Zuhandenheit« hat. Diese Form von Umwelt trägt als ein performativ gemeinsamer Hintergrund den Funktionswert der einzelnen, noch vorsprachlichen, also »präkonventionellen« Gesten zwischen den Individuen. »Zuhandenheit« ist allerdings – aufgrund seiner Indifferenz gegenüber einem phänomenologischen Intentionalitäts-Begriff – kein operativer Begriff in Tomasellos Überlegungen. Das ist insoweit zu bedauern, als die phänomenologische Rekonstruktion von Intentionalität, an Stelle der zum Teil irreführenden Anknüpfungen Tomasellos an Searle (1987)12, zwischen dem »vorbegrifflichen« Umgang (»fungierende Intentionalität«) und dem sprachlich expliziten Gegenstandsbezug (»reflexive Intentionalität«) genau zu unterscheiden pflegt. Aber Tomasello macht gleichwohl unmissverständlich klar, dass zum »Hintergrund« intersubjektiv geteilter Bedeutungen eine praktische Gemeinsamkeit gehört.13 Tomasello behauptet, dass die »protoillokutionäre« Bedeutungsschicht der Geste sowie die in 12 | Das Problem mit der Searl’schen Version lautet, sehr kurz gesagt, dass der Vorteil einer Konzeption, die die Immanenz des Bewusstseins mit Sprache imprägniert, mit der Reduktion von Sprache auf Intentionalität erkauft wird. Trotz Sprechakttheorie vertritt Searle eine intentionalistische Bedeutungstheorie. Für ihn ist die Sprache »Ausdruck« von Intentionen, und intersubjektive Bedeutung ist einfach die Institutionalisierung von »Schnittmengenintentionalität«. Für Tomasellos Anliegen liegt das Problem dann jedoch darin, mit Searle Intentionalität selbst nicht als Ergebnis einer Differenzierung von bewussten Selbstverhältnissen ausweisen zu können. Searle schreibt ausdrücklich: »Intentionale Zustände repräsentieren Gegenstände und Sachverhalte«, sowie: »Sprache leitet sich von der Intentionalität her und nicht anders herum« (Searle 1987: 19). Folglich sind kollektive Institutionen Schnittmengen von auf mehrere Personen verteilten Vorstellungen. Das ist – soziologisch gesehen – recht naiv, sofern es z.B. das Problem der doppelten Kontingenz zwischen alter und ego handstreichartig leugnet – bzw. auf empirische Informationsdefizite herunterrechnet. Leider springt Tomasello an vielen Stellen auf diesen Zug auf (Tomasello 2011: 84). So verkürzt er mit Searle die Abstände zwischen geteilten Intentionen auf präsente Dinge zu kulturellen Institutionen, in dem er Geld, Präsidentenamt und andere höchst voraussetzungsreiche Synthesen wie Searle als einfache Verabredungsresultate behandelt. 13 | Tomasello würde also dem Vorbehalt zustimmen müssen, dass es für die theoretische Rechtfertigung des externen Bezugs deskriptiver Ausdrücke und bedeutsamer Symbole nicht genügt, der Welt und den Dingen selbst eine begriffliche Struktur unterzuschieben.

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der berühmten Neunmonats-Revolution in der Kleinkind-Entwicklung durchbrechende Zuschreibung von Intentionen des anderen (Tomasello 2002: 74ff.) keine propositionale oder begriffliche Struktur haben muss und dass sie eine solche Struktur vor allem gar nicht haben kann. Entscheidend ist, dass in den »Zeigegesten« sich zwar ein Spezifikum des Menschen manifestiert (Tomasello 2011), nämlich die Adressierung an ein als intentionales Wesen aufgefasstes Gegenüber, dass diese »protoillokutionäre« Dimension aber als eine performative Qualität auf die unmittelbare situative Anbindung an die zuhandene Umgebung angewiesen bleibt. Denn in der den Sprachgebrauch anbahnenden Phase der Entwicklung gibt es noch keine ausgebildete Kompensation für den Ausfall der praktisch verankerten Indexikalität einer konkreten Geste (die Kinder zeigen eben auf »etwas« Zuhandenes, das gewissermaßen performativ als etwas, als Teil eines sequentiellen Ganzen, also als etwas, das so oder so gebraucht werden kann, ausgelegt ist – nicht im apophantischen Modus der Subsumtion unter den Begriff also, sondern im hermeneutischen Modus der praktischen Auslegung). Der Gebrauch von symbolisch generalisierten Ausdrücken (Protobegriffen und allgemeinen Prädikaten) beruht demgegenüber auf der voraussetzungsreichen Möglichkeit »ent-indexikalisierten« Ausdrücken durch typisierende Verallgemeinerungen und standardisierten Charakterisierungen einen hinreichend spezifischen Bezug zu geben (dazu auch: Ricœur 1978). Hier argumentiert Tomasello, ohne es direkt auszusprechen, hermeneutisch: Sowohl die Genese als auch die Verwendung allgemeiner Typisierungen (Begriffe) enthält immer einen indexikalischen Bezug (eine performative Individuierung relativ zu spezifischen Situationen des Spracherwerbs und -gebrauchs), der sich auf die »Identität« der Bedeutung auswirkt. Und zwar so, dass »identische Bedeutungen« von Symbolen (im Sinne von Mead, aber ebenso von: Habermas 1992 und auch noch: 2012b: 59) nicht als Grundlage und Möglichkeitsbedingung des Spracherwerbs (Tomasellos Kategorie des »begrifflichen« Hintergrundes) sondern nur als Effekt der Ent-Indexikalisierung (Tomasellos »Konventionen«) des situativ (»Zuhandenheit«) desambiguierendeingebetteten Zeichengebrauchs (Geste) in Betracht kommen können. Geteilte Aufmerksamkeit ist ab origo – zunächst in der Asymmetrie der parental begleiteten und angeregten Ontogenese – deshalb zutiefst angewiesen auf die Zwei-Kanal-Bezugnahme erstens durch visuelle Fokussierung, zweitens durch sensumotorische Manipulierbarkeit (vgl. Leroi-Gourhan 1984: 113ff.). Nur so kann die geteilte und dann im reflexiven Modus: die zugeschriebene protoreferentielle Intention des Kleinkindes und der entsprechende Bezug von Protosymbolen hinreichend stabil bzw. »anschlussfähig« bleiben. Tomasello bemerkt in diesem Zusammenhang: »Das Problem der referentiellen Unbestimmtheit entsteht genau dann, wenn eine Bezug nehmende Handlung aus den Kontexten geteilter Intentionalität, in denen sich der Spracherwerb normalerweise vollzieht, herausgenommen wird« (Tomasello 2011: 181). Das heißt

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aber nichts weniger, als dass die primäre Gestalt des symbolischen Gegenstandsbezuges »innerhalb der Interaktion« nicht in der »Repräsentation« von »Dingen« und »Sachverhalten« bestehen kann und überdies, dass das propositional-konzeptuell differenzierte Sprachspiel keine lineare Fortsetzung des vorsprachlichen Gegenstandsbezuges ist. Nur in enger Verbindung zum performativen Umgang mit »Zuhandenem« hat der Gebrauch von Symbolen im (genetisch) primären Modus eine pragmatisch hinreichende »Referenzialität«. Darin liegt nun ein Gewinn beispielsweise gegenüber dem Modell Meads, der die »Bedeutungsidentität« der signifikanten Geste zwischen ego und alter an der Reaktionsgleichheit, d.h. an der kausalen Verbindung zwischen Reiz und Reaktion befestigt (Mead 1967), so also als wäre schon die protosprachliche Geste die »Repräsentation« eines Reaktionsaktes in der als Reihe äußerer Ereignisse verstandenen Interaktion. Tomasello verrät demgegenüber seine Inspiration durch Wittgenstein dadurch, dass er die implizite Praxis des kooperativen Gebrauchs »zuhandener« Situationselemente zunächst ontogenetisch als den Anfangsmodus eben auch der gestischen Kommunikation betrachtet. Die protosprachliche Geste ist eine performativ indexikalisch befestigte pragmatische Auslegung von etwas »als etwas« vor jeder »Repräsentation« von Objektivität im System begrifflich-propositionaler Sprachkonvention. Die explizite, propositional differenzierte Sprache bezieht demgegenüber ihre kommunikative Tauglichkeit aus den von indexikalischen Direktbefestigungen an der Sache befreiten generalisierten intersubjektiven Sinnhorizonten eines expliziten Vokabulars. Wenn denn diese Sinnhorizonte etabliert sind, kann der Sprecher auf die Interaktion selbst im expliziten Vokabular Bezug nehmen; aber dieser Bezug ist gegenüber der vorsprachlichen Einbettung eine Abstraktion. Genau diesen Charakter der Abstraktion überspringt jede objektivistische bzw. naturalistische Beschreibung der onto- und phylogenetisch vorsprachlichen Kooperation (und der ihr zugehörigen »geteilten Intentionalität«). Dieser radikale Unterschied zwischen implizit gemeinsamer Praxis und expliziter Bezugnahme auf Interaktionssequenzen macht deutlich, dass jede genetische Erklärung der Perspektivenübernahme, d.h. der Intentionalität in ihrem Verhältnis zu den differenten Gestalten der »Interaktion« als dem gemeinsamen Hintergrund, sich schwer wiegende Lasten auferlegen muss. Denn sie muss als ein »begriffliches Geschäft« eine Ausgangslage »repräsentieren«, die sich den eigenen Unterstellungen zufolge wegen des theoretischen Vorentwurfes des Formates von Gegenständlichkeit (prädikative Merkmalszuschreibung auf eine substantielle, »vorhandene« Entität) gar nicht adäquat »repräsentieren« lässt. Tomasellos kann bei seiner eigenen Erklärung der Entstehung der humanspezifischen Charakteristika: der geteilten Intention und Kooperation, d.h. bei seiner Antwort auf die Frage, warum denn nun die Ontogenese zur Ausbildung reflexiver Intentionalität führen können soll, das Niveau der Charakterisierung

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des Explanandums allerdings nicht halten. Entwicklungstheoretisch betrachtet bleibt schon die ontogenetische Erklärung merkwürdig. Denn die intentionale Zuschreibung von Zuschreibungen (»Perspektivenübernahme«) wird von Tomasello schließlich doch auf eine egozentrisch fundierte Projektion von Selbsterfahrungen auf andere zurückgeführt: Der ontogenetische Durchbruch vollzieht sich in den Worten Tomasellos »wenn Kleinkinder ein neues Verständnis ihrer eigenen intentionalen Handlungen erwerben, anschließend die »mir ähnlich« Einstellung einnehmen, um das Verhalten anderer auf diese Weise zu verstehen« (Tomasello 2002: 89). Diese Formulierung weckt nicht nur Erinnerungen an die problematische (weil den Egozentrismus nur ausschmückende) Analogieschlusslehre aus dem 19. Jahrhundert. Die dargebotene Erklärung fällt als eine eindeutig egologisch kalibrierte Erklärungsweise sogar noch hinter Meads Modell der »Perspektivenübernahme« wieder zurück. Es ließe sich womöglich einwenden, dass die entscheidende Erklärung eben eine Frage der Phylogenese wäre: Die Gattung hat es entwickelt und die Nachrücker rufen es bei entsprechender Aquilibrationsreife (im Sinne Piagets) epigenetisch ab (dann könnte man versucht sein zu argumentieren, dass die Ontogenese eben genetisch, d.h. über das Genom, entsprechend präpariert wäre). Aber in den Ausführungen zur Phylogenese wird Tomasello verhältnismäßig vage: »Insofern entstehen Fertigkeiten des rekursiven Erkennens geistiger Zustände zunächst im Zuge der Bildung gemeinsamer Ziele, das führt dann zu einer gemeinsamen Aufmerksamkeit auf Dinge, die für das gemeinsame Ziel relevant sind, und schließlich zu weiteren Formen eines gemeinsamen begrifflichen Hintergrundes« (Tomasello 2011: 213). Diese zusammenfassende Beschreibung phylogenetischer Schwellenübertritte erklärt jedoch eigentlich nichts, sie beschreibt, was erklärt werden muss, indem sie Emergenzstufen aneinanderreiht.14 Tomasellos eigene Empfindlichkeit für die Differenz zwischen begrifflicher Bedeutungsidentität (Ent-Indexikalisierung) und situativ eingebetteter Signifikanz von »Protoillokutionen« und Gesten müsste an dieser Stelle zur Vorsicht verpflichten. Es handelt sich bei der »gemeinsamen Aufmerksamkeit auf Dinge« und bei »gemeinsamen Zielen« auf der Stufe vorsprachlicher (vor-begrifflicher) und »proto-illokutionär« geladener Gesten-Kommunikation eben nicht um die gleiche Form »geteilten« Bezugs auf Situationsaspekte, wie sie für den gemeinsamen »begrifflichen« Hintergrund charakteristisch ist. Der Übergang von »Ko-Zuhandenheit« (Mutualismus als das performative Tei14 | Ein Indiz dafür, dass Tomasello hier auf Erklärungen verweist, die zentralen Teilen des Explanandums, nämlich der altruistischen Kooperation zuwiderlaufen, ist, dass er plötzlich das altruistische Motiv wieder auf ein egozentrisches zurückführt: Man hilft per deklarativer Geste, weil die Kenntnis des Vorteils von Reputationseffekten, dass einem Hilfsbereitschaft zugeschrieben wird, den Nutzen künftiger Kooperation anderer erwarten lässt (»Hilfe ist zugleich Selbsthilfe« heißt es in: Tomasello 2011: 183).

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len der Situation) zu reziprok übereinstimmender Referenz von Begriffen und Propositionen ist eben das, was erklärt, nicht nur konstatiert werden müsste. Eine solche Erklärung zu liefern ist natürlich eine ausgesprochen anspruchsvolle Unternehmung. Der erste Schritt dazu besteht allerdings zunächst einmal in einer entsprechend anspruchsvollen Problemformulierung. Tomasello nähert sich durch die genauere Skizzierung des Auftrags einer »sozio-pragmatischen« Theorie des Spracherwerbs einer hinreichend angemessenen Formulierung des Problems jedenfalls an: denn für eine solche Theorie wäre es unerlässlich, zwischen dem pragma der Interaktion (als erster Form des »gemeinsamen« Hintergrundes) und der »Identität der Bedeutung« konventionalisierter Symbole (dem »begrifflichen« Hintergrund) scharf zu unterscheiden. Die originäre (explanativ und konstitutiv »zugrunde« liegende Form der) Verstrickung von Intentionalität und Interaktion muss auch für Tomasello als eine in einem radikalisierten Sinne vor-theoretische, vor-begriffliche und implizite Vertrautheit mit einer Art zuhandener Sequenzialität gelten. Als eine Form der »Interaktion« muss demzufolge der kollektive »Umgang« einschließlich kooperativer »Umsicht« (Heidegger 1984, aber auch: Gehlen 1962) als eine Art der Sequenzialität gedeutet werden, die der Ausdifferenzierung von expliziten (begrifflichen) Interaktionsdeutungen einerseits von Seiten der teilnehmenden Akteure andererseits von Seiten der Interaktionstheorie vorausliegt, ihnen den referentiellen Bezugspunkt gibt, die sich aber der »objektiven« Darstellung entzieht. Was die Arbeiten Tomasellos deshalb zeigen, ist die Unergründlichkeit der Interaktion und die Unmöglichkeit, der »Intersubjektivität« in nur einem Vokabular eine alternativlose begriffliche Repräsentation zu verschaffen. In den Arbeiten Tomasellos wird teils ausdrücklich, teils indirekt deutlich, dass eine objektivistische (als solche den begrifflich-propositionalen Hintergrund performativ bereits in Anspruch nehmende) Beschreibung der Interaktion den praktischen Modus der onto- wie phylogenetisch primordialen Form der Kooperation systematisch verfehlen und verzerren muss. Indirekt zeigt sich dies bei Tomasello (parallel zu Mead, siehe oben) darin, dass er in seiner ausdrücklichen Rekonstruktion des in Frage stehenden evolutionären Entwicklungsweges gegen die Implikationen seiner eigenen Problemexposition verstoßen muss. Das theoretische Vokabular des Naturalismus (kausale Reihen von Ereignissen, die kausale Wirkungen auf Organismen haben, die ihrerseits aufgrund ihrer »Informationsverarbeitung« zu Ursachen für weitere Handlungen werden usw.) wird, um auf das Explanandum: »geteilte Intentionalität« ausgerichtet zu werden, von Tomasello am Ende doch durch ein kognitivistisches (statt z.B. durch ein phänomenologisches) Vokabular ergänzt. Die zirkuläre Rolle des mehrfach bemühten Konzepts des geteilten Hintergrundes versucht Tomasello zu entschärfen durch eine repräsentationalistische Auffassung von sprachlicher Kommunikation, die den intentionalen und sprachlichen Bezug zur Welt und zum »alter ego« als Abbildung äußerer

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Sachverhalte ausgibt und dafür dem Referenzgegenstand selbst eine begriffliche Struktur und ein propositionales Format unterschieben (das geschieht in Tomasellos Arbeiten überall dort, wo die Genese des begrifflichen Hintergrunds über einige Scharnierstellen hinweg (zirkulär) durch den begrifflichen Charakter der vorsprachlich geteilten Intentionalität und der »objektiven« Merkmale der Situation als ihrem Referenzpunkt erklärt werden soll). Anders kann Tomasello die Suggestion einer lückenlosen Ableitung des Humanen aus den Antezedenzbedingungen der natürlichen Evolution nicht aufrechterhalten. Demgegenüber hat Tomasello allerdings selbst eine pragmatisch-performative Gestalt der Interaktion ins Spiel gebracht, die sich weder naturalistisch noch kognitivistisch angemessen beschreiben (geschweige denn erklären) lässt. Die Vokabulare des Naturalismus und des Kognitivismus sind gleich weit entfernt von der performativen Sequenzialität der »Interaktion« und der in ihr praktisch koordinierten und intentional fungierenden »Intersubjektivität«. Diese Sequenzialität kann nicht eins zu eins durch die Explikation innerhalb eines Vokabulars repräsentiert werden, sie »besteht« nicht aus theoretisch identifizierten »Entitäten« und »Relationen«, sondern sie muss selektiv, gewissermaßen produktiv verzeichnend »erschlossen« werden, im Zuge einer Übersetzung entweder in die Sprache äußerer Ereignisreihen oder in die Sprache der intentionalen Vorstellungen. Tomasello lässt sich allerdings nicht durchgängig – wie noch Mead – dazu verführen, Intentionalität als rekursive Repräsentation externer »Dinge« oder Zustände bzw. von objektiven Reaktionsvorfällen zu lesen. Es ist von entscheidender Bedeutung, dass Tomasello das Explanandum, die geteilte Intentionalität, erstens auf die performativ-propositionale Doppelstruktur kommunikativer Ausdrucksverwendung bezieht: Also protodeklarative und protoreferentielle Gesten und Absichten mit einer sprechakttheoretischen Entfaltung der Differenz zwischen Noesis und Noema intentionaler Akte charakterisiert. In der Varianz illokutionärer Modi steckt die Bandbreite möglicher Gegenstandsbezüge und der Keim der reflexiven Aufmerksamkeit für die perlokutionären Ziele der Adressierung. Menschen, so Tomasello, wollen altruistisch informieren. Also müssen sie noetische Modifikationen verstehen können, denn erst dann sind die intentionalen Gehalte: »etwas-haben-wollen« und: »andere-auf-diesesetwas-aufmerksam-machen-wollen« nicht primär fusionierte, sondern unterscheidbare illokutionäre Ausrichtungen. Zweitens ist wichtig, dass die propositionale Dimension adressierender Kommunikate nicht kurzgeschlossen wird mit der Repräsentation objektiver Sachverhalte in der materialen Welt. D.h.: Das Kontinuum zwischen der kausalen Rolle objektiver Sachverhalte (wichtig für den Erfolg und langfristig für den evolutionären Vorteil von generalisierten Mustern zweckorientierter Handlungen) und den im intentionalen Horizont konstituierten Sinn propositionaler Vorstellungen ist gebrochen. Sobald Situationsbedingungen

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symbolisch verarbeitet und »kommuniziert« werden, erhöhen sich zwar die Planungs- und Kooperationsradien um qualitativ sprunghafte Grade (Parsons 1964), aber es erhöhen sich eben auch die sekundären Unsicherheiten zwischen ego und alter sowie zwischen diesen und der objektiven Welt mit Bezug darauf, was genau »gemeint«, was genau »bezeichnet« ist. Man könnte also mit Rücksicht auf die »Intentionalität«, die gerade als »gemeinsame« in ihrer Feinstruktur das spezifisch Humane darstellen soll, zuspitzend formulieren: Der evolutionär entfaltete Zugewinn an Komplexität kultureller und sprachlicher Organisation sozialer Ordnung impliziert eben nicht die Steigerung propositional-begrifflicher Intersubjektivität, sondern die Ausdifferenzierung subjektiver Abweichung von vormals performativ-situativ regulierter Verhaltenskoordination. Mit der Kultur evoluiert die »doppelte Kontingenz« zwischen »ego« und »alter«, sodass die »Intersubjektivität« als soziale Dimension der »Bedeutungsidentität« streng genommen unmöglich wird.15

IV. W as heisst also E volution von I ntentionalität ? Überbrücken die Arbeiten von Tomasello also tatsächlich die Kluft zwischen naturalistischer Evolutionstheorie und sinn-rekonstruktiver Beschreibung der Resultate des evolutionären Sprungs in die sprachlich verfasste, kulturelle Koordination des Handelns? Man wird nach den vorstehenden Überlegungen gerne zugeben, dass die »sozialpragmatische« Theorie des Spracherwerbs sehr viel deutlicher, als es bei Mead der Fall ist, die Eigenwerte des Explanandums: »geteilte Intentionalität« in Rechnung stellt. Andererseits fällt Tomasellos Analyse der Genese von zugeschriebenen Zuschreibungen durch die Anleihen bei Searle (repräsentationalistischer Begriff der Intentionalität), vor allem aber durch Doppeldeutigkeit des Begriffs des »Hintergrundes« und damit durch die Zirkularität der Genealogie intentionaler Kompetenz, Intentionen zuzuschreiben, dahinter wieder zurück. Allerdings kann ein solcher Einwand nun kaum mehr einfordern, als eine Alternative, auf die der Einwand sich stützen müsste, selbst zu leisten im Stande wäre. Hier muss es abschließend bei der Andeutung bleiben, dass menschliche Intentionalität, altruistische Kooperation, Normativität und ge15 | »Intersubjektiv« wäre dann nurmehr die vorsprachlich-praktische Koordination auf der Stufe jener Kooperation, die onto- wie phylogenetisch dem Gebrauch konventionalisierter begrifflicher Symbole voraus liegt, auf der allerdings keine »Subjektivität« als bestimmtes und bewusstes Selbstverhältnis mit »Ich-Welt-Abgrenzung« vorliegt, sondern bestenfalls die »fungierende Intentionalität« von Situations-»entriegelten« Organismen (im Sinne Gehlens) zu finden wäre. Also handelte es sich hier im strengen Sinne eben nicht um »Inter-Subjektivität«.

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teilte Intentionalität zwar individuell realisierte kognitive Voraussetzungen haben, dass diese aber bestenfalls als notwendige, nicht aber als hinreichende Bedingungen in Betracht kommen. Der Rest ist Emergenz und Institutionen wie Sprache haben deshalb ein transintentionales und transsubjektives Eigenleben. Deshalb ist auch der Spracherwerb, was immer er noch ist, nicht ein Einrücken in eine gemeinsame Schnittmengen-Intentionalität, sondern er muss als die Voraussetzung für die Erfahrung der Unsicherheit der Zuschreibungen von Intentionen, für die Erfahrung der doppelten Kontingenz, schließlich für die reflexive Auffälligkeit der Individualität des jeweils eigenen intentionalen Horizonts angesehen werden. Insofern beginnt mit der »Neunmonatsrevolution« vielleicht nicht der Eintritt der individuellen Person in die semantischen Institutionen geteilter Intentionalität, sondern es vollzieht sich hier gerade der Austritt des Individuums aus einer zuvor performativ gemeinsamen, unproblematischen Kooperation. Es vollzieht sich damit die Ausdifferenzierung eines Trägers von Intentionalität, der die Grenzen zu alter ego sprachlich eher zu markieren als zu überwinden lernt. Diese auf den Gegenstand bezogene Andeutung muss ihre Entsprechung bezogen auf das hier verhandelte Problem der Heterogenität der Vokabulare haben, mittels derer wir uns auf evolutionäre Prozesse von so weitreichender Bedeutung beziehen können. Wie also reagiert die Evolutionstheorie auf den großen Abgrund, den eine Übersetzung zwischen naturalistischen und hermeneutisch-sinnrekonstruktiven Sprachspielen zu überbrücken hätte. Zwischen den Wissenschaftskulturen der nomothetischen Suche nach allgemeinen Gesetzen und der hermeneutisch-rekonstruktiven Auslegung des Sinns und der Feinstruktur intentionaler Orientierung bewegt sich die Soziologie als »multiparadigmatisches« Fach. Was aber fängt die Soziologie an mit der hier skizzierten Unmöglichkeit der Intersubjektivität (im strengen, »Bedeutungsidentität« implizierenden Sinne)? Und was bedeutet eine begründete Skepsis in dieser Hinsicht für den ebenso zentralen Begriff der Interaktion, zumal der Begriff der »Interaktion« als ein zentraler Terminus soziologischer Theoriebildung kaum storniert werden kann? Die Soziologie tritt vorläufig Rückzüge an. Wo die soziologische Theorie dem »postontologischen« Niveau der Theoriebildung und dem Problem der selektiven Vokabulare gerecht werden will, entschärft sie das Problem der paradoxen Intersubjektivitäts- und Interaktionsbegriffe gerne durch Verschlankung der Komplexität des fokussierten Phänomenbereichs. Sie trennt z.B. die Interaktion als eine selbst-organisierte Kommunikationsordnung von der Intentionalität der Akteure einfach ab (etwa als Systemtheorie, vgl. Kieserling 1999) oder sie erleichtert – in alternativer Rückzugsrichtung – einen »praxeologischen« Begriff der Praxis um den Bezug zur immanenten Intentionalität reflexiver Akteure, den sie in bemerkenswerter Freigiebigkeit einem handlungstheoretischen Kognitivismus überlässt (wie eine bestimmte Version der »Praxistheo-

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rie«, vgl. Reckwitz 2000).16 Ein Motiv für solche, bei Lichte besehen, defensiven Strategien ist möglicherweise die dem 19. Jahrhundert entsprungene Furcht vor theoretischen Dualismen (die dann die »Einheit der Differenz« nicht mehr bestimmen können). Aber es gibt einen fundamentalen Unterschied zwischen einer hypostasierten Spaltung zwischen dem Mentalen und dem Physisch-Biologischen oder »dem« Sozialen und einer dynamischen Konzeption, die z.B. den Hiatus zwischen dem »subjektiven« und dem »objektiven« oder »sozialen Sinn« einer Handlung, eines Zeichens einer Geste als faktisches Ergebnis von Differenzierungsprozessen zu beschreiben versucht. Von einem solchen Zugang aus ist die relative Inkommensurabilität zwischen theoretischen Vokabularen und ihren »Welterschließungen« als das Ergebnis von (evolutionären) Differenzierungsprozessen, die aus der fungierenden Interaktion vorsprachlich koordinierter »Akteure« sehr unterschiedliche und gegeneinander abgehobene Formen der Explikation eben dieser Interaktion hervorgehen lassen, eine ganz plausible Unterstellung. Zu einer solchen dynamischen Konzeption gehört das Vertrauen in die Tauglichkeit eines starken Konzepts diachroner Emergenz. Von da aus gesehen ist schließlich eine zirkuläre Antwort auf das Problem der Inkommensurabilität der Vokabulare, die zu einer Theorie sozio-kultureller Evolution herangezogen werden müssen, nicht an sich und in jeder Gestalt verwerflich. Allein schon, weil eine emergenztheoretische Erklärung mit der Intuition beginnt, dass ex post Rekonstruktionen von Ausgangslagen mit den ex ante Bedingungen, auf die sie sich beziehen, nicht »übereinstimmen« können (Mead 1932). Eine solche Erklärung muss aber aufgrund der genannten Gründe für die »Unergründlichkeit« der evolutionär primären Interaktion die Heterogenität der Explikationen der Interaktion in Rechnung stellen und sich von der Idee einer Auflösung dieser Heterogenität durch ein womöglich einzig adäquates alternatives Vokabular verabschieden.

16 | Die Kritik an der Verwechslung zwischen der »Praxis der Logik« und »Logik der Praxis« (Bourdieu 1987) ist mit der Behauptung, dass die Interaktion als performatives Geschehen für die theoretische Explikation »unergründlich« ist, zumindest verwandt. Bourdieu und die Praxistheorie (Turner 1994; Schatzki 1996) haben dem Anspruch nach auch den symbolischen Interaktionismus noch hinter sich gelassen, dem sie nach wie vor eine subjektivistische Ausrichtung zuschreiben, insofern die konstitutive Rolle des Sinn aushandelnden Akteurs diesem eine zu große Souveränität, eine zu große Übersicht und Hoheit über die Effekte wechselseitig vollzogener Sinnbestimmung zusprechen soll. Akteure haben die Interaktion nicht explizit unter Kontrolle, da ihre Sinnorientierung nicht den Modus expliziter Intentionen, sondern den performativen Modus des Vollzugs einer praktischen Kompetenz (»Spielsinn«) annimmt, die sich selbst nicht transparent ist (vgl. Bohnsack 2001).

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Konstitutionstheoretische Aufhellungen der Beziehung zwischen Interaktion und Intentionalität können den vereinfachenden Zeitschemata kausaler Erklärungen schon deshalb nicht folgen, weil die naturalistische Explikation der Interaktion nur ein spezielles selektives Teilvokabular sein kann. Wenn Interaktion konstitutiv für die anspruchsvolle Intentionalität des »Subjektes« sein soll, ist die Kette kausaler Erklärungen spätestens dann gebrochen, wenn die Reflexion auf die selektiv explizierende Welterschließung durch immer partikulare Vokabulare das Kausalschema selbst als ein kulturell konstituiertes Vokabular partikularisieren muss, allein um »Intentionalität« nicht auf kausal eingebettete Informationsverarbeitung zu reduzieren. »Perspektivenübernahme« im Medium »der« Interaktion ist folglich keine »Wirkung« objektiver Ursachen (sie ist nicht hinreichend erklärt, wenn man den evolutionären Vorteil der Kooperation von Anthropoiden als Selektionskriterium anführt, um die Stabilisierung der Zufallsmutation eines »altruistischen Genes« zu erklären). Man scheint genötigt zu unterstellen, dass reflexive Intentionalität »emergiert«. Die Figur der Emergenz unterläuft das Problem eines trivialen Zirkularitätsverdachts, weil sie recht verstanden den Widerspruch einer Konstitution durch das Konstituierte in den Gegensatz zwischen Zeithorizonten überführt (Renn 2008b). So hat Mead den Umschlag der Emergenz zum »Neuen« auf die Differenz zwischen Unvorhersehbarkeit ex ante und Notwendigkeit ex post bezogen (Mead 1932). Eine radikalisierte Fassung solch einer zirkulären Antwort auf die Herausforderung schlechter Konstitutionszirkel gibt die Systemtheorie. Sie will das Anspringen von Interaktionssystemen als Autokatalyse sich selbst reproduzierender Kommunikationszusammenhänge beschreiben (Kieserling 1999). Radikal ist diese Fassung, weil sie das Kind der interaktiven Genese von Subjektivität mit dem Bade einer zirkulären Begründung der Möglichkeit der Perspektivenübernahme ausschüttet. Das heißt: von der Last erklären zu müssen, wie denn ein »Subjekt« durch Teilnahme an der Interaktion die Fähigkeit, an der Interaktion teilzunehmen, erwerben solle, erleichtern sich die Systemtheoretiker, indem sie die »Teilnehmer« an der Interaktion nicht länger an ihr teilnehmen lassen, auch wenn die »Kommunikation selbst« den Anschein erwecken muss, das »Anwesende« anwesend sind (Kieserling 1999; Sutter 2004; vgl. Renn 2006b: 428ff.). Intentionale Horizonte bleiben laut Systemtheorie in der Umwelt der Interaktionssysteme. Für diesen systemtheoretischen Kraftakt im Umgang mit dem gordischen Knoten der interaktiven Konstitution von Interaktionsfähigkeit müssen in der Systemtheorie eine konstruktivistische Selbstauslegung und das Prinzip einer differenzlogischen Beobachtertheorie einstehen. Was immer von der Überlegenheit dieser Variante eines Abbruchs der genetischen Rückführung auf »frühere« Möglichkeitsbedingungen zu halten ist – ob z.B. die Beobachtung einer systeminternen retrospektiven Konstruktion des eigenen Ursprungsmythos genug erklärt – an dieser Stelle zeigt sich, dass die Frage nach der Interaktion einen methodischen Sinn hat: den

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Sinn, auch die selektive Explikation der Interaktion und ihrer genetischen Aspekte auf die doppelte Bezugnahme zu einem Gegenstand, d.h. auf die diskursive Referenz und die praktische Erfahrung implizit gewisser, performativer Teilnahme an der Interaktion, zurückzuführen. Die diskursive Argumentation und die apophantische Bestimmung der Interaktion als einem »vorhandenen« Gegenstand haben selbst ihre Wurzeln im interaktions-immanenten Reflexionsanstoß. »Paradigmen« der Theorie bestehen eben nicht allein aus typischen »Mustern« des Gegenstands und einer gültigen Erklärung, sondern ein Paradigma besteht überdies aus den performativ eingespielten Plausibilitätsgrundlagen, zwar nicht in letzter Instanz, so doch auch aus der indirekten Anbindung an die Interaktion und die Sprachspiele einer »Lebensform«. Der Konstruktivismus aber entledigt sich der Frage der praktischen Grundlagen der Referenz der Konstrukte, indem er auf die Referenzverpflichtung der explikativen Welterschließung durch die Theorie ganz verzichten zu können vorgibt. Das sieht auf den ersten Blick gut aus, aber es entzieht der Kritik an der objektivistischen Vorstellung möglicher Repräsentation des Gegenstandes, am »naiven Realismus« den Boden. Dass für die Interaktionstheorien die Interaktion unergründlich bleibt (im Sinne der Nicht-Repräsentierbarkeit), ist aber nur plausibel, wenn auch die theoretische Rekonstruktion in Verbindung zum performativen Zugang zur Interaktion (wenn man so will zur »Teilnehmer«-Perspektive) bleibt, weil anders die Selektivität der Explikation als Selektivität gar nicht erfahrbar wäre (d.h. der theoretische Diskurs muss an der Übersetzung der in ihm gefundenen Plausibilitäten in die performative Einstellung bemerken können, dass er den Gegenstand nicht erschöpfen kann). Die »hermeneutische Situation« (Heidegger) einer soziologischen Interaktionstheorie besteht in der gegenwärtigen Lage deshalb in einer nötigen Distanzierung vom konstruktivistischen Credo postontologischer Theorievarianten. Diese Frontstellung ist in der Sache gut begründet, denn die Unergründlichkeit der Interaktion sowie die Selektivität und wechselseitige Inkommensurabilität heterogener (theoretischer) Explikation der Interaktion sind kein Unglück. Sie sind vielmehr unabweisbare Belege dafür, dass die Theorie der Interaktion in zweifacher Hinsicht als eine Theorie der sozialen Differenzierung angelegt sein muss: Es zeigt sich indirekt, aber dadurch nicht weniger verbindlich, durch die Unergründlichkeit der Interaktion, dass menschliche Intentionalität als ein sinnkonstitutives, externe Bedeutung übersetzendes, immanentes Selbstverhältnis nicht auf substantiellen Dispositionen heranwachsender Organismen beruhen kann, sondern dass sie ein Differenzierungsergebnis: das Resultat einer emergenten Ausdifferenzierung reflexiver Bezugnahme aus der performativen Sequenzialität einer »zuhandenen« Interaktion ist. Deshalb ist der für Tomasello symptomatische, bei Heidegger unterbelichtete »Spracherwerb«, nicht, wie Theorien der »Intersubjektivität« glauben machen müssen, ein Einrücken in eine gemeinsame Schnittmengen-Intentionalität (Bedeutungsidenti-

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tät), sondern Voraussetzung für die Erfahrung der Unsicherheit der Zuschreibungen von Intentionalität und für die Erfahrung der »Unmöglichkeit der Intersubjektivität«. Es bleibt deshalb vorläufig erst einmal festzuhalten, dass wir die Probleme einer Erklärung der soziokulturellen Evolution die Tomasello nicht gelöst hat, durch seine empirischen und konzeptuellen Arbeiten sehr viel besser, präziser identifizieren und verstehen können.

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5. Unstillbares Begehren nach Identität und Verlust der Repräsentation

Die relationale Psychoanalyse und die Quellen



der Individuation

Das biblische Wort: »Vergib ihnen, denn sie wissen nicht was sie tun«, nimmt in seinem unerschöpflichen Reichtum an verborgenen Implikationen unbewusst vorweg, was die Moderne, nachdem sie das Subjekt zum »Prinzip« seines Handelns bestimmt hat, wieder entdecken musste: dass es sehr sinnvoll und sachadäquat ist, dem Individuum »seine« Handlungen zuzurechnen und doch den Sinn dieser Handlungen – sowohl ihre sinnhafte Bestimmung durch Effekte, Folgen und Resonanzen, als auch den Vorlauf und die »Motive« dieser Handlungen – dem souveränen Zugriff des Individuums (wieder) zu entziehen. So gesehen, wissen sie nicht nur nicht (ganz), »was« sie tun, sondern auch nur begrenzt »warum« (und »mit welchen Folgen«) sie es tun, auch wenn Vorstellungen über Gründe und Entwürfe von Zwecken das Handeln von Seiten der Handelnden begleiten müssen, weil wir es sonst nicht mit Handlungen, sondern mit »Verhalten« zu tun haben. Die Motive also sinken zurück aus der Anschaulichkeit intentionaler Vorstellungen in die relative Unbestimmtheit faktisch wirksamer Veranlassungen. Vielleicht das meiste von dem, was wir tun, wird in seinen Motiven, auch wenn und obwohl es tatsächlich jeweils die eigenen sind, von uns nicht völlig durchschaut (auch weil wir glauben, es nicht genauer »wissen wollen zu dürfen«). Menschen sind, je nach soziokultureller Umgebung mal weniger, mal mehr geneigt, auf Nachfrage Gründe für ihre Taten vorzutragen und sich selbst zu glauben. Dennoch unterhalten diese Angaben von Gründen zu den wahren Motiven häufig bestenfalls ferne Verbindungen und sie fassen jene nur geahnten, vage empfundenen, lieber zum Schweigen gebrachten, inneren Veranlassungen in grobe Worte, die weniger das tiefsitzende eigene Befinden als die soziale Erwünschtheit und die akzeptable Konvention repräsentieren. Gerade deshalb sind die Individuen in ihren bewussten Effekten und faktischen

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Handlungen weitgehend auf unbewusste Weise von gesellschaftlichen Erwartungen bestimmt und zusätzlich darauf getrimmt, beim Übergang von der »existentiell« motivierten Agency zur Explikation des Sinns ihrer Taten sozial formatierte Typisierungen aufzurufen.1 Dass die Gründe für das Handeln zwar individuell, trotzdem vermittels einer »unbewussten« Verwicklung zwischen sozialen Imperativen und individuellen Antrieben gesellschaftlich bedingt sein können, dass also in der Person unterhalb der bewussten Auseinandersetzung des »Ego« mit der Anforderungen der Gesellschaft, immer schon eine mühsame Balance zwischen Drang, Selbstbezug und sozialer Bindung bearbeitet wurde und wird, das gehört zu den großen Entdeckungen der Moderne. Mit der Kategorie des Unbewussten hat sie, zugespitzt und pionierhaft expliziert von Freud (Freud 1978 und 1990: 282ff.) und der Bewegung der Psychoanalyse, nicht bloß das Individuum als ein jeweils Besonderes semantisch aus der Allgemeinheit sozialer Rollen ausdifferenziert (das ist schon früher geschehen), sondern mehr noch, der Person eine innere Differenziertheit zugeschrieben, derentwegen es einen intransparenten Bereich geben müsse, der zwar der Person selbst (nicht etwa irgendwelchen Dämonen, die von der Person Besitz ergriffen hätten) angehört, der für diese Person aber nicht oder nur indirekt erreichbar ist. Aufgrund dieser Unerreichbarkeit konstitutiver aber eben unbewusster Personen-»Anteile« für die Person selbst, kann dem Individuum nicht länger jene souveräne Verfügung über sich selbst zugeschrieben werden, die die Metamorphose des rechtsförmigen Zugriffs der Gesellschaft auf die Person in der frühen Moderne durch die Evolution »subjektiver Rechte« (Luhmann 1981: 58ff.) mittlerweile zugestanden hatte. Insofern kritisiert die »postmoderne« Kritik am »Subjekt«, soweit sie damit auf die äußerst hochstilisierte Figur eines intentionalen Selbstverhältnisses nach dem Muster einer vollkommen autonomen und autochthonen Selbstregierung Bezug nimmt, eine soziale Subjekt-Formierung, die in der Frühmoderne bestenfalls diskursive Idealisierung war, aber schon in der Hochphase der »bürgerlichen« Gesellschaft überwunden, weil nämlich als »ideologisch« durchschaut wurde. Soweit in den subjektiv keineswegs transparenten aber doch individuellen Bestimmungsgründen des Handelns (und der Affektlagen) sich gesellschaftliche Anforderungen wirksam machen, ist das »Unbewusste« als eine Instanz 1 | Der Abstand zwischen einer verdeckenden Typisierung der eigenen Motive und einer adäquaten Überführung intentional präsenter (»gefühlter«) Gründe in intelligibel artikulierte Rechtfertigungen entspricht der Differenz zwischen den Begriffen der »Rationalisierung«, die einerseits von Donald Davidson, andererseits von Ernest Jones vertreten wurden (Davidson 1990; Jones 1912). Nur Jones legt den Akzent auf den Aspekt der Selbsttäuschung, der in der rationalisierenden Angabe von sozial akzeptablen Gründen des eigenen Handelns und Verlangens liegt.

Die relationale Psychoanalyse und die Quellen der Individuation

der konflikthaften, motiviert verdrängten, intransparenten aber faktisch folgenreichen Beziehung des Individuums zur Gesellschaft ganz offensichtlich von höchstem Interesse für die Soziologie. Sofern aber dieses Unbewusste alles andere als ein bloßer Speicher von »internalisierten« sozialen Erwartungen innerhalb der Person ist, der nur aus Gründen der Aufmerksamkeits-Ökonomie das Meiste unter die Schwelle des jeweils aktuellen »wachen« Bewusstseins drückt, bleibt es die Psychoanalyse, die das theoretische Mandat für die Untersuchung des Unbewussten beanspruchen kann. Denn die Psychoanalyse ist in ihrer Differenziertheit, in ihrer theoretischen Arbeit an der Bildung eines adäquaten Modells der »motivierten Verdrängung« und in ihrer Rückversicherung durch die klinische Praxis immer noch konkurrenzlos, was die Sensibilität für die jeweils individuelle Eigensinnigkeit der innerpsychischen Dynamik angeht. Die Soziologie teilt deshalb mit der Psychoanalyse ein grundsätzliches Interesse am »Unbewussten«, soweit es als ein »Teil« oder als »Instanz« des Individuums der Person selbst und nicht ihrer »Umwelt« zuzurechnen ist und soweit es trotz dieser Zuordnung als ein Resonanzraum für gesellschaftliche Forderungen gelten kann, der dem Bewusstsein der Person unzugänglich sowie intransparent ist und gerade deshalb auf das Handeln und die Identität der Person größten Einfluss hat. Freuds Entdeckung besteht ja neben allen Details darin, der individuellen Person eine jeweils eigene, aber eben unbewusste Arbeit an der Übersetzung zwischen dem Drang des Begehrens, der Anerkennung sozialer Normen und der Sublimation des Selbstverhältnisses zu einer symbolisierbaren Identität zuzusprechen. Und doch gehen Soziologie und Psychoanalyse jeweils andere Wege, schon weil die pragmatischen Kontexte, in denen ihre jeweilige Theoriebildung möglicherweise sinnvolle Anschlüsse findet, sich stark unterscheiden. Die Psychoanalyse entspringt als Theorie dem klinischen Zusammenhang, und sie sucht ihn am Ende immer wieder auf. Hier muss sie sich bestätigen (und nur sekundär im Unterhaltungswert, den die Entdeckung des Verborgenen im Psychischen dem bürgerlichen Publikum bereitet), sodass schon in der Diktion der Bildung von Begriffen und der Weisen des Schlussfolgerns den psychoanalytischen Texten bei allem Interesse an der Modell bildenden Generalisierung anzusehen bleibt, dass für sie – neben allfälligen, ursprünglichen wie neuerdings erneuerten Zugeständnissen an naturalistische Rechtfertigungen ihrer Praxis (Solms, Turnbull, Sacks, Vorspohl 2004; Ansermet, Magistretti 2005: 93ff.) – ein hermeneutischer Zugang zum einzelnen Fall und zur einzelnen Person verbindlich bleibt (vgl. auch: Sonnemann 1981: 65ff.). Außerdem befasst sich die Psychoanalyse verständlicherweise mit metapsychologischen (allgemein Modell bildenden) Fragen in der Regel nur soweit, wie die Theorie Unterschiede markieren kann, die in der psychoanalytischen Praxis, in der interaktiven Unternehmung zweckorientierter, nämlich the-

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rapeutischer Entschlüsselung individueller Sinn-Verarbeitungs-Schicksale, einen Unterschied machen. Demgegenüber bleibt die soziologische Aufmerksamkeit für die psychoanalytische Metapsychologie aus Gründen des soziologischen Interesses an eher allgemeinen Modellen der »Sozialisation« (überhaupt) und wegen des Übergewichts an Strukturneugierde, die den Bezug zum Individuum theoretisch tendenziell entpersonalisiert, ein Zugriff von außen. Jenseits möglicher und auch nur partieller Verschmelzungen bleiben Psychoanalyse und Soziologie also distanzierte, wenn auch in wechselnder Intensität an einander interessierte Gesprächspartnerinnen. Die Wechselhaftigkeit der Intensität dieses Gesprächs ist prima facie ein Stück Disziplinen-Geschichte (somit auch eine Geschichte des Wandels der spezifischen gesellschaftlichen Relevanz und Funktion der jeweiligen Fächer, vgl. Reichertz 2006: 7ff.); sie lässt sich darüber hinaus aber auch betrachten mit Bezug auf ein sachliches Problem und im Dienste einer Bearbeitung systematischer Fragen. Die Frage, die hier in der Folge vor diesem Hintergrund untersucht wird, lautet: Wie können – vermittelt über die neuerdings aktualisierte Schnittmenge des soziologischen und des psychoanalytischen Interesses an der »Intersubjektivität« – die Disziplinen bei dem Versuch zu erklären, wie sich das Individuum als Individuum im Medium geteilter Praxis entfaltet, voneinander profitieren?

I. D ie P sychoanalyse der S oziologie : S ublimierung einer R ezep tion Die Soziologie hat sich in ihrer Suche nach den Beziehungen zwischen dem Individuum und der Gesellschaft, sofern sie sich nicht auf allzu handfeste Modellierungen der Person als selbstgenügsames Atom sekundärer und agonaler Vergesellschaftung verlassen wollte, in vielen Varianten durch die Psychoanalyse inspirieren lassen. Schon George H. Mead hatte als Zeitgenosse Freuds seine eigene Konzeption der internalisierten sozialen Verhaltenskontrolle durch das »Me« ausdrücklich mit der Freud’schen Figur einer unbewussten Zensur verglichen (Mead 1967: 255). Talcott Parsons bemühte einige Zeit danach die zweite Topologie Freuds (die Differenzierung zwischen »Es«, »Ich« und »Überich«), um die Iteration der funktionsorientierten Ausdifferenzierung auf immer weiteren Subsystemebenen auch auf die Person auszudehnen. Die »Identität« der Person sollte sich nach Parsons einerseits als die Integrationsleistung eines besonderen Typus funktional differenzierter Subsysteme verstehen lassen (Parsons 1980: 83). Andererseits sollte die Instanz des »Überich«, als subjektiver Resonanzraum für die »Interpenetration« der Person durch gesellschaftlich etablierte (und hierdurch integrativ wirksame) normative Muster, die Verbindung zwischen systemischen Steuerungsmedien

Die relationale Psychoanalyse und die Quellen der Individuation

und individueller Verhaltensebene herstellen (Parsons 1980: 80). Zu Parsons Zeiten hatte die öffentliche Beliebtheit der Psychoanalyse ihren Wortschatz bereits bis in die alltagstaugliche Rhetorik der »Mittelschichten« und in die filmische Lebenswelt von Woody Allen einsickern lassen. Später, als der Druck des akademischen und therapeutischen Erfolges naturalistischer Psychologien (und versicherungswirtschaftliche Skepsis an der Renditeträchtigkeit der Langzeitbehandlungen durch die »Redekur«) diese Alltäglichkeit der Psychoanalyse schon deutlich reduzieren konnte, hat Anthony Giddens noch einmal Elemente seiner Theorie der Strukturation zumindest en passent auf Freud bezogen (Giddens 1997). In diesem Falle dient die psychoanalytische Kategorie des Unbewussten – bereits deutlich zu einer relativ groben Konzeption verdichtet – schon nur noch der Abgrenzung: Giddens betont, dass die Form der praktischen Gewissheit, die das Handeln unter strukturierten Bedingungen prägt, zwar eine Form des Unbewussten, des nicht thematischen, sondern implizit in Dienst genommenen Wissens (von den Imperativen der Strukturen) darstellt, dass diese Art der Unbewusstheit sich jedoch von der prinzipiellen Abschottung unbewusster und verdrängter Motive gegenüber den manifesten Vorstellungen des Ich, die für die Psychoanalyse signifikant ist, deutlich unterscheide. Denn die allgemeine Reflexionsbegabung der »Akteure« erlaube die Thematisierung prinzipiell aller unthematischen Wissenselemente und Motive (auch wenn empirisch nicht jederzeit alles ausdrücklich explizit gemacht werden kann). In diesen wechselnden Haltungen zur Psychoanalyse – weniger als einer therapeutischen Kommunikationsgattung denn als Metapsychologie – drückt sich implizit die Abhängigkeit der Art und Weise einer soziologischen Bezugnahme auf die Psychoanalyse von der Agenda soziologischer Theoriebildung aus. Denn Giddens repräsentiert trotz gesellschaftstheoretischer Ambition u.a. den Übergang von früheren Kompaktformen der Gesellschaftstheorie zu demgegenüber ausdifferenzierten soziologischen Theorieunternehmen. Sowohl Mead als auch Parsons lokalisierten das Individuum noch verhältnismäßig unmittelbar in einem Immediatsverhältnis zu »der« Gesellschaft bzw. zu gesellschaftsweit integrativen Strukturen oder Normmustern. Was in die Person, gewissermaßen vertreten durch die Agentur des »Überich« und die in ihm präsenten normativen Imperative, hinein wirken sollte, war sogleich »die« Gesellschaft, nicht etwa der Sonderkontext einer »intermediären« Institution (wie die Familie, welche die »gesellschaftlichen« Imperative nicht einfach repräsentieren, sondern auch abfedern, konterkarieren oder übersetzen könnte).2 Die 2 | Ohne Frage kann man Parsons kaum vorwerfen, die Differenzierung moderner Gesellschaft außer Acht gelassen zu haben. Ein gewisses »Immediatsverhältnis« zwischen Aktor und Gesellschaft wird allerdings durch die Parsons’sche Vorstellung nahegelegt, dass die normative Integration einer in ausdifferenzierte Subsysteme untergliederten

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Differenzierung der Theorie muss solche intermediären Instanzen wie die Familie gerade deshalb im Unterschied zur Klassik stärker in Rechnung stellen, weil sich das Spektrum dieser Instanzen im Zuge kultureller Pluralisierung und Ausdifferenzierung selbst deutlich diversifiziert hat. So drängt die Pluralisierung soziokultureller Milieus in einer unübersichtlichen, globalisierten Weltgesellschaft auch mit Rücksicht auf die Familien (als dem immer noch vorzüglichen Schauplatz der Primärsozialisation) die Einsicht auf, dass es eben ausgesprochen verschiedene Familienkonstellationen und viele verschiedene Lagen solcher Familien »in der« Gesellschaft gibt. Deshalb kann das Paradigma der bürgerlichen Familie mit dem männlichen Haushaltsvorstand als dem Repräsentanten des »Gesetzes des Vaters«, in dem sich unmittelbar die gesellschaftliche Disziplin verkörpern soll, auch nicht mehr ohne weitere Umstände wie zu Freuds Zeiten (zu denen es auch schon eine zweifelhafte Selektivität aufwies) als Modell der Beziehung zwischen »dem« Individuum und »der« Gesellschaft dienen. Besonders markant zeigt sich der Zusammenhang zwischen der Ausdifferenzierung der soziologischen Theorieagenda (sowie ihrer Gegenstände) und der soziologischen Neigung, psychoanalytische Theoriebausteine als Module für die eigenen Zwecke zu importieren, an den Metamorphosen der Kritischen Theorie. Dass die Hauptvertreter des Frankfurter Instituts für Sozialforschung in den 1930er Jahren die psychoanalytische Metapsychologie zu einem Hauptpfeiler der Kritischen Theorie der Gesellschaft gemacht haben, daran kann kein Zweifel bestehen (Jay 1981). Die klassische marxistische Ideologiekritik bedurfte angesichts der nach dem 1. Weltkrieg ganz offenkundig ausbleibenden Bildung eines revolutionären Klassenbewusstseins einer »sozialpsychologischen« Raffinierung. Die »Entfremdung« der Lebensformen schien sich tiefer in die Selbstverhältnisse eingegraben zu haben, als eine materialistische Wendung der idealistischen Subjektphilosophie es vermuten ließ und zu erklären erlaubte. Vor diesem Hintergrund konnte die Psychoanalyse Freuds einrücken in die theoretische Position einer Erklärung für die »entfremdete« Verfassung typischer Subjektlagen unter den Bedingungen kapitalistischer Vergesellschaftung.3 Noch in den 1940er Jahren hatten Horkheimer und Adorno, Gesellschaft im Wesentlichen durch die Homogenisierung handlungsleitender Normen und Werte im Zuge der Universalisierung von Wertorientierungen garantiert werden müsse. 3 | Die materialistische Theorie der »Verdinglichung« (als Form der »falschen« Existenz) war bei Marx anfänglich zumindest am idealistischen Modell einer Subjektivität orientiert, die sich in der Arbeit »entäußernd« vergegenständlicht und bei Wiederaneignung des Produktes »aufgehoben« wiederfindet. Die kapitalistische Produktionsweise bedeutete gemessen an diesem Modell der Identitätsbildung eine strukturell befestigte Unterbrechung der dialektischen Selbstvermittlung. Durch die Fragmentierung und

Die relationale Psychoanalyse und die Quellen der Individuation

unter dem Eindruck vermeintlicher, latenter Konvergenz zwischen totalitären und liberalistischen Formen »verdinglichender« Vergesellschaftung (was die Chancen auf individuelle Autonomie angeht), einerseits den Typus der »autoritären Persönlichkeit«, andererseits die »entmündigenden« Tendenzen einer vordergründig hedonistischen »Kulturindustrie« mit den psychoanalytischen Begriffen der Ich-Schwäche entziffern und in eine radikale Kritik »der« Gesellschaft wenden wollen (Horkheimer, Adorno 1988). Mangelnde Mündigkeit und Bereitschaft zur Ressentiment-geladenen Akklamation totalitärer Herrschaft erklärte sich die Kritische Theorie in dieser Phase nicht zuletzt durch die psychoanalytische Figur einer misslungenen Verarbeitung der für die Genese der individuellen Identität relevanten Konflikte zwischen Trieb und psychischer Instanzenbildung: An die Stelle des »Ich«, das aus dem »Es« in ausgereifter Balance zwischen »Ich-Ideal« und Realitätsprinzip werden solle, schienen – in der »verwalteten Welt« – die (direkt gesellschaftlich bedingte) Abwehr abgespaltener Eigenanteile der Person und die projektive Identifizierung (autoritäre Neigung und Vorurteil) getreten zu sein. Mit umgekehrten Vorzeichen, d.h. weniger resigniert als die Rückkehrer nach Frankfurt, hielt in den Zeiten der Studentenrevolte nur noch Herbert Marcuse (mit einigem öffentlichen Erfolg) an der theoretischen Klammer zwischen »Triebstruktur und Gesellschaft« fest (Marcuse 1997). Die Unterstellung einer Immediatsbeziehung zwischen gesellschaftlichen Zwang und individuellem »Triebschicksal«, innerhalb derer laut Marcuse die »repressive Entsublimierung« (die unfreie, weil scheinhafte Befreiung von der Triebunterdrückung) den Sozialcharakter des »eindimensionalen Menschen« nicht aufhebe, sondern vertiefe (Marcuse 1979), fand in der Soziologie indessen schon kaum mehr Rückhalt. Nicht nur das Fach, sondern auch sein Gegenstand: die gesellschaftlichen Verhältnisse, hatten sich längst in einem solchen Maß differenziert, dass das Komplexitätsdefizit der klassischen Ideologiekritik marxistischer Provenienz trotz psychoanalytischer Vertiefungen kaum zu übersehen war (Sonnemann 1981: 87ff.). An der Entwicklung der späteren Kritischen Theorie, paradigmatisch in den Wendungen des Werkes von Jürgen Habermas, wird deshalb sichtbar, dass die überkompakte Bauart einer psychoanalytisch gestimmten Kritischen Abstraktion der Arbeit und durch die Abschöpfung des Mehrwerts nebst Enteignung des Produkts bleibt das Subjekt gewissermaßen auf der Vergegenständlichung sitzen, sodass personale Entfremdung – im Zusammenspiel zwischen subjektivem Bildungsprozess und Arbeitsorganisation – als Verdinglichung (Lukács 1981: 170ff.) zu entziffern war. Eine im Unterschied zur Frankfurter psychoanalytischen Gesellschaftsanalyse weniger »umständliche« historisch materialistische Psychoanalyse, die es bis zum Konzept einer »Sexualökonomie der politischen Reaktion« gebracht hat, legte schließlich Wilhelm Reich vor (Reich 1986).

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Theorie der Gesellschaft u.a. aufgrund weiterer Differenzierungen der gesellschaftstheoretischen Modellbildung an Kurswert verliert. Habermas hatte noch in den 1960er Jahren an der psychoanalytischen Erläuterung eines Begriffs gesellschaftlicher Pathologien festgehalten (Habermas 1975). Während sich in der Folgezeit z.B. (in Frankfurt) in den Arbeiten Ulrich Oevermanns die Anknüpfung an die psychoanalytische Differenz zwischen (verzerrten) manifesten intentionalen Gehalten und objektiven latenten Sinn-Strukturen (und dabei an Adorno) dann nur noch auf kleinformatige Interaktionssequenzen und einzelne »Fallstrukturen« beziehen sollte (Oevermann 1983: 272ff.)4, wechselt die Habermas’sche Theorie der Gesellschaft den Bezug zur Psychoanalyse gemeinsam mit »subjektivistischen« Gehalten der idealistischen Tradition aus und rekonstruiert »Kommunikations-Pathologien« nun unter Einsatz vergleichsweise kognitivistischer entwicklungspsychologischer Modelle. In Anknüpfung an Piaget und Kohlberg interessiert sich Habermas fortan, um der Rekonstruktion der sozialen Emanationen einer prozeduralisierten, kommunikativen Vernunft Willen, für rationale Lernprozesse und Entwicklungen eines »vernünftigen« Moralbewusstseins (Habermas 1984). Und er sucht nach diesen auf den Spuren einer empirischen Analyse der ontogenetischen Stufen hin zu einer »postkonventionellen« Verständigungsorientierung (als dem intentionalen »Sitz« der Faktizität idealisierter Geltungsunterstellungen, siehe: Habermas 1992). Die Gesellschaftstheorie distanziert sich von der Psychoanalyse nicht zuletzt deshalb, weil sie selbst als eine normative Theorie den normativen Maßstab einer »kritischen« Gesellschaftsanalyse nicht mehr materialiter aus den intrapsychischen Mechanismen eines individuell verankerten, aber allgemeinen Verhängnisses heraus interpretieren kann, sondern mögliche »gesellschaftliche« Pathologien (bei Habermas z.B. »kolonialisierte« Lebenswelten) formal, d.h. neutral gegenüber den pluralen und jeweils spezifischen Individuations-Formaten kultureller Lebensformen (»kommunikativer Alltagspraxen«), konzeptualisieren muss. Das ist allerdings nicht das letzte Wort zum Verhältnis zwischen (kritischer) soziologischer Theorie und Psychoanalyse und es ist nicht das Ende der Geschichte dieses Verhältnisses. Die Ausdifferenzierung der soziologischen Theorie besteht nicht allein in der Komplizierung der »Gesellschaftstheorie«, sondern zudem in der Diversifizierung soziologischer Theoriezuständigkeiten zwischen »Makro-« und »Mikrodimension«, die das Spektrum zwischen einer Theorie funktionaler Differenzierung (Luhmann 1998) und einer Theorie habi4 | Wobei Oevermann geltend macht, dass eine strukturalistische Interpretation von Regeln »gelingender« Interaktion als Normen »gelungener Lebenspraxis« den »objektiv hermeneutischen« Fallrekonstruktionen ein gesellschaftstheoretisches Mandat verschaffen könne (Oevermann 1983).

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tuell strukturierter Praktiken (Bourdieu 1979) weit aufspannt. Zwischen den Polen einer makrotheoretischen Gesellschaftsanalyse5 und einer auf (kleinformatigere) Interaktionsstrukturen konzentrierten Soziologie bewegt sich z.B. das Unternehmen Axel Honneths, eine Theorie der »Anerkennung« zu entfalten, die der formal gewordenen Kritischen Theorie wieder größere Resonanz für die materiale Seite womöglich »pathologischer« Zustände moderner Gesellschaft verleihen soll (Honneth 1992, 2003a, 2003b, 2005). Immer schon setzt die Kritische Theorie im Kontrast zu pessimistischen Sozialtheorien, die den sozial konstituierten rationalen Egoisten und den historisch gewachsenen sozialen Antagonismus naturalisieren, auf die Primordialität der Kooperation. Während z.B. die Habermasschen Theorie aber den (sozialtheoretischen) Vorrang der Kooperation vor der Konkurrenz »kognitivistisch« in der Rekonstruktion der formalen Prinzipien wechselseitig unterstellter Autonomie im Medium des kommunikativen Austausches von diskursiven Argumenten expliziert, legt Honneth den Fokus auf die zunächst affektive Dimension der ontogenetisch konstitutiven sozialen Bindung. »Anerkennung« soll als Paradigma einer kritischen, also für Pathologien empfindlichen Soziologie, nicht allein die Reziprozität zwischen Teilnehmern an rationalen Diskursen bezeichnen, sondern die interpersonale Dimension »intersubjektiver« Bindung umfassen. Den Begriff der »Anerkennung« komponiert Honneth aus Motiven des frühen Hegel (»Selbstsein in einem Fremden«), der Mead’schen Intersubjektivitätstheorie und aus Anleihen bei der »relationalen Psychoanalyse« z.B. Donald Winnicotts (Honneth 1992). Die Autonomie des Subjekts erscheint unter solchen Prämissen nicht allein in der kognitiven Figur einer (bei Habermas: kommunikativ strukturierten) Selbstbindung an verallgemeinerungstaugliche Prinzipien qua rationaler Einsicht. Sondern Autonomie wird darüber hinaus (bzw. davor) zum Ergebnis des primär affektiven Projektes einer durch gewährte und beantwortete Anerkennung des anderen als anderen »gebrochenen« Symbiose mit dem ursprünglichen »konkreten anderen«. An die nüchterne moralische »Achtung« (des Gesetzes und damit der moralischen Person) lagert sich die »Liebe« an, die zu verstehen ist als Einheit aus affektiver Bindung und Freigabe von Selbstständigkeit und -vertrauen (Honneth 1992: 172ff.). Mit dieser Aufladung des soziologischen Konzeptes der »Intersubjektivität« nähert sich zumindest eine Variante der pragmatistischen (auf G. H. Mead 5 | Vor deren Hintergrund dann die Psychoanalyse nicht mehr als theoretischer Alliierte, sondern als »Gegenstand« adressiert wird, z.B. unter der Rubrik eines empirisch beobachtbaren »Biographiegenerators« (Hahn 1988). Die Psychoanalyse wird in dieser Optik zu einem notwendig klandestinen Sonderforum für die Selbstdarstellung von Personen erklärt, die aufgrund funktional differenzierter und fragmentarischer Formen der Inklusion von Personen, nirgends sonst Resonanzen für sich als eine »ganze«, individuelle Person erhalten können sollen (Hahn, Bohn 1999).

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zurück gehenden) Soziologie an die Psychoanalyse also wieder an (Honneth 2000). Das belegen eindrucksvoll die expliziten Berufungen Honneths auf die »relationale« Psychoanalyse, auf Donald Winnicott (Honneth 1992: 157ff.), aber auch auf Arbeiten von Jay R. Greenberg und Stephen A. Mitchel (1983), sowie der Einbau ihrer Argumentationen in das systematische Konzept der Honnethschen Anerkennungs-Theorie (Honneth 1992: 155). Dieser Wiederannäherung an die Psychoanalyse kommt eine komplementäre Annäherung der psychoanalytischen Theorie an das Konzept der »Intersubjektivität« als Kernbestand soziologischer Theoriebildung entgegen. Am eigensinnigen und in Teilen problematischen Einbau intersubjektivitätstheoretischer Modelle in die Theoriebildung der Psychoanalyse durch ihre Vertreterinnen selbst, so der Kern der folgenden Überlegungen, kann die soziologische Theorie nun ihrerseits etwas über eigene Ausblendungen lernen: Es ist der oben genannte Unterschied der psychoanalytischen Hermeneutik gegenüber der soziologischen Theorie, nämlich die enge Bindung an die performative Dimension einer individuierenden therapeutischen Praxis (Orange, Atwood, Stolorow 2001: 41; vgl. Ricœur 1974: 33ff.), die einen blinden Fleck in der Tradition der intersubjektivistischen Soziologie seit G. H. Mead offen legt und dabei bereits spezifische Hinweise auf nötige theoretische Revisionen gibt: Der »Primat der Intersubjektivität« soll seit Mead eine hinreichende Grundlage für die »uno actu« Erklärung sowohl der (»Ein«-)Sozialisation der Person »in die« Gesellschaft als auch der Individuation der Person bieten (deutlich bei: Habermas 1988). Bei näherer Betrachtung zeigt es sich allerdings, dass die klassische Theorie der Intersubjektivität zirkulär gebaut bleibt, solange sie die Gleichzeitigkeit von Identität (intersubjektive Bedeutungsintention) und Differenz (Individualität des Selbstverhältnisses) in einer primordialen Identität der Perspektiven »aufheben« will. Mit der »Identität« der Bedeutung von Symbolen, mittels derer ego und alter kommunizieren, kann man zwar die Intersubjektivität ontogenetisch als das Einrücken in ein allgemeines Bewusstsein (von Perspektiven und Normen) erklären.6 Man kann damit aber nicht zugleich die Individuation erklären, weil sie wenigstens auch durch die Differenz der Perspektiven und der Bedeutungszuschreibungen zu charakterisieren wäre. Die Psychoanalyse zeigt demgegenüber, indirekt durch einen gewissen »Überoptimismus« in Sachen intersubjektivistischer Umstellung von Theorie und Therapie (der sich in zirkulären Erklärungen der Intersubjektivität verrät), dass die Erklärung der Ontogenese individueller Selbstverhältnisse nicht stehen bleiben kann bei der Unterstellung intersubjektiver Übereinstimmung 6 | Wobei man selbst bei dieser Erklärung vorläufig davon absehen muss, dass die Identität der Perspektiven im Zuge der sozialisierenden Perspektivenübernahme mindestens zweimal vorkommt: als Voraussetzung und als Ergebnis des Prozesses, sodass auch hier eine problematische Zirkularität zum Vorschein kommt.

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der Perspektiven von Alter und Ego (von heranwachsender Person und »signifikanter« Anderer, deren Perspektive die erste zu »übernehmen« hat). Um diesen Zusammenhang sichtbar zu machen, ist es erforderlich, die »intersubjektive« Wende in der Psychoanalyse etwas genauer zu betrachten.

II. D ie S oziologie der P sychoanalyse : I ntersubjek tivistische W ende In der psychoanalytischen Theorie vollzieht sich, nach Auskunft berufener Beobachter (Altmeyer, Thomä 2006: 7ff.), seit geraumer Zeit eine ausdrücklich so genannte intersubjektivistische Wende. Die Psychoanalyse wird, wenigstens von einigen einschlägigen Vertreterinnen und Schulen, in ihrer Arbeit sowohl an der sie leitenden Persönlichkeitstheorie bzw. Metapsychologie als auch in der Reflexion der für sie charakteristischen Form der therapeutischen Praxis auf den prinzipiellen Vorrang der sozialen Beziehung vor einer egozentrischen Auffassung der intrapsychischen Dynamik hingewiesen. Eine Reihe von Vertretern neuerer Ansätze im breiten Feld unterschiedlicher psychoanalytischer Varianten rückt damit ab von der traditionellen »Ein-Personen-Psychologie«, die für den klassischen Zuschnitt der auf Freud sich berufende Psychoanalyse konstitutiv zu sein schien (Greenberg, Mitchell 1983; Mitchell 1988; Orange, Atwood, Stolorow 2001; Ogden 2006; und als neuerdings zu breiterer Resonanz kommende Vorläufer: Loewald 1980; Winnicott 1965 und 1971). Martin Altmeyer und Helmut Thomä schreiben der entsprechenden Debatte einen geradezu existentiellen Status zu, da es um die Identität der Psychoanalyse als Ganzer gehe (Altmeyer, Thomä 2006: 8ff.). Hinreichend tiefgreifend scheint der Einschnitt, den eine Wendung der Psychoanalyse zur Priorisierung der »Intersubjektivität« bedeuten würde, in der Tat zu sein. Denn mit Bezug auf die therapeutische Praxis stehen durch diese Wendung vor allem jene Charakteristika der Haltung der Analytikerin zum Analysanden, von der »freischwebenden Aufmerksamkeit« bis zur souveränen Instrumentalisierung der Dynamik von »Übertragung« und »Gegenübertragung« auf dem Prüfstand (Orange, Atwood, Stolorow 2001: 55ff.; Odgen 2006: 37ff.), die das – nicht immer wohlwollend beurteilte – Bild der Psychoanalyse lange Zeit geprägt haben. Der Intersubjektivismus kritisiert die institutionalisierte Asymmetrie zwischen einerseits dem unbewusst agierenden und in seinen Projektionen interaktiv gefesselten Analysanden und andererseits dem »überlegenen« Analytiker, der immer den Vorzug der Distanz gegenüber einer alltagsweltlichen Reziprozität der Interaktions-»Teilnehmer« aufrecht erhält. In den Vordergrund wird stattdessen die Gemeinsamkeit, in der die am therapeutischen Gespräch kooperativ Beteiligten ein »Drittes« konstituieren (Orange, Atwood, Stolorow 2001: 55ff.), gerückt. Dieses Dritte soll z.B. als das »analytische Drit-

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te« im Gegensatz zum »Dritten der Unterwerfung« (in der Gestalt autoritativer, äußerer Norm) eine in der therapeutischen Situation gebildete, unbewusste, jedoch »verbindende Intersubjektivität« zwischen Analytikerin und Analysand sein. Die therapeutisch motivierte Auflösung dieses analytischen »Dritten«, die als vollzogen gelten kann, sobald und »indem sich nämlich Analytiker und Analysand als getrennte Subjekte wechselseitig anerkennen und ihren individuellen (freilich verwandelten) Subjektstatus wieder aneignen«, definiert geradezu die erfolgreiche Analyse (so jedenfalls: Ogden 2006: 37). Dieses Dritte wird überdies als grundsätzliche, also die analytische Interaktion überschreitende, »triangulierte« Gestalt der sozial vermittelten Selbstbeziehung angesehen und abgehoben von der »komplementären« Struktur bloß dyadischer Beziehungen, die in pathologischen Interaktionsmustern erstarren kann: z.B. in der blockierenden Alternativlosigkeit zwischen »entweder-deiner-oder-meiner-Auffassung« (Benjamin 2006: 68ff.).7 Mit dieser Generalisierung des »intersubjektiven Dritten« über die analytisch-therapeutische Interaktion hinaus werden Ego und Alter grundsätzlich aus der cartesianischen Opposition zwischen Subjekt und Objekt (psychoanalytisch: zwischen Subjekt und seinem inneren Objekt der projektiven Besetzung durch das Subjekt) heraus geholt. Damit wird der zweite Schwerpunkt einer intersubjektiven Psychoanalyse sichtbar: die metapsychologische Theorie der Subjektgenese und ihrer Beziehung zur (onto-)genetisch primären Intersubjektivität, die für eine soziologische Theorie der Individuation unmittelbar relevant ist. Der zentrale Angriffspunkt, den die intersubjektivistische Wende in der Psychoanalyse in der psychoanalytischen Tradition selbst identifiziert, ist eine geradezu solipsistische Auffassung vom Kinde: »Die klassisch-psychoanalytische Theorie hatte bekanntlich die Vorstellung eines hilflosen, passiv seiner Triebnatur ausgelieferten Säuglings kanonisiert, der aus dem intrauterinen Paradies der Spannungslosigkeit in eine feindliche, per se traumatisierende Welt hinein7 | In diesem Zusammenhang – bezogen auf die therapeutische Interaktion – bezeichnet »Triangulation« also zunächst nur das Moment der Überschreitung der Entgegensetzung zwischen ego und alter (hier zwischen Analytikerinnen und Analysanden) durch ihren gemeinsamen Bezug auf eine von ego und alter getrennte, ihnen aber reziprok (eben »intersubjektiv«) zugängliche Beziehung. Die eher sprachphilosophische Kategorie der »Triangulierung«, die die Vermittlung zwischen alter, ego und der »objektiven« Welt über die referentielle Funktion der für alter und ego »intersubjektiv« angeblich gleichbedeutenden sprachlichen Ausdrücke garantieren soll, bringt Marcia Cavell mit der psychoanalytischen Theorie in Verbindung (siehe: Cavell 2006: 187ff.). Dieser Zusammenhang ist für den Beitrag einer intersubjektivistischen psychoanalytischen Theorie zur Erklärung der Individuation allerdings zentral, denn, wie weiter unten untersucht wird: An der Frage der Identität der Bedeutung der »Symbole« hängt die Möglichkeit der Vermeidung zirkulärer Erklärungen, zu denen die Intersubjektivitätstheorie neigt.

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geboren wird« (Altmeyer, Thomä 2006: 14). Dagegen setzt die intersubjektivistische Psychoanalyse unter Berufung auf die empirische Erforschung frühkindlicher Interaktion und unter dem plakativen Titel des »kompetenten Säuglings« (Dornes 1993) die paradigmatische Unterstellung einer primordialen und konstitutiven Eingebundenheit des Säuglings in tragende soziale Beziehungen, in der für den Säugling die Trennung zwischen sich und der Bezugsperson in vorreflexiver Weise, in der Form eines »elementaren Selbstgefühls« (Honneth 2006: 321) allerdings bereits erfahrbar sein soll (Stern 1985). Der Prozess der psychodynamischen Persönlichkeits- und Identitätsbildung (Sozialisation wie Individuation) sollte dementsprechend nicht als Kampf des egozentrischen Protosubjekts mit einer antagonistischen sozialen Welt, sondern als Entfaltung einer immer schon gegebenen intersubjektiven Basis verstanden werden. »Intersubjektivität« wird damit in der psychoanalytischen Debatte nicht nur zum Kriterium für eine adäquate therapeutische Beziehung, sondern zum Paradigma der Ontogenese und zur Grundlage für eine gegenüber dem Freud’schen »Kulturpessimismus« (Freud 1974)8 ungleich optimistischere Erwartung an die mögliche Versöhnung zwischen den Imperativen der Gesellschaft und dem Desiderat einer authentisch-autonomen Persönlichkeit. Wenn die soziale Beziehung bereits die frühkindliche Weltorientierung prägt, wenn also der Säugling seinerseits auf der Grundlage eines »Kernselbst« (Altmeyer, Thomä 2006: 15ff.; Honneth 2006: 321ff. und zuvor: Stern 1985: 105) aktiv im Modus vorsprachlicher Adressierung die Intentionalität der anderen als eine andere Intentionalität »versteht« (also intendiert)9, Bindungen »sucht« und »verstärkt«, dann steht die Forderung nach sozialer Bindung (inklusive Zugeständnis an die Ansprüche anderer und »der« Gesellschaft) nicht länger einer primären »Verschmolzenheit«, einer bewusstlosen und lustvollen Fusion zwischen Kind und personaler »Umwelt« diametral gegenüber. Der Intersubjektivismus in der Psychoanalyse richtet an dieser Stelle seine Kritik gegen die klassische Vorstellung eines primären, frühkindlichen »Narzissmus« (Dornes 1993), auf deren Grundlage man die Ausbildung eines realitätskompatiblen 8 | Zugeständnisse der Person an die gesellschaftliche Forderung zum Triebverzicht bleiben immer und notwendigerweise verlustreiche Abstriche am Lustprinzip; vgl. Foucaults Rekonstruktion der psychoanalytischen Diskursstereotype unter dem Titel der »Repressions-Hypothese« (Foucault 1983). 9 | Die »soziopragmatische Theorie des Spracherwerbs« von Michael Tomasello setzt demgegenüber den Übergang des Kindes in den Zustand intentional realisierter »geteilter Intentionalität« aufgrund eigener Beobachtungen von Kleinkind-BezugspersonInteraktionen deutlich später an (Tomasello 2011: 168ff.). Es ist die »Neun-MonatsRevolution«, die in der Perspektive einer evolutionstheoretischen Ethologie erst die Zuschreibung kindlicher Intentionalitäts-Intentionen erlauben soll (Tomasello 2002: 74ff.).

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»Ichs« in der Tat als eine Kette mühsamer, intrapsychischer Kompromissbildungen verstehen müsste, die eine schwere Hypothek für die Persönlichkeitsentwicklung bedeuteten würde (zugespitzt formuliert, und in dieser Form stark verwandt mit der »poststrukturalistischen« Kritik an der »Subjektivierung« als einer disziplinierenden Unterwerfung, würde Sozialisation dann überhaupt und in jeder denkbaren Variante Heteronomie statt Autonomie des »Subjekts« implizieren). Merkwürdigerweise liegt die sozialtheoretische Pointe einer Theorie des »primären« Narzissmus in der Unterstellung eines primordialen Antagonismus zwischen Individuum und Gesellschaft, obwohl die klassische Psychoanalyse dieser frühkindlichen Egozentrik gerade nicht die Selbstgenügsamkeit eines rationalen Egoisten, sondern die symbiotische Verschmelzung eines noch gar nicht als ein »Ich« ausdifferenzierten Wesens mit seiner »Umwelt« (der Mutterinstanz bzw. der Brust als Zentrum der Spannungsabfuhr; vgl. Klein 1932) zuordnet. Diese scheinbare Unstimmigkeit erklärt sich aber aus den Konsequenzen, die das jeweilige Modell der Ausgangslage der Entwicklung (Verschmelzung versus »gebundenes« und »getragenes« Kernselbst) für die Charakterisierung des Übergangs zur sozialisierten Persönlichkeit hat. Die »alte« Psychoanalyse steht dem Gedanken, dass die Individuierung der Person eine konfliktreiche Differenzierung bedeutet, näher als die intersubjektiv gewendete Psychoanalyse. Denn das Modell des primären Narzissmus deutet den Weg vom »Es« zum »Ich«, d.h. die Reifung der Person zu einem »zurechnungsfähigen« Mitglied der Gesellschaft, das Norm-Konformität mit sublimierter Libido ausbalancieren kann, als einen schmerzhaften Weg des Triebverzichtes. Im Unterschied dazu entschärft der Intersubjektivismus den Grundkonflikt zwischen dem sozial konformen »Me« (Mead 1967) und der individuellen Person durch die Unterstellung, dass »gelingende« soziale Bindungen sowohl den Anfang als auch das Ende der (nicht-pathologischen) Entwicklung zur »autonomen« Person charakterisieren (die Differenz zwischen »normaler« Entwicklung und Pathogenese wird damit auf jeweils lokale Bedingungen, z.B. auf eigene Persönlichkeitsstörungen der primären Bezugsperson, zurück gerechnet, nicht aber grundsätzlich, also »gesellschaftstheoretisch« als die jederzeit mögliche Konsequenz eines prinzipiellen Konflikts zwischen Sozialisation und Individuierung in Rechnung gestellt). In der Honneth’schen Soziologie spielt die »relationale« oder intersubjektivistische Psychoanalyse deshalb die Rolle einer klinischen Rückversicherung für eine optimistische normative Gesellschaftstheorie (vgl. Renn 2014: 205ff.). Weil die reziproke und damit Autonomie zusichernde, soziale Bindung zum Originalmodus der gelungenen Ich-Identität und bereits zur Ausgangslage des Sozialisationsprozesses gehören soll, stellen sich gesellschaftliche »Pathologien« einfach als Verletzungen einer (hegelianisch verstandenen) Versöhnung von Ich und Gesellschaft dar, sodass z.B. gesellschaftliche (Verteilungs-)Konflikte auf die (kontingente) Versagung von identitätsrelevanter Anerkennung zurück

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gerechnet (Honneth 2003b) und »Verdinglichung« als bloße Verkennung intersubjektiver Reziprozität ausgelegt werden können (Honneth 2005 und 2003a). Es gibt gute Gründe dafür, das normative Modell gelungener sozialer Bindung an der Gleichzeitigkeit von Autonomie und Bindung, also intersubjektivitätstheoretisch an der auch affektiv grundierten Reziprozität zwischen Personen auszurichten, die einander übereinstimmend als unterschiedliche anerkennen. Die weitergehende Strategie, dieses normative Ideal klinischempirisch, also deskriptiv statt normativ zu rechtfertigen, hat aber ernsthafte Nachteile: Beispielsweise basiert eine kritische Attitüde, die notwendig einen kontrafaktischen Bezug zum deskriptiv darstellbaren Status quo faktischer Verhältnisse einnehmen muss, auf einer petitio principii, wenn sie im Kern der Rechtfertigung normativer Maßstäbe wieder auf die Hegelsche Formel verfällt, dass »vernünftig sei, was wirklich ist«, denn der »kompetente Säugling« und die reziproke soziale Beziehung wechselseitiger Anerkennung müssen ja faktisch realisiert sein, wenn die intersubjektive Psychoanalyse sich durch empirische Forschungsergebnisse begründet wissen will.10 Für die soziologische Relevanz einer psychoanalytischen Metapsychologie ist indessen vielleicht noch wichtiger, dass die optimistische Lesart der intersubjektivistischen Psychoanalyse gar nicht mehr erkennen lässt, worin eigentlich der Mehrwert der genuin psychoanalytischen Kategorie des Unbewussten für eine soziologische Theorie der Ontogenese, als Einheit der Differenz zwischen Sozialisation und Individuierung, bestehen soll? Wenn die soziale Kompetenz des Säuglings und die faktisch etablierte »gelungene« Primärbeziehung in der Interaktion zwischen Kind und Bezugsperson garantiert, dass innerhalb der Beziehung zwischen Individuum und Gesellschaft normalerweise (also bei Ausschluss pathogener Verzerrungen der Interaktion) gar kein Konflikt besteht, warum soll dann die »motivierte Verdrängung« notwendiges Moment der Ausdifferenzierung intransparenter Teile der Person, die trotzdem zu dieser Person »gehören«, für die soziologische Theorie überhaupt noch aufschlussreich oder gar verbindlich sein? 10 | Dieses Argument setzt natürlich gewisse Prämissen bezüglich der Frage, was unter einer »kritischen Attitüde« der Soziologie überhaupt begründeter Maßen verstanden werden kann, voraus. Das kann an dieser Stelle nicht vertieft werden, aber andeutungsweise ist hier auf die weiter oben berührte Differenz zwischen einem formalpragmatischen Universalismus (Habermas) und einer kritischen Theorie, die materiale Charakteristika des »guten Lebens« in den Katalog verbindlicher, normativer Kriterien wieder einführen will (Honneth), zu verweisen. Habermas hat (m.E.) überzeugend argumentiert, dass materiale Auslegungen von Merkmalen gelungener Lebensführung aufgrund ihrer symbolischen Konkretheit im Horizont pluralisierter Lebensformen nicht universalisierbar sind, sondern partikulare, »ethische« Verbindlichkeiten als Ergebnis hermeneutischer Selbstverständigungen von immer begrenzter Reichweite bleiben.

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Nun könnte man einwenden, dass genau darin die »Wahrheit« der Bindungstheorie und einer relationalen Psychoanalyse liege – des Weiteren, dass die Soziologie sich eben deshalb, anders als Honneth, der seine systematischen Gründe hat (Kritik an versagter Anerkennung), von der Psychoanalyse und ihrer Metapsychologie abwenden und dem ungleich weniger dramatischen Modell unbewusster Motive, das die Praxistheorie unter dem Titel des impliziten Wissens behandelt (Bourdieu 1979; Giddens 1997; Renn 2006: 260ff.; Kastl 2007: 95ff.), zuwenden könnte. Aber damit würde die Soziologie die systematischen Konsequenzen eines grundsätzlichen Problems der Intersubjektivitätstheorie übersehen: des Problems, dass der Übergang von der primären sozialen Bindung zur reziproken Anerkennung individuierter personaler Autonomie eben nicht durch die Reziprozität der Perspektiven und die Identität der Bedeutung von Zeichen des kommunikativen Austausches erklärt werden kann. Individualität impliziert Differenz der Perspektiven (und also muss erklärt werden, wie, warum und mit welchen Folgen die »Perspektivenübernahme« intentional transzendiert werden muss und kann). Die feinkörnige, psychoanalytische Theorie der personalen Individuation bringt dieses Problem im Zuge der »intersubjektivistischen« Wende indirekt ans Licht, weil sie erstens gegenüber der Soziologie paradigmatisch an der individuierenden hermeneutischen Praxis der therapeutischen Interaktion orientiert bleibt (Ricœur 1974; Whitebook 2006: 349) und weil sie zweitens die konflikthafte Dynamik der Individuation als ein affektives Geschehen beobachtet, bei dem das libidinös verankerte »Begehren« konflikthafte Folgen hat und behalten muss. Denn auch jenseits des Freud’schen Kulturpessimismus beruht die Ausdifferenzierung des individuellen Selbstverhältnisses einer Person auf der Erfahrung, dass das Begehren nach der Einheit mit dem anderen und nach der vollkommenen Übereinstimmung zwischen dem intentionalen Selbstverhältnis und den Perspektiven, in denen andere mir eine Identität zuschreiben, notwendig unstillbar bleibt: Individuation bedeutet eben nicht die gelingende Identifizierung mit den an einen selbst gerichteten sozialen Erwartungen und Zuschreibungen, sondern sie impliziert (wenigstens auch) den affektiv schmerzhaften Verlust an Identität zwischen Alter und Ego (in diese Richtung zielen z.B. die Einwände Joel Whitebooks gegen Honneths intersubjektivistischen Bindungsoptimismus: Whitebook 2006).11 Deswegen bleibt der theoretische Ertrag der Kategorie des Unbewussten, das Konzept der 11 | Wobei Axel Honneth in Reaktion auf diese Kritik die Position Whitebooks der Hobbes’schen Tradition zuordnet, den Naturzustand als primären Antagonismus zwischen egozentrischen Subjekten zu skizzieren (Honneth 2006: 319f.). Aber damit wird nur eine, und nicht die zentrale Seite der Auseinandersetzung angesprochen, denn Whitebook betont zurecht, dass die Ontogenese nicht ohne Anerkennung der Negativität, d.h. der Differenz zwischen Ego und Alter, verstanden werden kann (Whitebook 2006: 336ff.).

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motivierten Verdrängung, für die soziologische Analyse der jeweils individuellen Motive des Handelns und ihrer individuellen Horizonte eine aufschlussreiche Herausforderung. Eine soziologisch konsequent gelesene »intersubjektive« Psychoanalyse führt am Ende zu der Einsicht, dass das genetische Verhältnis zwischen Sozialisation und Individuierung weder durch Identität (der Perspektiven), noch einfach durch Differenz (Antagonismus und wechselseitige Unzugänglichkeit von Ego und Alter bzw. »der« Gesellschaft) gekennzeichnet ist, sondern ein komplexes – affektive Dimensionen und symbolische Strukturen einschließendes – Übersetzungsverhältnis darstellt. »Normal«, im Sinne von authentisch und gesund, ist nicht die Identität zwischen der Selbstdeutung der Person und den Erwartungen der anderen an diese Person (der repräsentationalistische Konformismus), sondern die unaufhebbare Intransparenz der Person für sie selbst und für andere. Um dieser essentiellen »Intransparenz« einen systematischen Sinn zu geben, muss man allerdings zuerst einen Grundpfeiler der Intersubjektivitätstheorie, mit guten Gründen, untergraben: Es ist das für das theoretische Konzept der »Perspektivenübernahme« unverzichtbare Prinzip der Identität der Bedeutung von Zeichen und »signifikanten Symbolen« (Mead 1967: 61ff.), das der Intersubjektivitätstheorie eine nur scheinbare Konsistenz und den Status einer scheinbar soliden Grundlage für die relationale Psychoanalyse gibt. An der Psychoanalyse selbst und dann an der soziologischen Intersubjektivitätstheorie fällt demgegenüber bei genauerem Hinsehen aber auf, dass die erklärende Berufung auf die »Identität der Bedeutung« eine zirkuläre Figur bemüht, sodass auch die Theorie der intersubjektiven Ontogenese vorläufig eine inkonsistente Rekonstruktion der Dramatik der Individuation bleibt.

III. A porien der I ntersubjek tivitätstheorie Der Intersubjektivismus bleibt auch in der psychoanalytischen Diskussion umstritten. Allerdings werden dabei Gründe vorgebracht, die weniger mit der Theoriebildung und ihrer inneren Konsistenz als mit dem Status der Psychoanalyse als einer eigenständigen professionellen Institution zusammenhängen: Innerhalb der weit verzweigten psychoanalytischen »Gemeinde«, die sich dem zunehmenden Druck zur Funktionalisierungen therapeutischer Unternehmen ausgesetzt sieht, regen sich durchaus Widerstände gegen die Umstellung der Grundlagenpsychologie und der therapeutischen Methoden auf eine fundamental intersubjektivistische Interpretation der Persönlichkeitsbildung und ihrer Abhängigkeiten von der sozialen Umwelt. Vergibt, ja verspielt die Psychoanalyse bei Preisgabe ihrer individualistischen Insistenz auf der Differenz zwischen dem jeweils eigenen, wenn auch unbewussten Selbst und den sozialen Erwartungen an die Person nicht ihren eigenen und für ihr »Allein-

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stellungs-Merkmal« als einer hochprofessionellen Sonder-Hermeneutik konstitutiven Paradigmenkern? Die Verfechter der Intersubjektivitätstheorie halten dagegen, dass gerade die gegenwärtige Drohung der Naturalisierung der Psychologie nur durch die Integration einer Theorie der Intersubjektivität in den Kernbestand der psychoanalytischen Theoriebildung beantwortet werden könne (Altmeyer, Thomä 2006: 8). Diese Tendenz zur Naturalisierung macht sich in der Tat z.B. in Gestalt naturalistischer Rechtfertigungen von psychoanalytischen Basis-Theoremen bemerkbar (»Übertragung« beruhe auf »Spiegelneuronen«; vgl. Solms, Turnbull, Sacks, Vorspohl 2004; Bayram, Zaboura 2006), oder im Vorschlag, diskursive Verfahren der hermeneutischen Symptomentschlüsselung durch Techniken der Manipulation von Hirnstrukturen (z.B.: »EMDR«)12 zu ersetzen (vgl. Renn, Zielke 2006). Und in der Tat kann die Insistenz auf die hermeneutische Dimension des psychotherapeutischen Gesprächs, gerade im Falle der individualisierenden Anamnese und Diagnose als Kernbeständen der psychoanalytischen »Redekur« (Orange, Atwood, Stolorow 2001: 37ff., aber auch schon: Lorenzer 1970 sowie Ricœur 1974), den Unterschied zwischen deutungsvermittelter Intentionalität (Bewusstsein und Unbewusstes) und neuronaler Kausalität angemessen scharf zeichnen. Sobald allerdings die soziologischen und philosophischen Herkunftskontexte der Intersubjektivitätstheorie näher betrachtet werden, zeigt sich, dass es in dieser Tradition eine geradezu ironische Umkehrung der Rolle naturalistischer Argumente gibt: während die intersubjektivistische Psychoanalyse sich prima facie zu Recht als hermeneutisch ausgerichtete Gegnerin einer Naturalisierung der Psychologie betrachtet (siehe oben), beruht der zuerst von Mead ins Spiel gebrachte Gedanke des Vorrangs der Intersubjektivität vor der subjektiv zentrierten Intentionalität seinerseits ganz grundsätzlich auf einer naturalistischen Prämisse: auf der Annahme nämlich, dass die Bedeutung signifikanter »Symbole« in der »objektiven« (äußeren, beobachtbaren) Reaktion bestehe, die auf jenes Symbol (regelmäßig?) folgt. Diese Unterstellung muss Meads Versuch absichern, die Reziprozität der Perspektiven zwischen einem Selbst und den anderen (bzw. »der Gesellschaft«) und damit die Möglichkeit, sich qua Perspektivenübernahme »mit den Augen der anderen« bzw. im Spiegel ihrer Erwartungen selbst zum Objekt zu machen (»Me«), durch die »objektive« Identität der Bedeutung signifikanten Symbole zu begründen bzw. zu erklären. Weil die Übernahme der Perspektive anderer das Selbst erst zu einem sich selbst reflektierenden und von der Welt abgrenzenden macht, und weil über diese Internalisierung äußerer Erwartun12 | Das Kürzel steht für: »Eye Movement Desensitizing and Reprocessing«, mit denen vermittels technisch induzierter Augenbewegungen der Patienten z.B. in der Trauma-Behandlung Umorganisationen der Hirntätigkeit angeregt werden sollen (vgl. Renn, Zielke 2006: 255f.).

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gen sich die Kompatibilität zwischen Ego und den sozialen Normen einstellen soll, interpretiert Mead die Identität der Bedeutung von signifikanten (bei ihm: Reaktionen und also Erwartungen denotierenden) Symbolen in einem strikten und dabei implizit naturalistischen Sinne als Reaktionsgleichheit.13 Das aber ist keine überzeugende Erklärung der Ontogenese, wenn diese als der Erwerb der Fähigkeit, sich im Lichte der sozialen Erwartungen selbst zu verstehen, verstanden werden soll. Denn aus der Gleichheit der Reaktion folgt die Gleichheit der Bedeutung der Symbole (bezogen auf die Perspektive von Ego und Alter), die für jene Reaktionen »stehen« sollen, nur unter der problematischen Voraussetzung, dass Ego und Alter diese Verbindung zwischen Zeichen und »Objekt« bereits auf »identische« Weise vornehmen (herstellen oder aus ihrem subjektiven Horizont »abrufen«), dass sie also nicht etwa mit den gleichen »tokens« (Zeichenvorkommnissen) unterschiedliche intentionale Implikationen oder sinnhafte Konnotationen (oder eben unbewusste Assoziationen) verbinden. Dass die Beteiligten identische Zeichendeutungen vornehmen, wäre allerdings nur dann als eine Vorbedingung (und nicht als ein Resultat!) sozialisatorischer Interaktion garantiert, wenn der Sinn des Zeichens ausschließlich in der direkten Bezugnahme auf ein äußeres (Zeichen-unabhängig identisches) Objekt oder Ereignis bestünde. Der Kerngehalt der Bedeutung von Symbolen besteht im Falle der sozialisierenden und individuierenden »Perspektivenübernahme« aber in der sozialen Beziehung zwischen Ego und Alter (bzw. in der Gesamtheit der normalen bzw. legitimen Erwartungen, die mit einzelnen, z.B. adressierenden Zeichenverwendungen verbunden sind). Die – z.B. für Honneth so zentrale – »intersubjektive« Reziprozität der Autonomie-Zuschreibung hat dabei auch einen »sprachpragmatischen« Sinn, der die Bedeutung der Symbole betrifft: Nicht nur darf das autonome »Subjekt« seine eigenen Überzeugungen haben und sich seine eigenen Eigenschaften zuschreiben und für diese Überzeugungen und Zuschreibungen Anerkennung verlangen, sondern die Autonomie betrifft auch die Freiheitsgrade 13 | Die Identität der Bedeutung ist für Mead die Identität der objektiven Verhaltensreaktionen, die mit der Verwendung eines signifikanten Symbols verknüpft ist, d.h. die Reaktion auf die Verwendung des Zeichens ist ein »response«, der selbst ein »äußerer« materieller Akt ist, dessen Identität – unabhängig von subjektiven »Vorstellungen« oder sinngebenden Assoziationen etc. – durch die Zustandsveränderung einer objektiven »Welt-Situation« definiert ist. Die Beziehungen zwischen Geste und Reaktion und resultierender Zustandsveränderung sind notwendig – also hinreichend stabil für allfällige Generalisierungen einzelner Inzidenzen – weil sie »mechanisch« ineinander greifen (vgl. Mead 1967: 77, und dazu: »Emergenz und aporetische Intersubjektivät: George Herbert Mead und die Aufgabe einer pragmatistischen Theorie der Subjekt-Genese« in diesem Band).

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der Interpretation des medialen Materials, in dem diese Überzeugungen und Zuschreibungen ausgedrückt werden können, d.h. die Freiheit zur individuierenden Symboldeutung als Funktion eines existentiellen, weil biographisch konstituierten Sinnhorizontes. Gerade im therapeutischen Kontext fällt ja auf, dass der individuelle Zusammenhang zwischen einer Zeichenbedeutung und den praktischen Implikationen, die das Vorkommen (die Äußerung) des Zeichens für die Person hat, einen intraspsychischen Assoziationshorizont darstellt, der im Falle zwanghafter Reaktionsbildung eben gerade nicht den Status eines zur freien Handlung befähigenden Umgangs mit intersubjektiven Konnotationen, sondern den einer idiosynkratischen Verknüpfung hat. Das »signifikante« Symbol ist im pathologischen Falle auffälliger Weise, im alltäglichen Modus auf implizite (praktisch erfahrbare) Weise, signifikant für die individuelle Geschichte der Konstitution eines existentiellen Horizontes des »subjektiven« Sinnes. »Gelingende« Individuation, was immer zu ihrer erschöpfenden Definition gehören mag, besteht deswegen eben nicht darin, dass subjektive Bedeutungsintentionen mit intersubjektiven Bedeutungskonventionen »verschmelzen«, sondern darin, die Anforderungen der »Intelligibilität« (also der »intersubjektiven« Nachvollziehbarkeit und der koordinierten sprachlichen Interaktion), mit dem Horizont eines individuierten, existentiellen Sinnes von Symbolen (immer wieder neu) ausbalancieren zu können. Die strikte Identität der Bedeutung, die von der Intersubjektivitätstheorie vorausgesetzt werden muss, um die Sozialisation zu erklären, stellt demgegenüber geradezu das Gegenteil der gelingenden Einheit von Sozialisation und Individuierung dar: Wenn nämlich nicht nur die soziale Achse der Identität der Bedeutung, die ein Zeichen für Ego und Alter hat, sondern auch die zeitliche Achse der Bedeutungsidentität, d.h. die Einheit der Bedeutung in der Sequenz einer Vielzahl der Verwendungen, eines Zeichens14 in Betracht gezogen wird, dann stellt sich die subjektive 14 | Wobei diese zeitliche Achse mit der sozialen Achsen aufs Engste verknüpft ist, insofern die Identität der Zeichenbedeutung (zwischen Ego und Alter) die Identität dieser Bedeutung in der Zeit voraussetzt (ganz einfach, weil Ego das Zeichen nicht nur einmal auf die gleiche Weise wie Alter deuten kann, sondern die Einheit der Bedeutung durch die Konsistenz der Regel der (wiederholten) Zeichenverwendung garantiert sein muss). Deshalb korrigiert z.B. die Habermas’sche Sprachphilosophie an der klassischen Vorlage eines »Bedeutungsplatonismus« zwar auf überzeugende Weise die subjektivistische Vorstellung einer rein intentionalen »Anamnesis«, die ideale Bedeutungen »aufruft«, und ebenso die ontologische Prätention, der zufolge Bedeutungen selbständig existierende »Entitäten« (eben: Ideen) sein sollen. Aber selbst in der von Habermas vertreten Version einer notwendigen, intersubjektiven Idealisierung der Bedeutungsidentität bleibt ein platonistischer Rest in Kraft, sofern Habermas aus dem Wittgenstein’schen Argument der notwendig »öffentlichen« Regelfolge nicht die Konsequenz der Hermeneutik zieht,

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Insistenz auf eine gegenüber besonderen Situationen unempfindliche Zeichenbedeutung als eine zwanghafte »Stereotypisierung« dar: Die unbewusste Beharrung darauf, in Reaktion auf ein Symbol (auf das Pferd des »kleinen Hans«) zwanghaft, also quasi mechanisch, weil somatisch verankert, eine (imaginäre oder reale) pathogene Szenerie des jeweils eigenen biographischen Horizontes (performativ und »projektiv«) zu »re-inszenieren«, ist z.B. nach Alfred Lorenzer das Symptom einer pathologischen »Sprachzerstörung« (Lorenzer 1970), in der sich eine zwanghaft affektive Reaktionsbildung ausdrückt, die »zwanghaft« ist, weil sie gegen Erfahrungen und Revisionen, gegen die Offenheit der Auslegung des Symbolsinnes »hier und jetzt« abgeschottet ist. An die Stelle der idiosynkratischen Stereotypisierung muss laut Lorenzer – therapeutisch angeregt – die »Rekonstruktion« der Fähigkeit treten, zwischen der unbewussten Assoziation von Symbol und idiosynkratischer Bedeutung und der »freien« Verwendung des nämlichen Symbols in situationsangemessener Flexibilität der Bezugnahme wieder unterscheiden zu können. Weil sowohl die Ausgangslage der Ontogenese als auch die »Zielgröße« einer gelingenden individuierenden Sozialisation also nicht durch die »Identität« der Bedeutung, sondern bestenfalls durch die Differenz von Differenz und Identität der Bedeutung von Zeichen und Symbolen charakterisiert werden müsste, reicht die objektive (»natürliche«) Gleichheit beobachtbarer Reaktionen nicht aus um die »Identität« der Bedeutung und damit die Reziprozität der Perspektiven zu erklären. Die hinreichende Übereinstimmung zwischen Ego und Alter in der Deutung von Zeichen (inklusive der Übereinstimmung, dass es keine volle Übereinstimmung gibt) muss selbst ein Resultat des Prozesses der Perspektivenübernahme sein, sodass klar wird: Mead und die ihm folgenden Theoretiker der »Intersubjektivität« erklären das ontogenetische Einrücken in »intersubjektive« Interpretationshorizonte und Normen über die Möglichkeit der »Perspektivenübernahme«, diese aber durch eines ihrer Resultate: durch die Übereinstimmung zwischen Ego und Alter bei der intentionalen Zuordnung von Zeichen (Symbol) und Bedeutung (praktische Folge der Zeichenverwendung). Aber diese Übereinstimmung ist das Ergebnis der Perspektivenübernahme, sodass jene diese nicht erklärt. Unverzichtbar ist es deshalb, zwei Modi bzw. Phasen der Intersubjektivität und damit auch zwei Modi der »Subjektivität« zu unterscheiden: einerseits die schon konstituierte, bereits ausgereifte Reziprozität der Perspektiven zwischen dass jede Anwendung des Zeichens – wie minutiös auch immer – die Bedeutung des Zeichens (durch situative Rekursionen zwischen der Einheit des Zeichens und der Vielheit seiner Verwendungen) verschiebt. Dieser Gedanke ist ausgeführt schon bei Gadamer (1975), und er taucht unter anderen Vorzeichen (ständige Bedeutungs-Substitution ohne »originale« Bedeutung in der Semiosis) in der »Dekonstruktion« wieder auf (vgl. Derrida 1974 und 1979; Butler 1998).

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»sozialisierten« und sprachfähigen Subjekten, die »intersubjektive« Horizonte und Erwartungen (mehr oder weniger übereinstimmend) teilen; andererseits aber die Ausgangslagen, aus denen heraus jene Reziprozität sich erst konstituieren (oder konstituiert werden) muss. In dieser Ausgangslage sind »Subjekte« bestenfalls »Protosubjekte«15, und es besteht »Intersubjektivität« höchstens in der Vorform einer performativ, durch sensomotorische Reziprozität vorbereiteten und in Form sozialer Routinen eingespielten konkreten, kooperativen Praxis. Die etablierte soziologische Intersubjektivitätstheorie hält sich jedoch in der Regel an die Reziprozität zwischen bereits ausgereiften, sozialisierten und sprachlich »kompetenten« Subjekten, die schon wechselseitig unterstellen (können!), dass sie in der Bedeutungs-Zuschreibung (praktisch hinreichend) übereinstimmen. Weder die gemeinsame Sprache, noch die ausgereifte intentionale Reflexivität »aussozialisierter« Subjekte können allerdings bei der theoretischen Analyse der Ontogenese vorausgesetzt bzw. in die Bedingungen der Ausgangslage hineinprojiziert werden. Die Verfechter des Intersubjektivismus in der Psychoanalyse überspringen jedoch diese – nicht nur metapsychologisch, sondern gerade für die hermeneutische Praxis der analytischen Mühe um individuelle »Triebgeschichten« zentrale – Dimension der Ausgangslage des Prozesses der Ontogenese, wenn sie sich bei ihrer antinaturalistischen Verteidigung der primären Intersubjektivität z.B. auf die Habermas’sche Konzeption »kommunikativer Reziprozität« berufen (Altmeyer, Thomä 2006: 27). Habermas selbst geht in seiner Erläuterung intersubjektiver Bedeutung sprachlicher Ausdrücke (als der primären Voraussetzung reziproker Kommunikation) explizit von »Standardbedingungen« der Sprechsituation aus (Habermas 1981, I: 400). Das Modell »diskursiver« (d.h. im Medium propositionaler Sprache und – wie Habermas meint – »identischer« Bedeutungen vollzogener) Kommunikation setzt kompetente Sprecher und zwischen ihnen übereinstimmendes »lebensweltliches« Sprach- bzw. Hintergrundwissen voraus. Aber diese Voraussetzungen charakterisieren weder die faktische Interaktion zwischen erwachsenen Personen (die stets »indexikalische« Bezüge »hier und jetzt« sowie Unschärfen der Bedeutung und individuelle Konnotationen verarbeiten 15 | »Proto«-Subjekte sind intentional agierende Teilnehmer an sozialer Praxis, denen aufgrund ihrer Teilnahme an dieser Praxis der Status eines grammatischen Subjekts von Sätzen, die Handlungen beschreiben, mit Recht zugesprochen werden kann, nicht aber schon die reflexive intentionale Ausrichtung auf diese Teilnahme als ihre eigene intentionale Teilnahme. Dass also bei Säuglingen intentionales Handeln (erwartendes, proaktives Reagieren) im Unterschied zu natürlich reguliertem Verhalten wie bei eusozialen Insekten vorliegt, ohne dass bereits ein »Kernselbst«, aufgeladen mit einer ursprünglichen »Ich-Identität« (Stern 1985), angenommen werden muss, ist erstens mit dem beobachtbaren Verhalten vereinbar (Dornes 1993) und muss zweitens vorausgesetzt werden, wenn denn aus Proto-Subjekten Subjekte sollen werden können.

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müssen) adäquat (was Habermas zugesteht: Habermas 1981, I: 150ff.; vgl. Renn 2006: 249ff.), noch liegen diese Voraussetzungen in der Ausgangslage vor, bei der mindestens ein »Teilnehmer«, z.B. der »kompetente Säugling« weder über Sprache, noch über explizites Hintergrundwissen, noch über ein diskursiv strukturiertes »Selbstkonzept« verfügt. Die Verteidiger einer intersubjektiven Psychoanalyse machen es sich an dieser Stelle mit dem theoretischen Modell der Sozialisation zu leicht, wenn sie der Habermas’schen Vorlage oder z.B. der Honneth’schen Theorie der »Anerkennung« folgen, die bezüglich der Bedeutungsidentität die gleiche Indifferenz an den Tag legen. Das betrifft nicht etwa nur das Problem des Spracherwerbs (und damit die Bedingung der Möglichkeit einer zwischen Ego und Alter übereinstimmenden Explikation bzw. Interpretation der sie tragenden sozialen Beziehung und der individuellen Affekte, inklusive »legitimer« Bedürfnisse). Sondern es betrifft vor allem die entscheidende Frage nach der Genese des individuellen »Selbst«. Das »Subjekt« in der Rolle des kompetenten Sprechers ist nicht mit dem »Proto«-Subjekt des heranwachsenden Kindes zu verwechseln (so auch kritisch gegenüber Honneth: Whitebook 2006: 349). Wie im Falle der Symbolbedeutung gilt auch für das »Subjektive«, dass die Intersubjektivitätstheorie dazu neigt, die Charakteristika eines schon sozialisierten Selbstverhältnisses, vor allem die zweifelsfrei Abgrenzung zwischen »Ich« und »Welt« bzw. zwischen Ego und anderen Personen bei gleichzeitiger »Verbundenheit« über geteilte Sprache und Normen, auf die Ausgangslage der Sozialisation zu projizieren. Auch das erklärt zum Teil die Prominenz der Thesen vom »kompetenten Säugling«, denn der Intersubjektivismus müsste, wenn er das »Subjektive« ausschließlich als Folge der Internalisierung »des Sozialen« (des intersubjektiv Übereinstimmenden) erklären wollte, Individualität auf Konventionalität, das Besondere auf das allgemeine Einzelne reduzieren (so argumentieren: Frank 1991 und Waldenfels 1980). Deshalb postuliert die intersubjektivistische Analyse, dass ein wesentliches Charakteristikum des Subjektiven, die »Ich«-»Welt«-Abgrenzung, in Gestalt des »Kernselbst« dem Säugling bereits zugesprochen werden könne (Stern 1985: 105; Honneth 2006: 321ff.). Aber selbst die vermeintlich empirische Evidenz solcher Charakteristika des aktiven Säuglings bleibt interpretationsabhängig und der projektive Rückschluss vom Ergebnis der Sozialisation auf vermeintlich beobachtbare Kompetenzen des Säuglings ist nicht gedeckt. Das zeigt schon die alternative Bestandsaufnahme vergleichbarer Beobachtungen von Kleinkindern (und ähnlichen Experimentalanlagen) bei Michael Tomasello: Denn Tomasello ist zwar weit entfernt von einer Neigung zur These eines »primären Narzissmus«, aber er setzt den Übergang des heranwachsenden Kindes in eine interne Erfahrung der Abgrenzung von »Ich« und »Welt« aufgrund eigener Beobachtungen von Kleinkind-Bezugsperson-Interaktionen deutlich später an (Tomasello 2011: 168ff.). Der entscheidende Punkt bei dieser Ich-Welt-Differen-

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zierung ist eben nicht nur die Unterscheidung zwischen dem eigenen Körper und davon getrennten »Dingen« (so als »enthielte« die sensomotorisch-performative Unterscheidung zwischen propriozeptiven und rezeptiven Erfahrungen selbst schon die Differenz zwischen »Subjekt« und »Objekt«).16 Und es dreht sich auch nicht allein um die Unterscheidung zwischen Wunsch und Objekt, sondern für die Rekonstruktion der Entwicklung eines »Selbst« und für den »subjektiven« Charakter der Ich-Welt-Unterscheidung ist die soziale Differenz ausschlaggebend: Die »Welt« unterscheidet sich vom »Ich« erst, wenn sie für ein anderes »Ich« auch eine (und zwar zunächst dieselbe) Welt ist, und wenn eben dies für das erste »Ich« intentional präsent wird (so auch: Cavell 2006). Subjektivität im Sinn der primären Ich-Abgrenzung impliziert somit den Zustand intentional realisierter »geteilter Intentionalität«. Darum ist es nach Tomasello, d.h. in der Perspektive einer sprachtheoretisch sensiblen, evolutionstheoretischen Ethologie, erst die »Neun-Monats-Revolution«, der beobachtbare Übergang des Kindes zur attentionalen Fokussierung auf Anzeichen fremder Intentionalität, die zur Zuschreibung kindlicher Intentionalitäts-Intentionen berechtigt (Tomasello 2002: 74ff.). Zwischen Ausgangslage und Resultat der individuierenden und sozialisierenden Ontogenese – um einer konsistenten Erklärung des Prozesses willen – angemessen zu unterscheiden, heißt also zwischen mindestens zwei Modi der Intersubjektivität und zwischen Modi der Subjektivität streng zu differenzieren: Der Modus einer primären Sozialität, in der das Kind noch kein Selbstverhältnis ausgebildet hat, sondern eher Teil des kooperativen Geschehens ist, unterscheidet sich strikt vom Status einer reflexiven Abgrenzung zwischen dem Ich und der Welt durch dieses Ich. Entscheidend gerade für eine intersubjektivistische Deutung der Individuation ist dabei der Wendepunkt zur »geteilten Intentionalität«. Diese kann man nicht in die Ausgangslage hinein projizieren, weil anderenfalls Explanans und Explanandum der Rekonstruktion der Ontogenese zusammenfallen. Wenn man also dem »Kernselbst« (Stern 1985) des Säuglings nicht schon zu viel an »intersubjektiver Subjektivität« andichten kann, so bedeutet dies allerdings z.B. für die intersubjektivistische, »relationale« Psychoanalyse keineswegs, zur klassischen These des »primären Narzissmus« zurück kehren zu müssen. Denn auch diese klassische These bleibt ja als ein Modell der Ausgangslage verzerrt durch die Rück-Projektion eines ausgebildeten, sozialisierten »Egoismus«, der narzisstischen Selbst-Beziehung, in das trieb- und lustgesteuerte »Subjekt« des Kleinkindes. Streng genommen ließe es die komplementäre Unterstellung einer primären »symbiotischen« Verschmelzung 16 | Die aufgrund von Beobachtungen des Verhaltens scheinbar zuschreibbare Unterscheidung zwischen Selbstwahrnehmung und Wahrnehmung »äußerer« Objekte ist eine Differenz »an sich« bzw. »für den Beobachter«, nicht aber (notwendigerweise) auch schon eine Unterscheidung »für sich«, die der Säugling selbst »vornimmt«.

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zwischen Kind und Bezugsperson (»Mutter« oder »Brust« etc.) gar nicht zu, von einer narzisstischen Selbstliebe zu sprechen, weil ja dieses Selbst, dass sich als ein Objekt begehrt, erst durch den Austritt aus der Symbiose entstehen kann. Modi der Intersubjektivität und Modi der Subjektivität müssen entlang der Differenz zwischen einer »fungierenden« Intentionalität (Husserl) und einer reflexiven Intentionalität unterschieden werden: Zunächst – so muss eine nicht zirkuläre Rekonstruktion der Subjekt-Genese unterstellen – ist der Säugling (wie Mead selbst es angedeutet) hat, »Teil seiner eigenen Umwelt«, also weder faktisch noch intentional (oder auch »bewusst«) von der Welt getrennt. Ohne Zweifel ist das just geborene Kind dabei ein »intentionales« Wesen, weil Bestrebungen, Begehren und »Spannungszustände«, die der »Abfuhr« bedürfen, kaum geleugnet werden können und weil der Übergang zur reflexiven Intentionalität, zur intentionalen Ausrichtung an (eigenen und fremden) Intentionen gerade an diesem Prototypen einer zeitlichen Aufgespanntheit der »Existenz« (Heidegger 1984; vgl. Binswanger 1947 und Sonnemann 1981) einen Kristallisationspunkt finden kann. »Geteilte Intentionalität« (Tomasello), als subjektive Orientierungsdimension des »Intersubjektiven«, besteht allerdings nicht einfach in der »an sich« bzw. faktisch vorliegenden simultanen Ausrichtung zweier (fungierend) intentionaler Wesen auf »dasselbe«, sondern in der Verbindung aus Triangulation und reflexiver Intention auf diese Triangulation. Eine Theorie der Subjekt-Genese muss also deutlicher als die konventionelle »Intersubjektivitätstheorie« unterscheiden zwischen 1) der Teilhabe an einer gemeinsamen Praxis, die von praktisch eingebundenen Intentionen (»Erwartungen an sich«) begleitet wird und 2) dem intentionalen Bewusstsein von diesen Intentionen und den Intentionen anderer, sowie deren Differenz. Es ist diese Unterscheidung, die in der problematischen intersubjektivistischen Rückprojektion des Subjektcharakters des »kompetenten Säuglings« unter dem Titel des »Kernselbst« in die Ausganslage der Persönlichkeitsbildung unterschlagen wird. Für die Metapsychologie einer relationalen oder intersubjektiven Psychoanalyse, aber auch für eine pragmatistische Soziologie der Subjekt-Genese, bedeutet die sachgerechte Vermeidung von projektiven Entstellungen der Ausgangslage vielleicht eine moderate Rehabilitierungen von gewissen Aspekten der kritisierten, klassischen Psychoanalyse: Dass die Abnabelung des Neugeborenen eine Trennung bedeutet, bei der »objektiv« vom ersten Atemzug des Säuglings an nun zwei »Organismen« mit ihrer jeweils separaten Eigenorganisation existieren, ohne dass diese Differenzierung in der affektiven Orientierung, der »fungierenden« Intentionalität des Kindes schon »angekommen« ist oder für es gar symbolisch verfügbar wäre, erlaubt es womöglich doch, von einer primär symbiotischen Ausgangslage zu sprechen. Diese Symbiose ist schon deshalb ab origo nur bedingt eine natürliche Lage, sofern die Asymmetrie zwischen Kind und versorgender erwachsener Person auf der Seite der letzteren eine notwendig kontingente, immer kulturell und normativ erschlossene

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und garantierte Versorgungsbereitschaft (nicht nur »instinktive« Fürsorge) erfordert. Sie wäre aber mit Bezug auf das Kind nicht durch eine »narzisstische« Orientierung zu kennzeichnen, da eine solche Kennzeichnung eine mit der klassischen Intersubjektivitätstheorie vergleichbare (wenn auch cartesianische) Projektion subjektiver Selbigkeit bedeuten würde. Was sollte außerdem – abgesehen vom vielleicht begründeten Kulturpessimismus moderner Interpreten vermeintlich typischer Personenformate (Lasch 1995) – Anlass dafür geben, die Geburt als eine universal traumatische Erfahrung zu interpretieren, wenn man bedenkt, dass der Verlust der Eingeschmolzenheit in den nährenden Leib mit dem Austritt ans Licht der Welt belohnt wird. Klar ist, dass sich mit der Geburt neue Risiken der Versagung einstellen und dass dem Säugling ein langer und konfliktreicher Weg durch eine Kette von Differenzierungsschüben bevorsteht. Unklar bleibt jedoch auch – oder gerade im Kontext intersubjektivitätstheoretischer Erklärungen immer noch – wie denn »Subjektivität« als individuelle Intentionalität aus der Ausgangslage des »kompetenten«, aber vollständig »Ich-losen« Säuglings hervorgehen soll.

IV. I nteriorisierung und I ntr ansparenz : E in hermeneutisch - pr agmatistischer Z ugang Dunkel und zirkulär, beinahe untergeschoben wirkt auf einmal das Selbst der Person in der intersubjektivistischen Auffassung der Ontogenese, gerade weil diese Auffassung die Voraussetzung eines reflexiven Ego, das schon zu Beginn der Sozialisation gegeben wäre, klar bestimmte Intentionen (Absichten, Wünsche wie Vorstellungen und Objektauffassungen) hätte und von dort aus sekundär soziale Beziehungen aufnähme, mit guten Gründen von sich weist. Die hier vorgebrachten Zweifel an der Tragfähigkeit der klassischen Intersubjektivitätstheorie lassen sich auf eine Formel bringen: Sowohl das Prinzip der »Identität« der Bedeutung von Symbolen (als den »Trägern« des kommunikativen Austausches und der »Perspektivenübernahme«) als auch die Unterstellung eines »Kernselbst«, die das eigentliche Explanandum: Die Selbstbezüglichkeit des Bewusstseins und »das Selbst« als eine reflexive – nicht nur rekursive – Beziehung zu dieser Beziehung selbst zum tragenden Element der Erklärung macht, werden in der klassischen Theorie der Intersubjektivität auf zirkuläre Weise ins Spiel gebracht. Den systematischen Kern des Problems bildet darin die ungedeckte Identifikation von »Internalisierung« und »Interiorisierung«. Der Intersubjektivismus suggeriert, dass die Erklärung der Mechanismen der psychischen Internalisierung zugleich die Bildung der intrapsychischen Einheit der Intentionalität des ego, »in das« bzw. »von dem« etwas internalisiert werde, erklärt. Vorbild bleibt Mead, der die Genese des »Selbst« durch die Perspektivenübernahme erklärt, die jedoch ihrerseits die Fähigkeit zur Perspekti-

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venübernahme (oder aber eine naturalistische Reduktion der Bedeutung signifikanter Symbole) voraussetzt. Erst wenn man zwischen der Internalisierung »äußerer«, sozialer Erwartungen, Normen und Zeicheninterpretationen und der Ausbildung eines abgegrenzten »Innen«, in »das hinein« irgendetwas von irgendjemandem (der oder die durch dieses Innere definiert, weil »abgegrenzt« wäre) »internalisiert« werden könnte, klar und konsequent unterscheidet, zeigt sich sowohl das Problem der zirkulären Erklärung der Ontogenese als auch die Aufgabe, die einer Theorie der Subjekt-Genese gestellt ist. Das zu erklärende Phänomen besteht nicht darin, wie »die Welt in den Kopf hinein« kommt, obwohl auch die Literatur der intersubjektiven Psychoanalyse sich zu dieser Formulierung nach wie vor gerne verführen lässt, sondern darin, wie »der Kopf aus der Welt herauskommt«. Die »Welt« verändert sich dabei selbst, denn sie muss von etwas, »in dem« die Person als Teil dieser Welt agiert, zum »Objektpol« einer Differenzierung zwischen »Ich« und »Welt« erst werden. Performativ, d.h. agierend und rezeptiv (zugleich) ist der kompetente Säugling als vorerst nur körperlich abgegrenzter, »leiblich«, somatisch und psychisch aber »fusionierter« Teil selbst ein Moment von eingespielten performativen Routinen und also »symbiotisch« in die erste Form der Welt eingelassen. Aus dieser Symbiose müssen die Person und die Welt gleichermaßen erst noch heraus differenziert werden. Den Keim dieser Ausdifferenzierung legt in der Regel die Asymmetrie, die zwischen dem kompetenten Säugling und den Bezugspersonen besteht, denn letztere verfügen in ihrer Performanz bereits über einen differenzierten »Weltzugang«, indem sie ihre performative Fusion mit dem Säugling bereits übersetzen in die entwickelte Intentionalität zweiter Ordnung, in die intentionale, aber noch »projektive« Zuschreibung von »Intentionen«, die sie dem Kind unterlegen, um langfristig damit der Plastizität17 der noch unentfalteten kindlichen Intentionalität einen Attraktor zu geben. Insofern ist die »geteilte« Intentionalität, von der Tomasello ausgeht (Tomasello 2011) auf mehrfache Weise »geteilt«: In der symbiotischen Lage teilen Kind und Erwachsene die leibliche Verankerung der fungierenden Intentionalität in der performativen Sequenz einer kooperativen Praxis, ohne dass sich auf der Seite des Kindes dessen Intentionalität schon in 17 | An dieser Stelle kann auch eine hermeneutisch-pragmatische Theorie der Subjekt-Genese ohne Scheu darauf hinweisen, dass diese »Plastizität« in einem evolutionstheoretischen Sinne in einen Zusammenhang zu bringen wäre mit gattungsspezifischen »Ausstattungen« (auch wenn diese Voraussetzungen nicht mit kausalen Gründen und jener Zusammenhang nicht mit einer teleologischen Entwicklung verwechselt werden dürfen). Dass die Anregungen des Attraktors der »geteilten Intentionalität« auf der Seite der Erwachsenen in der Potentialität der Kompetenzen des Säuglings überhaupt auf Resonanz stoßen können, hat mit der Komplexität des menschlichen Gehirns und der »synaptischen Plastizität« sicher etwas zu tun (vgl. Ansermet, Magistretti 2005: 64ff.).

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einerseits »fungierende« und andererseits »reflektierende« Intentionalität geteilt hätte. Erst wenn diese innere Teilung, als Moment der »Interiorisierung« sich angebahnt hat (»Neunmonatsrevolution«), entwickelt sich die »geteilte« Intentionalität im Sinne einer Triangulation zwischen getrennten Bewusstseinsimmanenzen und »objektiver« Welt, an der sich die »Intersubjektivität« geteilter Bedeutungsintentionen und hinreichend gemeinsamer expliziter, sprachlicher Konzeptualisierungen aufrichten kann. In diesem Sinne wäre der Begriff der »Interiorisierung« – im Unterschied zur diesbezüglich mehrdeutigen »Internalisierung« – als Bezeichnung des Prozesses der Ausdifferenzierung von Subjektivität aus der primären performativen Einheit einer praktischen Interaktion von asymmetrisch strukturierten Beteiligten (Nachwachsende und Erwachsene) zu verstehen und damit als Bezeichnung für die vorrangige Erklärungsaufgabe einer Theorie der »Subjektgenese«. An »wen«, so muss die erste Frage lauten, soll sich die soziale Beziehung, die kommunikativ adressierte Erwartung, aus der ein Subjekt erst entsteht, richten, wenn da zuvor kein Subjekt ist? Und worin, so lautet sogleich die nächste Frage, besteht dann überhaupt »sozialisierte« Subjektivität und (womöglich »gelingende«) Individuierung? Sobald die »intersubjektive Wende« der Psychoanalyse im Lichte der Einwände gegen den klassischen Intersubjektivismus modifiziert wird, profitiert umgekehrt die soziologische Theorie vom Eigensinn der psychoanalytischen Erschließung des Problembewusstseins, weil die Psychoanalyse im Unterschied zur Soziologie das Explanans einer Theorie der Subjektgenese im Horizont der individuierenden Hermeneutik des therapeutischen Referenzgeschehens erschließt. Die Frage, worin genau die Subjektwerdung besteht, was ihr Ergebnis im Lichte des normativen Konzepts einer gelingenden Persönlichkeitsentwicklung wäre, nimmt vor dem Hintergrund des klinischen Erkenntnisinteresses eine andere Form an als im Horizont gesellschaftstheoretischer Strukturmodelle. Und zwar deshalb, weil die Soziologie in der Regel soziale Subjektformate, institutionalisierte Formatierungen von »Individualität« überhaupt, in ihrem Zusammenhang mit gesellschaftlichen Formen der Koordination von Handlungen analysiert (z.B.: Hahn, Bohn 1999), während die Psychoanalyse als Nahaufnahme der praktischen Verstrickung von Personen in die Geschichte ihrer Affekte und Beziehungen selbst eine performative Bezugnahme auf die Person als Person darstellt. Weil die Psychoanalyse als therapeutische Praxis in die Selbstdarstellung der Person performativ verstrickt bleibt, ist sie anders als die (typische) Soziologie – vermittelt durch die Dynamik von Übertragung und Gegenübertragung (Ogden 2006), symptomatisch in der Entzifferung der »Traumarbeit« (Freud 1990: 79ff. und 175ff.; Ricœur 1974: 163ff.) – der Genese des Subjekts (und möglicher Fehlverläufe der Genese) auf dem Wege der Entschlüsselung der individuellen Differenz in der Symbolbedeutung auf der Spur. Mit Rücksicht auf diesen Zugang zur Person und

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ihren Selbstverhältnissen wird schließlich deutlich, warum und mit welchem Ertrag nun auch die Soziologie sich der Kategorie des Unbewussten stärker als in den klassischen und etablierten Analysen der Individuation annehmen sollte. Wenn nämlich – im Kontrast zu den Implikationen des Intersubjektivismus – die »gelingende« Subjektgenese im unauflöslichen Spannungsfeld zwischen Sozialisation und Individuierung bleiben muss, dann bezeichnet die Kategorie des Unbewussten nicht den intrapsychischen Raum einer per se pathogenen Verhinderung von Selbst-Transparenz (für andere und für die Person selbst) – so als wäre das Ziel der Subjektwerdung die restlose, intersubjektive Identifizierung der Person (wo »Es« war, soll »Ich« werden?). Das »Unbewusste« steht vielmehr für die identitätstheoretisch grundlegende Einsicht, dass die psychische wie soziale Anerkennung der Autonomie der Person die Anerkennung der Intransparenz der Person einschließt. Anerkannt individuelle Autonomie bedeutet also nicht intersubjektive »Identität« der Formatierung der Person durch Zuordnung allgemeiner Merkmale und Eigenschaften (wobei die Bezeichnungen dieser Merkmale intersubjektiv »identische« Bedeutungen hätten) einschließlich Anerkennung partikular gültiger aber allgemein formatierter »Selbst-Beschreibungen« und »-Festlegungen«, sondern transparente Intransparenz der impliziten Eigenartigkeit der unvertretbaren, weil individuellen (»jemeinigen«) Person.18 Was die Psychoanalyse damit der klassischen Intersubjektivitätstheorie und der Soziologie ans Herz legen könnte, ja sollte, und aus Gründen ihres sehr spezifischen praktischen Auftrages müsste, ist das Motiv der untilgbaren 18 | Die normative Auszeichnung einer nicht-pathologischen Persönlichkeits-»Struktur« hält im Horizont der Psychoanalyse, anders als z.B. im Theorieprogramm Axel Honneths, den Abstand zu universalistischen Generalisierungen deshalb ein, weil die metapsychologische Theoriebildung zwar Kriterien des Pathologischen (klinisch) definiert, diese Definitionen in der therapeutischen Praxis jedoch zurückübersetzt in die konkrete, hermeneutische Rekonstruktion individueller Einschränkungen der Beziehungs-, Leistungs- und Lustfähigkeit der Person und in eine entsprechende, nämlich situativ konkretisierte »Behandlung«. Das Problem der Begründung normativer Maßstäbe zur Beurteilung »entfremdeter« Lebensformen tritt insofern durch die Distanz zum Programm einer universalistischen Artikulation gar nicht auf. Im Gegenteil zeigt die therapeutische Praxis, dass »gelungene« Sozialisation kein verallgemeinerungs-pflichtiges Muster bildet. Denn sie kann nicht einfach nur in der Übernahme von Normen, Erwartungen und sozialen wie sprachlichen Konventionen durch die Person bestehen. Im Gegenteil zeigt die hermeneutische Erschließung des Einzelfalls, dass eine Person, die sich ohne Spur ihrer Eigenheit ausschließlich konventionell verhielte, psychoanalytisch als auffällig gelten müsste: an Stelle einer zurechnungsfähigen Person stünde hier eine Person, die zwischen den Klischees und den Überanpassungen an das sozial Erwünschte verschwindet.

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Intransparenz des Selbst, einer Intransparenz des Selbst allerdings, die es in der Perspektive der Theorie der Subjekt-Genese für sich selbst und für andere zuerst ausbilden bzw. erwerben und dann aufrechterhalten muss. Die Anerkennung der Intransparenz macht (für Ego wie für Alter) transparent, dass die Person (für Ego und Alter) intransparent ist. Das Medium in dem sich diese Intransparenz zeigen und in dem sie transparent und anerkannt werden kann, ist die Sprache, sobald die hermeneutische Arbeit am Symbol nicht mehr unter die Maxime der »Identität« der Bedeutung gezwungen wird, die der klassischen Intersubjektivitätstheorie zugleich ein starkes Argument und ein großes Problem beschert. Die Ausdifferenzierung des subjektiven (individuellen) Selbstverhältnisses zeigt sich in der Differenzierung zwischen der »intersubjektiven« Standardbedeutung des Symbols (und der Norm) und seinen (und ihren), in praktischen Verwendungen des Zeichens konkret ausagierten, individuellen Sinnhorizonten, die dem Symbol (und der Norm) einen sowohl individuellen als auch individuierenden »Kometenschweif« an Konnotationen gibt. Diese Anerkennung der Intransparenz impliziert indessen nicht allein die Aufgabe einer kognitiven Einsicht in die referentielle Unbestimmtheit von sprachlichen Identifizierungen einer Person, sondern sie umfasst eben auch die affektive Seite der Fähigkeit, die Unstillbarkeit des Begehrens nach verschmelzender Identifizierung mit der intersubjektiv expliziten Bestimmung der eigenen Person zu ertragen, ohne die eigene Beziehungs- und Lustfähigkeit einzubüßen.19 Das »Unbewusste« markiert also eine doppelte notwendige Unerreichbarkeit der individuellen Person: Die »intersubjektive« Explikation der personalen Identität übersetzt zum einen die fungierende Intentionalität des Ego, die sich performativ »zeigt«, in immer unvollkommene Bestimmungen der Person (Eigenschaften und Merkmale); und die normative Anerkennung der Gründe für das Handeln der Person übersetzt das jeweils individuelle affektive Begehren in generalisierte Formate möglichst sozial legitimierter Re19 | Die Formel einer »transparenten Intransparenz« hat durch den Bezug zur Dimension intersubjektiv bzw. sozial anerkennungswürdiger Bedürfnisse also auch normative Implikationen. Wenn die Differenz zwischen einem pathologischen und einem »authentischen « Selbstverhältnis der Einzelperson, die Differenz zwischen Selbsttäuschung und Selbstbestimmung, pathetisch formuliert zwischen Heteronomie und Autonomie, im Lichte des Intersubjektivismus theoretisch überhaupt noch sinnvoll (ohne unzulässige Universalisierung materieller, also kontextspezifischer Charakterisierungen des »guten Lebens «) in Anspruch genommen werden können soll, dann geht das nur durch die paradoxe Formalisierung des Nicht-Formalisierbaren: durch die allgemeine Anerkennungswürdigkeit der Nicht-Verallgemeinerungsfähigkeit des »Nicht-Identischen « (Adorno), die sich sozial wie psychisch in der Figur einer transparenten, also auffälligen und adressierbaren, erwartbaren und akzeptierten Intransparenz der »inneren Person « ausdrückt.

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geln der interpersonalen Beziehungen. Auf der praktischen Ebene, auf der sich die explizite Bedeutung und der individuelle Sinn des Symbols und der Norm »treffen«, bleiben also Motive der Person in dem Sinne »unbewusst«, dass sie sowohl für die Person als auch für andere in »sichtbarer« Weise durch die Übersetzung in intersubjektiv standardisierte Explikationen der Person und ihrer »Motive« nicht vollständig transparent werden können (und müssen). Rezente Versuche in der Soziologie, das Paradigma des »rationalen Akteurs« als Modell-Subjekt etablierter Handlungstheorien durch erneuerte Aufmerksamkeit für die Rolle von »Emotionen« zu ergänzen, bleiben demgegenüber allzu stark an einer kognitivistischen Auffassung von Affekten haften. Von der symbolischen Dimension der Interpretation von Gefühlen als Motive des Handelns ist dort kaum die Rede, schon weil Emotionen gegen »rationale« Erwägungen als kausale Gründe für Handlungen ins Spiel gebracht werden (Cook, Harkness 2010; vgl. kritisch dazu: Schützeichel 2010). Die Psychoanalyse geht demgegenüber von vornherein davon aus, dass mögliche »Triebe« psychisch in Symbolisierungen repräsentiert (d.h. erschlossen) werden, dass Affekte also auf dem Weg vom physiologischen Drang zur intrapsychischen Effektivität interpretiert werden, und dass schließlich bewusste wie »intersubjektiv« formierte Artikulationen und Legitimationen von »emotionalen Gründen« notwendig einigen (erfahrbaren) Abstand zu unbewussten Motiven behalten. Dass die Person sich selbst und anderen intransparent bleibt, hat deshalb hinsichtlich der affektiven Seite von Motiven des Handelns auch den Sinn, dass sich jenseits des instrumentellen Handelns und der rationalen Legitimation von Handlungsgründen in der Praxis der Person ihre »existentiellen« Motive nur indirekt, und wenn, dann selektiv in »intersubjektiv«-explizite Sprache übersetzt, bemerkbar machen. Die »Affekte« sind der Person nicht als Gegenstand bewusster, kognitiver Selbstwahrnehmung gegeben, sondern ihre intentionale Präsenz vollzieht sich primär im Modus einer intrapsychischen »Zuhandenheit«, in einer Gegebenheit des Begehrens im Modus praktischer Gewissheit (Binswanger 1947; vgl. Sonnemann 1981: 97ff.).20 Deshalb bleiben Motive der Person gemessen am Format expliziter, sprachlich bestimmter und begründungsfähiger Artikulationen von Affekten und Gründen des Handelns »intransparent«, nicht nur wenn und sofern gesellschaftliche Normen gewisse Formen des Begehrens ächten und deshalb der intrapsychischen Zensur unterwerfen (die sich durch Abwehr und Verdrängung dem Bewusstsein der Person entzieht), wie im prominenten Fall des Inzesttabus. Sondern intransparent 20 | Ulrich Sonnemann spricht mit Aussicht auf Binswangers daseinsanalytische bzw. »existentielle« Psychologie von einem »domestizierten« Heidegger (Sonnemann 1981: 97). Das heißt u.a., dass in der psychoanalytischen Fassung einer Theorie des »In-derWelt-Seins« und der »Sorge« als den primären Modi des Weltzugangs die bei Heidegger konstitutive, radikale Marginalisierung der sozialen Beziehung entschärft wird.

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(d.h. in diesem Sinne unbewusst) bleiben affektive Veranlassungen insofern immer, als für die Person ihre eigene subjektive Individualität an der Differenz zwischen ihrer praktischen Selbstgegebenheit und den expliziten Formaten der sozialen Zuschreibung von möglichen Gründen erfahrbar wird. Nicht nur im »pathologischen« Falle, sondern unter der Bedingung ausdifferenzierter subjektiver Intentionalität, erfährt die Person, dass die von anderen und von ihr selbst auf Nachfrage gegebenen expliziten Bestimmungen ihrer eigenen Gründe und Motive die fungierende Intentionalität ihrer Performanz und den subjektiven Horizont des Sinnes der fraglichen Handlung nicht vollständig »einholen« kann. Transparent wird die Intransparenz der individuellen Person wenn die Unvollständigkeit der Repräsentation ihrer intentionalen »Innenansicht« und ihrer performativen »Äußerung« durchschaut wird und wenn die Artikulation dieser Intentionalität und dieser Performanz als eine (Sinn-transformierende) Übersetzung in »intersubjektiv« intelligible Bestimmungen (und eben nicht als eine adäquat repräsentierende Übertragung von Affekten in sprachliche Konzepte) erkannt und anerkannt werden. Die Skizzierung einer solchen transparenten Intransparenz ist natürlich nicht einmal die halbe Erklärung der Subjekt-Genese, sondern bestenfalls die Andeutung einer aus der Erfahrung der Psychoanalyse (und einer selbstkritischen Soziologie) zu gewinnendenden Charakterisierung der Zielgröße dieser Subjekt-Genese. Aber die Formulierung des Problems (der Erklärung) kann zumindest die Aufgabenstellung einer solchen Erklärung präzisieren helfen. Die Aufgabe einer Theorie der Subjekt-Genese besteht demnach in der Rekonstruktion der »Interiorisierung« als einer Ausdifferenzierung des Subjektiven, das sich als »intersubjektiv« übersetzbare und dabei psychisch-intentional intransparente selbstreferentielle Intentionalität überhaupt erst entfalten und dann als Intransparenz transparent (und anerkennungswürdig) werden muss. Die Psychoanalyse steuert zur Theorie der Subjektgenese unter dem Titel des »Unbewussten« insofern Wesentliches bei, als die soziologische Beschränkung des Problems der »Intransparenz« auf die Unerreichbarkeit des »Innenlebens« der Person von außen korrigiert gehört. Das paradigmatische Modell der basalen Probleme der Handlungs-Koordination in der Soziologie ist die »doppelte Kontingenz« zwischen Ego und Alter, die beide voneinander nicht wissen können, was genau sie tun werden bzw. beabsichtigen. Über den Begriff der »subjektiven« Sinnkonstitution ist in die soziologische Handlungsund Kommunikationstheorie an dieser Stelle ein (klassisch) phänomenologischer Begriff der »Intransparenz« des subjektiven Sinns importiert worden (Schütz 1974; Luhmann 1984: 93ff.). Getreu der Husserl’schen Maxime, dass die introspektive Analyse subjektiver Sinnkonstitution keine unbewussten Inhalte des Bewusstseins kennt (höchstens Sedimente vergangener intentionaler, also ehedem bewusster Akte, die sich in der »passiven Synthesis« bei der inneren Konstitution von »Noemata« bemerkbar machen, vgl. dazu: Ricœur 1974:

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352ff.), ist die Intransparenz des »Ego« immer die Intransparenz von Ego für Alter.21 Die für alle Phänomenologie selbstverständliche Fremdheit des anderen Ego, markiert aber nur das halbe Problem der soziologisch interessanten Unbestimmbarkeit der »wirklichen« subjektiven Motive des Handelns, denn die transparente Intransparenz des Selbst bezeichnet neben der klassischen Exposition des Problems der Intersubjektivität (d.h. des reziproken »Fremdverstehens«), dass das Selbst für dieses Selbst selbst intransparent bleibt. Diese Intransparenz bleibt fundamental, sofern sich die Individualität der Person performativ als Differenz zur intersubjektiven und (der Person selbst) bewussten Explikation der Motive und der Merkmale der Person bemerkbar macht. Anders als es der klassische psychoanalytische Imperativ, dass dort wo Es war, Ich (ein Ich als dieses explizit bestimmte Ich) sein solle, vermuten, ja hoffen ließ, ist diese Intransparenz auf dem Weg zu einem authentischen, zu einem nicht verstellten Selbstverhältnis nicht aufzulösen. Die »rationale« Zurechnungsfähigkeit und »gelingende« Identitätsbildung der Person bedeutet nicht etwa die Auflösung der Intransparenz, sondern die Überführung heteronomer, weil unbemerkter Bindungen an unbewusste Motive in die Einsicht in die unaufhebbare Intransparenz des Egos für andere und für es selbst.22 Diese Einsicht wäre, als Index »gelingender« Identitätsbildung, nicht zu verwechseln mit einer re21 | Vgl. aber zur Gegenbewegung innerhalb der Phänomenologie, die im Unterschied zu Husserl die Intransparenz des »Alter Ego« nicht allein als ein kognitives (bzw. konstitutionslogisches) Problem der Erreichbarkeit »fremder« Sinnkonstitution zum Thema macht, sondern aus dem Phänomen der Transzendenz des anderen normative Implikationen herauszuholen versucht: Lévinas 1987. 22 | Der Ausgang aus nicht durchschauter Heteronomie führt nicht in die vermeintlich verfügbare Volldurchsichtigkeit des »rationalen Subjekts « als dem Souverän all seiner Regungen, so als wäre die undurchschaute Beherrschung des Subjekts durch »fremde« Mächte zu ersetzen durch eine vollständige Herrschaft der Person über sich selbst. Das Ziel der (psycho-)analytischen Arbeit am Selbstverhältnis ist nicht die autonome Selbstbehauptung, die sich aller Bindung an anderes, an andere und an die notwendig unverfügbare Vergangenheit der Biographie entschlagen könnte. Von Adorno wurde in Reaktion auf den »Identitätszwang « – wie er glaubte auf den gesellschaftlich restlos herrschenden Imperativ zur Subsumtion – radikal geltend gemacht, dass die Überwindung der Ohnmacht des Subjekts durch die Aufrichtung einer Herrschaft über sich selbst eine »abstrakte Negation « des gesellschaftlichen Zwangs bleibe. Die »Selbstbestimmung « als »Selbstbeherrschung« ist dem Zwang noch immer funktional zugeordnet, weil hier die Innenseite der subjektiven Lebensfähigkeit an die Außenseite ihrer Arbeitsfähigkeit angepasst ist (Horkheimer, Adorno 1988). Familienähnlich argumentiert später bekanntlich Foucault in seiner Kritik an der Subjektivitätsnorm der Aufklärung, auch wenn er gerade die Kritik an der Trieb-Repression selbst noch einmal als Form der repressiven Subjektivierung durch diskursive Verallgemeinerung kritisiert (Foucault 1983).

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signativen Aufgabe des (modernen) Projektes der individuellen und intersubjektiv anerkennungswürdigen »Selbstbestimmung«, sondern sie würde dem Konzept der »Selbstbestimmung« z.B. im Unterschied zu deontologischen Konzeptionen praktischer Vernunft einen weniger kognitivistischen Sinn geben (vgl. Straub 2002: 99ff.). Schon aus konstitutionslogischen Gründen kann der Intersubjektivismus die Subjektivität der Person nicht zugleich unterstellen und genetisch aus der »Internalisierung« intersubjektiven Sinns ableiten. Unterscheiden wir aber zwischen der primären Sozialität der Ausgangslage der Ontogenese und dem Sprachspiel der expliziten Kommunikation von sozialisierten »Subjekten«, dann wird es möglich die Ausdifferenzierung subjektiver Intentionalität aus einer performativen Symbiose als Ausdifferenzierung von Sinnhorizonten zu rekonstruieren. Auf der Verzweigung der Symbolbedeutung in »intersubjektive« Konventionen und subjektive Konnotationen baut die »Interiorisierung« auf, die den intrapsychischen Raum intransparenter Sinn- und Motivhorizonte überhaupt erst erschließt, bevor überhaupt eine »Internalisierung« sozialer Normen, eine affektive Introjizierung sozialer Imperative in Form des Gewissens und schließlich intrapsychische Konflikte zwischen angeeigneter sozialer Forderung und egozentrischem Begehren (Hirsch 2012: 92ff.) möglich werden. Die transparente Intransparenz fällt als Symptom der Genese eines ausdifferenzierten individuellen Selbstverhältnisses auch der Soziologie an der Verwendung von Symbolen auf, wenn sie mit der psychoanalytischen Hermeneutik sensibel wird für die Differenz zwischen der sprachlichen Explikation der Person (bzw. ihrer Taten) und den praktischen Performanzen, in denen sich die individuelle Differenz des symbolischen Sinnes indirekt »zeigt«. Was das Individuum und seine Bezugspersonen, was die Psychoanalytikerin in praxi und die soziologische Theorie konzeptuell also anerkennen, wenn sie von der transparenten Intransparenz der Person ausgehen, ist das Faktum, dass die explizite Bezugnahme auf Personen immer eine selektive und unvollständige, Sinn transformierende Übersetzung subjektiv-intentionaler Sinnhorizonte bleibt.

V. M e tamorphosen des S ymbolischen und A usdifferenzierung des S elbst Der Schlüssel zur Entzifferung der Dramatik der Ausdifferenzierung subjektiver Interiorität liegt in der Vielfalt der Dimensionen der »Bedeutung« des Symbols. Das Symbol »steht für etwas«, aber der Sinn dieser Stellvertretung variiert je nach symboltheoretischer Auffassung ausgesprochen stark. Das Spektrum spannt sich auf von einem repräsentationalistischen Ende, an dem das Symbol als Name für einen bestimmten, sprachunabhängig identifizierten Gegenstand steht, bis zum anderen Ende, an dem das Symbol gar keine Referenz, sondern nur mehr einen Wert im Netz semiotischer Differenzen zu-

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gesprochen bekommt. Man darf die unübersichtliche Vielfalt der Symboltheorien (Ricœur 1974: 15ff.; Schütz 1971; Piaget 1991: 146ff.) getrost überspringen, sofern es bei der Rolle des Zeichens für die Subjekt-Genese bzw. für die »Interiorisierung« nicht um eine dogmatische Festlegung auf eine monochrome Symboltheorie gehen kann, sondern nur um die erste Skizze einer genetischen Folge von Symbolmodi, bei der sich die Ausdifferenzierung des Subjektiven in der Ausdifferenzierung der intentionalen Auffassung des Verhältnisses zwischen dem Symbol und dem, »wofür« es steht, manifestiert. Der Interiorisierung der subjektiven Intentionalität entspricht, grob gesprochen, ein strukturierter Übergang von der Verwechslung des Zeichens mit der Sache selbst über einige Zwischenstufen bis zum Bewusstsein der Unbestimmtheit (bzw. der Unbestimmbarkeit) der Bedeutung des Symbols.23 Alternative Auffassungen darüber, was ein Symbol sei, lassen sich also als Teiltheorien begreifen, die jeweils einzelne Phasen einer Entwicklung auf den Begriff bringen. Nicht das Symbol an sich hat entweder diese oder eine andere Struktur im Verhältnis zum Symbolisierten, sondern die Charakterisierungen dieser alternativen Verhältnisse können als Interpretationen verschiedener Differenzierungsgrade, die die intentionale Ausrichtung auf Symbole durchläuft, verstanden werden. In diesem Sinne lässt sich, wenigstens skizzenhaft, die Interiorisierung verbinden mit der Distanzierung des Bewusstseins vom Glauben an die Identität zwischen Zeichen und Bezeichnetem. Dass sich der intrapsychische Prozess der Bearbeitung der Spannung zwischen dem eigenen Begehren und der sozialen Verpflichtung im Medium sinnhafter Verweisung vollzieht, war in der Psychoanalyse vom Anfang (Freud 1990: 173) bis zum Übergang in eine »postmodernen« Subjektskepsis (Lacan 1991) eine Selbstverständlichkeit. Von Beginn an war der naturalistische Zug, der sich in Freuds professioneller Verankerung in der Neurologie und in seinen Sympathien für eine biologische Fundierung des Triebkonzeptes zeigte (vgl. Ricœur 1974; Habermas 1975), gebrochen durch die hermeneutische Orientie23 | Mit Stufentheorien und Stadien-Modellen, wie sie in der Evolutionstheorie (Eder 1980), der Entwicklungspsychologie (Piaget 1993), aber auch in der psychoanalytisch inspirierten Identitätstheorie (Erikson 1988; vgl. Straub 2002) verbreitet sind, muss man vorsichtig sein, weil bzw. wenn sie eine logische Notwendigkeit vermeintlich universaler Abfolgen behaupten, die notorische Versuche der »empirischen« Widerlegung schon deshalb provozieren, weil die Explikation der Genese des Expliziten immer eine selektive Übersetzung bleiben muss. Andererseits kommt die Theoriebildung natürlich nicht daran vorbei, Unterscheidungen zu treffen und den diachronen Zusammenhang zwischen dem Unterschiedenen hypothetisch zu explizieren. Es kommt dann darauf an, auch die Skizze von Stufen einer Entwicklungsfolge als eine (prinzipiell provisorische und den Gegenstand nicht erschöpfende) Übersetzung in den theoretischen Diskurs zu verstehen und zu gebrauchen.

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rung, die den Zeichen, den Traumsymbolen und den Selbstdarstellungen der Klienten der Analyse durch Interpretation eines latenten Sinnes den Zugang zur unbewussten Sphäre abringen wollte.24 Die psychoanalytische Praxis und das metapsychologische Verständnis der Symbolisierung können nach der individuierenden Differenz zwischen der sozial formatierten Person und dem inneren (zu Teilen unbewussten) Selbst also nur deshalb suchen, weil sie das Symbol und sein »Bezugsobjekt« auseinander ziehen und an Stelle einer direkten Verbindung (Repräsentation) die unbewusste, Sinn konstituierende Arbeit der Person zu entziffern versuchen. In der Verdichtung und der Verschiebung, sowohl in der »Traumarbeit« als auch in der unbewussten Stereotypisierung (Lorenzer 1970) macht sich die Differenz zwischen der »intersubjektiven« Standardbedeutung des Zeichens, dem latenten Sinn des Symbols und der individuellen Bedeutsamkeit bemerkbar. Dieses Auseinanderziehen von Symbol, Standardbedeutung (intersubjektiv stereotyper Sinn) und individueller Bedeutung (bzw. Sinngebung) setzt also bei einer ausdifferenzierten – teils unbewussten, teils realisierten – Interiorität der individuellen Intentionalität der Person an und verfolgt, vor allem im »pathologischen« Falle (auch wenn die Psychoanalyse das nicht so nennt) Blockierungen der Anerkennung der Intransparenz der Person (d.h. die Auflösung blockierender Reaktionsbildungen setzt nicht etwa die Volltransparenz der Person für die Person – und die Analytiker? – an die Stelle pathologischer Lagen, sondern, wenn es gut läuft, die Anerkennung der Interiorität als Differenz, d.h. auch die Anerkennung eines individuellen Spielraums der Übersetzung intersubjektiver Bedeutung in einen intentionalen, existentiell sinnvollen, Sinnhorizont). Als Kompensation einer Fehlentwicklung expliziert die analytische Therapie mit dieser Zielsetzung indirekt, was im alltäglichen und nicht pathogenen Modus der Ontogenese sich von selbst entwickelt haben müsste. Die Ausein24 | Die therapeutische Situation schafft durch die Einklammerung der Alltagserwartungen an die Sprachpraxis und durch die Verabredung eines geschützten Raumes Platz für die reflexive Aufmerksamkeit für latente Sinnimplikationen nicht allein der Aussagen des Analysanden (symbolische Referenz auf verdrängte Gehalte), sondern auch der performativen Haltungen, in denen sich latente Bindungen an stereotypisierte Interaktionsmuster (Übertragung, Reinszenierung und Zwanghaftigkeit) verraten. In der analytischen Interaktion ist zudem Raum dafür geschaffen, als interaktive Realität »wahr«-zunehmen, was im Lichte alltäglicher Normaldeutung ein Phantasma wäre (und abgewehrt würde). Nicht die Subsumtion von Symptomen unter klinische Begriffe, sondern das Exerzitium der Analytikerin, die sich in phantasierte Rollen ziehen lässt und aus der Gegenübertragung implizite Erfahrungen gewinnt, die sie schließlich kognitiv explizieren, in eine Falldeutung übersetzen kann, liefert den Schlüssel zur Freilegung festgefahrener, unbewusster und individueller Sinnhorizonte.

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anderziehung von Symbol und Bedeutung (von intersubjektivem, explizitem und individuellem Sinn) ist trotz ihrer Unauffälligkeit in der alltäglichen Interaktion das Ergebnis einer hoch komplexen und konfliktreichen Geschichte der Interiorisierung, die jede Person in ihrer eigenen Entwicklung durchlaufen musste. An den Metamorphosen der subjektiven (d.h. vom »Subjekt« der Ontogenese aus betrachten) Auffassungen des Symbols lassen sich Differenzierungsschritte, die zur transparent intransparenten Intentionalität der Person führen, ablesen: 1) Ein erster Differenzierungsschritt führt von der Symbiose zur »Appräsentation«: Wenn man – wie oben ausgeführt – die »Ausgangslage« der Ontogenese u.a. durch die primäre Sozialität einer symbiotischen Beziehung charakterisiert, dann ist auch ohne die zusätzliche Zuschreibung eines primären »Narzissmus« zu vermuten, dass der Prozess der Subjekt-bildenden Interiorisierung als Austritt aus einer fusionierten Lage von Beginn an das Begehren gegen sich hat, die affektive Sicherheit und die fungierende intentionale Gewissheit der Versorgung aufrecht zu erhalten, obwohl gleichzeitig Trennungen und Unterbrechungen des Kontakts vollzogen werden müssen und diese aufgrund der Tendenzen zur Eigenaktivität selbst eine begehrte Lage darstellen. Insofern verlangt die Interiorisierung dem Säugling den »Mut« zur Unterbrechung des Kontaktes zum Begehrten ab, obwohl diese Unterbrechungen zunächst auferlegt ist, indem sie durch die Faktizität der rein pragmatisch erzwungen Unterbrechungen der Präsenz der versorgenden Person notwendig wird. Das Begehren nach (bewahrter) Identität muss zur bewussten Intention erst mühsam vordringen, mittels derer ein »Subjekt« sein Objekt bestimmen oder gar sprachlich explizieren (Trieb- und Objekt-»Repräsentation«) und schließlich die faktische Abwesenheit durch symbolische Substitution imaginär kompensieren oder erträglich machen kann. Aber von Beginn an tragen die Erfahrungsinhalte der »fungierenden Intention« Verweisungscharakter, auch wenn Verlangen und Objekt zuerst fusioniert sind, weil schon die sequentielle Differenz zwischen Hunger und Befriedigung eine faktische Brücke baut, die eine zeitübergreifende »Assoziation« im vorreflexiven und vorprädikativen Modus schafft. Zeichen sind entfaltete Zeit, denn die primordiale Beziehung zwischen einem Zeichen und seiner Bedeutung liegt nicht in der semantischen oder syntaktischen Dimension, sondern sie besteht in der praktisch-performativen Zeit-Distanzen überbrückenden Protogeneralisierung, vermöge derer ein Zeichen erst Zeichen wird, sobald es mehr als nur einmal verwendet, auf mehr als nur einen Situationsausschnitt angewendet werden kann (sodass die Einheit des Zeichens und die Einheit einzelner Zeichenverwendungen auseinandertreten). Der Kristallisationspunkt für das Anrollen der Differenzierungsgeschichte, die vom symbiotisch eingebetteten Kind zum selbst bestimmten, epistemischvoluntativ selbst gesteuerten »Subjekt« führt, liegt deshalb in der somatisch-

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symbolischen Doppelstruktur des Begehrens, dem durch die Intervention des Zeichencharakters, der im Zeichen verdichteten Zeithorizonte und durch die Differenz von Signifikant, Signifikat und Referent die Möglichkeit eröffnet wird, gegenwärtige Vergangenheit und vergangene Gegenwart, gegenwärtig zu unterscheiden und zu vergleichen. Der Auf bruch zur Interiorisierung beginnt mit der Trennung des Kindes vom zuvor unabgegrenzten versorgenden Pol. Für diese Trennung ist die Zeichenfunktion Voraussetzung, sofern eine vorerst noch rein »appräsentative« Beziehung zwischen Zeichen und Bezeichnetem die Trennung simulativ und provisorisch kompensieren kann. »Appräsentation« bezeichnet dabei (in phänomenologischer Ausdrucksweise, siehe: Schütz 1971) eine Beziehung zwischen Zeichen und Bezeichnetem, die aus der intentionalen Perspektive des Zeichenverwenders gar nicht als Beziehung zwischen Getrenntem erfahren wird. In der Perspektive des Kindes »ist« das Zeichen das Bezeichnete, und anders könnte im Ausgang aus der symbiotischen Verschmolzenheit und gegen den Druck des Begehrens nach Einheit das Zeichen die kompensatorische Substitution des Abwesenden auch gar nicht erfüllen. Die Geste der versorgenden Person »ist« in der primären sozialen Beziehung, die aus »Sicht« des Kindes noch gar keine Beziehung zwischen differenzierten Relata ist, zunächst ein integrales Moment in der Prozesseinheit der noch symbiotischen Sequenz der Versorgung, sie ist zwar »an sich« und für die erwachsene Person ein »Zeichen« (das auf etwas verweist, mit dem etwas zu verstehen gegeben wird), nicht aber für das Kind. Eine erste Übersetzung der präsenten Erfahrung in die Geste besteht in der protogeneralisierenden »Assoziation«, bei der die eine Geste (die als diese Geste zuerst indexikalisch vollkommen an der Situation »befestigt« bleibt) mit der nächsten »gleichen« Geste und damit mit einem zukünftigen Sequenzereignis »appräsentativ« verbunden wird.25 25 | Mit dem Zeichen ist der Referent (auf den es sich – von außen betrachtet – als ein anderes bezieht) präsent ohne dass die »Verweisung« als Verweisung bewusst wäre. Das Zeichen ist das Bezeichnete, wie für Luther das Brot der Leib Christi ist und ihn nicht »bezeichnend« vertritt. Der eigene Schrei »bedeutet« für den Säugling nicht ein schon bestimmtes und nun auszudrückendes Bedürfnis (das Begehren fungiert, ohne reflektiert werden zu können), nicht die schon kontrastierte, mit dem Begehren gefüllte Erwartung, das schon definierte erfüllende Ereignis (das ja auch nicht als dieses antizipiert werden kann, weil es nicht »Objekt« ist, geschweige denn propositional bestimmt sein kann), sondern noch ist das Schreien selbst diese Erwartung, ist die Erwartung der Schrei und ihre Erfüllung, weil die Gerichtetheit der »Ausdrucksgeste« auf etwas von ihr Unterschiedenes noch nicht selbst Objekt einer sekundären Gerichtetheit sein kann, die sich auf die Unterscheidung zwischen dem Zeichen und seinem Referenten berufen könnte.

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2) Aus der Appräsentation wird Repräsentation, sobald das Zeichen als ein Zeichen intentional vom Bezeichneten unterschieden werden kann. Das Kind trennt sich von der implizit gewissen Vorstellung, dass die Verwendung und Manipulation der Zeichen mit der entsprechenden Verwendung und Manipulation des Bezeichneten identisch wäre (das entspricht eher dem Status der Appräsentation). Gleichwohl impliziert die Auffassung, dass Zeichen ihre Referenzobjekte »repräsentieren« die – weniger reflektierte als performativ ausagierte – Vorstellung einer reziproken Kongruenz beider Manipulationen. Weil »Gefühlsausdrücke« und Bezeichnungen von Gegenständen die objektiven Eigenschaften der ausgedrückten Gefühle und Gegenstände vermeintlich als diese selbst ausdrücken (und nicht etwa »interpretieren«, selektiv explizieren), scheint die Repräsentation eines Affektes, diesen Affekt als ihn selbst, als phänomenal-intentionale Gegebenheit, wie sie »an sich« bzw. in der phänomenalen Qualität der fungierenden Intentionalität »objektiv« gegeben ist, eins zu eins auszudrücken. Dem Ausdruck wird implizit zugetraut reibungslos und gestalterhaltend all das genau »wiederzugeben«, was dem Ausgedrückten selbst eigen sei. Zwischen Gefühlen als phänomenal-intentionalen Intensitäten der praktisch-impliziten Gerichtetheit (die das Begehren symptomatisch anzeigen, nicht aber »repräsentieren«) und dem »Ausdruck«, der ihnen in Abhängigkeit von semiotischen Konventionen gegeben wird, findet indessen »an sich« schon eine Übersetzung statt.26 Aber das ist auf der Stufe der intentionalen Unterstellung einer »repräsentativen« Beziehung zwischen dem Symbol und seinem Bezugs-»Objekt« – dem Bewusstsein – nicht bewusst. Es wechselt aus der appräsentativen Beziehung zum Objekt (das in dieser noch immer kein »Objekt« ist) zur Repräsentation über, sobald das Zeichen vom Bezeichneten unterschieden wird, d.h. sobald Zeithorizonte sich ausdifferenzieren, die Gegenwart der Bezugsperson (des begehrten Objekts) nicht mehr gleichzeitig mit der Gegenwart des Zeichens, das für die Person steht, erlebt wird. Unausweichliche Abwesenheit kann erst dann als Abwesenheit ertragen und muss nicht geleugnet werden, wenn die Anwesenheit des Zeichens zugleich die Abwesenheit des Bezeichneten ratifiziert und kompensiert. Die Wunsch26 | Darum ist die psychoanalytische »Redekur« auch keine kognitiv-deskriptiv orientierte Suche nach »wahren« Aussagen über den verdeckten Sinne einer Symptomatik, denn die praktisch-somatische Implikation des Gefühls ist nicht äquivalent mit den expliziten Implikation des propositionalen Urteils über dieses Gefühl. Die kognitive Beurteilung der (im Störfall mangelnden) sachlichen Rechtfertigung der Verwendung eines Gefühlsausdrucks berührt gar nicht die somatische Implikation des Gefühlsphänomens. Die kognitive Einsicht des Analysanden in einen möglichen verborgenen Sinn seiner Symptome hilft deshalb alleine nichts, denn sie kann die performativ geduldig zu realisierende affektive Durcharbeitung der unbewussten Blockaden einer »authentischen« Selbstartikulation nicht ersetzen.

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erfüllung, das begehrte Objekt, die anerkennende Zuwendung »denken« zu können, weil Zeichen verfügbar sind, die sie als Abwesende aktualisieren, also anwesend machen können, schafft die erste Distanz auf dem Weg zur Interiorisierung, versetzt das werdende Subjekt in die Freiheit des gegenwarts-transzendierenden Intendierens (das die objektiv »ekstatische« Zeitstruktur einer geteilten, und nun auch »wiederholbaren« Praxis voraussetzt). Zugleich aber führt die intentionale Differenzierung von Zeichen und Bezeichnetem ontogenetisch in die Verlassenheit der »hermeneutischen« Situation: Die Freiheit zur Deutung und zur Wahl zwischen Alternativen des Handelns beruht auf dem Verlust der Verschmolzenheit, in der keine Fragen sich stellen, keine Drohungen bestehen, sich nur Krisen »an sich« ereignen. Aus der primären Sozialität, in der das Kind symbiotisch verschmolzen selbst Teil der Welt (und nicht Subjekt, das eine Welt intendiert) ist, tritt im Übergang zur Repräsentation das Bezeichnete aus der Verschmelzung mit dem Zeichen heraus, sodass »die Welt« als möglicher »intersubjektiver« Bezugspunkt für die »Triangulation« (Cavell 2006; Tomasello 2011) der geteilten Intentionalität beginnt, sich subjektiv vom Subjekt zu unterscheiden. Es ist zu vermuten, dass die Entwicklung einer intentionalen Ausrichtung auf die Intentionalität anderer sich mit dem Übergang zur Repräsentation anbahnt. Das stünde mit der Aufwertung der sozialen Aktivität des noch vorsprachlichen Kindes in der Säuglingsforschung (Dornes 1993) insoweit im Einklang, als die repräsentationale Vorstellung in der intentionalen Orientierung des Kindes noch nicht auf den Spracherwerb im engeren Sinne (im Sinne der propositionalen Rede und der reflexiven Fähigkeit, sprachlich auf Sprache Bezug zu nehmen) angewiesen sein muss. Es passt überdies zu den Rekonstruktionen der »soziopragmatischen« Theorie des Spracherwerbs von Tomasello, der vor allem der »Zeige-Geste« bekanntlich eine »protoillokutionäre« Bedeutung (also auf der performativen Ebene eine intentionale Adressierung) zuordnet (Tomasello 2011). Zur repräsentationalen Einstellung der Intentionalität des Kindes gehört – im Modus dieser performativen, also vorprädikativen und nicht-begrifflichen – Adressierung an andere, die Implikation, dass die Welt, auf die sich die Beteiligten z.B. zeigend beziehen, in einem strikten Sinne für alle dieselbe ist, zumal das vorprädikative repräsentationale Stadium noch nicht die Differenzierung zwischen jeweils verschiedenen subjektiven »Weltansichten« impliziert. 3) Diese Differenz, besser: Die subjektive Erfahrung der Differenz zwischen Ego und Alter mit Bezug auf ihre jeweilige Vorstellung von der Repräsentation des Bezeichneten, treibt das Verhältnis des Heranwachsenden aus dem Stadium der Repräsentation in die Phase des »subjektiven Konstruktivismus« (bezogen auf die Bedeutung des Symbols). Die »Geste« ist in der sozialisatorischen Interaktion bereits polysem, d.h. sie »bedeutet« in der Asymmetrie zwischen sprachkompetenten Erwachsenen und vor- bzw. protosprachlich kommunizierenden Kindern auf beiden Seiten der Beziehung objektiv etwas »anderes«

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(und dies auf jeweils andere, weil unterschiedlich komplexe und differenzierte Weise). Der Erwachsene weiß (implizit aber auch reflexionsfähig), dass die Geste vieles bedeuten (ausdrücken, implizieren, auslösen, voraussetzen) kann, dass die Gestenverwendung situativ und subjektiv variierende indexikalischokkassionelle Implikationen haben muss, dass es deshalb einen Unterschied gibt zwischen intersubjektiv standardisierter »Durchschnitts«-Bedeutung und situativer praktischer, d.h. spezifizierter »Gebrauchs-Bedeutung«. Das Kind bewegt sich demgegenüber intentional weit unterhalb dieses Differenzierungsniveaus und verbleibt vorerst im gleichsam magischen Stadium, in dem zwischen der Manipulation der Worte und der Dinge ebenso wenig ein Unterschied besteht wie zwischen der performativen »Adressierung« belebter und unbelebter »Objekte«. Insofern ist die »Identität der Bedeutung« des »signifikanten Symbols«, die für Mead und den Intersubjektivismus das ganze Gewicht der Erklärung der Selbst-Genese tragen muss (siehe oben), eine intentionale Fiktion aus der Teilnehmerperspektive auf der ontogenetischen Stufe des Repräsentationalismus, die als Explikation der objektiven Grundlage der Perspektivenübernahme nicht in Frage kommt, weil sie der faktischen Struktur und Funktion des Symbols überhaupt nicht gerecht wird. Gerade weil das Symbol de facto in der Interaktion zwischen ausdifferenzierten »Subjekten« durch seine Einbettung in die praktische Übersetzung zwischen semantischen Stereotypen, intentionalen Horizonten und materiellen, konkreten Umständen der Situation (Renn 2006: 201ff.) »differente« Bedeutungen hat, kann die Teilnahme an der Interaktion über unausweichliche Differenz-Erfahrungen (d.h. über Identitäts-Unterstellungs-Enttäuschungen) dem sozialisierten Kind Anstöße zur Interiorisierung des eigenen, als Differenz erlebten, intentionalen Horizontes geben. Das heranwachsende Kind gerät – in der performativen Dimension des Umgangs mit Zeichen und Objekten – durch eine notwendig doppelte Bezugnahme auf das mit dem Zeichen Bezeichnete in der Einübung in immer komplexere Interaktionsroutinen (einschließlich der sich entfaltenden Sprachkompetenz) an die Grenzen der Repräsentation. Das Kind ist, sobald es eine weiter entwickelte Sprachfertigkeit ausgebildet hat, einerseits kognitiv, explizit, »gedanklich« antizipierend, schematisierend, typisierend auf »Objekte« ausgerichtet, andererseits aber auch praktisch in den Umgang mit Objekten (und auch mit Sprachzeichen) verstrickt. Durch die Differenz zwischen der somatisch-sensitiv, in fungierender Intentionalität phänomenal gegebenen »Zuhandenheit« von Dingen und der gleichzeitig möglichen kognitiv-sprachlichen Bezugnahme auf vorhandene »Objekte« wird das Kind auf die Differenz zwischen »Repräsentation« und »Auslegung« gestoßen. Zugleich öffnet sich in dieser Aufspaltung zwischen praktischer und explizit artikulierter Intention auf das Objekt ein Zugang zur Erfahrung der sozialen »doppelte Kontingenz«: Nicht nur können andere anders handeln als

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das Kind erwartet und wünscht, sondern der Abstand zwischen dem Zeichen und dem Bezeichneten, den der Unterschied zwischen dem praktischen Umgang mit und der sprachlichen Bezugnahme auf ein »Objekt« eröffnet, wird zur sozialen Differenz zwischen »meiner und deiner« intentionalen Interpretation des Zeichens als »Repräsentation« des »Objekts«. Das zentrale Motiv Tomasellos, die »geteilte« Intentionalität (als intentional bewusste gemeinsame Aufmerksamkeit auf ein Objekt) kann angesichts dieser Differenzierungsschübe nun gerade nicht auf der Grundlage der vermeintlichen »Identität der Bedeutung« des signifikanten Symbols zur individuierenden Interiorisierung anregen. Denn es ist gerade nicht die analogisierende Übertragung von Seiten des Kindes, dass der andere genau »wie ich« (die gleichen) Intentionen habe (Tomasello 2002: 89), die eine geteilte Intentionalität auszeichnet. Sondern es ist die bestürzende Entdeckung, dass er ein anderer ist, weil er anders und anderes bei der Verwendung des »gleichen« Zeichens intendiert. Dem aus der stillschweigend unterstellten konventionellen Identität der Bedeutung herauswachsenden Kind wird also transparent, dass der andere intransparent ist (dass also auch sein für mich existentielles Respondieren auf mein Begehren zutiefst unsicher ist). Bezogen auf das Symbol trennen sich nun nicht nur Zeichen und Bezugsgegenstand (Referent), sondern es differenzieren sich zusätzlich der Referent (als Bezugsgegenstand in der »Welt«) und das Signifikat (als intendierte Bedeutung des Zeichens im Unterschied zum »Referenzobjekt« in der Welt) aus. Das Zeichen wird mindestens zu einer vierstelligen Relation, denn zu unterscheiden sind nun erstens das Zeichen, zweitens das Bezugsobjekt, drittens Egos intentionale Version der Bedeutung (in Abhängigkeit vom individuierten Horizont der Gebrauchsbedeutung des Zeichens) und viertens Alters – von Ego abweichende – Version dieser Gebrauchsbedeutung.27

27 | Die Gebrauchsbedeutung (im Sinne von Wittgensteins Sprachspiel-Holismus) ist gegenüber der lexikalischen Bedeutung eines Ausdrucks primär, weil die Sprache im Vollzug (nicht durch hinweisende Definitionen) gelernt wird und weil der praktische, d.h. in nichtsprachliche Vollzüge eingebettete Umgang mit dem Zeichen in performativen Routinen den Ausganskontext des Erwerbs der Sprachkompetenz bildet. Tomasello macht diesen genetischen Zusammenhang klar – obwohl es in seiner Argumentation auch Rückfälle in eine intentionalistische Auffassung der sprachlichen Bedeutung gibt – indem er darauf hinweist, dass in den ersten Phasen des Spracherwerbs der Gebrauch der Zeichen als Ausdruck »geteilter Intentionalität« auf die direkte (indexikalische) Befestigung ihres Bezugs an der unmittelbar präsenten Situation des Gebrauchs angewiesen bleibt: »Das Problem der referentiellen Unbestimmtheit entsteht genau dann, wenn eine Bezug nehmende Handlung aus den Kontexten geteilter Intentionalität, in denen sich der Spracherwerb normalerweise vollzieht, herausgenommen wird« (Tomasello 2011: 181).

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Ironischerweise wird also – entgegen der intersubjektivistischen Intuition – die »geteilte Intentionalität« (Intersubjektivität) erst dann von Ego und Alter geteilt, nämlich geteilter maßen als eine von beiden geteilte »bewusst« intendiert, wenn sie faktisch nicht mehr geteilt wird, sondern sich differenziert in mindestens zweierlei, implizit aber schon viele subjektive Horizonte, die die Zeichen in jeweils unterschiedliche individuelle Sinnhorizonte einordnen. Nicht die vermeintliche Reaktionsgleichheit als Bedeutung des »signifikanten« Symbols (Mead) treibt die Interiorisierung an, sondern die intentionale Erfahrung der Reaktionsabweichung. Die intentionale Erfahrung der anderen Intentionalität als wirklich andere bildet den Kern des Anstoßes zur subjektiven Unterstellung, dass die Zeichenbedeutung (Signifikat) als ein Konstrukt der jeweils eigenen intentionalen Horizonte und Operationen und insofern als eine intentionale, nicht als eine »objektive« Einheit, zu verstehen ist. Diese Stufe der »Konstruktivität« – der subjektiven Erfahrung, dass »meine« Zeichenbedeutung von »seiner« Zeichenbedeutung fundamental abweicht – wird von der klassischen Intersubjektivitätstheorie übersprungen. Das bewegende Staunen, mit dem das heranwachsende Kind den Gedanken entdeckt, dass alle anderen mit einem bestimmten Wort (z.B. mit dem Namen einer Farbe), das vertraut erscheint und ein wohl Bekanntes bezeichnen soll, »in Wahrheit« etwas vollkommen anderes und Unergründliches (bei aller Mühe nicht Erreichbares) verbinden könnten,28 markiert die Entdeckung, dass sich zwischen das Zeichen und den Referenten die intentional konstituierten Signifikate schieben, und leitet damit die Krise der Repräsentation ein. Sofern sich nun diese Erfahrung nicht länger nur auf »Objekte«, die neben der sprachlich-intentionalen Bezugnahme berührbar, also leiblich »begreifbar« sind, richtet, sondern die Namen für die Beziehungen im Bereich der sozialen Bindung betrifft, strahlt die »epistemische« Krise der Repräsentation auf das Feld des interpersonalen Begehrens aus. Die Verwendungen der für das Begehren delikaten Prädikate und Typisierungen zwischen ihnen und mir könnten in den intentionalen Innenperspektiven ebenso derart radikal vonei28 | Es könnte ja sein, dass die Farbklassifikationen in der sensuellen Realität des anderen intentionalen Horizontes das intentionale Phänomenspektrum invers bezeichnen, dass alle anderen »grün« verwenden bei Anlässen, bei denen ich sehe, was sie »rot« nennen und vice versa. Die »intersubjektive« Praxis der Verwendung der Farbwörter, das Sprachspiel, bliebe konsistent, Züge in diesem Sprachspiel verrieten nichts von dieser Vertauschung, wenn alle Beteiligten diese objektiv vorliegende Umkehrung subjektiv gar nicht erfahren könnten, weil das Sprachspiel abweichende subjektive Horizonte in ihrer immanenten Konsistenz nicht berührt und die Züge im Sprachspiel subjektiv weiterhin »passen«? Analog kann das Bild, das andere von mir haben, mit meinem Bild von mir nur im Sinne dieser äußeren Konsistenz der Sprachspiele »passen« (Perspektiven-»Übernahme«), obwohl gerade das Gegenteil in den intentionalen Horizonten präsentiert ist.

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nander abweichen, sodass ihre »Liebe« meiner Person nicht das trifft, was ich mit »Liebe« verbinde, nicht das Begehren erfüllt, dem meine intentionale Innenperspektive auf eigene und abweichende Weise einen intersubjektiv konventionellen Namen gibt, sodass meine begehrte Sicherheit der Erwartung, nicht verloren zu gehen, nicht verlassen zu werden, erschüttert werden könnte. Die ontogenetische Phase, in der die engen Bande zwischen dem Zeichen und dem Bezeichneten zerreißen, führt in die konstruktivistische Haltung, die mit der Neigung, der Referenz von Ausdrücken nun gar nicht mehr zu trauen, die Grundlage für den »pubertären« Rückzug in die unbestimmte Negation der sozialen Konvention legt. Von nun an richtet sich das Selbstverhältnis des schockhaft auf sich selbst als Differenz zu allen anderen geworfenen Ich analog zur abstrakten Negation des Realismus durch den »radikalen Konstruktivismus« in der instabilen Position der Abwehr konventioneller normativer Erwartungen ein. Die Erfahrung der Konstruktivität der intentional konstituierten Bedeutung mag mit Bezug auf Farbklassifikationen, auf »Erinnerungen« und auf allerlei qualia des Wahrnehmens ein reizvolles Spiel, eine elektrisierende Rückwendung auf sich selbst, die Verführung zu einer Kierkegaardschen oder Heideggerschen Emphase der Einzigartigkeit sein, die sich versteckt hinter der augenzwinkernd simulierenden Unterwerfung unter die Konvention auf heroische Weise einsam weiß. Sie ist als die Entdeckung der Interiorität des Subjekts, einer unvertretbaren Sonderbeziehung zur Welt, zugleich aber Anlass zur Verzweiflung über den Hiatus zwischen dem Ich und den anderer, sofern die schreckliche Selbstentdeckung das Ich zunächst ins Freie und Leere stürzt. Deshalb wendet die Person, die über die Schwelle zur reflektierten Individuation tritt, das als unerreichbar verdrängte unstillbare Begehren nach dem Wiedereintritt in die symbiotische Position häufig um, in Aggression und Abweisung der sich Nähernden. Die konstruktivistische Position hat die Möglichkeit der Substitution aktueller Wunscherfüllung durch die zeichenvermittelte Aktualisierung des Abwesenden tendenziell verloren, sofern das Zeichen sein Bezeichnetes jetzt nur durch den und im inneren Prozess des eigenen intentionalen Horizontes, der eigenen rekursiv verschalteten Erlebnisse zugeordnet bekommt, weil jetzt Signifikat und Referent getrennt sind. Denn das Zeichen bezieht sich jetzt nicht mehr »direkt« auf die »objektive« Farbe, nicht mehr auf den objektiven anderen und über diesen auf das objektive eigene »Me« (Mead), sondern nurmehr auf andere, frühere und kommende »innere« Erlebnisse und »noematische« (also intentional konstituierte) Gegenstände. Das heißt: Die Entdeckung der Immanenz subjektiver Bedeutungs-Intentionen gewinnt dadurch an Dramatik, dass an die Stelle der Beziehung zwischen dem Zeichen und seinem äußeren (intersubjektiv identischen) Bezugsgegenstand nun die Beziehung zwischen dem Zeichen und dem intentional immanenten Signifikat tritt: Das Zeichen bezeichnet nicht einen Gegenstand, sondern eine subjektive Vorstel-

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lung. Der immanente Gegenstand ist nun nicht mehr eine »Repräsentation« von Objektivem oder auch von anderen intentionalen Personen, sondern eine andere, eigene subjektive Intention (eben auch eine Phantasie, ein Wunsch und ein »inneres Objekt«). In der konstruktivistischen Position geht die Entdeckung der Unabhängigkeit des intentionalen Signifikats von der referentiellen Anbindung an die objektive Welt auf Kosten der Gewissheit, dass die deskriptiven Referenz auf die objektive und soziale Welt gesichert sei. Die konstruktivistische Position weckt durch diese zunächst »re-zentrierende« Bewegung, die das Subjekt sich selbst als einen »einsamen«, individuellen Konstrukteur intentionaler Bedeutung erleben lässt, möglicherweise Assoziationen an Merkmale des »Narzissmus«. Womöglich erlauben diese Analogien Spekulationen darüber, dass die Entfaltung des Selbst im Falle einer mangelnden Überschreitung der konstruktivistischen Rezentrierung den Weg zu so genannten »narzisstischen Störungen« ebnen kann. 4) Dass das Subjekt sich als »Konstrukteur« von Bedeutung und seine Intentionalität als kreativen und von Referenzialität ungebundenen Horizont differenter Individualität entdecken kann, hat – wie gesagt – seine Grundlage in der pragmatischen Einbindung der Person. Diese Einbindung wird in Reaktion auf die Rezentrierung der konstruktivistischen Position nun wiederum zur Grundlage der Überwindung der tendenziell »solipsistischen« Selbstauslegung. Auf die konstruktivistische Position folgt die Entdeckung des Übersetzungsverhältnisses zwischen objektiver, intersubjektiver und subjektiver Bedeutung der Zeichen. Das Zeichen wird nun subjektiv zum »Symbol«, sofern es nun weder abbildender Name einer objektiven Entität, noch subjektive Fiktion ist, sondern mehrdeutiger Kreuzungspunkt von individuellen und konventionellen Bedeutungszuschreibungen. Im Falle der »gelingenden« Entfaltung des individuellen Selbst, bleibt die Differenzierung des Subjektiven – aufgrund und im Falle weiterhin ausreichend aufrechterhaltener Einbindung in praktische Kontexte der Interaktion – bei der Inversion der konstruktivistischen Position auf das innere Ich nicht stehen. Die weitere Erfahrung des praktisch vermittelten Auseinandertretens zwischen nur phantasierten Objekten und »realen«, weil pragmatisch in der Interaktion wirksamen, wenn auch nicht vollständig und erschöpfend repräsentierbaren »Objekten«, nötigt zu dem Zugeständnis, dass der »objektive« Referent zurückkehren muss. Allerdings erscheint er, vermittels des vorausliegenden Durchgangs durch die konstruktivistische Phase nun als endgültig unergründlich, als niemals restlos explizierbarer, als nur selektiv bestimmbarer. Bezogen auf die »Identität« der Person selbst, mündet die konstruktivistische Position in die subjektive Erfahrung einer »transitorischen« Identität (Straub, Renn 2002). Die Person beginnt sich selbst als transitorische Einheit zu erfahren, weil die verfügbaren Versionen eines expliziten, auf begrifflich und propositional bestimmte Merkmale gebrachten Selbstbildes als immer unvollständige, unsichere Bezugnah-

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men anderer und meiner selbst auf mich erscheinen. Das Individuum, die nun durch den konfliktreichen Prozess der Interiorisierung hindurch gegangene Person, die zwischen den Identitätszumutungen der Sozialisation und den Differenzerfahrungen der Individuierung navigieren musste, beginnt sich als transitorische Einheit in der Differenz zu begreifen, zu verstehen und zu behandeln, wenn das Verwenden der Zeichen, die Aktualisierung des abwesenden Begehrten, die Bezugnahme auf die eigene, als individuelle Identität als eine perennierende, immer wieder »von außen« beunruhigte oder unterstützte Übersetzung erlebt, begriffen, verstanden und behandelt wird. Das ist die Position, die mehr oder weniger explizit von einer – recht verstandenen – intersubjektiven bzw. »relationalen« Psychoanalyse als Zielgröße der Anerkennung der transparenten (weil erfahrbaren und symbolisierbaren) Intransparenz der individuierten Person bestimmt wird.

VI. S oziale D ifferenzierung und S elbstentfaltung Diese an den Metamorphosen des intentionalen Bezugs zum Zeichen orientierte Rekonstruktion der Ontogenese als »Interiorisierung«, als Ausdifferenzierung des Subjekts aus der symbiotischen Lage des Säuglings in der praktischen Sozialität einer zunächst leiblich verankerten, aber immer schon asymmetrischen Praxis, bleibt notwendig eine grob gezeichnete Skizze. Aber sie nimmt zumindest den Faden einer Theorie der Subjektgenese auf, der sich aus der (kritischen) Erörterung der intersubjektivistischen Psychoanalyse und ihres Verhältnisses zur Soziologie ergibt. Als ein systematisches Problem ersten Ranges erwiesen sich die Prämissen eines bereits ab origo abgegrenzten Kernselbst und der »Identität der Bedeutung«, die dem signifikanten Symbol den Status einer Garantie für die gelingende Perspektivenübernahme geben sollte. Wenn die tragendende soziale Bindung und die Interiorität des Selbst der Person theoretisch sowohl auf den Anfang als auch auf das (glückliche) Ende der Ontogenese projiziert werden, dann verliert nicht nur die Theorie der Subjektgenese ihre erklärende Kraft, sondern soziologisch betrachtet wird es unklar, was die so wichtige psychoanalytische Kategorie des Unbewussten für die soziologische Theorie des vergesellschafteten Subjekts in der Gestalt des entfalteten Individuums beitragen könnte. Der Intersubjektivismus kann mit guten Gründen dazu motivieren, sich von der klassischen »Ein-PersonenPsychologie« zu lösen und die subjektive Differenzierung in bewusste und unbewusste Bereiche der Intentionalität nicht länger exklusiv auf die gesellschaftlich erzwungene Repression egozentrischer Lustorientierung und auf den Zwang zur inneren Zensur zurückzuführen. In der späten Moderne hat die »Inklusion« der Person – wegen der oben bereits berührten Differenzierung sozialer bzw. praktischer Kontexte – einen

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solchen Grad an Diversifizierung und Komplexität angenommen, dass die Repression der Triebe nicht mehr länger als der zentrale und paradigmatische Konflikt zwischen »Es« und »Über-Ich« gelten kann (Foucault 1983). Eher sind den Personen Probleme möglicherweise »fragmentierender« Individualisierung auferlegt, sodass der Konformitätszwang, der in klassischen »bürgerlichen« Milieus noch als direkte Unterwerfung unter die materialen Bestimmungen der Konvention erscheinen konnte, verschoben wirkt auf den Druck, die eigene Lebensführung mit den abstrakten und gegenüber dem Individuum indifferenten Imperativen funktionaler Codes in Einklang zu bringen. Die autoritäre Repräsentation der Gesellschaft durch Instanzen des Zivilisierungsund Disziplinierungsdrucks, die sich im »Gesetz des Vaters« (als der mächtigen Schranke gegen das womögliche Inzestbegehren) aufrichtet, erscheint mittlerweile als historisch und sozial hoch kontingent. Die neue Psychoanalyse, die das relationale Selbst in den Fokus stellen will, gibt dementsprechend Anlass dazu, gegenüber der auf die bürgerliche Gesellschaft zugeschnittenen Psychoanalyse Freuds die gesellschaftlichen Imperative, die das Subjekt auf seinem Wege in die Individualität zur Errichtung einer inneren Schranke motivieren (die wegen der Dynamik von Verdrängung und Abwehr das psychische Unbewusste vom praktischen impliziten Wissen unterscheidet, vgl. Kastl 2007), anders zu konzipieren. Wenn das Ziel der »gelingenden« Subjektgenese mit dem Begriff einer anerkannten transparenten Intransparenz einigermaßen aufschlussreich angedeutet wäre, dann könnte ein Kern des spätmodernen Konformitätsdrucks in der sozial geforderten Substitution von personenbezogenen Übersetzungsverhältnissen durch direkte Übertragungen von Sinnformaten bestehen. Das würde bedeuten, die Gründe für die interne Ausdifferenzierung unbewusster Intentionalität in der illusionären aber machtvollen Zumutung der Volltransparenz der leistungsbezogen funktionalen Person für sich selbst und für andere zu suchen (Beispiele fänden sich in all den sozialen Kontexten, in Feldern übersteuernder Arbeitsorganisation, essentialistischer Identitätspolitik aber auch »repräsentationalistisch« gestimmter Intimbeziehungen, die der Person den Spielraum der individualisierenden Intransparenz und ihrer praktischen Konsequenzen nicht zugestehen). Insofern unterstützen der soziologische und der psychoanalytische Intersubjektivismus gegen ihre Absicht, als Sachwalter einer klassisch modernen Vorstellung von Selbstbestimmung als einer expliziten (über identische Bedeutungen intersubjektiv allgemeinen) Selbst-»Beschreibung« den Zwang zur feststellenden Repräsentation und die Verengung der individuellen Spielräume im Feld der Symbolisierung einer notwendig transitorischen Identität. Die Selbstentfaltung der Person konvergiert, wenn sie auf der Basis der klassischen repräsentationalistischen Variante des Intersubjektivismus interpretiert werden müsste, mit dem Konformitätsdruck einer Disziplinierung, die nicht mehr

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den Gewissenszwang (Hirsch 2012) sondern die gesellschaftlichen Imperative einer funktionalen Selbstverwirklichung an die Person weiterreicht.29 Aber die Kategorie des Unbewussten ist für die Soziologie nicht nur dann von Wert, wenn die Soziologie sich der Psychoanalyse bedient, um die faule Formel zu stützen, dass an der individuellen Störung immer und primär »die Gesellschaft« schuldig sei. Sobald sich gezeigt hat, dass die klassische Zurückführung der Verdrängung auf den Konflikt der Libido mit der sozial verträglichen Pflicht historisch-kulturell-sozial kontingent ist, muss die soziologische Analyse der gesellschaftlichen Lage der Subjekte einen größeren Variantenreichtum und mögliche »Interdependenzunterbrechungen« im Verhältnis zwischen »Gesellschaft und Individuum« einrechnen. Für die Überzeugung, dass die Kategorie des Unbewussten fruchtbar, angemessen und auch für die Soziologie notwendig ist, genügt aber vielleicht auch der Soziologie die Einsicht, dass das subjektive und soziale Begehren nach der substantiellen Identität der Person mit sich selbst und den anderen notwendig unstillbar bleiben muss.

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Die relationale Psychoanalyse und die Quellen der Individuation

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6. Selbstbehauptung – postmoderne Fragmentierung oder Identität von Personen im Zeichen funktionaler Differenzierung? I. P ostmoderne P hantasien Die funktionale Differenzierung moderner Gesellschaft hat Auswirkungen auf die Form personaler Identität, die für moderne Vergesellschaftungskonstellationen typisch sind. Aber welche? Die Ausdifferenzierung von abstrakten und codierten Kommunikationszusammenhängen (Systeme) steigert durch erhöhte Selektivität der Sinnverknüpfung die Extension und die Exklusivität spezialisierter – nämlich rein funktionaler und entsprechend »bereinigter« – Handlungskoordination. Die »individuellen« Sinnhorizonte, die in alltagsweltlicher »Teilnehmerperspektive« den Sinn und das Motiv einzelner Handlungen (vor-)formen, bleiben gewissermaßen »draußen«: Was sich in der schon lange vor der Moderne entfaltenden Trennung von Person und Rolle (qua Status und Amt) abgezeichnet hat, nämlich die erhöhte Indifferenz strukturrelevanter Institutionen des sozialen Zugriffs auf den Einzelmenschen gegenüber eben jenen biographischen Details, die diese Menschen vereinzeln, übertritt mit der Ausbildung funktionaler Differenzierung eine Schwelle, jenseits derer die theoretische Reflexion, wenigstens die systemtheoretische (aber auch: Foucault), den leiblich-intentional in sich verfangenen Menschen nun endgültig in der Umwelt sozialer Systeme untergebracht sieht. Mit einigem Recht, wenn auch unter Absehung von gewichtigen Details, auf die wir noch zu sprechen kommen, könnte man sagen: »Die Moderne« entdeckt die Unvertretbarkeit der »inneren« Person als ein soziales Format, als eine ins Blaue zielende äußere Form für Erwartungsunsicherheiten, in genau jenem Moment, in dem die personale Selbstbeziehung strukturell aus der Gesellschaft ausgeschlossen wird (Luhmann 1989). Angesichts dieses Befundes könnte man sich, unterstützt durch die systemtheoretische Vorliebe für das Paradoxe, über die darin liegende und prima

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facie skandalöse Absage an das Programm der »Versöhnung« zwischen individueller Freiheit und gesellschaftlicher Solidarität durch den Hinweis beruhigen, dass die Gesellschaft ohnehin der denkbar unangenehmste Ort für das Individuum sei (frei nach: Ilja Srubar). Vor allem Luhmann wurde nicht müde, dem ausgeschlossenen Individuum den Hinweis vorzuhalten, dass die Gesellschaft doch bei Lichte besehen ein eher störendes Ensemble von Konformitäts-Zumutungen sei. Das Bild und auch diese Beruhigung stoßen allerdings auf weitere Komplikationen, sobald man sich klar macht, dass die funktionale Differenzierung nicht die einzige und auch nicht die irgendwie »primäre« und alle weiteren Unterscheidungen regulierende Differenzierungsachse ist, durch die der soziale Raum der modernen Gesellschaft und ihrer jeweils unterschiedlich gelagerten Regionen strukturiert wird. Wenn man von einer »multiplen Differenzierung« (Renn 2006: 68ff.; Renn 2014) ausgehen muss, taucht das Verhältnis zwischen personalen Identitäten und sozialen Ordnungen an sehr verschiedenen Stellen und in verschiedenen Modalitäten auf, die untereinander in wiederum variantenreichen Konstellationen stehen. So fällt die Vollexklusion des Individuums (»für sich selbst«) in der Beziehung zwischen dem Rechtssystem und der narrativen Einheit einer intentional entworfenen »Biographie« ganz anders aus, als z.B. das Verhältnis des Individuums zu »seiner« Familie oder anderen Mikro-Milieus, bei denen der soziale Verband nicht durch standardisierte Mitgliedschafts- oder Klienten-Rollen geprägt und in formalen Verfahren reproduziert wird, sondern auf der Basis eines kulturellen, d.h. habitualisierten Hintergrundes mehr oder weniger geteilten praktischen Wissens zusammengehalten und praktisch/performativ aufrechterhalten bzw. dauer-transformiert wird. Von der Seite der Person aus gesehen stellt sich die multiple Differenzierung als Konfrontation mit doppelt pluralisierten »Inklusions-Profilen« (Burzan, Lökenhoff, Schimank 2008) dar. Doppelt pluralisiert sind solche Inklusionsprofile, d.h. Ensembles von gesellschaftlichen Zugriffen auf die einzelne Person, weil sich einerseits Mitgliedschafts- und Klienten-Rollen einer Einzelperson diachron und synchron vervielfältigen, und weil andererseits die Formen der kommunikativen Adressierung einer Person sich verzweigen, mindestens in die Typen einerseits der »Mitgliedschaft«, andererseits der »Zugehörigkeit«, die sich nicht graduell sondern kategorial entlang der Differenz zwischen abstrakter Formatierung (darin: numerische Identifikation) und konkreter, vorzugsweise performativ realisierter Adressierung (darin: z.B. narrative Identifizierung) voneinander unterscheiden. Das alles klingt im ersten Zugriff reichlich unübersichtlich und die soziologische Theorie ist gut beraten, sich dem hier nur im Schattenriss angedeuteten Muster typisch spät-moderner Personen-Lagen durch die Auseinandersetzung mit bereits eingespielten Deutungen anzunähern. Eine solche bereits zur Institution gewordene Deutung, an der entlang sich das Anvisierte konkretisieren und vielleicht auch rechtfertigen lässt, ist die »postmoderne« Erzählung vom

Postmoderne Fragmentierung oder Identität von Personen

»fragmentierten« Subjekt. Ganz taufrisch ist der Diskurs der Postmoderne, zu dem die Soziologie in einigen Hinsichten auch die Luhmann’sche Systemtheorie zählen kann, nicht mehr. Aber immerhin scheint sich ein konsensfähiger und orientierungsmächtiger Titel für die Zeitspanne »nach der Postmoderne« noch immer nicht etabliert zu haben. Außerdem scheint z.B. die immer noch sehr zaghaft in Gang gesetzte Reflexion auf die Identitätsrelevanz elektronisch vermittelter Selbst-Stilisierung in »virtuellen« Welten manche Motive der postmodernistischen »Subjekt-Verwindung« am Leben zu erhalten. Allenthalben wird das Desiderat spürbar, endlich eine theoretisch hinreichend feinkörnige Bestandsaufnahme der längst etablierten Verlagerung von sozialen Nahbeziehungen in (ärgerlicher Weise) so genannte »soziale Netzwerke« zu erhalten. Aber die wenigen Ansätze, die sich der virtuellen Welt mit zumindest einigen begrifflichen Skrupeln annehmen, können der Verführung kaum widerstehen, die Verlagerung von Interaktion in eine »Computer-Kultur« sogleich zu einer »entsubjektivierenden« Multiplikation von »Identitäten« aufzublähen (Turkle 1998, 2007; vgl. Münte-Goussar 2010: 284ff.). Also kann die theoretische Revision einiger Standardmotive der postmodernen Absage an die Einheitsfiktion personaler Identität für sich beanspruchen, durchaus aktuelle Desiderate oder aber Verführungen der Theoriebildung in Angriff zu nehmen. Die folgenden Überlegungen werden sich in diesem Sinne an der »Fragmentierungs-These« der postmodernen Subjekttheorie reiben, um am Ende eine Möglichkeit zu skizzieren, wie man dem Begriff der Selbstbehauptung des Subjekts noch immer (oder wieder) einen Sinn geben kann, der diese Selbstbehauptung nicht darauf festnagelt, ein alteuropäisches oder vermachtetes Instrument der Semantik zur illusionären Verzeichnung und Substanzialisierung der Person zu sein. Postmoderne und systemtheoretische Rekonstruktionen konvergieren – unter verschiedenen normativen Vorzeichen – bei der Arbeit an der Aushebelung der »Subjekttheorie« in zwei Punkten: Sie unterstellen, dass die moderne Entwicklung zur Individualisierung sozialer und personaler Identitätssemantiken auf eine Fragmentierung der individuellen, personalen Identität hinausläuft; und sie begründen diese Einschätzung differenzierungstheoretisch (und damit entsprechen sie in mindestens zwei Aspekten unserer Problemexposition). Eine sehr allgemeine Voraussetzung dieser Annahme kann kaum mehr bestritten werden: Individuelle Identität ist abhängig von sozialen Kontexten und keine vorsoziale, substantielle Entität. Die spezifischere These aber, dass die Ausweitung der Polykontexturalität in der modernen Gesellschaft sich unmittelbar in die bewegliche Einheit der Person bis zum Punkt ihrer Zersplitterung fortschreibt, ist korrekturbedürftig. In der Fluchtlinie dieser Zersplitterungsvermutung liegt der Verdacht, jede soziale, soziologische oder von einer Person über sich selbst aufgestellte Behauptung, die die Identität einer Person zum Gegenstand nimmt, hätte

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nurmehr ideologischen Charakter. Deshalb versuchen die folgenden Überlegungen, die Folgen moderner funktionaler Differenzierung (im Konzert mit anderen Differenzierungsachsen) für die individuelle Identität entlang des doppeldeutigen Problems der personalen »Selbstbehauptung« präziser einzuschätzen. Wenn von »Selbstbehauptung« gesprochen oder geschrieben wird, kann damit entweder die kommunikative Aussage über ein Selbst oder aber die praktische Durchhaltung dieses Selbst gegen Widerstände (oder gegen versagte Akzeptanz) gemeint sein (oder auch beides). Die Komplexität moderner kommunikativer Arenen multipliziert nun die Kontexte der Selbstbehauptung in beiden Hinsichten (viele Aussage-Kontexte und viele Selbstpräsentations-Praktiken). Sie führt damit aber, wie gezeigt werden soll, nicht zu einer Auflösung der individuellen Einheit der Identität. Sie gibt der Identität eine andere Form (nicht Substanz, sondern aspirierte Einheit in der Zeit), eine andere Funktion (nicht konforme sondern selbst-regulierte Teilhabe an der Reproduktion von »Gesellschaft«) und sie delegiert die Gewährleistung dieser Form und dieser Funktion an die Personen. Das aber führt nicht zur Fragmentierung, sondern im Gegenteil zur Intensivierung der sozialen Resonanz für transitorische, pragmatisch ausagierte, individuelle Selbstverhältnisse.

II. K ritische Theorie der kommunik ativen B ehaup tung eines S elbst Die Selbstbehauptung der Person galt für Horkheimer und Adorno als das Prinzip der Herrschaft des Subjekts über sich selbst und anderes. Der Siegeszug der instrumentellen Vernunft bedeutete die subjektive Unterwerfung des Objektes. Diese Unterwerfung erkauft das Subjekt selbst aber mit der eigenen Unterwerfung, und es entrichtet damit den Preis für die Herrschaft des rationalen Menschen über die äußere Natur und den anderen Menschen. Selbstbehauptung ist das Urprinzip, das Motiv und das Ergebnis der erfolgreichen Steigerung rationalen Umgangs mit dem eigenen Selbst wie mit einer unsicheren und bedrohlichen natürlichen wie humanen Umwelt.1 Das Selbst, welches sich behauptet, ist immer schon das Selbst, das sich im Zuge der Zwangsherrschaft herstellen muss, es ist eben nicht die Essenz eines reflektierenden Wesens, kein vorausliegendes, bereits abgegrenztes Ich, sondern es erscheint als die Errungenschaft, die durch Zwang und eben 1 | Bekanntermaßen illustrierten Horkheimer und Adorno diesen Zusammenhang an der Selbstbindung des Odysseus während der Passage entlang des Sirenenfelsens, in der zugleich die Zügelung der eigenen Triebnatur und die Arbeitsteilung, die den Gefährten die Sinne verschließt und sie zu Befehlsausführern machen muss, zum Ausdruck kommt (vgl. Horkheimer, Adorno 1988: 66f.).

Postmoderne Fragmentierung oder Identität von Personen

auch Selbstzwang gegen äußere Hemmnisse wie gegen innere Widerstände, so gegen das Lustprinzip des undisziplinierten Wesens, durchgesetzt werden muss. In der älteren Kritischen Theorie sind Weltgeschichte und Ontogenese weitgehend ineinander geblendet. Die Zwangsmomente, die die Psychoanalyse dem neurotischen Charakter des äußerlich erfolgreichen bürgerlichen Ich abgelauscht hat, werden in der »Dialektik der Aufklärung« zum Prinzip der Entwicklung einer gesamten Zivilisation und der ihr zugehörigen sowie sie verallgemeinernden Metaphysik. Die säkulare Dialektik zwischen Herr und Knecht spiegelt sich in der ganz persönlichen Unterwerfung des Es unter das Über-Ich. Die Selbstbehauptung des Subjektes unterwirft dieses schließlich im Zuge der Verkennung der individuellen Aspekte des Selbstseins dem Selbsterhaltungszwang. Selbstbehauptung ist schon bei Adorno sowohl die Durchsetzung einer Identität als auch die Aussage dieser Identität; denn das Medium der Aussage ist die allgemeine Bedeutung des Begriffs; die Aussage nagelt das wandelbare Individuum in seiner ineffablen Besonderheit subsumtionslogisch an die Kategorie. Und weil die begriffliche Sprache bei Adorno ein Medium der Subsumtion des Allgemeinen unter das Besondere ist, transportiert das praktische Durchhalten des einmal ausgesagten Selbst den Identitätszwang des begrifflichen Denkens und darin den gesellschaftlichen Zwang. Etliche Jahrzehnte nach Adorno gibt es mehrere Wege, zugleich den Anti-Essentialismus und den Ideologieverdacht aufzugreifen2, die sich in der Einschätzung des Spielraumes und der Form »gelungener« Individuierung unterscheiden: einen postmodernen, skeptischen und einen intersubjektivitätstheoretischen Weg. Beide konträren Auswege teilen mindestens die eine Voraussetzung mit den alten Kritischen Theoretikern: dass das Selbstverhältnis der Person und d.h. in diesem Sinne ihre konkrete Identität keine vorsoziale Substanz, sondern das Ergebnis der Internalisierung von sozialen Erwartungen und Zuschreibungen ist, die zudem einen entfremdenden Charakter haben können (oder bei hinreichend kritischer Zuspitzung: müssen). Das meint genauer betrachtet schon mehr als nur, dass Individuen ihre personale Identität in ein Verhältnis zur sozialen Identität (Krappmann 1976) zu bringen haben und überdies das »Produkt« von Sozialisationsprozessen sind. Es spielt darauf an, dass die Genese des »Selbst«, jenes »inneren Zentrums der Selbststeuerung« (Habermas 1988: 190) bereits erklärungsbedürftig, aber keine universale Voraussetzung ist, sondern in Abhängigkeit zur sozialen Organisation des Verhältnisses der Personen untereinander steht. Sozialisation setzt dann insofern tiefer an, als die Instanz, welche sozialisiert wird, in diesem Prozess selbst erst emergieren können muss. Die Frage der Identität ist dann zugleich das Problem der Genese eines Selbst überhaupt und das Problem seiner konkreten Bestimmung 2 | Ohne bei einer aporetischen, negativen Geschichtsphilosophie zu bleiben.

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in Differenz zu anderen. Jenes Selbst, das sich gegen etwas oder gegen andere behaupten will, muss zuvor explizit oder implizit – in Gestalt von Adressierungen und Erwartungen, die diese Adresse allererst setzen – behauptet werden.3 Mit dieser Überlegung ist die entscheidende Doppeldeutigkeit des Ausdrucks »Behauptung« ins Spiel gebracht: Behaupten heißt einmal, etwas gegen Widerstände aufrecht erhalten oder durchsetzen; zum anderen bedeutet es, etwas auszusagen. Diese beiden Bedeutungen hängen dann eng zusammen, wenn das primäre Medium der Konstitution und der Aufrechterhaltung eines Selbstverhältnisses und einer konkreten personalen Identität die Kommunikation ist. Das Selbst einer Person, respektive ihre Identität, wird von anderen und von der Person selbst zu großen Teilen erhalten und durchgesetzt, indem es implizit wie explizit kommunikativ behauptet, d.h. ausgesagt oder in Sprachhandlungen adressiert, impliziert, vorausgesetzt und abverlangt wird, wenn also z.B. Verantwortlichkeit und Rezeptivität zugeschrieben werden. Interessant und zugleich mehrdeutig wird dieser Zusammenhang, wenn es um die Frage geht, wie weit der sozialen bzw. kommunikativen Fiktion einer personalen Identität eine intentionale »Wirklichkeit« entspricht, zugrunde liegt oder entgegenkommt. Denn die intersubjektivitätstheoretische Umkehr der Beweislast, die nicht das Selbst, sondern die Kommunikation voraussetzt, führt in besonders skeptischen Varianten dazu, bei der Beschreibung des konstruktiven Charakters der »Selbst«-Behauptung Fiktionalität und kommunikative Wirksamkeit ineinander zu blenden. Der kommunikativ erfolgreichen Behauptung des Selbst einer Person muss dann gar kein inneres Selbstverhältnis, das dem Anspruch der Identität genügen würde, entsprechen. In der systemtheoretischen Beschreibung des Verhältnisses zwischen Intentionalität und kommunikativem Sinn besteht z.B. zwischen der Fremdreferenz personalisierender Zuschreibungen in der Kommunikation und der Selbstreferenz von Reflexionen in psychischen Systemen keine Verbindung, die wechselseitige Projektion zu kontrollieren und zu korrigieren gestattete. Individualität teilt sich darum bei Luhmann auf zwei »operativ« getrennte Sinnhorizonte bzw. Systemreferenzen auf: Das eine ist die vorgegebene numerische Identität eines abgeschlossenen psychischen Systems und das andere ist die variable Semantik spezieller sozialer Systeme, die ihre personale Umwelt je nach eigener Struktur und Semantik als Rollenträger, Typen, konventionelle Personen oder hochindividualisierte Einzelne beschreiben können. Und letztere Beschreibungen werden nicht etwa von psychischen Systemen »internalisiert«, sodass dann doch eine sozialisierte Person sich komponiert, sondern sie führen über 3 | So die pragmatistische Aufnahme der Mead’schen Sozialpsychologie (Mead 1967), die gegen das Fichte’sche Prinzip des ursprünglichen selbstsetzenden Aktes den Vorrang sozialer Erwartungen und Zuschreibungen stark macht (besonders deutlich bei: Habermas 1988: 187ff.).

Postmoderne Fragmentierung oder Identität von Personen

die eigentümliche, aber angeblich immer selbstreferentielle Umwandlung von »Irritationen« in »Informationen«, die den Titel der »strukturellen Kopplung« trägt, zu selektiven und komplett nach jeweiliger Eigenlogik konstruierten Resonanzen (Luhmann 1984, 1989). Der systemtheoretische Konstruktivismus verbündet sich auf diesem Wege mit dekonstruktivistischen Argumentationen, die die Zuschreibung von personaler Identität als einen eigenständigen semiotischen oder diskursiven Effekt beschreiben, sodass vermeintliche Prozesse der Sozialisation einer stabilen Identität nur verkannte Fiktionen sind. Auffällig wird der fiktionale Charakter personaler Identität unter Bedingungen moderner sozialer Ordnung. Dann herrscht in der Sprache der Systemtheorie der Typus einer »Exlusionsindividualität« vor, während das postmoderne Vokabular die Vorstellung eines »polyphrenen« Selbst bereitstellt. Beide Varianten der Skepsis stützen ihren Verdacht dabei auf soziostrukturelle Differenzierungsannahmen. Die Aufspaltung der Gesellschaft in funktionale Teilsysteme oder in Diskurs- oder »Satzuniversen« (Lyotard 1989: 135), wird als Auflösung der Einheit der Gesellschaft und als durchgängige Entbindung von Inkommensurabilitäten zwischen Systemen gelesen. Die Personen sollen im Sog dieser Differenzierung aufgeteilt werden in Rollenfragmente, die den Imperativen diverser Systeme folgen. Sie gelten dann ihrerseits als zerrissen in eine Vielzahl von nicht integrierbaren Identitäten. Dann wäre die Behauptung des einheitlichen Selbst in der Tat immer nur ein kommunikatives oder ein semiotisches Artefakt, das in keinem wesentlichen Zusammenhang steht mit der Behauptung durch ein zuvor einfach nur behauptetes, dann aber als »Zentrum der Selbststeuerung« emergierendes und sich doppelt behauptendes Selbst. Prüfstein in dieser Frage ist letzten Endes die Handlungstheorie. In ihr wird sortiert und näher bestimmt, was unter einer Handlung zu verstehen ist und in welchem Sinne soziale Kommunikationen nicht nur kommunikativ auf Personen zugeschrieben werden, sondern faktisch von diesen intendiert und vollzogen sind, in welchem Sinne und wie vollständig also eine Person an z.B. systemisch spezialisierter Kommunikation beteiligt ist. Die These der Fragmentierung der Personen stellt dabei eine Radikalisierung der mittlerweile vertrauten Individualisierungstheoreme dar, die in den unterschiedlichsten soziologischen Beschreibungen des aktuellen Standes moderner Gesellschaften einen festen Platz gefunden haben. Die Frage nach der Identität der Person im Sinne der doppelten Selbstbehauptung stellt sich vor diesem Horizont als handlungstheoretische Rückfrage an die Hypothese einer soziostrukturell erzwungenen Individualisierung.

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III. O bjek tive und subjek tive I ndividualisierung Die These einer strukturellen Individualisierung macht innerhalb der Soziologie schon seit langer Zeit die Runde. Und viele der zur Untermauerung dieser Vermutung mobilisierten Evidenzen sind nicht von der Hand zu weisen. Diverse soziostrukturelle Tendenzen belegen das Ineinandergreifen einer subjektiven und einer objektiven Individualisierung der Identität von Personen. Mindestens seit Georg Simmels Beobachtung der Multiplikation von sozialen Kreisen und ihrer Überschneidungen4 fällt auf, dass der Trend zunehmender sozialer Differenzierung und Arbeitsteilung (Durkheim 1977) die einzelnen Personen individualisiert oder zumindest individualisierende Tendenzen etabliert. Objektive Individualisierung vollzieht sich dabei – systemtheoretisch reformuliert – durch die Abkoppelung von Funktionssystemen aus den vormaligen Verquickungen von stratifikatorischer Schichtung und ökonomischen, politischen und rechtlichen Handlungszusammenhängen. Funktionale Differenzierung führt dazu, dass die zuvor verwandtschaftlich fundierte und netzwerkbasierte Positionierung der Personen in sozialen Lagen durch Inklusion aller Personen in Funktionssysteme ersetzt wird, wobei diese Personen in die private »Sorge um sich selbst« entlassen werden. Die soziale Lage und der Lebenslauf der Menschen ist ihnen nicht qua Zugehörigkeit zu einer dichten sozialen Gemeinschaft, einem Stand einer Familie, einem Klan, in die Wiege gelegt, sondern wird in Abhängigkeit von individuellen Leistungen und Aspirationen im Kontext von Ausbildungsorganisationen, universal-individualistischen Rechtsverhältnissen und Arbeitsmärkten erworben.5 Diese objektive Individualisierung, bei der einzelne Personen in Wirtschaft, Erziehung, Recht, Politik etc. genau und nur als einzelne Personen und dies nur im Rahmen einer speziellen »Rolle« auftauchen, hat – aus der soziologischen Vogelperspektive – ihre intentionale Entsprechung in Phänomenen der subjektiven Individualisierung. Diese drückt sich nicht sofort »psychologisch«, sondern »semantisch« in der kulturellen Durchsetzung individualistischer »Selbst«-Deutungsmuster aus: in der moralischen und kulturellen

4 | Bei Simmel wird jedoch zudem präsent gehalten, was die aktuelle Individualisierungsdebatte nicht immer in Erinnerung ruft: dass die semantische Betonung der Individualität der Einzelnen auch eine standardisierte Semantik, also eine gar nicht besondere, sondern allgemeine Bestimmung der Identität von Personen, darstellen kann (vgl. Simmel 1917, 1983). 5 | Der Trend zur objektiven Individualisierung (vgl. dazu Beck 1986; Hradil 1992; Sennett 1998).

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Betonung der Autonomie der einzelnen Person und ihrer Ansprüche auf ein persönliches Lebensglück6. Die philosophische Artikulation der entsprechenden Semantik ist zunächst die moderne Idee der Autonomie des Subjekts, danach das romantische und später hermeneutische Modell der inneren Unendlichkeit einer Person, deren Identität vor allem in ihrem reflexiven Verhältnis zu ihrer besonderen Lebensgeschichte besteht. Die Identität der Person – das diffundiert in alltägliche Aspirationen hinein – wird zum Projekt.7 Das bedeutet zum einen, dass die Identität im Takt der Moderne verzeitlicht wird; sie steht nicht qua Geburt (oder Adoption) fest, erschöpft sich nicht im Ensemble zugeschriebener Eigenschaften und Rechte und Pflichten, sondern sie ist einer Entwicklung und der Deutung durch die Person selbst unterworfen. Die (extensional) weit entwickelte soziologische Biographieforschung sucht in den verschiedensten Segmenten der sozialen Welt nach diversen Typen der alltäglichen Verfertigung von romantisch infizierten Bildungsromanen.8 Jede persönliche Lebensführung steht unter der Vermutung, einer selbsterzeugten, allerdings sozial typisierten narrativen Vereinheitlichung auf der Spur zu sein. Die Identität der Person ist dann narrativ erworben und narrativ gebaut.9 Der zweite Aspekt des Projektcharakters der Identität betrifft indessen die Zielvorstellung, die mit der Zukunft der Geschichte, die einer und eine sind, und dann gegebenenfalls erzählen können, verbunden wird.10 Zum individuellen Projekt gehört, was Heidegger in den Vordergrund der Daseinsanalyse gestellt hat, der Entwurfscharakter des Daseins. Die Individualität des Identi6 | Die neuere Lebenstilforschung knüpft an älteren Debatten über den Wertewandel in Richtung postmaterialistischer Werte (Inglehard 1995; Bell 1976) an und versucht zu belegen, was der Alltagsintuition nicht fremd ist, dass überzufällig viele einzelne Personen an hedonistischen Werten und einer individualistischen »Selbstverwirklichung« Interesse zeigen, dabei vor allem in ihren Präferenzen nicht einem Typus folgen, der aus ihrer objektiven sozialen Lage (Einkommen, Bildung etc.) einfach abgeleitet werden könnte (vgl. Hradil 1987; Hörning, Gerhard, Michailow 1990; Peters 1993: 127). 7 | Vgl. zur Geschichte der Projektidee mit Bezug auf die Identität der Person: Charles Taylor 1989 und Taylor 2002: 273ff. 8 | Siehe dazu auch den Titel: »Wer schreibt meine Lebensgeschichte« (von Engelhardt 1990). 9 | Zur Einführung des Gedankens der narrativen Struktur von Alltagskonzepten der personalen Identität siehe Habermas 1981; Taylor 1985; MacIntyre 1981; vgl. dazu auch: Straub 1998. 10 | Ein Gesichtspunkt, der in der Narrativitätsstheorie Paul Ricœurs im Vordergrund steht (vgl. Riceour 1988a und 1991, 1990, und auch: Renn 1997), während sich die empirisch arbeitende Biographieforschung zu großen Teilen noch stillschweigend an Dilthey orientiert, der vom Modell der Retrospektion ausgeht.

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tätsprojektes macht sich vornehmlich dadurch bemerkbar, dass sowohl Weg als auch Ziel des Lebenslaufes selbstentworfen, nicht nur selbstgewählt sind. Dies ist ein ebenso unscheinbarer wie bedeutsamer Unterschied. Die Wahl, wer ich sein und werden will, individuell zu treffen, selbstbestimmt, in der positiven Freiheit des Entwurfes, macht das resultierende Projekt noch nicht zu einem individuellen, solange die Möglichkeit besteht, dass jene Wahl nur eine Entscheidung zwischen heteronom gesetzten Zielen, zwischen sozial gewährleisteten, typischen und allgemein standardisierten Zielen oder Lebenslaufvarianten ist, wenn also die positive Freiheit, sich zu entscheiden, nicht von der negativen Freiheit von der Beschränkung der Optionen begleitet ist. Ein ausreichend anarchistischer Existentialismus mag den sozialen Zwang, bei der Wahl der Lebensführung mehr oder weniger auf kollektiven Bahnen zu fahren, beklagen und – wie Heidegger – zum entschlossenen Bruch mit jeder Art sozialer Konvention auffordern. Die oben erwähnten Überlegungen zur intersubjektiven Struktur der »Selbst«-erzeugenden Selbstbehauptung lassen dagegen vermuten, dass die narrative Struktur des Projektes der Lebensführung – nolens volens – darauf angewiesen ist, dass es nicht nur kommunikabel bleibt, sondern auch kommunikativ entwickelt wird. Auf der normativ-affektiven Seite ist dabei an die Notwendigkeit der sozialen Anerkennung von Identitäten zu denken11; hinsichtlich der Interpretationsabhängigkeit von Lebensgeschichten kommt zudem das Problem in Betracht, dass diejenige, die kein anderer versteht, sich selbst nicht verstehen, folglich nicht entwerfen kann. Die Erzählung bleibt verwiesen (wenn auch nicht exklusiv reduziert) auf eine intersubjektive Sprache (Renn 1997: 209ff.). Eine radikale Forderung nach der existentiellen Freiheit von jeglicher sozialen und sprachlichen Konvention scheitert an der Unmöglichkeit einer absoluten Privatsprache (wenn auch die Individuierung der Person die Entbindung privatsprachlicher Konnotationen einschließen muss). Die Identität der Person, wie individuell auch immer, kann sich nur im Verhältnis zu sozialen Zuschreibungen, Erwartungen, Anerkennungen etc. entwickeln, nicht in radikaler Abkoppelung von jeder Art »alltäglicher Auslegung des Daseins« (Heidegger 1984). Das emergierende Selbst eines Individuums, das sich seiner Individualität gewiss ist und darin

11 | In affektiv-normativer Rücksicht ist hier auf Axel Honneth zu verweisen (Honneth 1992). Anerkennung drückt sich in differenzierten sozialen Lagen und darüber hinaus ebenso in profaneren Erfolgskriterien aus. Das individuelle Glück, dass mit viel Geld, öffentlicher Aufmerksamkeit, Ämtern, Privilegien diverser Art verbunden ist, kann nicht ungeprüft unter (Selbst-)Entfremdungsverdacht gestellt werden. Wie Luhmann unter Verwendung des Begriffs der »Karriere« unterstrichen hat, bleibt auch die vordergründige Absage an konventionelle Annerkennungskriterien wie Erfolg negativ auf die Vorlage bezogen, um bestimmbar zu bleiben (vgl. Luhmann 1984).

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durch äußere Reaktionen bestärkt wird, muss sein besonderes Selbst im Medium öffentlicher Selbstbehauptung behaupten. Hier nun greifen objektive und subjektive Individualisierung auf verschiedenen Ebenen ineinander. In der Nahperspektive einer Betrachtung von sozialisatorisch relevanter Kommunikation (die natürlich nicht auf das Elternhaus und die Primarstufe beschränkt bleibt) geht es um die Feinstruktur von Kommunikationen: Wie wird ein Selbst in der Interaktion unter Anwesenden behauptet, und wie behauptet es sich selbst? In der Vogelperspektive auf abstrakte Mechanismen der Systemintegration einer Gesellschaft geht es um die soziostrukturellen Anforderungen an die standardisierten Handlungskompetenzen von Rollenträgern und Akteuren in speziellen Kontexten: Wie individuell müssen oder können Personen in Systemen und Organisationen, als Konsumenten und Klienten in ihrem Beruf und in öffentlichen Arenen agieren?

IV. P olyphrenie und E xklusionsindividualität ? Die genannte These der Fragmentierung der Person als Folge funktionaler Differenzierung findet mittlerweile breite Anerkennung. Sie unterstellt nun, dass durch die soziale Differenzierung der Gesellschaft Individualität notwendig eine privative Angelegenheit wird: Personen kommen nur mehr als Fragmente in sozialen Selbstbehauptungskontexten (im Sinne der Zuschreibung eines Selbst) vor; eine übergreifende Identität, die diese Fragmente synthetisiert – narrativ oder nicht – kommt angeblich deswegen nicht in Betracht, weil genau diese synthetische Leistung und ihre expressive Artikulation in den relevanten sozialen Kontexten keine Arena mehr findet und dysfunktional sei. Dieser vermeintliche empirische Befund wird in postmoderner Diktion dabei keineswegs an altehrwürdigen Maßstäben starker, autonomer Identität gemessen und also nicht als sozial erzwungene Selbstentfremdung beklagt, sondern geradezu als Modell gelungener Lebensführung empfohlen. Wolfgang Welsch z.B. bringt das Ensemble von Identitätssplittern, das eine Person vorstellt, auf den Begriff der »Polyphrenie«12 . Die semantische Anleihe an der nach wie vor eher anrüchigen Schizophrenie, die mit dem Oberton erfreulicher Vielfalt verkoppelt wird, bezeichnet nach Welsch die doppelt zeitgemäße Form der Identität. Denn sie sei zum einen empirisch belegbar13, zum anderen aber sei sie eine »gelingende Form und nicht Bedrohung der Identität« 12 | In Anlehnung an Kenneth Gergens Begriff der Multiphrenie (Gergen 1990, 1996), sowie in Verwandtschaft zu Peter Gross’ Beschreibung einer »Bastelmentalität« als eines subjektiven Pendants zu einer »Multioptionsgesellschaft« (Gross 1985). 13 | Zur kritischen Einschätzung der bei Lichte betrachtet dünnen empirischen Basis dieser Adäquatheitsbehauptung, vgl. Straub 2000: 138ff.

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(Welsch 1991). Gemeint ist allerdings von Welsch eine gelingende Form des Person-Seins, denn eine einzige Identität, die jene Polyphrenie übergreifen müsste, wird ausdrücklich verabschiedet. Als zeitgemäßes Modell erscheint eine »[…] ästhetische Inszenierung von Sequenzen eines Selbst, der keine angebbare Identität mehr zugrunde liegt, und das in seinen verschiedenen Szenen und Rollen nicht Facettenreichtum einer Person, sondern den Übergang von einer Identität zu anderen demonstriert« (Welsch 1991: 355). An anderer Stelle relativiert Welsch zwar diese Apotheose der Zersplitterung durch sein Konzept einer »transversalen« Identität, also einer ästhetisch fundierten Kunst des Übergangs und der subjektiven Angemessenheit gegenüber wechselnden Kontexten, doch das Modell der unaufhaltsamen Zersplitterung der Identität erfreut sich insgesamt großer Verbreitung. Es taucht auch dort auf, wo nicht in postmodernem Überschwang die Kaleidoskopisierung der Lebensentwürfe zum Programm erhoben (z.B.: Bolz 1997: 79), sondern als moralisches Problem dargestellt wird. Zygmunt Baumann beschreibt die postmoderne Tendenz der Aufhebung stabiler Selbstbehauptungen allegorisch als den Übergang vom Modell des Pilgers zur Figur des Touristen, des Vagabunden und Spielers (Baumann 1996). Diese Verwandlungen bezeichnen den Übergang von einer ethisch-moralisch stabilisierten Identität der Person zu einem Typus, der jede Verpflichtung und jedes Engagement flieht, stattdessen ohne Rücksicht auf ausgreifende zeitliche Horizonte des eigenen Handelns augenblicksbezogen seinen Nutzen sucht. Der moderne Projektcharakter der Identität verdichtet sich nicht länger zu einem kontinuierlichen Entwurf, der ausgreifende, biographisch extensive Zeithorizonte einschließt. Es verbreitet sich vielmehr das individuelle sozialpsychologische Gegenstück zu der von Baumann beschriebenen »Adiaphorisierung«, d.h. der Herausnahme von Teilen der sozialen Realität aus dem Zuständigkeitsbereich moralischen Urteilens (Baumann 1996b: 48, 1999). Der Mangel an Einheit der Identität äußert sich in der Entlastung der Person von Konsistenzanforderungen und von den Momenten der personal zurechenbaren Verantwortlichkeit, die das Format der klassisch modernen, autonomen Person an dauerhafte und obligatorische soziale Bindungen heranführen sollte. Beide genannten Varianten der Fragmentierungsthese konstatieren übereinstimmend eine umfassende Freisetzung personaler Identität aus kollektiven Identitätszwängen, eine Befreiung von askriptiven Identifizierungen, schließlich von der internalisierten Disziplinierung, in der das Selbst den Selbstzwang und die Unterwerfung unter soziale Erwartungen in eigene Regie genommen hatte.14 Die normativ positive Version präsentieren Autoren wie 14 | Zur Interpretation der Modernisierung sozialer Subjektkonzepte als Delegation äußerer Disziplinierung und Kontrolle an die Subjekte selbst vgl. neben der oben erwähnten älteren Kritischen Theorie auch: Norbert Elias (1977) und Michel Foucault (1976).

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Wolfgang Welsch. Für sie ist der Austritt aus den modernen Disziplinardispositiven im Medium des Ästhetischen ein Weg zur Selbsterschaffung, die befreit ist vom formalen Zwang zur Selbstbehauptung im Sinne der Erhaltung eines zwar gewählten und zu entwickelnden aber einheitlichen Selbst. In Baumanns eher kulturkritischer Beschreibung bedeutet die Befreiung vom Zwang der doppelten Behauptung der Einheit des Selbst dagegen die Freistellung von Zurechnungsfähigkeit und Verantwortung. Fragmentierung bereitet in dieser Optik der Desintegration und Entsolidarisierung der Gesellschaft den Weg. Von dieser Warte aus betrachtet erscheint jede postmodern »entsubjektivierte« (d.h. vom Autonomie-Zwang entlastete) Person als ein hedonistisch fragmentierter Neoliberaler. Ungeachtet der Differenz der normativen Vorzeichen sind sich also beide Varianten einig in der Skizzierung des klassisch modernen Identitätskonzeptes und der Beschreibung seiner soziostrukturellen Fundierung und Funktion: Die Identität der Person als eine synthetische und gegen Erfahrungen der Brüchigkeit behauptete Einheit hält sich ihr zufolge in der Moderne an das Modell der starken, autonomen Subjektivität, die sich des inneren und äußeren Zwanges verdankt. Insofern dient das klassisch moderne Subjekt dem Ziel einer Integration der Gesellschaft durch moralische Homogenität und subjektive Selbstverallgemeinerung; erreicht wird dieses Ziel durch das Mittel der Disziplinierung, die im Zuge der Internalisierung von Erwartungen, Kontrollen und Sanktionen an die behaupteten und nun zur instrumentellen Selbstbehauptung gerüsteten Individuen delegiert wird. Ein schlichter Einwand gegen die dazu formulierte Alternative drängt sich allerdings sogleich auf. Die vollständige Fragmentierung der Person scheint schon begrifflich insofern zweifelhaft, als sie konsequenterweise auch noch die Bezeichnung der Einheit dessen, was da fragmentiert werde, unmöglich macht. Wenn man begriffslogisch von Identität auf Differenz umstellen will, ist es nicht länger erlaubt aus einer ungeklärten Beobachterposition heraus von der Aufspaltung »einer« Person in Fragmente zu sprechen, statt dessen müsste der Befund einer Pluralität von Personen dem Irrtum entgegengehalten werden, die Teilcharaktere, als die ein nurmehr organisch, also numerisch individuierter Mensch sozial adressierbar ist, würden sich zur Einheit einer Person verdichten. Der begriffliche Rückzug auf die Pluralität von Personen (oder, wie es bei Welsch anklingt, von Identitäten) würde dann allerdings die Bedeutung des Ausdrucks »Person« eben auf ein solches Fragment (aber von was?) einschränken, sodass in der Konsequenz von Fragmentierung gar nicht die Rede sein könnte. Denn das Fragment wäre mit sich selbst identisch, different nur im Bezug auf jene Einheit, die keine sein soll. In welchem Sinne wäre jemand, der oder die in jedem besonderen Kontext ein anderer oder eine andere wäre, überhaupt »jemand«, der oder die sich zwischen Kontexten bewegt? Allein die Erinnerung, wie verzerrt sie auch sein möchte, die eine aus

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dem letzten Kontext in den nächsten hineinträgt, gibt der Auffassung und der Performanz im jeweils aktuellen Kontext einen Kontext, der nicht aus dem aktuellen Kontext stammen kann. Das wird in jeder Situation wenigstens der Person auffällig, die auf Dissonanzen zwischen dem eigenen »Habitus« und den jeweils in einem Aufenthalts-Kontext gegenwärtigen Erwartungen stößt, sei es bei Gelegenheiten »interkultureller Kommunikation«, sei es in Gestalt des »Hineingeratens« in ungewohnte Situationen. Die Beklemmung der trockenen Protestantin inmitten des rheinischen Karnevals, die Not des Schweigsamen, der auf der Trauerfeier zur Rede gezwungen ist, wie die Unsicherheiten des Berufsanfängers beim Klatsch auf dem Gang, sie bezeugen alle, dass die Person mindestens die Differenz zwischen sedimentierten Routinen des eigenen Auftritts und den Anforderungen der gegenwärtigen sozialen Rahmen kennt und also – wenn auch implizit – Sequenzeffekte des eigenen »Lebenslaufes« in die folgenden Situationen hineinträgt. Die entscheidende Argumentation bewegt sich indessen gar nicht auf der Ebene möglicher begrifflicher Inkonsistenzen (oder: Erschleichungen), sie hält sich an die soziologischen Voraussetzungen der empirischen Behauptung einer Tendenz zur fragmentierenden Individualisierung. Diese Behauptung wird, wie gesagt, differenzierungstheoretisch gestützt. Die Pluralisierung von Selbst-Anteilen folgt der funktionalen Differenzierung der Gesellschaft, der Aufspaltung der sozialen Welt in ein polykontexturales Arrangement von sozialen Kontexten, die gegeneinander bis zur Undurchlässigkeit abgegrenzt sind. Einfach gesagt: das Individuum kann kein einheitliches Selbst mehr gegen die Pluralität sozialer Selbstbehauptungen behaupten, weil es unabdingbar auf allen Hochzeiten tanzen muss, die die multiple soziale Welt parallel ausrichtet. Soziologisch ausgefeilt hat dieses differenzierungstheoretische Szenario in erster Linie die Luhmann’sche Systemtheorie.15 Auf ihren Spuren beschreiben Alois Hahn und Cornelia Bohn den Zusammenhang zwischen der funktionalen Differenzierung und der Entwicklung des angeblich typischen Formates einer »Exklusionsindividualität« (Hahn, Bohn 1999). Die systemtheoretische Pointe besteht darin, dass soziale Systeme von einer gewissen Komplexität an das Problem sozialer Ordnung im Sinne der Stabilisierung von Handlungserwartungen und situationstranszendenter Regelmäßigkeit ohne Rekurs auf das Wissen und das Bewusstsein von Personen lösen können. Personen (im Sinne eines Selbst) wandern in die Umwelt sozialer Systeme ab, Kommunikation stabilisiert sich dank ihrer Reflexivität und der Ausbildung von Codes und Medien allein. Die Individualität bzw. die Identität von Personen ist dann nurmehr Thema innerhalb der Kommunikation. Personen sind Adressen, semantische 15 | Zur systemtheoretischen Differenzierungstheorie auf der Basis des Konzeptes autopoietischer selbstreferentieller Sozialsysteme vgl. Luhmann 1984 und Luhmann 1999.

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Vereinfachungen der Kommunikation, nicht aber die Außenansichten von etwas, dass sich von innen als individuelle, identische Person, die kommuniziert, versteht. Luhmann beschreibt paradigmatisch den Übergang von der stratifikatorischen zur funktionalen Differenzierung, die den Verlust des Zentrums der Gesellschaft und damit das Ende der Vollinklusion von Personen in Teilsysteme zur Folge hat. In den Worten Alois Hahns und Cornelia Bohns folgt daraus für das Individuum: »dass es sich als Einheit und Ganzheit in keiner realen Situation mehr zum Thema machen kann« (Hahn, Bohn 1999: 35). Es ist eben nur als Rollenträger selbstdarstellungsfähig, bzw. behauptbar.16 Die klassische Identitätsvorstellung wandelt sich durch die fragmentierenden systemisch zugeschnittenen Behauptungen eines nur noch »typischen« (also allgemein bestimmten) Selbst zu einer exkludierten Identität, die sich nicht in Teilsystemen oder Organisationen zur Geltung bringt. Die Auflistung von pluralisierten sozial zugeeigneten Selbst-Behauptungen, die bei Hahn und Bohn als »partizipative« Identitäten geführt werden, besteht aus generalisierten Bestimmungen, aus Eigenschaften und subsumierenden Zugehörigkeiten (Mann, Deutscher, Protestant), die sich untereinander nicht ausschließen. Diese durch Polykontexturalität bedingte äußere Verträglichkeit heterogener (aber allgemeiner) Attribute einer Person ermuntert Hahn und Bohn dazu, von der Pluralisierung der »Selbste« einer Person zu sprechen: Die Identifikation der einzelnen Person über eine Reihe »von Identitäten impliziert stets Pluralität von in Anspruch genommenen Selbsten« (Hahn, Bohn 1999: 37). Aus der soziostrukturellen Pluralisierung von kontextinternen Behauptungen über ein Selbst folgt allerdings noch nicht selbstverständlich, dass diese Behauptungen eines Selbst (der systeminternen typischen, numerischen Identität einer Person) die selbstständig angeeignete Einheit eines Selbst, das die sozial angemuteten Behauptungen seiner selbst als divergierend erfährt, unmöglich machen. Zunächst belegt die Vervielfältigung von Aspekten eines Selbst nur, dass die funktionale Differenzierung die Rollen einer Person pluralisiert: Man hat einen Beruf, ist Konsument, Klient, Verwandter und vieles mehr. Darüber hinaus belegt die Vervielfältigung vielleicht, dass die Synthese der Einheit des Individuums an dieses selbst delegiert wird. Das aber ist zunächst nur der klassische moderne Aufruf an die Person, sich als das selbst gewählte Projekt selbst zu bestimmen und zu verwirklichen, ohne dabei an der Führungsleine eines und nur eines sozialen Milieus (geburtsständische 16 | Die Darstellung der Identität der ganzen Person, die volle Selbstbehauptung gilt als abgedrängt in spezifische Situationen wie die Beichte und die Therapie, welche dann bezeichnenderweise als geheim verhandelt werden. Die Individualität ist in private, geheime Sonderkontexte ausgelagert.

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Positionierung) oder eines Funktionssystems (leistungsbezogene »Karriere«) zu laufen. Nicht nur ist die systemtheoretische Deduktion der Exklusionsindividualität aus der funktionalen Differenzierung ein unzulässiger Schluss. Es ist darüber hinaus zu bezweifeln, dass die handlungstheoretische Begründung der Fragmentierung der Person mit Rücksicht auf die Funktionalität des Handelns einer Person etwa in Organisationen überzeugend ausfällt. Denn die Übernahme der Verantwortung für die eigene Identität, wenn man so will: Die Delegation der letztinstanzlichen Befugnis über das eigentliche Selbst (und die Geltung entsprechender Behauptungen) an das Selbst beruht auf sozial sanktionierten Erwartungen an die Handlungsfähigkeit der Person in systemischen Kontexten. Es scheint doch eher plausibel, dass diese Erwartungen von einer konsequent schizo- und polyphrenen Personen eigentlich gar nicht erfüllt werden können. Denn solche Personen gelten auch in eng geschnittenen, rollenspezifischen Erwartungskontexten als nicht zurechnungsfähig, weil sie nicht erwartungsstabil und berechenbar sind. Die Struktur einer »Exklusionsindividualität« dient eben der Auslagerung, nicht der Auflösung von Verantwortung für Kontextsensibilität in die Personen hinein. Von ihnen wird nicht nur die private Sorge um sich selbst erwartet (auf der »privaten« Seite der Unterscheidung zwischen innerer und äußerer Person), sondern es wird der Person vor allem als einem funktionalen Desiderat abverlangt, auf der Basis des Gelingens dieser »Sorge um sich« selbst die Übernahme verschiedener typisierter Identitätsausschnitte und die performative Umsetzung standardisierter Sequenz-Imperative kontextadäquat auszubalancieren. Die Staatsanwältin, die am Arbeitsplatz das Telefongespräch ihrer Tochter entgegennimmt, ist funktional nicht genötigt, wie Woody Allen in der Rolle des Zelic jäh zu der Totalassimilation an die aktuellste Situation und die begegnenden Interaktionspartner zu wechseln; sie muss vielmehr in der Lage sein, z.B. die Dringlichkeit der Tagesgeschäfte in die Sprache innerfamilialer Kommunikation zu übersetzen, wenn es gilt, der Tochter plausibel zu verstehen zu geben, dass sie sich trotz dringlichster Sorgen kurz zu fassen hat. Die Identitätsaspekte der Staatsanwältin und der Mutter mögen stark divergieren, das situationsangemessene Wechseln zwischen den Kontexten verlangt gleichwohl danach, dass irgend eine intentionale Instanz, letzenendes eben das »Selbst«, das Verhältnis, die Reihenfolge und die momentanen Gewichtungen zwischen diesen Aspekten in der Balance hält. Und das ist nicht allein ein Erfordernis für die Reibungslosigkeit der individuellen Lebensführung, sondern vor allem eine funktionale Voraussetzung für die Integration innersystemischer Kommunikationsabläufe. Diesem Einwand könnte die Suggestivkraft vermeintlich natürlicher, weil alltagstauglicher Perspektiven entgegen gehalten werden. Aber die soziostrukturellen Begründungen der Fragmentierungsannahme müssen das Moment

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der radikalen Grenzziehung zwischen differenzierten Systemen und Kommunikationskontexten überscharf unterstreichen, um plausibel zu machen, dass die systemspezifischen Personenanteile ihrerseits untereinander inkommensurabel sind. Wenn Gerichte und Familien wirklich vollständig differente Sprachen sprechen und einander nicht verstehen (nur »beobachten«)17, dann weiß der Referendar als Referendar in der Tat nichts davon, dass er auch Sohn, Bruder und Freund ist. Es sind aber – zunehmend – Zweifel angebracht, ob system- und organisationsinternes Handeln und Kommunikation unter der Bedingung radikaler operativer und sinnhafter Abschließung gegen alles, was der Umwelt angehören mag, überhaupt möglich und nach funktionalen Gesichtspunkten effektiv ist. Es ist viel eher wahrscheinlich, dass soziale Systeme, von den Funktionssystemen bis zu konkreten Organisationen, die Kraft der Personen, ihr Selbst gegen die Fragmentierungszumutung des Differenzierungsgrades moderner Gesellschaft zu behaupten, als eine wichtige Ressource nutzen und darum stützen müssen. Eine wichtige Ressource ist die Selbstbehauptung der Person gegen die Verengung ihrer Identität durch rollenförmige Zumutungen, da die Personen die Übersetzung der Sprache eines Systems in die Sprache eines anderen Systems oder einer konkreten Organisation oder Interaktion in Regie nehmen können. Personen tragen darum zunehmend die Last intersystemischer Vermittlungsdienste, da sie kraft der Herausforderung, sich in unterschiedlichen Kontexten als diese Person selbst zu behaupten, eine Brücke zwischen diesen Kontexten bauen können. Die systemtheoretische Variante einer postmodernen Identitätstheorie krankt daran, dass sie die Struktur der Interaktion der Selbstbehauptung von der allgemeinen differenzierungstheoretischen Analyse der Systembildung schlicht ableitet. Darum lehnen Systemtheoretiker die Vorstellung einer personengetragenen Übersetzung zwischen sozialen Systemen ab. Das, konstruktivistische Modell autopoietischer Monaden soll die Frage nach der Emergenz sozialer Ordnung beantworten. Soziale Systeme steuern sich und ihren Umweltkontakt selbst. Das, was an Personen als subjektive Identität des Individuums die Innenperspektive eines reflexiven Zusammenhanges der Intentionalität bildet, wird systemtheoretisch in die Kategorie des psychischen Systems

17 | Die konstruktivistische Epistemologie der Theorie autopoietischer, selbstreferentieller Systeme verwendet signifikant große Mühe darauf, jede Form des Verstehens und der pragmatischen Beziehungen, die über soziale Sinngrenzen hinweg operieren, auf das kognitivistisch-distanzierte Modell der Beobachtung umzutrimmen. Was in der Hermeneutik und in pragmatistischen Theorien als das Problem der Erfahrung, die Vorannahmen zur Revision zwingt, erscheint, muss dann mühsam über konstruktivistische Figuren der Rekursivität und der Beobachtung zweiter, schließlich dritter Ordnung eingeholt werden (vgl. Luhmann 1990, 1988).

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ausgelagert18, dass entlang der abstrakten Unterscheidung von allgemeinen Typen selbstreferentieller Systeme theoretisch zu einer Monade erklärt wird. Zu dieser Einschätzung verpflichtet die Systemtheorie aber weitgehend aus »begriffsarchitektonischen« Gründen: Das Modell selbstreferentieller, autopoietischer Sinnsysteme wird generalisiert, dann jeglichem sinnhaften, und schon gar jedem sozialen System unterlegt, sodass für Interaktionen, Organisationen und gesellschaftsumspannende Funktionssysteme gleichermaßen die Typen-Trennung in Bewusstsein und Kommunikation als Medien vollständig gegeneinander verschlossener Systeme gelten soll. Die Unfähigkeit der einzelnen, ihr Selbst konsistent und umfassend in einem sozialen Kontext zu präsentieren und bestätigt zu bekommen (d.h. erfolgreich zu behaupten), von der z.B. Alois Hahn ausgeht, wird unmittelbar aus der Beschreibung des Verhältnisses zwischen Funktionssystemen und ihren gegeneinander inkompatiblen Eigenlogiken deduziert. Die Person wird jedoch als Person nicht vornehmlich in ihrer Konsumenten-, Rechtsgenossen- oder Wählerrolle behauptet, also: ausgesagt und durchgehalten, sondern eher in der schon geringer anonymisierten Form der Mitgliedschaft in Organisationen und in der noch einmal wesentlich spezifischeren Vollzugsgestalt der Zugehörigkeit zu informellen, familiären oder (u.a. »digitalen«) Freundschafts-Netzwerken.19 Wenn man die Beschreibung solcher Ebenen der Vergesellschaftung nicht ex ante begrifflich an die allgemeine Systemarchitektur assimilieren will, muss die soziale Struktur der Selbstbehauptung auf jeder der angesprochenen Ebenen eine jeweils andere Form annehmen. Und das bedeutet, dass die handlungstheoretische, die differenzierungstheoretische und schließlich die gesellschaftstheoretische Beschreibung der multiplen Formen und Prozesse der Selbst-Behauptung nicht aus einem Guss sein können. Denn die Behauptung personaler Identität erweckt auf den Ebenen der konkreten Interaktion, der habituell generalisierten, informellen sozialen Netzwerke, des Organisationshandelns und der Inklusion oder Exklusion in Funktionssysteme ganz unterschiedliche Resonanzen.

18 | Damit wird die intentionale Innenseite der Person zu einem kognitivistisch vereinseitigten Bewusstseinsstrom, dessen Modell eine ›säkularisierte‹ Husserl’schen transzendentale Phänomenologie liefert. 19 | Für die es in einer systemtheoretischen Analyse moderner Gesellschaft signifikanterweise kaum ein nennenswertes begriffliches Äquivalent gibt, weil »InteraktionsSysteme« – wieder begrifflich deduktiv – als notwendig ephemere, nämlich durch Entzug der Anwesenheit von Psychen in der Umwelt der Interaktion kollabierende, Einheiten behandelt werden, während soziale Netzwerke und Milieuzusammenhänge andererseits nicht ausreichend formal gebaut sind, um als »Organisationen« durch zu gehen.

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V. K ommunik ative S elbstbehaup tung Die soziologische Rekonstruktion der Selbstbehauptung der Person muss dieser systemtheoretischen Ableitung gegenüber darum zunächst einmal fundamentaler ansetzen und sich der kommunikativen Erschließung bzw. Konstitution eines Selbst zuwenden, dass zuerst behauptet wird, dann sich selbst – auch gegen solche Behauptungen – behauptet. Das ist zunächst eine handlungstheoretische Frage. Genauer: Es ist mit Bezug auf die Selbstbehauptung als Aussage von Eigenschaften einer Person eine kommunikationstheoretische Frage, die nicht differenzierungstheoretisch präjudiziert werden kann. Die Analyse der kommunikativen Feinstruktur der »Selbst«-Behauptung kann den Unterschied zwischen Bewusstsein und Kommunikation nicht wie die Systemtheorie vom grünen Tisch aus als Differenz zwischen System und Umwelt, die zwischen psychischen und sozialen Systemen Mauern baut, abfertigen. Sie muss vielmehr mit Rücksicht auf die konkrete Sozialisation von Individuen die Genese von subjektiven Horizonten und die Entwicklung der Eigenlogik psychischer Interiorität von der vorgängigen Einbettung personaler Identität in kommunikative Praktiken aus rekonstruieren. Der intersubjektivitätstheoretische Weg führt z.B. mit Mead von der konventionellen Einstellungsübernahme zur postkonventionellen Autonomisierung des Selbst (Mead 1967; Habermas 1988). Dieser sozialpsychologischen Rekonstruktion entspricht eine sprachpragmatische Analyse der Emergenz von Sprecher-Selbstverhältnissen, die sich im Verlauf der kommunikativen Reflexion von »Selbst«-Zuschreibungen vollzieht. Eine solche Perspektive setzt nicht von vornherein dualistisch an, sondern begreift die Differenz zwischen psychischer Interiorität und kommunikativer Bezugnahme auf diese als eine gewordene und bewegliche. Sie geht also nicht von einem Dualismus zwischen Subjekt und sozialer Welt aus, auch nicht zwischen psychischen und sozialen Systemen, sondern von einer primären Einheit kooperativer Sozialität und Sprachpraxis (Joas 1996), aus der sich in Prozessen der Differenzierung, der Ausbildung von reflexiver Selbstbezüglichkeit und Autonomisierung u.a. personale Innenperspektiven entfalten. In zunächst formaler Anzeige kann dies aus der Selbstbezüglichkeit kommunikativer Sequenzen (nicht erst aus der Rekursivität eines Bewusstseins) rekonstruiert werden, ohne ein vorgängiges Subjekt, das sich in etwaigen Interaktionspartnern »spiegelt«, voraussetzen zu müssen. Das »Selbst« der Sprecherinstanz in Sprechakten und der Aktorinstanz von Handlungen, wird zunächst durch Sprechakte, die als »Äußerungen« (von jemandem) etwas und jemanden thematisieren, reflexiv artikuliert. Dieses zuerst rein performativ unterstellte »Selbst« einer Sprecherinstanz wird durch Benennung, entlang des Systems der Personalpronomina, oder z.B. durch anaphorische Bezugnahmen adressierbar, dann u.U. direkt angesprochen. Schließlich erhält die

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Person im Horizont der Semantik des Handelns, des Systems der Handlungsverben und sozialer Typen des Handelns, einen Namen, eine Geschichte der von ihr vollzogenen Handlungen, überdies Merkmale und Eigenschaften zugeordnet. Der Unterschied zwischen einer solchen Beschreibung der selbstbezüglichen Struktur von kommunikativen oder von Sprechaktsequenzen und der Unterstellung der Autopoiesis selbstreferentieller Sozialsysteme ist nicht allzu groß und doch entscheidend. Es betrifft die Sprecherinstanz, die für eine pragmatistische Handlungstheorie durch den leiblichen Zusammenhang und Übergang zwischen der »Adresse« der kommmunikativen Zuschreibungen und dem subjektiven Empfänger dieser Zuschreibungen charakterisiert wird.20 Zuerst sind Bewusstsein und Kommunikation sozusagen einig, geradezu verschmolzen im Modus und in der Phase vorprädikativer Fusion von fungierender Intention und praktischer Routine, insofern Interaktion (primordial) auf der leiblich verankerten (»inkorporierten«) habituellen Übereinstimmung der Handlungs- und Ausdrucksdispositionen einer Kollektivität von interagierenden, »reflexionsbegabten«, aber noch nicht intentional »ausscherenden« Organismen beruht (Mead 1967; Bourdieu 1979; vgl. Renn 2006: 283ff.). Man könnte konstitutions- und evolutionstheoretisch an dieser Einsatzstelle von einem Vorrang der »Horde« vor dem »Subjekt« und vor der identischen propositionalen Bedeutung der Ausdrucksmittel sprechen. Die expliziten Formen der Selbstbehauptung greifen demgegenüber schon auf eine propositionalprädikativ strukturierte Sprache zurück, deren Referenz im Falle der Person wegen der nun thematisierbaren Kontingenz des Handelns schon unsicher geworden ist (d.h. die Behauptung über Merkmale einer Person wird durch eben jene Differenzierung, die den Spielraum propositionalen Behauptens überhaupt eröffnet, nun auffällig unsicher, insofern die Person – womöglich gerade weil sie die Behauptung kennt – sich anders, als es die Behauptung erwarten lässt, verhalten kann). Erst unter der Bedingung solch hoch voraussetzungsvoller Strukturentfaltungen können die Innen- und die Außenperspektive auf 20 | Was diesen Übergang angeht, ist auf Paul Ricœurs Analyse des Verhältnisses zwischen »ipse« und »idem« als zwei dringend zu unterscheidende Formen der »Selbigkeit« zu verweisen: Die von außen zugeschriebene Identität, die im Horizont der numerischen, raumzeitlichen Individuierung lokalisiert wird, muss mit dem Innenverhältnis eines Selbst, dem es (durchaus im Sinne Heideggers) um seine Sich-Selbst-Gleichheit geht, in eine gelingende Balance gebracht werden. Hierbei ist für Ricœur das Medium der narrativen Selbstdarstellung von besonderer Bedeutung, sofern hier Erzähler und Erzählinstanz in der intersubjektiv intelligiblen Erzählung dem entsprechen, was sprechakttheoretisch mit den Instanzen der äußeren Sprecherinstanz und der Intentionalität der sprechenden Person gemeint ist (Ricœur 1990: 55ff.). Allerdings hat Ricœur in seiner Analyse der Sprechakttheorie diesem Modell nicht allzu viel zugetraut (Renn 1997: 295ff.).

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bemerkbare Weise auseinandertreten. Dann nämlich können sich die kommunikativ erschlossene Innenwelt der Person und die situationsentrückte, d.h. generalisierte soziale Typisierungen dieser Person auseinanderdividieren und dann kann eben dies subjektiv auch realisiert und schließlich kommunikativ thematisch werden (»doppelte Kontingenz«). Die sprachliche »Selbst«-Behauptung (Aussage) vollzieht sich also – genetisch gesehen notwendigerweise – »zuerst« im Modus der performativ befangenen (noch nicht trennscharf kategorisierten) Typisierung von familienähnlichen Handlungs- und Sprechweisen, um darauf auf bauend und daraus austretend zur Institutionalisierung von Kategorien für Personenmerkmale überzugehen (wer zuerst performativ »vertraut« war, wird ein »aufgewecktes«, ein »offenherziges« Kind, ein Draufgänger, Langweiler, Angsthase, Stubenhocker, Träumer). Solche Merkmale machen die bestimmte Person nur im (besondernden) Verhältnis zu anderen typischen Merkmalen, durch Ketten von Konjunktionen und Disjunktionen, identifizierbar. Die sprachliche Typisierung muss also zunächst verallgemeinern, vor allem Merkmale, die niemals nur einer hat, durch Konjunktion dieser Merkmale und Konzentration auf den Referenzpunkt, der zuerst mit dem Eigennamen markiert wird, diesem einen »anhängen«, um kommunikativ ein Korrelat des Durchhaltens der Identität der Person beim Wechsel der Situationen und Kontexte bereitzustellen. Es ist diese eine Seite der (immer unvollkommenen) sprachlichen Repräsentation der Identität der Person, die verallgemeinernde Typisierung, die hinter der Vorstellung einer vermeintlich alternativlosen Fragmentierung der Person und einer schon durch die Sprache sozialer Systeme entschiedenen Verdinglichung personaler Identität steckt. Die soziale Behauptung, die Aussage eines Selbst (bzw. die behauptende Zuschreibung von Eigenschaften und Merkmalen), entspringt zunächst der reflexiven Bezugnahme einer Kommunikation auf die Aktorinstanz, der ein vorausgehendes Element der Kommunikation zugeordnet wird. Die Identifikation von Sprecher und Aktorinstanz wird transportiert z.B. über anaphorische Bezugnahmen (Brandom 1994) und kraft der Äquivalentsetzung von erster und dritter Person. Ich äußere mich und bin danach derjenige, von dem sie sagt, er habe sich geäußert. Bei der Verwendung eines assertorischen Satzes, beim »Treffen einer Behauptung«, wird entsprechend die in die Sprache eingebaute Rolle des grammatischen Subjekts der Äußerungshandlung, mit der die Aussage als »token« realisiert wird, auf die Innenperspektive des Sprechers projiziert. Die elementare kommunikative Behauptung des Selbst einer kommunizierenden Person ist eine objektivierende Explikation der impliziten, weil performativ wirksamen, dann immer nur selektiv explizierten, Aktorinstanz. In dieser Projektion wechselt die Modalität des Selbst. Das praktisch-pragmatische Selbst (ipse), das den Sprechakt vollzieht oder schlicht handelt, wird im Bericht über den Sprechakt zum behaupteten Selbst des Sprechers, der der-

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selbe sein soll (durchaus im Sinne impliziter normativer Erwartung), der auch diverse andere Akte vollzogen hat (idem).21 Er wird zum Referenten einer deskriptiven »Selbst«-Behauptung durch andere (und im Sinne der typisierenden, »partizipatorischen« Identität auch durch sich selbst).22 Dieser Wechsel der Modalität ist der Übergang von dem fungierenden Ich, das sich in Akten selbst auslegt und vor allem zunächst praktisch (d.h. performativ und im Medium impliziter, praktischer Gewissheit) versteht, zu einem Bezugsgegenstand der verdinglichenden Identifikation. Der Wechsel der Modalität impliziert zugleich die Öffnung einer Differenz der Bedeutung eines kommunikativen Aktes, einer Handlung bzw. eines Sprechaktes: Zwischen der »intersubjektivititätstheoretischen« Unterstellung der »Identität« der Bedeutung einer Zeichenverwendung für »ego« und »alter« und der intentionalen Innenansicht muss ein Spalt bleiben (bzw. entstehen können). Andernfalls ginge der Sinn der Ausdifferenzierung eines subjektiven Selbstverhältnisses verloren. Das wird deutlich, wenn man die Intersubjektivitätstheorie mit dem Motiv der Kritik am »identifizierenden Denken«, das Individualität unter Begriffe subsumiert, konfrontiert: Was bei Mead die Internalisierung der Erwartungen der anderen, schließlich der Gesellschaft ist, bekommt in der Perspektive Adornos den Charakter des Identitätszwangs: sich selbst (nur!) als das »Me« zu verstehen, das die soziale Umgebung behauptet, entspricht der verdinglichenden Selbst-Beherrschung. In der Sprache des Existentialismus, etwa der Sartre’schen Diktion, dominiert das »pour soi«, das mir sozial auferlegt und abverlangt wird, das »en soi«, in dem ich mich praktisch als ich selbst bewege (Sartre 1962). Die Person zieht Eigenschaften, kondensierte Zuschreibungen auf sich. Eigenschaften (Prädikate) sind fremd- und selbstzugeschrieben, verankert in generalisierten Typisierungen. Sie schaffen kommunikative Anschlussfähig21 | Die Unterscheidung zwischen »ipse« und »idem« geht, wie gesagt, zurück auf: Ricœur 1990. Man müsste an dieser Stelle in bedeutungstheoretische Tiefen vordringen: die Wendung von gesprochenen Sätzen zu Berichten über diese ist in der Analyse der propositionalen Einstellung, der »belief«-Sätze weit entfaltet. Das Interesse liegt dabei allerdings vornehmlich auf den Asymmetrien zwischen Wahrheitswerten und Existenzurteilsimplikationen. Solche Überlegungen wären an dieser Stelle nur sehr mühsam in die Frage der personalen Identität zu übersetzen. 22 | Wegen des vermeintlichen Modellcharakters dieser deskriptiven Identifikation der Person orientiert sich die empiristische Theorie der Person – teilweise berechtigt – am Paradigma der numerischen Identität. Siehe: Derek Parfits Gedankenexperimente (Parfit 1987) und auch noch Tugendhats Entmystifizierung Heideggers, bei der die Versprachlichung des existentiellen Verstehens durch die veritative Symmetrie zwischen Aussagen aus der Ichperspektive und solchen in der Perspektive der dritten Person gewährleistet werden soll (Tugenhat 1979).

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keit, Anschlusspunkte für vergegenständlichende Behandlungen des behaupteten Selbst durch mich und durch andere. Die Person wird damit in einem zunächst eingeschränkten Sinne, im Sinne der numerischen und typisierenden Wiedererkennbarkeit, »zurechnungsfähig«. Und diese Zurechnungsfähigkeit kommt sozialen Anforderungen entgegen, wird durch diese befestigt. Denn auf den Pfaden sozialer Differenzierung entfalten sich auf der Basis der typisierenden, vergegenständlichenden Identifikation funktionale Generalisierungen. Personen können dann abstrakt durch verallgemeinerte Rollen hinreichend identifiziert werden.

VI. M ultiple K onte x te und F ormen der S elbstbehaup tung Ab einem gewissen Grad der formalen Organisation und Koordination von Handlungen verdünnt sich die Behauptung des Selbst von Personen in entsprechenden Kontexten auf die soziale Typik von abstrakten Rollen. Soziale Differenzierung drückt sich nicht zuletzt in der Durchsetzung formaler Organisation (abstrakter Integration) aus. Die damit verbundene Abstraktion von Handlungsregelmäßigkeiten artikuliert und etabliert explizite Regeln, ebenso kodifizierte Gesetze wie ritualisierte Standardprozeduren. Zuerst haben Explikationen von implizit-performativen Erwartungen an die Person einen »regulativen« Status (Searle), d.h. sie ratifizieren bereits eingespielte, z.B. ritualisierte Gewohnheiten im Umgang mit konkreten Personen. Die durch die Explikation mögliche Projektion der Regel auf Kontexte und Situation, die zuvor im performativen Modus durch die impliziten Normen noch nicht »abgedeckt« waren, transformiert die regulative Regel in eine »konstitutive« Regel, die nun aufgrund der in der Explikation enthaltenen Generalisierung der routineförmigen Sicherheiten über diese Person zu einer die Praxis imperativ leitenden Standarderwartung an eine Person wie diese wird. Personen werden nun erst recht Bezugsgegenstände sachlicher Referenz, nicht aber als individuelle Personen, bei denen es auf die Eigenkerne ihres spezifischen Selbstverhältnis ankäme, sondern als Exemplare einer Gattung, die durch die Konjunktion allgemeiner Merkmale abgegrenzt und mit standardisierten Normen konfrontiert werden kann. D.h. die soziale Behauptung des Selbst einer Person konzentriert sich aus systemischen Gründen auf abstrakte typische Eigenschaften und auf numerische – so z.B. in den Kategorien des bürokratischen »Personenstandswesens« ausgeformte – Indikatoren der Aussortierbarkeit einer einzelnen Person.23 Die soziale Identität erscheint als besondere numerische Kon23 | Verdichtet erscheinen diese Indikatoren im Eigennamen, der aber, wie bei »Monika Mustermann«, im relevanten Falle (etwa bei bürokratischer Zuweisung von Rechten oder

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junktion von allgemeinen Typen, typisierten Prädikaten. Schließlich werden Lebenslaufmuster zu standardisierten biographischen Typen, die mit organisational strukturierten Karriereverläufen kompatibel sind (und dann wieder in die »Lebensplanung« zurückwirken, sodass der Einzelne an die Stelle eines »entschlossenen« existentiellen Entwurfs seines »eigentlichen Daseins« die Kalkulation der Altersvorsorge mit dem Rentenversicherungsträger setzt). Typisierungen sind in diesem Sinne kognitive Instrumente der deskriptiven Identifizierung von Personen – als solche sind diese Typisierungen funktional für abstrakte, generalisierte Kommunikationszusammenhänge, weil sie die sprachliche und praktische Bezugnahme auf Personen desambiguiert, kontext- und situationsunabhängig verallgemeinert, sodass die organisationale »Betreuung« einer Masse von Kunden, die sich aus numerisch identifizierbaren Einzelfällen mit z.B. typisch kalkulierbaren Kosten zusammensetzt (Lebensversicherungsvertrag), koordiniert werden kann. Die Funktion der deskriptiven Selbst-Behauptung besteht in den entsprechenden Fällen in der Invariantsetzung und in der Externalisierung von performativen Abweichungen der Person im Dienste des Strukturerhalts. Die Organisation kann z.B. bei Bedarf auf standardisierten Wegen Personen austauschen, weil an den besonderen Personen nur standardisierte Eigenschaften und Handlungserwartungen relevant sind. Sie kann überdies generalisierte Leistungen erbringen, weil die Empfänger solcher Leistungen zwar als einzelne, nicht aber als besondere Personen kalkulierbar werden: Die numerisch identifizierte, typisierte Person teilt relevante Eigenschaften mit vielen andere, etwa ein unter ökonomischen Gesichtspunkten standardisiertes Bedürfnis. Sie muss dabei aber als einzelne Person wiedererkennbar bleiben. Der selbe, der delinquent geworden ist, muss sanktioniert werden; die selbe die Zahlungsverpflichtungen eingegangen ist, muss als Kundin identifizierbar sein, sie kann z.B. Ratenzahlungen nicht mit dem Argument einstellen, sie sei ab heute ein »ganz anderer Mensch«, auch wenn eine individuelle Befindlichkeit damit angemessen ausgedrückt würde. Die einzelne Person als Rechtssubjekt darf nur einmal diese bestimmte Sozialleistung beziehen, (in bestimmten Regionen der Weltgesellschaft) nur einmal zur selben Zeit verheiratet sein, nur einmal für ein Vergehen Strafe zahlen, nur eine Stimme bei der Wahl abgeben. Der Pflichten) durch numerische Identifikationen etwa über Geburtsort und -zeit zusätzlich »individuiert« werden muss. Eigennamen sind deshalb schon Ellipsen von klassifikatorischen Prädikatskonjunktionen, sie stehen hier nicht für individuelle Geschichten und ineffable Qualia des inneren intentionalen Horizontes des »Subjekts«, sondern sie fungieren kommunikativ als Minimalklassen: Ein Element wird numerisch identifiziert, wobei Prädikatkonjunktionen Einzelelemente verbinden. So wird eine individuelle Klasse über generalisierte Eigenschaften standardisiert und erlaubt kommunikative Anschlussmöglichkeiten.

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Versicherungskunde muss die Übertragbarkeit der Leistungen auf andere Personen vertraglich fixieren und auch diese Person muss dann eindeutig numerisch identifizierbar sein, wobei beide Vertragsnehmer als Typen kategorisiert werden, um wahrscheinliche Kostenverläufe und entsprechende Raten kalkulieren zu können. Die Identität im Sinne der für diese Beispiele maßgeblichen Wiedererkennbarkeit bleibt numerische Identität, für diese aber muss das Individuum aufkommen. Denn es muss gegenüber der Erfahrung, in schnell wechselnden Kontexten als jeweils anderer Personenausschnitt angesprochen und »behauptet« zu werden, für die Einheit der Identität bürgen, die zwischen diesen Kontexten das Korrelat der numerischen Einheit aus der Perspektive der ersten Person aufrechterhält. Die generalisierte Selbst-behauptung (als Behauptung der Selbigkeit im Sinne des »idem«) stützt die Adressierbarkeit von Einzelnen als einmalige, aber typische Instantiierung von vielen. So kann die standardisierende Aggregation von unbekannten Individuen zu Gruppen, Zielgruppen, Populationen, den Wählern, den Leistungsberechtigten, für ökonomische, bürokratische, politische, wissenschaftliche Zwecke, den Zugriff erleichtern, der alle, aber doch jeden einzelnen als genau diesen treffen soll. Die Inklusion der Personen in umfassende soziale Systeme muss sicherstellen, dass jeder einzelne als genau dieser einzelne, alle aber auf gleiche Weise erreicht werden. Markt, Wohlfahrts- und Rechtsstaat greifen auf die Personen zu oder stehen ihnen zur Verfügung, dies aber »ohne Ansehen der Person« (in einem dann also offenkundig reicheren Sinne), weil nur so flächendeckende Regulierung, sachliche Solidarität, Rechtsgleichheit und universalistischer Individualismus operationalisierbar werden. Damit ist die Rekonstruktion offensichtlich bei der systemtheoretischen Allgemeinbeschreibung der Identität unter dem Regime funktionaler Differenzierung angekommen. Die Merkmale dieser Art der Verdinglichung und Aufspaltung der Person sind bereits aufgeführt worden: Die Innenseite der Biographie wird sozial nicht wirksam, erscheint exkludiert in die Innenperspektive, die das Außen der organisationalen Kommunikation wird. In sozialen Systemen, d.h. in Funktionssystemen, in Organisationen verwirklicht und behauptet (im doppelten Sinne) sich das Selbst der Person darum nur in der Form des Fragments, der systemspezifischen Teilausschnitte der individuellen Person. Organisationszugehörigkeit realisiert sich als Mitgliedschaft, also als Rolle, deren Zuschnitt den organisatorischen Imperativen folgt und nicht die ganze Person in Anspruch nimmt (dadurch wird z.B. systemfunktionale Austauschbarkeit einzelner Personen gewährleistet, weil sie von den Personen nur kommunikativ anschließt, was diese eben nicht von anderen unterscheidet, sondern mit typisch bestimmten anderen, etwa qua Ausbildungsprofil, verbindet). Die Inklusion von Personen in Funktionssysteme bezieht sich nur auf

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das standardisierte und keineswegs individuierende Fragment der Person, das ihrer typischen Rolle als Konsument, Rechtspartei etc. entspricht. Allerdings endet die Rekonstruktion nur dann – wider die eingangs formulierte Absicht – in der systemtheoretischen (und postmodernistischen) Perspektive, wenn man unterschlägt, dass die Seite der vergegenständlichenden, typisierenden, numerisch identifizierenden Behauptung der Selbigkeit einer bestimmten Person eben nur eine Seite der kommunikativen Artikulation personaler Identität ist. Wäre die standardisierte Selbstbehauptung der Person die einzige kommunikative Form der Darstellung und Selbstdarstellung der Person, hätte die existentielle Einheit der Person, die sich mit und zwischen den bzw. gegen gewisse soziale Selbstbehauptungen behauptet, keinen Raum der Artikulation. Allerdings macht die Rekonstruktion des Übergangs in die explizite, generalisierende Behauptung der Person als numerisch vereinzelter Schnittpunkt allgemeiner Merkmale aus der performativ verankerten Reflexivität der Praxis überdies deutlich, dass das »Fragment« einer Person, das im Modus der »Inklusion« systemisch und organisational »adressierbar« wird, nicht einfach ein »Ausschnitt« aus der facettenreichen Identität eines Individuums ist: Organisationen schneiden ja nicht unter der Überschrift der Mitgliedschaft einen Teil des Selbstverhältnisses der Person aus der Gesamtheit der Identität aus, der als solcher »Teil« der Perspektive des intentionalen Selbstbezugs wäre. Der »fragmentierende« Ausschnitt ist vielmehr eine »Übersetzung«. Der typisierende Zugriff auf die numerische Identität des Einzelnen übersetzt die Sequenz der intentional im existentiellen Horizont der Person bedeutsamen Handlungen und Äußerungen in eine Kette von organisationsintern sinnhaften Ereignissen, die der Adresse der numerisch identifizierten Person zugeschrieben wird. Und schon deswegen ist die »Fragmentierung« der Person im Sinne der »postmodernen« Differenzierungstheorie nicht die ganze Geschichte, die die Soziologie über die »Selbstbehauptung« der Personen zu erzählen hat. Zunächst muss diese Geschichte um Hinweise auf soziale Kontexte ergänzt werden, die nicht wie Organisationen und Systeme Personen in Exemplare von typischen Merkmalskonjunktionen übersetzen. Organisationen und Systeme sind nicht die einzigen sozialen Kontexte, die im Zuge der multiplen Differenzierung moderner Gesellschaft als Rahmen und Bühnen der individuellen Performanz und Selbstbehauptung in Frage kommen. Personen wandeln in der Tat durch sehr unterschiedliche (d.h. typenverschiedene) Kontexte. Und sie erfahren und behaupten sich selbst eben nicht allein in der Resonanz von Organisationen, die ihnen die Behauptungen ihrer numerischen Identität und typischen Eigenschaften entgegenhalten. Sie erfahren sich ebenso als Teil von informellen Netzwerken, nachbarschaftlichen Milieus, kulturellen oder religiöse Lebensformen, wandelbaren Erlebnisgemeinschaften, in denen eine

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andere Form der Artikulation des Selbst nicht nur erlaubt, gewährt, sondern gar erwünscht, wenn nicht geradezu verlangt ist (Renn 2014 und 2006: 410ff.). Das Problem der Selbstbehauptung im Sinne des Durchhaltens der eigenen Identität gegen die deskriptiven Behauptungen des eigenen Selbst stellt sich also aus der Perspektive der intentionalen Interiorität des Individuums als das Problem der Vervielfältigung von Resonanzräumen, von Kontexten und Formen der praktischen Selbstdarstellung und entsprechender Anerkennungsweisen dar. Die Freistellung der Person von der Einschließung in nur ein soziales System, nur ein Milieu, entbindet neben Formen der generalisierten Standardbehauptung eines Selbst ebenso sozial gestützte Formen der Expressivität (hier im Sinne der Selbstdarstellung der Person, vgl. Goffman 1961 und 1983). Und mit Bezug auf die Koexistenz von Kontexten, durch die das Individuum täglich wandert, muss das Selbst sich in den Bahnen institutionalisierter Selbstbehauptung (Aussage) behaupten (erhalten), indem es Verantwortung für die transitorische (also wechselhafte) Einheit der Teile seiner Identität und ihres Zusammenhangs übernimmt (Bürgschaft), d.h. sich selbst daran bindet, auch in Zukunft die Adressierung von außen (die sein Selbst deskriptiv behauptet) beantworten zu können u.a. also anschlussfähig zu bleiben, resonant für Zuschreibungen und ihre praktischen Implikationen. Das aber bedeutet gerade nicht »Polyphrenie« oder fröhliche ästhetische Fragmentierung eines vagabundierenden »Selbst« und es ist das Gegenteil zur Auflösung der Einheit der Identität in unverbundene jeweils systemspezifische Einzelteile. Zwar multiplizieren funktionale und kulturelle Differenzierung Kontexte Anlässe zum Kontextwechsel. Die zu behauptende Einheit der multiplen Behauptungen des einen Selbst gewinnt entschieden an Komplexität. Doch dieser Wandel reduziert nicht, sondern verstärkt den sozial auferlegten Zwang (zunächst das funktionale Erfordernis) zur individuellen Selbstsynthese, da nur sie die Flexibilität der Situationsanpassung und Angemessenheit des Handelns in jeweils wechselnden Kontexten ermöglicht. Was die Differenzierung also auslagert an die Adresse der Innenseite der Person, ist nicht die soziale Gewährleistung einer individuellen Identität, sondern die Verantwortung und die Kompetenz für die Erfüllung der Funktion dieser Identität, d.h. für die bewegliche Einheit eines Selbst, das vielleicht immer weniger sich an nur eine oder auch nur vornehmlich an eine dominante kontextimmanente Selbstbehauptung »konventionell« anlehnen kann. Das Individuum muss sich entwerfen, weil nur es selbst einen Entwurf behaupten kann, der auf alle jene Behauptungen seines Selbst, die kontextspezifisch zugemutet werden, »angemessen« zu reagieren erlaubt. Diese Form der strukturell motivierten »postkonventionellen« Identität24 der Person ist zweifellos nicht einfach nur eine befreiende Errungenschaft 24 | Die individuelle Behauptung des Selbst, die die sozial zugeschriebenen Teilaspekte der Identität transzendiert und zugleich integriert, kann man entsprechend als eine

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moderner Vergesellschaftung, sondern sie ist ebenso eine Bürde, die Mühen und Anstrengungen kostet. Individuierung ist mit Bezug auf diese Kosten eben auch Auslagerung eines Problems in die Lebensführung der Einzelnen. Darum kommen verschiedene Formen der Reaktionen auf diese Forderung in Betracht. Personen können die Pluralität von zugemuteten Behauptungen ihres Selbst untereinander ausbalancieren, miteinander synthetisieren, und die immerwährende Aufgabe der Übersetzung und Rückübersetzung zwischen multipel differenzierten Selbstbehauptungen annehmen. Eine Möglichkeit besteht, anders gesagt, darin, sich den Forderungen deskriptiver Identifizierung weitgehend zu stellen, soweit diese es untereinander zulassen. Personen können andererseits – oder müssen, sobald die auferlegten Zumutungen erheblich konfligieren – die Einheit des eigenen Selbst gegen die Vielheit der sozialen Behauptungen dieses Selbst behaupten, ohne den sozialen Behauptungen gegenüber in offenen Widerspruch zu geraten. Dazu sind Formen des Einbauens der polyphonen deskriptiven Selbstbehauptungen in die individuelle Reflexionsversion des eigenen Entwurfes notwendig, die stets zwischen Anpassung und kreativer Auslegung changieren. Schließlich steht die Option des Widerstandes bzw. des obstruktiven Rückzuges von den kontextspezifischen Imperativen der Selbstbehauptung offen. Personen können ihr Selbst eigensinnig gegen einige, oder auch gegen eine dominante soziale Behauptung des eigenen Selbst behaupten mit mehr oder weniger starken Anlehnung an eine andere soziale Selbstbehauptung, auf dem Wege des Ausweichens, der Simulation, der Vermeidung, schließlich vermittels erstarrender Selbstklischeebildung, die bis in pathologische Formen der Erfahrungs- und Widerspruchsleugnung führen mögen. Und genau dann kann Selbstbehauptung zur gewaltsamen Durchsetzung verdinglichter Selbstinterpretation gegen divergierende Erwartungen und Apelle führen. In jedem Falle umfasst die Bandbreite individueller Reaktionen auf die Pluralisierung von Selbstbehauptungen viele und ganz andere Möglichkeiten als etwa die offensive Fragmentierung der Person in unverbundene Einzelbehauptungen. Daraus folgt aber nicht einmal, dass die Fragmentierungsthese nur unvollständig wäre, weil sie soziale Kontexte als Teilregionen moderner Gesellschaft unterschlägt, die eine Kompensation des Zersplitterungsdrucks durch organisationale Selbstbehauptung bieten könnten. Auch für den paradigmatischen kreative, existentielle Form des Umgangs mit sozialen Konventionen betrachten. Die der Person überantwortete Mühe um das eigene Selbst umfasst dann zugleich, was in der Habermas’schen Typik von Stufen des Moralbewusstseins »Postkonventionalität« meint – Regeln, aber auch Selbstkonzepte, sind nicht autoritativ selbstevident, sondern werden unter der Bedingung der Autonomie der Beteiligten ausgehandelt (Habermas 1988) – und das existentialistische Modell der individuierenden Abkehr von konventionellen Selbstauslegungen (Heidegger 1984; Sartre 1986).

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Gegenstand der Systemtheorie, für das formale Kommunikationssystem »Organisation« liefern die Fragmentierungsthese und die deskriptive Hypothese einer »Exklusionsindividualität« keine adäquate Beschreibung. Denn selbst mit Bezug auf Organisationen und Systeme ist – gerade wegen der Multiplikation von Typen sozialer Kontexte, die als Umwelten von Organisationen ihre Zielkontexte bilden – die numerische Identität der Person als Mitglied und Kunde nicht das Einzige, was für die Organisation an der Person relevant ist. Denn es ist zweifelhaft, dass die radikale Entkopplung von Aspekten des Selbst, die den sozialen Selbstbehauptungen in Organisationen korrespondieren und der Verzicht auf eine Synthese, auf Widerstand, oder Eigensinn, für Organisationen wie für Personen überhaupt praktikabel, erträglich oder möglich und sozial anerkennbar ist. Denn sowohl Organisationen als auch Individuen bleiben auf die Fähigkeit der Person angewiesen, zwischen Kontexten umzuschalten, was das situationsadäquate Handeln nach den Kriterien der jeweiligen Kontexte ermöglicht und in diese Kontexte Spezifika anderer Kontexte »importiert«. Diese Flexibilität ist aber erst recht eine Ressource, die über die numerische Identität hinaus die transitorische Einheit des Selbst als einer Instanz, die die Übergänge kreativ zu vollziehen erlaubt, voraussetzt.

VII. S elbstbehaup tung und R espezifik ationsfunk tion Ebenso entscheidend wie der Hinweis auf die funktionale Flexibilität der Person, für die sie selbst durch die Behauptung des Selbst gegen und durch die pluralen und verkürzten Selbstbehauptungen hindurch aufkommen muss, ist deshalb der Einwand gegen die Annahme der durchgreifenden und restlosen Fragmentierung der Identität der Person. Dieser Einwand betrifft die spezifische Form organisationaler und systemischer »Selbst«-behauptung selbst. Man könnte den ersten Einwand als eine bloß additive Anreicherung der systemtheoretischen »Identitätstheorie« missverstehen. Personen wären dann sowohl organisational fragmentiert als auch alltagsweltlich individuiert und hätte Sorge zu tragen, dass beide divergierende Modalitäten der Selbstbehauptung ausbalanciert würden (z.B. in Form des Auseinanderhaltens von Kontexten und der flexiblen Einpassung in jeweils aktuelle Kontexte). Dann wäre das Individuum im starken (existentiellen) Sinne des Wortes in der Tat aus Organisationen und Systemen ausgeschlossen, hätte aber für die anspruchsvolleren Mühen der individuellen Selbstbehauptung nicht nur den privaten Spiegel der Reflexivität eines psychischen Systems in der Einsamkeit seiner Autopoiesis zur Verfügung, sondern soziale Foren, die im performativen Modus eine lokalen Kommunität identitätsverbürgender Praktiken bereithalten. Es muss aber bezweifelt werden, dass Organisationen und Funktionssysteme unter der Bedingung der Exklusion der individuellen Identität von

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Personen überhaupt funktionieren können. Die Vision der verdinglichenden und fragmentierenden Selbstbehauptung der Person kann nicht einmal für formale Organisationen bzw. für solche sozialen Kontexte, die über Rollen und Mitgliedschaften gebildet sind, Gültigkeit beanspruchen. Das entscheidende Argument besteht darin, dass Organisationen um ihrer notwendigen Flexibilität willen – im Horizont ihrer Beziehungen zu ihren »systemspezifischen Umwelten« – die Individualität der Personen nicht restlos oder weitgehend exkludieren können, sondern im Gegenteil als wichtige Ressource nutzen müssen. Organisationen können es sich gar nicht leisten, auf nichts als Fragmente von Personen, die den internen Spezifika der Organisationen auf voll-konventionelle Weise entsprechen, zurückzugreifen. Für die dysfunktionalen Effekte einer vollständigen Reduktion der Personen auf explizite organisationsinterne Selbstbehauptungen (explizit in Dienstbestimmungen, Arbeitsplatzbeschreibungen, Ausführungsverordnungen) steht die Metapher des »Dienst nach Vorschrift«. Organisationen und Systeme stabilisieren und befördern zwar die Institutionalisierung der vergegenständlichenden Selbstbehauptung der Personen. Die Erwartungen, die sich entlang deskriptiver Typisierungen an die entsprechenden Personen knüpfen, können aber nicht erfüllt werden, ohne zugleich Lücken der Programmierung zu füllen. Denn die sozial qualifizierte, numerische Identität einer Person, die aussondernde Verschränkung allgemeiner Merkmale, kann das Handeln auch in und für die Organisation nicht deterministisch programmieren, sondern eben nur typisch vorentwerfen, sodass auch die Person, die in völliger Treue gegenüber der konventionellen Gestalt der von ihr in der und für die Organisation behaupteten Identität handeln wollte, in concreto abweichen muss. Und dies ist in Organisationen keineswegs nur ein Störfaktor, sondern kann und muss für die notwendige Flexibilität der kommunikativ-operativen Umsetzung der organisationalen Programme und Strukturen in Dienst genommen werden. Die individuelle Abweichung, bei der ein Überschuss über die formale Behauptung des Selbst in die Kommunikation eindringt, die ihrerseits nur jene formale Selbstbehauptung steuern kann, nutzt der situations- oder fallangemessenen Respezifikation generalisierter Prozessstandards bzw. der angemessenen (sachadäquaten und dabei funktionalen) Applikation expliziter Regeln. Die Abweichung des Individuums von der organisationalen Selbstbehauptung in und für die Organisation trägt zur Dezentralisierung einer wesentlichen Funktion bei, die sich der individuellen Behauptung des eigenen Selbst mit und gegen die sozialen Behauptungen des Selbst, bedient. Es ist dies die Auslagerung einer besonderen Integrationsfunktion, die die andere Medaille der funktionalen Differenzierung ist. Organisationen nutzen die Individualität der Person, die der praktischen Behauptung ihrer Identität im Konzert polyphoner Selbstbehauptungen entspringt, um ihre organisationsspezifische Kommunikation in die Sprache an-

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derer Kontexte übersetzen zu lassen. Über die Personen laufen große Teile der Übersetzung zwischen Systemen, Organisationen und nicht formal-abstrakt koordinierten Kontexten der Handlungskoordination wie »Milieu« oder »performative Kulturen« (Renn 2014). Die Dringlichkeit solcher Übersetzungen zeigt sich beispielsweise in den Grenzen der Übertragbarkeit »formaler Rationalisierung« auf weltgesellschaftliche Kontexte, bei denen die Übersetzungsroutinen zwischen formaler Organisation und praktisch reprodzierten Lebensformen, anders als im »Westen«, aus Gründen regionaler Pfadabhängigkeit (noch) nicht eingespielt sind: Beschreibungen des Wandels postsozialistischer Länder in der Transformationsund Transitionsforschung halten zunehmend Abstand zu modernisierungstheoretischen Modellen, welche die »Entwicklung« von »Gesellschaften« ohne den Faktor der individuellen Abweichung der Akteure, der spezifischen lokalen und individuellen Widerständigkeiten und Verschiebungen konzipieren (Thumfart 2002: 33ff. und 599ff.).25 Personen übersetzen für Systeme und Organisationen und zwischen Systemen und Organisationen, und sie können es aufgrund der selben Kompetenz, die sie zur Übersetzung zwischen eigenen Selbstaspekten, die den sozialen Behauptungen korrespondieren, in eine eigene individuelle Identität benötigen und entwickeln (oder – wenn es schlecht läuft – eben nicht entwickeln).26

25 | Vergleichbar deuten die konkreten Auswirkungen globalisierender Prozesse auf »postmoderne« Städte und Metropolen nicht nur in Richtung standardisierter Urbanität, sondern ebenso in Richtung individueller – und individuell getragener – lokaler Restrukturierung städtischen Raumes im Sinne einer neuen Politik des Lokalen (Soja 1995). Dabei ist durchaus an die Integrationsfunktion zu denken, die oben als Aufgabe der Personen im Dienste organisationaler Umweltbeziehungen angeführt wurde. Denn die Umstrukturierung von städtischen und quartierbezogenen sozialen Räumen, z.B. die Auflösung stabiler sozialräumlicher Milieus und ihrer Mediationsfunktion zwischen lokalen Beziehungen und abstrakten Integrationsmechanismen, kann auch als eine Auslagerung von Integrationsfunktionen in die einzelnen Individuen gelesen werden (so: Touraine 1996: 27f.). 26 | Neben der pragmatischen Wirkung von individuellen Personen nutzen Organisationen natürlich zudem die symbolische Ebene der Surrogatidentität, d.h. der propagierten Individualität von Organisationsrepräsentanten. Personen spielen als Individuen eine Rolle, nicht aber auf die Weise, die etwa die Personalisierung in Politik und die massenmediale Inszenierung von Personalität und Interaktivität glauben machen will. Der inszenierte Exhibitionismus in Talk Shows bedient das Bedürfnis nach dem Schein der Interaktivität von abstrakten sozialen und kommunikativen Zusammenhängen, die individualisierende Reduktion von Komplexität kompensiert massenhafte Erfahrung von Ohnmacht – der eigenen Irrelevanz für zentrale Kommunikationszusammenhänge.

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Die funktional differenzierte Gesellschaft ist auf dezentrale, in die Übersetzungsverhältnisse zwischen ausdifferenzierten Kontexten diffundierte Integrationsleistungen angewiesen, sie verfügt über kein zentrales Integrationssystem (Kultur oder Politik, oder Verwaltung, oder Markt), das die effektive Koordination sozialen Handelns und die Koordination von Formen der Koordination überwacht und steuert. Personen kreuzen intentional und performativ Kontext- und Systemgrenzen und sie müssen Leistungen und Respezifikation sowie Variationen innerhalb des Systems, der Organisation transportieren und anregen. Gegenüber Luhmann müsste es demnach in seiner Sprache heißen, dass die Individualität der Person nur deshalb in der modernen Gesellschaft nachhaltig semantisch inkludiert ist, weil die Individualität grenzenkreuzender Personen als Kreativität und Übersetzungskompetenz operativ in relativ geschlossene Systeme re-inkludiert wird. Die Selbsterhaltung von Personen als die praktisch-performative, und also unabschließbare Synthese aus polyphonen deskriptiven Selbstbehauptungen und existentieller Auslegung dieser Behauptungen, ist somit funktionale Bedingung angemessener »Umweltresonanz« der Selbstreproduktion von Systemen und Organisationen und der Integration ausdifferenzierter Subsysteme untereinander.27 Eine nachhaltige Fragmentierung der Identität der Personen wäre deshalb dysfunktional, zumal die Assimilation der Person an das kontextspezifisch behauptete, typische und numerisch identifizierte Selbst unproduktiv wäre für die Organisationsselbstbehauptung. Die systemtheoretischen und postmodernen Bestandsaufnahmen des Verhältnisses zwischen funktionaler Differenzierung und personaler Identität bleiben unvollständig, weil sie die Handlungslogik unter Bedingungen funktionaler Differenzierung immer noch als klassisch moderne missverstehen. Sie folgen dem Bild der verwalteten Welt, in der soziales Handeln ausschließlich den Standards abstrakter Institutionalisierung folgt und individuelle Aspekte von Situationen und Personen subsumtionslogisch zur Anpassung zwingt. Moderne Organisationen und Funktionssysteme sind indessen aufgrund ihrer eigenen Operationsweise längst weitaus anspruchsvoller und fordern kreative Personen, die auf der Basis einer starken, d.h. erfahrungsoffenen aber kontinuierlichen und einheitlichen Identität ihr existentielles Selbst sowohl in enggeschnittenen Organisationskontexten als auch gegen sie behaupten.

27 | Vgl. zum Konzept der »Organisationskultur« und dabei der »Wechselwirkung« zwischen subjektiver Sinnperspektive, mithin individueller personaler Identität, und organisationaler Steuerung, bei der Personen ihre Identität zwar nicht organisationsintern »darstellen« (die Hahn’sche Argumentation scheint auf ein expressivistisches Modell der Individualität zugespitzt) aber pragmatisch ausagieren und »einbringen« auch: Pankoke 2001: 197ff.

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Dass das immer gelingt, ist keineswegs gesichert. Wegen der latenten Überforderung, die eine Verlagerung z.B. von intersystemischen Abstimmungen in die Übersetzungskaskaden zwischen Milieus, Organisationen und Personen bedeuten kann, ist es vielleicht sogar eher unwahrscheinlich. Immerhin kann man behaupten, dass das Selbst der Person sich zwischen, gegen und für die gesellschaftlich ausdifferenzierten Behauptungen über diese Person behaupten kann, wenn sie es kann, weil ein solches Behaupten durch die funktionale Differenzierung keineswegs gesellschaftlich irrelevant geworden ist.

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7. Wie ist das Bewusstsein am Diskurs beteiligt?

I. C artesianische I ntroduk tionen Zuerst entdeckt sich, historisch gesehen, das »Subjekt« als das Zugrundliegende bei René Descartes (1986). Es entdeckt sich auf programmatische Weise im reflexiven »Diskurs«, der das implizit Beanspruchte expliziert. Das Subjekt Descartes’ stößt auf sich selbst im Medium des Diskurses, in der Form einer zum Monolog ausgebauten Argumentation, die qua Schriftlichkeit ein verallgemeinertes Publikum adressiert, und die vielleicht gerade wegen dieser medial ermöglichten Anonymisierung der Adresse die Selbstgenügsamkeit des Selbstgesprächs zu hoch veranschlagt. Die systematische Bearbeitung von widersprüchlichen Quellen und Autoritäten der Erkenntnis hatte bereits die Scholastik im 12. Jahrhundert zu einer »prä-hegelianischen« Dialektik präzisiert (Berman 1991: 217ff.). Die scholastische Abwägung konträrer Überzeugungen schärft durch den Einsatz des Mittels der propositionalen und schlussfolgernden Rede »nebenbei« dieses Mittel selbst und baut es zur Logik, zur spezifischen Verbindung zwischen apodiktischen und dialektischen Schlüssen aus. Descartes führt in seinem Diskurs über die »erste Philosophie« (Descartes 1986) jene reflexive Entdeckung von epistemischen Mitteln, die erst gebraucht und dann, eher nolens als volens aus der Sache selbst, ihrerseits zum Gegenstand ihres Gebrauchs werden, auf einen Wendepunkt. Nicht ohne Bezug zum historischen Kontext einer gewissen Kontingenz-Erfahrung macht Descartes geltend, dass auch noch die Quellgeltung der religiösen Offenbarung gedankenexperimentell dem (abstrakten, siehe: James 1977) Zweifel unterzogen werden könnte: Ist nicht ein deus malignus denkbar, der uns in einen trügenden Schlaf versetzt hat, sodass wir ein ganzes System von Täuschungen für die Realität nehmen und auch die scheinbar zuverlässigsten Gewissheiten nichts als unerkannter Trug sein könnten? Was bleibt, so bekanntlich Descartes, dem wir nach Jahrhunderten der Kritik an der Subjektphilosophie hier nicht mehr folgen, ist die Evidenz des »ego cogito«. Denn auch wenn ich, ohne es gewahr

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zu werden, träumte, so bin ich es doch, dem dies oder jenes gewiss erscheint, sodass hier die viel spätere Husserl’sche »Epoché«, die Einklammerung der Geltung aller Inhalte des Gedankens und der Vorstellung, wonach der gedankliche Vollzug selbst als Faktum des Bewusstseins übrig bleibt, vorweggenommen ist. Darauf hatte Husserl selbst ja hinlänglich hingewiesen (Husserl 1991). Was einzuwenden wäre, ist prima facie der Zweifel an der Voraussetzungsfreiheit des Zweifels, der sich in der Rückfrage nach der Herkunft der Unterscheidung zwischen Wachen und Träumen äußert. Prima facie bleibt der Hinweis, man müsse ja zuvor die Erfahrung des Erwachens, des Vergleichs zwischen einer aktuellen Situation und dem erinnerten Inhalt des soeben unterbrochenen Traumes gemacht haben, weil er die systematische Implikation des Traumargumentes nur indirekt andeutet. Der implizite Kern des Einwandes betrifft das Medium der Aussage, nicht ihren Inhalt. Denn die Unterscheidung zwischen den Traumgespinsten und dem erwachten Bewusstsein ist in ihrer argumentativen Rolle (wenn auch vielleicht nicht in ihrer primordialen Faktizität) sprachlich typisiert. Sie ist als eine typisierte Differenz eine »diskursive« Institution, die schon »da ist«, bevor das Räsonieren einsetzt und sich der sprachlichen Formen bedient, wenigstens im Descartes’schen Diskurs, der zwar das »Ego« der Prüfung auf Evidenz in den thematischen Fokus rückt und damit eine bislang nur operativ beanspruchte Implikation zum Thema macht: das »Ich« des gedanklichen Vollzugs, der aber dabei das Medium der Sprache abgedunkelt lässt, dessen konstitutive Bedeutung für den Gehalt der Aussagen jene Leistung des »Ego« zum Nachvollzug macht. Philosophisch steht damit die grundsätzliche Frage nach der Möglichkeit an, überhaupt ein letztes, »unerschütterliches« Fundament der (subjektiven) Erkenntnis (einschließlich der »Selbst«-Erkenntnis) zu markieren – ein weites Feld, an dem hier nur so viel interessiert, als es der »Diskurs« ist, dem die nachfolgende philosophische Reflexion (schon bei Hegel) den Anspruch verweigert, ein neutrales Mittel der Repräsentation des bewussten Gedankens als einer sprachfrei stabilen Substantialität zu sein. Wenn die cartesianische Meditation im Medium des geschrieben Wortes der Selbstreferenz einer subjektiven Suche nach Evidenz nachspürt, so ist diese diskursive Reflexion nicht nur ein »Ausdruck« des gedanklichen Vollzugs, sondern dann ist der Gedanke ein Nachvollzug diskursiv gebahnter Unterscheidungen und Implikationen. Diese angreifbare Flanke des cartesianischen Diskurses, die sprachlichen Formen als das »Vorausgesetzte«, das operativ (»schreibend«) ins Halbdunkel gedrängt wird, während die Subjektivität als das vordem »Unthematische« spektakulär und folgenreich in den Fokus gestellt wird, hätte Descartes nur schützen können, wenn er sich auf ein vorprädikatives, intuitives (dann aber: wodurch spezifisches?) Denken beschränkt und die Übersetzung ins »Diskursive« unterlassen hätte. Dann aber hätte die Welt nichts erfahren von der vorläufigen Einsicht in die Relevanz der subjektiven Evidenz des Subjektiven.

Wie ist das Bewusstsein am Diskurs beteiligt?

Seit den Zeiten, zu denen der »Diskurs« als der in den längeren, räsonierenden und schriftlich entfalteten Monolog auseinandergezogenen Beitrag zum sachlichen Gespräch zwischen vernünftigen Teilnehmern, zwischen »Subjekten«, galt, ist auf der Linie dieses Einwandes mit dem Begriff des Diskurses einiges geschehen, was einer grundsätzlichen Umdeutung nahekommt. Man könnte in grober Vereinfachung komplizierter »diskursiver« Prozesse sagen: Nachdem die Sprachphilosophie zuerst die Gedanken »aus dem Bewusstsein« vertrieben hat (Dummett 1992), sodass das »Medium« der diskursiven Rechtfertigung, die Sprache selbst, thematisch geworden ist, hat sich die konstitutionslogische Hierarchie bis in eine Achsenstellung hinein gedreht, in der »der« Diskurs nun selbst zum konstitutiven, selbstgenügsamen und selbst-strukturierenden Agens der Selektion möglicher Unterscheidungen und Schlussfolgerungen wird. Nachdem für Heidegger »die Sprache spricht« und Nietzsche in Vorwegnahme der Psychoanalyse dem rationalen Subjekt Verdrängung und Selbsttäuschung als Voraussetzung seiner projektiven (vom Willen zur Macht eingeflüsterten) Evidenz vorhält, radikalisiert die »Diskurstheorie« im Foucault’schen Sinne noch einmal die Epiphänomenalisierung des Subjektiven. Fast ist es so, als hätte nun erst der Diskurs »selbst« entdeckt, dass Descartes zu seiner Zeit, während er behauptete den Diskurs »zu führen« (und sich damit selbst als ein Selbst behauptete), ihn, den Diskurs, seines Anspruches beraubt hatte, Descartes selbst eingefügt zu haben in eine »Subjektposition«, die ohne den Diskurs und seine konstitutive Ermächtigung gar nicht möglich gewesen wäre. Der subjektive »Nachvollzug« der sprachlichen Artikulation als einer Übersetzung ins Diskursive wird durch die Promotion des Diskurses zu einer transsubjektiven Ordnungsmacht noch einmal um eine ganze Größenordnung verkleinert: Die subjektphilosophische »Episteme« (Foucault) bricht sich transsubjektiv Bahn durch den Schwellenübergang zu einer neuen epistemischen Ordnung des Sagbaren (und des Nicht-Sagbaren), und der ganze Descartes, der dem bürgerlichen Pathos ein »Denker« ist, schrumpft zur diskursiv konstituierten Sprecherposition, aus der die innerlich evidente Subjektivität als das vermeintliche fundamentum inconcussum restlos herausgefiltert ist. Restlos, weil kein Zug im diskursiven Spiel und kein Moment sinnhafter Bestimmung bei der Selektion von Aussagen noch auf subjektive bzw. intentionale Akte der Sinnkonstitution zurückgerechnet werden müsste und könnte. Das ist sicher nicht die einzige Linie, auf der sich der Diskursbegriff verwandelt sieht, und es ist auch nicht der notwendig letzte Stand der Reflexion auf die »transsubjektive« Qualität diskursiver Ordnungen. Es ist trotzdem eine gegenwärtig »diskursmächtige« Position, wodurch die Frage nach der »Beteiligung des Bewusstseins« am Diskurs unter hinreichenden Druck gesetzt ist, um sich mit einer »subjektivistischen« Modellierung der Rolle der Intentionalität nicht mehr begnügen zu können. Eine radikale Diskurstheorie, die dem »Subjekt« die Autorschaft beim Denken, Sprechen und Handeln vollständig

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entziehen und es zum Epiphänomen diskursiver »Subjektivierung« machen will, liefert den Anlass zur Vorsicht und das Motiv für Komplikationen. Sie teilt allerdings als vollständige Umkehrung der Konstitutionsrichtung, sofern sie die Abhängigkeit des Diskursiven vom subjektiven Vollzug »vom Kopf auf die Füße stellt«, immer noch reichlich gemeinsame Züge mit ihrem Vorgänger, jedenfalls soweit es immer noch eine konstitutionstheoretische Hierarchie geben soll. Etwas vom »Kopf auf die Füße« stellen zu wollen, bedeutet, an der klaren Unterscheidung zwischen oben und unten festzuhalten, während der Reflexionsgang, dem erst die Aufmerksamkeit für das Subjekt, dann für die Sprache und für den Diskurs zu verdanken ist, mittlerweile auf die Unhaltbarkeit der Figur hierarchischer Konstitutionsverhältnisse selbst gestoßen ist. Schon Foucault hatte den Begriff der diskursiven Ordnung nicht in eine Reihe mit den zeitenthobenen Ideen und dem transzendental erschließbaren Apriori gestellt, sondern »den« Diskurs, die generalisierte theoretische Einheit der Differenz zwischen verschiedenen diskursiven Ordnungen, als ein »historisches« Apriori beschrieben, also als eine Ordnungsgrundlage für diskursive Sequenzen markiert, die ihrerseits auf Ausgangs- sowie auf Kontextbedingungen bezogen, wenn auch nicht reduziert, werden muss (und weil es ein »historisches« apriori, also eigentlich eine Paradoxie ist, kann der Theoretiker des Diskurses diese diskursive Ordnung ex post explizit und »positiv« bestimmen, d.h. eine paradoxe Lage gegenüber der angeblichen Mächtigkeit diskursiver Ausschlüsse einnehmen). Nichts bleibt also entweder »oben« oder »unten«, sondern die Verhältnisse wandeln sich in der Zeit, und die konstitutiven Sinnstrukturen wechseln wie die Eliten in einer resignativen Herrschaftssoziologie. Dadurch bekommt die »Beteiligung« des Bewusstseins am Diskurs eine neue Chance, sofern die Verzeitlichung von Konstitutionshierarchien auf den Modus der Konstitution zurückschlägt: Nicht nur wandeln sich »quasi-apriorische« Grundlagen im Wechsel großformatiger »Ordnungen«, sondern sie tun es, weil die Wirkung des Systems sinnhafter Voraussetzungen, der Gesamtheit vorselegierter Sagbarkeiten und organisierter Ausschlussregeln, nun wegen dieser Wandelbarkeit nicht als lückenlose Determination des Spezifischen durch das konstitutive Allgemeine, durch die diskursive Regel oder die kategorialen Strukturen der Subjektivität, verstanden werden können. Diskursive Formationen sind keine generativen Mechanismen, sondern Möglichkeitsbedingungen. Bedingungen der Möglichkeit sind einschränkende, also Opazität und Anarchie der Übergänge vermeidende Sinn-Instruktionen, die jeweils im Einzelnen einer Ausführung bedürfen. Und diese Ausführung wirkt, nicht immer, sondern eher selten bemerkt, auf die Möglichkeitsbedingungen zurück. Wenn die Regel ihre Anwendung nicht regelt (Wittgenstein), dann ist die Ausführung der diskursiven Instruktion, die Nutzung der Bedingung der Möglichkeit, eine Übersetzung (z.B. eine Übersetzung des Diskursiven ins Intentionale und vice versa).

Wie ist das Bewusstsein am Diskurs beteiligt?

Wenn Diskurse als »Ganze« und einzelne Züge in diskursiven Sequenzen 1) keine Produkte subjektiver Sinnkonstitution und nicht souveräner Ausdruck des bzw. eines Bewusstseins sind, wenn sie 2) aber ebenso wenig universale apriorische Muster darstellen, schon weil es sie im Plural gibt, wenn sie 3) überdies keine generativen Mechanismen, sondern Instruktionen mit variablen Implikationen sind, dann gibt es ein Drittes neben oder zwischen der systematischen Formation einer diskursiven Ordnung und den intentionalen Horizonten eines diskursiv »betroffenen« Bewusstseins. Dieses Dritte ist der Vollzug, der durch die konstitutive Funktion entweder subjektiver oder diskursiver Selektionshorizonte ermöglicht wird, von diesen einschränkenden und darum ermöglichenden Bedingungen aber so wenig spezifisch festgelegt oder determiniert ist, dass der zunächst konstituierte Nachvollzug als praktischer Vollzug die reine Kopie der Vorlage durch Spezifizierung transzendiert und dadurch rekursiv konstituierende und um-konstituierende Kraft entfaltet. Die Beteiligung des Bewusstseins am Diskurs liegt deshalb jenseits der Alternative zwischen der souveränen Schöpfung durch das Subjekt und der vollständigen Erzeugung subjektiver Orientierung durch diskursive Vorgaben. Sie realisiert sich performativ in der Zwischenlagerung beweglichen Sinnes, die aus der Verpflichtung erwächst, »Ordnungen« performativ zu »vollziehen« und dabei entweder diskursive oder intentional sedimentierte Vorlagen in Praxis zu übersetzen. Weil also eine mögliche Einheit der Differenz (und das Medium der Übersetzung) zwischen Diskurs und Bewusstsein das Handeln ist (»Handeln« verstanden als Praxis, die nicht voreilig dem »Handlungssubjekt« in die Schuhe zu schieben ist), und weil dieser thematische Fokus in die Zuständigkeit der soziologischen Theorie des Diskurses hineinragt, wird die Frage nach der »Beteiligung« des Bewusstseins am Diskurs hier vorbereitet durch einen Übergang zur soziologischen Theorie. Das Stichwort, unter dem in der rezenten Diskussion der systematische Gehalt der Vollzugsdimension (des Bereichs der Ausführung diskursiver Instruktionen) verhandelt wird, lautet: »Performativität«. Der performativen Dimension des Verhältnisses zwischen Bewusstsein und Diskurs näher auf den Grund zu gehen, liefert, wie sich zeigen wird, neben dem Sachbezug auch einen Ertrag für den »Vergleich« zwischen heterogenen Diskursbegriffen. Nicht nur Foucault, sondern auch Habermas zu konsultieren, ist der Sache zuträglich, macht es aber umso dringlicher, nicht nur den Vollzug als das Dritte zwischen Diskurs und Bewusstsein ins Spiel zu bringen, sondern die Sache von einer gegenüber den philosophischen Kontrahenten exzentrischen Position aus anzugehen: das könnte die soziologische Theorie sein, die sich nicht primär mit der Analyse der Macht der Diskurse (Foucault) oder der Rekonstruktion prozeduraler Normen des Diskurses (Habermas) befasst, sondern von der hier auf hilfreiche Weise abstrakteren Frage nach der Koordination des Handelns ausgeht.

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II. E in soziologisches I nteresse am D iskursbegriff Der Diskursbegriff ist für die Soziologie interessant geworden, weil und sofern er – darin dem Begriff des selbstreferentiellen Systems ähnlich – in Aussicht stellt, einen sinnhaften aber von subjektiven Perspektiven hinreichend unabhängigen Gegenstandsbereich sozialer Ordnungsbildung zu umgrenzen (z.B.: Jäger 1999; Bublitz 2003). Ein Diskurs konstituiert sich, zugespitzt gesagt, selbst; subjektiver Sinn kommt, konstitutionstheoretisch betrachtet, wenn überhaupt, dann erst als Nachzügler ins Spiel. An diesem Punkt bleibt die soziologische Diskursanalyse, wenn sie denn tatsächlich einen spezifischen Gegenstandsbezug reklamieren kann, eine Form »poststrukturalistischer« Soziologie (Stäheli 2000). Als empirische Methode verspricht eine Diskursanalyse darum, die Probleme des »subjektiven Sinnes« (vor allem das Problem des methodischen Zugangs) hinter sich zu lassen, die sich eine methodisch individualistische oder auch phänomenologische Rekonstruktion sozialen Sinnes unter dem Titel des »Fremdverstehens« selbst auferlegt (Schütz 2004: 232ff.). Diskursanalytische Arbeiten können allerdings, wenigstens wenn sie aus der philosophischen Semantikanalyse (Foucault 1974; aber auch z.B.: Foucault 1994) in die empirische soziologische Forschung überführt werden, das hermeneutische Problem (Soeffner 1999) nicht dauerhaft überspielen: Sowohl die Reflexion auf den Interpreten diskursiver Formen, die nicht gut am Programm eines fröhlichen Positivismus anknüpfen kann,1 als auch die soziologisch geforderte und dem Anspruch nach geleistete Rückrechnung von diskursivem Sinn auf die Orientierungen etwa von Zeitungslesern oder sonstigen Personen, die »irgendwie« unter diskursivem Einfluss agieren, verlangen nach einer Auskunft bezüglich der Übergänge zwischen diskursivem Sinn und subjektiven Perspektiven. Dass beispielsweise »der« Diskurs zur Asylpolitik in bestimmten Verbreitungsmedien xenophobe Implikationen habe (Jäger und Jäger 1999), ist im Ergebnis ja mehr als nur die neutrale Darstellung eines objektiven Vektorraumes möglicher latenter Sinngehalte; die diskursanalytische Rekonstruktion als etabliertes Forschungsprogramm versteht sich in ihrer fak1 | Jedenfalls dann nicht, wenn sie die anti-repräsentationalistischen Implikationen einer diskurstheoretischen Epistemologie konsequent auf sich selbst anwendet: denn man müsste ja fragen, welcher diskursiven Ordnung die empirische Analyse des Diskurses angehört oder »folgt«, und dann, ob und wie genau denn eine diskursanalytische »Kritik« heteronomer, weil aus »Macht« entspringender, Sinn-Verhältnisse, selbst »vermachtet« wäre, da sie ja nicht Macht-Verhältnisse repräsentieren kann, sondern nur auf mit Macht instituierte diskursive Formate (z.B. auf den »kritischen Diskurs«) zurückgreifen kann und dabei die Unterscheidung zwischen »Macht« und »Nicht-Macht« mit Macht (und mehr oder weniger »Erfolg«) auf außerdiskursive Verhältnisse und andere Diskurse projiziert.

Wie ist das Bewusstsein am Diskurs beteiligt?

tischen Selbstdarstellung zu großen Teilen weitergehend als kritische Analyse manipulierter Attitüden von empirischen Intentionalitäten. Leser werden beeinflusst. Wie aber, in welchem Maße und in welcher Richtung das geschieht, vor allem aber: Was diskursanalytische Verfahren dazu in Stand setzt, entsprechende Vermutungen zu formulieren und dann gegebenenfalls zu rechtfertigen, das alles hängt dann doch ab von einer mehr oder weniger expliziten Theorie des Verhältnisses zwischen Diskurs und Bewusstsein. Wenn also Diskurse, in ihrer Genese, ihrem strukturellen Gehalt und in ihren Implikationen nicht auf subjektive Sinnleistungen reduzierbar sind, macht dies die Sache nicht einfacher, sondern im Gegenteil: Gerade die theoretisch radikalisierte Unterscheidung zwischen subjektivem oder intendiertem und diskursivem Sinn trägt zur Dramatisierung der Übergangsfrage bei, denn wenn die Interpretation der »Akteure« den Sinn diskursiver Prozesse weder konstituiert noch erschöpfend repräsentiert, so entzieht sich erstens diese Intentionalität aus der Perspektive des Diskurses um so intensiver der Deutung, und damit verliert die Diskursanalyse zweitens den Zugang zur Ebene extradiskursiver Folgen und Implikationen. Das ist für die Soziologie nicht befriedigend; und auch deshalb werden seit geraumer Zeit Möglichkeiten der Kooperation und der Verschränkung von Diskursanalyse und hermeneutischer Wissenssoziologie gesucht (etwa von Keller [u.a.] 2001 oder von Keller 2003). Eine solche Verbindung kann nicht schlicht additiv die Lücken der einen Perspektive durch Einbau von Exporten aus der anderen stopfen, sie muss den Übergang in der Theorie im Stile einer reziproken Begriffsrevision vorbereiten. Ein Teil dieses Vorhabens besteht dann in der erneuten Rückfrage an den Begriff des Diskurses mit besonderer Rücksicht auf die Rolle der Intentionalität bei diskursiven Prozessen. Wenn man sich in dieser Richtung auf den »Diskurs« konzentriert, erledigt sich die Frage des Bewusstseins unterwegs von selbst, ohne aber dass das Bewusstsein damit erledigt wäre. Eine etwas genauere Skizze von Theorieentwicklungen wird zu der Einschätzung führen, dass die »Beteiligung des Bewusstseins am Diskurs« nur dann adäquat zu explizieren ist, wenn die Diskurstheorie einer vervollständigten Wendung ins Pragmatische unterzogen wird, auf die verschiedene Verfechterinnen der Diskursanalyse aus immanenten Motiven heraus bereits zuzuarbeiten begonnen haben. Unter dem Stichwort der Performativität werden seit geraumer Zeit Varianten der Diskurstheorie präsentiert, die sowohl die Dynamik diskursiver Prozesse als auch den Anteil der Akteure und ihrer Intentionalität in ein revidiertes Bild des »Diskurses« aufzunehmen versuchen. Die Relevanz der Intentionalität und der »Agency« vermeintlich subjektiver oder aber individueller Personen kann insgesamt unter der Formel einer »Beteiligung des Bewusstseins« am Diskurs verhandelt werden. Nicht ohne systematischen Grund erinnert die so gestellte Frage in der Formulierung an

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die für die Luhmann’sche Systemtheorie typische Fragestellung: »Wie ist das Bewusstsein an der Kommunikation beteiligt?« Und in der Tat liegt der Vergleich in soweit nahe, als Diskursbegriff und Diskursanalyse in der Soziologie einen theoretischen und methodischen Status beanspruchen, der systematisch in wenigstens einer bedeutenden Hinsicht Ähnlichkeiten zum Begriff eines selbstreferentiellen sozialen Systems aufweist. Diese Hinsicht betrifft genau dann das Problem des Bewusstseins, wenn man dieses Problem als die Frage nach dem Subjekt (der Handlung, des Sinnes, des kommunikativen Ereignisses) betrachtet. In der Theorie selbstreferentieller autopoietischer Systeme ist das Bewusstsein gar nicht an der Kommunikation beteiligt (Luhmann 1985: 101ff.; Luhmann 1987: 315). Wohl räumt die Systemtheorie »strukturelle Kopplungen« an tragenden Stellen der Argumentation ein, und die Gemeinsamkeit, dass Kommunikation und Bewusstsein Sprache verwenden, suggeriert bei oberflächlicher Betrachtung vielleicht, dass hier sprachliche Typiken und Sequenzen als ein verbindendes und gemeinsames Element in Rechnung gestellt würden. Diese scheinbaren Zugeständnisse an gehaltvolle Sinn-Schnittmengen zwischen psychischen und sozialen Autopoiesen bedeuten indessen nicht, dass Subjekte an der Kommunikation teilnehmen, nicht, dass kommunikative Ereignisse oder Elemente des Systems (z.B. Ausdruck subjektiver Intentionen) seien, und auch nicht, dass die Struktur und der Prozess einer Kommunikation, eines sozialen Systems, selbst einer Interaktionssequenz (vgl. Schneider 1994: 218ff. und Hausendorf 1992), durch das Bewusstsein eines Akteurs konstituiert, gesteuert, geplant oder wenigstens »korrekt« verstanden werden könnte. Der soziologische Gegenstand fängt nach Luhmann erst dort an, wo das Bewusstsein aufhört, das man dann der Psychologie oder – wer weiß? – den Neurowissenschaften überlassen kann. System- und Diskursbegriff haben gemeinsam, dass sie auf transsubjektive Strukturen oder Prozesse Bezug nehmen sollen, die den subjektiven Intentionen, Konstitutionen und Ambitionen nicht folgen oder entspringen, sondern die eher als soziales, historisches, regionales Apriori diese Subjektivitäten auslösen, steuern, strukturieren und beherrschen (Bei Luhmann etwa als Kopplung zwischen Bewusstseinsrekursion und sozialer Individualitäts-Semantik; vgl. Luhmann 1989). Jedenfalls gilt diese Verwandtschaft für jene Verwendungen des Diskursbegriffes, die auf Foucault zurückgreifen und für manche Soziologinnen unter der Bedingung dieser Rückbindung interessant sind, da sie theoretisch und methodisch eine Kritik der Macht versprechen (Bublitz 2003: 63ff.). Einig bleiben sich Systemtheorie und Diskursanalyse bis zu der Linie, an der sie sich (relativ wohlfeil allerdings) einvernehmlich von essentialistischen Subjektkonzepten distanzieren.2 Die subjektive Seite der Handlung und des Sprechens 2 | An der Schwelle zur Kritik der Macht würde Luhmann allerdings aussteigen, denn die Frage »was dahinter steckt« leitet für ihn die falsche Sorte Soziologie ein, vor allem

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(die Schatten der intentionalen Rückseite »diskursiver Ereignisse«) behandeln sie wahlweise als kommunikationsinterne, vereinfachende Adressierung oder als diskurs-interne Zuteilung von »Subjektpositionen«. Diese Umformung der subjektiven Seite zum diskursiv konstituierten Subjektphantasma kann nüchtern und in deskriptiver Einstellung erfolgen wie in den systemtheoretischen Verfremdungstechniken oder aber mit Absicht auf eine Entlarvung, die sich des Abstandes von älteren ideologiekritischen Attitüden versichert, indem sie das Unwesen der Macht zwar diagnostiziert – oder gar beklagt – aber keinem Mächtigen, keinem verantwortlichen Subjekt der Herrschaft zurechnet. Kritik als Motiv oder Teilziel der Analyse sozialer Semantiken verbindet diesen Diskursbegriff dann allerdings weniger mit der Systemtheorie als mit der Funktion einer formalpragmatischen Diskurstheorie (Habermas 1983, 1985) – wenigstens in dem Sinne, dass wir hier wie dort die Unterscheidung zwischen illegitimer (bzw. nicht legitimierbarer) Hegemonie und der vorzuziehenden Alternative in Gebrauch genommen sehen, die von der Systemtheorie bestenfalls zitiert wird. Die Sorte kritischer Perspektive, für die die Diskurstheorie der Moral Frankfurter Zuschnitts steht, ist allerdings für die Anhänger Foucaults indiskutabel, sofern sie sich eben jener Ausschlüsse und genau des Vernunftoptimismus schuldig macht, die man mit Foucault entlarvt glaubt. Das Problem ist allerdings nicht nur und vielleicht auch nicht in erster Linie normativer Art, sondern beginnt bei der (vorläufigen) Inkommensurabilität zwischen referentiell und intensional heterogenen Diskursbegriffen, die in ganz unterschiedlicher Art die Akteure diskursiver Praxis konzeptualisieren, d.h. auch der Intentionalität und dem Bewusstsein von »Teilnehmern« an Diskursen ganz ungleiche Rollen zuweisen.

dann, wenn die Suche nach den Hintergründen sich als normative Entlarvung verhohlener Unterwerfung mit Absichten auf Verbesserungen durch Erzeugung von Intransparenz-Transparenz versteht. Luhmann könnte einer engagierten Soziologie hier, wie auch anderenorts, zu nüchtern erscheinen. Aber bei aller plausiblen Aufladung der Diskursanalyse mit einer sozial gut verankerten Empörungsgrundlage, etwa in Fällen postkolonialistischer und feministischer Kritik an »diskursiven« Normalisierungen vermeintlich natürlicher Ungleichheiten, muss man doch zugestehen, dass die Diskursanalyse Foucaults eine Rechtfertigung für Kriterien der normativen Kritik weder liefern kann, noch will. Es mag also plausibel sein, dass Gender-Rollen diskursive Konstruktionen sind, und auch, dass es Profiteure (Männer) der diskursiv zementierten Ungleichverteilung von Ressourcen und Rechten entlang künstlicher Geschlechtsdifferenzen gibt. Mit Foucault kann man aber auf keine haltbare Weise rechtfertigen, dass dies bzw. was genau daran »schlecht« sein soll (und zwar gerade weil die Verhältnisse aus Gründen Empörung provozieren, die von der neutralen Analytik der Macht nicht eingeholt werden).

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III. U nvertr ägliche D iskursbegriffe Zieht man die Diskussion der zurückliegenden Jahrzehnte zu Rate, erscheint es kaum plausibel, so weit von einander entfernte Diskursbegriffe wie den der Habermas’schen Theorie des kommunikativen Handelns und den der Foucault’schen Archäologie des Wissens überhaupt als konkurrierende Varianten der Beschreibung desselben Phänomenbereichs zu lesen. Bei Habermas tritt die Dimension der Intentionalität zwar zurück hinter sprachpragmatischen Strukturmomenten, aber sie tritt nicht vollständig von der Bühne ab, sondern bleibt vermittels der Charakterisierung von Handlungstypen (»kommunikativ« versus »strategisch«) durch »Orientierungen« (Zwecke versus Verständigung) für das Modell des Diskurses bestimmend: Das Konzept des rationalen Diskurs ist eine regulative Idee: Seine immer unvollkommenen empirischen Realisierungen können im Lichte der regulativen Idee eines herrschaftsfreien Austausches von Argumenten einer Beurteilung unterzogen werden. Die konzeptuelle Bestimmung des Diskurses macht indessen mit der korrelativen rationalen Verständigungsorientierung einen Bezug auf die Intentionalität der Diskursteilnehmer zum diskriminativen Merkmal prozeduralisierter Rationalität. Denn diese Rationalität schließt die praktische Vernunft mit ein und sublimiert den Bezug der Moralität auf die individuelle Autonomie zur notwendigen pragmatischen Unterstellung und Gewährleistung von Sprecher-»Zurechnungsfähigkeit« (Habermas 1981, I). Damit scheint der Begriff des rationalen Diskurses in wesentlichen Hinsichten gerade das Gegenteil des historischen Apriori eines Zeichengeschehens zu erschließen, das einer anonymen Macht folgt und das vor den Orientierungen der Person und schließlich durch diese hindurch z.B. disziplinarische Wirkungen entfaltet. Auf der Basis des Foucault’schen Diskursbegriffs entzaubert die Kritik von Begründungsansprüchen jeder Art den Habermas’schen »zwanglosen Zwang des besseren Argumentes« anscheinend als die Ideologie der Vernunft, die die Macht in ihren Voraussetzungen als blinden Fleck der Reflexion verkennt und damit affirmiert und reproduziert. Ein Habermas’scher Diskursbegriff und seine spezifische Begründungsarchitektur überführen ihrerseits Foucault der haltlosen, normativen Voraussetzungen und eines unklaren, inkonsistenten Machtbegriffes (Habermas 1985: 279ff.; Honneth 1985: 168ff.). Bevor hier also konkurrierende Geltungsansprüche gegen einander gehalten werden könnten, weichen bereits die für eine solche Prüfung konstitutiven Interpretationen des Geltungssinnes von einander ab. Die gegenseitigen Kritiken laufen deshalb aneinander nach dem Muster eines Vexierbildes vorbei. Die eine Seite dunkelt ab, was die andere Seite ausleuchtet und ans Licht bringt: blinder Fleck steht gegen unterschlagene Voraussetzungen. Aber nicht nur metatheoretische Geltungsfragen zeigen Unverträglichkeiten zwischen den genannten Diskursbegriffen, sondern auch die subjekttheoreti-

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schen Implikationen beider Kandidaten beziehen sich auf jeweils andere Phänomenausschnitte. Das Bewusstsein wechselt in diesem Widerstreit die Positionen: Es wird einmal thematisch in der Rolle der Intentionalität von Teilnehmern des rationalen Diskurses (bzw. entweder verständigungsorientierter oder strategischer Kommunikation) und in der anderen Perspektive wird es verwiesen auf die undankbare Stelle des disziplinierten Produktes von Subjektivierungsdispositiven. Das Dispositiv erst macht das Subjekt zum Träumer seiner Verantwortung, aber erst diese Selbstdeutung und die Reflexion auf ihre Grundlagen und Prinzipien begründet den normativen Sinn einer »Kritik« der Macht, die dann den Maßstab selbst, dem sie folgt, wieder destruiert oder »dekonstruiert«. Allerdings behandeln weder eine Foucault’sche Diskursanalyse noch die Habermas’sche Diskurstheorie der Rationalität – und hier liegt ein indirekter Konvergenzpunkt – das Subjekt und sein Bewusstsein als autonom in eben dem starken Sinne, gegen den die Rede vom »Ende des Subjekts« (wahlweise: des »Autors«) gerichtet ist; der Unterschied zwischen den beiden Diskurskonzepten wiederholt nicht den alten Zwist zwischen Idealismus und Determinismus, sondern er markiert eine Binnendifferenzierung im breiten Strome der postmetaphysischen Theorie. Beide Varianten nehmen dem Subjekt die Substanzgarantie der transzendentalen Rückversicherung, durch welche die epistemologische und praktische Souveränität schon reflexionstheoretisch als garantiert erscheint. Die Diskurskonzeptionen suchen allerdings in so unterschiedlichen Richtungen nach Alternativen, dass die Differenz der Diskursbegriffe schließlich auf den Unterschied zwischen Intersubjektivität und Heteronomie hinausläuft. In der Habermas’schen Theorie sublimiert die Prozeduralisierung der Rationalitätskriterien das Prinzip der Autonomie des Subjektes zum Autonomieanspruch, der eine kontrafaktische (aber durch faktische Idealisierung wirksame) Diskursnorm darstellt – und eben ganz gewiss keine blauäugige empirische Vermutung. Diese Norm macht eine idealisierende aber folgenreiche Unterstellung der Zurechnungsfähigkeit des jeweiligen Gegenübers für die Verständigungsorientierung zur Verpflichtung und gar zur begriffslogischen Notwendigkeit. Dieser kann nur bei Strafe performativer Selbstverhinderung ausdrücklich die Nachachtung verweigert werden, was natürlich (anders als oft behauptet) keineswegs die Möglichkeit, ja die Wahrscheinlichkeit eines überwältigenden empirischen Übergewichts strategischen Handelns ausschließt. Die normative Attitüde und entsprechende Kriterien der Kritik können indessen konsistent – so die Diskurstheorie der Moral und des kommunikativen Handelns – nicht anders als in Begriffen reziproker Autonomiezusicherung gedacht werden. Überzeugen wollen, kann nur, wer selbst glaubt, nicht auf Überredung und Überwältigung zu setzen – gleichgültig ob er nun tatsächlich überzeugt, oder ob tatsächlich das Argument zählt, wirksam

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wird, unkontaminiert zur Geltung zu bringen ist etc., oder ob dies nicht der Fall ist.3 In der Foucault’schen Linie ist im Vergleich zu dieser Übersetzung der »subjektiven Freiheit« in eine performative sine-qua-non Präsupposition die Distanzierung vom transzendentalen und konstitutiven Status des subjektiven Selbstbewusstseins und seiner Selbstbestimmung um einen bedeutsamen Schritt kompromissloser: auch der konsistente Glaube an die Notwendigkeit und Berechtigung unterstellter Autonomie, der sich des kontrafaktischen Status dieser Unterstellung bewusst ist, bleibt hier das Symptom für ein illusorisches Selbstverhältnis, das als solches die Unterwerfung unter die Macht nicht nur zeigt, sondern in eigene Regie nimmt: Das normativ aufgeladene Konzept eines autonomen Selbstverhältnisses gilt dem Historiker der Ideen-Systeme als Medium und als Folge der Delegation von Disziplinardispositiven an dieses Selbst (Foucault 1978). Der Diskurs ist dann nicht jene explizite Form der Kommunikation, in der nur das überzeugende Argument herrschen kann, sondern die Herrschaft eben solcher Regularien, in denen sich die Ordnung der Dinge und der Sätze durch die vermeintlich freien Intentionen hindurch reproduziert und als konstitutive Ebene vor diesen verborgen hält. Diese Diskursbegriffe kann man also kaum »vergleichen«. Sie bewegen sich nicht auf gleicher Augenhöhe, auf der sie erst in einer spezifischen Hinsicht oder durch eine akzentverschiebende Darstellung des »Gleichen« abweichen, sondern sie machen einander zum Gegenstand und ringen um die Besetzung einer perspektivischen Achse, von der aus die jeweils andere Position überboten und einsortiert werden kann. Wir haben es nicht mit opponierenden Systemen aus empirischen Thesen zu tun (»Ist das Subjekt nun autonom«?), sondern mit zweierlei theoretischen Vokabularen, die nicht nur die Sache, sondern auch ihre eigene »epistemische« Position gegenüber jeder möglichen Sache auf heterogene Weise entwerfen. Wo nicht auf gleichem Spielfeld gerungen wird, sondern vielmehr die Regeln strittig sind, fehlen gemeinsame Kriterien und Entscheidungsregeln für eine Klärung der Frage, wo nun die Vorzüge und die Plausibilitäten liegen. Statt zu vergleichen muss man sich scheinbar einfach entscheiden.4 Das trifft nicht 3 | Dafür, dass das Habermas’sche Programm selbst von der transzendentalen Apotheose des Subjektes weit entfernt ist, spricht schon, dass Autonomie hier nicht natürlich oder metaphysisch garantiert ist, sondern erstens in die kontrafaktischen Ansprüche und Gewährungen zurückgezogen ist und zweitens unter empirischen Bedingungen sozialisatorisch erworben und dann kommunikative gestützt werden muss, d.h. auf günstige (und unsichere) Lebensformen und passgenaue gesellschaftliche Institutionen angewiesen bleibt (siehe: Habermas 1992: 112ff., 1988). 4 | Natürlich ist eine solche Entscheidung nicht im dezisionistischen Sinne eine existentiell freie Option. Das Problem ist die Uneinholbarkeit von Begründungen, die Be-

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allein auf die normativen Haltungen und Ansprüche der Positionen zu, sondern es liegt begründet und zeigt sich in den unterschiedlichen Versionen der »Beteiligung des Bewusstseins« an Diskursen. In der formalpragmatischen (Habermas) Analyse sind die Sprecherhaltung und mithin die – wenn auch immer selektiven und unvollkommenen – intentionalen Repräsentationen für den kommunikativen Sinn und sowohl für Struktur als auch Fortgang eines Diskurses wenigstens mitkonstitutiv. Der poststrukturalistische Diskursbegriff rechnet dagegen die subjektiven Perspektiven aus der konstitutiven Ebene des historischen Apriori von Epistemen und Dispositiven restlos heraus. Das Bild einer Foucault’schen Diskurstheorie, in dem Subjekte nichts als Fähnchen im Wind sozusagen autopoietischer Aussagensystemen sind, verdient es zwar, angesichts der späteren Texte Foucaults zur »Technologie des Selbst« (Foucault 1993) in diesem oder jenem Sinne relativiert zu werden (vgl. Gehring 2002). Als Opposition gegen jene Anknüpfungen an der »Teilnehmerperspektive«, die eine Theorie kommunikativen Handelns nach wie vor fordert (Habermas 1981), bleibt das für gewisse soziologische Interessen entscheidende und wirkungsvolle Motiv allerdings die Abkoppelung sozialen Sinnes vom Bewusstsein und von den Intentionen der Akteure. Darum wird – wenigstens in der Soziologie – der Foucault’sche Begriff des Diskurses in der angegebenen Weise als dem Luhmann’schen Systembegriff verwandt behandelt und stellt somit einen Antagonisten des »rationalen Diskurses« zwischen verständigungsorientierten Teilnehmern, die bewusst agieren, dar. Aber dieses Schisma der Diskursbegriffs-Traditionen ist in Bewegung geraten. Von beiden Seiten aus hat die Evolution der Theorie zwar nicht die Konvergenz der Perspektiven hervorgebracht, aber sie hat doch zur Vermehrung der Chancen der Vergleichbarkeit beigetragen: In beiden Fällen, bezogen entweder auf Dispositive oder aber auf Argumentationen, folgt diese Entwicklung einer Modifikation philosophisch generalisierter und gewissermaßen abstrakter Diskursbegriffe, von denen die Soziologie profitiert, weil sie dazu beigetragen hat. Dieser Beitrag entstammt der Fortentwicklung der Handlungstheorie. Von der postmodernen Version eines stahlharten Gehäuses, der Episteme in der Größenordnung epochaler Regime, nehmen (manche) Soziologien mittlerweile ebenso Abstand wie von soziologischen Großtheorien insgesamt und von gründungsformen begründen sollen und dabei selbst zum Begründungsspiel gehören (wozu auch sonst?), die Wittgenstein in »Über Gewissheit« metaphorisch erläutert hat (Wittgenstein 1969). Die erwähnte »Entscheidung« ist in diesem Sinne nicht frei, sondern immer instruiert (siehe dazu: weiter unten) durch die Praxis, aus der heraus reflektiert wird. Das Problem ist, dass zwischen den erläuterten Diskursbegriffen Uneinigkeit herrscht, was Möglichkeit und Notwendigkeit des Grades der Explikation von impliziten Plausibilitätsgrundlagen angeht.

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deren Tendenz, kleine Verhältnisse aus der Vogelperspektive unter Makrokategorien zu subsumieren. Von der Fokusverschiebung zu Handlungskontexten »mittlerer« Reichweite profitiert die so genannte Praxistheorie in mehreren Varianten (Bourdieu 1979 und ebenso 2001; vgl. aber vor allem: Turner 1994; Bloor 2001; Schatzki, Knorr-Cetina, von Savigny 2001). Sie richtet sich mit besonderer Beachtung der Vermittlungen zwischen Makrostruktur und konkreten Handlungssituationen (Giddens 1997; vgl. Joas 1997; vor allem: Archer 2003: 130ff.) an den praktischen und konkreten Zügen im Sprachspiel, in der »Interaktion« aus. Die großen Ordnungen stellen sich im Lichte der Frage nach der Strukturierung als Theuseus-Schiffe dar (permanenter Umbau auf See): Ordnungen oder auch Strukturen (Giddens) tragen das Spiel und stecken das Feld ab, sie sind und wandeln sich jedoch durch das Spielen des Spiels.

IV. P erformativität als tertium compar ationis Eine praxistheoretisch angeregte Transformation des Diskursbegriffes könnte und sollte die Theorien von Habermas und Foucault zwar nicht versöhnen, sie erschließt aber eine Ebene sozialer Prozesse, von der aus betrachtet die Begriffe des Dispositivs und der rationalen Verständigung als unterschiedliche Explikationen eines gemeinsamen Bezugsphänomens verständlich gemacht werden können. Dieses Phänomen ist die soziale Praxis, sobald und soweit sie aufgefasst und analytisch beschreiben wird als eine Handlungsebene, die zugleich die Konstitution durch den ehedem (und immer noch) paradigmatischen rationalen Akteur transzendiert und doch von dessen intentionalem Eigensinn und bewusster Strategie abhängig bleibt. In der expliziten Auseinandersetzung mit dem Begriff des Diskurses zeigt sich die angedeutete Transformation als die Wendung zur »Performativität« des Diskurses. Diskurse führen nicht nur das Subjekt, sodass dessen bewusste Vorstellungen von Sinn, Grund und Absicht epiphänomenal wären, sondern sie werden »geführt«, ohne sich deshalb (intentional bzw. »rational«) steuern und planen zu lassen. Natürlich ist schon den gründlichen Überlegungen von Habermas und Foucault der Gedanke nicht fremd, dass Diskurse vollzogen werden, dass sie in der Zeit ihre konstitutiven und regulativen Wirkungen entfalten. Aber bei Foucault vollzieht und verwandelt sich das am Diskurs Bedeutsame, d.h. die Episteme bzw. das historische Apriori – getreu der Abwendung von der subjektivistischen Konstitutionstheorie – von selbst, und es transformiert sich in jener Diskontinuität der epochalen Brüche, die von Foucault gegen die Linearität und Teleologie des historischen Bewusstseins fortschreitender Aufklärung in Anschlag gebracht wird. Ein Rest Zugeständnis an die apriorische Dimension findet sich auch bei Habermas. Das kommunikative Handeln ist zwar ganz offensichtlich eine performative Erscheinung, die sich in der pragmatischen Di-

Wie ist das Bewusstsein am Diskurs beteiligt?

mension der »kommunikativen Alltagspraxis« (als Regulativ und Aspiration) geltend macht; doch die formalen Prinzipien der prozeduralisierten Vernunft sind selbst nicht performativ konstituiert und revidiert, sondern sie müssen im Sinne der schwachen Transzendentalität der formalen Pragmatik und ihrer Präsuppositionenanalyse mit Notwendigkeit in Anspruch genommen werden.5 Wenn also die Betonung der Performativität in praxistheoretischen Überlegungen zu einer Modifikation der fraglichen Diskursbegriffe beitragen soll, muss dabei mehr und Bedeutsameres in den Vordergrund gerückt werden als der triviale Umstand, dass Diskurse sich als Prozess oder in Form von entweder kommunikativen oder semiotischen Sequenzen realisieren. Die Performativität, auf die es hier ankommt, hat elementareren Charakter: sie hervorzuheben zielt ab auf die problematische Trennung zwischen quasi-apriorischer oder konstitutiver und konstituierter Ebene. Nicht nur das Subjekt, sondern auch die transsubjektiven Ordnungen – diskursive Normalitätsstandards und Leitunterscheidungen wie formalpragmatische Basisregeln – können nicht länger als Fundamente eines hierarchischen Konstitutionsaufbaus gelten. Das bedeutet – mit Seitenblick auf Wittgenstein und seiner Vorstellung von der Bodenlosigkeit rechtfertigender Begründungs-Regresse –, dass die Theorie transsubjektiver Sinnordnungen der Zirkularität von konstitutiver und konstituierter Ebene gerecht werden muss. Das hieße in der Konsequenz und zunächst nur programmatisch formuliert, dass die Beziehung zwischen einerseits den Epistemen, den Formen des historischen a priori oder formalpragmatischen Regeln und andererseits empirischen kommunikativen oder diskursiven Ereignissen (bzw. subjektiven Realisierungen) nicht als invariable Konstitutionshierarchie aufzufassen wäre. In actu, also im Fluss faktischer Kommunikation, müssen zweifellos ausreichend ausgiebige, grundlegende Selbstverständlichkeiten konstitutive Funktionen erfüllen, sofern im kommunikativen Handeln und im Vollzug diskursiver Prozesse nicht ständig jedes generalisierte Moment der Situationstranszendierung und jedes stillschweigend wirksame Element der Vordefinition zur Disposition gestellt sein kann; mittel- und langfristig aber müssen jene Vorbedingungen selbst durch die Praxis ihrer Verwendung affiziert werden und – fallweise – transformierbar sein. Andernfalls wären weder kulturelle Evolution noch »interkulturelle« Kommunikation und Übersetzungsprozesse erklärbar (vgl. Renn 1998, 2004 und 2006). 5 | Diese »schwache Transzendentalität« unterscheidet Habermas’ Vorstoß zur formalpragmatischen Verteidigung des Sinnes unbedingter Geltung von Karl Otto Apels Programm einer Transzendentalpragmatik, die aus der »Selbstaufstufung« des Diskurses expressis verbis einen Anspruch auf unausweichliche Universalität ableiten will (Apel 1973). Zu den Habermas’schen Vorbehalten gegenüber überzogenen Geltungsansprüchen für die formale Rekonstruktion von allgemeinen Kommunikationsvoraussetzungen vgl. Habermas 1983: 105.

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Das macht tatsächlich einen Unterschied sowohl gegenüber der Habermas’schen als auch der Foucault’schen Vorlage (und Vorarbeit). Die konstitutiven Prinzipien dieser »Diskurse« sind in den klassischen Entwürfen, die Schule gemacht haben, nicht Ergebnisse, sondern Bedingungen der Sprech-, Denk- und Kommunikations-Akte. Radikale Performativität rechnet im Unterschied dazu die Möglichkeit sowie die Notwendigkeit von Rückwirkungen der Folgen und Auswirkungen konstitutiver Voraussetzungen, Regeln und Schemata auf diese selbst. Der praxistheoretische Impuls (der in den einschlägigen Ansätzen in ganz unterschiedlicher Form realisiert werden kann) schreibt mit Wittgenstein den Praktiken jene Zirkularität zu, bei der hier grammatische und empirische Sätze den Platz wechseln können, in Wittgensteins Worten einmal Fluss, dann wieder Ufer sein können.6 Diese metaphorische Absetzbewegung von Restbeständen metaphysischer Konstitutionshierarchien ist in ihren Konsequenzen unübersichtlich7; vor allem muss ihre Transposition in die Sprache der Soziologie, genauer: in den Gebrauch, den die Soziologie vom Begriff des Diskurses machen kann, die Abstraktionshöhe allgemeiner Begründungsfragen verlassen. Das Kleinarbeiten paradigmatischer Einwände und ihre Überführung in handlungstheoretische Einsichten erfordert z.B. die Neuverhandlung subjektiver, intentionaler Anteile am Vollzug und an der Teil-Konstitution der konkreten Gestalt von Diskursen. Denn die Folge des fundamentalen Prinzips der Performativität lautet im handlungstheoretischen Vokabular, dass nun nicht entweder der Diskurs oder »das« Subjekt den Sinn eines diskursiven Ereignisses bestimmen, festlegen, kommunizieren oder konstituieren, sondern dass sich Typen von Diskursen mit Rücksicht auf Grade von Rekursivitätsspielräumen unterscheiden ließen. So wie die Chancen von Rückwirkungen auf die lokal konstitutive Ebene unterschiedlich ausfallen, so unterscheiden sich Formen

6 | Die Metapher besagt nicht, dass jedwede tief sitzende und etwa implizite Selbstverständlichkeit, die lokal (mit freizügig variierbarer Extension) konstitutiven Charakter hat, jederzeit und schnurstracks zum Gegenstand strukturierender Aushandlung oder subversiver Umwendung gemacht werden kann (siehe dazu weiter unten). Sie enthält lediglich – aber immerhin – die Festlegung darauf, dass keiner Artikulation von aktuell notwendigen Präsuppositionen einer Praxis die Kontingenz endgültig entzogen werden kann. Nur die prinzipielle Voraussetzung einer rekursiven Beziehung zwischen konstitutiven Prämissen und konstituierten Folgen kann die z.B. bei Foucault vertretene Annahme diskontinuierlicher und unmotivierter Brüche durch eine Rekonstruktion von Transformationsbedingungen und -wegen ersetzen. Für den Wechsel metaphysischer Weltbilder hat dies z.B. Hans Blumenberg vorgeführt (vgl. Blumenberg 1996). 7 | Und erlaubt so unterschiedliche »Epistemologien« (wenn man sie denn noch so nennen will) wie die Derridas und die Rortys.

Wie ist das Bewusstsein am Diskurs beteiligt?

der Beziehung bzw. Gewichtsverteilungen zwischen intentionalen, transsubjektiven und quasi-autopoietischen Konstitutionsinstanzen.

V. A bweichung , W iederholung oder S pezifik ation : I mplizites W issen Aus der Foucault’schen Tradition heraus kommen die Arbeiten von Michel de Certeau und Judith Butler als vielleicht prominenteste Beispiele auf die Performativität von Diskursen zu sprechen. Sie schließen an Foucault an, aber sie knüpfen dabei das Gewebe des Macht- und des Dispositiv-Begriffs auf, um den Faden des Subjektes neu in das Verständnis des Vollzuges der Diskurse zu verweben (de Certeau 1988; Butler 1998).8 De Certeau untersuchte die kleinen und stillen Taktiken und die untergründigen Strategien beispielsweise von Konsumenten, denen das kulturkritische Vorurteil und eine posthumanistische Diskurstheorie die Passivität der einem Regime Unterworfenen zugeschrieben hatte. Ihre Züge im schon bestellten Feld bilden zwar keine soziale oder politische Bewegung auf der Grundlage eines kollektiven, kritischen Bewusstseins, das Interessen aggregiert und politischen Widerstand formiert. Sie nehmen nicht spektakulär und im Medium expliziter Kritik die Verhältnisse aufs Korn. Sie nutzen vielmehr vermittels ihres (strategischen) Spielsinnes (im Sinne von Bourdieu 1987: 122ff.) Lücken, Ambivalenzen und Chancen zur Umwidmung, Auslegung, Verschiebung implizit und explizit regulierender Muster im Verborgenen und im Schatten der Kontrolle. Der Spielsinn geht nicht den Umweg über die Explikation und die Kritik der Regeln des Handelns, sondern er entfaltet seine Wirkung, wie im Bourdieu’schen Modell, im Modus der lokalen Umsetzung des praktischen Wissen, wie zu handeln sei, welches inkorporiert im Habitus als »Hexis« fungiert (Bourdieu 1979: 195, 1987: 129). Anders allerdings als bei Bourdieu, dem de Certeau einen sublimierten Objektivismus vorrechnet (de Certeau 1988: 122)9, zeichnet sich hier ein Bild 8 | So wie vielleicht der späte Foucault selbst (vgl. Gehring 2002). 9 | In de Certeaus Lesart ist die gesamte Praxeologie Bourdieus nichts als ein sublimierter Objektivismus, der die ethnologische Bestandsaufnahme der Praktiken und Strategien instrumentalisiert, um die »Lücke der Kohärenz« einer Soziologie »zu stopfen« (de Certeau 1988: 125), die anders die Objektivität der Strukturen nicht bezeugen könne, als sie in die vermeintliche Repräsentation der Strukturen durch den Habitus zu projizieren. Die Kritik de Certeaus setzt ihrerseits die Unzähmbarkeit der faktischen Strategien und »subversiven« Praktiken voraus und umgeht die Frage, wie denn bei Allgegenwart der Umwandlung im Vollzug die Einheit einer Praxis über die Grenzen einer interaktiven Sequenz hinaus zu begreifen ist.

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der lückenhaften Reproduktion der Ordnung ab. Die Reproduktion und Bestätigung einer solchen Ordnung wird durch die Körper, die Wahrnehmungen und Handlungen hindurch vollzogen, aber die Ordnung selbst determiniert die einzelne Handlung nicht restlos, sondern definiert einen Spielraum von Möglichkeiten ihrer Bedeutung. Deshalb bewirken die Strategien mehr und anderes als bloß die latent vorregulierte Wiederholung der objektiven Ordnung, die den Habitus nach Bourdieu erzeugt haben soll. Sie führen gezwungenermaßen zur Abweichung, zur ungesteuerten und unbemerkten Drift der Ordnung, die sich niemals identisch wiederholen lässt.10 Was wir handlungstheoretisch, wenn auch reichlich metaphorisch ausgeführt, hier angedeutet sehen, ist die Rückkehr einer diskurstheoretischen Kritik der Macht zur Frage der »Agency« (siehe auch: Taylor 1985: 15ff.). Mit Foucault wird die Handlungsmächtigkeit der Person, gedacht als Subjekt ihrer Handlungen, immer schon durchschaut als Folge der Selbstermächtigungsrelation, die als Kontrollform nicht Autonomie, sondern eine typische moderne Machtrelation darstellt (Gehring 2002: 386). Die Beschreibungen der Praktiken, die de Certeau in Auseinandersetzung mit Bourdieu vorlegt, drehen das Rad der Subjektskepsis nicht einfach zurück. Nicht das so genannte Subjekt plant bewusst seine Handlungen und verfolgt ebenso bewusste Absichten, Ziele und Interessen, wie es – wenn auch mit methodischen Vorsichtsmaßnahmen – die handlungstheoretischen Modelle der rationalen Wahl weiter beteuern. Aber in den Lücken der gemessen an den faktischen Besonderheiten von Situationen immer unspezifischen Regulation, machen sich die Strategien als Zwang bemerkbar, fortzusetzen ohne wiederholen zu können. Das Problem der Wiederholung beschäftigt insbesondere Judith Butler. Wie kann »hate speech«, die herabwürdigende rassistische, sexistische Rede den und die Adressaten verletzen (den die An-Rede, wenn man Althusser ins Spiel bringt, im Sinne seines Begriffs der Anrufung, erst konstituiert)? Ist die Verletzung unausweichlich, weil der Vollzug des Sprechaktes und die Konstitution des angerufenen Gegenübers konventionell schon geregelt und entschieden ist und darum mit Notwendigkeit zur Verletzung führen muss? Dass diese Antwort fragwürdig ist, zeigt Butler in ihrer Version der Rekonstruktion der Performativität des Diskurses mit Hinweis auf die Lückenhaftigkeit der sprachpragmatischen Konvention. Butler liest John Langshaw Austin mit den Augen Derridas: Derridas Dekonstruktion des Austinschen Begriffs der Illo10 | Auf seine Weise unterstreicht auch schon Waldenfels (1987: 173ff.) die Notwendigkeit der Abweichung inmitten der Reproduktion einer Ordnung, seine Analyse versetzt das »Movens« der Transformation allerdings allzu sehr in die Region des »Außerordentlichen«, die überdies durch eine Definition von Ordnung als »geregelter Zusammenhang zwischen diesem und jenem« (Waldenfels 1987: 137) entweder nicht besonders spezifisch ausfällt oder aber ganz allgemein als Regellosigkeit verstanden werden muss.

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kution (bzw. des »illokutionären Aktes«) und seiner Kraft und Geltung (Austin 1975; dazu Derrida 1988: 298ff.) hebt an mit der Beobachtung des Kontextbruches. Derrida arbeitet mit der (irreführenden)11 Angleichung von Gebrauch und Zitat: Sofern Iteration und Zitat dasselbe seien sollen, weil der Wert des Zeichens vom Referenten immer unabhängig sein soll, gleicht die Rede in dieser Hinsicht der Schrift, denn die sprechende Nutzung der konventionellen Form unterstellt Iterierbarkeit ebenso fälschlich wie die Schrift (stattdessen: différance)12 . Die Kraft des Sprechaktes, d.h. die faktische Konsequenz der Äußerung eines konventionell schon vorbereiteten Satzes – und so auch Butlers Problem der Verletzung durch üble Rede – ist nicht der Konvention inhärent, weil der erneute Gebrauch nolens volens einen Bruch mit dem (illusionären) Ursprung der Konventionalisierung vollzieht. Austin wird dabei unterstellt, die Dissemination zu verkennen, stattdessen die volle Transparenz der Konvention und der Situation im Bewusstsein des Sprechers zu vertreten (Derrida 1988: 306).13 Dagegen setzt Derrida dann auf das Prinzip der ein Ereignis konstituierenden Diskontinuität. Die Kraft der performativen Äußerung leitet sich nicht aus dem früheren Gebrauch ab (aus der feststehenden Konvention), sondern aus dem Bruch mit jedem früheren Gebrauch. An diesen Zug lehnt sich Butler an und kritisiert zunächst Austin, eigentlich aber: Derrida und Foucault. Gegen Derrida macht Butlers Deutung geltend, dieser ziehe durch 11 | Searles bekannte Gegenargumente gegen diese Identifizierung leiden unter der Verzeichnung seines dekonstruktivistischen Gegenübers (das er bedauerlicher Weise unter Berufung auf eine gegenüber Derrida schwächere, sekundäre Darstellung aufbaut); in der Sache sind die sprachpragmatischen Einwände gegen die Konfusion von Zitat und Verwendung aber dann richtig, wenn – wie es die Betonung der Performativität des Diskurses erzwingt – auf die referentiellen Beziehungen von sprachlichen Ausdrücken in kommunikativen Kontexten Rücksicht genommen wird. Einen Satz zu verwenden, hat schlicht andere pragmatische Implikationen und beinhaltet andere Verpflichtungen als ein distanzierendes Zitat (siehe auch: Brandom 2001: 105ff.). 12 | Derrida arbeitet in diesem Text (1988) nach wie vor an der Destruktion des Prinzips der »Univozität« der sprachlichen Bedeutung, richtet sich dabei aber gegen die Husserl’schen Zwänge, Bedeutung als Idealität zu behandeln, deren bedeutungsplatonistischen Konsequenzen in der sprachphilosophischen Debatte aber schon lange Zeit als überwunden gelten können (vgl. als Parallele auch: Davidson 1986). Man kann die »Identität« der Zeichenbedeutung in der Gesamtheit der praktischen Zeichenvorkommnisse (»tokens«) bezweifeln, ohne dabei auf den Beitrag, den die referentielle Beziehung des Sprechaktes zu dem »worüber« der Äußerung für die Koordination der Zeichensequenz leistet, verzichten zu müssen. 13 | Austin hat dagegen seinerseits auf die Intransparenz der kommunikativ erst spezifizierten Bedeutung und auf die vagen Grenzen zwischen illokutionären Modi hingewiesen (Austin 1975: 72 und 76ff.).

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die Verallgemeinerung der Iterierbarkeit die gesellschaftliche Bedeutung aus dem Ritual und der Zeremonie ab (Butler 1998: 41f.). An dieser Stelle denkt Butler nicht zuletzt an die Handlungsmacht der Akteure. Denn die Umbiegung des Sinnes der Konvention, die »resignification« im Vollzug des Sprechaktes ist in Teilen Ergebnis der Strategien der Sprecher, nicht nur Bestandteil oder Folge und Symptom des Zeichengeschehens als solchem. Die Sprecher müssen um dieses Anteils an der verschiebenden Fortsetzung Willen keineswegs als starke Subjekte gelten, die sich durch die Transparenz der Bedeutung und die Souveränität des Bewusstseins auszeichnen würden. Die Performativität des Diskurses, die Unmöglichkeit der getreuen Wiederholung und der Transparenz der Bedeutung macht allerdings zweierlei erforderlich: erstens den Spielraum der Auslegung, die Lücken zwischen Zeichen, Ordnung, Regel und Ausführung, zweitens eine Form von Agency, die als Spezifikation in diesen Lücken interveniert, und an dieser hat das Bewusstsein einen spezifischen Anteil. In »Hass spricht« (Butler 1998) relativiert Butler Grundannahmen des zeichenzentrierten Konstruktivismus des Diskurses durch die Einführung des Begriffs einer »postsouveränen Subjektivität«. Butler erweitert die Spielräume der personalen Instanzen des Diskurses, indem sie den Personen eine spezifische Einsichtsfähigkeit zuspricht, damit auch eine Haltung gegenüber einer, wenn auch nicht restlos durchschaubaren und aufhebungsfähigen, aber anerkennbaren Abhängigkeit. Die Einsicht in die Heteronomie und die Macht, nicht ihre reflexive Aufhebung, genauso wenig aber die reflexhafte Übernahme der Pflicht aus vermeintlich freier Einsicht in die Notwendigkeit, sondern eine Form der Anerkennung dessen, was einmal »schlechthinnige Abhängigkeit« hieß, erlaubt an den Rändern der regulierenden Ordnungen und der etablierten sprachlichen Dichotomien das irritierende Spiel mit Oppositionen, mit Unterscheidungen und Zuordnungen. Bezogen auf Gender-Phänomene gelten hier für Butler die subtilen praktischen Verschiebungen der Bedeutung und der Bewertung von primär abwertenden und ausschließenden Zuschreibungen, von Stigmatisierungen (Queer), als das paradigmatische Beispiel. Diskursive Ordnung wirkt über eine implizite Zensur, in der die vermeintlich freie Subjektivität geleitet und unterworfen ist durch die Regeln, nach denen entschieden ist, was als das Sprechen eines Subjektes anerkannt werden kann. Diese implizite Zensur wird durch die praktischen Züge minutiöser Sinnverschiebungen nicht in einer expliziten Kritik des Gesetzes aufgehoben, sondern sie wird unterlaufen. An die Stelle offensiv ausdrücklicher, ideologiekritischer Einsprüche treten Formen der Widerständigkeit gegen inkorporierte Konvention, von denen nicht willkürlich abgesehen werden kann, die aber durcheinander gebracht werden können. »Das Spiel zwischen dem Alltagssprachlichen und dem Nicht-Alltagssprachlichen ist entscheidend, wenn die Beschränkungen revidiert und reformuliert werden, die die Grenzen des

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Sagbaren und damit die Lebensfähigkeit des Subjekts sichern« (Butler 1998: 204f.). Den Kern der praktischen Sinntransformation bildet darum die »Wiedergabe konventioneller Formeln in nicht konventionellen Formen« (Butler 1998: 208), die durch die Notwendigkeit ermöglicht wird, Formeln an konkrete Umstände der Ausführung abstrakter Formeln anpassen zu müssen, bis zu dem Punkt, an dem die Ausführung mit dem ursprünglichen Kontext der Formel brechen kann. Eine bedeutende Bedingung der Möglichkeit solcher Brüche ist der Umstand, dass die der Polysemie der Zeichen und ebenso der Formeln nicht begrenzt oder endgültig neutralisiert werden kann. Die Polysemie besteht dabei weniger in der Unabschließbarkeit der Extension möglicher Referenz, sondern sie entfaltet ihre Funktion im Verhältnis zwischen Semantik und Pragmatik (zwischen »longue« und »parole«), da sie sich in der Differenz zwischen der Formel und der Form ihrer Anwendung auswirkt. Die Regel regelt nicht ihre Anwendung (Wittgenstein). Die Ordnung und die in habituellen Schemata hinterlegten konstitutiven Regeln sind zugleich einschränkende und ermöglichende Bedingungen: sie machen Kommunikation und die relative Einheit von Diskursen möglich. Und doch müssen sie zugleich ein solches Maß an Mehrdeutigkeit und den Spielraum kreativer Anwendung eröffnen, ohne den die generalisierten Schemata gar nicht in spezifischen Handlungsund Sprechsituationen zur Anwendung gebracht, d.h. »ausgelegt« werden könne (vgl. auch: Joas 1996). Beide, de Certeau und Butler, beziehen sich auf Bourdieu14, verarbeiten dessen Theorie einer Praxis, in der das Handeln nicht durch die rationalen Kalkulationen der Subjekte, sondern durch die Wirkung inkorporierter Habitusformen erklärt wird, mit Bezug auf die Diskurstheorie Foucault’scher Prägung weiter. In vergleichbarer Richtung argumentieren Vertreter der »Cultural Studies« (z.B.: Hall 1996), die in den implizit geleiteten Praktiken und den abweichenden Strategien Anzeichen von Gegenmacht, Subversion etc. entdecken. Ein Beispiel liefert John Fiske (Fiske 1999) mit der Beschreibung des populären Wissens um die Person und Bedeutung des nur angeblich verstorbenen Elvis Presley. Dieses Wissen und die Form seiner Legitimierung verraten zwar einerseits die latente Zensur des offiziellen Wissen, sobald von Elvisfans eine verballhornte Fassungen wissenschaftlicher Evidenz beansprucht wird, um zu »beweisen«, dass Elvis lebt und spürbar Gutes bewirkt oder nachweislich in Südamerika gesichtet wurde und dort indigene Populär-Kulte inspiriert habe. Anderseits behauptet diese Form eines populären Wissens eine gewisse Resis14 | Die handlungstheoretische Positionierung zeigt sich in Butlers Position verwandt zu de Certeau ebenfalls als Kritik an Bourdieus tendenziell deterministischer Version des Verhältnisses zwischen objektiven Strukturen, Feldern und habituellen Schemata (vgl. Butler 1998: 201ff.).

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tenz und die Widerständigkeit eines praktisch konstituierten Schutzraumes gegen »hegemoniale« Argumentations- und Begründungszwänge. Der Gestus des »Beweises« ist entliehen und zugleich oktroyiert vom diskursiven Regime wissenschaftlicher Formate der epistemischen Rechtfertigung, die Hegemonie wissenschaftlicher Argumentationsformen wird bestätigt. Gleichwohl kontrolliert der offizielle rationale Diskurs nicht alles Wissen, sondern er wird in den Lücken des Zugriffs gegen sich selbst gewendet. Der rationale Diskurs im Sinne geregelter und intersubjektiv normierter Verständigungsorientierung zeigt verwandte Lücken, auch wenn man ihn mit Habermas und mit der Formalpragmatik auf den Begriff unhintergehbarer Prinzipien des interpersonalen Umgangs bringt. Bezogen auf die Diskurstheorie der Habermas’schen Art zeigen sich Möglichkeiten einer praxisspezifischen Transformation des Diskursbegriffes in einem handlungstheoretischen Rückgang hinter die abstrahierte Ebene formalpragmatischer Prinzipien. Die Formalpragmatik hält sich in ihrer Analyse der Form der Verständigung an die kommunikativen Bedingungen von Standardsituationen, in denen geteiltes Vorwissen und identische Bedeutungsunterstellungen vorliegen und unproblematisch zu bleiben scheinen. In der Perspektive einer pragmatistischen Handlungstheorie, wie sie beispielsweise Hans Joas vorlegt (Joas 1996; vgl. Renn 2006), sind solche Standardsituationen aber bestenfalls ein Grenzfall, genau genommen aber eher Abstraktionen aus einer praktischen Interaktionsweise, in der jene Vorbedingungen niemals genügen, um Kommunikation in Gang zu setzen und zu halten. Die »Kreativität« des Handelns entfaltet ihre Wirkung prinzipiell angesichts der unausweichlichen und jeweils spezifischen Situativität des Handelns, derentwegen die Regeln der Argumentation die Sequenz des Diskurses nicht bestimmen, nur bedingen können, weil die faktische Sequenz der Kommunikation notwendig »indexikalische« Bezüge trägt. Diese Bezüge enthalten Spezifikationszwänge der Referenz allgemeiner Bedeutungsträger angesichts der präzedenzlosen Individualität von Situationsmerkmalen »hic et nunc«. Die Indexikalität der faktischen Kommunikation führt damit zu einer permanenten hermeneutischen »Unruhe«: Der Sinn ist nicht still zustellen durch die Abstraktion der spezifischen Sinnhorizonte singulärer »tokens« zu allgemeinen »types« durch Explikation zum Begriff oder durch Sedimentierung »intersubjektiv geteilten Hintergrundwissens« (Habermas 1981, II: 182ff.). Selbst wenn dem »rationalen«, also weder blind-reflexhaften, noch routiniert-unkritischen Handeln eine gewisse »teleologische« Struktur zugeschrieben werden muss, so ist doch auch die Orientierung an »intelligiblen« Zielen aufgrund der Situiertheit des konkreten Handelns auf die habituelle Vorinterpretation von Auslegungs-Angemessenheit angewiesen. Hans Joas spricht deshalb in seiner Kritik an rationalistischen Handlungsmodellen (verwandt mit Bourdieus Kritik an den Vorurteilen der »Praxis der Logik«) von »vagen Ziel-

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dispositionen« (Joas 1996), um zu betonen, dass die Rationalität des Handelns nicht an der Identität zwischen der ex ante Orientierung des handelnden Subjekts und dem ex post Ergebnis der Handlungssequenz gemessen werden kann (d.h. Abweichungen auf der Achse der Unterscheidung zwischen abstraktem Telos und spezifischem Effekt bedeuten keinen Mangel an Rationalität oder »Erfolglosigkeit«, im Gegenteil: die Anerkennung der relativen Unplanbarkeit der Handlungsfolgen stellt eine gesteigerte Rationalität dar). Die Berücksichtigung der prinzipiellen Unbestimmtheit von »Zieldispositionen« der handelnden Personen und des interaktive Zwangs, Unbestimmtes in Bestimmtes zu überführen (formale und allgemeine Voraussetzungen und Schemata »indexikalisierend« in konkrete Anschlusshandlungen, Züge im Sprachspiel zu übersetzten, vgl. Renn 2006), veranlassen die theoretische Arbeit zur Revision des Begriffs des kommunikativen Handelns. Die praktische Kooperation liegt unterhalb der abstrakt explizierten Ebene vermuteter Identität der Bedeutung und der vermeintlichen Eindeutigkeit der illokutionären und praktischen Konventionen oder Regeln. Die Lücken des Diskursiven und der Zwang zur Spezifikation in situ werden bei Habermas formalistisch überspielt, wenn dessen Diskurstheorie voraussetzt, dass Sprechakte sich selbst ausweisen, ihre illokutionäre Kraft transparent und unzweideutig sei (Habermas 1981, I: 392; vgl. ausführlicher zum hier angedeuteten Einwand: Renn 2006: 249ff.). Verständlichkeit ist aber im Lichte der Relevanz fundamentaler Performativität für die Koordination des Handelns das Ergebnis einer kommunikativen Erschließung der konkreten Bedeutung einer Handlungssequenz und ihrer Teile, nicht einfach ihre Voraussetzung in Form einer immer schon garantierten Basis konstitutiven Vorverständigtseins. Das Handeln ist insofern – verwandt zur Akzentuierung der Problematik des Vollzugs von Diskursen bei Butler und de Certeau – notwendig eine Form der Abweichung, nicht, weil und wenn hier permanent explizit Geltungs- und Bedeutungsfragen problematisiert würden, sondern weil die dem Handeln und dem Bewusstsein der Handelnden vorgängigen Determinanten des Diskurses die wirklichen Züge kommunikativer Sequenzen nicht hinreichend präskribieren können. Das Bewusstsein der Akteure kommt auf dem Weg der Spezifikationsproblematik zurück in das theoretische Bild des Diskurses, ohne dass man dabei in das Modell des rationalen Handelns eines autonomen Subjektes zurückfallen müsste. Denn auch wenn an die Stelle des diskursiven Ereignisses als einem diskurseigenen selbstreferentiellen Element die Handlung und das Sprechen von Personen gesetzt werden muss, so bedeuten die Anknüpfungen der Performativität der Diskurse an das Bewusstsein keineswegs, dass Personen (in der Regel) explizit wissen und planen, was sie tun, und sich kritisch und autonom gegen diskursive Imperative richten können müssen. Die pragmatistische Variante einer Praxistheorie erlaubt es vielmehr, die falsche Alternative zwischen

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Autonomie und Heteronomie, zwischen der Figur des spontanen, souveränen Subjektes und dem Modell diskursiv erschaffener Marionetten zu unterlaufen. Das Subjekt der Abweichung und des kreativen Handelns ist nicht das Subjekt der kritischen Reflexion, des transparenten Eigeninteresses, der freien Entscheidung zwischen Alternativen oder der genialischen Erfindung des Neuen im praktischen, wie im technischen Bereich, es ist nicht die Monade der reflexiven Sinnkonstitution. Es ist aber deswegen andererseits nicht nur noch das Ensemble gesellschaftlicher Verhältnisse oder nichts als das Produkt einer adressierenden und unterwerfenden Anrufung (Althusser) bzw. einer subjektivierenden Kontrolle, dessen Bewusstsein eine illusionäre und sich verkennende Agentur anonym regierender Dispositive wäre. Noch Bourdieu, der schon zeigt, dass das Handeln nicht bloß und keineswegs meistens rationale Zweckverfolgung und Schlussfolgerung ist, mündet wieder in den Objektivismus ein: Zwar ist das Subjekt primär leiblich inkorporierte Urteilskraft, die Hexis jedoch bleibt eingesperrt in das Gefängnis der objektiven Ordnung, die sich durch den Habitus hindurch und vermittels der anerkannten Verkennung immer nur selbst bestätigt. Der Dispositionsbegriff ist bei Bourdieu letztlich nicht ausreichend gegen behavioristische Implikationen abgesichert.15 Bourdieu kritisiert zurecht das »juridische Vorurteil« der rationalistischen Handlungstheorie, das die expliziten Regeln des Handelns für die subjektiv realisierten und damit objektiv anleitenden Regeln hält (Bourdieu 1979: 201ff; 1987: 165). Er stellt dem aber die Objektivität der verkannten Ordnung entgegen, die sich des Habitus der Individen zur Selbstreproduktion bedient. Bourdieu kennt das »Subjekt«, das Abstand zu inkorporierten Schemata und anerkannt verkannten Regeln nimmt, dann wieder nur als das kritische, das vornehmlich in der Position des Soziologen selbst die »illusio« aufkündigt, die Ordnung und die Ungleichheiten expliziert und kritisiert. Die Abweichung hingegen, die Verschiebungen der Konsumenten de Certeaus und der Butlerschen Queers, entspringen der Lücke und dem Abstand zwischen der vergleichsweise groben Konstitution durch Typen, Schemata, Regeln, Konventionen in ihrer Rolle als Diskurs-Prämissen und der Spezifizität der Situation und des Handlungsereignisses. Das implizite praktische Wissen (Polanyi 1985; Ryle 1971), d.h. die leibliche Form des Bewusstseins im Sinne einer »fungierenden«, vorprädikativen Intentionalität (Husserl) und die pragmatische Auslegung von Regeln, Konventionen, Typen und Differenzen intervenieren in die Umsetzung jener generellen konstitutiven Schemata in faktische Handlungen angesichts materieller Situationen. Akteure als »postsouveräne« Subjekte entfalten Handlungsmacht im Modus der praktischen Anwendung des impliziten Wissens, d.h. in der Form eines Bewusstseins von Situationen und ihrer normativen Bedeutung, die die Handlung nicht in Form eines prak15 | Vgl. dazu die kritischen Einwände von de Certeau und Butler, weiter oben.

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tischen Syllogismus aus Regeln ableitet, sondern den »type« der Handlung kreativ zu einem besonderen »token« (Peirce 1906) spezifiziert. Das Bewusstsein tritt dabei nicht in Erscheinung in der Gestalt der kognitiven Selbstexplikation eines reflexiven Systems propositionaler Überzeugungen, sondern im Modus der fungierenden Intentionalität, der leiblich verankerten Kompetenz, das implizite Wissen von den praktischen Implikationen expliziter diskursiver Imperative (»Habitus«) »angemessen« in Züge als Ereignisse kommunikativer Sequenzen zu übersetzen.

VI. D iskurs als I nstruk tion Das Bewusstsein ist (reflexiv-konzeptuell) empfänglich für die diskursiven Formen, Schemata und Regeln, zugleich aber (praktisch-habituell) resonant für das Nichtidentische der Situation, die sich niemals vollständig explizieren, prognostizieren, typisieren lässt. Die faktische Handlung erwächst aus der Spannung zwischen einerseits diesen Empfänglichkeiten und der ausdrücklichen Reflexion und andererseits der fungierenden Intentionalität in Form von leiblich inkorporierten Motivationen, der Urteilskraft und eingespielter Fertigkeiten. Die personalen Akteure sind vermöge ihrer Intentionalität, die in Formen des Bewusstseins (explizites und implizites Wissen) differenziert ist und aufgrund dieser internen Spannung, gezwungenermaßen als resignifizierende Übersetzer und Spezifikateure an den Diskursen beteiligt. Was ist dann aber »der« Diskurs, wenn die Akzentuierung seiner Performativität das »diskursive Ereignis« in Teilen den Akteuren zurechnet, d.h. zugleich innerhalb und außerhalb des Diskurses lokalisiert? Die für das soziologische Interesse so bedeutsame transsubjektive Autonomie des Diskurses wird durch den Übergang zur Performativität relativiert, und wenn es (»theorie-architektonisch«) schlecht läuft, vielleicht sogar völlig eingezogen. Die Beschränkung der Souveränität des Subjektes bleibt indessen insofern in Kraft, als der Anteil des Bewusstseins an der Spezifikation diskursiver Vorgaben die relative Autonomie des Systems und der Kontinuierung solcher Vorgaben nicht in der Spontaneität kreativen Handelns und interaktiver Aushandlungen von Bedeutungen auflösen kann. Zu dieser exaltierten Übertreibung der Begeisterung für das Performative besteht in der gegenwärtigen Diskussion der »Praxeologie« allerdings eine starke Neigung. An die Stelle der erforderlichen bestimmten Negation eines problematischen Diskursbegriffs tritt die abstrakte Negation, die nun nichts mehr als Praxis und keine Ausdifferenzierung zwischen intentionalen oder diskursiven (oder systemischen) und praktisch-performativen Sinnhorizonten mehr kennen will. Der Eigenwert der Form diskursiver (Sinn-Selektions-)Ordnung als eine Ebene sozialen Sinnes sui generis, seine Unabhängigkeit von den Intentio-

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nen und situierten Performanzen, impliziert allerdings das Prinzip einer Autonomie semantischer Strukturen, auf das zu verzichten theoretisch ruinös wäre. Denn die Ausdifferenzierung von abstrakt-expliziten Sinnhorizonten, die der Praxis entrückt sind, ist für die Erklärung der situationsübergreifenden Verknüpfung von Praktiken (vor allem unter Bedingungen moderner Komplexität) unverzichtbar. Semantische Strukturen verselbstständigen sich in Systembildungsprozessen und in Abhängigkeit von generalisierten Kommunikationsmedien (Parsons 1968: 470) qua Abstraktion gegenüber der Vollzugsdimension diskursiver Praktiken (Luhmann 1997: 316ff. und 595ff.). Die abstrakte Einheit diskursiver Strukturen und Schemata löst mithin Problem der Ordnungsreproduktion und -kontinuierung. Die Bedeutung dieser Einheit für die Vollzugsdimension des Diskurse und für die Spezifizierung konkreter Handlungen ist indessen nicht als Determination von Sinn, nicht selbst im Sinne einer autopoietischen bzw. semiotischen oder disseminativen Selbstreproduktion und -dekonstruktion zu verstehen. Die Wirkung diskursiver Schemata wird vielmehr gelenkt durch die Bahnen der praktischen Übersetzung diskursiv-abstrakt bestimmter »Instruktionen«, deren Umsetzung delegiert werden muss, weil sie nicht selbst abstrakt bestimmt werden kann. Sowohl die Epistemen (Foucault) als konstitutive Dispositive als auch eingespielte Formen rationaler Argumentation bleiben begrifflich als emergente, abstrahierte Ordnungen von der intentionalen Konstitution und Realisierung ihrer Bedeutung unabhängig, sie bleiben konstitutive (zensierende und ermöglichende), gewissermaßen auch verborgene Regulationen. Es gelingt ihnen jedoch nicht, die einzelne Handlung (und die Intention) zu determinieren, sondern nur die intentionalen Instanzen der Ausführung und Auslegung mehr oder weniger rigide zu instruieren. Dieses Arrangement macht die Handlung und die handelnden »Subjekte« sowie ihr Bewusstsein keineswegs »frei«. Der Diskurs ist als eine zu übersetzende semantische Ordnung ein System ermöglichender Bedingungen, und die miteinander verknüpften Elemente dieser Ordnung können nur deshalb ermöglichende Bedingung sein, weil sie zugleich einschränkende Bedingung sind und das heißt doppelt selektiv Sinn eingrenzen, indem sie Alternativen ausschließen. Diskursive Bedingungen setzen also Grenzen und machen dem Bewusstsein gewissermaßen Auflagen, über die es keineswegs in ungebundener »Kreativität« verfügen oder sich hinwegsetzen kann. Die Einschränkung der Freiheitsgrade, die mit der instruierenden Funktion diskursiver Ordnung verbunden ist, ist durch eine Umkehrung der leitenden Fragestellung zu verdeutlichen. Denn spätestens jetzt muss man auch fragen: »Wie ist der Diskurs« unter der Bedingung einer Performativität, die notwendig mit (fungierender) Intentionalität verwoben ist, »am Bewusstsein beteiligt«? Das Bewusstsein, die Intentionalität ist vielfältig instruiert durch die Semantik der gebrauchten Sprache, durch die Ritualisierungen und die Regeln der Praxis, durch die Habitualisierung des impliziten

Wie ist das Bewusstsein am Diskurs beteiligt?

Wissens und die normativen und normalisierenden Institutionalisierungen, die vergangene Sequenzen und Praktiken als Sedimente hinterlassen haben. Das gilt nicht zuletzt für die Reflexionsform »Person« selbst, die als eine Bestimmung des diskursiven Ereignisses als Handlung oder Ausdruck des Akteurs zuerst sozial institutionalisiert werden muss und erst dann intentional verfügbar ist (Renn 2002). In diesem Sinne bleibt die »Beteiligung« diskursiver Vorgeschichten und Schemata am Bewusstsein für die Differenzierung zwischen explizitem und implizitem Wissen und für ihr Verhältnis zueinander nach wie vor konstitutiv. Die Person ist in ihrer Intentionalität durch Sozialisation, d.h. durch explizit didaktische und disziplinarische Zugriffe, ebenso aber durch praktisches Einspielen hochgradig gebunden. Genauso aber ist die Entfaltung der Intentionalität in eben dem (sozial variablen und von Graden sozialer Differenzierung abhängigen) Maße Folge von »Selbstsozialisation«, wie die diskursiven Regeln und Rituale nach Spezifikation verlangen. Es ist der Spezifikateur, der zum Vollzug des Diskurses in dessen Performativität durch die eigene (von diesem ermöglichte und beschränkte) Performativität beiträgt. Dieser Beitrag ist die eingeschränkte und dadurch ermöglichte wie erzwungene Übersetzung generalisierter Ordnungen und Schemata in die Situation. Sie muss die Lücke schließen und oszilliert dabei zwischen Erfüllung, Ausfüllung und Umdeutung der Instruktion. Die Entfaltung der funktional erforderlichen Übersetzungskompetenz muss die soziale Ordnung, die sich durch diese Übersetzungen hindurch reproduzieren und stabilisieren »will« allerdings den Übersetzern selbst überantworten.16 Die praktische Lücke zwischen Diskurs als semantischer Ordnung und faktischer Handlung fällt erst auf, wenn das Handeln als pragmatische Übersetzung sichtbar wird. Personen handeln nicht erst dann intentional, wenn sie kognitiv typisierte Fälle und Regeln verrechnen, oder Erfolge und Mittel auf der Basis generalisierter Schlussregeln kalkulieren. Die intentionale Ausrichtung auf diskursiv formatierte Ereignisse bestätigt nicht einfach Typen, Kategorien und Schemata, Differenzen und Konventionen, sondern sie folgt implizit und in der Übersetzung in das Spezifische deren Instruktionen (oder auch nicht), indem es die semantischen Generalisierungen verwendet: Anders kann die Person auch gar nicht vorgehen, wenn die diskursive Präskription gebotener Handlungen eine Instruktion ist, die nur fordern kann der Regel zu folgen, nicht aber vordefinieren, was das Befolgen der Regel in concreto genau bedeutet. Selbst eine Regelbefolgung, die der Ordnung treu und konventionell bleiben will, kann mit Wittgenstein gesprochen nicht selbst explizit eindeutig geregelt sein. 16 | Zur ausführlicheren – hier nur skizzierten – handlungstheoretischen Aufnahme der Übersetzungsmetapher siehe: Renn, 2006.

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Wittgenstein kann als Pate der praxistheoretischen Transformationen (Schatzki 1996; Bloor 2001) des Diskursbegriffes gelten, auch wenn er mit Rücksicht auf die pragmatische Lücke der Regelfolge gleich weit entfernt ist von Foucault wie von Habermas. Die Lücke zwischen Regel und Fall liegt im Unterschied zwischen der Identität der Fälle die einem Typus angehören, und der Ähnlichkeit zwischen den Handlungen, die derselben Regel folgen. Diese Ähnlichkeit entspricht einer unscharfen Begrenzung der Gesamtheit gültiger Möglichkeiten und einer praktisch relevanten Unbestimmtheit der faktischen Ausführung der Instruktion. Hier springt das Bewusstsein ein, aber gerade nicht im Modus der subjektiven Sinnkonstitution und der zweckrationalen Kalkulation. Das Bewusstsein ist also erst dann am Diskurs beteiligt (und nicht entweder sein spontaner Urheber oder aber sein passives Objekt oder Exekutor), wenn Bewusstsein pragmatisch als fungierende Intentionalität aufgefasst wird. Es trägt die Performativität von Diskursen als Subjekt des impliziten Wissens und als Träger einer Form der Agency, die sich als leiblich inkorporierte Kompetenz der Verwendung, der Anwendung und der Umwendung zeigt. Die Freiheitsgrade der Verwendung, die Umwendung werden kann, sind natürlich nicht euphorisch zu überschätzen, wie in der häufigen Gleichsetzung von grundsätzlicher aber unspektakulärer Kreativität des Handelns mit einer strategischen Subversion. Natürlich dominiert die konservative Strukturreproduktion, bei der gewisse Abweichungen – die Schule zu machen drohen – ausgeschlossen werden und Sanktion hervorrufen. Es gibt die Subsumtion, die Unterwerfung und den Identitätszwang (im Sinne Adornos). Die implizite Anwendung semantischer Ordnungen, diskursiver Schemata und Regeln füllt die Lücke zwischen dem allgemeinen Register konstitutiver Voraussetzungen und konkreter Situationen eben zunächst pragmatisch (die Bedeutung ist praktisch verschoben, ohne das diese Verschiebung sogleich explizit realisiert wäre und neue, wieder generalisierte Bedeutung schon ausgelöst hätte). Der reflexive und kommunikative Rückgriff auf das vergangene Ereignis der (kreativen, präzedenzlosen) Anwendung sortiert es für gewöhnlich zuerst wieder in vertraute explizite Schemata und Regeln ein (vergleichbar mit Meads Vorstellung von der »Rekonventionalisierung« der spontanen und überraschenden Reaktion der Person in der Position des »I« durch das »Me«). Die ausdrückliche Artikulation der übersetzenden Konkretisierung verschließt damit auf der manifesten Diskursoberfläche die Lücke erneut durch die normalisierende Reorganisation des Verhältnisses zwischen Regel und Fall. Diese Normalisierung expliziert (de facto verzerrend aber eben auch re-konventionalisierend) die Ähnlichkeit zwischen den Anwendungen der Regel als Identität der Fälle; und sie konserviert damit die Einheit von Kategorien und Leit-Differen-

Wie ist das Bewusstsein am Diskurs beteiligt?

zen, von Typisierungen und Regeln, indem sie das Ereignis der pragmatischen Spezifikation ex post als Subsumtion unter den bekannten Fall ausgibt.17 Aufgrund der Abdrängung abweichender Spezifikation aus dem Bereich der expliziten Kategorisierungen äußert sich die Spur der Beteiligung des Bewusstseins am Diskurs (die sich von Passivität und von Souveränität gleichermaßen unterscheidet) zunächst nur indirekt. Sie erscheint im Überschuss der Bedeutung, unausdrücklich in der Affektivität der pragmatischen Übersetzung in die Situation: nach Judith Butler zeigt die Melancholie als Beharrung des Subjektes Trauer über den Verlust der ausgeschlossenen Möglichkeiten an. Soziologisch gewendet entstammt der Druck zur semantischen Normalisierung den Erfordernissen des Strukturerhalts. Das Handeln in Organisationen und formalisierten Kontexten ist zwar ebenso wie ungeregelte Interaktionen auf die pragmatische Übersetzung und die verschiebende Agency der Personen angewiesen. Aber der Konservativismus der semantischen Ordnung und die Kraft der Diskurse zur Normalisierung reorganisieren in der expliziten Artikulation von pragmatischen Übersetzungsleistungen immer wieder das Verhältnis der Verschiebung zugunsten des Verhältnisses der Subsumtion. »Hegemoniale« Diskurse determinieren dann also genau genommen nicht die Handlung, sondern sie monopolisieren deren explizite kommunikative und intentionale Reflexion, sie befördern die öffentlich aber subtil-propagandistische Unterschlagung von Konventionsbrüchen und motivieren intentional zur zwanghaften Stereotypisierung der Erfahrungen und der Spuren der Abweichung. Zugleich aber erzeugen sie damit immer weitere Abweichungen. Denn die Verstärkung der Regulation hebt die Abweichung nicht auf, sondern schiebt eine wachsende Welle des sich aufdrängenden Übersetzungszwangs, und in Reaktion darauf eine anschwellende Welle der zwanghaften Vortäuschung von Subsumierbarkeit und Strukturkonstanz, vor sich her. Darum kann die Performativität des Diskurses indirekt durch die Beteiligung der Personen kraft ihres Bewusstseins auf das Gleis der auffälligen Transformation gestellt werden. Nicht notwendig und nicht zuerst durch Kritik und Protest, sondern durch die allmählichen Verschiebungen der Gebrauchsbedeutung der zentralen Schemata, Regeln und Kategorien, kann die Konvention an kritischen Punkten öffentlich auf brechen. Wenn praktische Bedeutungen (das heißt Verwendungsweisen vermeintlich identischer Begriffe) sich spalten, alternative Praktiken unter dem selben Namen schließlich zu abweichenden Konsequenzen führen, bis die Selbstverständlichkeit der Normalisierung aufbricht, dann treten im Skandal zwei explizite Artikulationen der Bedeutung des Schemas und der Regel in Konkurrenz: Im Skandal teilt sich der Empö17 | Und genau dieser Struktur konservierende Sog der Normalisierung auf sozialer Ebene macht die abstrakte Unterstellung der Autopoiesis diskursiver Ordnungen in soziologischer Perspektive vordergründig plausibel.

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rungswert der Regelverletzung in offensichtlich kontroverse Normalitätsbehauptungen. Was die Konvention für die eine Seite verletzt ist im Horizont der expliziten Kritik durch die andere Seite nun begründet, sodass jetzt Pro und Kontra den vermeintlich gemeinsamen Grund der Voraussetzungen explizit umkämpfen. Die Artikulation der Gebrauchsbedeutung des semantischen Registers wird umstritten und bestreitbar, die Subversion der pragmatischen Abweichung (die in der Nachfolge Foucaults gern überschätzt wird) schlägt um in die Möglichkeit expliziter Kritik (die wiederum in Anlehnung an Habermas überschätzt wird).

VII. M e thodische F olgen Die theoretischen Bestimmungen des Verhältnisses zwischen Diskurs und Bewusstsein, zwischen der Instruktion der expliziten, semantischen Strukturen und ihrer Übersetzung vermöge des impliziten Wissens, gehört in die Soziologie der Handlung und zum Problemkreis der Frage nach der dynamischen Struktur sozialer Ordnung. Sie ist in diesem Sinne »abstrakt«, hat aber durchaus Konsequenzen für die diskursanalytische Methode. Wenn das Bewusstsein vermittels der performativen Übersetzung des Diskurses in die Situation und durch die Rückübersetzung allmählich aufgestauter Veränderungen der Gebrauchsbedeutung diskursiver Sprachformen am Diskurs beteiligt ist, dann muss die soziologische Erforschung konkreter Konstellationen zwischen Diskursen als Sinnhorizonten mit Eigensinn und Handlungssituationen auch auf die Intentionalität sinn-rekonstruktiv Bezug nehmen. Eingespielte Formen der qualitativen Rekonstruktion von thematischen Strukturen in Textfeldern unter dem Titel der »Diskursanalyse« bleiben unzureichend, wenn sie keine qualitativen Analysen der Dimension der Performativität und der intentionalen Seite in Gestalt des praktischen Wissens der Personen einschließen. Der empirische Zugang muss für die Soziologie mehr umfassen als (zweifellos hilfreiche) illustrative und analytische Verweise auf tagespolitische Konflikte und ihre Diskussion, die für philosophische Besinnungen wie bei Judith Butler charakteristisch sind. Empirische Diskursanalyse muss notwendig den qualitativ methodischen Zugang an die »Teilnehmerperspektive« einschließen. So gesehen ist die Kooperation von diskursanalytischen Verfahren und hermeneutischer Wissensoziologie theoretisch gut begründet. Diskursanalyse hat folgerichtig als eine besondere Form der Sequenzanalyse die historisch konkrete Untersuchung der Abweichung und der Normalisierungen zum Thema, die den Spielraum des Handelns entfalten, ausschreiten und wieder verengen. Dabei wird sie jedoch schließlich unausweichlich sich selbst zum Thema: denn das Ergebnis der empirischen Rekonstruktion, ob sie »diskursanalytisch« verfährt oder nicht, ist die Rück-Übersetzung der quali-

Wie ist das Bewusstsein am Diskurs beteiligt?

tativ-methodisch angeregten Erfahrung in den soziologischen Diskurs. Nach dem Vorbild einer hermeneutischen Reflexion, die sich pragmatisch versteht, muss die Analyse von Diskursen sich selbst als Form selektiver Explikation von semantisch normalisierten zugleich aber implizit geregelten Praktiken entdecken. Damit wird die pragmatistische (in mancher Hinsicht: »praxis-theoretische«) Transformation des Diskursbegriffes – wegen Rückkoppelungen zwischen Theoriebildung und empirischer Methode – selbstreferentiell: Der Begriff der Performativität des Diskurses bezieht sich auch auf den Diskurs, den wir »führen« (und der uns »instruiert«), wenn wir diesen Begriff gebrauchen. Deshalb bleiben Theorie und Methode der soziologischen Diskursanalyse auf die Lücken des eigenen Diskurses dringend angewiesen, solange die methodisch provozierte Erfahrung mit dem »Gegenstand« eine produktive Abweichung von diskursiven Konventionen der Soziologie und eine Revision ihrer expliziten Begriffe motivieren können soll. Als Wissenschaft kann sie in diesem Sinne sich und andere nur dann produktiv instruieren, wenn das Bewusstsein am soziologischen Diskurs so beteiligt bleibt, dass es als Übersetzungsinstanz für Abweichungen sorgen kann.

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8. Die Übersetzung der Person

Zum Beitrag des Individuums zur



gesellschaftlichen Koordination des Handelns

I. V on der normativen I ntegr ation der G esellschaf t zur differenzierten K oordination des H andelns Ist »eine« Gesellschaft eine normativ integrierte Ansammlung miteinander und gegeneinander handelnder Individuen? Oder müssen Individuen in »eine« Gesellschaft integriert werden, der sie dann offenbar vorher nicht angehörten – sodass man sich fragen muss, ob sie in diesem Fall zuvor einer anderen oder womöglich keiner Gesellschaft »angehört« haben mögen? Und ist im Falle der Ontogenese das Kind schon Individuum bevor ihm die Gesellschaft erschlossen wird? Müssen Menschen nicht doch »in einer Gesellschaft« sozialisiert werden, um zu Individuen mit einem einigermaßen stabilen Wiedererkennungswert für sich selbst und andere heran zu reifen? Und welchen Sinn ergibt dann die Frage, »wie sie in die Gesellschaft integriert werden« (sofern z.B. der Übergang ins Berufsleben ja nicht eine Integration in eine andere Gesellschaft, sondern den Eintritt in einen anderen gesellschaftlichen Sonderkontext bedeutet)? Handelt es sich bei der »Integration von Flüchtlingen« in eine Gesellschaft überhaupt um den Übergang von einer Gesellschaft in eine andere, wenn doch mannigfaltige Beziehungen über nationalstaatliche Grenzen hinweg durchgängig »gesellschaftliche« Beziehungen sind, und wenn die ethnisierende Illusion der kulturell homogenen Einheit eines »Volkes« wenigstens soziologisch, glücklicherweise, als nicht mehr tragfähig gelten muss? Niklas Luhmann hat bereits vor vier Jahrzehnten der Soziologie vorgehalten, dass ihr traditionelles Verständnis der Gesellschaft als einer normativ integrierten Groß-Korporation (in der Nachfolge älterer Vorstellungen von Gesellschaft als »societas civilis«, vgl. Luhmann 1975; Renn 2011: 270ff.) nicht haltbar sei. Die Gesellschaft ist nicht die Gesamtheit der Individuen, die sich mehr oder weniger freiwillig auf Gemeinsames, vorzüglich auf wechselseitig anerkannte Normen und Werte, geeinigt hätten (oder aber, im Sinne von: Berger und Luckmann 1974, sich als Nachgeborene auf solche Einigungen ein-

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lassen müssten). Man muss der Luhmann’schen Unduldsamkeit gegenüber normativen Ambitionen nicht folgen, und kann doch den Gedanken kaum von sich weisen, dass der Konsens »autonomer« Menschen zwar als regulative Idee zum Zweck der Kritik vernünftig anmutet (Habermas), als notwendige faktische Basis der Koordination gesellschaftlicher Handlungsverkettungen die Aussichten auf »Integration« jedoch hoffnungslos erscheinen lassen muss.1 Luhmanns Alternativvorschlag besteht, technisch gesehen und Details außer Acht gelassen, vor allem in zwei theoretischen Empfehlungen: Abstraktion des Bezugsproblems und Generalisierung der Theorie zum Zwecke der Eröffnung von Vergleichsmöglichkeiten. Solche Vergleichsmöglichkeiten (von Luhmann auf »äquivalenzfunktionalistische« Analysen eingeschränkte Unterscheidungsoptionen), erlauben es z.B., »Gesellschaft« kontrastiv durch Abgrenzung von anderen Systemtypen zu bezeichnen (z.B. wie in: Luhmann 1975, durch die Unterscheidung zwischen Gesellschaft, Interaktion und Organisation). Die Abstraktion des Bezugsproblems macht es dann möglich, die »normative Integration« als eine spezielle, historisch-kulturell-sozial partikulare und begrenzte Variante der Lösung des allgemeiner formulierten Problems der Koordination von Handlungen durch selektive Einschränkung von Kombinations- oder Anschlussmöglichkeiten zu betrachten. Die passende Abstraktion des begrifflichen Analysebestecks liefert nach Luhmann bekanntlich die allgemeine Theorie selbstreferentieller, autokatalytischer und selbstselektiver (später: »autopoietischer«) Sinn- bzw. Kommunikationssysteme. Eine Hauptimplikation des entsprechenden Arsenals an Begriffen ist die Abscheidung der Menschen aus der Gesellschaft. Nicht mal Interaktion unter Anwesenden besteht, systemtheoretisch gesehen, aus anwesenden Menschen, sofern damit mit Bewusstsein und Selbstbewusstsein begabte Einzel-Leiber gemeint sind, sondern aus Kommunikationen, die sich – wenn auch unter unverzichtbarem Bezug auf Menschen in der Umwelt – nur auf ihresgleichen beziehen und eben darin den selektiv abgerundeten und dadurch Selektionen strukturierenden Zusammenhang koordinierter Kommunikation bilden. Die klassische Frage nach dem Verhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft ist damit eigentlich bereits auf höchst einfache Weise beantwortet: Individuen sind draußen, Individualitätsformate allerdings sind in der Gesell1 | Und so hat es Habermas, trotz wiederholter Versuche von Kritikern (Luhmann hier durchaus eingeschlossen), das Prinzip des herrschaftsfreien Diskurses ganz gegen seinen klaren konzeptionellen Sinn »empirisch« zu widerlegen, auch nie gemeint. »Kommunikative Rationalität« ist keine notwendige faktische Voraussetzung gesellschaftlicher Koordination, sondern ein – ob nun schlüssig oder nicht – konzeptuell begründeter Maßstab zur Beurteilung von alternativen Möglichkeiten der Kalibrierung des Verhältnisses zwischen System und Lebenswelt bzw. zwischen »kommunikativer« und »illegitimer« Macht.

Die Überset zung der Person

schaft, soweit Systeme oder auch Semantiken typische und als solche eben allgemein standardisierte Individualitätsschemata – stets aus funktional erklärlichen Gründen und aufgrund evolutionärer Variation – in den thematischen Vorrat der Kommunikation aufgenommen haben. Insofern müssen Individuen gar nicht in die Gesellschaft »integriert« werden, weil die aus lebensweltlicher Sicht an ihnen interessanten selbst-erlebten »Eigen«-Kerne ihren Platz in der Umwelt der Gesellschaft finden. So bilden »individualisierte Selbstverhältnisse« als Differenz keine Herausforderung für die Identitätszumutungen sozialer Bindung, weil solche Selbstverhältnisse als Effekt doppelt kontingenter »struktureller Kopplung« zwischen psychischen und sozialen Systemen gelten müssten, sodass der hinreichend individuierende Unterschied zwischen »Ego« und allen andern von der Theorie bereits in die grundlegende Differenz zwischen System (einem Bewusstsein) und Umwelt (soziale Systeme und alle anderen psychischen Systeme in deren Umwelt) investiert wurde. Damit muss die Soziologie nicht zufrieden sein. Denn auch wenn »intersubjektive« Beziehungen zwischen »Subjekten« im Nahbereich eines vermeintlich authentischen wechselseitigen Ausdrucks jeweils eigener Intentionen keine Gesellschaft konstituieren, so ist die Abschiebung intentionaler Selbstverhältnisse in ein historisch-kulturell invariantes und endgültiges »Außerhalb« aller sozialen Systeme für die Analyse der Lage von Personen in der Gesellschaft und ihren ausdifferenzierten Sonderkontexten wohl doch zu allgemein gehalten. Man wird das Gefühl nicht los, und es drängen sich schnell handfeste Gründe dafür auf, dass die Modellfigur der »strukturellen« Kopplung zwischen sozialen und psychischen Systemen das facettenreiche Bild historisch und kulturell höchst vielseitiger Konstellationen zwischen Personen, sozialen Ordnungen und gesellschaftlichen Teilkontexten nicht wirklich ausreichend feinkörnig zu greifen erlaubt. Zweifellos gehören Luhmanns eigene Ausführungen über die Hochsemantik des modernen Individualismus zu den feinsten Stücken diesbezüglicher Theoriearbeit (Luhmann 1989). Aber alle Subtilität der Rückführung semantischer Individualisierung auf strukturelle Metamorphosen der Evolution in Richtung funktionaler Differenzierung ändert nichts daran, dass die grundbegriffliche Entschlossenheit, soziale Sinnselektion komplett aus der Reichweite intentionaler Aktivität zu rücken, dem Anteil der individuellen oder subjektiven Sinnkonstitution an der Verschaltung von Einzelhandlungen zu Sequenzen und Ordnungen viel zu wenig zutraut. Menschen steuern weder die Gesellschaft noch die kleinformatige Kommunikation als souveräne Autoren und Autorinnen des Geschehens, aber sie kommunizieren. Es gibt neben dem Vorbehalt zugunsten der sozialen Wirksamkeit der Individuen weitere gute Gründe, der Systemtheorie nicht über die ganze Strecke einer Theorie sozialer System zu folgen. Ein Grund besteht in den empirischen und theoretischen Anlässen für ein in jüngster Zeit gewachsenes Interesse an »Praktiken« und praktisch konstituierten Sozialformen. »Interaktion« scheint

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in der Tat in einem über »alteuropäische« Befangenheiten hinaus gehenden Ausmaße mit dem Typus des »Interaktionssystems«, das vergeht, wenn die Anwesenden ihre Anwesenheit beenden, nicht hinreichend eingefangen zu werden: Ganz offensichtlich wirken in die Strukturierung von Interaktionssequenzen Selektionsmuster hinein, die sich weder situativ spontan konstituieren, noch subjektiv »konstituiert« im Sinne von »frei erfunden« werden, noch aber aus formaler Organisation oder sogar direkt aus dem Gesellschaftssystem entspringen. Die Anwesenden interagieren eben auf einem (je nach Lage mehr oder weniger) bereits vorbereiteten Boden von Vorerfahrungen, habitualisierten Schemata, Routinen: Dieser »Boden« stellt im Modus praktischer Gewissheit verhältnismäßige Anschlusssicherheit bereit, und diese entsteht dabei ganz gewiss nicht erst simultan mit ihrer Verwendung in situ eben dort, hic et nunc. Die Systemtheorie und ihre Vertreterinnen wollen bis heute nicht recht wahr haben, dass trotz aller »transsubjektiven« Eigenlogik der Interaktion, jene Anwesenden nicht nur Adressen in der Umwelt sind, die informationslose Irritationen emittieren, sondern z.B. einen milieuspezifischen Habitus einbringen, und damit (Vor-)Selektionsleistungen jenseits organisationaler Programme oder funktionsspezifischer Codes abrufen, ohne die die »Interaktion unter Anwesenden« ein relativ armseliges, sinnleeres Aufeinandertreffen wäre. Die Gesellschaftstheorie braucht auch deswegen – trotz der prima facie Eleganz eines einfachen und homogenen Begriffs des sozialen Systems – wohl doch eine an Alternativen reichere und damit unübersichtlichere Heuristik typischer Sozialformen. Sie muss zwischen Formen der Handlungskoordination so unterscheiden, dass Luhmann’sche Systeme eben nur einen, wenn auch einen besonders markanten und strukturbestimmenden, Typus der Integration von sinnhaften Ereignissen abgeben. Trotzdem ist dem Luhmann’schen Rat zu folgen, sich von lebensweltlichen Gewissheiten über »die« Gesellschaft frei zu machen, und ein abstrahiertes Bezugsproblem zu identifizieren, weil nur so die verführerische Formel, die Gesellschaft sei Ergebnis und dann (intentional zu regulierende) Vorbedingung der mehr oder weniger freien Verabredung der Individuen, auf Distanz zu bringen ist. Solche Vorkehrungen – die Abstandnahme der Theorie von den Deutungsgewohnheiten mit den Mitteln einer generalisierenden und abstrahierenden Problembeschreibung – sind trotz des zunächst gegenläufigen Eindrucks auch und gerade hilfreich für die Untersuchung der Rolle und des Beitrags, die »Individuen« für die und bei der gesellschaftlichen Koordination des Handelns typischerweise spielen. Zunächst, so der mögliche erste Eindruck, scheint die Abstraktion sich von der konkreten »Phänomenologie« individuellen Handelns unter gesellschaftlichen Bedingungen zu entfernen. Aber schnell lässt sich zeigen, dass z.B. die gewohnte Vorstellung, das handelnde Individuum lege fest was »seine« Handlung für einen Sinn habe, erstens eine starke Abstraktion darstellt und zweitens eine durchaus verzerrende Reduktion von Kom-

Die Überset zung der Person

plexität. Die Koordination der Handlungen verläuft, wenn sie bezogen auf die Gesellschaft (nicht auf das subjektive Erleben) soziale »Synthesis« des selektiv verkettungsfähigen »Sinns« der Handlung ist, in komplexer Gesellschaft sowohl »über den Köpfen«, als auch »hinter dem Rücken« der Individuen (Renn 2006: 114ff.). Über den Köpfen, und das heißt in einem Sinne »transsubjektiv«, der auf die »Selbstselektion« dynamischer Sinnzusammenhänge hinweist, werden Handlungs-Formate koordiniert und in generalisierte, dadurch wiederholbare und Erwartungssicherheit gewährende Muster eingefügt, sobald systemische oder »diskursive« Sinnprozesse sich aus der »natürlichen« (weil für die Zeichenfunktion konstitutiven) Rekursivität von Zeichensequenzen (Zeichen beziehen sich auf Zeichen) zur »selbstreferentiellen« Eigenorganisation durchringen. »Eigenorganisation« soll dabei heißten, dass die bewussten Erlebnisse, die Handlungsereignissen einen subjektiven Sinn geben, für die Synthesis des Handlungssinnes in seiner formatierten und generalisierten Gestalt keine hinreichende und nicht mal eine notwendige Bestimmung mehr liefern (auch wenn der Effekt der eigenlogischen Bestimmung der Handlung dann für die intentionalen Perspektiven wieder Wirkungen entfaltet). So abstrakt das klingen mag, so evident sind entsprechende Effekte im Zuge der Entwicklung »freier« Märkte, in deren Rahmen die von Tauschinteraktionen entkoppelte Allokation den verrechneten Produkten, Akten des Arbeitens, Dienstleistungen und Bedürfnissen einen »Tauschwert« verleihen, der vom Gebrauchswert (also von der u.a. intentional bestimmten Attraktivität) vollständig abgekoppelt wird. Ähnliche Effekte kennt die Soziologie rationalisierter moderner Sozialsysteme von der Entfaltung »rationaler« Verwaltung und von der aus lebensweltlichen Auffassungen entkoppelten Subsumtion von Handlungsereignissen unter in Konditionalprogramme eingespeiste Rechtskategorien. »Funktionssysteme« und die ihnen im Sinne der Teilspezifikation von Codes und Programmen subsidiär zugeordneten formalen Organisationen stellen also Institutionen der Handlungskoordination »über den Köpfen« dar. Ihre Definition und Analyse können sich mutatis mutandis (unter Absehung von gewissen konstruktivistischen Exaltationen) trotz der genannten Einwände an die Systemtheorie halten. Anders gebaut ist die Koordination von Handlungen, die sich »hinter dem Rücken« der Handelnden vollzieht. Schon die Phänomenologie der Sinnkonstitution (Alfred Schütz 1974) muss in die Analyse der subjektiven Typisierung von Handlungsereignissen die Kategorie des Horizontes (vor dem sich der Einzelsinn als Limitierung genereller Typen abhebt) einbauen, und sie muss diesem Horizont – notgedrungen, weil sie der empirischen Soziologie theoretisch assistieren will – einen »intersubjektiven« Index verleihen, der eine Brücke zwischen mindestens zwei Erlebnisströmen (als den »Innenansichten« empirischer Individuen) baut. Verhalten kann also in den Augen einer phänome-

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nologischen Wissenssoziologie als »Handeln« gelten, sobald dem »Akt« ein »subjektiver« Sinn beigegeben ist, der sich als reflexive Synthesis der die Einzel-Akte des »Handelns« begleitenden Erlebnisse zu einer typisierten (»monothetisch« erfassten) Einheit der einen (nämlich einem generellen Typus zuzuordnenden) »Handlung« verstehen lassen muss. Diese »Synthesis« – die Zusammenfassung der »strömenden« Erlebnisse des subjektiv aufgefassten Handelns zu einer Sinneinheit – geschieht nun nicht »spontan« in dem Sinne, dass eine handelnde Person nach der Handlung immer aufs Neue einen beliebigen »Sinn« erfindet. Die »Lebenswelt« als der Inbegriff der Gesamtheit der in jedem einzelnen Wahrnehmungs- und Handlungsakt für selbstverständlich genommenen Sinnvoraussetzungen (und -implikationen) erfüllt deshalb in der Tradition der Phänomenologie (Husserl 1995) und auch noch für Habermas (1981) zwei Funktionen: Sie ist »Horizont« und »Boden«. Dieser Boden ist bei jedem sinnhaften Akt immer schon bereitet, und die »wissenssoziologische« Distanz zur Teilnehmerperspektive besteht deshalb im Wesentlichen darin, den lebensweltlichen Gewissheiten ihre historisch-kulturell-soziale Kontingenz vorzuhalten. Mit einer geringfügigen Modifikation der »alten« Phänomenologie (körperlose Kognition) durch eine – neuerdings »praxeologisch« in Regie genommene (siehe aber schon: Heidegger 1984 und MerlauPonty 1974) – Betonung der »Leiblichkeit« des praktischen Vollzuges wird klar: Vor der subjektiven Sinnvereinheitlichung ist ein Boden gelegt durch den kollektiv, weil praktisch verankerten, Horizont immer schon vorschematisierter Erfahrungsmuster.2 Der schon gelegte Boden stellt dem Subjekt hinreichende Sinnselektivität zur Verfügung, die sich in der Form der »passiven Synthesis« im subjektiven Vollzug intentionaler Gegenstandskonstitution bemerkbar macht. Deswegen macht sich die »hinter dem Rücken« längst vollzogene Vordeutung des Geschehens, der eigenen Handlung und der Handlungen anderer, indirekt bemerkbar im Modus des Gewohnheits- und Routinehandelns als praktische Gewissheit und implizites Wissen, »wie« etwas zu tun ist. In einiger Verwandtschaft zu dieser Figur schaltet Bourdieu der einzelnen Handlung als Voraussetzung im Sinne einer einschränkenden Bedingung der Möglichkeit die Gesamtheit der Dispositionen vor, die Bourdieus Wortwahl zufolge einen »Habitus« bilden. Folglich sind Handlungen – durch die Synthesis ihres Sinnes im Horizont weiterer, mit dieser einen Handlung verknüpften oder verknüpf baren Handlungen – immer schon »hinter dem Rücken« des Subjekts und seiner ihm bewussten Sinnzuschreibungsakte »sinnhaft« (vor-)koordiniert zu kollektiven,

2 | Diese »Muster« sind zu unterscheiden von abstrakt bestimmten »Formaten«, weil Schemata gegenüber abstrakten Kategorien performativ »flüssige«, in ihren Grenzen unscharfe Gruppen von ähnlichen Einzelheiten sind, dazu: Wittgenstein 1984.

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praktischen Schemata, die scheinbar »automatische« (de facto aber normativ strukturierte) Dispositionen bilden. Bourdieu identifiziert die Grenzen des Habitus im sozialen Raum, also die soziale Extension des Kollektivs, das einen gemeinsamen Habitus teilt, mit den Differenzen zwischen »Klassen« (Bourdieu 1987: 246ff.). Darin kommt eine – in der Sozialstrukturanalyse und differenzierungstheoretisch sehr umstrittene – Festlegung der Gesellschaftsstruktur auf die grobschlächtige Hierarchie zwischen Klassen zum Ausdruck, von der die Soziologie schon allein um der Spielräume empirischer Erfahrungsoffenheit willen Abstand nehmen müsste.3 Hilfreich ist es deswegen, die kollektive Einheit eines Horizontes praktisch hinreichend übereinstimmender habitueller »Vor-Koordination« von Handlungen mit dem Begriff des »sozialen Milieus« zu belegen (Grathoff 1989; Matthiesen 1998; Bohnsack 2014: 22ff.; Renn 2014a: 307ff.). Schon in den Anfängen einer phänomenologischen Wissenssoziologie wurde – zunächst von Max Scheler (2008) – der Milieubegriff in die Diskussion um die »lebensweltlichen« Hintergründe des subjektiven Handelns eingeführt. Aron Gurwitsch (1977) ergänzte die Interpretation des spezifischen Modus jener kollektiven Vorerfahrung (und der Einheit des entsprechenden Kollektivs) bereits in den 30er Jahren des vergangen Jahrhunderts durch das pragmatische Motiv einer aus »Praktiken« und vorreflexiver, gemeinsamer Routine erwachsenen geteilten praktischen Gewissheit. Der Begriff des sozialen »Milieus« liefert vor diesem Hintergrund erstens den Titel für den Typus praktisch-performativ also unscharf und »fließend« abgegrenzter Gruppen, und er bezeichnet zweitens eine Form der Koordination des Handelns, die Form der Integration von Handlungen zu praktisch eingespielten Routinen einer integrierten »Lebensform« (Wittgenstein; vgl. zu dieser Verbindung: Renn 2014a). Auf der Grundlage dieser – sicher kursorischen – Erläuterung der Differenz zwischen der Koordination des Handelns einerseits »über den Köpfen«, andererseits »hinter dem Rücken« der Individuen (als subjektiv Sinn orientierten Personen) können wir also die gesellschaftstheoretische Unterscheidung zwischen Koordinationsformen elliptisch auf die Differenz zwischen System (bzw. Organisation) und »Milieu« beziehen. Die Luhmann’sche und die praxistheoretische bzw. phänomenologische Ergänzung der Liste von »Einheiten« der Handlungskoordinationen, d.h. die Ergänzung z.B. einer »methodisch individualistischen« Version von Handlungs-Verknüpfungen um Systeme codierter Kommunikation, formale Organisation und performativ-kulturell ge3 | Das ist natürlich nur ein sehr grobschlächtiges Argument gegen die »agonale« Sozialtheorie Bourdieus und ihre herrschaftssoziologisch voreingenommene Zeichnung des »sozialen Raumes«, siehe zur Begründung der differenzierungstheoretischen Vorbehalte in diesem Zusammenhang deswegen auch: Renn 2006: 312ff. und 357ff., sowie: Renn 2014a: 313ff.

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baute Milieus hat einen historischen Sinn: Die Verzweigung von Systemen, Organisationen, Milieus und teil-autonomisierten Personen ist ein Ergebnis sozialer Differenzierung, sodass die Konstellation zwischen den genannten Einheiten, das jeweilige Geflecht ihrer Beziehungen untereinander, zeitlich und regional stark variiert. Im Ergebnis langfristiger Differenzierungsprozesse, man kann hier einsetzen: Unter der Bedingung entfalteter Modernisierung ist die Differenz zwischen den typischen Einheiten der Koordination des Handelns jedenfalls in einem solchen Maße etabliert und ausgeprägt, dass sich die Folgen jener unterschiedlichen Koordinationsleistungen, d.h. die jeweiligen Effekte der Synthesis des Handlungssinnes nicht mehr aufeinander abbilden und nicht mehr wechselseitig substituieren lassen. Zwischen den Koordinationen von Seiten der Systeme, Organisationen und der praktischen Milieus muss übersetzt werden (Renn 2006, 2014a). Und das ist strukturell folgenreich für den Anteil der Individuen an der gesellschaftlichen Koordination des Handelns. Denn dieser Anteil wird durch die Distanzierung zwischen den Einheiten der Koordination ein zunehmend indirekter. Systeme, Organisationen und Milieus leisten im Zuge verschärfter Ausdifferenzierung in bemerkenswerter Unabhängigkeit von der »subjektiven Sinnkonstitution« einen großen Teil der »Vorerschließung« des Sinnes einzelner Handlungen, sodass die Koordination von Handlungen der Bemühung des Individuums immer schon weitgehend entzogen ist. Darin liegt einerseits Entlastung (A. Gehlen), andererseits aber Heteronomie: Das Individuum ist nicht nur auf die Vordeutungen des Sinnes und die Delegation der Handlungs-Koordination angewiesen, sondern diese Vordeutungen »über den Köpfen« und »hinter dem Rücken« der Personen haben eine konstitutive Funktion bei der Formatierungen und Bestimmung der Individuen selbst. Der autonome, zweck-rationale Entscheider ist dann keine Voraussetzung sozialer Ordnungsbildung, sondern als Format der sozialen Zuschreibung, die das Individuum dann wieder auf sich selbst beziehen kann, selbst ein Effekt dieser Ordnung. Wie weit aber muss die damit verbundene Distanzierung vom abstrakten Selbstverständnis des Subjekts, das sich für den Souverän seiner Handlungen hält, gehen? Ist dann z.B. der »emanzipatorische« Anspruch einer als »Auf klärung« verstandenen Modernisierung nichts als die de facto »unterwerfende« Umstellung des Zugriffs gesellschaftlicher Handlungskoordination von der gewaltsamen aber äußerlichen Begrenzung von Spielräumen zur Disziplinierung des Selbstverhältnissen durch diskursive Formate der Person (so eben: Foucault 1994). Wie kann man also unter der Voraussetzung solcher Prämissen den Beitrag der Individuen, die keineswegs frei von gesellschaftlichen Ordnungen der Handlungskoordination sind, was sie sind, zu eben dieser Koordination dann bestimmen und verstehen, ohne den Beitrag der Individuen ganz in transsubjektiven Ordnungsmächten aufzulösen? Der Zugang zu einer möglichen Be-

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arbeitung dieser Frage eröffnet sich zunächst in der theoretischen Dimension, wenn die Soziologie das Verhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft, genauer: zwischen Systemen, Organisationen, Milieus und Personen – diachron und synchron – weder auf Identität (sozialer Sinn »ist« subjektiver Sinn) noch auf Differenz (Bewusstsein ist Umwelt der Gesellschaft) festlegt und stattdessen von einem dynamischen Verhältnis der Übersetzung zwischen Sinnhorizonten verschiedenen Typs und Zuschnitts (intentionale, systemische, praktische Koordination) ausgeht.

II. D ie I ntegr ation von H andlungen und der S tatus der P erson Das Problem der gesellschaftlichen Integration lässt sich unter den genannten Prämissen theoretischer Abstraktion zunächst einfach als das Problem der Abstimmung von Handlungen oder Kommunikationen und von Handlungsfolgen verstehen, wobei offen bleiben kann bzw. für weitere Differenzierungen verfügbar gehalten wird, »wer« oder »was« diese Abstimmung eigentlich vornimmt. In diesem Sinne wäre »Integration« zunächst einmal als soziale Sicherstellung der Einheit der sinnhaften Bestimmung und der an dieser Bestimmung ansetzenden Verknüpfung von Handlungen zu begreifen. Die abstrakte und sehr allgemeine Frage nach der Konstitution sozialer Ordnung »überhaupt« ist damit auf die Frage zugespitzt, wie sich Muster der Koordination von einzelnen Handlungen etablieren, wie sie eine relative Stabilität in der Zeit entwickeln und relative Unabhängigkeit bewahren können – trotz der zentrifugalen Wirkungen einzelner Handlungssituationen und der Kontingenz, die Personen durch die »kreative Wiederholung« (und also Mutation) eingespielter Routinen beisteuern. Als das Grundproblem der Ausbildung und Aufrechterhaltung sozialer Ordnung gilt also von vornherein die Aufgabe, die Erwartbarkeit und das Ineinandergreifen von Handlungen zu stabilisieren, die Kontingenz von Anschlusszügen in praktisch hinreichendem Maße zu reduzieren und die situationstranszendierenden Lösungen des Metaproblems, generalisierte Formen des Problemlösens zu finden, auf Dauer zu stellen (ohne Flexibilität und Transformation auszuschließen). Stabilität als Effekt dieser Stabilisierung ist nicht das Gegenteil, sondern Voraussetzung und Moment des Wandels. Problemlösungen in generalisierter Form reduzieren schon deshalb nicht das Gesamtaufkommen gesellschaftlicher Problemlagen (als Anlässe des Handelns), weil ihre Vorzüge nicht ohne komplementäre Nachteile, d.h. nicht ohne neue Probleme, Nebenfolgen, Spezifikationsunsicherheiten und Selektionskosten, genossen werden können. Die »Erfindung« der Sesshaftigkeit erzeugt den Streit um das Eigentum, und das Aufschreiben der Rechts-

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regeln provoziert die Unsicherheit der Auslegung sowie den Widerstand gegen ihre Durchsetzung. Soziale Ordnung ist also mitnichten eine statische Angelegenheit. Eine Gesellschaft, in der nichts Neues mehr geschieht und man schon heute weiß, was übermorgen ablaufen wird, wäre nicht »integriert«, sondern eingefroren (und sie würde als solche bei der geringsten Erschütterung zerbrechen wie Eis). Stabilität ist deswegen auch keineswegs gleichbedeutend mit Harmonie oder fortwährendem Konsens. Das Ineinandergreifen von Handlungen umfasst auch mehr oder weniger geregelte Konflikte, Konkurrenz und vor allem Herrschaftsverhältnisse (siehe: Renn 2006: 459ff.). Das ist für eine Soziologie trivial, die betont, dass sich soziale Ordnung gerade durch Konflikte ausbildet, fortsetzt und modifiziert (Dahrendorf 1961; Giegel 1998: 25ff.). Als Paradigma gelingender Integration kann deshalb nicht erst das utopische Modell eines dauerhaften und gerechten Ausgleichs von Interessen gelten; der Gegensatz zur funktionierenden Integration ist vielmehr – neutraler formuliert – der Abbruch sinnvoller Fortsetzungen des Handelns. Wenn man das soziale Handeln auf das Prinzip der Problemlösung bezieht, bedeutet der Abbruch sinnvoller Fortsetzungen, dass Probleme nicht nur nicht gelöst werden, sondern als Probleme gar nicht erkannt, dass Handlungen nicht von weiteren Handlungen begleitet, aufgegriffen, beantwortet werden können. Die (integrative) Koordination des Handelns in der Form der Bestimmung des Handlungs-Sinnes durch Konstitution eines entsprechenden Sinnhorizontes, so hatten wir festgehalten, vollzieht sich typischerweise entweder »über den Köpfen« oder »hinter dem Rücken«; sie vollzieht sich aber auch »situativ« in faktischen Verkettungen von Handlungsereignissen, die in der Tradition unter den Begriff der »Interaktion« gebracht werden. »Interaktion« ist dabei ganz offensichtlich als ein »Medium« der Verkettung von Handlungen zu Sequenzen zu betrachten, bei dessen Einsatz subjektive Orientierungen faktisch bzw. performativ in ein Verhältnis zu den »Horizonten« und dem »Boden« der trans- und präsubjektiven Koordinationseffekte gebracht werden, um – da es immer mehr als nur eine subjektive Orientierung ist – miteinander in ein Verhältnis gebracht werden zu können. Die Unterschiede zwischen den genannten Koordinationsformen zeigen sich vorzugsweise als Unterschiede zwischen den »Formaten«, in die Einzelhandlungen schon gebracht sind, die wiederum unterschiedliche Implikationen für die Rolle haben, die die Vorselektionen durch die Handlungskoordination in der Interaktion spielen können. Auf einem elementaren Level stellt sich die Frage der Integration des Handelns darum zuerst als Frage des Verhältnisses zwischen generalisierten Typen des Handelns und einzelnen Handlungen. Wenn die Differenzierung von Handlungszusammenhängen aus den nicht intendierten Effekten von Problemlösungen hervorgeht, muss Problemlösung hier gegenüber einer einmaligen Aufgabenbewältigung als generalisiert verstanden werden. Einzelhand-

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lungen bilden erst dann einen Zusammenhang, wenn einzelne Handlungen im Sinne der Wiederholbarkeit als typische Handlungen verstanden, das heißt interpretiert und ausgeführt werden können.4 Desintegration bedeutet dann unter anderem, dass die Kette der Fortsetzungen und damit die Wiederholbarkeit als Prinzip der Stabilität eines Handlungszusammenhanges abreißt, eine sinnvolle Fortsetzung, Wiederaufnahme und auch eine kontinuierende Transformation von eingespielten Handlungsroutinen und Handlungsfolgen nicht mehr möglich ist. Für das Verhältnis zwischen Einzelhandlung und Handlungszusammenhang heißt dieser Abbruch, dass die einzelne Handlung nicht länger sinnvoll als typische Handlung begriffen und beantwortet werden kann, dass die Transformation von Typen und Mustern der Handlungen und der Handlungsfolgen und -abfolgen durch den Beitrag einzelner Handlungen nicht mehr möglich ist, schließlich in extremis, dass die einzelne Handlung (von den relevanten Kooperationspartnern) gar nicht mehr sinnvoll als »Handlung« behandelt und verstanden werden kann (eine mögliche Folge wäre: »Gewalt«, sofern darunter die Reduktion der kooperativ-übersetzenden Sinnsynthese auf körperlich vermittelte Kausalbeziehungen verstanden wird). Eine genauere Analyse der handlungstheoretischen Grundlagen der Integrationsproblematik muss sich deshalb mit der Frage befassen, was (wann und von wem) überhaupt als »eine« Handlung verstanden werden kann. Vom grundbegrifflichen Entwurf der Einheit »Handlung« hängt schließlich ab, wie man entlang der Analyse der Koordination des Handelns von der Handlungszur Gesellschaftstheorie kommen, und auf ihrem Zugriffsniveau die Frage nach der »Beteiligung« der Individuen überhaupt stellen muss. Etablierte Gesellschaftstheorien zeichnen sich nicht nur durch ein komplexes Vermögen zur theoretischen Auflösung alltagsweltlich scheinbar unproblematischer Phänomene, sondern auch durch ein selbstständiges Vokabular aus. Sie beschreiben im Vergleich zueinander nicht nur »die« Gesellschaft jeweils anders, sondern sie bezeichnen in Abhängigkeit von einem Netz auf einander bezogener Grundbegriffe mit scheinbar gleichen Termini jeweils »anderes«. Theorien sind deshalb in dem Sinne semantisch eigensinnig (und auf nichtsubstituierbare Weise »welterschließend«), dass z.B. ihre Handlungs- und Kommunikationstheorien (wenn sie denn welche ausgebildet haben) präjudizieren, was jeweils mit den analytischen Begriffen »System« oder »Aktor« gemeint ist, und deshalb auch: Worauf sich die Frage der Integration oder auch die Frage, »wer handelt?«, beziehen kann. In der Luhmann’schen Systemtheorie sind »Handlungen« und »Personen« in sozialen Systemen semantisch synthetisierte Einheiten, mit deren Hilfe Systeme »selbst« Kommunikationen personalisieren, also operativ vereinfachen und handhabbar machen (Luhmann 4 | Auch dies ist ein soziologischer Gemeinplatz (vgl. Schütz 1974; Luhmann 1985: 73ff.; und den Begriff der »Institutionalisierung« bei Berger, Luckmann 1974: 49ff.).

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1985: 191ff.). Innerhalb der Habermas’schen Kommunikationstheorie folgt wegen einer ganz anderen Begriffsstrategie aus der Unterscheidung zwischen strategischem und kommunikativem Handeln die analytische Unterscheidung zwischen System und Lebenswelt, sodass das Verhältnis individueller Akteure zur Kommunikation je nach Handlungstyp anders, zum Beispiel dezentriert oder zentriert auf die Person, ausfällt (Habermas 1981, I: 367ff.). Wieder andere Konzeptionen setzen voraus, dass grundsätzlich Personen oder Individuen handeln, und charakterisieren die Koordination von sozialem Handeln wahlweise als Strukturdeterminismus, der durch die personale Teilhabe an kollektiven Orientierungen oder Dispositionen, z.B. an einem »Kollektivbewusstsein«, auf die soziale Handlungsebene durchgreift (Durkheim 1992; Blau 1977), oder als »dialektisches« Verhältnis zwischen determinierenden Faktoren (einschränkenden und ermöglichenden Bedingungen) und individuellen Kreativitätspotentialen.5 Elementare Überlegungen zum Verhältnis von subjektivem Sinn und sozial koordiniertem Sinn einer Handlung müssen also in jedem Fall die Verknüpfung zwischen Handlungseinheit und handelnder Person analytisch lockern, um Variationsspielraum für eine Reihe jeweils spezifischer Konstellationen zu gewinnen, während für viele etablierte Theorien immer nur eine dieser Konstellationen als paradigmatisch erscheint. Zu diesem Zweck muss eine pragmatische Rekonstruktion bei Handlungen und nicht sofort bei Handelnden, Akteuren, Individuen oder Personen ansetzen. Viele der einschlägigen klassischen Untersuchungen orientieren sich indessen sogleich am Problem des Verhältnisses zwischen Individuum und Gesellschaft; und sie überspringen damit das Problem, dass hier gar keine äußere Beziehung zwischen voneinander unabhängigen Entitäten diskutiert wird, denn »Individuen« als anerkannte »jemeinige« Personen sind bereits gesellschaftliche Errungenschaften (Simmel 1917 und 1987b). Das Problem der Inklusion (Luhmann 1997: 618ff.; vgl. Fuchs, Buhrow, Krüger 1994; Kronauer 2002) bzw. die Frage der sozialen Ungleichheit, der »Integration« von marginalisierten Gruppen, von Flüchtlingen, Behinderten, Vorbestraften etc. in »die« Gesellschaft, ebenso aber Phänomene der »Desozialisation« von Personen in »totalen Institutionen« (Goffman 1961) betreffen immer schon ausgesprochen voraussetzungsvolle Konstellationen zwischen bereits ausdifferenzierten Systemen (Inklusion), Organisationen, Milieus und Personen. Die »Gesellschaft« 5 | Auf jeweils andere Weise: Giddens 1997, Bourdieu 1979 und Joas 1996. »Dialektisch« wäre die in den genannten Ansätzen propagierte »Vermittlung« zwischen subjektiver »Agency« und struktureller Determination jedenfalls dann, wenn die entsprechenden Theorien ihre propositional vorgetragene Neigung zu einem bloßen »sowohl als auch« zwischen »Struktur« und »Akteur« reflexiv-performativ einholen, d.h. in eine stimmige Form des theoretischen Umgangs mit der Einheit der Differenz zwischen Akteur und Struktur bringen würden (was allerdings eher nicht der Fall ist).

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ist stets schon mindestens zweimal »im Spiel«: Bevor das Individuum in »die« Gesellschaft integriert oder auf problematische Weise von ihr fehl adressiert werden kann, muss es sich »in« der Gesellschaft, sei es durch sozialisatorische »Internalisierung« von Sinnhorizonten, die es nicht selbst geschaffen hat, sei es im Zuge einer abgrenzenden Aus-Differenzierung von Eigensinn, bewegt haben. Die Analyse der Integration von Handlungen muss also in Unabhängigkeit von der Unterstellung »subjektiver Sinnkonstitution« zunächst über diese Voraussetzungen Rechenschaft abgeben. Man kann das für überflüssig halten und Individuen als elementare und gewissermaßen vorsoziale Entitäten betrachten. Darauf bauen der egologische Zugang zum Begriff der Handlung sowie die individualistische Konzeption der Handlungsrationalität auf. Handlungen gelten hier als ausschließlich subjektiv bestimmte Einheiten. Ihr Sinn folgt der intentionalen Bestimmung foro interno und ist gleichbedeutend mit dem subjektiv gesetzten Zweck (oder Ziel) einer Handlung. Für eine egologische Handlungstheorie ist das Individuum ein Gegebenes und hinreichender Grund für die intentionale Handlungserklärung. Handlungen sind Ausdruck bzw. Folge von subjektiven Zwecksetzungen und entsprechender Mittelwahl. Soziale Ordnungen erscheinen als Resultate von Vertragsschlüssen zwischen Vertragspartnern oder als Spielregeln für Kosten-Nutzen-maximierende Strategen (Coleman 1990; Esser 1993), die bereits vor der Etablierung sozialer Ordnung – etwa im Naturzustand – bestimmte Interessen, Bedürfnisse und klare Intentionen haben.6 Am Verhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft ist unter solchen Voraussetzungen weniger die Integration von Individuen in Gesellschaften interessant, als die Chancen und Ansprüche der Abgrenzung zwischen individueller und gesellschaftlicher Sphäre. Gesellschaft verdünnt sich in einer radikal liberalistischen Sozialontologie des primordialen Individuums zur Organisation instrumenteller Übereinkünfte, in die Individuen weniger integriert, als dass sie vor ihren Übergriffen geschützt werden müssen.7 Gegen die individualistische 6 | Die klassischen vertragstheoretischen Konzeptionen bei Hobbes und Rousseau sind allerdings nicht allzu geschwind einer widersprüchlichen Argumentation zu überführen. Der skeptische Hinweis auf den infiniten Regress, der sich aus der Notwendigkeit ergeben soll, dass einem Vertragsschluss der Metavertrag über die Geltung des Vertrages vorausgehen muss (Derrida 1991), missachtet den Status der Vertragspartner im Naturzustand als methodische Fiktion (bis hin zu Rawls »original position«, Rawls 1975). Vgl. dazu Macpherson 1973: 32ff. 7 | Vgl. zur radikalliberalen Sozialontologie: Macpherson 1973. Die Spur der adäquaten Gehalte dieses Schutzes der Person (als solcher selbst eine soziale Institution) sind Rechtsstaatsprinzip und Menschenrechts-Diskurs, die die soziologische Korrektur der individualistischen Sozialontologie vor dem Umschlag in einen illiberalen Kollektivismus warnen können.

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Sozialontologie spricht jedoch nicht allein die Übervereinfachung des Gesellschaftsbegriffs, sondern überdies die Unplausibilität der Bestimmung des »natürlichen« Individuums selbst. Denn diese Bestimmung behandelt, wie gesagt, Individuum und Gesellschaft als prinzipiell voneinander unabhängige Entitäten. Das individuelle Subjekt, in seiner allgemeinen Form: das Paradigma transzendentalphilosophischer Bemühungen um Letztbegründung, ist indessen keine primordiale Instanz, sondern eine Realabstraktion. Das heißt: Eine individualistische Sozialontologie, die das Individuum wie den Robinson auf der Insel als voll ausgeprägte Person voraussetzt, ratifiziert einen faktisch wirksamen sozialen Anschein, der die Kontingenz der Institutionalisierung einer individualistischen Semantik verdunkelt. Die reflexionsphilosophische und sozialontologische Egologie abstrahiert von den sozialen Bedingungen der Möglichkeit individueller Selbstverhältnisse, sie setzt damit an einem sozial konstituierten Tatbestand, an der Faktizität eines individualisierten Selbstbewusstseins an, ohne dessen Konstitution selbst thematisch zu machen (anders aber: Mead 1973; Habermas 1988; vgl. Straub, Renn 2002; Renn 1997). Die abstrakte Vorstellung vom autochthonen Individuum, das das Subjekt seiner Handlungen sei, ist also begrenzt berechtigt, da – besonders unter modernen Bedingungen – Personen sich in der Tat und auch mit guten Gründen als Individuen verstehen, dieses Selbstverständnis geradezu aufgedrängt bekommen, und weil Subjektivität einen individualistischen Charakter angenommen hat,8 da also – anders gesagt – die theoretische Abstraktion einer sozial verwirklichten Abstraktion Ausdruck verleiht. Aber das ändert nichts daran, dass individuelle Selbstverhältnisse schon qua Medium der Bestimmung von »Sinn«, »vermittelt« gedacht werden müssen. Denn jede Zuschreibung von klaren, abgrenzbaren und bestimmbaren Intentionen, Affekten, Zwecken und Zielsetzungen auf Personen (auch durch diese selbst) ist auf die intersubjektiven Bedingungen der Bestimmbarkeit von Intentionen angewiesen, also mindestens auf die Sprache und die intersubjektive »Identität« sprachlicher Bedeutung9, auch wenn der substantielle Gehalt des Effektes der Individuation die Allgemeinheit »intersubjektiver« Sinnhorizonte wird transzendieren müssen. Dies gilt umso mehr, wenn es um soziale Handlungen geht, über deren Sinn und Bedeutung nicht ein Individuum allein entscheiden kann, weil die 8 | Hier ist nur knapp auf die »Individualisierungsthese« im Zusammenhang mit der Analyse der modernen bzw. reflexiv modernen Gesellschaft hinzuweisen (schon: Simmel 1917, 1987a und 1987b; dann: Beck 1994: 43ff.; Luhmann 1989: 149-259, vor allem: 165ff.). 9 | Vgl. hier für viele: Habermas 1985. Zur Rekonstruktion der sprachtheoretischen Inkonsistenzen der Husserl’schen Phänomenologie, die noch das sprachliche Medium der Bestimmung intentionalen Sinnes durch eine egologische Bedeutungstheorie einholen will: Tugendhat 1976; Derrida 1979; vgl. auch: Renn 1997.

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Bedeutung zum Beispiel in der Interaktion durch die Anschlüsse bzw. die Reaktionen anderer erst (vollständig) bestimmt wird. »Individuen« sind schon Resultate sozialer Ordnungsbildungen (wenn auch nicht nur und nicht im Sinne lückenloser Determination) und nicht ihr vorsoziales Agens oder Basiselement. Diese Behauptung kann sich zugleich auf die Analyse der prinzipiellen Bedingungen der Möglichkeit subjektiver Selbstverhältnisse und auf genetische bzw. entwicklungstheoretische Analysen berufen. Die breite Tradition von Hegel bis zur pragmatistischen Sozialpsychologie Meads weist die Intersubjektivität von Sprache, Bedeutung und Handlungsregeln als primär aus. Diese Option kann sich auf die Vergeblichkeit der Versuche berufen, aus einer egologischen Perspektive Intersubjektivität sekundär hervorzukonstruieren.10 Und auch strukturgenetische Theorien, die sich an Piaget orientieren, stoßen mit größerer Intensität als noch Piaget selbst auf die unhintergehbare Priorität von sozialen Strukturen respektive von Handlungsformen vor der individuellen Ausbildung kognitiver Strukturen und einer organisierten inneren Intentionalität.11 Vor der intentional realisierten Entgegensetzung von »Ich« und »Welt« bzw. von »Ich« und »sozialer Welt« oder »Gesellschaft«, muss demzufolge die Person bereits Anteil haben bzw. nehmen an sozialen Zusammenhängen (oder Teil von ihnen »sein«).12 Umgekehrt handelt sich die Voraussetzung der Intersubjektivität allerdings das Problem der Erklärung der Entstehung von individueller Subjektivität

10 | Ist das Subjekt primär, landet jede Rekonstruktion der Genese und der Geltung sozialer Bedeutungen in den Aporien des »Fremdverstehens«, das als Problem überhaupt erst von der egologischen Perspektive erzeugt wird. Locus classicus ist die fünfte Cartesianische Meditation Husserls (Husserl 1991), in der Husserls Ringen um eine egologische Konzeption des »alter ego« zu beobachten ist. Vgl. die Kritik von Schütz 1957 (im Anschluss daran: Luhmann 1985: 120); Derrida 1979, 1987; Habermas 1985; Tugendhat 1970. 11 | Vgl. dazu im Anschluss an Piaget, Dux 1989: 23ff.; Wenzel 2000, 19ff. Gegen den von den genannten Autoren verfochtenen weitergehenden Anspruch einer strukturgenetischen Theorie der Konstitution sprachlicher Bedeutung spricht indessen, dass Piaget weniger die Entstehung der Bedeutung von Symbolen und Zeichen als vielmehr die genetischen Voraussetzungen und Stufen des Nachvollzugs sozialer Bedeutungen analysiert (vgl. Piaget 1993: 274ff.). 12 | Man kann hier auch auf Hannah Arendt verweisen, die der Heidegger ’schen Daseinsanalyse das Prinzip der Natalität, also nicht nur des Geborenseins, sondern zugleich der Ursprünglichkeit des Sozialverhältnisses entgegenhält (vgl. Arendt 2002: 18). Die aktuellen Apostaten der Phänomenologie gehen hier eher den Weg über Levinas (1984) (vgl. etwa: de Vries 1999; Waldenfels 1997).

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ein.13 Dieses Problem zu lösen, ist ein erklärtes Ziel der Mead’schen Sozialpsychologie (Mead 1973, 1981). Vor allem in The Philosophy of The Present versucht Mead (1959), die Genese der subjektiven Perspektive als emergente Entwicklung in ihrer Abhängigkeit von der primären Sozialität von Prozessstrukturen darzustellen: Diese »Sozialität« geht dem individuellen Selbstverhältnis und -bezug voraus, insofern die Grundlage der Perspektivenübernahme, auf die die Genese des Selbst gegründet ist, in den zeitkonstitutiven Eigenschaften von reflexiven Prozessen selbst zu suchen ist. »Sociality is the capacity of being several things at once« (Mead 1959: 49). Diese Charakterisierung von »Sozialität« erinnert mittlerweile an A. N. Whiteheads Prozessbegriff, sofern aus der Notwendigkeit der Rekursivität von kontinuierlichen Prozessen die Konstitution von Zeitlichkeit und damit der Permanenz von Objekten sowie der Differenzierbarkeit von Ereignissen abgeleitet wird, woraus sich ein Begriff vor- oder übersubjektiver Perspektivität ergibt (Mead 1959: 10ff.; vgl. dazu auch: Wenzel 1985; Miller 1973: 46ff.). Anders gesagt: die vermeintlich exklusiv »subjektive« Fähigkeit, »Verweisungen« zwischen Ereignissen (z.B. Handlungen) im Medium des »Sinns« herzustellen, zu unterhalten und reflexiv zu thematisieren, kann und muss als eine »transsubjektive« Charakterisierung von »Sozialität« behandelt werden, wenn man das Paradox der »Intersubjektivität« (die »Subjekte« konstituiert, aber auch von ihnen konstituiert werden soll) für eine Erklärung der ambivalenten (weil zugleich aktiven und passiven) Beteiligung des Individuums an »der« Gesellschaft produktiv wenden will. Eine Paradoxie liegt jedenfalls vor, wenn man nicht mit der Abstraktion des schon vorliegenden Individuums beginnen kann, sofern der »Vorrang« der Intersubjektivität (Mead, Habermas) bedeutet, dass Personen immer schon in die Gesellschaft oder mindestens in kleinformatigere soziale Kontexte integriert sein, schließlich auf dem Wege spezieller sozialer Differenzierungsprozesse individualisiert werden müssen, um als Individuen exkludiert werden zu können, sodass das Problem der Integration von Individuen in die (oder in eine) Gesellschaft überhaupt entstehen kann. Die Erklärung der Subjektivität aus der vorgängigen Intersubjektivität steht unter dem Verdacht der Zirkularität (Frank 1991). Ein schlechter Zirkel liegt aber nur dann vor, wenn der genetische Konnex zwischen Sozialität oder der Intersubjektivität sprachlicher Bedeutung und der Innenansicht individueller Subjektivität wieder mit allzu starken Identitätsprämissen belastet wird. Sobald die Intentionalität als getreu abbildende Repräsentation von sozialen Bedeutungen verstanden wird, tilgt in 13 | Denn die Rechnung geht bei bloßer Umkehrung der Konstitutionsrichtung (vom inneren Subjekt nach außen) nicht auf. Die Fähigkeit zu Perspektivenübernahme und Internalisierung scheint ein erstes Subjekt dieser Verinnerlichungen zu unterstellen, worauf philosophisch Manfred Frank beharrt, der deshalb von der Unhintergehbarkeit eines ursprünglichen Selbstverhältnisses spricht (vgl. Frank 1991 und Henrich 1976).

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der Tat schon der Begriff der Intersubjektivität den Eigenwert der Subjektivität, deren Verbindung zu anderer Subjektivität er eigentlich klären soll (so Luhmann). Auch die intentionalen Perspektiven müssen also als emergente Folge einer Ausbildung von teilautonomen Ordnungen des Sinns betrachtet werden. »Subjekte« und nicht nur »Systeme« werden autonom durch Ausdifferenzierung. Der Prozess der Entbindung individueller subjektiver Selbstverhältnisse besteht nicht in der Auslagerung einer Kopie des Sozialen in den nur körperlich abgegrenzten Organismus, Individuation führt nicht zur Bildung intentionaler Abziehbilder öffentlicher Sinnhorizonte. Die Intentionalität nimmt auf dem Wege der Autonomisierung, der Ausbildung eines »autonomen Zentrums der Selbststeuerung« (Habermas 1988: 187ff.), Eigensinn, Eigenwerte und einen teilweise konstruktiven Charakter an. Einmal angestoßen, führt der soziale und der personale Prozess der Individuierung (auch: van Dülmen 2002: 110ff. und Schimank 2002: 69ff.) zu subjektiven Resultaten, die eben nicht auf soziale Bedingungen reduziert und durch diese erklärt werden können, sodass sie schließlich sozial als »innere Unendlichkeit« eines existentiellen Sinn- und Zeithorizontes auffällig werden können. Insofern ist die romantische Idee der inneren Unendlichkeit des Individuums keine semantische Überreiztheit, sondern das verschobene Symptom einer Differenzierungsfolge: Erst wenn das »Subjekt« als Quelle der Eigenkontrolle von Handlungskontingenz (soziale Erwartungen sind keine Prognosen, sondern normative, also auf Enttäuschbarkeit gepolte Ausgriffe auf die Zukunft) »genutzt« und diese »Nutzung« sozial institutionalisiert wird (»disziplinierende Subjektivierung«), wird die personale Unberechenbarkeit als Folge der Delegation der Kontingenzbewältigung an die Person selbst sozial thematisch.14 Die Pointe liegt darin, Personen in einer differenzierungstheoretischen Perspektive als ihrerseits ausdifferenzierte Integrationseinheiten zu betrachten, deren »externer« Status gegenüber sozialen Konventionen und gegenüber System- und Milieuhorizonten zunächst negativ (d.h. durch Lockerung der Kontrolle) konstituiert werden muss, um dann zum Problem der »sozialen Integration« werden zu können. Das Intersubjektivitätsproblem ist dann selbst zunächst ein konstitutionslogisches Paradox, und erweist sich deshalb ontogenetisch, phylogenetisch und bezogen auf das Verhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft in der Moderne selbst als ein spezielles Übersetzungsverhältnis.

14 | Zur Entfaltung nicht kommunizierbarer Subjektivität im Medium der Ästhetisierung und der metaphorischen Ich-Darstellung als Charakteristikum des romantischen Briefes: Bohrer 1989: 213ff.; vgl. auch: Willems 1999: 126ff.

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III. P ersonen als eigene I ntegr ationseinheiten Die emergente Ausbildung15 individueller Selbstverhältnisse resultiert schon aus evolutionstheoretischen Gründen einerseits gewiss aus dem Kosmos sozialen Handelns und sozial institutionalisierter Sinnhorizonte. Andererseits besteht die darin zur Entfaltung kommende »Emergenz« eben genau darin, dass dieses Selbstverhältnis sich primär auf das (dann: jeweils) eigene und auf das auf »sich selbst« zuschreibbare Handeln bezieht.16 Darum sind personale Selbstverhältnisse eine intentionale Form der Koordination des Handelns (neben anderen Formen der Koordination). Die Koordination erhält dabei einen »subjektiven Index«, zumal die Verknüpfung, die Erwartbarkeit und die Bedeutsamkeit konkreter Einzelhandlungen in diesem (personalen) Horizont, der Tendenz nach, mal direkt, mal indirekt durch die individuelle Selbstverpflichtung zu konsistentem, authentischem und in eben dieser Rücksicht geordnetem Handeln gesichert wird.17 Auch mit Bezug auf einzelne Handlungen ist die dynamische, praktische Identität einer Person der intentionale Bedeutungshorizont, vor dem diese Handlung Bedeutung in Form des subjektiven Sinnes erhält (Schütz 1974; vgl. Srubar 1981), das heißt subjektiv etwa eine »Absicht« und einen »Zweck« zugeschrieben bekommt. Damit bleibt die »Handlung« immer noch eingespannt in transsubjektive Sinnsynthesen, aber das Selbstverhältnis differenziert demgegenüber die (mögliche) »Innenansicht« einer Handlung aus. 15 | Von Emergenz ist an dieser Stelle zunächst einfach nur in dem Sinne auszugehen, dass das Ergebnis der Ausdifferenzierung intentionaler Selbstbezüglichkeit Eigenschaften aufweist (intentionaler Sinnhorizont und »Selbst«-Bewusstsein), die sich aus den Antezedenzbedingungen weder logisch noch kausal ableiten bzw. prognostizieren lassen. 16 | Der Bezug auf Handlungen mit Rücksicht auf die personale Individualität ruft nicht bloß einen äußerlichen Zusammenhang auf (weil etwa Handlungen neben anderen Formen der Expression von Innerlichkeit in Frage kämen). Vielmehr nötigt gerade die konsequenteste Bestandsaufnahme individueller Selbstverhältnisse, eine existentialistische Deutung des personalen Daseins auf den Spuren von Sartre und Heidegger (Sartre 1985; Heidegger 1984; vgl. Gethmann 1993; Haugeland 1982; Okrent 1988), dazu, die Identität der Person als eine Frage des primär praktischen und pragmatischen Vollzugs (als in Handlungen »entäußertes« und an ihnen verstehbares Selbstverhältnis) zu lesen (mit skeptischer Distanz: Habermas 1988: 206ff.; unverhohlener dagegen: Giddens 1997: 88ff.; vgl. Weiß 2001; Renn 2000 und 2001; Straub, Renn 2002: 16ff.). 17 | Damit ist allerdings zunächst der sicher umstrittene Sonderfall einer Identitätskonzeption angesprochen, bei der dem Individuum die Eigenverantwortung für sich im Zeichen der Authentizität der Lebensführung – eben auch sozial – aufgebürdet wird (vgl. Taylor 1989, 1991).

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Jedes teleologische Modell der Handlung, das die Einheit einer Handlung primär an die von der Person mit der Handlung verbundenen Ziel und Zweckvorstellung bindet,18 abstrahiert grundbegrifflich von der Transzendenz der übersubjektiven Integration der Handlung gegenüber der Intentionalität der Person. Das kann aber – trotz alltagsweltlicher Plausibilität, die jedoch nur die Eingespieltheit von Zuschreibungsroutinen ausdrückt – für die Handlungstheorie allenfalls eine methodische Abstraktion sein (wie z.B. bei Parsons 1994: 70ff.; vgl. Wenzel 1994: 19). Die transsubjektive Handlungsbestimmung greift durch die Intentionalität hindurch, denn gerade dann, wenn ein subjektiver Sinnhorizont durch Differenzierung sich gebildet hat, heben sich gegenüber dieser Instanz des Sinnentwurfes die Koordination »über den Köpfen« und jene »hinter dem Rücken« der Person ab. Gerade deshalb ist die Intention, der subjektiv vermeinte Sinn einer konkreten Handlung, im Horizont der biographischen (das heißt personenspezifisch ausdifferenzierten »ekstatischen«) Zeitlichkeit (Heidegger 1984; Ricœur 1988, 1990; Renn 1997; Straub, Renn 2002: 17ff.), dann, wenn ein Selbstverhältnis emergieren konnte und fortgesetzt wird, Element einer eigenen Integrationseinheit. Die ›Identität‹ einer Person ist der Name für die Integration der Person zu einer Einheit der Integration von Handlungen im Medium der Intentionalität. Das Problem der Integration von Personen, von einzelnen Individuen, das heißt, die Integration einer in sich integrierten Person in soziale Gruppen oder in die Gesellschaft kann darum als ein (zentraler) Sonderfall des allgemeinen Problems der Integration von Handlungen und dann der Integration von Integrationseinheiten bzw. -formen betrachtet werden. Unter dem Gesichtspunkt der intentionalen Integration von Handlungen zählen Einzelhandlungen als Vollzugsmomente der personalen Identität. Die Identität des Individuums ist dann von der numerischen Identität eines Gegenstandes ebenso wie von der sozialen Identität einer Konjunktion von typisierten Eigenschaften zu unterscheiden (Habermas 1988). Personale Identität (in der von den Personen auf sich selbst bezogenen Perspektive moderner Individualitätssemantiken) ist der »existentielle« Entwurf eines praktischen Projektes als Antwort auf die Frage, wer einer oder eine »sein«, das heißt werden will. Dieser Entwurf realisiert sich und drückt sich in Handlungen aus, die zugleich von diesem Entwurf (mit-)bestimmt werden.19 Handlungen »der« Person haben von außen betrachtet einen expressiven Charakter als »Artikulationen« oder Manifestationen subjektiver Absichten, Präferenzen, Wertorientierungen und Geschmacksurteile; sie werden (wieder 18 | Vgl. die entsprechende Diskussion von Weber bei Schütz 1974 und Habermas 1981, I: 379ff. 19 | Vgl. zu dieser hermeneutisch-pragmatischen Lesart der Individualität: Ricœur 1990; Renn 1997 und 2000.

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im sozialen Horizont individueller Existenzialität) untereinander verknüpft nach Kriterien der Konsistenz und Kohärenz, der Authentizität etc., die den einzelnen Handlungen und ihren Relationen zueinander einen Identitätsindex verleihen. Handlungen als Ausdruck und als Realisierungsform individueller, personaler Identität sind bedeutsam im Horizont der Lebensführung einer bestimmten Person. Doch selbst unter dieser Voraussetzung, die den »Sinn« einer Handlung an die Expressivität des Subjektes und damit an die Innenperspektive der Person bindet, kann die einzelne Handlung ihre Bedeutung noch nicht allein und nicht einmal primär durch subjektive Sinnsetzung erhalten. Sie hat bereits als subjektiv gesteuerte (integrierte) Selbstdarstellung den kollektiven Rahmen öffentlicher Bedeutung zur Voraussetzung und ordnet sich diesem nolens volens ein oder gar unter, selbst wenn sie provokativ oder postkonventionell ausschert. Der subjektive Aspekt liegt dann in der Verantwortung und in der Motivation für die subjektive Selbstkontrolle des eigenen »dramaturgischen« Handelns innerhalb der »frames« einer konkreten sozialen Umgebung und ihrer normativen Erwartungshorizonte (Goffman 1961, 1983; Habermas 1981, I: 135ff.).20 Die »Authentizität« des Vollzugs der Identität, also (unter anderem) die Konsistenz zwischen den einzelnen Handlungen »der Person«, ist dann wiederum keine ich-bezogene Exemtion aus sozialer Kontrolle, sondern im Gegenteil zunächst eine sozial auferlegte Anforderung an die individuelle »Sorge um sich selbst« (im Sinne von: Foucault 1993). Darum ist die moderne Tendenz zur Individualisierung auch nicht einfach eine Erweiterung von Freiheitsspielräumen, sondern ebenso die Zumutung der Verantwortlichkeit für sich selbst und das Gelingen der eigenen Lebensführung (worin pessimistische Anthropologien schon Grund genug dafür sehen, diese Zumutung mit Entsolidarisierung gleichzusetzen). Die im Horizont der individuellen Identität relevanten Einzelhandlungen sind also als soziale Handlungen immer zugleich in jeweils unterschiedlicher Gewichtung auf externe Handlungszusammenhänge bezogen. Insofern ist das Handeln einer einzelnen, individuellen Person immer schon doppel- oder mehrdeutig, da es je nach Referenz einmal entlang des Identitätsindex, dann wieder entlang der sozialen Bedeutung, die verschiedenen, relevanten überindividuellen Kontexten zugehört, verstanden oder aber auch bewertet werden kann.21 Personen haben 20 | So wie grundsätzlich die Sprache der Expressivität an eine intersubjektive Sprache anschließt, mit Rücksicht auf die existentielle Referenz der Bedeutung also an das öffentliche Medium der Narration gebunden bleibt (Ricœur 1990 und MacIntyre 1981; vgl. Renn 1997: 209ff.; Straub 1998). 21 | Dazu kommt, dass das Konzept einer individuellen personalen Identität selbst ein soziales Konzept ist. Die Abhängigkeit der Form individualisierter Selbstverhältnisse von sozialer, semantischer und struktureller Unterstützung drückt sich kulturell in der individualistischen Semantik aus (Simmel 1917; Luhmann 1989), handlungslogisch in

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wegen dieser Doppel- oder Mehrwertigkeit von Handlungen (die Personen zugerechnet werden) eine besondere Funktion im Verhältnis zwischen Integrationseinheiten, denn Individuen sind nicht nur selbst eine integrierte Einheit der Handlungsintegration, sondern sie stehen (in diesem Sinne: ex-zentrisch) zwischen abgegrenzten Handlungskontexten, von denen sie sich ein unvollkommenes »Bild« machen, auf dessen Grundlage sie in diese Kontexte hinein »handeln«.22 Gerade darum »besteht« die Gesellschaft aber nicht aus Individuen und leisten nicht Personen die Integration anderer Integrationseinheiten. Die individuelle Handlungsintegration, die Festlegung künftiger Einzelhandlungen der Person durch normative Selbstbindungseffekte, schon die intentionale Ausbildung einer bestimmten »Absicht«, kann mit den externen Koordinationseffekten, mit den Forderungen organisationaler und systemischer, aber auch schon milieuspezifischer Handlungsintegration, leicht in Konflikt geraten. Und das umso leichter, je mehr das Individuum sich von der bloßen Internalisierung von externen Verhaltenserwartungen emanzipiert hat und zum Zentrum einer »existentiellen Selbstauslegung«, das heißt einer auf Handlungen bezogenen Selbststeuerung geworden ist. Mit der Autonomie der subjektiven Selbststeuerung wächst eben die Wahrscheinlichkeit der Abweichung von der Linie der Verkettung von Handlungen, die den gegenüber den existentiellen Bedeutungszuschreibungen externen Integrationsanforderungen folgen würde. Und diese Abweichungen bestehen nicht einfach in unvorhersehbaren und womöglich unerwünschten Selektionen aus dem Bereich der Handlungsmöglichkeiten, die Organisationen, Systeme und soziale Milieus als solche »bereitstellen«, sondern sie bestehen wegen der Übersetzung übersubjektiver Handlungsformate in subjektiv sinnhafte Ereignisse im Vollzug des »Bedeutungsbruchs«, der sich der Differenz zwischen den Sinnhorizonten verdankt. Die »Kontingenz« der subjektiven Handlungsentwürfe ist ein hermeneutisches Problem, nicht – wie z.B. die diesbezügliche Hauptmetapher der Systemtheorie: »Selektion« suggeriert – nur ein Entscheidungsproblem. Reibungen zwischen normativen Imperativen (Konformität versus Selbstbestimmung im Sinne der »Eigentlichkeit«) werden gemeinhin als ein moder notwendigen Resonanz zwischen biographischen Horizonten und kollektiven sozialen narrativen Mustern (vgl. Straub 1998 und Straub, Renn 2002); siehe zur Unterscheidung zwischen Lebenslauf und Biographie: Hahn 1997. 22 | Begrifflich muss dabei vermieden werden, die Antwort auf das Integrationsproblem durch eine Äquivokation zu erschleichen: Wenn die Person als eine Integrationseinheit betrachtet wird, muss zwischen dieser und der Form des intentionalen Akteurs, der »zwischen« Integrationseinheiten als Kontexten der Handlungs-Koordination (Systeme, Organisationen, Milieus) »steht« und übersetzt, unterschieden werden. Der kurze Hinweis auf die exzentrische Position der Person, die zwischen »an« und »für sich« in Bewegung bleibt, soll das hier zunächst nur andeuten.

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ralisches Problem verhandelt, auf defizitäre Sozialisation und die Genese abweichenden Verhaltens bezogen oder aber unter umgekehrten normativen Vorzeichen der ästhetischen Kreativität postkonventioneller Lebensweisen zugerechnet.23 Das aber beschränkt die subjektive Abweichung auf die mangelhaft kontrollierte Selektion zwischen ansonsten unproblematisch als sinnvoll identifizierten Handlungstypen. Demgegenüber besteht die wesentliche Reibung zwischen Konventionen, Regeln und generalisierten Imperativen auf der einen Seite und subjektiven Übersetzungen derartig zugemuteter Handlungsformate in individuell bedeutsame Akte andererseits allerdings darin, dass individualisierte Handlungsentwürfe feinkörnig konkretisierte Anwendungen von Regeln darstellen, die ihre Anwendung nicht selbst regeln können. Die Generierung von »devianten« Handlungen durch personalen Eigensinn wirkt deshalb nicht einfach immer schon »desintegrativ«, sondern sie kann ganz im Gegenteil als eine »funktionale«, sozusagen hermeneutisch assistierende, Ergänzung abstrakt-generalisierter Handlungskoordination wirksam werden. Denn der Eigensinn subjektiver Übersetzung sozialer Erwartungen in faktische Handlungen kommt als eine ebenso alltägliche wie notwendige Ressource der transpersonalen Handlungskoordination in Betracht. Individuelle Akteure können Milieu- oder Organisationsflexibilität stützen, indem sie notwendige Abweichungen und kreative Applikationen beisteuern und damit »funktional« bleiben, indem sie »postkonventionell«24 handeln. Ebenso kann ausgeprägter Eigensinn natürlich auch störende Reibungsverluste auslösen, und meistens geschieht beides gleichzeitig. Die klassische Problemstellung der Integration von Individuen in die Gesellschaft (Simmel) setzt also verglichen mit der handlungstheoretischen Umschreibung des Individualitätsproblems (nicht im historischen Sinne) »später« an: Dort nämlich wo Individuen und die ihnen zugehörigen Ansprüche oder Desiderate bereits kommunikativ thematisch werden, wo die Abstimmung zwischen subjektiven Interessen (sowie Bedeutsamkeits-Erwartungen) und objektiven Spielräumen, zwischen »Selbstverwirklichung« und sozialer Kohäsion in Gestalt von Anerkennungs- und Gleichheitsproblemen jene Entbindung und die kommunikative Auffälligkeit von personaler Individualität schon voraussetzen dürfen und müssen. Das Problem der Anerkennung individueller 23 | Vgl. dazu die »postmodernen« Akklamationen einer angeblich fragmentierten und dadurch von den Imperativen sozialer Kontrolle und Konsistenzzumutung befreiten Individualität z.B. bei: Welsch 1991 und Gergen 1996. 24 | In einem weiteren und zugleich elementareren Sinne als bei Habermas, nämlich nicht nur in Form der Überbietung partikularer Geltungsansprüche und der Bereitschaft, über Regeln zu verhandeln, sondern auch hinsichtlich der nicht konventionalisierten Spezifizierung generalisierter Konventionen, das heißt also in der Fähigkeit, Regeln anzuwenden (de Certeau 1988).

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»Identität« tritt erst in Erscheinung (vielleicht aber nicht erst »auf«), wenn die Anerkennungsbedürftigkeit selbst anerkannt ist, das heißt wenn – wie bei Hegel – die bürgerliche Form der Individualisierung auf einen Begriff gebracht ist (Honneth 1992: 20ff.), der dann dem Individuum entgegengehalten oder von diesem in Anspruch genommen werden kann; anders gesagt: Wenn Individuen als eigene Integrationseinheiten nicht nur ausdifferenziert sind, sondern selbst im komplexen Gefüge der zwischen Integrationseinheiten aufgeteilten komplexen Problemlösungswege als anerkannte funktional relevant werden.25 Die Wahrnehmung des Problems der Integration von Individuen in »die« Gesellschaft setzt, anders gesagt, schon voraus, dass individuelle Handlungsintegrationen, zum Beispiel postkonventionelle Entwürfe der je eigenen Lebensführung, und kulturell-normative oder abstrakte Formen der Handlungskoordination auf auffällige Weise voneinander differenziert sind und in Widerstreit geraten können. Und dieser Streit kann nach zwei Seiten wachsen: in Richtung des Problems der Inklusion von Individuen in den Operationsbereich von Systemen (Gewährung von Partizipationsrechten oder -chancen) und in Richtung des Sinnverlustes, der individuellen Basis des Unbehagens an der Moderne, das sich aus der Entleerung der Modelle einer verbindlichen Lebensführung speist, für die nurmehr gilt, dass man selbst entscheiden und verantworten müsse. Die systemtheoretische Rede von der »Inklusion« der Personen in moderne funktionale Systeme (Luhmann 1989: 162) tritt der Frage nach der Integration von Individuen gegenüber schon einen Schritt zurück. Sie untersucht nicht, wie Individuen in die Gesellschaft integriert werden, sondern bestenfalls, wie soziale Systeme unter der konstitutiven Bedingung der Exklusion von Menschen aus der Gesellschaft ihre Zuschreibungen von Handlungen auf Personen semantisch auf Individualität zuspitzen können (Luhmann 1989). Mit der Rede von der Inklusion der Personen ist darum systemtheoretisch an weiter nichts zu denken als an die Form der semantischen Einschließung von »Personen-Bildern« als kondensierte »Adressen« in den internen Kontext von Kommunikationssystemen (Bergmann 1994: 95f.).26 Das sind dann nur Teilansichten von individuellen Menschen, gleichsam systemspezifische Außenansichten (Hahn, Bohn 1999), die mit dem älteren Rollenbegriff nur noch insoweit übereinstimmen, als sie auf Fragmente der Person und damit auf eine potentielle, strukturell allgemeine Fragmentierung hinweisen (wie: Hahn, Bohn 1999).27 25 | Also z.B. mit der Tragödie der Kultur im Simmel’schen Sinne (Simmel 1989). 26 | Gegen die dafür maßgebliche, radikal differenztheoretische Trennung zwischen Bewusstsein und Kommunikation richtet sich kritisch z.B. Giegel 1987: 126ff. 27 | Rollen werden überdies in der älteren Auffassung immer noch von Personen »gespielt«. Sie sind bei Parsons z.B. in der »Interpenetrationszone«, an der soziale und per-

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IV. D ifferenzierte P ersonen -F ormate Von einer allgemeinen internen Fragmentierung der Person kann allerdings nicht die Rede sein. Aus dem Dogma eines Primats funktionalere Differenzierung auf die alternativlose Fragmentierung personaler Selbstbeziehungen schließen zu wollen, würde der Vielfalt empirischer Varianten individueller Verhältnisse der Personen zu sich selbst nicht gerecht. Auch deswegen haben wir oben Formen der sozialen Integration im Sinne der (sinnhaften) Koordination des Handelns und der Handlungen durch die Transzendenz gegenüber der Intentionalität und dem expliziten Wissen der Personen unterschieden. Die Rücksicht auf die Koordination sinnhafter Handlungen »über den Köpfen« und »hinter dem Rücken« war hier gegen etablierte intentionalistische oder subjektivistische Reduktionen des Sinnes einer Handlung auf die ihr vermeintlich »zugrunde liegende« Intention gerichtet. Die Insistenz darauf, dass es sich hierbei um mindestens zwei verschiedene typische Formen subjektiv intransparenter Koordination handelt, war allerdings durch den Einwand gegen die Übergeneralisierung systemtheoretischer Modelle von System-UmweltVerhältnissen motiviert. Den makrotheoretischen Hintergrund für die Unterscheidung zwischen zweierlei Formen der transsubjektiven Koordination von Handlungen liefert eine – hier nur andeutungsweise aufzuführende – Differenzierungstheorie, die statt des Primats der funktionalen Differenzierung (und damit der Strukturdominanz abstrakter Funktionssysteme) die Pluralisierung von Differenzierungsformen hervorhebt (Renn 2006: 68ff.; vgl. Renn 2014b). Die Unterscheidung zwischen funktionaler, semantischer, kulturell-praktischer und regionaler Differenzierung (inklusive Individualisierung als Sonder- und Mischform) markiert keine Ableitungshierarchie (so als würde die funktionale Differenzierung schon ausreichende Erklärungen für Formen und Folgen kultureller Differenzierung und für soziale Ungleichheitseffekte liefern). Die Differenzierung von Differenzierungsformen macht sich als Ausdifferenzierung von heterogenen Typen von Kontexten der Handlungsdifferenzierung bemerkbar. Gesellschaftliche »Integration« – verstanden als Koordination von ausdifferenzierten Koordinationsformen – bedeutet deshalb eine Integration zweiter Ordnung. Angesichts nicht aufeinander reduzierbarer, multipler Achsen der Differenzierung erwächst das Problem einer Koordination von Kontexten ausdifferenzierter Koordination als das Problem der Beziehung zwischen Integsonale Systeme teilhaben, angesiedelt, während sich in der Luhmann’schen Fragmentierungsversion die innere (psychische) und die äußerer (kommunikative) Konstruktion des Personenfragments operativ gar nicht berühren. Auch das liegt daran, dass Luhmann Kommunikation und nicht Handlung zum Grundbegriff der Systemtheorie erklärt hat (vgl. Göbel 2000: 112ff.).

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rationsformen (Renn 2006: 75ff.). Es ist ein gesellschaftliches Problem ersten Ranges, weil die Ausdifferenzierung solcher Formen einerseits Probleme der Koordination löst (durch Spezialisierung, Generalisierung, Entlastung und »Rückimport« ausgelagerter Koordinationsleistungen), andererseits neue Probleme schafft, vor allem das Problem, dass die Koordination ausdifferenzierter Koordinationen nun nicht mehr mit den Mitteln nur einer dieser spezialisierten Koordinationsformen geleistet werden kann. Die »Integration« der Gesellschaft zieht sich zurück in die dezentralisierte Vielfalt der Übersetzungsbeziehungen zwischen spezialisierten Kontexten der Handlungsverknüpfung.28 Davon sind die strukturell typischen Lagerungen der Person und die Ambivalenz einer Individualisierung, durch die sowohl individuelle Spielräume als auch intransparente Abhängigkeiten gesteigert werden, im Kern abhängig. Ein soziales Milieu greift in auffälliger und folgenreicher Weise selektiv auf die Person zu, das heißt in Form der Übersetzung der (ganzen) Person in die (typisierte) Zugehörige mit ihren milieuspezifisch identifizierten Eigenschaften und Verantwortlichkeiten, die, weil sie nur eine der zugeschriebenen sozialen Identitäten der individuellen Person ist, sukzessive den Charakter einer erworbenen Identität annehmen kann (sodass Zugehörigkeit in höherem Maße an Entscheidungen gebunden erscheint). Auffällig bzw. »explizit« wird das in einem Milieu, sofern die performative Kultur des Milieus unter einen Begründungs- oder auch nur unter einen Explikationsdruck gerät. Dieser Druck ist (auch) Folge einer Interferenz aus anderen Integrationseinheiten. Die religiöse Autorität von Maximen der inner-familiären Beziehungen, die 28 | Differenzierung bedeutet nur solange die Ausbildung von gesellschaftlich internen Grenzen, solange die Beziehungen zwischen den Integrationseinheiten als Interdependenzen von Teilen der Gesellschaft nicht abreißen. Die (konstruktivistische) Vorstellung, dass diese Beziehungen operativ vollkommen unterbrochen sein könnten, bedeutete nicht nur, dass an Stelle sozialer Differenzierung radikale Segregation treten würde (gleichsam das Auseinanderfallen in verschiedene Gesellschaften), sondern sie wäre für den Begriff und die Struktur sowohl abstrakter als auch konkreterer Integrationseinheiten selbst destruktiv. Systeme, Organisationen, Milieus und Personen wären ohne Beziehungen zueinander (die nicht auf Repräsentationen sondern auf Übersetzungen beruhen) nicht, was sie innerhalb von Übersetzungsverhältnissen sind: intern differenziert, weil in (von ihnen aus gesehen) äußere Differenzierung verstrickt, gegen andere Integrationseinheiten abgehoben, von dieser Abhebung jedoch durch die weiter bestehende Austauschfunktion und ihre Folgen intern beeindruckt. Man muss darum unterscheiden zwischen der internen Aufgabe einer Integrationseinheit, einen eigenen Handlungszusammenhang zu bilden, der sich gewissermaßen auf sich selbst bezieht und darum bzw. damit Grenzen ausbildet, indem er Ereignisse als Handlungen in sich integriert, und der externen Aufgabe, die abstrakte Integrationseinheiten als generalisierte Problemlösungsformen auch für andere Integrationseinheiten erfüllen.

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Hierarchien zwischen den Geschlechtern und den Generationen werden von den rechtlich integrierten Ansprüchen der Person, von den Zugriffen auf die Individuen durch Bildungsorganisationen (und umgekehrt), von ihren möglichen Kontakten zu alternativen Milieus (hier wirken zum Beispiel Netzwerke) und durch abstrakte Medien wie das Geld, das sie durch Inklusion zu Konsumenten und »Produzenten« macht, wenigstens beeinflusst (wenn auch nicht notwendig aufgehoben: so doch als solche durch Kontraste auffälliger). Die Verheiratung von türkischstämmigen Frauen in Deutschland nach Plan der Eltern innerhalb eines Milieus (das nationalstaatliche Grenzen überschreitet) kann zumindest potentialiter mit Ansprüchen der jungen Frauen kollidieren, die sie aus milieuexternen Formen und Einheiten der Koordination sozialen Handelns beziehen und durch entsprechende Beziehungen stabilisieren und vielleicht auch durchsetzen können. Organisationen sind durch den Bezug zu anderen Organisationen, zu Personen, die sie in Mitglieder (oder Klienten) übersetzen, und zu Systemen, deren medienspezifische Logik und codierten Kommunikationsformate in ihren Handlungsbereich interferieren, zugleich mit Respezifikations- und mit Abstraktionsaufgaben betraut. Zum Teil besteht der Sinn formaler Organisation ja gerade in der Rolle eines dritten Elementes in der für Übersetzungen erforderlichen Triangulation zwischen Integrationseinheiten, das heißt etwa in der Übersetzung zwischen Systemen und Milieus oder Personen durch Organisationen, die systemische Sequenzen und Programme zu konkreten Verfahren und Vorgängen spezifizieren, oder auch konkrete Interessen zu zum Beispiel politisch kommunizierbaren Ansprüchen aggregieren (damit also personal oder milieuspezifisch integrierte Handlungsbestimmungen wie Normen und Ziele) und über die »Repräsentation« der Bedürfnisse von Wählern und Publikum in Organisationen in das politische Medium der generalisierten Entscheidungen überführen. Die Ausdifferenzierung von Organisationen und Systemen bedeutet – anders gesagt – nicht, dass konkretere Integrationseinheiten, Milieus oder Personen, auf die Problemlösungen, die in abstrakter Form nun von Organisationen und Systemen in Regie genommen werden, gar nicht mehr angewiesen wären bzw. zurückgreifen müssten. Die Auslagerung der Allokation von Gütern oder diejenige der internen Stabilisierung und Konsistenzerhaltung des Systems expliziter Normen in Formen von juristischen Regeln, ebenso die Ausdifferenzierung eines eigenen Systems und zugeordneter Organisationen politischer Entscheidung und Herrschaft sowie die Monopolisierung der Gewalt durch staatliche Befugnisse und der sie übersetzenden Organisationen – sie alle befreien nicht nur je auf ihre Weise konkrete Milieus und Personen von den Zwängen der Lösung entsprechender Probleme und der Verstetigung bewährter Lösungen, sondern diese Lösungen und ihre Folgen kehren zurück als Leistungen und als nun externe Zwänge, die gleichsam von außen strukturierende Wirkungen entfalten. Ein Wirtschaftsunternehmen,

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das Standesamt, die Polizei, die Grundschule beschäftigen sich nicht (nur) mit sich selbst, sondern exportieren Leistungen und interferieren dabei mit Einfluss auf deren Binnenstruktur in die Kontexte konkreter kollektiver und personaler Lebensführung. Die Niveau-Anhebung von Problemlösungen durch Abstraktion und Generalisierung macht es deshalb erforderlich, dass die Rückführung der Effekte der entsprechenden Integrationsleistung in solche Kontexte, aus denen ihr Typus einst im Zuge der Differenzierung ausgelagert wurde, in der Form einer Übersetzung zwischen Standardhandlung oder -sequenzen und situationsspezifisch konkreten Handlungen und Vorgängen möglich bleibt. Die strukturelle Institutionalisierung der Übersetzung durch Explikation macht die rückkehrende Übersetzung abstrakter Lösungen als Respezifikation in konkreten Situationen und konkreteren Handlungszusammenhängen erforderlich. Personen sind als Individuen in diesem Zusammenhang nicht bloß Adressen, an die abstrakte Koordinationseinheiten ihre Imperative im Format standardisierter Handlungserwartungen richten. Personen sind im vielgestaltigen Gefüge der Integration zweiter Ordnung an der Respezifikation generalisierter Koordination auf dem Weg in konkrete Situationen des Handelns und der Kommunikation beteiligt. Jenseits einer subjektivistischen Interpretation der sinnhaften Einheit einer (gesellschaftlich koordinierten) Handlung, fällt also über den differenzierungstheoretischen Umweg besonders auf und ins Gewicht, dass der Bezug der Personen zu Handlungen in einem eigenen Medium vollzogen wird. Handlungen und Kommunikationen haben nicht nur und vielleicht nicht zuerst, zumeist aber auch einen subjektiven Sinn, das heißt, sie sind Einheiten, die – auch – intentional integriert sind. Die subjektive Interpretation einer Handlung – der eigenen wie der von anderen – und schon die praktische Auslegung eines Ereignisses als einer Handlung, auf die handelnd reagiert, an die mit Handlungen angeschlossen werden kann, ist im Medium des Bewusstseins als intentionaler »Gegenstand«29 oder als intentionaler Akt vor dem Horizont subjektiver Deutungshorizonte und einer subjektiven Deutungsgeschichte individuiert. Soviel Phänomenologie muss sein. Die handlungstheoretische Rekonstruktion subjektiven Sinnes (Schütz 1974) bindet die Einheit einer Handlung an die Einheit eines intentionalen Gegenstandes, der foro interno oder: »im einsamen Seelenleben« (Schütz 1974: 137) im Modus des Entwurfes der abgeschlossenen Handlung und vor dem Zeithorizont von Interpretations29 | Dabei ist nicht nur an den Gegenstand einer Intention im Husserl’schen Sinne zu denken, der in paradigmatischer Ausrichtung an Wahrnehmungsgegenständen an der prinzipiell »erkenntnistheoretischen« Problematik des Gegenstandsbezugs ansetzt, sondern durchaus auch an die praktische Attitüde des »Umgangs« mit »Zuhandenem« (Heidegger 1984).

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und Erwartungsschemata »konstituiert« wird. Die systematisch relevante Differenz zwischen Personen – als »Subjekten« von Handlungen – ergibt sich in dieser (phänomenologischen) Perspektive aus der individuellen Gestalt dieses Horizontes, der wiederum aus der biographisch einmaligen Geschichte der Sedimentierung subjektiver Erfahrungen resultiert. Darum macht sich die Differenz zwischen Personen theoretisch im Problem des »Fremdverstehens« oder auch der Intersubjektivität des Sinnes einer Handlung bemerkbar, der konstitutionstheoretisch ja zunächst an die immanente Perspektive nur einer Person gebunden wird.30 Die Differenz zwischen Personen ist darum sicher mehr als nur das Ergebnis der Differenzierung von anderen Integrationseinheiten (zum Beispiel von milieuspezifischen Positionierungen oder der Ausbildung formaler Rollen) oder einer diesbezüglichen Kombination von Differenzierungen. Systematisch, also mit Rücksicht auf den Begriff der Person, ist ihre Differenz eine Differenz von intentionalen Horizonten. Strukturell, das heißt in Hinsicht auf die faktischen Differenzierungsformen moderner Gesellschaft, ist die soziale Auffälligkeit der Differenz zwischen Personen und intentionalen Horizonten von anderen Formen sozialer Differenzierung allerdings nicht unabhängig. Die intentionale Differenz zwischen den Perspektiven zweier Personen kommt als Differenz zwischen Integrationseinheiten erst dann zum Zuge, wenn diese intentionale Differenz im Verbund mit funktionaler und kultureller Differenzierung als Individualisierung sozial folgenreich wird, das heißt dann, wenn die soziale Differenzierung individueller Horizonte diese als solche Einheiten kommunikativ adressierbar macht, mit denen es zu Abstimmungsproblemen, zu Integrationsproblemen zweiter Ordnung, kommt. Anders gesagt, die Ausdifferenzierung tatsächlich subjektiver als individueller Sinnzuschreibungen muss einen Grad erreichen, bei dem die Ausbildung individueller Bedeutungskonnotationen und spezifischer personaler Absichten, Motive, Bedürfnisdeutungen, dann darauf bezogener reflexiver Anspruchshaltungen und schließlich einer eigentlichen, womöglich authentischen Biographie (im Sinne existentieller Aspirationen, vgl. Ricœur 1990; auch: Straub, Renn 2002: 12 und 18ff.) einen eigenen, also auch »für sich« selbstreferentiellen intentionalen Zusammenhang darstellt. Und dieser Zusammenhang, der selbst – im Sinne der pragmatischen Deutung existentieller Selbstverhältnisse – aus Handlungen gebildet und auf Handlungen bezogen ist (Taylor 1989; Heidegger 30 | Zu der phänomenologischen Antwort auf das Problem des Fremdverstehens (das sich die Phänomenologie methodisch durch den egologischen Auftakt der Analyse zunächst selbst einhandelt) vgl. Schütz 1974: 137ff., besonders aber: 213ff. Siehe zur Relevanz, die die faktische Interaktion zwischen ego und alter, die einander adressieren und die Adressierung realisieren, für die intersubjektive und pragmatische Form der Sinnkonstitution hat, auch: Srubar 1988: 101ff. und 116ff.; vgl. Renn 2006: 211ff.

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1984; Haugeland 1982; Habermas 1988; vgl. auch: Renn 1993 und 2000), muss mit den milieuspezifischen kulturellen Horizonten und den strukturellen Erwartungen an Personen und den Inklusionsbedingungen von Personen in auffälligen Kontrast treten können. Personen müssen also einen Spielraum der individuellen Lebensführung zuerst sozial gewährt und zugleich abgefordert bekommen, bevor es im Sinne der Simmel’schen Tragödie der Kultur (Simmel 1917 und 1987a) zu empfindlichen Abweichungen (je nach Bezug etwa zu »Anomie« oder »Psychopathologien«, Habermas 1981, II: 215) kommen kann. Dieser Punkt ist weiter oben bereits angesprochen worden. Jetzt aber, nach einigen differenzierungstheoretischen Überlegungen, die den Beitrag der Person zur gesellschaftlichen Koordination des Handelns betreffen, wird deutlich, dass und wie dieser Beitrag mit der Integration zweiter Ordnung, mit der Koordination zwischen ausdifferenzierten Formen der Handlungskoordination zusammenhängt. Während Personen zunächst als leibliche Instanziierungen des intentionalen Registers der Praxis einer Lebensform fungieren (also als Individuum tendenziell in der habitualisierten Gleichsinnigkeit der handelnden Personen und der Gewissheit impliziter Normen und Positionierungen von Einzelnen in den Hintergrund tritt), führt die Ausdifferenzierung personaler Horizonte (intentional wie semantisch) im Konzert mit der Ausdifferenzierung von Koordinationsformen zur auffälligen Grenzbildung zwischen Person und Milieu (wie Organisation), sodass nun Personen eine eigene Integrationseinheit bilden und sich im Geflecht einer Vielzahl von Übersetzungen anderer Art wieder finden.31 Individualisierung treibt unter der Bedingung dieser für die Moderne charakteristischen Pluralisierung von Differenzierungen gewissermaßen die Entkoppelung von struktureller und kultureller Differenzierung auf die intentionale Spitze.32 Dann ist die Identität einer Person bezogen auf Handlungen eine eigene Ebene der Grenzbildung, der Autonomisierung und relativen Abschließung gegenüber anderen Handlungs- und Kommunikationszusammenhängen (vgl. Renn 2006: 86ff.). Die Individualisierung wird teils auf sozioökonomische Faktoren zurückgeführt (Beck 1998), teils auf den kulturellen Wandel, der je 31 | Das heißt, nicht allein Übersetzungen zwischen den Registern der praktischen Handlungsidentifikation (Intention, Semantik, Umgebung), sondern nun zwischen der spezialisierten Intentionalität der Person und anderen Integrationseinheiten wie etwa einem Milieu (dem die Person im Stande der undifferenzierten Lebensform gleichsam im Modus habitueller Eingesunkenheit weitgehend angehört hat und zu dem es nun eine kommunikativ auffällige Grenze zieht, sodass zwischen der Person als Subjekt und der Person als Zugehörige zu einem Milieu schon Übersetzungen stattfinden). 32 | Personen fallen sich selbst, der sozialen Welt und der Soziologie unter modernen Bedingungen in erster Linie als Individuen auf (Luhmann 1989; vgl. auch: Schroer 1997).

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nach milieuspezifischen Brechungen heterogene Ausprägungen einer Kultur der Permissivität, eine Kultur der subjektiven Rechte oder der Optionalisierung bzw. Subjektivierung der Lebensführung (Gross 1994) anregt. Auf diesen Wegen koppelt die Individualisierung die Integration einer personalen Identität, damit die Binnenstruktur einer Integrationseinheit, von stabilen Traditionen, milieugeprägten Standardbiographien oder gesellschaftlichen Karrieremustern (bzw. Lebenslaufregimes; vgl. Kohli 1988; Hahn 1988) ab. Personen müssen dann zunehmend eigengesteuert eine individuelle Mischung oder Balance aus externen Vorgaben herstellen und dabei die Verantwortung für die Erreichung von ebenfalls selbst gesetzten Zielen der Lebensführung (was oftmals das eigentliche Problem der Person wird) übernehmen (Hradil 1992; Beck, Beck-Gernsheim 1994). Die Tendenz der sogenannten Interdependenzunterbrechung zwischen »objektiven Lagen« und »subjektiven Orientierungen« von Individuen, die sich in der Inkongruenz zwischen strukturellen oder funktionalen Differenzierungen (»objektiven« Lagen von Schichten) und praktisch-kulturellen Orientierungen (Lebensstile und Milieus) ausdrückt (Bohle, Heitmeyer, Kühnel, Sander 1997: 54), findet ihr Extrem in der Pluralisierung nicht mehr allein kollektiver Lebensstile, sondern schließlich individueller Lebensstile. Die individualisierte Person erscheint von dieser Warte aus gewissermaßen als das kleinstmögliche soziokulturelle Milieu. Darin liegt die strukturelle Bedeutung der personalen Individualität als einer allgemeinen Form, die der Formung durch gesellschaftliche Differenzierung folgt. Sie kann als eine modernitätsspezifische Zuspitzung der systematischen Bedeutung gelten, die die personale Intentionalität für die Interaktion überhaupt bzw. »immer schon« hat. Kulturelle Lebensformen werden im Medium der Interaktion durch die praktische Verwendung des impliziten Wissens der Zugehörigen reproduziert, und ihre praktische Einheit, der Horizont, aus dem heraus Handlungen verständlich und verknüpf bar werden, greift in Gestalt des kollektiven Habitus gleichsam durch die Intentionalität der einzelnen Person hindurch (eben das wurde zuvor als die »Integration hinter dem Rücken« angesprochen). Für eine erhebliche und kommunikativ auffällige Differenz zwischen der Person und einem Milieu ist dabei zunächst sozusagen aufgrund mangelnder Komplexität wenig Platz.33 Das ändert sich 33 | Das bedeutet, der Spielraum der intentionalen Abweichung von milieuspezifischen Horizonten, Normen und Praktiken überschreitet noch nicht das Maß, in dem die Praxis eines Milieus ohnehin von der kreativen Auslegung praktischer Regeln durch Personen abhängig ist und diese Ressource für situative Flexibilität in ihre alltägliche Reproduktionsweise eingebaut hat. Die Person ist als Integrationseinheit gleichsam noch nicht entbunden aus der Funktion intentionaler Perspektiven innerhalb einer Lebensform (vgl. zur Analyse der Rolle intentionaler »Abweichung« für die Reproduktion einer praktischen Lebensform: Renn 2006: 298ff.).

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im Zuge mehrgleisiger sozialer Differenzierung, bei der Lebensformen durch Entlastung von funktionalen Aufgaben zu modernen Milieus werden, Organisationen und abstrakte kulturelle Semantiken ausdifferenziert werden, sodass Milieus damit Integrationskonkurrenten innerhalb der Gesellschaft, deren Teil sie sind, erhalten, zu denen dann auch Individuen gehören. Das Medium des Bewusstseins schließt die leibliche Dimension allerdings ein (explizites und implizites Wissen), sodass der – immer schon auch übersubjektiv integrierte – Habitus und die Transzendenz der Integration »hinter dem Rücken« sowohl diachron eine genetische Voraussetzung als auch synchron eine praktische Bedingung des Selbstbewusstseins ist und bleibt. Als relativ autonome Integrationseinheit ist darum die Person selbst »Ergebnis« zweier unterschiedlicher Differenzierungswege. Ihre sichtbar ausdifferenzierte Lagerung im strukturell komplexen »sozialen Raum« folgt zum einen der funktionalen Differenzierung, die die äußerliche, formale Einheit der numerisch individuierten Person als »Objekt« der Inklusion konstituiert (zum Beispiel als standardisierte Person, als »Schulpflichtige«, als »Leistungsberechtigte« im Sozialversicherungssystem, jedenfalls aber als Einzelperson). Sie folgt zudem der Sonderform der kulturellen Differenzierung, die die Ausdifferenzierung der Form und des Anspruches einer »authentischen« und selbst verantworteten Lebensführung aus der praktischen Einheit eines kollektiven Milieus sozial anregt, einräumt und stützt, letztlich gar abverlangt (Brose, Hildenbrand 1988; Ricœur 1988; vgl. dazu: Meuter 1995). Insofern hat die existentielle Individualisierung – obwohl sie in der Distanzierung von sozialen Konventionen besteht – die soziale Differenzierung zwischen der äußeren Person und ihres eigenen inneren Horizontes zur Voraussetzung. Der Übergang zur existentiellen Selbstbeziehung ist somit verankert im Übergang der sozialen Formatierung der Personen zur Zuschreibung einer trans-konventionellen Selbstbeziehung und entsprechender Unberechenbarkeiten der Personen. Diese Verankerung bleibt zudem keine äußerliche Uminterpretation eines immer schon gleichförmig gebauten intentionalen Verhältnisses von »Subjektiven« zu sich selbst, sondern sie stößt die Genese intentionaler Reflexivität im Stile einer »negativen Konstitution« an. Die Intentionen der Handelnden stellen in der Interaktion und in der Praxis (die der Einheit einer Lebensform entspricht) allgemein das Register der Bestimmungen von Handlungen zur Verfügung, in dem identifiziert wird, was das Ereignis und die Sequenz für einen subjektiven Sinn haben. Demgegenüber wird die Intentionalität jedoch zum Medium einer sichtbar ausdifferenzierten reflexiven Integrationseinheit, sobald die Person von der Frage bewegt wird, was dieser subjektive Sinn für sie bedeutet, und sobald die innere Individualisierung eines solchen Fragehorizontes gleichzeitig von außen eine Stütze findet. Das Selbstverhältnis der Person kann sich nicht selbstständig aus rigiden Bindungen der Intentionalität in der Praxis einer Lebensform lösen, sondern

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es beantwortet mit interner Individualisierung die Tendenz der Entfaltung der kulturellen Semantik zur qualitativen Individualität von Subjekten und den Trend der organisatorischen Semantik zur Zuordnung von Rechten und Pflichten zu numerisch individuellen Personen (Mitgliedern wie Kunden oder Klienten). Mit der formalen Organisation von Handlungen verengt und spezialisiert sich der Zugriff auf Personen zur sozialen Typik von abstrakten Rollen. Das heißt, die soziale Referenz abstrakter Integrationseinheiten auf eine Person konzentriert sich auf die abstrakten typischen »Eigenschaften« die auf numerische Indikatoren für die Aussortierbarkeit einer einzelnen Person bilden. Die numerisch identifizierte, typisierte Person teilt relevante Eigenschaften mit vielen anderen, etwa ein unter ökonomischen Gesichtspunkten standardisiertes Bedürfnis. Sie muss dabei aber als einzelne Person wiederzuerkennen bleiben. Die soziale Identität beruht damit auf der numerischen Individuierung einer einzelnen Person, die aber nicht als Individuum adressiert wird, sondern vermittels einer Konjunktion von allgemeinen Typisierungen, die sich in allgemeinen Prädikaten ausdrückt, deskriptiv bestimmt wird. In der Zeitdimension erweitern sich Typisierungsprofile zu Sequenz-Formaten des Lebenslaufs. Die Biographie ist in dieser Perspektive nicht primär ein narrativ und intentional »von innen mit Sinn erfüllter« Horizont, sondern reiht sich als Karrieremuster in standardisierte biographische Typen ein. Damit wird die deskriptive Identifizierung von Personen ermöglicht, sodass biographische Typisierungen funktional werden für die abstrakte Integration, sofern sie die sprachliche und praktische Bezugnahme auf Personen desambiguieren, und den formatierten Zugriff auf die Person kontext- und situationsunabhängig verallgemeinern, wo das Handeln der Person nicht immer unvorhersehbar sein darf.

V. P ersonale Ü berse t zungsverhältnisse Diese zwei- und mehrseitige Individualisierung lässt sich »makrotheoretisch« als eine Form der Lösung von sekundären Problemen der Handlungskoordination betrachten, die im Zuge der Institutionalisierung von »entlastenden« abstrakten und d.h. von den Grenzen der Interaktion emanzipierten sozialen Ordnungen entstehen. Die »Indienstnahme« der Eigensteuerung von Personen wird in diesem Sinne zum Beispiel als Delegation und der Externalisierung von sozialer Verhaltenskontrolle, etwa in der Form der disziplinierenden »Subjektivierung« (Foucault 1994), entfaltet, durchgesetzt, bewährt und etabliert. Kein Wunder also, dass Foucault mit dem skeptisch gestimmten Konzept der Subjektivierung eine entlarvende Version des humanistischen Programms der individuellen Emanzipation subjektiver Autonomie ins Spiel bringen wollte. Strukturelle Individualisierung ist eben dreierlei zugleich: erstens ein Zwang zur Umformung sozialer Kontrolle in Selbstkontrolle, zweitens die kulturelle

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Institutionalisierung der darin implizierten normativen Ansprüche auf Selbstbestimmung, drittens die negative Konstitution eines intentionalen Selbstverhältnisses, das die disziplinierende Subjektivierung eben auch in die Nutzung von Abweichungschancen im Kontext der subjektiven Selbstauslegung übersetzen kann. Die Weitergabe von Folgeproblemen der Standardisierung von Handlungen (vor allem das Problem der Situationsanpassung generalisierter Imperative) an die Person funktionalisiert die Kontingenz, welche aus der intentionalen Umarbeitung sozialer Erwartungen in nicht-prognostizierbare Intentionen und deren Umsetzung in Handlungen gespeist wird. Weil es Handeln (also eben zumindest auch subjektiv entworfenes und subjektiv Sinn-bezogenes Agieren) und nicht kausal bestimmtes »Verhalten« ist, was die Person zur Koordination des sozialen Handelns beiträgt, erzeugt die genannte Delegation an das sozial ausdifferenzierte Individuum permanente Abweichungen von den abstrakt konditionierten Handlungs-Sequenz-Standards – und damit gegenüber dem sekundären Problem der Situationsanpassung das tertiäre Problem der Wieder-Konventionalisierung von intentional motivierten Abweichungen von Konventionen bei der Umsetzung dieser Konventionen in konkrete Handlungs-Bestimmungen (im Sinne der Identifizierung des Sinnes und der Motivation zur Handlung). Schon aus diesem Grunde wird die Interferenz zwischen milieuspezifischen, organisationalen oder systemischen und personalen Bezugnahmen auf »dieselben« Handlungen innerhalb »der« Praxis zu einer Übersetzung. Zwischen den Intentionen der Person und den Zuschreibungen, die andere Einheiten der Handlungskoordination auf die Handlungen von Angehörigen oder Mitgliedern oder systemisch inkludierten Einzelnen projizieren, wird übersetzt. Auf der Übersetzung zwischen Einzelhandlungen baut schließlich, wenn es nun reflexiv um die Person selbst geht, die Übersetzung zwischen Personenformaten auf: Die numerische Identität des systemisch inkludierten Individuums, die typisierte soziale Identität von Mitgliedern und Klienten von Organisationen und die existentielle, also: transitorische Identität des intentionalen Selbstverhältnisses der Person repräsentieren einander nicht, sondern stellen jeweils innerhalb eines besonderen Kontextes der Handlungskoordination (innerhalb einer »Integrationseinheit«) das »Translat« der Bezugnahme auf die Identität der Person in einer anderen Integrationseinheit dar. Daraus erklärt es sich auch, warum die Unterscheidung zwischen Mitgliedern einer Organisation, Angehörigen eines Milieus und individuellen Personen so bedeutsam ist. Sie macht es zum Beispiel einsichtig, warum die verbreitete These der Fragmentierung der Identität moderner Personen problematisch ist.34 34 | Systemtheoretische und im weiteren Sinne »postmoderne« Analysen der paradigmatischen Identität von Personen in spätmoderner Gesellschaft, schließen aus der

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Solche Einschätzungen bestätigen allesamt auf indirekte Weise das von ihnen explizit kritisierte essentialistische Modell der Identität der Person, indem sie diesem als einzige Alternative die soziale Konstruktion von Personen entgegenhalten und dann mit differenzierungstheoretischen Seitenblicken die Zersplitterung solcher Konstruktionen als Nachweis der Fragmentierung des Selbstverhältnisses der Individuen ausgeben (vgl. Renn 2002: 247 und 249ff.). Die Person als eine eigene, intentional fungierende Integrationseinheit anzusehen, eröffnet demgegenüber nicht nur weitere Spielräume der Identitätstheorie, sondern kann die Relation zwischen Zuschreibungen von Identitäten, die in Milieus, in Organisationen und Funktionssystemen die Integration von Handlungen mit typisierenden, abstrakten oder numerischen Personalisierungen koppeln und dem intentionalen Selbstverhältnis der Person als ein permanentes Übersetzungsverhältnis zwischen Innen- und Außenperspektiven beschreiben. Es handeln dann zwar Personen in Milieus (einschließlich Mikromilieus wie Intimbeziehungen) und Organisationen (bzw. in Systemen), und die Personen können sich auch anders nicht »darstellen« bzw. Rückmeldungen, Anerkennung etc. akquirieren. Sie vollziehen dabei jedoch über die gewöhnliche Funktion des intentionalen Registers hinaus, soweit die Person selbst betroffen ist, Übersetzungen zwischen dem Selbstverhältnis ihrer transitorischen Identität und den fremd- wie selbstzugeschriebenen Rollen innerhalb von anderen Integrationseinheiten. Das schließt folgenreiche Interferenzen zwischen den Einheiten ein: Da die Übersetzung weder Repräsentation noch verkapselte Konstruktion darstellt, führt sie auf beiden Seiten zu Revisionen und Transformationen, die sich in der intentionalen Einheit als Erfahrungen (negative wie positive), in Milieus und Organisationen als Standard verändernde Effekte der praktischen Spezifikation von typisierten und generalisierten Personenkonzepten und von Aufgaben, Handlungsvollzügen, Routinen etc. bemerkbar machen und wirksam werden. Organisationen und Systeme gliedern die individuellen Konnotationen der organisationsinternen Handlungen in der Anschlussselektion permanent aus (auf die biographische Bedeutsamkeit der Verkaufsverhandlung, der Kongresseröffnung, der Abiturprüfung etc. greift die Organisation selbst nicht zurück). Die abstrakt typisierten Rollen und die zugeordneten Standardsequenzen (proMultiplikation von Integrationseinheiten und ihren Zugriffen auf Personen darauf, dass die Person selbst kein Forum der abgerundeten und umfassenden Selbstdarstellung mehr findet (Hahn, Bohn 1999: 35), dass sie aus festen normativen Bindungen und dem klassischen, modernen Modell der selbst auferlegten Verantwortlichkeit (normative Selbstverallgemeinerung) ausbricht und zur moralischen Unempfindlichkeit (»Adiaphorisierung«) tendiere (Baumann 1996), dass darum schließlich die Identität der Person nurmehr fragmentarisiert, in positiver normativer Perspektive: »polyphren« (Welsch 1991; Gergen 1996), genannt werden kann.

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fessionalisierte Routinen) können aber nicht lückenlos vorbestimmt und linear ausgeführt werden. Aus der sozial qualifizierten, numerischen Identität einer Person, folgt nicht, was die Person in spezifischen Situationen »genau tun soll«. Aus der Zusammenstellung allgemeiner Merkmale und ihrer Zuschreibung auf genau einen personalen Referenten, lassen sich nur standardisierte Handlungsimperative ableiten. Sie sind für das Handeln hic et nunc zu unspezifisch, sodass die Wirkung der typisierenden Zuschreibung von Verhaltenserwartungen nicht als Programmierung des Handelns, sondern nur als eine »Instruktion«, als eine allgemeine Anweisung, deren konkrete Ausführung delegiert werden muss, wirksam wird. Das Handeln wird durch abstrakte Personenformatierungen also nur in typischen Formen vorentwerfen. Und sind diese Formen, die sozial verbindlich werden, nicht aber der konkrete Effekt der Übersetzung der normierten Form in faktische Handlungen. Gerade die Bereitschaft, als Mitglied einer Organisation vollkommen Normen konform zu handeln, trifft auf den Abstand zwischen expliziter Regel (Vorschrift, Verfahren) und ihren Anwendungen. Die Norm muss übersetzt werden und die Übersetzung muss von Präzedenzen abweichen bzw. solche schaffen.35 Damit erscheint zentrale Steuerung in der Dimension der Spezifikation von allgemeinen Programmen und abstrakten Entscheidungen als strukturell bemerkenswert begrenzt. Aber das ist für Organisationen keineswegs dysfunktional, sondern die Delegation an die übersetzende Person steigert die Flexibilität organisationaler Struktur. Die personale Übersetzung standardisierter Formate des Handelns in faktische Handlungen trägt die situations- oder fallangemessene Respezifikation generalisierter Handlungskoordination in Organisationen (ohne dass dies immer reibungslos und »zielführend« ablaufen müsste). Personen machen darum auch in Organisationen – als Mitglieder oder Klienten – kommunikative Erfahrungen mit anderen Personen und mit sich selbst, in denen sich der Abstand zwischen den typisierten Erwartungen, die auf explizite Zuschreibungen und Behauptungen der Identität eines Mitglieds (Klienten) konzentriert sind, und dem faktischen Sprechen und Handeln als Symptom der Individualität geltend macht. Diese symptomatische Individualität kann dann entweder sozial unterstützt, gewährt, gar genutzt oder eben negativ sanktioniert, dem Druck der Re-konventionalisierung ausgesetzt werden. Die Ausdifferenzierung abstrakter Integrationseinheiten drängt eben die individuelle Abweichung nicht einfach in die Umwelt spezieller Systeme ab, sondern Organisationen und Milieus sanktionieren sie positiv, soweit sie funktional bleibt. Organisationen nutzen die Individualität der Person als in35 | Hier ist an die basale Kreativität des Handelns (Joas 1996; Renn 2006: 268ff.), an die Figur des »post-souveränen« Subjekts bei Judith Butler oder an Michel de Certeaus strategische Konsumenten zu erinnern (Butler 1993, 1998; de Certeau 1988).

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tentionale Integrationseinheit, die in die typische Identität des Mitglieds, des Zugehörigen performativ übersetzt wird, sodass schließlich, bei entsprechendem Bedarf, zwischen der organisationalen Kommunikation und der Sprache anderer Kontexte übersetzt werden kann. Die Spezifizierung von organisationsinternen Programmen (also typischen Sequenzen wie Genehmigungsverfahren, Produktionsweisen, Forschungsprogrammen, Beweisaufnahmen, Entscheidungsprozeduren) kann und muss zur Übersetzung von externen Erfahrungen in interne Kommunikation, zur Operationalisierung von Standards durch Delegation oder zur kreativen Situationsbewältigung auf die Kontingenzen zurückgreifen, die Personen einbringen. Das konkrete Handeln und Kommunizieren des Sachbearbeiters, der Abteilungsleiterin, des Schuldnerberaters, des Gutachters, der Bildungsreferentin – sie alle importieren in die Organisation auf dem Wege der performativen Übersetzung zwischen Person und Organisation Spezifika äußerer Kontexte in die interne Kommunikation und leisten Ähnliches in Gegenrichtung. Diese funktionale Übersetzung vollzieht sich – je nach Profil der Tätigkeit – mehr oder weniger in einem individuellen »Stil« des Handelns. Einen »Stil« bildet das Handeln der Person aus, sobald diese die »Programme« der Organisation auf eine wiedererkennbare Weise – unter der Bedingung der Familienähnlichkeit von Einzelfällen der Rückübersetzung ins Konkrete – spezifiziert. Und sofern diese vom Stil der Person geprägte praktische Auslegung und Spezifikation der organisationsinternen Regeln in Situationen (von anderen und von ihr selbst) der Person und nicht nur den »Umständen« zugerechnet wird, erhält die »individuelle« Wiedererkennbarkeit der Person als »diese« Person auch im Organisationskontext zugleich einen funktionalen und einen existentiellen Rückhalt (und soweit dabei ein beiderseitiger Eindruck von positiver Ergänzung aufrecht erhalten werden kann, könnte man genau in diesem Fall von gelingender »Subjektivierung« der Arbeit sprechen). Die Übersetzungstätigkeit von Personen setzt an der Übersetzung zwischen dem intentionalen Horizont der Person und ihrem Format als Mitglied der Organisation (also am Verhältnis zwischen Individuum und »Rolle«, soweit diese eben nicht identisch sind) an. Sie zeigt sich empirisch überall dort auf symptomatische Weise, wo grenzüberschreitende Beziehungen zwischen heterogenen sozialen Kontexten explizit in die Zuständigkeit von Personen gelegt werden. Das gilt z.B. für die Anwendung sozialwissenschaftlichen Wissens in praktischen Kontexten, die nach Ansicht von Experten explizit auf die Übersetzungsleistung »zweisprachiger« Personen angewiesen sein soll (Bosch, Kraetsch, Renn 2001: 209ff.; Bosch, Renn 2003 und Renn 1999), oder in sogenannten »postfordistischen« Unternehmen, die sich durch den neuen Produktionsfaktor individuellen Wissens und vor allem individueller Formen der Verwendung und der Kommunikation dieses Wissens auszeichnen (Willke 1998). Die Übersetzungsleistung der Personen fällt besonders dort auf, wo

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tradierte Kongruenzen zwischen Integrationseinheiten sich auflösen: So kann die Umstrukturierung von städtischen und sozialen Räumen, z.B. die Auflösung stabiler sozialräumlicher Milieus und ihrer Mediationsfunktion zwischen lokalen Beziehungen und abstrakten Integrationsformen, auch als eine Auslagerung von Integrationsfunktionen in die einzelnen Individuen gelesen werden (so: Touraine 1996: 27f.). Das bedeutet aber durchaus nicht, dass nun etwa die Personen die Integration der Gesellschaft übernehmen und deswegen auch überhaupt nicht, wie Nico Stehr suggeriert, dass die Integrationsleistung abstrakter Einheiten und ihr Bestand stärker als früher gefährdet sind (Stehr 2000). Personen übersetzen zwischen ihren eigenen intentionalen Horizonten und sozialen Formaten der Person (z.B. Mitgliedschaftsrollen und den in diesen eingelagerten Konventionen typischer Handlungssequenzen), die ihnen »von außen« zugeschrieben werden, indem sie »Translate« (Übersetzungs»Produkte«) jener äußeren Zuschreibungen in den Horizont ihrer existentiellen Selbstauslegung »einbauen«. Die Organisation selegiert »Karrieren« (Luhmann 2000) und dabei markieren Wendepunkte der Lauf bahn – die Beförderung, die Entfristung des Vertrages – zunächst organisationsintern eine von Entscheidungen abhängige und in der Folge Entscheidungskompetenz personalisierende, aber rein formale Konjunktion von Merkmalen des Mitglieds. Die Person selbst erlebt die Vorgänge im Horizont des performativ existentiellen Entwurfes eines bestenfalls narrativ artikulierbaren Lebens, der dem Ereignis einen individuellen Sinn verleiht, der als solcher nicht über die Indifferenzschwelle der organisationalen Kommunikation tritt. Passt die Entfristung der Stelle in »meine Pläne«, wenn der provisorische Status meiner Mitgliedschaft bislang höchst relevant für mein Gefühl war, dass da noch etwas ganz anderes »auf mich wartet«? Personen vollziehen die übersetzende Applikation unterschiedlicher Horizonte dabei primär mit dem praktischen Fokus ihrer fungierenden Intentionalität auf einzelne Handlungen, die ihnen von anderen und von sich selbst als ihre Handlungen zugeschrieben werden (die Unterschrift unter den neuen, entfristeten Vertrag, ist organisationsintern eine Formalität, personal aber die sinnüberschießende Metapher einer existentiell hoch aufgeladenen Entscheidungssequenz), und der Vollzug des Übersetzens geschieht deswegen primär im praktischen Modus der performativen Konstitution sinnhafter Handlungen (auch wenn reflexive Phasen und Momente der kognitiven Explikation foro interno dazu gehören mögen). Da nun Einzelakte dieser performativen Teilhabe sofort wieder den Gegenstand der Rückübersetzung von Sequenzabschnitten in die Horizonte beteiligter Organisationen und milieuförmiger sozialer Gruppen bilden (können), und da situations- und personenspezifische Abweichungen und Konkretisierungen von Organisationsregeln und Milieukonventionen in dieser Rückübersetzung zwar transformiert (Bedeutungsbruch) werden, nicht aber spurlos

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verloren gehen, sondern übersetzende Selbsttransformationen anregen können, übersetzen auf diesen verschlungenen Pfaden Personen eben auch in, für und zwischen Organisationen36 und Milieus. Sie können dies erstens, weil die transitorische Identität der Individuen (d.h. ihr narrativ, immer aber nur selektiv explizierbares, proteisches Selbstverhältnis) immer schon in die Übersetzung zwischen eigenen und fremden, zwischen intentionalen und semantischen, zwischen konkreten und abstrakt typisierten Zuschreibungen auf die Person verstrickt ist. Eine entsprechende Übersetzungskompetenz ist dabei keineswegs schon durch die ontogenetische Verstrickung der Sozialisation in solche Übersetzungsverhältnisse garantiert; aber ohne diese Kompetenz könnte der Wechsel der Person zwischen Kontexten und Situationen nicht »angemessen« vollzogen werden. Und soweit die Alltagsroutine in multipel differenzierten Arenen des vielfältig strukturierten Handelns einer halbwegs gelingenden Koordination des Handelns empirisch gesehen nicht vollkommen abträglich zu sein scheint, muss diese Übersetzungskompetenz, in welchen Varianten auch immer, möglich und in einem hinreichenden Maße auch faktisch realisiert sein. Strukturell individuierte und d.h. negativ durch Ausdifferenzierung als existentielle Selbstverhältnisse konstituierte Personen können zweitens als Übersetzer fungieren, wenn sie es können, weil die Intentionalität den doppelten Charakter einerseits des Registers der pragmatischen Integration von Handlungen in konkreten Situationen, andererseits des Mediums einer ausdifferenzierten Integrationseinheit hat. An der pragmatischen Basis der Kaskade von Übersetzungen und Rückübersetzungen zwischen gegenseitig abgegrenzten Integrationseinheiten (als Horizonten der Handlungskoordination) muss die Übersetzung immer auch den Durchgang durch eine konkrete Situation nehmen, und damit unter Beteiligung des intentionalen Registers vollzogen werden. Wenn der Horizont des intentionalen Registers strukturell jedoch zur negativ konstituierten Integrationseinheit einer Person ausdifferenziert ist, so bildet das Register in diesem Fall Brücken zu anderen Integrationseinheiten, mit denen die Person anderen Orts und zu anderer Zeit in Übersetzungsbeziehung steht.37

36 | Vgl. zur Übersetzung zwischen subjektiver Sinnperspektive, mithin individueller personaler Identität, und organisationaler Steuerung, bei der Personen ihre Identität als solche zwar nicht organisationsintern »darstellen«, aber pragmatisch ausagieren und »einbringen«, auch: Pankoke 2001: 197ff. 37 | Das bedeutet natürlich nicht, dass »Männer« Geschichte und Organisationen »machen«. Personen bleiben bürokratischen, ökonomischen, rechtlichen Imperativen untergeordnet, sie spielen aber eine große Rolle dabei, in Organisationen zu bestimmen, was aus solchen Imperativen in concreto folgen muss.

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Das bedeutet jedoch keineswegs, dass die Personen als »Dolmetscher« zwischen den Integrationseinheiten die Horizonte abstrakter und kulturell praktischer Integration vollständig überschauen bzw. sich die Koordination des Handelns »hinter dem Rücken« und »über den Köpfen« vollständig transparent machen könnten. Die Person spricht nicht alle Sprachen sozialer Kontexte, sie verfügt über mehr oder weniger differenzierte Translate mindestens einiger der Kontexte, die ihre gesellschaftliche Umgebung bilden. Die Übersetzungstätigkeiten der Personen heben die Transzendenz und Intransparenz der Integration »über den Köpfen« und derjenigen »hinter dem Rücken« nicht auf, allein deshalb nicht, weil das bei schon geringer gesellschaftlicher Komplexität die Kapazitäten intentionaler Übersicht und Planung bei Weitem überschreiten würde. Die abstrakte und in Organisation und System ausgelagerte Integration von Handlungen bleibt notwendig unabhängig von der Intentionalität der Personen und integriert eigenständig sowohl Handlungen als auch typisch bestimmte Personenformate (Adressen) in ihren Handlungszusammenhang. Was die Personen »wissen«, nimmt zwar unter der Bedingung komplexer Übersetzungsverhältnisse selbst komplexe und abstrakte Formen an. So führt die Übersetzung formaler Organisation und expliziter kultureller Horizonte in die Intentionalität der Personen hinein zur Rationalisierung des Wissens, zu professionalisierten Fertigkeiten und propositionalen Wissensbeständen, zu Expertentum und Kennerschaft. Diese Wissensbestände sind (in ihrer intentionalen Gestalt) allerdings ihrerseits »Translate«. Sie repräsentieren die Semantik und den Prozess einer Organisation, eines expliziten kulturellen Systems nicht (und übernehmen darum auch nicht die Integration der Einheit). Sie stellen vielmehr einen selektiven, biographisch individuierten Ausschnitt und eine Version abstrakter und expliziter Semantik dar. Wie die Person zwischen anderen Integrationseinheiten übersetzen kann (indem sie ihre eigene Position und ihre »Präsenz« in solchen Einheiten, die selbst Translate sind, in intentionale Formen und dann in andere Positionen und Präsenzen übersetzt), so übersetzten ebenso andere Integrationseinheiten: Organisationen, Milieus und auch Systeme zwischen Personen sowie zwischen Personen und wieder dritten Integrationseinheiten. Die Person als ein intentionales Selbstverhältnis wird deshalb, auch wenn sie zur Übersetzung zwischen Kontexten der Handlungskoordination substantiell beiträgt, selbst nicht zum Teil einer Organisation. Die Person handelt (kommuniziert) innerhalb einer Organisation auf der Basis eines (in Übersetzungsbeziehungen mit Ausbildungsorganisationen) biographisch erworbenen »Fach«-Wissens, sodass sie Beiträge zur Übersetzung zwischen der Organisation und anderen Integrationseinheiten beisteuern kann (so z.B. Spezifikationen formaler Verfahren und Kriterien der Entscheidung im Umgang mit dem Publikum). Das bedeutet aber nicht, dass das Wissen der Person, das

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intentionale Translat der Horizonte der Organisation, an die Stelle des formal integrierten Handlungszusammenhanges treten kann und sich die Einheit einer Organisation auf die Summe oder den Aggregateffekt der versammelten intentionalen Horizonte all ihrer Mitglieder reduzieren ließe. Die Differenzierung der Intentionalität der Person, bei der neben die individuellen Horizonte der Handlungsbedeutung und die intentionalen Translate milieuspezifischer Horizonte solche Translate treten, die eine Übersetzung der Bedeutungszuschreibungen spezieller Organisationen darstellen, versetzen die Person nur in die Lage, auf eine Weise zu handeln bzw. zu kommunizieren, die von der organisationsinternen Integration von Handlungen nicht so weit entfernt ist, dass keine effektive Übersetzung – nun von Seiten der Organisation – möglich wäre. Wegen dieses Zusammenhanges, d.h. wegen der »Sozialisation« des Personals einer Organisation, die die Grenze zwischen Person und Organisation eben nicht aufhebt, ist es notwendig, zwischen dem Mitglied einer Organisation, wie es in dieser Organisation identifiziert ist, und der Mitgliedschaft, die ein intentionales Translat dieser organisationsinternen Identität in der Perspektive der individuellen Person ist, zu unterscheiden.38 Der Beitrag der Personen zur Koordination der gesellschaftlich ausdifferenzierten Koordinationen des Handelns hat also abschließend betrachtet keine einheitliche Gestalt. Als Effekt und als Faktor einer regional, kulturell, funktionsspezifisch und praktisch höchst heterogen aufgeteilten Integration zweiter Ordnung fallen die Beiträge der Personen in Myriaden von unterschiedlich eigensinnigen, mal mehr, mal weniger auffällig »individuellen« Formen an. 38 | Es ist deshalb bei der Abgrenzung von der Luhmann’ schen Abstraktion des Problems der Respezifikation systemischer Codes und Programme zum Beispiel wenig hilfreich, das Phänomen des Auseinandertretens abstrakter und weniger abstrakter Integrationseinheiten ausschließlich als Problem der Mobilisierung von Vertrauen in »gesichtsunabhängige« Beziehungen und Expertenkompetenzen zu analysieren (Giddens 1996: 112ff.). Der Begriff der »Rückbettung« (re-embedding) von Anthony Giddens hat eine äußerliche Verwandtschaft zu dem hier diskutierten Problem der Rückübersetzung. Große Differenzen ergeben sich allerdings umgehend durch die Begriffe des Systems und der Struktur, für die Giddens optiert. Giddens’ Unterscheidung zwischen »disembedding« und »re-embedding« leidet unter den Konsequenzen, die die Beschränkung der abstrakten Integration auf die raum-zeitliche Entgrenzung von unmittelbarer Interaktion hat: Systeme sind für Giddens keine emergenten Ordnungsebenen, sondern raum-zeitlich ausgedehnte Praktiken (Strukturen umfassen Regeln und Ressourcen). Das Problem der Rückbettung ist für Giddens das Problem der »Zugangspunkte« zu anonymen, unpersönlichen Systemen der Handlungskoordination, sodass der Effekt der Systembildung und schon der formalen Organisation in einer konkretistischen Weise an die geographische und temporale Berührung von Personen mit fremden, anonymen anderen Personen (»gesichtslose Beziehungen«) im Rahmen von Interaktionsverhältnissen gebunden ist.

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In jedem Falle aber wird man sowohl aus differenzierungstheoretischen Gründen als auch mit Rücksicht auf »subjekttheoretische« Überlegungen sagen müssen und dürfen, dass das Verhältnis zwischen subjektiver Freiheit und sozialer Kontrolle der Person kein Nullsummenspiel ist. Soviel die Gesellschaft dem Individuum auch abverlangt an Konformität, Leistungsbereitschaft, an Selbstkontrolle und »Trieb-Disziplinierung«, so sehr verpflichtet die multiple Differenzierung der Moderne diese dazu, dem Eigensinn des »Subjekts« ausreichende Spielräume zu gewähren.

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1. Ambivalente Subjekttheorie: Anthony Giddens und der zweideutige Existentialismus der Theorie einer reflexiven Moderne: ausführlich überarbeitete und ergänzte Version von: Renn, Joachim (2010): Reflexive Moderne und amivalente Existentialität. Anthony Giddens als Identitäts-Theoretiker, in: Jörissen, Benjamin; Zirfas, Jörg (Hg.): Schlüsselwerke der Identitätsforschung. Wiesbaden: VS-Verlag, S. 203-222. 2. Diskurs – Macht – Subjekt: Foucaults Sozial-Existentialismus und die Pragmatisierung der Diskursanalyse: ausführlich überarbeitete und ergänzte Version von: Joachim Renn (2012): Nicht Herr im eigenen Hause und doch nicht eines anderen Knecht. Individuelle Agency und Existenz in einer pragmatisierten Diskurstheorie, in: Keller, Reiner; Schneider, Werner; Viehöfer, Willy (Hg.): Diskurs, Macht, Subjekt. Theorie und Empirie von Subjektivierung in der Diskursforschung. Wiesbaden: VS-Verlag, S. 35-52. 3. Emergenz und aporetische Perspektivenübernahme: George Herbert Mead und die Aufgabe einer pragmatistischen Theorie der Subjekt-Genese: ausführlich überarbeitete und ergänzte Version von: Renn, Joachim (2013): Emergenz und Vorrang der Intersubjektivität. Zur gesellschaftstheoretischen Relektüre von Georg Herbert Mead, in: Nungesser, Frithjof [u.a.] (Hg.): Potentiale einer pragmatistischen Sozialtheorie. Beiträge anlässlich des 150. Geburtstags von Georg Herbert Mead. Wiesbaden: Springer VS, S. 135-154. 4. Paradoxe Intersubjektivität: Michael Tomasello und die Vokabulare einer Evolutionstheorie der Intentionalität: erscheint in anderer Fassung als: Renn, Joachim (2016): Unmögliche Intersubjektivität. Michael Tomasello und die Vokabulare einer Evolutionstheorie der Intentionalität, in: Albert, Gert; Greve, Jens; Schützeichel, Rainer (Hg.): Kooperation, Sozialität und Kultur. Michael Tomasellos Arbeiten in der soziologischen Diskussion. Weinheim: Beltz-Juventa, S. 234-262.

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5. Unstillbares Begehren nach Identität und Verlust der Repräsentation: Die relationale Psychoanalyse und die Quellen der Individuation: Originalbeitrag 6. Selbstbehauptung – postmoderne Fragmentierung oder Identität von Personen im Zeichen funktionaler Differenzierung?: in einer früheren, hier stark überarbeiteten und ergänzten Fassung erschienen als: Renn, Joachim (2002): Selbstbehauptung, in: Straub, Jürgen; Renn, Joachim (Hg.): Transitorische Identität. Der Prozesscharakter des modernen Selbst, Frankfurt a.M. [u.a.]: Campus, S. 238-266. 7. Wie ist das Bewusstsein am Diskurs beteiligt?: in einer früheren, hier ausführlich erweiterten und umgestellten Fassung erschienen als: Renn, Joachim (2005): Wie ist das Bewusstsein am Diskurs beteiligt? Handlungstheoretische Überlegungen zur performativen Beziehung zwischen Semantik und Intentionalität, in: Keller, Reiner [u.a.] (Hg.): Die diskursive Konstruktion von Wirklichkeit. Zum Verhältnis von Wissenssoziologie und Diskursforschung, Konstanz: UVK, S. 101-126. 8. Die Übersetzung der Person: Zum Beitrag des Individuums zur gesellschaftlichen Koordination des Handelns: Originalbeitrag in partieller Anlehnung an die §§ 32, 33, 81 und 82 aus: Renn, Joachim (2006): Übersetzungsverhältnisse. Perspektiven einer pragmatistischen Gesellschaftstheorie, Weilerswist: Velbrück Wissenschaft.

Sozialtheorie Urs Lindner, Dimitri Mader (Hg.) Critical Realism meets kritische Sozialtheorie Erklärung und Kritik in den Sozialwissenschaften Februar 2017, ca. 300 Seiten, kart., ca. 25,99 €, ISBN 978-3-8376-2725-1

Kolja Möller, Jasmin Siri (Hg.) Systemtheorie und Gesellschaftskritik Perspektiven der Kritischen Systemtheorie September 2016, 256 Seiten, kart., 32,99 €, ISBN 978-3-8376-3323-8

Henning Laux (Hg.) Bruno Latours Soziologie der »Existenzweisen« Einführung und Diskussion September 2016, 264 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-3125-8

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Sozialtheorie Hilmar Schäfer (Hg.) Praxistheorie Ein soziologisches Forschungsprogramm Mai 2016, 384 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2404-5

Andreas Reckwitz Kreativität und soziale Praxis Studien zur Sozial- und Gesellschaftstheorie Mai 2016, 314 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-3345-0

Silke Helfrich, David Bollier, Heinrich-Böll-Stiftung (Hg.) Die Welt der Commons Muster gemeinsamen Handelns 2015, 384 Seiten, kart., zahlr. Abb., 19,99 €, ISBN 978-3-8376-3245-3

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Sozialtheorie Gabriele Klein, Hanna Katharina Göbel (Hg.) Performance und Praxis Praxistheoretische Studien zu szenischer Kunst und Alltag Januar 2017, ca. 300 Seiten, kart., ca. 29,99 €, ISBN 978-3-8376-3287-3

Mathias Lindenau, Marcel Meier Kressig (Hg.) Miteinander leben Ethische Perspektiven eines komplexen Verhältnisses. Vadian Lectures Band 2 Mai 2016, 114 Seiten, kart., 16,99 €, ISBN 978-3-8376-3361-0

Benjamin Rampp Die Sicherheit der Gesellschaft Gouvernementalität – Vertrauen – Terrorismus

Katharina Block Von der Umwelt zur Welt Der Weltbegriff in der Umweltsoziologie

Januar 2017, ca. 310 Seiten, kart., ca. 39,99 €, ISBN 978-3-8376-3414-3

Februar 2016, 326 Seiten, kart., 39,99 €, ISBN 978-3-8376-3321-4

Thomas S. Eberle (Hg.) Fotografie und Gesellschaft Phänomenologische und wissenssoziologische Perspektiven

Hanna Katharina Göbel, Sophia Prinz (Hg.) Die Sinnlichkeit des Sozialen Wahrnehmung und materielle Kultur

Dezember 2016, ca. 420 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2861-6

2015, 464 Seiten, kart., 32,99 €, ISBN 978-3-8376-2556-1

Pradeep Chakkarath, Doris Weidemann (Hg.) Kulturpsychologische Gegenwartsdiagnosen Bestandsaufnahmen zu Wissenschaft und Gesellschaft November 2016, ca. 226 Seiten, kart., ca. 25,80 €, ISBN 978-3-8376-1500-5

Brigitte Bargetz Ambivalenzen des Alltags Neuorientierungen für eine Theorie des Politischen September 2016, 298 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2539-4

Ruggiero Gorgoglione Paradoxien der Biopolitik Politische Philosophie und Gesellschaftstheorie in Italien

Florian Süssenguth (Hg.) Die Gesellschaft der Daten Über die digitale Transformation der sozialen Ordnung 2015, 290 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2764-0

Peter Wehling (Hg.) Vom Nutzen des Nichtwissens Sozial- und kulturwissenschaftliche Perspektiven 2015, 276 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2629-2

Franka Schäfer, Anna Daniel, Frank Hillebrandt (Hg.) Methoden einer Soziologie der Praxis 2015, 320 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2716-9

August 2016, 404 Seiten, kart., 39,99 €, ISBN 978-3-8376-3400-6

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